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Library of Medicine - Boston
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ZEITSCHRIFT
für
MEDIZINAL-BEAMTE.
Herausgegeben
von
Dr. H. Mittenzweig Dr. Otto Rapmund
San.-Rath. n. gerichtl. Stadtphys. in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in Minden.
Dr. Willi. Sander
Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
VI. Jahrgang. 1893.
Berlin NW.
FISCHER’S MEDIZ. BUCHHANDLUNG.
H. Kornfeld.
HARVARD MEDICAL SCHCOl
LlüRARY CF LE3AL MEQiCINE
Inhalt
I. Original-Mittheilungen,
a. Gerichtliche Medizin.
öelte.
Zar Regresspflichtigkeit der medizinischen Gutachten. Dr. Meyhöfer . 165
Leichenbefund bei Erfrierungstod. Dr. Eoferstein .201
Zur Blutuntersuchuug nach Katayama. Dr. Mittenzweig .209
Ueber Querulantenwahnsinn. Dr. Mittenzweig . 225, 281, 313
Ueber einen seltenen Fall von Sturzgeburt. Dr. Gabriel Corin. . . 249
Zur Lehre von der Diffusion der Gifte in menschlichen Leichen. Dr.
Haberda .393
Seltene Kleinheit der Milz als angeborene Anomalie. Dr. Kühn . . . . 401
Ueber Aggravation bei Augenverletzungen. Dr. Ohlemann . . . . 493
Zur Aggravation von Amblyopie. Dr. Ohlemann .584
Znr Frage der Aggravation bei Augenverletzuugen. Dr. Wilhelmi . 589
Einige Fälle von wahrscheinlicher und von angeblicher Vergiftung durch
Wurst und Fleisch. Dr. Haberda .601
Traumatische Verblutung aus den Gefässen der rechten Nebenniere. Dr.
Mittenzweig.616
b. Hygiene and öffentliches Sanitätswesen.
Lage der Sachsengänger in den westlichen Provinzen. Dr. Schilling 1
Zur Frage der Identität von Masern und Rötheln. Dr. Flatten. . . 8
Ein einfacher Desinfektionsapparat. Dr. Glogowski . 9
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen und der
Schulkinder des Kreises Isenhagen. Dr. Max Langerhans 30, 60, 81,
109, 129, 157
Statistische Uebersicht über die Ertbeilung des Titels „Sanitätsrath“ in
Preussen. 39
Kurze Bemerkungen über die Choleraepidemie in der Irrenanstalt Niet¬
leben. Dr. Fielitz . 58
Die im Kreise Gross-Wartenberg getroffenen Massregeln gegen die Cho¬
lera. Dr. Richter .*.. 71
Desinfektion auf dem Lande. Dr. Ascher. 72
IV
Inhalt.
Seite.
Entscheidungen zum Taxgesetz.
a) Der Sachverständige ist verpflichtet, bei der ihm gerichtsseitig
aufgetragenen Untersuchung einer zu entmü digenden, ausser¬
halb seines Wohnorts wohnenden Person sich vorher über deren
Anwesenheit zu erkundigen. Unterlässt er dies, und wird da¬
durch seine Reise eine vergebliche, so hat er diese Resultat¬
losigkeit verschuldet und in Folge dessen keinen Anspruch auf
Gebühren bezw. Reisekosten und Tagegelder. 91
b) Durch Abhalten eines gerichtlichen Termins an verschiedenen
Oertiichkeiten wird dieser nicht unterbrochen. Es steht dem
Sachverständigen daher keine Gebühr für die äussere Besich¬
tigung zu, wenn diese an einer anderen Oertlichheit vorgenom¬
men wird, wie die unmittelbar darauf folgende Obduktion . . 91
c) Amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte. 94
Apfelsaures Zink in amerikanischen Apfelschnitten. Dr. Schlegtendal 112
Die Enttäuschung der Medizinalbeamten.114
Erwiderung zu dem Artikel: Zur Desinfektion auf dem Lande. Dr.
Matthes .137
Die diesjährigen Verhandlungen des preussischen Abgeordnetenhauses
Masern und Rötheln. Dr. R. Rother .168
Zur Frage der Entmündigung der Geisteskranken und deren Unterbrin¬
gung in eine Irrenanstalt.169
Ein Vorschlag zur Medizinalreform.176
Aus dem Reichstage: Die erste Lesung des Gesetzentwurfes betr. die
Bekämpfung ansteckender Krankheiten Dr. Rapmund . . . . 210
Epidemiologischer Kursus zur sanitätspolizeilichen Bekämpfung der Cholera.
Dr. Schlüter .251
Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung der Medizinalbeamten
bei Abgabe mündlicher Gutachten im Termin.262
Zur Medizinal reform.299
Die Verhandlungen des preussischen Abgeordnetenhauses über die Inter¬
pellation des Grafen Douglas, betr. Massregeln gegen die Cholera.
Dr. Rapmund .841
Die Stellung der preussischen Kreisphysiker. Dr. Rusak .369
Die Cholerakurse und die angebliche Unzulänglichkeit der Kreisphysiker
(Eingesandt) .372
Zur Stellungsverbesserung der Kreisphysiker. Dr. R ei mann . . . . 402
Ueber Alter und Ursprung der Menschenblattern. Dr. Hagemann . . 417
Apotheken-Revisionen in alter Zeit.430
Welche hygienischen Massregeln sind bei Choleragefahr im Eisenbahn¬
verkehr zu treffen? Dr. Matthes .441
Der Entwurf von Vorschriften, betr. den Verkehr mit Giften und die
Revisionen der Gift- und Farbenhaudlungen. Dr. Jacobson . . 465
Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf, betr. den Verkehr mit Giften
Dr. Rapmnnd .477
Was hindert das Zustandekommen der Medizinalreform? Dr. Nauck . 501
Erwiderung auf die Bemerkungen des Sanitätsraths Kreisphysikus Dr.
Ritter zur Mediziualreform.508
Die Choleraepidemie in Stettin und im Kreise Randow im Herbst 1893.
Dr. B. Schulze und Dr. M. Frey er .521
Hebammen und Pfuscherinnen. Dr. Salomon .545
Zur Medizinalreform.563
Eine Entscheidung zum Taxgesetz in Bezug auf die Berechnung der
Tagegelder.565
Epidemiologische Erfahrungen über Diphtherie. Dr. Richter .... 577
Zur Stellungnahme der Kreisphysiker. Dr. Reimann .591
Hygienische Seminarkurse. Dr. Dyrenfurth.616
Inhalt.
y
8e!te
H. Berichte aus Versammlungen und Vereinen.
Bericht Uber die 26. Versammlung der Medizinalbeamten des Reg. -Bez.
Arnsberg (Berichterstatter: Reg.- und Med.-Rath Tenholt):
a) Die Phosphorvergiftung vom gerichtsärztlichen Standpunkte.
Dr. Schulte . 41
b) Massregeln zur Abwehr der Cholera. Dr. Tenholt. . . 41
Bericht über die Versammlung der Physiker des Herzogthums B r a u n -
schweig (Berichterstatter: Physikus Dr. de Bra).
a) Berathung der Statuten. 75
b) Einrichtung von Fortbildungskursen. 75
c) Gerichtsärztliche Gebühren. Dr. de Bra. 76
Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. zu Berlin abge¬
haltene X. Hauptversammlung des Preussischen Medizinal-
Beamtenvereins. (Berichterstatter: Dr. Rapmund. Ver¬
gleiche Anhang.181
Bericht über die 4. Versammlung des Vereins der Medizinalbeamten des
Reg.-Bez. Stettin (Berichterstatter: Dr. Frey er).
a) Besprechung amtlicher Verfügungen.237
b) Erfahrungen und Anschauungen über asiatische Cholera.
Dr. Wilhelmi .237
Bericht über die am 25. und 26. Mai d. J. in Frankfurt a. M. stattgehabte
XV. Jahressitzung des Vereins der Deutschen Irrenärzte.
(Berichterstatter: Med.-Rath Dr. Siemens).
a) Psychiatrie und Seelsorge. Dr. Siemens und Dr. Zinn 302
b) Die Bestrebungen zur Abänderung des Verfahrens bei der
Anstaltsaufnahme und bei der Entmündigung der Geistes¬
kranken. Dr. Zinn .328
c) Die zweckmässigste Art der Gehirnsektion. Dr. Siemerling
und Dr. W e i g e r t.330
d. Genese der konträren Sexualempfindung. Dr. Sioli . . . 330
Bericht über die vom 25.—28. Mai d. J. in Würzburg stattgehabte
XVID. Versammlung des Deutschen Vereins für öffent¬
liche Gesundheitspflege.
I. Die unterschiedliche Behandlung der Bauordnungen für das
Innere, die Aussenbezirke und die Umgebung von Städten.
Oberbürgermeister Adiek es und Prof. Dr. Baumeister 331
IL Reformen auf dem Gebiete der Brodbereitung. Professor Dr.
Lehmann .335
III. Ueber die Grundsätze richtiger Ernährnng und die Mittel,
ihnen bei der ärmeren Bevölkerung Geltung zu verschaffen.
Dr. Pfeiffer und Stadtrath Kalle .356
IV. Vorbeugungsmassregeln gegen Wasservergeudung. Direktor
Kümmel .374
V. Die Verwendung des wegen seines Aussehens oder in gesund¬
heitlicher Hinsicht zu beanstandenden Fleisches, einschliesslich
der Kadaver kranker getödteter oder gefallener Thiere.
Dr. Lydtin .375
Bericht über den Deutschen Aerztetag in Breslau.
1. Aerztlicher Dienst in Krankenhäusern. Dr. Cnyrira . . . 358
2. Entwurf eines Gesetzes zur Abwehr gemeingefährlicher Krank¬
heiten. Dr. Busch . •. 359
Bericht über die 46. Konferenz der Medizinalbeamten des
Regierungsbezirks Düsseldorf am 29. April 1893. (Be¬
richterstatter: Dr. Hofacker-Düsseldorf).
a) Regeln für die Ernährung der Kinder.360
b) Thesen über Vorschläge zur Abfassung einer Polizeiverord¬
nung, betreffend die Desinfektion der Wohnungen bei an-
steckendenKraukheiten. Dr. Bauer uud Dr. A1 b e s . . 360
c) Begräbnissordnung. Dr. Wieseines .361
Bericht über die III. Versammlung der Medizinal beamten des
VI
Inhalt.
Belte.
Regierungsbezirks Stade am 16. Angnst d. J. (Bericht¬
erstatter : Dr. Westrum -Geestemünde).
1. Stellung der preussischen Kreisphysiker. Dr. Rusak . . 451
2. Desinfektoren und Desinfektionen auf dem platten Lande.
Dr. Röhrs .453
Bericht über die vom 11—16. September d. J. in Nürnberg stattgehabte
65. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte
(Berichterstatter: Dr. Leppmann-Berlin).
a) Ueber die Alkoholfrage vom ärztlichen Standpunkte aus.
Dr. Strümpell .483
b) Schädelbrüche und Verletzungen. Dr. Reubold . . . . 509
c) Bemerkungen zur Geschichte der gerichtlichen Sektion.
Derselbe .509
d) Ueber die Erscheinungen an nach Suspension Wiederbelebter
mit deren Bedeutung für den Gerichtsarzt. Dr. Seydel. . 510
e) Ueber tödtliche Kopftraumen ohne makroskopische Verände¬
rungen. Derselbe .510
f) Die kriminalpsychologische und kriminalpraktische Bedeutung
des Tätowirens der Verbrecher. Dr. Le ppmann-Berlin 511
Bericht über die 5. Versammlung des Vereins der Medizinalbeamten des
Regierungsbezirks S te 11 i n am 23. Oktober d. J. (Berichterstatter:
Dr. F r e y e r - Stettin).
a) Die Cholera in ihren Beziehungen zum Wasser, mit besonderer
Berücksichtigung der Cholera zur Zeit in Stettin. Dr.
Pfeifer-Berlin .528
b) Die neueren Methoden der bakteriologischen Choleradiagnose
mit gleichzeitiger Demonstration bakteriologischer Cholera¬
präparate. Dr. Ko Ile-Berlin.528
Bericht über die 47. Konferenz der Medizinalbeamten des Regierungs¬
bezirks Düsseldorf am 4. November 1893 (Berichterstatter:
Dr. Hofacker-Düsseldorf).
a) Besprechung amtlicher Verfügungen.592
b) Begräbnissordnung. Dr. Sehr uff-Neuss .592
c) Das Brausebad. Dr. Wolff-Elberfeld.592
d) Regeln für die Ernährung und Pflege der Kinder im ersten
Lebensjahre. Dr. Hartcop-Barmen .592
Bericht über die am 10. Oktober d. J. in Offenburg stattgehabte Ver¬
sammlung des Badischen staatsärztlichen Vereins.
a) Entwurf einer neuen Dienstanweisung für Hebammen. Dr.
Battlehner .620
b) Ueber das gerichtsärztliche Gutachten. Derselbe . . . 621
c) Ueber forense Begutachtung von Bewusstlosigkeitszuständen.
Dr. Reich .621
Bericht über die Herbstversammlung des Vereins derAerzteHohen-
zollerns am 28. Oktober d. J. (Berichterstatter: Reg.-und Med.-
Rath Dr. Schmidt).
a) Ueber Medizinal-Gesetzgebung in Hobcnzollern. Dr. Schmidt 621
b) Erstattung der Impftermins-Uebersichten. Dr. Stauss . . 623
c) Ueber eine unter den Mannschaften der Garnison der Burg
Hohenzollern beobachtete isolirte Epidemie von Influenza.
Dr. Woerner-Hechingen.623
Anhang.
Offizieller Bericht über die X. Hauptversammlung des Preussischen Medizinal¬
beamtenvereins.
1. Eröffnung der Versammlung. 1
2. Geschäfts- und Kassenbericht; Wahl der Kassenrevisoren . . 5
3. Der Entwurf eines Gesetzes betreffend die Bekämpfung gemein¬
gefährlicher Krankheiten. Dr. Ra pm und-Minden. 7
4. Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten. Dr. Fielitz-
Hallea. S. .....'. T>4
VII
8 eite.
5. Zar Lehre von der Arsen Vergiftung. Dr. Strass mann'Berlin 72
6. Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. Dr. L epp mann -
Moabit . 90
7. Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens. Dr. Mey-
h ö f e r - Görlitz. 96
8. Bericht der Kassenrevisoren und Vorstandswahl.111
9. Demonstration eines Cholera - Kastens. Dr. Petri-Berlin . . 113
10. Ueber Unfall und Bruchschaden. Dr. Grisar-Trier .... 116
11. Diskussionsgegenstände:
a) Amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte. Dr. Kollm-
Berlin.135
b) Die Gebühren für die Untersuchungen von Personen in
der Wohnung des Medizinalbeamten oder für Aktenstudium
behufs Abgabe eines mündlichen Gutachtens im Termin
Derselbe. 140
12. Anlage zu dem Vortrage, betreffend den Entwurf des Reichs¬
seuchengesetzes .147
13. Mitgliederverzeichniss.154
III. Kleinere Mittheilungen und Referate aus
Zeitschriften u. s. w.*)
A. Gerichtliche Medizin.
Le d61ire de pers6cntion A Evolution systematique. Professor Dr. G. Ballet
(Woltemas). 11
Un cas d’infanticide par l’ingestion d’un potage contenant des fragments
d’öponge. Dr. Cazeneuve (Ders.). 43
Ueber den Nachweis des Kohlenoxydgases im Blute. Prof. Dr. L a n d o i s
(Israel) . 43
Beiträge zur Kasuistik der traumatischen Trommelfellrupturen. Dr.
V e i t h (Ders.). 44
L’obsession criminelle morbide. Dr. Magnan. L’obsession de meurtre.
Dr. Ladame (Kühn). 76
Ueber schwere Körperverletzung. Dr. Moritz (Israel). 95
Der Einfluss von Bewegungen einer Kindesleiche auf deren Respirations¬
und Digestionstractus. Dr. Merkel (Rump).116
In das Berliner Leichenschauhaus eingelieferte Leichen pro Oktober, No¬
vember, Dezember 1892 und Januar, Februar, März 1893 ... 217
Die Bedeutung der Thymushypertrophie bei forensischen Sektionen. Dr.
C. Seydel (Israel).217
Bedeutung der Zeichen für wiederholte Geburt. Dr. Schilling (Ders.) 217
Trauma und Infektion in ihrer beiderseitigen aetiologischen Bedentung
für die Meningitis in forensischer Beziehung. Dr. Arnstein (Ders.) 218
Die Kriminalität Geisteskranker. W. S. Iwanowa (Kalischer) . . . 404
Kopfverletzung, anscheinende Heilung, Meningitis und Tod nach 3 Wochen
Dr. Müller (Rump).405
La teratofobia. Contributo allo studio della paranoia rudimentale. II mani-
comio moderno 1891. Venanzio (Kalischer).431
Cocainismus. J. B. Mattisen (Ders.).431
Atypische Lage der Einschussöffnung beim Selbstmord durch Schuss in
den Kopf. Dr. Albin Haberda (Israel).454
Selbsterdrosselung eines Alkoholikers. Derselbe (Israel).454
Ein Fall von Salpetersäurevergiftung. Dr. Carl Ipsen (Dütschke) . . 455
Ueber die Ursachen des Flüssigbleibens des Blutes bei der Erstickung und
anderen Todesarten. Dr. Gabriel Co rin (Dütschke).484
*) Die Namen der Referenten sind eingeklammert beigefügt.
vm
Inhalt.
8citc.
Die Verletzungen des Mastdarms vom gerichtsärztlichen Standpunkt. Dr.
Adolf Mantzel (Israel).485
Die Beurtheilung der perversen Sexual vergehen in foro. Dr. C. Seydel
(D11t8chke).512
Der Geisteszustand der Gebärenden. Dr. Dörfler (Rump).513
Blutspuren von zerdrückten Wanzen herrührend. Dr. Schöfer (Flatten) 513
Leben ohne Athraen. Dr. Ignaz Mair (Rump).529
Ueber die Wunden des Herzens. Dr. A. Elten (Dütschke).530
Ueber Arsenikvergiftung in gerichtsärztlicher Beziehung. Stabsarzt Dr.
Sc hum bürg (Dütschke).531
Recherches sur le diagnostic du sang en mMecine legale. Dr. Cor in
(Woltemas).532
Welchen Werth hat die mikroskopische Gonokokkenuntersuchung. Prof.
Dr. Neisser (Dütschke).532
Ueber Herzschlag mit tödtlichem Ausgang. Prof. Dr. Dittrich
(Mittenzweig).593
Mord durch Erdrosselung, kombinirt mit Halsschnittwnnden. Dr. Haberda
(Israel).594
Ueber Kehlkopffrakturen. Dr. Max Scheier (Israel).624
Wieviel Morphium darf ein Arzt einem Kranken als Einzeldosis verord¬
nen? Dr. Lewin (Mittenzweig).625
Ueber Irrthum und Irresein. Prof. Dr. F. Jolly (Mittenzweig) . . . 626
B. Hygiene und öffentliches Sanltltswesen.
Die Choleraepidemie im Jahre 1892. (Rpd.) . 12
Ueber den Einfluss des Lichtes auf Bakterien. Professor Dr. Büchner
(Langerhans). 16
Zur Kenntniss der Vertheilung der Wasserbakterien in grossen Wasser¬
becken. Dr. Justin Karlinski (Ders.) . . .. 16
Ueber das Vorhandensein des Löf fl er'sehen Bacillus im Schlunde bei
Individuen, welche eine diphtheritische Angina durchgemacht haben.
Fr. Tobicsen (Ders). 16
Die Nährgelatine als Ursache negativen Befundes bei Untersuchung der
Fäces auf Cholera-Bazillen. Dr. Max D ahmen (Ders.) .... 17
Ein Bestek zur Untersuchung auf Cholera-Bakterien. Dr. S. Rembold
(Ders.). 17
Ueber Kochverfahren zum Zwecke der Erhaltung des Fleisches kranker
Thiere als Nahrungsmittel. Dr. Hertwig (Meyhöfer) .... 18
Untersuchungen über die Verwendbarkeit des Aluminiums zur Herstellung
von Ess-, Trink- und Kochgeschirren. Reg.-Rath Dr. 0 h 1 m ü 11 e r
uud Dr. Heise (Rpd.). 19
Die Kost der Haushaltungsschule und der Menage der Friedrich Krupp’-
sehen Gussstahlfabrik in Essen. Dr. W. Prausnitz (Langerhans) 20
Die Entwickelung der sanitätspolizeilichen Massnahmen in Preussen
gegen das Wochenbettfieber und ihre Wirksamkeit. Dr. N e s e -
mann (Blockusewski). 21
Untersuchungen über den Typhus-Bacillus und den Bacillus coli communis
Dr. Wm. Dun bar (Langerhans). 45
Untersuchung der Marktmilch in Giessen. Dr. pliil. Uhl (Ders.) ... 46
Ueber die Giftigkeit des von Menschen inhalirten Schwefelwasserstoffs
mit besonderer Rücksicht auf die Fabrikhygiene. A. K w i 1 e c k i
(Israel). 46
Eine Epidemie von hysterischen Krämpfen in einer Dorfschule. Prof.
Dr. Hirt (Dütschke). 47
Bewegung der Bevölkerung des Deutschen Reiches im Jahre 1891 ... 48
Die Beziehungen der Fliegen zur Verbreitung der Cholera. Dr. J.
Sawtschenko (Langerhans). 76
Zur Aetiologie von Masern, Pocken, Scharlach,Syphilis. Dr. P. Döhle (Ders.) 77
Inhalt
IX
Seite.
Die Infektionskrankheiten in Oesterreich während des Jahres 1891. (Rpd.) 77
Bewegung der Bevölkerung in Frankreich im Jahre 1891. (Rpd.) . . 79
Verbreitung der Tollwuth im Deutschen Reiche während des Jahres
1891. (Rpd.). 97
Uebertragungen von Thierseuchen auf Menschen im Deutschen Reiche
während des Jahres 1891. (Rpd.). 98
Ueber Anstellung von Bezirkshebammen. Dr. Kornfeld . 98
Beitrag zur bakteriologischen Differential-Diagnose der Cholera. Dr.
Bleisch (Langerhans).117
Zur Kenntniss des Wacbsthums der Cholerabazillen auf Kartoffeln. Dr.
Krannhals (Ders.).118
Schütz gegen Seuchen. Dr. Vogel (Ders.).118
Die Cholera in Russland im Jahre 1892. (Rpd.).119
Die Verbreitung der Cholera in den im österreichischen Reichsrathe ver¬
tretenen Königreichen und Ländern im Jahre 1892. (Rpd.) . . . 121
Die Aetiologie des infektiösen fieberhaften Ikterus (W eil’ sehe Krank-
keit). Dr. H. Jäger (Langerhans).150
Ueber die in Preussen 1892 getroffenen Massnahmen gegen die Cholera. (Rpd.) 151
Ueber die Massnahmen gegenüber der Gefahr einer neuen Choleraepidemie
in Hamburg. (Rpd.).152
Die Ursache der Cholera in Budapest.200
Ueber eine die Nachweisung von Choleravibrionen im Wasser erleichternde
Untersuchungsmethode. Dr. Poniklo (Flatten).218
Die Dauer der Verwesung in Gräbern. Dr. Brouardel und du
Mesnil (Ders.).219
Die Methoden der Fleischkonservirung. Dr. Plagge und Dr. Trapp
(Schubert).219
Ueber die gesundheitlichen Nachtheile des Bewohnens feuchter Wohnun¬
gen und deren Verhütung vom sanitätspolizeilichen Standpunkte.
Dr. A s c h e r (Autoreferat).219
Die Verhütung des Kindbettfiebers. Dr. Löhlein (Gleitsmann) . . . 238
Einfluss der Steil- und Schrägschrift. Bericht der Kommission des ärzt¬
lichen Bezirksvereins in München. Dr. Brunner und Oberstabs¬
arzt Dr. Seggel (Rpd.).241
Ergebnisse der Schutzpockenimpfung im Königreiche Bayern im Jahre
1891. Dr. Ludwig Stumpf (Rpd.).242
Die Ergebnisse der Impfung im Grossherzogthum Hessen im Jahre 1891. (Rpd.) 243
Ergebnisse der amtlichen Pockentodesfallsstatistik im Deutschen Reiche
im Jahre 1891. Dr. Raths (Rpd.).244
Die Bewegung der Bevölkerung in Oesterreich während des Jahres 1891. (Rpd.) 245
Die Seehospize und die skrophulösen Kinder. Dr. Candela (Woltemas) 246
Bericht über den Gesundheitszustand der Provinz Neapel für 1891.
Dr. Bessone (Ders.).247
Ueber den augenblicklichen Stand der bakteriologischen Cholera-Diagnose.
Dr. R. Koch (Rpd.).305
Ueber einige Fehlerquellen bei Anstellung der Choleraroth - Reaktion und
ihre Vermeidung. Dr. M. Bleisch (Rpd.).308
Ueber das Verhalten der Cholerabazillen im Eise. Dr. Renck (Rpd.) . . 309
Weitere Beiträge zur Biologie des Cholerabacillus. Einfluss der Kälte auf
seine Lebensfähigkeit. Dr. Uf fei mann (Rpd.).309
Untersuchungen über die Brauchbarkeit der Berkefeld-Filter aus ge¬
brannter Infusorienerde. Dr. M. Kirchner (Rpd.).309
Zur Milchfrage. Dr. Pauly (Ascher).301
Die Methode der Milchkonservirung u. s. w. Dr. Weigmann (Ders.) . . 301
Die polizeiliche Ueberwachung von Milch. Dr. Marx (Ders.) .... 302
Milch als Nahrung. Dr. L ü 11. i g (Ders.).303
Die Frage der Verwerthnng des Fleisches tuberkulöser Schlachtthiere.
Sitzung des veterinärärztlichen Centralausschusses des Grossherzog¬
thums Hessen.363
Die Irren-, Heil- und Pflegeanstalten, sowie die Entbindungsanstalten des
Deutschen Reiches nach den Erhebungen der Jahre 1886, 1887 und
1888. Dr. Rahts (Israel).364
X
Inhalt.
Häufigkeit der Todesfälle im Wochenbett und an Kindbettfieber im Deut¬
schen Reiche. Dr. Rahts (Ders.).
Statistik der Krankenhäuser in Italien (Woltemas).
Laboratoriumscholera, beobachtet uud mit dem modifizirten Lick fett’
sehen Vei fahren in 6 Stunden bakteriologisch diagnostizirt. Dr.
Freymnth und Dr. Lickfett (Dütschke).
Zur Desinfektion der Choleraausleerungen. Dr. Eykmann (Ders.) . .
Ueber die Entstehung und Verbreitung der Choleraepidemie in Russisch-
Polen. 0. Bujwid (Langerhans).
Können lebende Cholerabazillen mit dem Boden- und Kehrichtstaub durch
die Luft verschleppt werdenP Dr. J. Uffelmann (Dütschke)
Untersuchungen über Immunität gegen Cholera asiatica. C A. Wasser¬
mann (Langerhans).
Untersuchungen über das Wesen der Choleraimrounität. R. Pfeiffer (Ders.)
Zur Prophylaxe der venerischen Krankheiten. Beschlüsse der Kommisson
der Berliner medizinischen Gesellschaft (Israel).
Festschrift zu Pettenkofer’s 60jährigem Doktor-Jubiläum (Langerhans) .
Ueber das Grundwasser von Kiel mit besonderer Berücksichtigung seines
Eisengehaltes und über Versuche zur Entfernung des Eisens aus
demselben. Dr. Bernhard Fischer (Ders.).
Akute psychische Epidemie in einer Mädchenschule. Dr. S. Re mb old
(Dütschke).
Die Beschlüsse der zur Berathung über die Organisation der öffentlichen
Idioten - Fürsorge eingesetzen Kommission. Dr. Alter (Kalischer)
Untersuchungen über die Giftigkeit der Expirationsluft. Julius Beu
(Langerhans).
Zur Erforschung der Typhusaetiologie. Dr. Pfuhl (Ders.).
Die Einwirkung niedriger Temperatur auf die Virulenz der Choleraspirillen
Dr. Alf. Montefusco (Woltemas).
Beitrag zur Biologie des Typhusbacillus. Derselbe (Ders.) . . . .
Wasserfiltration und Cholera. Dr. Rob. Koch (Langerhans).
Die Cholera. Prof. Dr. Gaffky (Ders.).. . .
Die Cholera asiatica, eine durch Cholerabazillen verursachte Nitritver¬
giftung. Dr. Rud. Emmerich und Dr. Tsuboi (Rpd.) . . .
Ein neuer Kommabacillus, Vibrio Berolinensis. Dr. R u b n e r (Rpd.) . .
Die Cholera in Deutschland während des Winters 1892 bis 1893. Dr.
Rob. Koch (Langerhans).
Scharlach und Impfung. Dr. Woltemas .
Ueber die Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in der Zeit vom
April 1890 bis Oktober 1891, nebst einem Beitrag zur Frage der
Bleiaufnahme durch Quellwasser. B. Proskauer (Langerhans) .
Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffiufabriken in medizinisch¬
polizeilicher Hinsicht. Dr. Hoffmann (Dütschke).
Morbidität und Mortalität der Bergarbeiter, insbesondere im rheinischen
Gebiet, und die zur Veränderung derselben erforderlichen Massregeln.
Dr. Körfer (Ders.).
Die Kohlenoxydgasvergiftung und die zu deren Verhütung geeigneten
sanitätspolizeilichen Massregeln. Dr. Ernst Becker (Ders.). . .
Vorschläge, betreffend die Anzeigepflicht bei Diphtherie. Dr. Joseph
Schrank (Langerhans).
Einige Ergänzungen zur Praxis der Desinfektion. Dr. Richard Trau-
gott (Ders.).. .
Die im Odergebiet 1881 beobachtete Schlammkrankheit. Superarbitrium
der Königl. Wissenschaftlichen Deputation. Dr. Gebhardt und
Dr. Rubner (Ders.) .
Die Frage der Verbesserung der Wohnungsverhältnisse auf der Konferenz
der Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen. Dr. H.
Albrecht (Meyhüfer).
Die Arbeiterwohnungsfrage in der Gesetzgebung verschiedener Länder.
J. Sttibben (Ders.).
In welcher Weise ist den heutigen gesundheitlichen Missständen der üb¬
lichen Arbeiterwohnungen auf dem Lande, in Ackerbau treibenden
Seite,
366
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379
380
381
383
383
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533
534
567
568
Inhalt.
XI
8eite.
und gewerblichen Gegenden erfolgreich entgegenzutreten. Dr. Marx
(Ders.).569
Zur Hygiene der Barbierstuben. Dr. Blaschko (Dütschke) .... 595
Formalin. Dr. J. Stahl (Overkamp).595
Vorläufige Mittheilung über die Desinfektion von Kleidern, Lcderwaaren,
Bürsten und Büchern mit Formaldehyd (Formaliu). Dr. Lehmann
(Ders.).596
Ueber einige Wirkungen des Formaldehyds. Dr. Gegner (Ders.) . . . 597
Experimentelle Untersuchungen über das in Greifswald eingeführte neue
Kübel - Reinigungsverfahren. Dr. Kornstädt (Langerhans) . . 597
Versuche über die Desinfektion der städtischen Abwässer mit Schwefel¬
säure. Dr. Ivauoff (Ders.).598
Ueber eine in Deutschland bestehende Lepraendemie. Dr. (Pindikowski
(Israel).627
Die Desinfektionsanstalt kleiner Städte. Dr. E. v. Esmarch (Jacobson) 628
Die Milch in Neapel. Dr. Alf. Montefusco (Hensgen).628
Ergebnisse der Fleischschau in den öffentlichen Schlachthäusern des
Königreichs Preussen (Rpd.).629
Das Irrenwesen in Schottland. (Kornfeld).680
Ergebnisse der Schutzpockenimpfung im Königreiche Bayern im Jahre
1892. Dr. Stumpf (Rpd.).631
Bewegung der Bevölkerung des Deutschen Reichs im Jahre 1892 (Rpd.) 631
IV. Besprechungen. *)
Ascher, Dr. B.: Zur staatlichen Beaufsichtigung der Irrenanstalten
(Kühn).101
Barth, Dr. Ernst: Die Cholera mit Berücksichtigung der speziellen
Pathologie und Therapie (Dütschke).384
Becker, Dr. R.: Sammlung gerichtsärztlicher Gutachten (Rump) . . 99
Behring, Dr.: Die Geschichte der Diphtherie (Caspar).518
Brockhaus: Konversations-Lexikon (Rpd.).462
Dornblueth, Dr.: Die Gesundheitspflege der Schuljugend (Overkamp) 25
Elsner, Dr. Fritz: Die Praxis der Chemiker bei Untersuchung von
Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenständen u. s. w. (Rpd.) . 274, 461
Endemann, Prof : Die Rechtswirkung der Ablehnung einer Operation
des körperlich Verletzten (Rump).599
Golebiewski, Dr.: Aerztliches Kommentar zum Unfallversicherungs¬
gesetz vom 6. Juli 1884 (Dütschke). 277
Gowers, W. R.: Syphilis und Nervensystem (Dütschke).385
Günther, Dr. tarl: Einführung in das Studium der Bakteriologie
mit besonderer Berücksichtigung der mikroskopischen Technik
(Langerhans).632
Hebammenkalender, Deutscher für das Jahr 1893 (Blockusewski) 102
Heidenhain, Dr.: Erste Hülfe vor Ankunft des Arztes und Desinfek¬
tion nach dem neuesten ministeriellen Erlass vom 28. Juli 1892
(Israel). 26
Kaufmann, Dr. Constantin: Handbuch der Unfall-Verletzungen mit
Berücksichtigung der deutschen, österreichischen und schwei¬
zerischen Unfallpraxis für Aerzte, Versicherungsbeamte und Juristen
(Dütschke). 50
Kerchensteiner, von, Dr.: Generalbericht über die Sanitäts-Ver¬
waltung im Königreich Bayern, das Jahr 1889 umfassend (Israel) 22
Koch, Dr. F. L. A.: Die psychopathischen Minderwerthigkeiten (Kühn) 100
Kobert, Dr. R.: Lehrbuch der Intoxikationen (Rpd.).275
Krafft-Ebing, v., R: Psychopathia sexualis (Kühn).409
Lenhartz, Prof. Dr. Hermann: Mikroskopie und Chemie am Kranken¬
bett (Rpd.).461
*) Die Namen der Referenten sind in Klammern beigefügt.
XD Inhalt.
Seite.
Lcssor, Dr. Adolf: Atla3 der gerichtlichen Medizin (Rpd.). 79
Li er sch, Dr. L. W.: Die linke Hand. Eine physiologische und medi¬
zinisch-praktische Abhandlung für Aerzte, Pädagogen, Berufs-
genossenschaften und Versicherungsanstalten (Israel).310
Liebreich, Der kleine. Pharmacopoea jocosa von Otto A q ui 1 a (Israel) 123
Lustig, Dr. A.: Diagnostik und Bakterien des Wassers (Rpd.) . . . 276
Magnan, V.: Psychiatrische Vorlesungen (Siemens).633
Mair, Dr. Ignatz: Gerichtlich - medizinische Kasuistik der Kunstfehler
(Rump).221
Menger, Dr. Henry: Ausrüstungs-Nachweis für transportable Baracken-
Lazarethe unter Angabe der Preise und Bezugsquellen (Rpd.) . 247
Moll, Dr. Albert: Die konträre Sexualempfindung (Kühn) . .411
N u 11 a 1, Dr. George H. F.: Hyginic measures in relation to infektions
diseases (Woltemas). 338
Oster tag, Dr. R : Handbuch der Fleischbeschau für Thierärzte, Aerzte
und Richter (Dtttschke). 48
Pactet, Dr.: Ali6n6s mfcconnus et condamnGs par les tribunaux (Kühn) 489
Penkert, Dr.: Anleitung zur Trichinenschau (Fielitz).153
Petri, Dr.: Der Cholerakurs im kaiserlichen Gesundheitsamte (Rpd.) . 460
Rehfisch, Dr. Eugen: Der Selbstmord (Kühn).413
Roth, Dr.: Sechster Generalbericht über das Sanitäts- und Medizinal¬
wesen im Regierungsbezirk Köslin (Woltemas).415
Richter, Dr. C.: Grundriss der Schulgesundheitspflege für Lehrer,
Schulleiter, Schulaufsichtsbeamte und angehende Schulärzte (Lan-
gerhans).436
Schnitze, R.: Bau und Betrieb von Volksbadeanstalten (Israel) . . . 310
Strack, Dr. H. L.: Der Blutaberglaube in der Menschheit, Blutmorde
und Blutritus (Caspar).221
W e r n i c h, Dr. und W e h m e r, Dr.: Sechster Gesammtbericht über das
Sanitäts- und Medizinalwesen in der Stadt Berlin während der Jahre
1889, 1890 und 1891 (Israel).535
Weyl, Dr. Th.: Studien zur Strassenhygiene mit besonderer Berücksichti¬
gung der Mtillverbrennung (Dütschke). 50
Wich mann, Dr. Ralf: Der Werth der Symptome der sogen, trauma¬
tischen Neurose und Anleitung zur Beurtheilung der Simulation
von Unfall-Nervenkrankheiten (Rpd.).336
Wiener, Dr.: Sammlung gerichtlich - medizinischer Obergutachten
(Rump).. . 122
Derselbe: Taxe für die preussischen Medizinalpersonen vom 21. Juni 1815
mit den Zusatzbestimmungen bis auf die neueste Zeit (Israel) . . 278
Winckler, Dr. Axel: Zur Beschränkung der Mineralwasserfabrikation
(Semann).‘ . . 25
Zeitschrift für Hypnotismus, Suggestionstherapie und verwandte psy¬
chologische Forschungen (Kühn).570
Y. Tagesnachricliten.
Adainkiewicz, 50jähriges Doktorjubiläum 543.
Aerzte, Umgestaltung der Prüfungen 542.
Aerztekammern, Disziplinarbefugniss derselben 223
Aerztetag 26, 279, 635.
Atteste, amtsärztliche für Staatsbeamte 339.
Anstalt, bakteriologische in Bonn 124.
Apothekenfrage 27, 179, 222, 490.
Apotheker, Umgestaltung der Prüfung 575.
Apothekerverein, Hauptversammlung 490.
Arzneitaxe für 1893 27.
Inhalt.
xin
Bakteriologie, staatliches Laboratorinm für dieselbe, in Bonn 124; in Bremen 248.
Bayern, Sitzung des Obermedizinalausschusscs 635.
Beckhaus, Dr. Geh. Sanitätsrath, Nekrolog 439.
Bonn, bakteriologische Anstalt 124.
Bremen, staatliches Laboratorium für Bakteriologie 248.
Charlotten bürg, eigenes Kreisphysikat 635.
Cholera, Ausbreitung 26, 55, 80, 104, 126, 179, 200, 224, 248, 280, 311, 312,
340, 368, 391, 416, 439, 463, 491, 519, 543, 575, 599, 636.
„ -Kongress russischer Aerzte 179.
„ Interpellation über dieselbe 279.
„ Nachrichten an die Zeitungen 312.
„ Vorlesungen über dieselbe für praktische Aerzte 311.
Deputation, wissenschaftliche für das Medizinal wesen; Sitzung derselben 543.
Drogen und chemische Präparate, Handel mit denselben 490.
Elbe, Verunreinigung derselben 124; gesundheitspolizeiliche Ueberwachung 440,
463, 491.
Entmündigung, s. Irrenwesen.
Falk, Dr. Prof., Nekrolog 543.
Feuerbestattung, s. Leichenverbrennung.
Fleischgenuss, Erkrankungen daran 340.
Fortbildungskurse, Errichtung derselben in Braunschweig 200.
Frauen, Zulassung zum Studium der Medizin 126.
Geisteskranke, Entmündigung und Unterbringung 80, 153.
Gesundheitsamt für das Deutsche Reich, Erweiterung der Befugnisse 125; neues
Dienstgebäude 126; Etat für 1894/95 599.
Giftverkehr 438, 462.
Gutachten, ärztliche über Erwerbsfähigkeit von Invalidenrentenbewerbern 180.
Hamburg, Verkehr mit Kuhmilch 55.
B Gesetz über Wohnungspflege 312.
Havel, gesundheitspolizeiliche Ueherwachung 440, 463.
Irrenseelsorgcr, Verein evangelischer 462.
Irrenwesen, Umgestaltung desselben 279, 438, 575.
Konferenz, internationale Sanitäts- 155, 180, 223, 311.
Kongress, XI. internationaler, medizinischer in Rom 51, 56, 386, 416, 575, 635.
„ XII. für innere Medizin 103.
„ XII. der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 103.
„ VIII. internationaler für Hygiene und Demographie in Budapest 156,
280, 635.
„ V. der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie 200.
„ I. internationaler Samariter 311, 416.
„ IV. „ gegen den Missbrauch alkoholischer Getränke 367.
Konzessionsfrage der Apotheken 490.
Kuhmilch, Verkehr mit derselben in Hamburg 55.
Kurse, hygienische für Verwaltungsbeamte 248, 416.
Krankheiten, ansteckende, Bekämpfung derselben, s. Seuchengesetz.
Leichenverbrennung 104, 125, 178.
Mediziualreibrm 26, 247, 279, 338, 438, 490.
Medizinalwesen, preussisches im Staatshaushaltsetat 53.
Memel, gesundheitspolizeiliche Ueberwachung des Stromgebietes 544.
Moeli, Prof. Dr., Berufung als Hülfsarbeiter an die Medizinalabtheilung des
Kultusministeriums 519.
München, Schwemmkanalisation 28.
Naturforscher und Aerzte, Versammlung 200, 386, 635.
Oder, gesundheitspolizeiliche Ueberwachung 543.
Pettenkofer, von; Jubiläum 367.
Pocken in Gera 463.
Prüfungen, Umgestaltung der medizinischen 542.
„ der Thierärzte, Zahnärzte und Apotheker 575.
Rhein, gesundheitspolizeiliche Ueberwachung 440, 463.
Ruhr-Epidemie in Tilsit 463.
Sachsen, Sitzung des Landesmedizinalkollegiums 634.
Sanilätskonferenz, internationale (s. Konferenz).
XIV
Inhalt.
Schwemmk&nalisation in München 28.
Seuchengesetz für das Deutsche Reich 26, 80, 104, 154, 886, 574.
Spree, gesnndheitspolizeiliche Ueberwachung 440.
Teltow, Theilung des Kreisphysikats 635.
Taxfrage, Atteste für Staatsbeamte 339.
Thierärzte, Zulassung znm Studium derselben 543, 575.
Typhus im bayerischen Infanterie-Leib-Regiment zu München 340, 368.
Unterrichtskurse, bakteriologische 154.
Ungarn, Organisation der staatlichen Gesundheitspflege 634.
Verein, deutscher für öffentliche Gesundheitspflege 26, 156.
„ für gesundheitsgemässe Erziehung der Jugend 635.
Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Nürnberg 200, 386.
Warthe, gesundheitspolizeiliche Ueberwachung 440, 463.
Weichsel, gesundheitspolizeiliche Ueberwachung 223, 440, 463.
Wohnungspflege, Gesetz darüber in Hamburg 312.
Zahnärzte, Umgestaltung der Prüfung 575.
YI. Yerschiedenes.
Preussischer Medizinalbeamtenvcrein 56, 127, 280, 391, 600.
Berichtigungen 126, 340.
Offener Brief 248.
Sachregister.
Abdeckerei, Grundsätze für ihre Ein¬
richtung 377.
Abgeordnetenhaus, Verhandlungen über
den Medizinaletat 137 u. 173; über
Massregeln gegen Cholera 341.
Abwässer, Desinfektion städtischer durch
Schwefelsäure 598.
Aerzte, Umgestaltung der Prüfungen
542; bakteriologische Kurse Uber
Cholera für praktische Aerzte 311;
Dienst derselben in Krankenhäusern
368.
Aerztekammern, Disziplinarbefugniss
derselben 223.
Aerztetag 26, 279, 635.
Aggravation bei Augenverletzungen
493 u. 689, von Amblyopie 584.
Alkoholfrage, vom ärztlichen Stand¬
punkte 433.
Alkoholiker, Selbstmord eines solchen
durch Erdrosseln 454.
Altona, Auftreten der Cholera 26, 55,
80, 104, 126, 491, 519, 543.
Aluminium, Verwendung zu Ess-, Koch-
und Trinkgeschirren 19.
Amblyopie, Aggravation derselben 493,
584 u. 598.
Ansteckende Krankheiten, in Oester¬
reich (im Jahre 1891) 77; Be¬
kämpfung 338 (s. auch Seuchen gesetz).
Anzeigepflicht bei Diphtherie 533.
Apfelschnitte, amerikanische 112.
Apotheken, Revisionen in alter Zeit
430; Apothekenfrage 27,179,222,490.
Apotheker, Umgestaltung der Prüfung
575.
Apothekerverein 490.
Arabien, Auftreten der Cholera, s. Mekka.
Arbeiterwohnungen 567, 568 u. 569.
Arnsberg, Reg.-Bez, Versammlung der
Medizinalbeamten 41.
Arsenvergiftung 191,531 u. Anhang 72.
Arzneitaxe (für 1893) 27.
Atlas der gerichtlichen Medizin 79.
Atteste, amtsärztliche für Staatsbeamte
94, 197, 339 u. Anhang 135, s. auch
Gutachten und Gebühren.
Augenverletzungen, Aggravation bei
denselben 493, 589.
Baden, Dienstanweisung für Hebammen
620.
Bakterien des Wassers 16, 276; Ein¬
fluss des Lichtes auf 16 (s. auch Ba¬
cillus).
Bakteriologie, Laboratorium für die¬
selbe in Bonn 124, in Bremen 248;
Handbuch der Bakteriologie 632 (s.
auch Kurse).
Barackenlazarethe, transportable, Aus¬
rüstung derselben 243.
Barbierstuben, Hygiene derselben 595.
Bauordnungen, der Städte 331.
Bayern, Gesundheitswesen (im Jahre
1889) 22 ; bakteriologische Kurse 154;
Ergebnisse der Impfung (im Jahre
1891) 242, (im Jahre 1892)631; Sitzung
des Obermedizinal-Ausschusses 635.
Bacillus, der Diphtherie 16, des Typhus
45, 433, Bacillus coli communis 45,
der Cholera 17, 117, 118, 218, 305,
308, 309, 374, 381, 433, 459.
Begräbnissordnung 361, 592.
Belgien, Auftreten der Cholera 463,
492, 519, 600, 636.
Berichtigungen 126, 340.
Berkefeld-Filter 309.
Berlin, Generalsanitätsbericht 535.
Bevölkerung, Bewegung derselben im
Deuschen Reiche (1891) 48, (1892)
631; in Frankreich (1891) 79, in Oe¬
sterreich (1892) 245.
XVI
Sach - Register.
Bewusstlosigkeit, gerichtsärztliche Be¬
gutachtung derartiger Zustände 621.
Bezirkshebammen, Anstellung derselben
98.
Blattern, s. Pocken.
Blut, Nachweis von Kohlenoxyd 43;
Untersuchung nach Katayama 209;
Ursache des Flüssigbleibens 484;
Blutuntersuchungen in forensischer
Beziehung 532.
Blutaberglaube, Blutmorde und Blut¬
ritus 221.
Blutspuren von Wanzen 513.
Bonn, bakteriologische Anstalt 124.
Bosnien, Auftreten der Cholera 514,
575, 600, 636.
Botulismus 601.
Braunschweig, Versammlung der Me¬
dizinalbeamten 75; Fortbildungskurse
für Medizinalbeamte 200.
Brausebad, 310, 592.
Bremen, bakteriologisches Laborato¬
rium 248.
Brodbereitungen, Reformen auf dem Ge¬
biete derselben 335.
Bruchschaden und Unfall 195 sowie An¬
hang 116.
Budapest, s. Pest.
Buckowina, Auftreten der Cholera 440,
575, 600.
Charlottenburg, eigenes Kreisphysi-
kat 635.
Chemie und Mikroskopie am Kranken¬
bett 461.
Cholera, Aetiologie, Pathologie, Dia¬
gnose u. s. w. 17, 117, 118, 218, 237,
305, 308, 381, 384, 433, 455, 459;
Cholera und Wasserversorgung bezw.
Wasserfiltration 433, 528; Verhalten
der Cholerabazillen gegen Tempera¬
tureinflüsse, im Eise u. s. w. 309,
433; Verbreitung derselben durch
Fliegen 76, durch die Luft mittels
Staubes 381; Laboratoriums-Cho¬
lera 378; Massregeln gegen Cho¬
lera 41, 71, 151, 152, 279, 341;
Kurse zur sanitätspolizeilichen Be¬
kämpfung der Cholera 154, 251,311,
372; unbefugte Nachrichten über
Cholera 312; Cholerakasten 17, 195
und Anhang 113; Cholera-Immunität
383; Cholera, eine Nitritvergiftung
457; Desinfektion von Choleraaus¬
leerungen 379; Entstehung und Ver¬
breitung der Cholera in Nietleben
57, in Deutschland (1892) 12, 486,
in Russland und Russisch-Polen 119,
380, in Oesterreich 121; im Jahre
1893: 26, 55, 80, 104, 126, 179, 224,
248, 311, 312, 340, 368, 391, 416,
439, 463, 491, 519, 521, 528 (in
Stettin nnd im Kreise Randow) 543,
575, 599, 636.
CocainiBmus 431.
Deputation, wissenschaftlichejfür das
Medizinalwesen, Sitzung derselben
543.
Desinfektion, auf dem Lande 72, 137,
453, von Wohnungen 360, von Cho-
leraausleernngen 379; Ergänzungen
zur Praxis der Desinfektion 533;
Anwendung von Formalin zur Des¬
infektion 595, 596, 597; Desinfektion
städtischer Abwässer durch Schwe¬
felsäure 598.
Desinfektionsapparat, einfacher 9.
Desinfektionsanstalt kleinerer Städte
628.
Desinfektoren, auf dem Lande 463.
Deutsches Reich, Bewegung der Be¬
völkerung 48, 631; Verbreitung der
Tollwuth 97; Uebertragung von Thier¬
seuchen auf Menschen 98; Pocken¬
todesfallstatistik (im Jahre 1891) 244;
Gesundheitsamt 125, 126, 599; Auf¬
treten der Cholera (1892) 12, 486;
(1893) 439, 463, 491, 519, 543, 575,
599, 636; Entwurf eines Seuchen¬
gesetzes (s. Seuchengesetz); Entwurf
von Vorschriften für den Giftverkehr
438, 462, 465, 477; Irren-, Heil-,
Pflege- und Entbindungsanstalten (in
den Jahren 1886—1888)364; Häufig¬
keit der Todesfälle im Wochenbett
366; Lepraendemie 627.
Diphtherie,Vorhandensein des Löffler
sehen Bacillus im Schlunde genesener
Diphtherie - Kranker 16; Geschichte
d. Diphtherie 518; Anzeigepflicht 533;
epidemiologische Erfahrungen 577.
Drogen und chemische Präparate, Han¬
del damit 490.
Düsseldorf, Versammlung der Medizinal-
beamteu 360, 592.
Eisen, Gehalt desselben im Wasser
und seine Entfernung 406.
Eisenbahnverkehr, Massregeln in dem¬
selben gegen Cholera 441.
Elbe, Verunreinigung derselben 124;
gesundheitspolizeiliche Ueberwachung
440, 463, 491.
England, Auftreten der Cholera 463,
492, 544, 575.
Entbindungsanstalten im Deutschen
Reiche 364.
Entmündigung der Geisteskranken 80,
153, 169, 279, 328, 438, 575.
Epidemiologische Kurse im Reichsge¬
sundheitsamt ; in Sachsen und Bayern
154, in Preussen für Kreisphysiker
251, 372; für praktische Aerzte 311.
Sach-Register.
xvn
Erdrosseln, Selbstmord eines Alkoholi¬
kers durch 434; Mord durch Er¬
drosselung kombiuirt mit Halsschnitt¬
wunden 594.
Erfrieren, Tod durch; Leichenbefund
dabei 201.
Erhängte. Erscheinungen bei wieder¬
belebten 510.
Ernährung, Grundsätze richtiger bei
der ärmeren Bevölkerung 356; der
Kinder 360, 592.
Erschiessen, Selbsmord durch 454.
Expirationsluft, Giftigkeit derselben
431.
Feuerbestattung, s. Leichenverbren¬
nung.
Filter, Berkefeld - 309.
Fleisch, Konservirung 219; Verwendung
des von tuberkulösen Thieren stam¬
menden oder sonst beanstandeten
363, 375; Kochverfahren desselben
18.
Fleischbeschau 48; Ergebniss in den
öffentlichen Schlachthäusern Preussens
629.
Fleischvergiftung 340, 601.
Fliegen, als Verbreiter der Cholera
76.
Formalin, Formaldehyd, Verwendung
zur Desinfektion 395, 596, 597,
Fortbildungskurse, s. Kurse.
Frankreich, Auftreten der Cholera 55,
104, 126, 200, 274, 248, 280, 312,
340, 368, 391, 416, 463, 492, 519,
544, 575, 600, 636; Bewegung der
Bevölkerung (1891) 79.
P'rauen, Zulassung zum Studium der
Medizin 126.
Galizien, Auftreten der Cholera 27,
55, 80, 104, 126, 200, 224, 248, 260,
312, 416, 463, 492, 519, 544, 575,
599, 636.
Gebärende, Beurtheilung ihres Geistes¬
zustandes 513.
Gebühren, für amts- und gerichtsärzt¬
liche Thätigkeiten 91, 94; bei Vor¬
untersuchungen in der Wohnung des
Arztes 193, 262 und Anhang 140;
gerichtsärztliche in Braunschweig
76.
Geburt, wiederholte, Zeichen dersel¬
ben 217.
Gehirn, Sektion desselben 330.
Geisteskranke, Entmündigung und Un¬
terbringung in eine Irrenanstalt 80,
153,169,279, 328, 438,575; Fürsorge
für geisteskranke Strafgefangene 192
und Anhang 90; Kriminalität der¬
selben 404.
Generalbericht über das Gesundheits¬
wesen in Bayern 22, im Reg.-Bez.
Kösliu 415, in Berlin 535.
Gesundheitsamt, für das Deutsche Reich
125, 126, 599.
Gifte, Diffusion derselben in mensch¬
lichen Leichen 393; Entwurf von
Vorschriften für den Verkehr mit
Giften 438, 462, 465, 477.
Gonokokken-Untersuchung, Werth der¬
selben 532.
Greifswald, Kübelsystem 597.
Gutachten, Regresspflichtigkeit der
medizinischen 166, ärztliche über Er¬
werbsfähigkeit von Invalidenbewer¬
bern 180; gerichtsärztliche bei Ob¬
duktionen und bei Zuständen von
Bewustlosigkeit 621; Sammlung ge¬
richtsärztlicher 99, 122, s. auch
Atteste.
Halsschnittwunden und Erdrosselung,
Mord durch 594.
Hamburg, Auftreten der Cholera 26,
55, 80, 104, 126, 280, 312, 491,519,
543 u. 599; Massregeln gegen die
Cholera 152; Verkehr mit Kuhmilch
55; Gesetz über Wohnungspflege
312.
Hand, die linke 310.
Havel, gesnuilheitspolizeiliche Ueber-
wachung 440, 463.
Hauskaltungsschule bei der Krupp’
sehen Gussstahlfabrik 20.
Hebammen, Anstellung von Bezirksheb¬
ammen 98; Entwurf einer Dienstan¬
weisung für dieselben im Grossher¬
zogthum Baden 620; Hebammen und
Pfuschcrinneu 545.
Hebammenkalender, Deutscher 102.
Heilanstalten im Deutschen Reich 364;
in Italien 367.
Herz, Wunden desselben 530.
Hessen, Ergebnisse der Impfung (im
Jahre 1891) 243.
Hohenzolleru, Medizinalgesetzgebung
621, Impftermins-Uebersichten 623,
Influenza - Epidemie 623.
Holland, s. Niederlande.
Hülfe, erste vor Ankunft des Arztes 26.
Hypnotismus, Zeitschrift für 570.
Hysterie, epidemische unter Schulkin¬
dern 47, 407.
Icterus, zur Aetiologie des infektiösen
150.
Idioten, Fürsorge für 408.
Immunität gegen Cholera 383.
Impftermins - Uebersichten, Erstattung
in Hokenzollern 623.
Impfung, Ergebnisse in Bayern (1891)
xvm
Sach - Register.
242, (1892) 631; in Hessen (1891)
243; Impfung und Scharlach 514.
Infektion und Trauma, forensische Be¬
deutung für Meningitis 218.
Infektionskrankheiten, s. ansteckende
Krankheiten.
Influenza - Epidemie auf der Burg Ho-
henzollern 623
Intoxikationen, Lehre der 275.
Irrenärzte, Bericht über die Versamm¬
lung des Vereins deutscher Irren¬
ärzte 802, 330.
Irrenanstalten im Deutschen Reiche 364.
Irrenseelsorger, Verein evangelischer
462.
Irren wesen, Umgestaltung desselben
279, 438, 575, staatliche Beaufsich¬
tigung 101, 193 u. Anhang 96; in
Schottland 630; siehe auch Geistes¬
kranke.
Irresein und Irrthum 626.
Isenhagen, Kreis; gesundheitliche Ver¬
hältnisse der Volksschulen u. Schul¬
kinder 30, 60, 81, 109, 129 u.157.
Italien, Auftreten der Cholera 368, 391,
416, 440, 463, 492, 519, 544, 575,
600, 636.
Kelilkopffrakturen 624.
Kindbettfieber s. Wochenbettfieber.
Kinder, Ernährung 860, 592; Seehuspize
für skrophulöse 246.
Kindesleicke, Einfluss von Bewegungen
derselben auf die Athmungs- und
Verdauungswege 116.
Kindesmord, durch Beibringung von
Stücken eines Schwammes 43.
Körperverletzung, schwere 95.
Köslin, Reg.-Bez., Generalbericht über
das Gesundheit wesen 415.
Kohlenoxyd, Nachweis im Blute 43;
Verhütung der Vergiftung durch
Kohlenoxyd 516.
Konferenz, internationale Sanitäts- 155,
180, 223, 311.
Kongress, russischer Aerzte über Cholera
179, internationaler medizinischer 51,
56, 386, 416, 575, 635; für innere
Medizin 103; der deutschen Gesell¬
schaft für Chirurgie 103; für Gynä¬
kologie 200; internationaler für
Hygiene und Demographie 156, 280,
635; internationaler Samariter- 311,
416 ; internationaler gegen Missbrauch
alkoholischer Getränke 367; s. auch
Vereine und Versammlungen.
Konserviruug von Fleisch 219, von
Milch 863.
Konstantinopel, Auftreten der Cholera,
s. Türkei.
Kopfverletzung, s. Schädel Verletzung.
Krankenhäuser s. Heilanstalten.
Krankheiten, ansteckende, in Oesterreich
(1891) 77; Massregeln zu ihrer Be¬
kämpfung 338; s. auch Seuchengesetz.
Kreisphysiker, epidemiologische Kurse
für dieselben 154.251 u.372; Stellung
derselben 369, 402, 451, 591, angeb¬
liche Unzulänglichkeit ihrer Aus¬
bildung 372; s. auch Medizinalbeamte,
Mediziualreform.
Kriminalität der Geisteskranken 404.
Kübelsystem in Greifswald 597.
Kunstfchkr, gerichtlich - medizinische
Kasuistik 221.
Kurse, epidemiologische für Kreisphy¬
siker 154, 251, 372; in Sachsen
und Bayern 154; für Aerzte 3ll;
hygienische für Verwaltungsbeamte
248, 476; für Seminaristen 616; Fort¬
bildungskurse für Physiker in Braun¬
schweig 75; Cholerakurs im Reichs¬
gesundheitsamte 460.
Leben oliue Athmen 529.
Leichenbefund beim Tod durch Er¬
frieren 201.
Leichenschauhaus, Berliner; monatliche
Uebersicht der eiugelielerten Leichen
217.
Leichenverbrennung 1(4, 125, 178.
Lepraendemie in Deutschland 627.
Lieht, Einfluss auf Bakterien 16.
Luft, Verschleppung der Cholerbazillen
durch dieselbe mittelst Staub 381;
Giftigkeit der Exspirationsluft 431.
Masern, Identität mit Rötheln 8, 168;
zur Aetiologie 77.
Mastdarm, Verletzungen desselben vom
gerichtsärztlichen Standpunkte 485.
Medizinalbeamte, Enttäuschung und
Stellung derselben (s. Medizinalreform
und K reisphysiker), Versammlungen
der Medizinalbeamten in den Reg.-Bez.
Arnsberg 41, Stettin 287 und 528,
Düsseldorf 360 und 592, Stade 451,
im Herzogth. Braunschweig 75,
in Baden 620; des preußischen Medi-
zinalbeamtenvereins 56,124, 127,181,
280, 341, 600 und Anhang.
Medizinaletat, preussischer 53; Ver¬
handlungen darüber im Abgeordneten¬
hause 137, 173.
Medizinalgesetzgebung in Hoheuzollern
621.
Medizinalretorm in Preussen 26, 114,
137, 173, 176, 187, 247, 279, 299,
338, 341, 369, 402, 438, 490, 501,
508, 563, 591, Anhang 54.
Medizinalwesen, Organisation in Un¬
garn 634.
Mekka, Auftreten der Cholera 312, 340,
368, 391, 416.
Sach-Register.
XIX
Memel, Fluss, sanitätspolizeiliche Ueber¬
wachung 544.
Meningitis nach Traama 218, 405.
Mikroskopie und Chemie am Kranken¬
bett 461.
Milch, Verkehr mit, in Hamburg 55,
in Neapel 628; Beschaffenheit der
Marktmilch in Giessen 46; zur Milch¬
frage 361; Milchkonservirung 361;
polizeiliche Ueberwachung des Milch¬
verkehrs 362; Milch als Nahrung 362.
Milz, seltene Kleinheit 401.
Minderwerthigkeiten, psychopathische
100 .
Mineralwasserfabrikation, Beschränkung
25.
Morphium, tödtliche Einzeldosis 625.
München, Schwemmkanalisation 28;
Typhus im Infanterie-Leibregiment
340, 368.
Nahrungsmittel, Ueberwachung der¬
selben 274, 461.
Naturforscher und Aerzte, Versammlung
200, 386, 433, 509, 635.
Neapel, Provinz, Gesundheitszustand in
derselben im Jahre 1891: 247; Aus¬
breitung der Cholera s. Italien; Milch
in Neapel 628.
Nebenniere, Verblutung aus den Ge-
fässen derselben 617.
Neurose, traumatische 336.
Niederlande, Auftreten der Cholera 55,
391, 440, 463, 492, 519, 544, 575,
600, 636.
Nietleben, Irrenanstalt, Auftreten der
Cholera 57, 80, 104, 126.
Oder, sanitätspolizeiche Untersuchung
543.
Oesterreich, Infektionskrankheiten 77;
Auftreten der Cholera (1892) 121,
(1893) 391, 440, 463, 492, 519, 544,
575, 599, 636; Bewegung der Be¬
völkerung (1891) 245.
Paraffinfabriken, in sanitätspolizei¬
licher Hinsicht 515.
Pest, Auftreten der Cholera 27, 55, 80,
104, 126, 519, 575, 600, 636; Ur¬
sache derselben 200.
Pfnscherinnen und Hebammen 545.
Pharmacopüa jocosa 123.
Phosphor Vergiftung 41.
Pocken, zur Aetiologie 77; Alter und
Ursprung 417; in Gera 463; Poeken-
todesfallstatistik im Deutschen Reiche
(1891) 244.
Preussen, Ertheilnng des Titels „Sani¬
tätsrath“ 39; Verhandlungen des Ab¬
geordnetenhauses 137, 173, 341;
Medizinaletat 137, 173; Massregeln
gegen Cholera 351, 341; Ergebnisse
der öffentlichen Schlachthäuser 629,
s. auch Medizinalreform.
Prüfungen, Umgestaltung der medizi¬
nischen 542, der Thierärzte, Zahn¬
ärzte und Apotheker 575.
Psychiatrie und Seelsorge 302.
Querulanten-Wahnsinn 225,281,313.
Randow, Kreis, Choleraepidemie 521.
Regresspfliehtigkeit der medizinischen
Gutachten 165.
Rhein, gesundheitspolizeiliche Ueber¬
wachung 440, 463.
Rötheln, Identität mit Masern 8, 168.
Ruhrepidemie in Tilsit 463.
Rumänien, Auftreten der Cholera 416,
440, 463, 492, 519, 544, 575, 600,
636.
Russland, Auftreten der Cholera (1892)
119, (1893) 27, 55, 80, 104, 126,
248, 280, 312, 368, 392, 416, 440,
463, 492, 519, 541, 573, 600, 636;
in Russisch-Polen 380.
Sachsen, epidemiologische Kurse 154;
Sitzung des Landesmedizinal-Kollc-
giums 634.
Sachsengänger, Lage derselben 1.
Salpetersäure, Vergiftung durch 455.
Sanitätskonferenz, internationale, s.
Konferenz.
Sauitätsrath, statistische Uebersicht über
die Ertheilung dieses Titels in
Preussen 39.
Seehospize für skrophulöse Kinder 245.
Seelsorge und Psychiatrie 302.
Sektion, des Gehirns 330, zur Geschichte
der gerichtlichen Sektionen 509.
Selbstmord 413, durch Erschiessen 454,
Erdrosseln 454.
Seminaristen, hygienische Kurse für
dieselben 619.
Seuchen, Schutz gegen 108.
Seuchengesetz, Entwurf zu demselben
26, 80, 104, 154, 386, 574; Verhand¬
lungen darüber im Reichstage 220,
auf der Versammlung der preussisehon
Mediziualbeamten 183 und Anhang 7,
auf dem Aerztetage 147, 359.
Sexualempfinduug, konträre 330, 409,
411, 512.
Spanien, Auftreten der Cholera 368,
391, 492, 519, 544, 575, 60<\ 636.
Spree, sauitätspolizeilicheUeberwaehnng
440.
Steil- oder Schrägschrift 241.
Stettin, Choleraepidemie 521, 528,
543, 575, 599, 636; Reg.-Bez., Ver-
XX
Sach - Register.
saramlnng der Medizinalbeamten 237,
528.
Strafgefangene, geisteskranke, Fürsorge
für dieselben 192 und Anhang 90.
Strassen, Hygiene 50.
Sturzgeburt 249,
Syphilis, zur Aetiologie 77; Prophy¬
laxe 384.
Schädelbrüche und Verletzungen 405,
509, 510.
Scharlach, zur Aetiologie 77; und
Impfung 514.
Schlaramkrankheit im Odergebiet 534.
Schottland, Irrenwesen 630.
Schrägschrift oder Steilschrift 241.
Schulen, Gesundheitspflege in 25, 436,
635; Steil- oder Schrägschrift 241,
siehe auch Schulkinder und Volks¬
schulen.
Schulkinder, gesundheitliche Verhält¬
nisse derselben im Kreise Isenhagen
30, 60, 81, 109, 129, 157; Gesund¬
heitspflege der Schuljugend 25; Epi¬
demie hysterischer Krämpfe unter
Schulkindern 47, 407; Verein für
gesundheitsgemässe Erziehung der
Jugend 635.
Schussverletzung, atypische Eingangs¬
öffnung 454.
Schweden, Auftreten der Cholera 519.
Schwefelwasserstoff, Giftigkeit für die
Fabrikarbeiter 46.
Schwemmkanalisation in München 28.
Tätowiren der Verbrecher, kriminal¬
psychologische und kriminalpraktische
Bedeutung 511.
Tagegelder, Berechnung derselben 565.
Taxe, ärztliche in Preussen 278.
Taxgesetz, Entscheidungen zu demsel¬
ben 91, 94, 565, Atteste für Staats¬
beamte 539.
Teltow, Theilung des Kreisphysikats
635.
Teneriffa, Auftreten der Cholera 636.
Teratofobia 431.
Theerfabriken, in sanitätspolizeilicher
Hinsicht 515.
Thierärzte, Umgestaltung der Prüfung
543, 575.
Thiere, Beseitigung der Kadawer ge¬
fallener und getüdteter 377.
Thierseuche, Üebertragung auf Men¬
schen 98.
Thymusdrüse, gerichtsärztliche Bedeu¬
tung 217.
Tilsit, Riibrepidemie 463.
Tod durch Erfrieren, Leichenbefund
über 201.
Tollwuth, Verbreitung im Deutschen
Reiche 97.
Trauma und Infektion, forensische Be¬
deutung für Meningitis 218.
Trichinenschau 153.
Trinkwasser, s. Wasser.
Trommelfellrupturen, traumatische 44.
Tuberkulose, Verwerthung des Fleisches
von tuberkulösen Thieren 363.
Türkei, Auftreten der Cholera 368, 463,
492, 514, 544, 575, 600, 636.
Typhus im bayerischen Infanterie-Leib-
regiraent in München 340, 368; Aetio¬
logie des Typhus 432; Typhusbacillus
45, 433.
Unfall und Bruchschaden 195 sowie
Anhang 116.
Unfallversicherungsgesetz, ärztlicher
Kommentar 50, 277.
Ungarn, Organisation der staatlichen
Gesundheitspflege 634.
Unterrichtskurse, s. Kurse.
Venerische Krankheiten, s. Syphilis.
Verblutung, traumatische aus den Ge-
fässen der Nebenniere 616.
Verbrecher, forensische Bedeutung des
Tätowirens derselben 511; Zwangs¬
vorstellungen und Handlungen 76.
Verfolgungswahn 11.
Verletzte, Ablehnung einer Operation
599.
Verletzungen, des Schädels 405,509,510;
schwere Körperverletzung 95; des
Mastdarms 485.
Verein, deutscher, für öffentliche Ge¬
sundheitspflege 26, 156, 331, 356,
374; preussischer Medizinalbeamten
56, 124, 127, 181, 280, 391, 600 u.
Anhang; deutscher Irrenärzte 302,
330; evangelischer Irrenseelsorge 462;
für gesundheitsgemässe Erziehung
der Jugend 635.
Vergiftung, durch Phosphor 41; durch
Arsen 191 u. 531 sowie Anhang 72;
durch Salpetersäure 455; durch Fleisch
und Wurst 340, 601.
Versammlung, deutscher Naturforscher
und Aerztc 200, 3^6, 433, 509, 635, s.
auch Kongresse, Medizinalbeamte u.
Vereine.
Vcrwaltungsbeamte, hygienische Kurse
für dieselben 248, 416.
Verwesung, Dauer derselben in Gräbern
219.
Vibrio, Berolinensis 459.
Volksbadeanstalten 310, 592.
Volksernährung, richtige Grundsätze
derselben 356.
Volksschulen, gesundheitliche Verhält¬
nisse derselben im Kreise Isenhagen
30, 60, 81, 109, 129 u. 157, s. auch
Sehulen.
Sach - Register.
XXI
Wahnsinn, Querulanten- 225, 281,
313.
Wanzen, Blutspuren zerdrückter 513.
Wartenberg, Gross- Kreis, Massregeln
gegen Cholera in demselben 71.
Warthe, gesundheitspolizeiliche Ueber-
wachung 420, 463
Wasser, Bakterien desselben und deren
Diagnostik 16, 276; Eisengehalt und
dessen Entfernung 406; Beziehung
zur Cholera 433, 518.
Wasenplätze, s. Abdeckerei.
Wasservergeudung, Vorbeugung da¬
gegen 374.
Weil’ sehe Krankheit, zur Aetiologie
150.
Weichsel, gesundheitspolizeiliche Ueber-
wachung 223, 440, 463.
Wjederbelebte, nach Suspension, Er¬
scheinungen bei denselben 510.
Wochenbettfieber, sanitätspolizeiliche
Massnahmen 21; Verhütung 238;
Häufigkeit der Todesfälle im Wochen¬
bett (Deutsches Reich) 366.
Wohnungen, feuchte 219; Desinfektion
360; Verbesserung der Wohnungs¬
verhältnisse 567; Arbeiterwohnungs¬
frage, Gesetzgebung in den verschie¬
denen Ländern 568; Beseitigung der
Missstände in den Arbeiterwohnun¬
gen auf dem Lande 568.
Wohnungspflege, Gesetz über dieselbe
in Hamburg 312.
Wunden des Herzens 630.
Wurstvergiftung 701.
Zahnärzte, Umgestaltung der Prü¬
fung 675.
Zink, apfelsaures in Apfelschnitten 112.
Zwangsvorstellungen bei Verbrechern
76.
Namen "V erzeichniss.
Adnmkiewicz 543.
Adickes 331, 334.
Albers 360.
Albrecht 567.
Alter 408.
Arnstein 218.
Ascher 72, 101, 219.
Ballet 11.
Bar, von 126.
Barth 384.
Bartsch, von 147,174,180,
194 n. Anhang, 3, 110.
Battlehner 621.
Bauer 360.
Banmeister 332.
Bebel 126.
Becker 99, 546.
Beckhaus 439.
Berlepsch, von 124.
Bessone 247.
Beu 431.
Blaschko 595.
Bleisch 117, 308.
Bötticher, von 125, 126,
212, 213, 215, 216.
Bosse 125, 140, 345, 352.
Bra, de 76.
Brandenburg 143.
Brockhaus 462.
Brouardel 219.
Brunner 241.
Büchner 16.
Bülow, von 351.
Bujwid 380.
Burchard 214.
Busch 359.
Candela 246.
Cazenenve 43.
Cnyriem 358.
Coester 193 u. Anhang 94.
Corin 249, 484, 532.
Dahmen 17.
Dittrich 593, 613.
Dornbluth 25.
Dörfler 513.
Döhle 77.
Douglas, Graf 179, 344.
Dunbar 45.
Dyrenfurth 617.
Elsner 274, 461.
Elten 630.
Emmerich 457.
Endemann (Kassel) 126,
212 .
Endemann (Königsberg)
598.
Esinarch 627.
Eykmann 376.
Falk 543.
Fielitz 57, 187 u. Anhang
54, 66, 68, 69.
Fischer 406.
Flatten 8.
Freyer 521.
Freymuth 378.
Friedrich 111.
Fritsche 334.
Fritzen 213.
Gaflfky 455.
Gebhardt 534.
Gegner 597.
Glogowski 9.
Goldschmidt 178.
Golebiewski 277.
Gowers 385.
Graf 144, 351.
Grisar 195 u. Anhang 116.
Günther 632.
Haberda 394, 454, 594,
601.
Hagemann 417.
Hartcop 592.
Heidenhain 26.
Heise 19.
Hendel 334.
Hertwig 18.
Hirt 47.
Hoelfel 126, 215.
Hoffmann 515.
Holleuffer, v. 211.
Jacobson 187, 190, 465
u. Anhang 23, 38, 39.
Jäger 150, 358.
Jerusalem 140, 143.
Jolly 626.
Ipsen 455.
Iwanoff 598.
Iwanowa 404.
Kalle 336, 356.
Kanzow 180, 190, 465 u.
Anhang, 2, 67, 68,109.
Karlinski 16.
Karsten 187 u. Anhang 30.
Katerbau 237.
Kaufmann 50.
Keferstein 201.
Kerschensteiner, von 22.
Kirchner 309.
Kobert 275.
Koch, A. (Zwiefalten) 100.
Koch, R. (Berlin) 305,433,
486.
Körfer 515.
Kolle 528.
Kollm 197 u. Anhang 135,
140, 144.
Koppen 187 n. Anhang
32, 145.
Kornfeld 98.
Kornstädt 597.
Krafft-Ebing 409.
Krannhals 118.
Kühn 401.
Kümmel 374.
Kwilecki 46.
Ladame 76.
Landois 43.
Namen - Verzeichniss.
xxni
Langerhans (Celle) 29, 60,
81, 105, 129, 157.
Langerhans (Berlin) 142,
178, 215.
Lebram 198.
Lehmann 335, 596.
Lenhartz 461.
Lent 334.
Leppmann 193, '511 und
Anhang 80, 95, 145.
Leseberg 187 u. Anhang
26.
Lesser 79.
Lewin 625.
Liersch 310.
Liekiett 378.
Litthauer 100 u. Anh. 66.
Löblein 233.
Lüttig 363.
Lustig 276.
Lydtin 375.
Magnan 76, 633.
Mair 221, 529.
Muitzel 485.
Marx 362, 569.
Mattlies l:.7, 187, 441 u.
Anhang 38.
Mattiseu 431.
Meudel 331.
Menger 247.
Merkel 116, 334.
Mesnil, de 219.
Mewius, Anhang 32.
Meyhoefer 165, 193 u.
Anhang 23, 96, 140.
Mittenzweig 209,225, 281,
313, 614 u. Anhang 109,
111, 140.
Möbius 187.
Moeli 519.
Molkenbulir 216.
Moll 411.
Monte fusco 433, 628.
Moritz 95.
Müller 405.
Nauck 501.
Neisser 532.
Nesemann 2t.
Nuttall 338.
Ohlemann 493, 584.
Ohlmiiller 19.
Ostertag 48.
Pactet 489.
Pauly 361.
Penkert 153.
Petri 195, 460 n. Anhang
113.
Pettenkofer, von 367.
Peyser 187,194 u. Anhang
27, 45, 46, 107.
Pfeiffer (München) 356.
Pfeiffer (Berlin) 388,528.
Pfuhl 432.
Philipp 187, 194, 198 u.
Auhang 28, 32, 38, 41,
108, 144.
Pilgrim, von 149, 352.
Piudikowski 627.
Plagge 219.
Poniklo 218.
Prausnitz 20, 336.
Proskauer 514.
Raabe 565.
Rahts 244, 364, 366.
Rapnmnd 183, 478 u. An¬
hang 5, 7, 15, 25, 30,
32, 33, 38, 89, 40, 41,
45, 46. 47, 49, 54.
R‘nok 309.
Krlitisch 413.
Reich 621.
Reimann 402, 591.
Reinke 13.
Rein bohl 17, 407.
Reubold 509.
Richter 71, 436, 577.
Rickert 126.
Ritter 453.
Rohrs 453.
Roth 187, 415 u. Auhang
45, 46.
Rother 168.
Ruhner 459, 534.
Rümeliu 358.
Rusak 369, 451 508.
Rzepuikowski 214.
»Salomon 545.
Sawtschenko 76.
Scheier 624.
Schilling 1, 217.
Schlechtendahl 112 u. An¬
hang 30, 39.
Schlüter 241.
Schmidt 621.
Schöfer 513.
Schultz 41.
Schnitze 310.
Schulz Anhang 111.
Schulze 521.
Schumburg 531.
Schräder 216.
Schrank 533.
Schruff 592.
Seggel 242.
Seitfardt 124.
Scydel 217, 510, 512.
Siemens 169, 302.
Siemerling 330.
Sioli 330.
Stahl 595.
Stauss 623.
Steidle 358, 378.
Stöcker 173.
Stollberg - Wernigerode,
Graf 213.
Strack 221.
Strassmann 191 u. Anh. 72.
Strümpell 484.
Stubben 568.
Stumpf 242, 630.
Tenholt 41.
Tobicsen 16.
Tsuboi 457.
Trapp 219.
Traugott 533.
Uffclniann 309, 381.
Uhl 46.
Unruh, von 213.
Veith 44.
Venanzio 431.
Virchow 213, 354.
Vogel 118.
Wallichs 187, 190, 193,
198 u. Anhang 14, 15,
26, 67, 69, 94, 111, 112,
143, 144.
Wassermann 383.
Wehmer 187, 535 u. An¬
hang 31.
Weigert 330.
Weigmann 361.
Wernich 187, 358, 375,
535 u. Anhang 25.
Weyl 50.
Wichmann 336.
Wiedner 198 u. Auhang
46, 112, 143.
Wiener 122, 278.
Wiesemcs 361.
Wilhelmi (Schwerin) 589.
Wilhelmi (Swinemünde)
237.
Winckler 25.
Woerner 623.
Wolff 592
Woltemas 614.
Wurm 214.
Zinn 303, 328.
6. Jahr/?.
Zeitschrift
für
1893
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rath u.^richtl.Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in Mimlci
und
Dr. WILH. SANDER
Medi/.inalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserat«, die durchlaufende Petit/.eile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlung und Rud. Hosse
entgegen.
No. 1.
£rscheint am 1. and IS. jeden Monats.
Preis Jährlich 10 Mark.
1. Januar.
Lage der Sachsengänger in den westlichen Provinzen.
Von Kreisphysikus Dr. Schilling - Querfurt.
Mit dem Wachsen der Zuckerindustrie in den mit schwerem
Boden gesegneten Distrikten Sachsens stieg das Bedürfniss, für die
Zuckerfabriken Arbeitskräfte aus der Nachbarschaft in grösserer
Zahl heranzuziehen, um den Anbau der Zuckerrübe extensiver und
intensiver zu gestalten und während der Winterkampagne genügend
Leute zur schnellen Ausbeute zur Verfügung zu haben. Während
die Benutzung der Maschinen in den letzten Jahrzehnten in den
meisten Industriezweigen die Handarbeiter grossentheils entbehr¬
lich und vielfach brotlos machte, vermochte die Maschine die bei
dem Rübenbau so nothwendigen mannigfachen landwirtschaft¬
lichen Verrichtungen der Hand, Pflanzen, Ziehen, Hacken, Gäten,
Ausgraben und Mietenbauen, nicht zu ersetzen. Ja, die Nach¬
frage ging sogar so weit, dass nicht blos Erwachsene, sondern
zu bestimmten Arbeiten wie das Rübenziehen selbst Kinder un¬
entbehrlich wurden, wodurch der Schuljugend allerdings eine Er¬
werbsquelle erwuchs, die jedoch sittlich und körperlich höchst nach¬
teilig wirkt. Die Kinder liegen nämlich halbe und ganze Tage lang
auf dem Felde, essen wenig und trinken viel in der Hitze, und
kehren erschöpft Abends spät nach Hause. Tags darauf sind sie
noch müde und schlafen während des Unterrichtes in der Schule
ein. Im Verkehr mit den halb Erwachsenen auf dem Felde lernen
sie Lieder unmoralischen Inhaltes und Manieren, welche der Strassen-
jugend eigen sind. Fällt ferner das Rübenziehen, wie meist, in
die Zeit der Wiederimpfung, so entstehen in der Mai- und Juni¬
hitze durch das Reiben der Kleider bei dem Hantiren leicht Ent¬
zündungen und Eiterungen der Pocken, die zu länger dauernden
Verschwärungen führen.
Anfangs begnügte man sich, die benachbarten Ortschaften
2
Dr. Schilling.
heranzuziehen, so viel der Betrieb erforderte. Die eine halbe oder
ganze Stunde abwohnenden Arbeiter kamen Morgens auf das Land
oder in die Fabrik und kehrten nach ihrer Arbeit Abends wieder
in ihre heimathlichen Wohnungen zurück. Nur einzelne Unver-
heirathete wurden gemeinschaftlich in kleine Zimmer am Orte des
Fabrikanten eingemiethet. Als indessen der Zucker im Preise
stieg und der Anbau des Getreides zurückging, weil der inlän¬
dische Markt von fremdem Getreide überschwemmt wurde, auch
die Ortsangesessenen in Fabrikstädte zogen, wo sie höheren Lohn
und ein genussreicheres Leben fanden, richteten die grösseren Land-
wirthe ihre Blicke nach Auswärts, namentlich nach den östlichen
Gegenden, aus denen alljährlich viele Auswanderer nach Amerika
gingen. Die Fremden kamen nach dem Westen, wurden aber nicht
ansässig — nur wenige verheirateten sich oder gingen dauernd
in Dienst und blieben hier —, sondern kehrten nach vollbrach¬
ter Arbeit im Herbst wieder in ihre alte Heimath zurück.
Der eigentliche Beginn des Zuzuges derartiger Arbeiter aus
dem Osten nach Sachsen lässt sich, soweit meine Ermittelungen
reichen, nicht mehr genau feststellen. In der Mitte der Sieben¬
ziger war das Erscheinen der „Polacken“, wie die Landsleute pol¬
nischer Zunge hier heissen, die in Sitte, Kleidung Und Sprache
fremd erschienen, auffallend; alljährlich nahm der Strom zu und
erreichte die heute bekannte Höhe von vielen Tausenden. Die im
Frühjahr ankommenden und im Herbst abgehenden zahlreichen
Expresszüge legen Zeugniss ab, zu welchem Maasse die Auswan¬
derung gestiegen ist, ohne dass man schon jetzt mit Recht sagen
könnte, es sei der Kulminationspunkt erreicht oder überschritten,
weil bereits jeder grössere Bauer sich Polacken anwirbt. Sie
kommen aber längst nicht mehr aus Posen und Schlesien, sondern
auch aus Ost- und Westpreussen, und zu Zeiten von Arbeitermangel
sogar aus Russisch - Polen und Galizien. Auch haben sie längst
Sachsens Grenze überschritten und sind nach Anhalt, Braunschweig,
Hannover, Hessen und Westfalen vorgedrungen, weshalb die Be¬
zeichnung „Sachsengängerei“ längst nicht mehr zutrifft.
Die sozialen Verhältnisse der ländlichen Arbeiter im Osten,
welche die Liebe zur Arbeit und Sesshaftigkeit vielfach ersticken,
erinnern oftmals an Leibeigenschaft und Frohndienste. Wer als Arzt
Gelegenheit hatte, die Zustände an Ort und Stelle kennen zu lernen
und nicht dort geboren und erzogen ist, begreift sehr wohl, dass sich
die Sachsengänger im Westen wohler fühlen, da nicht blos die Er¬
werbsverhältnisse, sondern auch die Ernährung, Wohnungen und
besonders die Behandlung im Durchschnitt günstiger sind. Aller¬
dings darf man nur sagen im Durchschnitt, denn es treten auch
hier in Folge des gedrängten Zusammenwohnens Missstände zu
Tage, die nicht blos die Pfleger der Moral, sondern auch der
öffentlichen Hygiene dringend zur Abhilfe auffordern; nur der
Agrarier, welcher den fremden Arbeiter als blosses Erwerbsmittel
betrachtet, kann die Augen davor verschliessen.
Während im Jahre 1857 im Kreise Querfort nur 8 Zucker¬
fabriken bestanden, bei denen nur 235 Arbeiter und zwar blos
Lage der Sachsengänger in den westlichen Provinzen.
3
einheimische beschäftigt waren, bestehen jetzt 6 und weit grössere
Fabriken, zu deren Unterhaltung nicht weniger als ca. 8000 meist
ausländische, d. h. nichtsächsische Leute thätig sind. Schon die
dreissigfache Zunahme der Zahl in etwa 15—20 Jahren musste
nothwendig ungesunde Zustände hervorrufen, denen trotz der ge¬
setzlichen Reglements der Arbeiterverhältnisse schwer abgeholfen
werden konnte. Dazu kommt, dass früher die Grossgrundbesitzer
allein fremde Arbeiter in gemeinschaftlichen Wohnungen, sog. Ka¬
sernen, hielten; jetzt hat aber jeder grössere Bauer von April bis
November mehrere polnische Mädchen, weniger Knechte, im Dienste,
die er grossentheils in dunkle unheizbare Kammern unterbringt.
Wie sich die Lage der fremden Arbeiter in der Provinz
Sachsen gestaltet, lässt sich aus der Beobachtung der einschlägigen
Verhältnisse unseres Bezirkes genügend ersehen. Magdeburg und
Erfurt weichen wenig von Merseburg ab.
Magdeburg mit der reichen Börde scheint schon früh das
Ziel der Auswanderer gewesen zu sein, denn hier ist bereits 1857
ein Polizei - Reglement über die Unterbringung und Haltung der Fa¬
brikarbeiter oder in grösseren Landwirtschaften be¬
schäftigten auswärtigen Arbeiter erlassen, welches dann
im Jahre 1858 auch für Merseburg Geltung erhielt. Als Grund
des Erlasses wurde angeführt, dass die Arbeiter in grösseren Fa¬
milienhäusern auf eine ihr leibliches und geistiges Wohl gefähr¬
dende Weise untergebracht würden, wodurch nicht selten der Ver¬
breitung ansteckender Krankheiten Vorschub geleistet würde. Das
in unserm Amtsblatte seiner Zeit veröffentlichte Reglement ent¬
hält so treffende Vorschläge zur Abhilfe, dass sie noch heute als
Muster dienen können, und, weil sie noch heute giltig siud, allge¬
meine Beachtung verdienen. Sie lauten mit einigen Abkürzungen
wie folgt:
§. 1. Jeder Besitzer einer Fabrikanstalt, bei welcher auswärtige Arbeiter
zu Zwecken der Fabrik oder der Landwirtschaft beschäftigt werden, muss für
die Unterbringung der Arbeiter in Arbeitshäusern, welchen die in den §§. 2—6
dieses Reglements vorgeschriebenen Einrichtungen zu geben sind, sorgen und
kann hierzu durch Exekutionsmassregeln angehalten werden.
Kompetent ist zunächst die Ortsbehörde; wenn aber der Inhaber der¬
selben ein Interesse bei der Fabrik hat, der Landrath des Kreises.
§. 2. Die Arbeitshäuser müssen enthalten:
1) Schlaf- und Wohnungsräume behufs strenger Abson¬
derung der Geschlechter;
2) getrennte Krankenstuben für jedes der beiden Ge¬
schlechter; ,
3) einen besonderen Raum zum Kochen und Waschen
sowie zum feuersichern Trocknen der Wäsche und
nassen Kleidungsstücke;
4) sofern einzelne Familien darin Aufnahme finden sollen, besondere
Zimmer für einzelne Familien;
5) nach dem Ermessen der Ortspolizeibehörde bezw. des Kreislaml-
raths besondere Schlaf- und Wohnungsräume für jugendliche Ar¬
beiter und schulpflichtige Kinder.
§. 3. Die im §. 2 zu 1, 2, 4 und 5 gedachten Räume müssen mindestens
1 Fuss über dem Erdboden liegen, mit einem festen und trocknen Fuss-
boden und schliessenden Thüren und Fenstern versehen, geweisst und min¬
destens 7 Fuss — neu zu erbauende — hoch sein.
§. 4. Die Lagerstätten in denselben müssen mindestens 1 Fuss über
4
Dr. Schilling.
dem Fussboden erhoben sein und ans dem erforderlichen Stroh resp. einem
Strohsack and einer mindestens 3 Fass breiten wollenen Decke bestehen. Ausser¬
dem sind in diesen Räumen angemessene Vorrichtungen zur Heizung und Er¬
leuchtung, beides jedoch nur, sofern dieselben auch im Spätherbst und Winter
benutzt werden, anzubringen.
§. 5. In angemessener Entfernung von dem Arbeitshause sind Latrinen
in gehöriger Anzahl, und für beide Geschlechter gesondert, an¬
zubringen.
§. 6. Der Fabrikbesitzer ist verpflichtet, einen besonderen Aufseher für
das Arbeitshaus zu halten und demselben darin freie Wohnung anzuweisen.
§. 7. 1) In den zur Aufnahme der Arbeiter bestimmten Räumen dürfen
nicht mehr Personen untergebracht werden, als mit Rücksicht auf
die Grösse der Räume und die Sittlichkeit für zulässig erachtet wird;
2) die verschiedenen Geschlechter dürfen nur in den für sie bestimmten
Räumen untergebracht werden;
3) Familienwohnungen dürfen nur von einer Familie bewohnt werden;
4) im Falle der Erkrankung eines Arbeiters an einer ansteckenden
Krankheit muss die Ortspolizeibehörde binnen 24 Stunden hier¬
von benachrichtigt und der Kranke isolirt untergebracht
und gewartet werden;
5) die Wohnungsräume müssen täglich gehörig gereinigt und gelüftet,
auch alljährlich frisch geweisst werden;
6) das Lagerstroh muss von 14 Tagen zu 14 Tagen erneut, die Stroh¬
säcke alle 2 Monate mit frischem Stroh gefüllt und die Ueberzilge
gewaschen werden. Die Wolldecken sind halbjährig zu walken;
7) der Raum um das Arbeitshaus muss rein gehalten, auch die La¬
trinen mindestens wöchentlich gescheuert und nach Befinden der
Ortspolizei so oft als erforderlich geräumt werden.
§. 8. Der Fabrikbesitzer hat allen in dem Arbeitshause untergebrachten
auswärtigen Arbeitern täglich einmal warme Kost zu verabreichen
§. 9. Jedem auswärtigen Arbeiter ist, bevor er beschäftigt werden darf,
von dem Fabrikbesitzer eine Arbeitskarte auszufüllen. Vorher hat der Arbeiter
seine Legitimationspapicre vorzulegen.
§. 10. Der Fabrikbesitzer, welcher gegen §. 7 verstösst, verfällt einer
Geldstrafe von 3—10 Thlr. für jeden Contravcntionsfall
§. 11. Die Ortspolizeibehörde hat für jedes Arbeitshaus eine polizeiliche
Verordnung zu erlassen, durch welche die häusliche Ordnung bestimmt wird
und nach welcher Zuwiderhandlungen der Arbeiter mit Strafe bedroht werden.
Dieselbe ist in allen Wohn- und Schlafräumen des Hauses anzuschlagen.
§. 12. Die Vorschriften finden auch hinsichtlich der auf Landgütern
zu ökonomischen Zwecken beschäftigten auswärtigen Arbeiter
Anwendung.
Gelegentlich einer Revision der meisten Kasernen und Ar¬
beiterhäuser unseres Kreises vor 2 Jahren in Gemeinschaft mit dem
Landrath stellte sich heraus, dass bisher in der Anlage nur neue
Wohnungen, namentlich Einzelhäuser, den gesetzlichen Anordnungen
entsprachen, dass hingegen die alten Dominien zum Theil schreck¬
liche, höchst ungesunde und mangelhafte Wohnräume besassen,
an denen des Reglements Paragraphen spurlos verhallt waren. Es
fehlen grösstentheils getrennte Wohn- und Schlafräume, so dass eine
Begegnung der verschiedenen Geschlechter bei Tage wie bei Nacht
leicht möglich ist. Wo der Zugang zwischen benachbarten oder
über einander gelegenen Stuben nicht offen steht, steigen die
jungen Burschen Abends durch die Fenster in die Stuben der
Mädchen oder umgekehrt, wie ich es eines Abends erlebte, als die
vom Tanze heimkehrenden Mädchen vom Hofmeister ausgeschlossen
waren, nicht in ihre Stuben kommen konnten und in die der Bur¬
schen einstiegen. Trotz der an den Thüren angenagelten Haus-
Lage der Sachsengiinger in den westlichen Provinzen.
5
Ordnung kommen selbst am Tage derartige Unsittlichkeiten vor,
gegen die wahrscheinlich die grössten Anhänger der modernen
ethischen Kultur vergeblich ankämpfen werden. Zum grossen Theil
waren die Wohnstuben überfüllt, es standen 2—3 Betten wie in
Militärkasernen übereinander längs der Wände und inmitten der
Stube, die bei den Mädchen noch Koch-, Wasch- und Trockenraum
bildete. Hier entwickelt sich deshalb reichlich feuchte, dumpfe
Luft während des Tages in grosser Menge, die Nachts wegen
der Scheu und der Faulheit zu lüften, noch schlechter wird. Zum
Glück haben die Verheiratheten, deren Zahl hierorts sehr gering
ist, das Bestreben, nur isolirte oder mit einem besonderen Eingang
versehene Zimmer zu beziehen. Unangenehm wirkt das Zusammen¬
wohnen alter, dem Schnapstrinken und der Liderlichheit ergebener
Weiber mit jungen Mädchen, denn nirgends verdirbt sclilechtes
Beispiel mehr die guten Sitten als bei der empfänglichen Jugend.
Das Lager befand sich vielfach zu ebener Erde auf den Dielen,
über den Backsteinen oder gar direkt unter dem Dache und so
dicht eins an dem andern, dass Bett an Bett stiess und der
Arzt Mühe hat, an ein Krankenbett zu kommen. Unter dem Dache
fehlte natürlich jede Heizanlage; die im November herrschende Kälte
wird durch die natürliche Ventilation des durch die Lücken der
Ziegel wehenden Windes noch vermehrt und ohne Gefährdung der
Gesundheit entgeht selbst die abgehärtete Natur eines bei —3°C.
barfuss oder ohne Strümpfe in Stiefeln gehenden Polenmädchens
nicht immer der Schädlichkeit dieses Nachtquartiers. Wie oft das
Stroh in den Strohsäcken erneuert wird, liess sich nicht ermitteln,
doch geschieht es sicherlich höchstens alle Jahr einmal.
Höchst unzugänglich waren die Abortanlagen auf den meisten
Dominien. Nur hier und da gab es wirklich Aborte mit Sitz und
Brille, getrennt für beide Geschlechter und in sauberem Zustande.
Vielfach bestand als Latrinenraum ein einfacher Bretterverschlag,
welcher nach der angrenzenden Düngergrube zu offen war und
einen blossen Querbalken zeigte, auf den sich sans gene Männlein
und Fräulein bei der Defakation niedersetzt.
Die Anzeige des Ausbruches ansteckender Krankheiten ge¬
schieht seitens der Aerzte jetzt regelmässig dort, wo die Arbeiter
einer Krankenkasse angehören. Meist weiden aber nur die Männer
ärztlich behandelt, — die Mädchen sind meist nicht Mitglieder
der Kasse —, und zwar in ihrer Stube, soweit es die Schwere der
Krankheit und die Pflege durch Bekannte oder Verwandte zulässt.
Ansteckende Kranke werden in die Isolirstube gebracht, wo eine
existirt, selten in ein benachbartes städtisches Krankenhaus über¬
geführt, in der Regel aber in ihrer Stube gelassen. Der Mangel eines
Kreis - Krankenhauses, dessen Zweck bei eiuer Zahl von 6—8000
Arbeitern noch geleugnet wird, verschuldet, dass es selten bei einer
Erkrankung bei Typhusausbruch, Krätze, Syphilis etc. bleibt, son¬
dern stets sich mehrere Fälle anschliessen. Schwere, eines grösseren
operativen Eingriffes bedürfende Patienten werden in die Klinik
verwiesen, deren Kosten bis zur dreizehnten Woche bekanntlich
die Krankenkasse trägt. Wie die Reinigung der Zimmer, so ist
6
Dr. Schilling.
die des Körpers ausserordentlich mangelhaft, Morgens früh gehen
die Mädchen und Burschen meist ungewaschen zur Arbeit und
kehren Abends spät ermüdet zurück; eine oft centimeterhohe Dreck¬
schicht bezeichnet auf Treppe und Dielen die Spuren des Auf-
und Abganges.
Die Kost ist quantitativ genügend, enthält Animalien und
Vegetabilien, darunter jedoch die nahrhaften Leguminosen; dagegen
lässt sich gegen die Zubereitung derselben nicht immer jedes Be¬
denken unterdrücken. Um nur ein Beispiel der ein für alle Mal
festgesetzten Kost herauszugreifen, so giebt es auf einem von 150
Arbeitern bewohnten Gute von Sonntag bis Sonnabend Mittags:
Klos, Erbsen, Graupen, weisse Bohnen, Reis, Erbsen, Bohnen;
Abends: dreimal Suppe und Fleisch oder Häring mit Kartoffeln;
Morgens: Kaffee, zu dem sich die Leute selbst Brot kaufen müssen.
Die Behandlung durch die Vorgesetzten ist human, so lange
nicht Widersetzlichkeit in hohem Masse den Stock in Bewegung
setzt; indessen ist das Selbstbewusstsein der meisten Sachsen¬
gänger bereits so weit entwickelt, dass sie sich nicht leicht einer
Misshandlung aussetzen, ohne klagbar zu werden, während ich in
schlesischer Gegend unter den Arbeitern oft hörte, dass der Pole
nichts tauge, wenn er keine Prügel bekäme.
Die sanitären Uebelstände summiren sich kurz dahin, dass
die Wohnungsräume grösstentheils überfüllt, oft sehr feucht, dumpf
und vielfach überaus schmutzig sind und Tags über ohne Venti¬
lation bleiben; dass Krankenpfleger nur da funktioniren, wo Ge¬
schwister den Kranken zur Seite stehen; dass eine Krankendiät
unbekannt ist und die körperliche Reinlichkeit aus Mangel an
Waschbecken, Handtüchern und Seife die grösste Vernachlässigung
erfährt. Ferner widerspricht es dem Anstandsgefühl und giebt
gelegentlich zu Ansteckungen Anlass, wenn Querbalken als Aborte
für Jung und Alt, Burschen und Mädchen dienen. Schon das Auge
eines Fremden wendet sich mit Widerwillen ab, wenn es diese
Stätten zufällig sieht.
Die Abhilfe gegen diese aufgedeckten Schäden ist in obigem
Reglement zur Genüge gegeben. Es kommt aber darauf an, dass
die in dem Reglement näher bezeiclmeten Paragraphen mit Strenge
gehandhabt werden. Allein durch allwöchentliche Revisionen,
welche Exekutivbeamten übertragen werden, und häufige Berichte
an den Landrath, denen Geldstrafen gegen Säumige folgen, wird
Besserung der Lage der ländlichen Arbeiter erzielt. Gutsbesitzer
eignen sich nicht immer zur überwachenden Polizeibehörde.
Nachträglich mögen noch einige Worte über falsche An¬
sichten folgen, die man hin und wieder hinsichtlich der Sachsen¬
gängerei vorbringt und vertheidigen hört. Dass die Auswanderung
für die östlichen Gegenden, welche dadurch ihrer besten Arbeits¬
kräfte beraubt werden, höchst nachtheilig wirkt, bedarf keines
Beweises. Der Arbeitermangel ist aber nicht der einzige Nachtheil.
Die Arbeiter verlieren, indem sie von Ort zu Ort ziehen, und bald ein
Jahr hier, bald dort arbeiten, das Gefühl der Sesshaftigkeit und
verfallen einem reinen Nomadenleben. Das Nomadenleben demo-
Lage der Sachsengänger in den westlichen Provinzen.
7
ralisirt in hohem Masse und lockert die Familienbande, indem die
Jugend nicht erzogen wird und jeder korrigirenden Aufsicht an
dem fremden Wohnorte ermangelt. Viele junge, kaum der Schule
entrückte Mädchen und Burschen leben zu 80, 100 bis 150 mit
unmoralischen Weibern und halbwüchsigen liderlichen Bengels
zusammen, sehen das unsittliche Treiben Tags über, Sonntags im
Gasthause und Abends auf der Strasse oder in der eigenen Stube,
lernen das Schnapstrinken, acquiriren Geschlechtskrankheiten und
verfallen andern Lastern. Schon 17—18 jährige Mädchen werden
schwanger, und uneheliche Kinder, oft nachträglich Kindesmord,
sind die Folgen dieses Treibens. — Schliesslich ist nicht zu unter¬
schätzen, dass der Körper zur Zeit seines besten Wachsthums
schon intensiv abgenutzt wird, schnell verfallt und der Arbeiter
als Invalide der Heimath später zur Last fällt.
Dagegen beschuldigt man mit Unrecht den Aufenthalt in
Sachsen als alleinige Ursache der wachsenden Unmoral und glaubt
vielfach, die Anhänger der evangelischen Religion stünden in dieser
Hinsicht schlechter da als die der katholischen. Zweifellos waltet hier
einjgrosser Irrthum ob. Wo ein starker Conflux jugendlicher Arbeiter
und Arbeiterinnen ,sei es in den Städten oder auf dem Lande, stattfin¬
det, tritt das Laster in evidenterem Lichte zu Tage, weil die Gelegen¬
heit Diebe macht, gegen welche die Prediger der Moral ihre
Waffen richten mögen. Dass aber evangelische Mädchen häufiger
schwanger werden als katholische, wie ich von schlesischen Pfar¬
rern ehemals hörte, kann ich nicht bestätigen. Hier hat sich
gerade der stundenweite Weg an Fest- und Sonntagen über Land
zu der weit abliegenden katholischen Kirche, von der sie nicht direkt
wieder nach Hause, sondern oft erst in’s Gasthaus gehen, um spät
Abends zurückzukehren, als Gelegenheit zu sexuellen Ausschwei¬
fungen und Ansteckungen erwiesen. Ueberhaupt wird die erste
Ansteckung selten oder gar nicht hier acquirirt, sondern in der
Regel bringen halbwüchsige Burschen oder entlassene Militärs
oder unsaubere Mädchen den Krankheitskeim mit, mag es sich um
Trachom, Gonorrhoe, Syphilis oder Krätze handeln. Die Krank¬
heitsfälle mehren sich dann später hier in Folge des dichten Zu¬
sammenwohnens. Trachom bricht meist hier im Hochsommer epi¬
demisch aus, weil die Beschäftigung im Staub und Schmutz der
Landwirtschaft, der Mangel an körperlicher Reinlichkeit und die
geringe Neigung zu lüften, die Entwickelung begünstigen und
Uebertragung vermitteln. Gonorrhoe und Syphilis ist meist aus
der Grossstadt importirt, Militärs und Dienstmädchen infizireu sich
während ihres Aufenthaltes dort und werden die Quelle neuer Er¬
krankungen. Die Krätze stirbt auf vielen östlichen Gütern nicht
aus, das Zusammen wohnen während des Winters und das Reisen
in vollgefüllten Eisenbahnwagen sorgt für schnelle Verbreitung,
der hier zu Lande eine grössere Aufmerksamkeit als dort ge¬
schenkt wird.
Abgesehen von diesen unleugbaren und schwerwiegenden
Missständen hat das Wandern aus den armen Distrikten des Ostens
nach den reicheren des Westens ausserordentliche Vortheile, die
8 Dr. Fl&tten: Zur Frage der Identität von Masern und Rötheln.
nicht blos dem materiellen Gewinn, sondern dem Kulturleben eines
Yolksstammes zu Gute kommen. Die Arbeit auf dem Felde ist
schwer und anstrengend, aber lohnend im Hinblick auf den kärg¬
lichen Lohn im Osten. Die Kost ist kräftig und immerhin ge¬
nügend. Der materielle Gewinn, der sich nach den Berechnungen der
Post auf viele Millionen Mark alljährlich beläuft, wird zum grössten
Theil zur Unterstützung von Eltern und Verwandten oder Kinder
nach Haus geschickt, am wenigsten selbst verbraucht oder ver¬
prasst, wie man im Osten oft hört; die Lebensweise der Arbeiter
bleibt hier eine einfache und anspruchslose, trotz des höheren Ver¬
dienstes. Die nicht blos einmal nach Sachsen Gehenden, sondern
öfter Wiederkehrenden lernen mit der Zeit Deutsch sprechen,
nehmen deutsche Gewohnheiten und Lebensweise an, kleiden sich
weniger bunt und auffällig und tragen bald Fussbekleidung wie
die hier erzogenen sächsischen Arbeiter, kurz, sie werden ger-
manisirt in einer Weise, welche dem Staate nicht Tausende
kostet wie der doppelzüngige Unterricht und der Kampf des Deutsch¬
thums gegen das Polenthum in Posen und Schlesien.
Zur Frage der Identität von Masern und Rötheln.
Von Dr. Platten, Kreisphysikus in Wilhelmshaven.
Henoch 1 ) erklärt, er habe noch nie eine grössere Epi-oder
Endemie von Rötheln gesehen und er sei daher ausser Stande,
ein Urtheil zu Gunsten ihrer Selbstständigkeit zu fällen. Ich er¬
achte daher nachfolgende Mittheilung für einen vielleicht nicht
werthlosen Beitrag zu dieser Frage.
Im Jahre 1890 herrschten in dem Flecken Wittmund und in
Wilhelmshaven umfangreiche Masernepidemien, nach welchen
1891 in der nördlichen Hälfte des Kreises, die übrigens im Ge¬
gensätze zur anderen Hälfte durch die von Wilhelmshaven aus
über Wittmund verlaufende Küstenbahn der Einschleppung von
Krankheiten in höherem Grade zugänglich ist, Masernepidemien in
fast allen Gemeinden auftraten. Nur eine Gemeinde, Ochtersum,
erhielt statt der Masern eine Röthelnepidemie, während in den
umliegenden Gemeinden nur Masern vorkamen. Aber auch hier
fanden sich 3 Masernkranke; die anderen Kinder erkrankten
an Rötheln.
Man könnte in diesem Falle neben einer Masernepidemie
eine Röthelnepidemie annehmen, könnte aber auch die Rötheln für
milde Masern halten, da ja das Röthelndorf auch über einige
Masernfalle gebot.
Einwandfreier als diese Röthelnepidemie ist folgende Beob¬
achtung.
Etwa ein Jahr später, im März 1892, konstatirte ich in der
im Bereiche des im Vorstehenden erwähnten Maserndistriktes des
Kreises gelegenen Gemeinde Westeraccum eine Röthelnepidemie
’) Vorlesungen über Kinderkrankheiten. 1881; l». *>07.
Dr. Glogowski: Ein einfacher Dampfdesiufektionsapparat.
9
nachdem im Februar 1891 ebenda intensive Masern epidemisch
geherrscht hatten. Von 40 Kindern einer Klasse der Gemeinde¬
schule waren 1 8 an Rötheln erkrankt, nachdem sie ein Jahr zu¬
vor die Masern überstanden hatten. Diese 18 Kinder waren also
durch die Masern nicht röthelnimmun geworden.
Auch die Mehrzahl der übrigen, im Jahre zuvor nicht masern¬
krank gewesenen Kinder war an Rötheln erkrankt.
Wäre die Beobachtung die umgekehrte, hätten die Kinder
nach den Rötheln die Masern bekommen — derartige Fälle führt
Strümpell 1 ) gegen die Identität von Masern und Rötheln vor —
so spräche dies allerdings ebenfalls für die Verschiedenheit beider
Krankheiten, es wäre dies aber kein vollkommener Beweis. Es
ist in solchem Falle immerhin mit der Möglichkeit zu rechnen,
dass die Rötheln, obschon ätiologisch identisch mit den Masern,
dennoch nicht ausreichen, um masernimmun zu machen, weil sie
eine mildere, weniger virulente Form derselben Krankheit dar¬
stellen.
Dass aber Masern nicht einmal für 13 Monate röthelnimmun
machten, spricht noch deutlicher gegen die Identität beider Krank¬
heiten.
Ein einfacher Dampfdesinfektionsapparat.
Von Dr. Glogowski, Kreiswundarzt in Kempen.
Die herrschende Cholerafurcht hat im Vorjahre wenigstens
den Vortheil, dass das Verständniss für einige Fragen der Gesund¬
heitspflege tiefer ins Volk gedrungen ist, womit zugleich die Ver¬
waltungsbehörden geneigter wurden, Ausgaben für hygienische
Zwecke zu bewilligen. Mancher Kollege wird jetzt den Ankauf
vieler Gegenstände erreicht haben, um die er sich früher vergebens
bemühte. Durch verschiedene MinisterialVerfügungen wurde darauf
hingewiesen, wie wünschenswerth die Beschaffung von Desinfek¬
tionsapparaten wäre. Es kann jedoch, namentlich in dem ärmeren
Osten der Monarchie den Kreis Vertretungen nicht zugemuthet
werden, so viele von den theuren Apparaten anzuschaffen, wie bei
dem Auftreten einer ausgedehnten Choleraepidemie notliwendig sein
dürften — schon die Beschaffung eines einzigen grossen Apparates
für’s Krankenhaus muss hier rühmend anerkannt werden.
Unter diesen Erwägungen trat an mich amtlich die Frage
heran, ob ich nicht einen Apparat angeben könne, der vielleicht
bei geringen Kosten den gewünschten Zweck erfülle. Ich ging
auf die Frage ein, weil man im praktischen Leben mit dem Er¬
reichbaren zufrieden sein muss, auch wenu es sich nicht voll¬
ständig mit dem Wünschenswerthen deckt. Ohne mich auf eine
Entscheidung darüber einzulassen, ob heisse Luft oder strömende
Dämpfe besser desinfiziren, hielt ich mich an die in der bekannten
Ministerialverfügung vom; 18. Juli 1884 angegebene Instruktion zur
Vornahme der Desinfektion bei Cholera, in welcher es unter Nr. 6
*) Lehrbuch der spez. Patli. und Ther. 1890; p. 77.
10
Dt. Glogowski: Ein einfacher Dampfdosinfektionsapparat.
heisst: „Zur Ausführung der Desinfektion mittelst heisser Wasser-
dümpfe sind nur solche Apparate geeignet, in welchen ein fort¬
währendes Durchströmen von heissen Wasserdämpfen durch den
Desinfektionsraum stattfindet, und bei welchen die Temperatur der
Wasserdämpfe im Desinfektionsraume überall mindestens 100° C.
beträgt. Diese Bedingung wird erfüllt, wenn ein in die Oeffnung,
durch welche der Dampf den Apparat wieder verlässt, gebrachtes
Thermometer die Temperatur von 100° C. erreicht.“
Im weiteren Verfolg der ebenda ausgesprochenen Ideen kam ich
zur Konstruirung eines sehr einfachen Desinfektionsapparats, der bil¬
ligen Anforderungen völlig entsprechen dürfte, und den ich nach mei¬
nen Erfahrungen den Kollegen zur Anwendung empfehlen kann. Er
ist folgendermassen gebaut. In einen runden Mantel aus starkem
Eisenblech von 63 cm Höhe und 56 cm Durchmesser wird ein
gusseiserner Kessel (in jedem Eisenladen käuflich) von 52 cm
Durchmesser und 33 cm Tiefe eingehängt, was dadurch erreicht
wird, dass der Kessel einen 5 cm breiten freien Rand hat. Letzterer
hat eine etwas nach oben geschweifte Kante von Vs cm Höhe.
Der Blechmantel, unten offen, wird einfach auf die Erde gestellt;
er hat vorn eine kleine Thür zum Hineinwerfen des Heizmaterials
und auf der entgegengesetzten Seite ein etwa 1,5 m langes
knieförmiges Rauchrohr. Auf den erwähnten Kessel wird nun ein
Holzbottich gestellt, der aus gutem Material angefertigt und sorg¬
fältig gefugt sein muss. Um ein möglichst luftdichtes Anliegen
des Bottichs an dem Kessel zu bewirken, ist ersterer an seinem
unteren Rande aussen mit einer nicht zu dicken Gummilage um¬
geben. Der Bottich ist wegen des besseren Schwerpunktes leicht
konisch gebaut, 1,10 m hoch, mit einem lichten Durchmesser von
unten 56, oben 50 cm; um das Herabfallen bei stärkerer An¬
füllung zu verhindern und zugleich einen besseren Verschluss
des Kessels zu bewirken, wird er durch 3 kleine Haken an Oesen
befestigt, die im Heizmantel angebracht sind. Der Bottich wird
durch 4 feste eiserne Reifen zusammengehalten; sein Boden ist,
um den Dampf durchzulassen, mit etwa 20 Löchern versehen,
während auf dem Deckel sich nur 2 Löcher befinden, eines zur
Aufnahme des Thermometers, welches in einem durchbohrten Korke
während der ganzen Desinfektion sich dort befindet, und das zweite
zur Aufnahme eines Messinghahnes, der zum Ablassen des über¬
schüssigen Dampfes dient. Ausserdem sind am Deckel innen
mehrere Messinghaken angebracht zum Aufhängen der zu des-
infizirenden Gegenstände. Auf der vorderen Wand endlich dieses
Bottichs, zwischen dem obersten und dem zweiten eisernen Reifen,
ist ein viereckiges Loch herausgeschnitten von je 30 cm Länge
und Breite. Dieses Loch ist an seiner Umrandung mit einer
dünnen Gummilage versehen und wird durch eine entsprechend
geformte Thür aus starkem Eisenblech, die sich in zwei Angeln
bewegt, verschlossen. Zum festeren Verschluss dient ein querer
Eisenbügel, der zunächst mechanisch an dem Bottich befestigt und
alsdann durch eine Schraube angedrückt wird, von demselben
Mechanismus, wie er bei dem Verschluss der hermetischen Ofen-
Kleinere Mtttheilongen und Referate aus Zeitschriften.
11
tliüren Anwendung findet. Dieses Loch dient dazu, die zu des-
infizirenden Gegenstände in den Apparat zu bringen und von da
wieder herauszunehmen.
Der Gebrauch des Apparates ergiebt sich von selbst. In den
Kessel kommt etwa die Hälfte Wasser, welches durch das unter¬
halb befindliche Feuer ins Kochen gebracht wird. Die sich ent¬
wickelnden Dämpfe gelangen in den Bottich und durchsetzen die
in ihm befindlichen Gegenstände.
Ich habe bereits sechs derartige Apparate anfertigen lassen,
sie alle zeigten bei der Prüfung an der Ausströmungsöffnung des
Dampfes anhaltend Temperaturen von 98 bis 100° C. Die Bottiche
können entweder gefüllt auf den Kessel gestellt oder erst oben
gefüllt werden.
Die oben angegebenen Dimensionen sind natürlich nicht die
einzig richtigen; ich habe sie nur gewählt, weil sie mir für die
hiesigen Verhältnisse am besten zu passen schienen. Ich habe
einen viel grösseren Apparat anfertigen lassen, der immer noch
96° zeigte. Die geringere Temperatur dürfte für den Endzweck
ohne Einfluss sein, da ja die meisten krankheiterregenden Bazillen
und speziell der Cholerabacillus bei noch niedrigeren Temperaturen
absterben. Der Apparat hat meines Erachtens folgende Vorzüge:
1. Er ist sehr leicht herzustellen — von einem geschickten
Böttcher in 2 Tagen.
2. Er ist leicht transportabel event. auf einem Handkarren.
3. Es kann jedes Brennmaterial benutzt werden.
4. Er kann überall aufgestellt werden, am besten im Freien.
5. Er verlangt keine geschulte Bedienung, eine zuverlässige
Person, die eine Thermometerskala zu lesen versteht, genügt.
6. Endlich, was doch sehr in Betracht kommt, er ist billig
(Preis beim hiesigen Böttcher 50 Mark).
Es braucht wohl nicht erst hervorgehoben zu werden, dass
ich den geschilderten Apparat nur als einen Nothbehelf ansehe,
der nur da in Anwendung zu ziehen ist, wo die Bevölkerung keine
grossen Bettstücke, Matratzen u. dergl. besitzt, wie dies wohl bei
der Landbevölkerung des Ostens fast durchweg zutrifft. Für wohl¬
habende Gegenden und Städte wird es natürlich immer bei den
fabrikmässig, nach allen Regeln der Technik angefertigten Apparaten
bleiben müssen.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
A. Gerichtliche Medizin.
Le delire de persecution ä evolution systematiqne. Von Prof.
Dr. G. Ballet. Le progres medical 1892, Nr. 47.
Diese Krankheitsgruppe wurde unter dem Namen „dfelire chronique“ be¬
sonders von Magnan hervorgehoben, dessen Buch auch ins Deutsche übersetzt
ist (vergl. das Referat in Nr. 1 dieser Zeitschrift, Jahrg. 1892). Ihre Kenn¬
zeichen sind: keine hereditäre Belastung, Beginn im mittleren Lebensalter, typi¬
scher progressiver Verlauf mit sehr schlechter Prognose; die Verfolgungsideen
sind stets von Halluzinationen begleitet. Die Degenerirten dagegen erkranken
nicht in so typischer Weise, mehr akut, oft ohne Halluzinationen, mit Remissionen
12
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
und bedeutend besserer Prognose. — In der That existiren diese beiden Gruppen,
doch glaubt Ballet, dass es Zwischenforraen giebt, und dass auch Degenerirte
an typischer Paranonia completa (um den M öbius’schen Namen türMagnan’s
dölire chronique zu gebrauchen) erkranken können, vorausgesetzt, dass sie nicht
schwachsinnig sind. Dr. Woltemas-Gelnhausen.
B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Die Choleraepidemie im Jahre 1892. Die dem Reichstage vorgelegte,
im Kaiserlichen Gesundheitsamt und im Reichsamt des Innern ausgearbeitete
Denkscuiift berichtet im 1. Theil zunächst über die Entwicklung der
Choleraepidemien in Persien, in Russland und Frankreich, um dann zur
Schilderung des plötzlichen Ausbruchs der Seuche in Deutschlands grösstem
Seehafen Hamburg-Altona überzugehen. Darnach wurden die ersten beiden
Erkrankungsfälle zuerst in Altona am 20. August durch die bakteriologische
Untersuchung festgestellt; in Hamburg geschah dies erst zwei Tage später,
obwohl hier vom 16. bis 20. August bereits 85 höchst choleraverdächtige Er¬
krankungen mit 36 Todesfällen vorgekommen waren, die man von ärztlicher
Seite aber als Brechdurchfälle bezw. Cholera nostras bezeichnet hatte, da mehr¬
fach ausgeführte Leichenöffnungen und bakteriologische Untersuchungen nicht
die sichere Ueberzeugung gebracht hatten, dass es sich in jenen Fällen wirklich
um asiatische Cholera handelte. Die Seuche nahm, wie aus den, auch in dieser
Zeitschrift bereits früher gebrachten Mittheilungen bekannt ist, in Hamburg
rasch einen ausserordentlichen grossen Umfang, so dass schon am 30. August
die höchsten Erkrankuugs- und Sterblichkeitszüfern (1081 bezw. 481) erreicht
wurden. Wenige Tage nach Beginn der Seuche waren nicht nur die am Hafen
gelegenen Stadttheile, sondern auch die übrigen Stadtgegenden ergriffen. Diese
explosionsartige Verbreitung ist nach Ansicht der Sachverständigen in erster
Linie der schlechten Wasserversorgung in Hamburg zuzuschreiben. Die
Denkschrift spricht sich darüber folgendermassen aus:
„Hamburg entnimmt sein Wasser oberhalb der Stadt bei Rothenburgsort
aus der Elbe und pumpt cs aus Ablagerungsbassins in die Röhrenleitung. Die
Reinigung durch Ablagerung ist bei dem grossen Wasserverbrauch Hamburgs
so wenig wirksam, dass sich das Leituugswasser schon dem äusseren Aussehen
nach nicht von dem gewöhnlichen Elbwasser unterscheidet und stets gröbere
Verunreinigungen enthält. Die Anlage von Sandtiltern zur Reinigung des
Leitungswassers ist seit Jahren in Aussicht genommen. Dieselben befinden sich
auch bereits im Bau, können aber voraussichtlich erst im nächsten Sommer dem
Gebrauch übergeben werden. Einen Beweis für das ursächliche Verhältniss der
Wasserversorgung Hamburgs zu der Verbreitung der diesjährigen Choleraepi-
demie liefern die ungleich günstigeren Gesundheitsverhältnisse Altonas, dessen
Wasserversorgung den zeitgemässen Anforderungen entspricht. Auch innerhalb
Hamburgs selbst blieben einige Altona benachbarte Strassen, welche an die
Wasserleitung dieser Stadt angeschlossen sind, von der Seuche verschont. Ein
überzeugender Beweis von dem Zusammenhang des Wassers mit der Verbreitung
der Cholera wurde ferner durch die Art der Betheiligung des in Hamburg be¬
findlichen Militärs an der Epidemie gebracht. In der Kaserne zu Hamburg,
weiche vom Beginu der Epidemie bis zum 24. August durch zwei Bataillone
des 85. Infanterie-Regiments, später durch Ersatzreservisten (mit Unteroffizier¬
familien etwa 500 Köpfe) belegt war, sind Choleraerkrankungeu nicht vorge¬
kommen. obwohl die Kaserne dieselben Boden- und Abfuhrverhältnisse hat wie
der sie umgebende Stadttheil, in welchem viele Häuser von der Seuche heim-
gesucht wurden. Dagegen ereigneten sich 17 Erkrankungen im 3. Bataillon des
85. Regiments, welches bis zum 24. August in nächster Nähe der Kaserne in
Biirgerquarticren lag, und 2 Cbolerafälle in einer Batterie, welche nur eine
Nacht in Hamburg zubrachte und gleichfalls in Bürgerquartiere untergebracht
war. Das auffallende Verschontbleiben der Kaserne kann nur durch deren
Wasserversorgung erklärt werden, welche ausschliesslich aus Tiefbrunnen erfolgt.
Die in den Gebäuden vorhandenen Auslässe der Elbwasserleitnng, welche auch
vorher nur das Wasser zur Klosetspüluug geliefert hatten, waren bei Beginu
der Epidemie geschlossen worden.“*)
*) Aus einem am 13. v. M. gehaltenen Vortrage des Kreisphysikus
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften
13
Bei einem so gewaltigen Umfange den die Choleraepidemie in Hamburg
erreichte (bis zum 17. November 17975 Erkrankungen = 2,9 °/ 0 der Einwohner¬
zahl mit 7611 Todesfällen), und bei dem ausgedehnten Verkehre, der von dieser
Stadt ausgeht, sowie in Folge der panikartigen Flucht vieler Hamburger war
selbstverständlich eine weitere Verschleppung der Seuche nach anderen Orten
unvermeidlich. Am meisten bedroht waren die mit Hamburg unmittelbar zu¬
sammenhängenden Städte Wandsbeck und Altona und wenn hier trotzdem
■die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle eine verhältnissmässig geringe blieb
(in Wandsbeck 64 Erkrankungen = 0,32 °/ 0 der Einwohnerzahl mit 4» Todes¬
fällen und Altona 572 Erkrankungen = 0,4 % der Einwohnerzahl mit 328 Todes¬
fällen), so erklärt sich dies nach der Denkschrift lediglich durch die Art der
Wasserversorgung der beiden Städte. Wandsbeck wird von der Elbe durch das
dazwischen liegende Hamburg getrennt und bezieht sein Wasser mittelst einer
guten Filtriranlage aus 2 mit der Elbe in keiner Verbindung stehenden Land¬
seen. Altona unterwirft dagegen sein der Elbe bei Blankenese entnommenes
Wasser einer ausreichenden Filtration und war ausserdem seit dem Auftreten
der Chvdera der Betrieb der Altonaer Wasserwerke einer unablässigen Beauf¬
sichtigung unterzogen und insbesondere die Filtrirgeschwindigkeit auf möglichst
geringes Maass herabgesetzt worden.
Insgesammt wurden in Deutschland 269 Orte von der Cholera heimge¬
sucht; die höchste Zahl der Erkrankungen (1181) entfiel im ganzen Reich auf
den 27. August, diejenige der Todesfälle (516) auf den 30. August, diejenige
der verseuchten Orte (55) auf den 2. September. Der letzte Todesfall ereignete
sich am 9. November, der letzte Erkrankungsfall am 27. November; seitdem
sind bekanntlich wieder vereinzelte Erkrankungs- und Todesfälle, besonders in
der letzten Woche des Dezembers vorgekommen. Der Denkschrift sind zwei
graphische Darstellungen beigegebeu, aus denen die Zahl der täglichen Erkran¬
kungen und Todesfälle wie der verseuchten Orte ersichtlich ist. Auf einer
gleichfalls beigegebenen Karte ist die Lage dieser Orte unter Abstufung nach
der Heftigkeit, mit der die Seuche aufgetreten ist, anschaulich dargestellt.
Unter den Ortschaften befinden sich einige, für die der Nachweis einer Ein¬
schleppung aus Hamburg nicht gelang oder von vornherein auszuschliessen war,
weil das verseuchte Ausland als Infektionsquelle angesehen werden musste; in
der grossen Mehrzahl sind die verseuchten Orte aber von Hamburg aus infizirt.
Eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung der Cholera spielen nach An¬
sicht der Denkschrift nicht nur die hygienischen Verhältnisse der infizirten Orte ,
sondern auch die Verkehrsverhältnisse. Die diesjährige Epidemie hat in dieser
Hinsicht mit grosser Bestimmtheit die Thatsache ergeben, dass eine Verschleppung
der Seuche auf dem Landwege bezw. durch den Eisenbahnverkehr bei Weitem
nicht so zu fürchten ist, wie eine solche auf* dem Wasserwege. Die allseitig
angeordnete polizeiliche Beobachtung der mit der Eisenbahn zugereisten Per¬
sonen ermöglicht es meist, diese, falls sie krank ankommen oder kurz nach ihrer
Ankunft erkranken, sofort zu isoliren, ehe sie die Ursache einer anderen Epi¬
demie werden können. „Die Schifffahrt auf den grossen deutschen Strömen
bringt dagegen auf weite Strecken einen regen Verkehr von Personen mit
sich, die zum Theil keine andere Wohnung haben als ihr Schiff oder Floss;
die ihnen zum Aufenthalt dienenden Kajüten mit Strohhütten pflegen aber
den hygienischen Anforderungen nicht zu entsprechen. Schiffer, deren Familie
nicht mit auf dem Schiffe wohnt, suchen diese von Zeit zu Zeit an
ihrem festen, gewöhnlich an der von ihnen befahrenen Wasserstrasse liegenden
Wohnsitze auf. Die polizeiliche Beobachtung dieser Schifferbevüikerung ist schon
unter gewöhnlichen Verhältnissen ungemein schwierig, oft geradezu unmöglich;
der bezeichncte Verkehr kann daher leicht eine Verschleppung der Seuche be¬
wirken. Hierzu kommt noch der Umstand, dass erkrankte Schiffer ihr Fahrzeug
gewöhnlich nicht verlassen, auch nur selten ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen
und sämmtliche Abgänge in den von ihnen befahrenen Fluss entleeren, so dass
Reinke in Hamburg möge hier noch die interessante Thatsache erwähnt
werden, dass die 4 geschlossene Anstalten in Hamburg, die nur Brunnenwasser
benutzen (Alsterdorf, Pestalozzi-Stiftung, Zentralgefängniss und Korrektioushaus)
keinen einzigen Cholerafall gehabt haben, dagegen die an die städtische Wasser¬
leitung angeschlossenen Anstalten Friedrichsberg, Werk- und Armenhaus schwer
von der Cholera heimgesucht sind.
14
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
eine Vergiftung des Wassers durch Ansteckungskeime die Folge ist. Endlich
können die Schiffe und Kähne in ihrem Kielraum (Bilgeraum, Sumpf) Wasser
aus verseuchten Häfen oder Flüssen mit sich führen, welches entweder direkt
die Ansteckung vermittelt oder sich bei mangelhafter Dichtigkeit des Fahrzeugs
allmählich dem Wasser des Stromes beimischt oder durch Pumpen in den Strom
entleert wird, und so die in ihm enthaltenen Ansteckungskeime in vorher nicht
verseuchtes Wasser anssät.“ Unter diesen Umständen war es daher nicht zu
verwundern, dass die Mehrzahl der verseuchten Ortschaften an Wasserstrassen
lag und die Betheiligung der Schifferbevölkerung an den Choleraerkrankungen
eine auffällig grosse war. Der Nachweis von Cholcrakeimen im Wasser ist
allerdings nur in zwei Fällen (im Duisburger Hafen und im Bilgewasser eines
Elbschiffes) gelungen, gleichwohl konnte in vielen Krankheitsfällen mit Recht
das Wasser als Infektionsquelle bezeichnet werden. Es ergab sich daraus die
Nothwendigkeit einer schärferen Beaufsichtigung des Schiffsverkehrs und einer
häufigen Desinfektion des Bilgewassers der Fahrzeuge. Die Folge davon war
die Einrichtung von ärztlichen Schifffahrts - Kontrolstationen in den Stromge¬
bieten der Elbe (9), des Rheines (11), der Weichsel (15) und der Oder (12), von
denen während ihrer Thätigkeit 686 200 Personen und 154962 Schiffe und Flösse
untersucht sind. Die Zahl der von diesen Stationen desinfizirten Schiffe und
Flösse betrug 87103, diejenige der festgestellten Cholera-Erkrankungen 127.
Die Denkschrift geht sodann etwas näher auf die Verbreitung der Cholera
in den einzelnen Orten ein und giebt hier zum Theil werthvolle Aufschlüsse in
Bezug auf die Verschleppung der Cholera. So bilden z. B. die Epidemien in
Boitzenburg und Lauenburg klassische Beispiele für die Verschleppung
der Cholera stomaufwärts durch den Schiffsverkehr. Auch von den in Berlin
erkrankten 32 Personen waren nur 7 aus Hamburg per Eisenbahn zugereist, 14
gehörten dagegen der Schifferbevölkerung an und bei fast allen übrigen Hess
sich irgend eine Beziehung zum Spreewasser ermitteln. Ebenso konnten die in
Stettin vorgekornmenen Erkrankungsfälle mit wenigen Ausnahmen auf eine
Infektion durch verseuchtes Oderwasser zurückgeftthrt werden.
Verhältnissmässig frei blieb das Rheingebiet trotz der gefährlichen Nach¬
barschaft der Niederlande, Belgiens und Frankreichs. Die Einschleppung der
Cholera in einige Ortsehafteu des Kreises Mayen (Meisenheim, Plaidt und Polch)
scheint durch den Eisenbahnverkehr erfolgt zu sein. In gleicher Weise wie das
Stromgebiet des Rheines blieb auch dasjenige der Weichsel verschont, obwohl
die Gefahr einer Einschleppung von Polen oder Galizien aus sehr zu befürchten stand.
Im zweiten Theile: Mas snahmen gegen die Cholera beschäftigt
sich die Denkschrift sowohl mit den zur Verhütung einer Einschleppung der
Seuche aus dem Auslande, als mit den zur Verhütung ihrer Weiterverbreitung
im Inlande getroffenen Massregeln, auf die hier nicht mehr eingegangen zu
werden braucht, da sie den Lesern dieser Zeitschrift aus den höheren Orts er¬
lassenen und seiner Zeit mitgetheilten Verfügungen und Anweisungen hinreichend
bekannt sein dürften. Am Schluss dieses Theiles heisst es dann betreffs der
Aussichten für die Zukunft, speziell für das Jahr 1893: „Wenn
auch anzunehmen ist, dass die Cholera in Deutschland einstweilen beseitigt ist
und voraussichtlich auch während des kommenden Winters durch die getroffenen
Massregeln unseren Grenzen fern bleiben wird, so darf doch die Seuchengefahr
für das Jahr 1893 nicht unterschätzt werden. Nach den Erfahrungen früherer
Epidemien hat die Cholera, wenn sie einmal in das Wolgagebiet eingedrungen
war, in Russland während der kalten Jahreszeit in der Regel wohl abgenommen,
aber nicht ganz aufgehört. Es erfolgten vielmehr meist während des ganzen
Winters vereinzelte Erkrankungen, welche sich beim Eintritt des Frühjahrs ver¬
mehrten und neue Epidemien erzeugten. Mit einer Wiederholung dieser Vor¬
gänge muss für das kommende Jahr gerechnet werden. Die Gefahr für das
preussische Weichselgebiet wird dann beträchtlich grösser sein, als in diesem
Jahre, weil das Andringen der Seuche für 1893 in der wärmeren Jahreszeit zu
erwarten ist. Da eine ähnliche Ueberwinterung der Cholera, wie in Russland,
auch für Ungarn, Frankreich uud die Niederlande nicht ausgeschlossen erscheint,
so werden die Behörden forgesetzt ihr Angenmerk auf den in jenen Ländern
herrschenden Gesundheitszustand richten müssen.“
Der dritte und letzte Theil der Denkschrift bringt in seiner Einleitung
eine interessante Darstellu g des Einflusses der Choleraepidemie auf
die Verkehrsbeziehungen zum Auslande. Mit Rücksicht auf die
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
lf>
Wichtigkeit, jederzeit schnelle und zuverlässige Nachrichten über den jeweiligen
Stand der Cholera im Auslande zu erhalten, wurden die Kaiserlichen Konsular-
behürdeu mit entsprechender Anweisung versehen und hatte sich die Bericht¬
erstattung derselben nicht nur auf den Ausbruch und die weitere Verbreitung
der Seuche, sondern auch auf die im Auslande dagegen ergriffenen Schutzmass-
regeln zu erstrecken. Darnach hat das von dein Deutschen Reiche Russland
gegenüber in Bezug aut' die Anwendung internationaler Verkehrsbeschränkungen
gegebene gute Beispiel bei den ausländischen Regierungen leider verhältniss-
massig wenig Nachahmung gefunden, sondern es sind von denselben beim Aus¬
bruch der Cholera in Hamburg dem Deutschen Reiche gegenüber vielfach so
umfassende Yerkehrsbeschränkuugeu getroffen worden, dass die dadurch hüben
und drüben verursachten wirtschaftlichen Storungen in ihren schädlichen Rück¬
wirkungen auf das Erwerbsleben sich noch lange Zeit hinaus fühlbar machen
dürften. Gerade durch die gegenwärtige Epidemie ist aber die von den her¬
vorragenden deutschen Hygienikern und Epidemiologen verfochtene und auch in
deu massgebenden wissenschaftlichen Kreisen Frankreichs und Englands vorherr¬
schende Ansicht, dass allen Unterbindungen des Verkehrs in der
Reihe der Cholera-Abwendungsmittel nur eine sehr untergeordnete
Rolle zuerkannt werden könne und insbesondere der Waaren-
verkehr als relativ ungefährlich zu gelten habe, aufs Neue und
in hervorragendem Masse bestätigt worden. Umsomehr mussten daher diejenigen
Massnahmen als überflüssig und folge weise als schädlich bezeichnet werden,
welche nach allen gemachten Erfahrungen als Ausdruck einer übertriebenen
Vorsicht zu gelten haben. In welchem Umfange sich Waaren-Einfuhrverbote
gegen choleraverseuchte Gegenden oder Orte überhaupt rechtfertigen lassen, dafür
kann das auf Grund wissenschaftlicher Erwägungeu und auf Grund der bei frü¬
heren Epidemien gemachten Erfahrungen seitens der Cholerakommission des
Kaiserlichen Gesundheitsamtes seiner Zeit erstattete Gutachten massgebend sein,
und ist daher auch den Kaiserlichen Vertretungen im Auslande Auftrag ge¬
geben, den in dem Gutachten ausgesprochenen Grundsätzen Beachtung zu ver¬
schaffen. Von diesem Vorgehen ist die erhoffte günstige Wirkung nicht aus¬
geblieben; überhaupt sprechen mannigfache Anzeichen dafür, dass der Ver¬
lauf der diesjährigen Cholera - Epidemie auf die Anschauungen des Auslandes
über den den Sicherheitsvorkehrungen zu gebenden Umfang vielfach auf¬
klärend und beruhigend in dem von der Kaiserlichen Regierung vertretenen
Sinne [gewirkt hat. Es trifft dies theilweise auch auf die Regierungen
solcher Länder zu, die sich gerade durch zwecklos weitgehende Verkehr.^er-
schweruugen hervorgethan hatten. Von einzelnen dieser Regierungen ist ganz
unumwunden der übertriebene Charakter ihrer Massnahmen zugestanden und der¬
selbe durch den Hinweis auf die ungenügenden sanitären Einrichtungen im
Lande, die Stimmung der Bevölkerung oder aut sonstige innerpolitische Gründe
gewissermassen zu begründen versucht. „Es steht somit zu hoffen, dass sich
die obige Anschauung, welche mindestens ein richtiges Verhältnis zwischen
den Massnahmen der präventiven Gesundheitspolizei und der gebotenen Rück¬
sichtnahme auf den internationalen Handelsverkehr sowie auf den Sinn und
Geist^der bestehenden Handelsverträge herzustellen bestrebt, allmählich immer
mehr Bahn brechen werde. Inwieweit zur Erreichung dieses Ziels der Weg
internationaler Berathungen zu beschreiten sein möchte, untersteht zurZeit der
Erwägung. Jedenfalls müsste es als ein grosser Gewinn betrachtet werden,
wenn es gelänge, die Willkür in den durch Menschenseuchen bedingten gesund¬
heitspolizeilichen Massnahmen der einzelnen Länder gegeneinander einzudämmen,
durch Beseitigung der Extreme auf diesem Gebiet einer Lahmlegung des inter¬
nationalen Verkehrs auch in Seuchezeiten vorzubeugen und nicht minder der
unendlichen Vielgestaltigkeit der Kontrol- und Absperrungsinassregeln ein Ziel
zu setzen, deren genaue Kenutniss oft nicht einmal im eigenen Lande zu finden
sei und die neben allem anderen eine ausserordentliche, schädlich wirkende Un¬
sicherheit im Gefolge habe.“ — Hoffentlich werden diese Bemühungen seitens des
Deutschen Reiches von Erfolg gekrönt sein; vor allem wird es allerdings dann
nöthig sein, dass im eigenen Lande erst einmal vernünftige, mit der Wissen¬
schaft und den praktischen Erfahrungen im Einklang stehende Grundsätze und
ein einheitliches Verfahren in Bezug auf die Bekämpfung ansteckender Krank¬
heiten durch den bevorstehenden Erlass eines Reichs-Seuchengesetzes geschaffen
werden. _ Rpd.
16
Kleinere Mittheiliwgeu und Referate aus Zeitschriften.
Ueber den Einfluss des Lichtes auf Bakterien. 2. Mittheilung.
Von Prof. F. B u c h n e r. Mit 1 Abbildung. Zentralblatt für Bakteriologie. XII. 7.
Es ist ein Bild von geradezu verblüffender Deutlichkeit, mit welcher
Buchner’s Photogramm einer Typhus - Platte den mächtig schädigenden Ein¬
fluss des Lichtes auf Bakterien-Wachsthum und Entwicklung deinonstrirt. Agar,
mit Typhus - Bakterien sehr stark besät, und in einer Petri’schen Schaale aus¬
gegossen, wurde 1 Stunde dem direkten Sonnenlicht oder 5 Stunden dem diffusen
Tageslicht ausgesetzt, wodurch die Keime, wenn auch nicht vollständig abgetödtet,
so doch in ihrer Entwicklungsfähigkeit derartig gestört waren, dass die aus¬
gegossene Agarschicht zunächst steril zu bleiben schien. Nun war aber ein Theil
der Platte, und zwar durch aufgeklebte grosse Papierbuchstaben beschattet
worden, so dass hier der schädigende Einfluss des Lichtes fortfiel und unter den
aufgeklebten Buchstaben zahllose Kolonien zur Entwicklung kamen, welche in¬
mitten der glatten und durchsichtigen Agar-Fläche das Wort „Typhus“ mit
grösster Schärfe und Deutlichkeit erkennen Hessen. Temperatur - Differenzen
zwischen den belichteten und beschatteten Partien der Platte können für die
Verschiedenheiten des Bakterienwachsthums nicht verantwortlicht werden, da
diese Erscheinung sich mit derselben Schärfe ausbildete, auch wenn die Platte
im Grunde eines */* m. tiefen Wassergefässes dem Lichte ausgesetzt wurde.
Die kleine Arbeit Buchner’s dient als Ergänzung einer früheren Mit¬
theilung desselben Forschers (Zentralbl. f. Bakteriologie, XI., 25.), worin unter
Anderem berichtet wird, dass in einem Wasser, welches pro ccm. 100 000 Keime
des Bact. coli commune enthielt, nach 1 ständiger Beleuchtung durch direktes
Sonnenlicht, auch nicht ein einziger lebensfähiger Keim nachzuweisen war,
während eine im Dunklen gehaltene Koutrolprube desselben Wassers sogar eine
geringe Vermehrung der Bakterienzahl erkennen Hess! Aehnliche Vernichtung
innerhalb des Wassers zeigten Typhus - Bacillus, Cholera - Vibrio, B. pyocyaneus
und verschiedene Fäulniss - Bakterien. Büchner schliesst hieraus: „Schliesslich
wäre der Gedanke wohl nicht zu kühn, in solchen Fällen, wo die direkte Ueber-
antwortung von städtischen Abwässern in einen Flusslauf unthunlich erscheint,
eine Desinfektion derselben durch Einlassen in flache, weiss cementirte Klärbecken
unter dem Einflüsse des Lichtes vorausgehen zu lassen. Jedenfalls stellt bei
Berieselunganlagen die rasche Ueberführung der Sch mutz wässer in den Boden
umgekehrt ein Verfahren dar, um die Bakterien dem für sie schädlichen Licht¬
einfluss möglichst zu entziehen und daher zunächst zu konserviren.“
Dr. Langerhans -Hankensbüttel.
Zur Kenntniss der Vertheilung der Wasserbakterien in grossen
Wasserbecken. Von Dr Justin Karlinski. Zentralbl. f. Bakteriologie,
XU, 78.
Der Borke-See im B'-zirk Conjica (Herzegowina), dessen Tiefen Verfasser
in chemischer, physikalischer und biologischer Hinsicht im Aufträge der öster¬
reichischen Legierung zu untersuchen hatte, lässt eine sehr beachtenswerte
Verschiedenheit des Bakterieureiehtliums in horizontaler und vertikaler Beziehung
erkennen. Die Bakterienzahl an der Oberfläche des schilfreichen Ufers, 16UÜ0
im ccm., sinkt allmählich bis auf 4000 in einer Entfernung von 200 in. vom
Ufer, um in der Mitte des Wasserspiegels auf 30OO herabzugehen. Während
in dem Oberflächen - Wasser 40ü0 Keime zur Entwicklung gelaugten, waren in
5 m. Tiefe kaum noch 1000 nachweisbar und in grösserer Tiefe wurden höchstens
200—300 gefunden. Wurde aber zufälliger Weise bei der Probe - Entnahme der
schlammige Seegruud aufgerührt, so stieg die Bakterienzahl sofort auf 6000!
Der Wechsel der wenigen Vorgefundenen, vonKarlinski kurz skizzirten Arten
zeigt die interessante Erscheinung, dass nach der Tiefe zu einzelne Arten ver¬
schwinden, um anderen Platz zu machen, bis schliesslich die Auaeroben das Feld
allein behaupten. Ders.
Ueber das Vorhandensein des Löffler'sehen Bacillus im Schlunde
bei Individuen, welche eine diphtheritiselie Angina durchgemacht
haben. Von Fr. Tobicsen in Kopenhagen. Aus dem dortigen Labora¬
torium f. mediz. Bakteriologie. Zentralbl f. Bakteriologie, XII., 17.
Das von R o u x und Ve r s i n zuerst beobachtete, seitdem durch andere Forscher
bestätigte Vorkommen des Diphtherie - Bacillus noch längere Zeit nach dem Ver-
Kleinere MittheUungen und Referate an» Zeitschriften.
17
schwinden der sichtbaren Schleimhaut • Auflagerangen und die grosse Wichtigkeit
dieser Beobachtung in hygienischer, bezw. prohylaktiscber Beziehung veranlasste
Verfasser zu einer sehr sorgfältigen Nachprüfung an dem Material des Bleg-
dams-Hospitals zu Kopenhagen. Verfasser versuchte bei sämmtlichen, meist
5—6 Tage nach dem Schwinden der Membranen und dem Nachlass aller übrigen
Krankheitserscheinungen zur Entlassung kommenden Patienten durch Schaben
mit der Impfnadel von der Scheimhaut des Schlundes Kulturen zu bekommen,
indem er in bekannter Weise die Impfnadel auf Blutserum ausstrich und die so
beschickten Reagensgläser im Brutschrank hielt. Die Zahl der Patienten betrug
46 und zwar waren es meistens Kinder im Alter von 6—12 Jahren. 7 Fälle
waren leichte, 85 inittelschwere, 4 schwere. Bei diesen 46 Personen war 24 mal
der Diphtherie - Bacillus vorhanden, in 22 Fällen nicht nachweisbar. Von den
24 Fällen, welche zur Zeit ihrer Entlassung lebensfähige Diphtherie - Bazillen
auf der Halsschleimheit hatten, werden 4 als leicht, 18 als mittelschwer und 2
als schwer bezeichnet, so dass die Art des klinischen Verlaufes ohne nachweis¬
baren Einfluss auf die längere kürzere Dauer des Diphtherie - Bacillus im Schlunde
zu sein scheint. In 5 Fällen wurde der Diphtherie - Bacillus nur durch Unter¬
suchung der Kulturen identifizirt, während bei den übrigen 19 Fällen das Thier-
Experiment zu Hülfe genommen wurde, welches die Virulenz der gefundenen
Diphtherie - Bazillen durch den Tod der Versuchstiere erwies und das typische
Krankheitsbild sowie den charakteristischen Sektionsbefund für echte Meer¬
schweinchen-Diphtherie erkennen liess. Es war damit die Möglichkeit
erwiesen, dass die Hälfte der Patienten, die nach den für
Diptheriehospitäler allgemein angenommenen Regeln zur
Entlassung kamen, ihre Umgebung mit Diphtherie ansteken
konnten. Verfasser hat sich nun bemüht, durch Nachforschungen in den
Häusern festzustellen, wie oft etwa eine Ansteckung thatsächlich erfolgt sein
mag. Es ist natürlich sehr schwer in einer Stadt, wie Kopenhagen, bei einer
so verbreiteten Krankheit, wie Diphtherie, sichere epidemiologische Thatsachen
zu erhalten. Es muss Verfasser aber beigestimmt werden, wenn er sagt, dass
diese Nachforschungen zwar nichts Bestimmtes ergeben haben,
aber doch sehr entschieden gegen eine grössere Ansteckungs¬
gefahr durch die entlassenen Patienten sprechen. Ders.
Die Nährgelatine als Ursache negativen Befundes bei Unter¬
suchung der Fäces auf Cholera - Bazillen. Von Dr. Max Dahm en. Zentral¬
blatt für Bakteriologie; XII., 18.
Verfasser bemängelt die Ausdrücke „schwach alkalisch“ und „deutlich
alkalisch“, mit welchen die verbreitetsten Lehrbücher der Bakteriologie die
wünschenswerthe Reaktion der Nährgelatine bezeichnen. Allerdings sind diese
Bezeichnungen sehr relativ und eine genauere Bezeichnung des Alkalescenzgrades
ist um so wünschenswerther, als der Letztere das Wachsthum einzelner Bak¬
terienarten quantitativ und qualitativ sehr erheblich beeinflussen kann. Ver¬
fasser hat festgestellt, dass gerade die Cholera-Bazillen zu raschem und freudigem
Wachsthum einen ganz unerwartet hohen Alkalescenzgrad beanspruchen. Nach
Verfasser ist ein Gehalt von 1 Prozent Soda (als krystallisirte Soda zu der
genau neutralisirten Gelatinelösung nach Volum-Prozenten des Letzteren hinzu-
gefiigt) für Fäces-Untersuchungen auf Cholera - Bazillen am geeignetsten,
während hierzu ein „schwach alkalischer“ Nährboden ganz unbrauchbar ist. Ver¬
fasser ist sogar geneigt, die bekannten Schwierigkeiten und Verzögerungen bei
der bakteriologischen Untersuchung der ersten Hamburger Cholerafälle aus einer
in der angegebenen Richtung unpassenden Reaktion der verwendeten Nährgelatine
zu erklären. Ein paar praktische Winke über die Zubereitung stark alkalischer
Nährgelatine und empfindlicher Lacmustinktur, welche als brauchbarstes Reagens
empfohlen wird, bilden den Schluss des interessanten kurzen Aufsatzes. Ders.
Ein Besteck zur Untersuchung auf Cholera - Bakterien. Von Me¬
dizinalrath Dr. S. Rembold, Vorstand des bakteriologischen Laboratoriums
des Medizinalkollegiums in Stuttgart. Zentralblatt für Bakteriologie; XII., 17.
Verfasser bezeichnet, und zwar mit vollem Recht, das
18
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
etwas sehr Problematisches! Er hält örtliche Untersuchung und per¬
sönliche Entnahme des Materials für erforderlich. Von Verarbeitung des Letzteren
an Ort und Stelle, abgesehen von Deckglaspräparaten, nimmt Re mb old Ab¬
stand, da das Verfahren unter Umständen sehr zeitraubend sei und da gerade
während der Cholera-Saison Verflüssigung der gegossenen Platten während des
Transportes zu befürchten sei. Rembolds Besteck ist demgemäss ausschliesslich
dazu bestimmt, dem an Ort und Stelle untersuchenden Medizinalbeamten die
bequeme Entnahme des verdächtigen Materials und die sichere Ueberführung
desselben in das Laboratorium zu ermöglichen, wo dann die weitere Verarbeitung,
namentlich das Plattengiessen zu erfolgen hat. Das Besteck (bei Instrumenten¬
fabrikant Henger, Stuttgart für 32 M. käuflich), durch eine gute Abbildung
erläutert, enthält die nöthigen Materialien und Gerätschaften für Anfertigung
und Färbung von Deckglaspräparaten, für Aufnahme flüssiger Entleerungen und
fester Organtheile. Die Entleerungen werden in Reagensgläser gefüllt, welche
sodann zugeschmolzen werden — allerdings wohl die zuverlässigste und empfeh¬
lenswerteste Art des Verschlusses! Sämmtliche gebrauchten Gegenstände, nament¬
lich auch die mit dem Untersuchungsmaterial gefüllten Reagensgläser werden vor
dem Zurückbringen in das Besteck mit Sublimat abgewaschen, die metallenen
Instrumente in der Lampe ausgeglüht. Weingeistlampe mit Stichflamme und
Glaakapsel mit Sublimatpastillen sind im Besteck vorhanden und, ebenso wie
sämmtliche übrigen Theile, durch federnde Klammern an Ort und Stelle sicher
und zuverlässig festgehalteu; eine Infektions- und Verschleppungsgefahr ist
somit ihatsächlich wohl vollständig ausgeschlossen. Das Besteck ist zudem klein
und leicht, so dass es auch bei anderen Infektionskrankheiten zweckmässige Ver¬
wendung finden dürfte. (Ders.)
Ueber Koch verfahren zum Zwecke der Erhaltung des Fleisches
kranker Thiere als Nahrnngsmittel. Von Dr. Hertwig, Direktor der
städtischen Fleischschau in Berlin. Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheits¬
pflege, 1892, 3. Heft, S. 392—402.
Die Frage der Versorgung des Volkes mit hinlänglicher Fleischnahrung
muss in einem Lande wie Deutschland, welches notorisch nicht mehr im Stande
ist, die Nahrungsmittel durch eigene Produktion in hinreichender Menge zu
beschaffen, als eine äusserst wichtige angesehen werden. In diesem Sinne sind
die Bemühungen des Verfassers, welche in der Ueberschrift seiner Abhandlung
genügend gekennzeichnet sind, durchaus anzucrkenneu.
Derselbe ist von der Ucberzeugung ausgegangen, dass von den grossen
Mengen Fleisch, welche wegen gewisser Krankheiten der Thiere alljährlich dem
Konsum entzogen und grösstentheils in Abdeckereien zu technisch-gewerblichen
Zwecken ausgenutzt werden, ein erheblicher Theil als Nahrungsmittel für
Menschen verwerthet werden könue, wenn die in dem Fleisch vorhandenen nach¬
theiligen Bestandteile unschädlich gemacht worden seien. Von diesem Gesichts¬
punkte aus haben auch die Ministerien des Innern und des Kultus durch die Er¬
lasse vom 16. Februar 1876 und 26. Juni 1890 genehmigt, dass das Fleisch von
finnigen Schweinen und Rindern zum Verkauf und zum Hausgebrauch zugelassen
werden dürfe, wenn dasselbe wenig mit Finnen durchsetzt und unter polizeilicher
Aufsicht gar gekocht sei. Wenn dies für finnige«' Fleisch möglich sei, müsse
dies auch für solches möglich sein, in welchem sich andere Parasiten oder Mikro¬
organismen befinden, wenn es gelingen sollte, in dasselbe mit genügenden Tempera¬
turen sicher einzudringen. — Verfasser hat nun mit einem Dr. R o h rb e ck’schen
Dampfdesinfektor auf dem Zentralschlachthofe in Berlin Versuche nach dieser
Richtung hin angestellt. Der Apparat, welcher mit einem Ueberdruck von etwa
1 Athmosphäre arbeitet, besteht aus einem doppelwandigen cylindrischen Kessel,
in welchem sich herausnehmbare eiserne Roste befinden, auf welche die Fleisch¬
stücke gepackt werden. Unter der Roste ist eine Vorrichtung zum Auffangen
der aus dem Fleische träufelnden Flüssigkeit angebracht. Der Dampf kann nach
Belieben entweder in den Raum zwischen der Doppelwandung (den äusseren
Kessel) oder in den grossen iunern Raum (innern Kessel) und von hier aus in
den äussern Kessel geleitet werden. Dadurch können in den Apparat gelegte
Gegenstände auch in truekner Hitze allein behandelt werden. Als neu und eigen-
thümlich besitzt der Rohr heck’sche Apparat eine Vorrichtung zur schnelleren
Abkühlung des Dampfes, durch welchen der letztere leicht und schnell kondensirt
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
19
und ein Theil der dadurch frei gewordenen Wärme an die ira Apparat befind¬
lichen Gegenstände abgegeben wird. Bei fortgesetzter Abkühlung entsteht
Unterdrück bezw. Luftleere, in Folge deren auch die in den zu desinfizirenden
bezw. zu vernichtenden Körpern befindlichen Luftheile aus denselben heraus¬
treten. Weun nun von Neuem Dampf hinzugelasseu wird, so dringt derselbe
mit Leichtigkeit in die Objekte und tödtet die in denselben befindlichen an¬
steckenden Stoffe ab. — Die Wirksamkeit des Dampfes wurde nach Art der
Prüfung der gewöhnlichen Desinfektionsapparate durch Kontaktthermoraeter fest¬
gestellt, welche in die Fleischstiieke hineingesteckt wurden. In Zeit von
2 l / t Stunden wurden hierbei auch umfangreichere Fleischstücken bis auf 100° C.
und darüber durchwärmt. Dieselben waren dann vollständig gar, sehr saftreich
und von angenehmerem Geschmack als auf gewöhnlichem Wege gekochtes
Fleisch. Der erhebliche Gewichtsverlust, 33 bis 40 °/ 0 , war dadurch ausgeglichen,
dass in dem Auffangbecken genau die demselben entsprechende Menge konzentrirter
Brühe sich vorfand. — Die Impfversuche, welche mit derartig behandeltem hoch¬
gradig tuberkulösen Fleische angestellt worden, gaben durchweg ein negatives
Resultat. Hieraus folgert Verfasser, dass mit Bestimmtheit in dem so gekochten
Fleisch jeder Ansteckungsstoff beseitigt sei, und erblickt darin einen Erfolg von
der grössten volkswirtschaftlichen Bedeutung, indem durch denselben die Mög¬
lichkeit nachgewiesen sei, grosse Mengen von Fleisch, welche jetzt beinahe werth¬
los in die Abdeckerei wandern, als werthvolles Nahrungsmittel für den Konsum zu
erhalten. Wie weit sich hieran das Fleisch von an anderen Krankheiten leidenden
Thieren anreihen lasse, bleibe der Zukunft Vorbehalten. Auf dem Zentralschlachthofe
in Berlin sei im letzten Jahre wegen Tuberkulose das Fleisch von 1334 Rindern
und von 1934 Schweinen von dem Konsum ausgeschlossen worden, von welchem,
in Rücksicht auf seine sonst gute Beschaffenheit, das Fleisch von 1000 bis
1200 Rindern und ungefähr 1600 bis 1700 Schweinen für die Verwendung zu
Nahrungszwecken hätte erhalten werden können. — Verfasser erklärt es für
selbstverständlich, dass er das auf diese Weise unter amtlicher Aufsicht gekochte
Fleisch nur an besonderen, für den ausschliesslichen Verkauf desselben bestimmten
Verkaufsstellen feilhalten lassen wolle. Er will nicht das Kochverfahren an
Stelle der vielfach schon eingeführten Freibänke für den Verkauf des sog.
minderwerthigen Fleisches setzen. Für kleinere Gemeinden, welche im Stande
seien, den Verbleib des in der Freibank verkauften Fleisches zu überwachen,
seien dieselben bestimmt eine zweckmässige Einrichtung. Für alle grösseren
Städte aber, wo diese Ueberwachung nicht möglich sei, erscheine es zweck¬
mässig, das sog. minderwerthige Fleisch ebenfalls nur in gekochtem Zustande in
den Verkauf bringen zu lassen. Dr. Meyhoefer-Görlitz.
Untersuchungen über die Verwendbarkeit des Alnminiums zur
Herstellung von Ess-, Trink- und Kochgeschirren. Von Regierungsrath
Dr. Ohlmüller und Dr. R. Heise. Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesund¬
heitsamte; Bd. 2, H. VIII. Verlag von Jul. Springer in Berlin.
Wenn auch über die Verwendbarkeit des Aluminiums zu Kiichengeräthen
und ähnlichen Zwecken schon eine Reihe Arbeiten vorliegen, so gingen die An¬
sichten in dieser Hinsicht bisher doch noch ziemlich weit auseinander. Es war daher
im allgemeinen Interesse dringend erwünscht, durch eingehendere Untersuchungen
grössere Klarheit über diese Frage zu schaffen und haben sich die Verfasser auf
amtliche Veranlassung dieser dankenswerten Aufgabe unterzogen. Zu ihren
Versuchen benutzten sie Becher bezw. Feldflaschen, die aus Aluminiumblechen
I. und II. Sorte der Fabrik von G. Leuchs und Meis er in Nürnberg herge¬
stellt waren. Die Becher bezw. Feldflaschen wurden einer 2-, 4- bis 6tägigen
Einwirkung von verschiedenen Versuchsflüssigkeiten (destillirtem Wasser,
Wasserleitangswasser, 1 °/ 0 Essigsäure, käuflichem 1 °/ 0 Essig, 2 °/ 0 Weinsäure¬
lösung, 2 °/ 0 Citronensäurelösung, 2 °/ 0 Gerbsäurelösung, 5°/ 0 Buttersäure, Vs 0 /o
Weinsteinlösung, 0,001 °/ 0 Natriumkarbonatlösung, 2 °/ 0 Kochsalzlösung, Roth-
wein, Kaffee, Kognak, Branntwein und Citronenlimonade) ausgesetzt; ferner
wurden halbstündige Kochversuche und Schüttelversuche mit theilweise ge¬
füllten Bechern (3 Stunden lang bei gewöhnlicher Temperatur und bei 35 bis
40° C.) vorgenommen. Die Versuche wurden bei metallisch reiner und durch
den Gebrauch veränderter Oberfläche der Versuchsgefässe ausgeführt; und
schliesslich noch eine Anzahl Versuche über das Verhalten von Kupfer, Blei,
20
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
Zinn und Zink gegen die vorgenannten Flüssigkeiten angestellt, um bestimmte
Anhaltspunkte für die Beurtheiluug des Aluminiums in Bezug auf seine Ver¬
wendbarkeit zu Trink- und Kochgeschirren zu gewinnen im Vergleich zu den
anderen in dieser Hinsicht in Betracht kommenden Metallen. Auf Grund
dieser zahlreichen Versuche kommen die Verfasser zu folgendem Ergebniss:
1. Das Aluminium wird innerhalb der für Ess-, Trink- und Kochgeschirre
im Allgemeinen in Betracht kommenden Zeit durch saure und alkalische Flüssig¬
keiten, sowie durch Salzlösungen angegriffen und zwar bei Zimmerwärme in ver-
hältnissmässig geringem Grade. Bei Siedehitze ist die Löslichkeit verschieden,
erreicht jedoch in manchen Fällen eine beträchtliche Grösse.
2. Die Angreifbarkeit der Geschirre ist in Folge von Veränderungen der
Oberfläche des Metalls häufig geringer.
3. Mit der Reinigung ist je nach der Art derselben stets ein verhältniss-
mässig bedeutender Materialverlust verbunden.
4. Eine Schädigung der Gesundheit durch den Genuss von Speisen oder
Getränken, die im Alnmininmgeschirr gekocht oder aufbewahrt worden sind, ist
bei den hierbei gewöhnlich in Betracht kommenden Verhältnissen nicht zu
erwarten.
Betreffs der letzten Schlussfolgerung stützen sich die Verfasser auf Ver¬
suche, die sie in Bezug auf die Einwirkung des Aluminiums auf den thierischen
Körper gemacht haben. Darnach ertrug z. B. ein Hund basisch essigsaures
Aluminium (14,8 °/ 0 Aluminium enthaltend) vier Wochen hindurch in Dosen von
0,1—5 gr., des Morgens beim ersten Futter gereicht, ohne Schaden an seiner
Gesundheit und seinem Körpergewicht; grössere Dosen (10 gr.) riefen geringe
Reizerscheinungen im unteren Theil des Dünndarms hervor. Zwei Versuche an
Menschen gemacht, (zwei Aerzte hatten täglich 1 gr. weinsaures Aluminium
8,1 °/ 0 Aluminium enthaltend), genommen, ergaben ein gleiches Resultat; auch
hier wurde im Verlaufe der Versuchstage nicht die geringste Störung des
Appetits und des Wohlbefindens beobachtet.
Auch Prof. Dr. A u b r y, Direktor der wissenschaftlichen Station für Brauerei
in München kommt in einem kürzlich erstatteten Gutachten über das Verhalten des
Aluminiums gegen Bier zu demselben Ergebniss und empfiehlt die Verwendung
desselben zu Biertransportgefässen u. s. w. auf das Wärmste, obwohl nach seinen
Versuchen das Bier bis 0,008 gr. Aluminium pro Liter aus den Gefässen auf¬
löst. Diesem Vorschlag tritt jedoch Prof. Dr. Ko b e r t in Dorpat in der Zeitschrift
für Nahrungsmittel - Untersuchung und Hygiene (Nr. 14; 1892) mit Entschiedenheit
entgegen und warnt vor der Benutzung des Aluminiums zu derartigen Zwecken,
ehe nicht durch monatelang fortgesetzte Versuche die gänzliche Unresorbirbarkeit
und Unschädlichkeit des Metalls dargethan sein wird. Die oben mitgetheilten
Versuche des Kaiserlichen Gesundheitsamtes scheinen K o b e r t damals noch nicht
bekannt gewesen zu sein, sonst würde er dem Aubry’sehen Vorschläge wohl
nicht so abweisend gegenüber getreten sein. Rpd.
Die Kost der Haushaltungsschule und der Menage der Friedrich
Krupp'sehen Gussstahlfabrik in Essen. Ein Beitrag zur Volksemährung.
Von Dr. W. Prausnitz, Privatdozent für Hygiene. Archivf. Hygiene XV., 4.
Unter den verschiedenen Wohlfahrtseinrichtungen, welche Krupp in
Essen für die von ihm beschäftigten Arbeiter eingerichtet hat, verdient die
Haushaltungschule ein besonderes Interesse. Es werden in derselben Töchter
von Bediensteten oder Arbeitern nach zurttckgelegtem 14. Lebensjahr in drei¬
monatlichen Kursen durch praktische Anleitung in der Führung eines Haus¬
haltes ausgebildet. Neben den übrigen Lehrgegenständen, welche hierbei in Betracht
kommen, wird, dem Zwecke der Anstalt entsprechend, ein hervorragendes Gewicht
gelegt auf die Erlernung der einfachen Küche, so wie dieselbe in Arbeiter¬
haushaltungen geführt werden sollte. Es ist sehr anzuerkennen, dass die jungen
Mädchen nicht nur die Zubereitung der Speisen, sondern auch die Eintheilung,
bezw. Abwägung der Lebensmittel für die einzelnen Mahlzeiten und die Be¬
rechnung des Geldwerthes der letzteren vorzunehmen haben, wobei die Führung eines
Tagebuches mit vorgedrucktem Schema zur Befestigung und selbstthätigen
geistigen Verarbeitung der mechanisch erworbenen Kenntnisse helfen soll.
Prausnitz hat nun an der Hand dieser Tagebücher den Nährwerth der dort
zubereiteten Kost berechnet und gefunden, dass daselbst pro Kopf und Tag
durchschnittlich 100,5 gr Eiweiss, 74,6 gr Fett und 415,2 gr Kohlenhydrate ver-
Kleinere Mittheilungen and Referate aas Zeitschriften.
21
abreicht werden and dass die Kosten für diese Verpflegung sich auf 54,2 Pf.
pro Tag belaufen. Die bei dieser Kost während der dreimonatlichen Dauer des
Kursus beobachtete Gewichtszunahme ist durchweg sehr bedeutend, auf jedeu
Fall grösser, als die Durchschnitts - Zunahme bei Mädchen dieses Alters. Wenn
nun allerdings die von Prausnitz zu seinen Vergleichen herangezogenen
Quetelet'sehen Gewichtsangaben den jetzigen Ansprüchen an statistisch ver-
werthbare Zahlen nicht genügen, so kann doch ohne Weiteres zugegeben werden,
dass die dargereichte Quantität von Nährstoffen in der gegebenen Darreichungs-
form für kräftig arbeitende Mädchen im Alter von 15—18 Jahren vollauf ge¬
nügend ist. Wenn aber Prausnitz meint, dass es allerwärts möglich sein
müsste, für eine jugendliche Arbeiterin eine allen Anforderungen genügende Kost
für 60—70 Pf. herzustellen, so ist dagegen geltend zu machen, dass nur aus¬
nahmsweise eine Arbeiterin in dem angegebenen Alter von ihrem Arbeitsverdienst
so viel für ihre Verpflegung wird erübrigen können.
Der zweite Theil der Arbeit beschäftigt sich mit der „Menage“, aus
welcher etwa 800 Arbeiter der Krupp'sehen Werke beköstigt werden. Auch
hier ist die Verpflegung, dem bekannten humanen Sinn der Krupp'sehen
Fabrikleitung entsprechend, nicht nur ausreichend, sondern geradezu vorzüglich
za nennen, nicht nur, was die quantitative Zusammensetzung der Speisen be¬
trifft, sondern auch wegen der genügende Abwechselung gewährleistenden Aus¬
wahl derselben. Die Menage liefert in Mittag- und Abendessen 115 gr Eiweiss,
81 gr Fett und 480 gr Kohlenhydrate, dazu kommen noch 30 gr Butter, welche
die Menage liefert and nach Prausnitz’s Anschlag 400 gr Roggenbrod
(welches die Arbeiter selbst zu beschaffen haben) mit 24 gr Eiweiss, 2 gr. Fett
and 197 Kohlenhydrate, so dass in Summa die Kost eines Krapp'sehen Arbeiters
aas 139 gr Eiweiss, 113 gr Fett und 677 gr Kohlenhydraten besteht. Sehr be¬
herzige^'werth sind die Schlussbemerkungen, in denen Prausnitz entschieden
Front macht gegen die neuerdings gemachten Versuche, auf Grund vereinzelter
and nnr kurze Zeit durchgeführter Experimente eine geringere Eiweissmenge
als aasreichend für die Ernährung gesunder, ausgewachsener, kräftig arbeitender
Arbeiter hinstellen zu wollen. Auf das Allerentschiedenste warnt er davor, sich
in der so überaus wichtigen Frage der Massenernährung durch solche, Nichts
beweisende, mit den Experimenten der bekannten Hungerkünstler auf eine Stufe
za stellenden Versuche zum Schaden der arbeitenden Klasse beeinflussen za
lassen, statt sich bei Bestimmung des za gewährenden Kostsatzes nach guten
Vorbildern zu richten, welche sich nach langjähriger reichhaltiger Erfahrung nach
allen Richtungen hin bewährt haben.
Dr. Langcrhans -Hankensbüttel.
Die Entwickelnng der sanitätspolizeilichen Massnahmen in
Preassen gegen das Wochenbettfleber und ihre Wirksamkeit. Vom
Bezirksphysikus Dr. Nesemann in Breslau. Sonderabdruck aus der Viertel¬
jahrschrift für gerichtliche Medizin u. s. w. III. Folge 1892, VI. B. Heft 2.
Nach einem kurzen Ueberblick über die Entwickelung der Erkenntniss
des Kindbettfiebers und die zunächst ganz ungenügenden sanitätspolizeilichen
Massnahmen werden die meistens im Anschluss an ‘die Allgemeine Verfügung,
betreffend das Hebammenwesen vom 6. August 1883, erlassenen Polizeiverord-
nnngen in Bezug auf Datum und Wirkungskreis angegeben, aber deren
Wirksamkeit, auch in Verbindung mit §. 15 der Anweisung zur Verhütung des
Kindbettfiebers, im Allgemeinen für ungenügend erachtet. Als Grund hierfür
werden hauptsächlich augeführt, die Unzuverlässigkeit der Hebammen, bedingt
durch den geringen Bildungsgrad, die schlechte soziale Stellung und die meistens
überaus kümmerlichen Erwerbsverhältnisse, wobei unter anderen die von Löh¬
lein für Hessen mit Erfolg eingeführten 8 tägigen Wiederholungslehrgänge
empfohlen werden; ferner aber die Fassung der Polizeiverordnungen, wonach
auch bei Verpflichtung zur Anzeige verdächtiger Fälle eine gerichtliche Be¬
strafung erwiesenermassen Säumiger nicht immer erfolge, während in 8 Re¬
gierungsbezirken ohne diesbezügliche Polizeiverordnung eine gerichtliche Be¬
strafung der Hebammen auf Grund der Allgemeinen Verfügung allein überhaupt
nicht möglich seiu dürfte. Mit Rücksicht auf die so beliebte Umgehung der
Anzeigepflicht haben zwar einzelne Polizeiverordnungen eine strengere Fassung
gewählt, so Minden, (Aerzte auch diejenigen Fälle, in denen der Verdacht nicht
gänzlich ausgeschlossen ist), Stralsund (Hebammen, jeden Fall einer
22
Besprechungen.
fieberhaften Erkrankung), Münster (Hebammen wenn stundenlanges Fieber
über 38° C. besteht) und Hildesheim (Hebammen fieberhafte Erkrankungen,
in denen ein Arzt nicht zngezogen oder solange derselbe die Anzeige nicht aus¬
drücklich für überflüssig erklärt). Ich vermisse hier die Erwähnung der Polizei¬
verordnung für die fiheinprovinz vom 2. April 1891, (die Anführung einer
Polizeiverordnung für die Rheinprovinz vom 30. März 1891 S. 353 dürfte wohl
auf einem Irrthum beruhen) die in §. 3 besagt: „Im Falle kein Arzt zugezogeu
ist, hat die Hebamme, wenn bei einer Wöchnerin ein Fieber gleich sehr heftig
mit starkem Schüttelfrost auftrift und die Körperwärme bis auf 40° C. und
darüber steigt, oder wenn ausser dem Fieber noch andere Krankheitserschei¬
nungen, wie Schmerzen im Leibe, Empfindlichkeit gegen Druck, Störungen der
Wochenreinigung u. s. w. zugegen sind, von der Erkrankung sofort dem Kreis-
physikus mündlich oder schriftlich Anzeige zu machen.“
Verfasser will nun die Auzeigepflicht für die Aerzte auf diejenigen Fälle
beschränkt sehen, wo dieselben zur Zeit der Erkrankung der Wöchnerin nur
allein thätig sind und hofft dadurch in den Aerzten Verbündete für die Kontrole
der Hebammen zu erhalten. Für die Anzeigepflicht der Hebammen aber ver¬
langt er die Aufstellung bestimmter, nicht misszudeutender krankhafter Er¬
scheinungen, von denen er aber nur das Fieber besonders erwähnt und bespricht.
Nach Fritsch begründe zwar jede Temperatur von 38,5 die Isolirung der
Wöchnerin, für die Privatpraxis also die Aufhebung der Kommunikation
zwischen Hebamme und Wöchnerin, dagegen würde nach A h 1 f e 1 d die Anzeige
jeder fieberhaften Erkrankung die ganze Massregel illusorisch machen, da auf
dem Lande zwischen 30—50 °/„ der Wöchnerinnen dem Physikus gemeldet
würden; andererseits haben sich tür den Stadtkreis Stralsund diese Anzeigen
bewährt, für den Landkreis aber nur desswegen weniger gut, weil viele Heb¬
ammen keine Temperaturmessungen vorgenommen hätten.
Jedenfalls muss man dem Verlangen des Verfassers nach bestimmten
Kriterien beipflichten und würden sich für die Praxis solche in dem Fieber zu¬
mal in Verbindung mit anderen Erscheinungen wohl bewähren, wobei sehr gut
ein Unterschied gemacht werden kann zwischen dem Fieber, wo die Hebamme
allein und wo ein Arzt zugezogen ist. Bedauerlich ist, dass das „Neue Hebammen-
Lehrbuch“ keine bestimmte Normen aufgestellt hat. Wenn die Hebamme für
diese Anzeigen Formulare benutzen müsste, auf denen neben diesen Kriterien
auch andere wichtige Fragen zu beantworten wären, so würde sie gewiss zur
strengeren Beobachtung der Erscheinungen genöthigt sein, während die Kontrole
über rechtzeitige Anmeldung und die Ausscheidung überflüssiger Anzeigen sehr
erleichtert wäre. Eine Anzeigepflicht der Aerzte würde ich ungern vermissen,
im Gegentheil würde ich schon der Kontrole wegen die Ausfüllung ähnlicher
Formulare wünschen.
Schliesslich betont Verfasser noch die Nothwendigkeit der Kontrole der
Wirksamkeit, bestehend in den standesamtlichen Meldungen an die Physiker,
wie sie in einzelnen Kreisen bereits eingeführt sind und sich bewährt haben.
In Bezug auf meine in der vorstehenden Arbeit besprochene Statistik der
Todesfälle an Kindbetttieber von 1888 möchte ich noch hervorheben, dass die
Höhe der Prozentzahlcn welliger auf den Anzeigen der Aerzte und Hebammen im
Allgemeinen als auf den theilweise kontrolirten ärztlichen Todtenscheinen der
Stadtbezirke beruht. Dr. Blokusewski-Daun.
Besprechungen.
Dr. von Kerschensteiner, Kgl. Geheimer Rath, unter Mitwirkung von
Nepomuk Zwikh, Funktionär im Kgl. statistischen Büreau:
Generalbericht über die Sanitäts -Verwaltung im
Königreiche Bayern, das Jahr 1889 umfassend. Im
Aufträge des Kgl. bayerischen Staatsministeriums des Innern
nach amtlichen Quellen hergestellt. XXI. Band (Neue Folge,
Besprechungen.
23
X. Bd.). Mit 21 Tabellen, 6 Kartogrammen und 2 Diogrammen.
München, Verlag von Fr. Bass ermann, 1892. 4°, 196 Seiten.
Der Bericht enthält in seinem beschreibenden Theile Mittheilungen über
A) Sanitäts-Verwaltung in den Regierungsbezirken. B) Sanitäts-Verwaltung
in den Kreis-Irrenanstalten. C) Sanitäts - Verwaltung in den Zuchthäusern,
Gefangenanstalten und Arbeitshäusern, D) Ergebnisse der Geschäftsführung der
Medizinal - Komiteen an den Universitäten. — Wir entnehmen dem in vielfacher
Beziehung interessanten und lehrreichen Berichte, dessen Studium wir ange¬
legentlichst empfehlen können, nur folgendes allgemein Wissenswerthes: Was
die Bewegung der Bevölkerung im Jahre 1889 betrifft, welche nach der
neuesten Volkszählung nur in den Städten zugenommen hat, während die Land¬
bevölkerung sogar etwas zurückgegangen ist, so ist zu bemerken, dass sich einer¬
seits die Zahl der Lebendgeborenen ziemlich erheblich vermehrt, andererseits aber
jene der Sterbefälle bedeutend vermindert bat (-|- 2460 bezw. — 7944). Die
Zahl der Todtgeborenen betrug 6707 oder 3,26 der Gesammtzahl der Ge¬
borenen; der unehelich Geborenen 14,1 °/ 0 sämmtlicher Geborenen. Die letzte
Zahl steigt von Jahr zu Jahr. — Von 39515 Eheschliessungen sind im
Berichtsjahre 259 zwischen Blutsverwandten abgeschlossen worden. — Die Zahl
der Sterbefälle beträgt 2,66 auf je 100 Personen der Bevölkerung, sie ist
gegen die Vorjahre kleiner geworden. Der Prozentantheil der männlichen Ge¬
storbenen gegenüber den weiblichen überwiegt regelmässig im ersten Lebens¬
jahre, dann vom 4t.—60. Jahre; umgekehrt ist dieser Prozentantheil beim weib¬
lichen Geschlechte höher vom 2.—44)., dann vom 61. Lebensjahre aufwärts. —
Von den Todesursachen trifft der Haupttheil auf die lokalisirten Krank¬
heiten, ihnen erlagen von den zusammen auf 100000 Einwohner gestorbenen
2646 Personen, 1157 oder 43 °/ 0 ; dann folgen die Infektions- und allge¬
meinen Krankheiten. — Die Zahl der ärztlich Behandelten unter den
Gestorbenen nimmt langsam zu, aber die Steigerung beträgt seit 15 Jahren
nur 5°/ n . Es ergiebt sich bei dieser auf Grund der Todtenscheine hergestellten
Statistik, dass noch immer bei mehr als */„ der Gestorbenen ärztliche Hülfe nicht
nachgesucht war. Neben der lokalen Gleichgültigkeit wirkt die Aerztezahl
mit; denn in den Städten wurden 87°/ 0 , in den Landbezirken nur 50°/ 0
der Gestorbenen ärztlich behandelt (Verhältniss der Aerztezahl auf je 100000
Einwohner nach Stadt und Land = 78: 23). Mit der Zahl der Aorzte steigt
auch die Zahl der ärztlich Behandelten. — In Bezug auf die Kindersterb¬
lichkeit hat man konstatiren können, dass die Sterblichkeit im ersten Lebens¬
monate 15 mal höher ist als im 12. Lebensmonate. Von je 100 Lebendgeborenen
starben 27,7 im ersten Lebensjahre, von diesen letzteren 20,6 an angeborener
Lebensschwäche, Atrophie, Darmkatarrh und Brechdurchfall. Von den an den
aufgezählten Krankheiten gestorbenen Kindern waren nur 30 °/ 0 ärztlich behandelt
worden. — Im Ganzen wurden im Jahre 1889 Sei bst morde verübt: a) bei der
Zivilbevölkerung 708, b) beim Militär 29. Es kommen auf eine Million Ein¬
wohner 133 Selbstmorde, die relative Zahl derselben hat sich somit vermindert.
Dem männlichen Geschlechte gehörten 779, dem weiblichen 221 Selbstmörder an;
*/,— 2 /s aller Selbstmörder kommen auf die Altersgruppe von 41—60 Jahre. In
Bezug auf Geistesstörung oder Selbstmord in der Familie des Selbstmörders
blieben die Erhebungen in einem Drittel der Fälle erfolglos; auf je einen
konstatirten Fall von Selbstmord oder Irrsinn in der Familie des Selbstmörders
kommen 5 Fälle, in welchen dieses disponirende Moment nicht gegeben war.
Stets wird die Hälfte der Selbstmorde und mehr durch Erhängen ausgeführt, dann
folgen zu fast gleichen Zahlen ( l / 5 und darunter) das Ertränken oder Erschiessen;
3 °/ 0 treffen auf Schnitt und Stich, 2 °/ 0 auf Vergiftung. Als häufigster Grund wird
die Geisteskrankheit bezeichnet, sie umfasst 40 und mehr Prozent der Fälle, dann
folgen als veranlassende Motive: Lebensüberdruss, Kummer u. s. w. In 20°/ 0
der Fälle bleibt das Motiv unbekannt. — Todesfälle nach Verun¬
glückungen sind 1509 gemeldet, also 272 auf je 1 Million Einwohner (in der
Stadt 216, auf dem Lande 288). Nach dem Geschlecht treffen auf je 1 Million
Einwohner 121 tödtliche Unglücksfälle beim Weibe, dagegen 431 beim Manne;
der letztere ist durch seine Berufsverhältnisse einer Verunglückung mehr aus¬
gesetzt. Mehr als ein Drittel der Verunglückungen trifft immer auf das Er¬
trinken (im Jahre 1889: 533 Personen), dann folgt das Herabstürzen, das Ueber-
fahrenwerden; letzteres übrigens weit öfter durch Landfuhrwerk als durch
24
Besprechungen.
Eisenbahn. 42 Personen erlagen der Verunglückung durch Blitzschlag. Einen
grossen Tlieil der Ertrunkenen bilden in Folge mangelhafter Beaufsichtigung die
Kinder unter 5 Jahren.
Zur Aufstellung der Morbiditätsstatistik hatten sich auf Anregung
des Geheimrathes Dr. von Kerschenstei.ner eine Anzahl von ärztlichen
Vereinen, Bezirksärzten und praktischen Aerzten bereit erklärt, nach einem
besonderen Formulare Monatstabellen über die zu Kenntniss gelangten Fälle von
Infektionskrankheiten einznsenden, welche sodann im Medizinalreferat des Kgl.
Staatsministeriums des Innern zusammengestellt und in der „Münch, med.
Wochenschrift“ veröffentlicht wurden. Wenn auch vorerst das Ergebniss dieser
Statistik noch lückenhaft genannt werden muss, so betheiligten sich doch
schon von den 1950 Aerzten der Monarchie 922 daran; in den 6 grossen
Städten von 533. Aerzten 400. In dem Jahre 1889, also dem ersten Jahre
der Einführung der Morbiditätsstatistik, sind 77217 Erkrankungsfälle berich¬
tet. Mit den höchsten Morbiditätszahlen sind vertreten: Diphtherie und
Krupp 13932, Masern 12867, Pneumonia crouposa 12878, Brechdurchfall 9135,
akuter Gelenkrheumatismus 5849, Scharlach 5165, Keuchhusten 5153 Fälle.
— Bei den einzelnen Infektionskrankheiten wäre folgendes hervor¬
zuheben: a) Blattern: 243 Personen sind im Berichtsjahre in Bayern er¬
krankt, davon treffen 133 dieser Fälle, also mehr als die Hälfte, allein auf
den Regierungsbezirk Niederbayern. Mehr als 40 °/ 0 der ungeimpften Blattern¬
kranken erlagen der Krankheit, von den geimpften dagegen sind im Berichts¬
jahre nicht einmal 10 °/ 0 gestorben. Aerztlich behandelt wurden im Berichts¬
jahre 65,5°/ 0 der Gestorbenen, b) Scharlach: Im Winter 316, im Frühling
315 Sterbefälle, dagegen im Sommer und Herbst zusammen nur 459. Aerztlich
behandelt waren von den Gestorbenen 83 °/ 0 . Das Jahr 1889 mit 20 Scharlach-
Sterbefällen auf je 100000 Seelen war das günstigste der letzten 14 Jahre.
c) Masern: Von 922 Aerzten sind 12967 Erkrankungen gemeldet, und zwar
im Winter 5038, im Frühling 5116; im Sommer und Herbst zusammen 2813.
Während der letzten 14 Jahre war die grösste Masernsterblichkeit 5 Mal auf
den Winter, 8 Mal auf den Frühling und 1 &lal (1886) auf den Herbst gefallen.
d) Diphtherie: Gemeldet sind von den Aerzten: im Winter 4071, im Frühling
3419, im Sommer 2682, im Herbst 3760 Fälle. Gestorben sind im 1. Lebens¬
jahre: 412, im 2.—6. Jahre 3522, im 6.—10. Lebensjahre 1255, im 11.—20. = 207,
von 21 Jahren und darüber 44 Patienten. Aerztlich behandelt waren im Jahre
1889 : 83,9°/ 0 der Gestorbenen, e) Keuchhusten: Die grösste Sterblichkeit
fiel in den Frühling, wie in den letzten 13 Jahren ohne Ausnahme beobachtet
wurde ; mehr als */„ Keuchhusten - Sterbefälle fallen aut das Säuglingsalter.
Aerztlich behandelt wurden nur 42°/ 0 der Gestorbenen, f) Typhus: Seit
30 Jahren ist diese Krankheit von 105 auf 14 von je 100 000 Einwohnern zurück¬
gegangen; der stärkste Rückgang trifft auf den Regierungsbezirk Oberbayern,
in welchem die Typhus - Mortalität nur den 11. Theil von jener des Jahres
1871 beträgt. Im Berichtsjahre fallen die meisten Typhus-Sterbefälle in den
Sommer; ärztlich behandelt waren im Jahre 1889: 96,6°/ 0 der Gestorbenen. Von
den Aerzten sind als an Typhus behandelt 2138 Patienten gemeldet worden und
zwar im Winter 374, im Frühling 421, Sommer700, Herbst 643. g) Tuberku¬
lose: Im Jahre 1888 starben 18402, im Jahre 1889 nur 17479 Personen an
Tuberkulose. Das männliche Geschlecht ist der Tuberkulose mehr unterworfen als
das weibliche; es treffen im Durchschnitt der beiden letzten Jahre 353 männliche
und 298 weibliche Gestorbene auf je 100000 Einwohner des bezüglichen Ge¬
schlechts. Auf die gleiche Seelenzahl berechnet treffen in den Städten über
*/, Gestorbene mehr als auf dem Lande. Der absoluten Zahl nach ist abgesehen
von den beiden ersten Lebensjahren, vorzugsweise eiue Krankheit des mittleren
Alters. Von je 100 Sterbefällen treffen auf Tuberkulose im Alter von 21—30
Jahren: 56,7; von 31—40: 46,0, von 41—50: 34,1 Sterbefälle. Die Sterblichkeit
der beiden Geschlechter an Tuberkulose ist eine wesentlich verschiedene.
Gemeinsam ist bei den Geschlechtern nur der nach dem Abgänge der hereditären
Fälle eintretende starke Rückgang der Mortalität nach dem zweiten Lebens¬
jahre und das ebenso rapide Steigen der Sterblichkeit bei beginnender Geschlechts¬
reife. Die Mortalität ändert sich in der Periode von 21—30 Jahren in ganz
auffallender Weise. Während sich die Sterblichkeit beim männlichen Geschlechte
fast in gleich intensiver Weise bis in das Greisenalter steigert, erleidet jene des
weiblichen Geschlechtes eine Abschwächung der Intensität und zwischen dem
Besprechungen.
25
40.—60. Lebensjahre sogar einen erheblichen Rückgang und zwar im Gegensatz
zur allgemeinen Sterblichkeit, welche auch beim weiblichen Geschlechte bis in
das höchste Alter ununterbrochen steigt. Es darf vermuthet werden, dass dieser
Rückgang ausgelöst wird durch akute Lebensbedrohungen, die aus dem Berufe
der Kran als Mutter entspringen. — h) Kindbettfieber: 471 Todesfälle. Auf
je 10 000 Gebärende 23,2 an Kindbettfieber gestorbene Frauen. 730 Fälle sind von
den Aerzten als an Kindbettfieber behandelt gemeldet; die grösste Morbiditäts¬
und Mortalitäts-Zahl fällt in den Winter. i) Meningitis cerebro-spinalis
epidemica: 141 Todesfälle, k) An Milzbrand sind 8 Personen gestorben;
Trichinose: nur 2 Todesfälle, was als äusserst niedrige Sterbeziffer ange¬
sehen werden kann, da in Bayern die obligatorische Trichinenschau noch nicht
eingeführt ist (Ref.). —
Es würde der Rahmen eines Referates überschritten werden, wollte man
über die vielen interessanten Einzelheiten der nunmehr folgenden Abschnitte
berichten; wegen der Fülle des Materials soll daher auf das Original verwiesen
werden. Dr. Israel-Medenau (Ostpr.).
Dr. Axel Winckler, Badearzt in Steben. „Zur Beschränkung
der Mineralwasserfabrikation“. Vortrag, gehalten am
8. Oktober 1892 zu Kosen auf der I. Jahresversammlung des
Allg. Deutsch. Bäderverbandes. Nürnberg, 1892, Verlag der
Baln. Zeitung.
Verfasser wendet sich gegen Mineralwasserfabrikation im allgemeinen,
speziell gegen die Nachahmung natürlicher Quellen, die immer ungeschickt aus-
fallen müsse, da die Chemie nicht im Stande sei, wirklich genaue Analysen zu
liefern. — In der Verfügung vom 9. Febr. 1880 wie in der Verordnung vom
27. Jan. 1890 werde ein Unterschied zwischen künstlichen Mineral- und Phantasie¬
wässern gemacht. Die letzteren dürfen — als Arzneibereitungen — nur in den
Apotheken verkauft werden, die ersteren siud als gleichbedeutend mit natür¬
lichen Wässern keiner Beschränkung im Handelsverkehr unterworfen. Die
Phantasiewässer unterstehen einer Revision durch die Aufsichtsbehörden, auch
gäbe das Nahrungsmittel-Gesetz eine Handhabe, Unfug in der Mineralwasser¬
fabrikation zu steuern, da die meisten künstlichen Wässer mehr als Genuss-,
denn als Arzneimittel verwendet werden. Eine Kontrole der Nachahmungen
natürlicher Quellen fehle aber bisher und doch sei eine solche nach den Ausführungen
des Verfassers wünschcnswerth, eine Ansicht, der wir gerne beipflichten.
Kreisphysikus Dr. See mann-Northeim.
Dr. Dornblueth, prakt. Arzt in Kustuck: Die Gesundheitspflege
der Schuljugend. Für Eltern und Erzieher. Stuttgart,
Leipzig, Berlin, Wien 1892. Deutsche Verlags-Austalt.
Verfasser, dessen Feder wir schon manche hygienische Abhandlungen ver¬
danken, zeigt in dem Buche, dass es ausser einer Schulhygiene auch eine Schüler¬
hygiene giebt. Die erstere fällt den Aerzten, nur nicht in zu weitgehendem
Masse zu, letztere ist Aufgabe der Eltern. Die Hygiene des Kindes vor der
Schule, die häusliche Gesundheitspflege der Schulkinder je nach den einzelnen
Schulstufen in Bezug auf Ernährung, Körperpflege und Diätetik des Gehirns und
Geistes, der Pflege des Gemüths und Charakters sind die Kapitel über Schüler-
hygieue. — Die Schulhygiene findet in den Abhandlungen über Gesundlieits-
gemässe Einrichtung der Schulen, über Unterrichtsmittel, Lehrmethode, Schul¬
arbeit» *n gebührend Beachtung. Der Darstellung dieser so hochwichtigen Sache
ist die Anerkennung nicht zu versagen. Möge das Buch die ihm gebührende
Verbreitung finden, um die Schule von manchem Vorwurf in Bezug auf die Ge¬
fährdung der Gesundheit der Schulkinder zu entlasten und den Eltern und Er¬
ziehern ihre Aufgabe in der körperlichen Erziehung der Kinder klar zu machen.
Dr. Overkamp-Warendorf.
26
Tagesnachrichten.
Dr. Heidenhain, Kreiswundarzt: Erste Hülfe vor Ankunft des
Arztes und Desinfektion nach dem neuesten mini¬
steriellen Erlass vom 28. Juli 1892. Rath für Schule
und Haus. Köslin 1892. Verlag von C. G. Henders.
Es war ein glücklicher Gedanke, die Rathschläge für erste Hülfeleistung
mit der Aufzählung der Desinfektionmassregeln zu verbinden and beide dem
grossen Publikum in leicht fasslicher Darstellung in Plakatform zn bieten. Dem
recht ausführlich und durch mehrere Zeichnungen anschaulich gehaltenen Blatte
wünschen wir die grösstmögliche Verbreitung.
Dr. Israel-Medenau (Ostpr.).
Tagesnachrichten.
Aerztetag. In der am 11. Dezember v. J. stattgehabten Sitzung des
Geschäftsausschasses des Deutschen Aerztevereinsbundes ist beschlossen,
den nächsten Aerztetag Ende Juni oder Anfang Juli nächsten Jahres in Breslau
abzuhalten. Auf die Tagesordnung sind zunächst gesetzt: 1. Der ärztliche
Dienst in den Krankenhäusern und 2. die Anzeigepflicht der Aerzte bei an¬
steckenden Krankheiten.
Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege wird seine
diesjährige Jahresversammlung in der zweiten Hälfte der Pfingstwoche, vom
25.—27. Mai d. J. in Würzburg abhalten.
Den politischen Blättern zutolge wird dem Reichstage bald nach seinem
Wiederzusammentritt das Reichsseuchengesetz als Vorlage zugehen. Der
Gesetzentwurf ist im Reichsamt des Innern bereits vollständig ausgearbeitet und
soll vor seiner Einbringung beim Bundesrath nur noch eine Ueberprüfung nach
der verwaltungstcchnischen Seite unterzogen werden. Sehr zu bedauern ist, dass
der um das Zustandekommen dieses Gesetzes hochverdiente Direktor des Kaiser¬
lichen Gesundheitsamtes Dr. Köhler an einem Lungcnleiden schwer erkrankt
ist und in Folge dessen keinesfalls in der Lage sein wird, den Gesetzentwurf
vor dem Reichstage zu vertreten.
Zur Medizinalreform. Die Kreuzzoitung schreibt: „Das Wiederauf¬
tauchen der Cholera in Hamburg und andern Orten hat nicht nur die Aufsichts¬
behörden veranlasst, von Neuem die Anzeigepflicht einzuschärfen, sondern es
kommen auch die alten Klagen über die Unzulänglichkeit der Medizinalpolizei
zum Vorschein. Die bezüglichen Mängel sind auch schon an amtlicher Stelle
längst erkannt und ebenso ist man auf Abhülfe bedacht gewesen, namentlich seit
der neueren Berathungeu über das Seuchengesetz. Dem Vernehmen nach ist
nun in den jetzt fertiggestellten preussischen Etat eine Summe eingestellt, um
die Kreisphysiker selbstständiger zu stellen und sie von der Praxis, von welcher
sie bis jetzt in ihrer wirthscbaftlicken Existenz abhängig waren, unabhängig zu
machen. Bisher erhalten dieselben bekanntlich nur eine Remuneration von
900 M. jährlich. Auch abgesehen von dem nothwendigen Gehalte wird den
Kreisphysikem nach mehreren Richtungen hin eine grössere Selbstständigkeit
gewährt werden.“
Wenn sich die Kreuzzeitung in Bezug auf die letztere Mittheilung nur
nicht geirrt hat! Die Medizinalbeamten sind in ihren Hoffnungen schon so oft
getäuscht worden, dass sie jetzt schliesslich derartigen Nachrichten gegenüber
misstrauisch geworden sind. Um so mehr würden wir uns aber freuen, wenn
der in allernächster Zeit dem Abgeordnetenhause vorzulegende Etat die Mit¬
theilung der Kreuzzeitung bestätigen sollte.
Cholera. Leider ist die Cholera iu Hamburg und Altona wieder
aufgetaucht, wenn auch die Erkrankungställe bis jetzt nur noch vereinzelte
Tagesnachrichton.
27
geblieben sind. In Hamborg sind in der Woche vom 11.—17. Dezember 4 Per¬
sonen erkrankt und 1 gestorben, vom 17.—24. Dez. 11 erkrankt und 3 gestorben,
vom 15.—31. Dez. 17 erkrankt und 3 gestorben.
In Altona kamen in der letzten Dezemberwoche 5 neue Choleraerkran-
knngen vor mit 3 Todesfällen. Auch aus Wandsbeck wird ein Erkrankung»- und
Todesfall gemeldet. Wenn auch ein weiteres Umsichgreifen der Seuche zur
Zeit nicht zu erwarten steht, so vermehren diese neuen vereinzelten Erkran¬
kungen doch die Gefahr eines Wiederausbruchs der Cholera mit Eintritt der
wärmeren Jahreszeit. Dieser Befürchtung ist auch in dem jüngsten Ministerial-
Erlass vom 14. Dezember v. J.*) Ausdruck gegeben und in diesem von Neuen
auf die Wichtigkeit der rechtzeitigen Anzeige und der bakteriologischen Unter¬
suchung aller choleraverdächtiger Fälle hingewiesen worden.
In Budapest betrug die Zahl der Cholera - Erkrankungen in der Woche
vom 3.—9. Dezember 9, in derjenigen vom 10.—16. Dezember 7 und in der¬
jenigen vom 17.—23. Dezember 8 mit je 3 Todesfällen. In Galizien sind in
der Zeit vom 23.—27. Dezember 12 Erkrankungen mit 6 Todesfällen vor¬
gekommen.
In Russland soll die Seuche in den westlichen, der deutschen Grenze
zunächst gelegenen Gouvernements erfreulicher Weise eine weitere Abnahme
erfahren haben, desgleichen in den Gouvernements Kiew und Wolhynien, dagegen
eine Zunahme in Podolien.
Der von der russischen Regierung einberufene Cholera-Kongress
hat während der letzten Woche des Dezembers in Petersburg getagt und sich
am ersten Tage mit der Entstehung und Verbreitung der vorjährigen Epidemie
(Zahl der Erkrankten, Geheilten und Verstorbenen, der verseuchten Bezirke
u. s. w.) beschäftigt. An den folgenden Tagen sind dann die Massnahmen gegen
die Einschleppung, sowie für die Bekämpfung der Cholera nach erfolgtem
Ausbruch der Seuche besprochen worden.
Znr Apothekenfrage. Der Vorstand des Deutschen Apotheker-
Vereins ist mit Rücksicht auf die in jüngster Zeit erfolgte ausserordentlich
zahlreiche Konzessionirung neuer Apotheken und die dadurch in den Kreisen der
Apothekenbesitzer zu Tage getretene lebhafte Beunruhigung an massgebender
Stelle vorstellig geworden. In der von dem Herrn Minister dem Vorsitzenden
des Vereins am 29. v. M. gewährten Audienz nahm dieser nach der Apotheker¬
zeitung (Nr. 105, 1892) Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass durch diese ver¬
mehrte Konzessionirung von Apotheken eine schwere Schädigung des gegen¬
wärtigen Besitzstandes zn befürchten sei. Die Verordnungen über den Verkehr
mit Arzneimitteln und über die Abgabe starkwirkender Mittel hätten ohnehin
in einschneidender Weise auf die Rentabilität der Apotheken eingewirkt, und
werde mit der Errichtung neuer Apotheken in gleichem Umfange wie in jüngster
Zeit fortgefahren, so würde unausbleiblich eine grosse Zahl von Existenzen im
Apothekenberufe in Frage gestellt werden. Dem gegenüber betonte der Herr
Mmister, dass er keine Veranlassung zu den Beunruhigungen in Apotheker¬
kreisen sehen könne. Es liege ihm fern, die bewährte bisherige Verwaltungs¬
praxis zu verlassen, jedoch sehe er es als im wohlverstandenen Interesse des
Apothekerstandes selbst liegend an, wenn eine gerechte Vermehrung der Apo¬
theken im Verhältnisse zu der wachsenden Bevölkerung stattfinde. Das sei
gewiss das kleinere Uebel gegenüber den sonstigen Unzulänglichkeiten, die durch
ein Znrückhalten mit Neuanlagen, wo sie angebracht seien, entstehen müssen.
Jede Härte will der Herr Minister dagegen vermieden wissen und gestattete
dem Vorsitzenden ausdrücklich, diese seine Absicht den Fachgenossen gegenüber
zum Ausdruck zu bringen.
Im weiteren Laufe der Audienz kamen noch andere, die Apotheker lebhaft
beschäftigenden Fragen zur Erörterung und fand der Vorsitzende des Apotheker¬
vereins beim Herrn Minister ein bis in alle Einzelheiten tiefgehendes Verständ-
niss und entgegenkommendes Wohlwollen, andererseits aber auch die Bestätigung,
dass eine Regelung desApothekenwesens im Sinne der Personal¬
konzession in der Absicht liege.
*) Vergl. S. 2 der Beilage zur heutigen Nummer.
28
Tagesnachrichten.
In den Apothekerzeitungen wird ausserdem eine von dem Verein der
Königsberger Apothekenbesitzer am 11. v. M. an Se. Majestät den Kaiser ein¬
gereichte Petition behufs Regelung des Apothekenwesens im Deutschen Reiche
veröffentlicht und werden alle Apotheker zur nachträglichen Unterschrift auf¬
gefordert. Dass diese Eingabe in Bezug auf ihre Begründung, sowie in
Bezug auf die in ihr vorgebrachten Wünsche sehr glücklich abgefasst wäre, kann
nicht behauptet weiden. In Apothekerkreisen befürchtet man daher mit Recht,
dass das Vorgehen der Königsberger Apothekenbesitzer der Sache eher schaden
als nützen dürfte.
In der neuen Arzneitaxe für 1893 haben ausser verschiedenen Ver¬
änderungen der Taxansätze für einzelne Arzneimittel (bei 61 Arzneimitteln ist
eine Erhöhung, bei 119 eine Ermässigung der Preise eiugetreten) die allgemeinen
Bestimmungen über die Abrundung der Rezepte und die Arbeitspreise für die
Herstellung komprimirter Arzneiformen eine andere Fassung erfahren. Die
Aenderung behufs der Abrundung der Rezepte ist nur stilistischer Art; die Be¬
stimmung über Komprimiren mehrerer Substanzen zu einer Tablette hat dagegen
den Zusatz erhalten, dass für jedes Stück über 25 hinaus nur die Hälfte des
sonst üblichen Arbeitspreises (10 Pf. für das Stück) in Anrechnung gebracht
werden darf. Ausserdem ist eine Vorschrift über die Verwendung von Luxus-
gefässen aufgenommen und dürfen künftighin „weisse Gläser“, Gläser mit ein¬
geriebenen Stöpseln, Tropfgläser, gefärbte Gläser, sowie Holzkork - Stöpsel und
Kautschuk - Stöpsel nur zur Anwendung und Berechnung kommen, wenn sie aus¬
drücklich verlangt und verordnet worden sind, oder wo sie durch die Natur des
Arzneimittels nothwendig erfordert werden.
Ebenso wie früher wird am Schluss der Taxe für die Gefässe bestimmt,
dass, wenn reine leere Gläser oder Kruken mit dem Rezepte in die Apotheke
gesendet oder bei Wiederholungen zurückgegeben werden, nur die Hälfte der
sonst üblichen Preise in Anrechnung kommen darf. Diese Bestimmung bedingt
zweifellos eine ungerechtfertigte Benachtheiligung des Publikums in denjenigen
Fällen, wo theurere Gefässe (sechseckige, gefärbte, Tropfgläser u. s. w.) wieder
in die Apotheke zurückgebracht werden; denn der Apotheker ist nach der Taxe
berechtigt, sich auch bei diesen Gefässen die Hälfte des in der Taxe vorge¬
sehenen Preises zu berechnen, obwohl seine Arbeit doch keine audere ist, als
wenn billigere Gefässe zurückgebracht werden, und etwaige grössere Auslagen
hierbei nicht mehr in Betracht kommen. Diesen Uebelstand zu beseitigen, em¬
pfiehlt es sich, in dem Preise für die Gefässe nicht denjenigen für Kork, Tektur
und Signatur mit einzubegreifen, sondern beide von einander zu trennen. Werden
dann Gefässe bei Wiederholungen von Rezepten wieder zurückgegeben, so dürfte
für diese nichts in Anrechnung gebracht, sondern nur der in der Taxe vorge¬
sehene Preis für Tektur und Signatur mit oder ohne Kork berechnet werden.
Um übrigens eine dadurch entstehende neue Position in der Taxe zu vermeiden,
könnte auch der Preis für Tektur, Signatur u. s. w. sehr zweckmässig mit
dem Arbeitspreis für die Anfertigung der verschiedenen Arzneiformen verbunden
und dieser entsprechend erhöht werden.
Schwemmkanalisation in München. Der verstärkte bayerische Ober¬
medizinalausschuss hat sich in seiner Sitzung vom 30. November v. J. einstimmig
für die Einleitung der Fäkalien der Stadt München in die Isar ausgesprochen
und wird nunmehr auch die staatliche Genehmigung in allernächster Zeit mit
Sicherheit zu erwarten sein. Die Münchener mediz. Wochenschrift sagt mit
Recht, dass Herr Geh. Rath v. Pettenkofer mit stolzer Genugthuung
auf diesen Erfolg seiner unablässigen, nahezu ein Menschenalter hierdurch fort¬
gesetzten Bemühungen um das Zustandekommen jenes Werkes blicken könne; wir
wollen nur wünschen, dass sich die von ihm aufgestellte Theorie in Bezug auf
die Selbstreinigung der Flüsse demnächst auch in der Praxis bewährt.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.-u. Med.-Rath i. Minden i. W.
J. C. 0. Bruns, Bochdruckcrei, Minden.
6. Jahrg.
Zeitschrift
für
1893.
MEDIZINALBEAMTE
Herausgesreben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rathu.gerichtl.Stadtphvsikus inBerlin. R n g.- und Mcdi/.inalrath in Minden.
and
Dr. WILH. SANDER
Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer's mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verl Abhandlung und Rud. Motse
entgegen.
No. 2.
Erscheint aut 1 . mid 15. jeden Monats. \\ * r Ton or
Prols jährlich 10 Mark. H -IO. Januar.
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen
und der Schulkinder des Kreises Isenhagen.
Von Dr. Max. Langerhans, Kreisphysikus in Hankensbttttel.
Die Untersuchungen, deren Ergebnisse auf den nachfolgenden
Seiten zusammengestellt sind, wurden gelegentlich einer mehr¬
wöchentlichen Fusswanderung angestellt, welche ich in den Mo¬
naten August und September 1891 zu dem Zwecke unternahm,
mich über die hygienischen Verhältnisse meines Physikatsbezirkes
in eingehenderer Weise zu unterrichten, als es die Ausübung der
Privatpraxis und der Physikatsthätigkeit, wie sie in Preussen zur
Zeit leider noch eingerichtet ist, ermöglicht. Nun ist unter den
einfachen Verhältnissen eines rein ländlichen Kreises von gross¬
artigen und mannigfaltigen hygienischen Einrichtungen natürlich
nicht die Rede, die geologischen und hydrographischen Verhält¬
nisse des norddeutschen Flachlandes sind ebenfalls sehr einfache,
so dass von vornherein klar war, dass das Hauptaugenmerk auf
die Schulen zu richten sein würde. Hierbei aber war die Auf¬
gabe eine doppelte. Einmal mussten die Schulhäuser, deren
Lage und Bauart, die Schulzimmer, die Beleuchtungsverhältnisse,
Trinkwasser, Aborte und andere für die Gesundheit der Schul¬
kinder in Betracht kommende Einrichtungen den Gegenstand der
Untersuchung bilden. Zur Erleichterung der Arbeit hatte ich mir
Fragebogen drucken lassen, in welche ich dieJErgebnisse meiner
Untersuchungen, Messungen und Ermittelungen eintrug. Die Zu¬
sammenstellung der wichtigsten Ergebnisse in tabellarischer Form
bildet den ersten Theil meiner Arbeit. Es*ist~nichts Neues, was
ich biete; derartige Zusammenstellungen für einen grösseren oder
kleineren Bezirk sind bereits mehrfach veröffentlicht worden —
ich erinnere nur an den schönen, von mir vielfach benutzten Auf-
80
Dr. Langerhans.
satz von Gleitsmann (die ländlichen Volksschulen des Kreises
Zauch-Belzig in gesundheitlicher Beziehung), an die Arbeit von
Tischler (das ländliche Volksschulhaus vom Standpunkt der öffent¬
lichen Gesundheitspflege) und von Fizia (die Schulgesundheitspflege
im politischen Bezirk Teschen, Zeitschr. f. Schulgesundheitspflege,
IV., 8). Immerhin zeigen die Verhältnisse, wie ich sie schildern
werde, von den andererseits beschriebenen so vielfache und bedeu¬
tende Abweichungen, dass die Darstellung ein gewisses Interesse
beanspruchen dürfte.
Ungleich interessanter gestaltete sich die Untersuchung der
Schulkinder auf ihren gesundheitlichen Zustand. Freilich, wenn
man meine Untersuchungen Zusammenhalt mit deu gewaltigen
Zahlenreihen der bekannten dänischen und schwedischen Enquete
oder wenn man an die Hunderttausende von Schüleraugen denkt,
deren Untersuchung das Fundament abgiebt für die Bestrebungen
der Schulhygiene in ophthalmologisbher Beziehung, dann dürfte
meine Arbeit nur ziemlich dürftig aussehen; denn es sind im
Ganzen nur etwa 2500 Schulkinder, über deren Untersuchung ich
berichten kann. Es ist aber bisher eigentlich Nichts bekannt ge¬
worden von Untersuchungen der Schulkinder auf dem flachen Lande
in Norddeutschland, wie denn überhaupt Deutschland sich in dieser
wichtigen Angelegenheit von unseren nordischen Stammesgenossen
bei Weitem hat überflügeln lassen. Die überwiegende Mehrzahl
der Schüleruntersuchungen, auf welche man sehr weitgehende Schluss¬
folgerungen und praktische Forderungen hat aufbauen wollen, ist
an Schülern brzw. Schülerinnen höherer Lehranstalten vorgenommen
worden. Es ist dies ein Fehler! Freilich, die Thatsache dürfte
aus Hertel’s und Axel Key’s Untersuchungen unzweifelhaft her¬
vorgehen, dass ein erschreckend hoher Prozentsatz der Gymna¬
siasten und ähnlicher Schüler (Mittelschüler der nordischen En¬
queten) an allerhand chronischen Krankheitszuständen leidet und
ein Blick auf die engbrüstige, brillentragende und bleichwangige
Jugend in den Kollegiensälen unserer Hochschulen beweist, dass
auch bei uns Vieles im Argen liegt! Aber die Schlussfolgerung,
die man so gern hieraus zieht, dass an all’ diesem Unheil einzig
und allein die Schule Schuld sei, beruht doch im Wesentlichen auf
einem: „Post hoc — ergo propter hoc!“ und kann daher als be¬
rechtigt nicht ohne Weiteres zugegeben werden. Erst, wenn in
einwandfreier Weise an genügend grossem Material festgestellt
ist, in welcher Weise die körperliche Entwickelung derjenigen
Kinder und jungen Leute vor sich geht, bei denen ein schädigender
Einfluss der Schule in nennenswei ther Weise nicht statt findet,
wenn sich dann heraussteilen sollte, dass bei der letzteren Kate¬
gorie die Entwicklung kräftiger und ungestörter verläuft und dass
hier eine ähnliche Zahl von Kranken nicht vorkommt, erst dann
dürfte als bewiesen angesehen werden, dass thatsächlich die Schule
an der grossen Kränklichkeit die Hauptschuld trägt — auch d ann
noch mit der Einschränkung, soweit nicht Vererbung, verkehrte
häusliche Erziehung, Mangel an körperlicher Bewegung und- die
übrigen schädlichen Einflüsse städtischen Lebens mitwirken. Von
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 31
diesem Standpunkt ans halte ich es für geboten, den Schülerunter-
sucbungen eine breitere Basis zu verleihen und sie in ähnlicher
Weise, wie es die dänische Enquete - Kommission gethan, über
sämmtliche Bevölkerungsklassen auszudehnen. Erst der Vergleich
von ländlichen, kleinstädtischen und grossstädtischen Schulen, von
höheren und niederen Schulen, von geschlossenen Internaten und
freien Schulen wird einen bindenden Schluss zulassen aut den Ein¬
fluss, welchen all’ diese verschiedenen Verhältnisse auf die Ent¬
wicklung und den Gesundheitszustand der Schüler ausüben. Dies
der Grund, weshalb ich auch für Deutschland eine umfassende,
amtliche Enquöte für durchaus nothwendig halte. Bis dahin aber
ist die Herbeischaffung eines möglichst vielseitigen Materials ge¬
boten und dies veranlasst mich, auch meine Untersuchungen zu
veröffentlichen in vollem Bewusstsein derjenigen Mängel, welche
durch die Kleinheit des Materials bedingt sind.
Bevor ich aber auf die Schulverhältnisse eingehe, wird es
nothwendig sein, in kurzen Zügen Land und Leute zu skizziren.
Der Kreis Isenhagen gehört der Lüneburger Haide an; er besteht
im Wesentlichen aus einem unfruchtbaren, mit ausgedehnten For¬
sten, mit Hochmooren und namentlich mit Haide bedeckten, sehr
spärlich bevölkerten, flachen Höhenrücken. Nur in den Thäleim
der Flüsse, namentlich der Ise. welche von Norden nach Süden
fliessend, den Kreis in zwei gleiche Theile scheidet, und der Ohra,
welche längs der Nordgrenze des Kreises verläuft, ist ein zum
Theil sehr fruchtbarer Boden und eine verhältnissmässig dichte
Bevölkerung zu finden. Doch wohnen im Ganzen auf der 800 qkm
grossen Fläche nur 16000 Einwohner. Die einzige Nahrungsquelle
ist Ackerbau und Viehzucht; Industrie fehlt vollständig und auch
die wenigen Gewerbetreibenden, die in den grösseren Orten an¬
sässig sind, treiben ausnahmslos nebenbei Landwirtschaft. Gross¬
grundbesitz ist fast gar nicht vertreten, nur an drei Orten befindet
sich ein grösseres Gut mit einem kleinen Stamm in Tagelöhnerkathen
untergebrachter Arbeiter. Sonst aber dominirt hier vollständig
der mittlere Bauernstand, der sich durchweg in recht guten, wirt¬
schaftlichen Verhältnissen befindet, ja, zum grossen Theil reich
genannt werden kann; aber auch die kleineren Besitzer (Kossäten,
Brinksitzer, Anbauern oder Abbauern, je nach der Grösse ihres
Besitztums genanut), ein Stand, der übrigens in vielen Dörfern
gar nicht vertreten ist, erfreuen sich meistens eines recht guten
Durchschnittswohlstandes, so dass die Mehrzahl der Gemeinden
keine Ortsarmen aufzuweisen hat. Dem Wohlstände entsprechend
ist namentlich die Beköstigung sehr auskömmlich, ja fast allerwärts
überreichlich, namentlich zu reich an Fett und Eiweiss. Nicht
nur der Bauer hält für Familie und Gesinde drei tägliche Fleisch¬
mahlzeiten für unumgänglich nothwendig, sondern auch die kleineren
Besitzer und die Tagelöhner betreiben eine Verschwendung mit ani¬
malischen Lebensmitteln, welche dem Fremden zunächst in hohem
Grade überraschend ist! Es ist dies für die Schulhygiene insofem
von Bedeutung, als diejenigen Gesundheitsstörungen, welche sich
in Folge unzulänglicher Nahrungszufuhr ausbilden, hier nicht zu
32
Dr. Langerhans.
erwarten sind und auch thatsächlich nicht Vorkommen. Ferner ist
noch zu erwähnen, dass nicht nur die Leinewand für die Wäsche,
sondern auch die Wollstoffe, aus denen die übrigen Kleider gefer¬
tigt werden, Erzeugnisse eigenen Hausfleisses sind, da im Winter
in jedem Hause Spinnrad und Webstuhl, d. h. nur für den eigenen
Bedarf, im Gange sind. Der in Folge dessen reichliche Besitz
an guter, wenn auch derber Kleidung ist hygienisch natürlich sehr
förderlich und der regelmässige nnd häufige Wechsel der Wäsche,
der auch im kleinsten Tagelöhnerhause üblich ist, um so wichtiger,
als im Uebrigen die Reinlichkeit, wie wohl überall auf dem Lande,
Alles zu wünschen übrig lässt. Auch die Wohnungen sind viel¬
fach so unhygienisch, wie nur denkbar, wovon später.
Der Kreis hat nur Landgemeinden, denn auch das Städtchen
Wittingen (ca. 2000 Einwohner) hat Landgemeindeverfassung.
Ausser diesem erreichen nur der Marktflecken Brome und die Dörfer
Hankensbüttel und Knesebeck die Zahl von etwa 1000 Seelen, alle
anderen Gemeinden sind viel kleiner; die kleinsten Dörfer haben
nur etwa 40—50 Einwohner. Die Zahl der selbstständigen Ge¬
meinden, von denen einige allerdings nur winzige Kolonien, Forst¬
häuser u. drgl. sind, beträgt 76.
A. Die Schalen.
Die grosse Zahl der Gemeinden und die weiten Entfernungen
des ausgedehnten Kreises haben, um den Kindern übermässig lange
Schulwege zu ersparen, die Schaffung einer verhältnissmässig sehr
grossen Zahl von Schulstellen veranlasst; ja, man ist hierin offen¬
bar zu weit gegangen. Dass z. B. das Dorf Wunderbüttel mit
67 Einwohnern eine eigene Schule besitzt, welche augenblicklich von
7 Kindern besucht wird, ist um so überflüssiger, als dieser Ort
nach vier Richtungen hin nur 4 km von den nächsten Dörfern ent¬
fernt ist. Die Zahl der Schulorte beträgt 46, von denen die über¬
wiegende Mehrzahl, nämlich 35, einklassige Volksschulen besitzt.
An sechs Orten besteht die sog. „Halbtags-Schule“, d. h. der ein¬
zige Lehrer unterrichtet die Kinder in zwei vollständig getrennten
Abtheilungen nacheinander in demselben Klassenzimmer — eine
sehr geeignete Einrichtung, um den pädagogischen und hygienischen
Uebelständen der Klassenüberfüllung abzuhelfen. An drei Orten
bestehen drei Klassen mit nur zwei Klassenzimmern und 2 Lehrern,
welche den Unterricht in der dritten Klasse abwechselnd ertheilen.
Knesebeck besitzt eine dreiklassige Schule mit drei Lehrern und
Wittingen eine dreiklassige Volksschule mit zwei Lehrern und eine
gehobene Abtheilung, sog. Bürgerschule mit drei Klassen und drei
Lehrern, In sämmtlichen Klassen (zusammen 65) werden Knaben
und Mädchen gemeinschaftlich unterrichtet.
Die Schulgebäude.
Es sind 52 Schulgebäude vorhanden, sämmtlich mit nur je
einem Klassenzimmer, nur das Schulhaus der Stadt Wittingen,
ursprünglich als Rathhaus gebaut, enthält die 5 Klassenzimmer der
beiden dortigen Abtheilungen, Für ein Schulhaus ist ein Neubau,
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 33
der zwei Klassenzimmer enthalten soll, bereits in Angriff genom¬
men. Mehrere andere der ältesten Schulhäuser werden im künftigen
Sommer ebenfalls einem Neubau bezw. einem vollständigen Umbau
unterworfen werden.
Was nun die Bauart der älteren und ältesten Schul¬
häuser betrifft, so lehnt sich dieselbe eng an den bekannten
Typus des niedersächsischen Bauernhauses an, so dass das Schul¬
haus eigentlich nichts ist, als eine Diminutiv-Ausgabe des statt¬
lichen Gebäudes, welches der niedersächsische Bauer als gemein¬
same Behausung für Mensch und Vieh seit Jahrhunderten nach
demselben Plan errichtet und welches den niedersächsischen Dorf-
schaften ein so eigenartiges Gepräge verleiht. Das gewaltige,
weit herabreichende Strohdach, an den abgeschrägten Giebeln mit
den holzgeschnitzten Pferdeköpfen, dem Wahrzeichen des nieder¬
sächsischen Stammes geziert, bedeckt auch heute noch so manches
Lüneburger Schulhaus. An der Giebelwand, welche mit dem un¬
verwüstlichen Balkenwerk, mit Konsolen und Kehlbalken, mit den
gefälligen Mustern der Füllziegel und den geschnitzten, bunt¬
bemalten Spruchbändern sich gar stattlich repräsentirt, öffnet sich
in einer Art von Vorhalle das weite Scheunenthor, durch welches
man die „Diele“ betritt, den Ort, auf welchem der grösste Theil
des bäuerlichen Lebens mit Freud und Leid, mit Arbeit und Er¬
holung sich abspielt. Hier wird gedroschen, von hier wird das
Vieh gefüttert, dessen Häupter aus dem längs der Diele seitlich
verlaufenden Stall zwischen den Tragbalken hindurch frei auf die
Diele blicken. Hier spielen die Kinder, hier wird gekocht, denn
am Ende der Diele steht der Heerd, ein gewaltiger Steinkasten,
auf dem stets ein offenes Feuer flackert und von dem aus dichte
Bauchwolken an der schwarzgeräucherten Balkendecke entlang
ihren Weg über der Thüre oder durch sonstige Lücken hindurch
in’s Freie suchen und bei günstigem Wetter meistens auch finden
— denn die moderne Einrichtung eines Schornsteines hat in den
Bauplan des niedersächsischen Hauses alten Styles keine Aufnahme
gefunden. Vom Heerde aus wird auch der einzige Ofen geheizt,
der sich in dem riesigen Bau befindet. Im Schulhause sind es
ihrer zwei; denn hier öffnet sich beiderseits neben dem Heerd je
eine Thür, rechts in die Wohnstube des Lehrers, links in die
Schulstube, beides ein paar weite, aber niedrige Räume mit vielen
Fenstern, deren kleine, bleigefasste Scheiben nur wenig Licht
hereinlassen. Ueber die Sitzgelegenheiten, wie ich sie in solch
alten Hänsem noch vorfand, wie sie aber nun, Dank dem uner¬
müdlichen Drängen der Regierung, glücklich fast allerwärts ver¬
schwunden sind, ist Schweigen das Beste! Ein charakteristisches
Stück ist noch der Ofen, ein gewaltiger, auf gemauerten Füssen
stehender, mit durchbrochenem Kachelaufsatz versehener Kasten
aus zolldicken Gusseisenplatten, wie sie im 17. und 18. Jahrhun¬
dert in Goslar und Wernigerode gegossen wurden und welche mit
ihrem Bilderschmuck, dem springenden Sachsenross, oder Fürsten¬
hut und Namenszug irgend eines vergessenen Braunschweig-
Lünebnrgischen Herzogs oder auch einer frommen Darstel-
84
Dr. Langerhaus.
lung vom verlorenen Sohn oder dem Urtheil Salomonis noch heute in
unverwüstlicher Frische und Haltbarkeit in sehr vielen Lünebur¬
gischen Schulstuben zu finden sind — eine Heizvorrichtung, welche
den Fortschritten der modernen Technik gegenüber allerdings etwas
urvorweltlich erscheinen möchte, welche aber noch gar nicht das
Unpraktischste ist! In der Familienstube des Lehrers fällt eine
Art bretterne Wandschrankthür am meisten auf; sie fiilirt in die
„Butze“, ein Mittelding zwischen Alkoven und Wandschrank, wel¬
ches als Nachtlager für die ganze Familie dient! Nur für etwaige
erwachsene Töchter oder für die Magd findet sich wohl eine win¬
zige Kammer neben der Diele!
So beschaffen ist das alte Lüneburger Schulhaus, wie
ich noch eine ganze Reihe habe kennen lernen — interessante
Bauten, ganz gewiss! wahre Perlen in den Augen der Maler,
die, nach Motiven suchend, ab und an die Haide durchstreifen,
fesselnd für Jeden, der Sinn hat für ein eigenartiges, in sich
abgeschlossenes Volksthum — aber den Massstab des Hygie¬
nikers darf man an diese Bauten nicht anlegen! Es ist daher
anzuerkennen, dass die Schulaufsichtsbehörde in stetem Kampfe
gegen diese Art von Schulgebäuden liegt und nur an wenigen
Orten hat es die an diplomatischen Winkelzügen so reiche Bauern¬
schlauheit vermocht, ein paar Exemplare dieser vor weltlichen
Schulhäuser zu konserviren. Freilich, Umbauten haben sich auch
diese nach allen Richtungen hin gefallen lassen müssen. An einem
Orte haben die Bauern sogar einen ganz stattlichen kleinen Kirch-
thurm auf ihr ehrwürdiges, moosbewachsenes Strohdach, mitten
zwischen die Wodans-Rosse hineingepfianzt! Man hat Wände
ziehen und Fenster einbrechen müssen, man hat die Butze besei¬
tigt und die Küche abgebaut, — vergebliche Mühe; die hygienischen
Forderungen der Neuzeit und die Bauart des Lüneburgischen
Hauses sind schlechterdings unvereinbar! Und so haben denn die
Jahrzehnte lang fortgesetzten Bemühungen, beide miteinander in
Einklang zu bringen, die unerfreulichsten Bastardgebilde an das
Tageslicht befördert. Es ist keine Frage: die Regierung hat bis
vor Kurzem bei der Bewilligung der. Baupläne den Gemeinden ein
viel zu grosses Mass von Selbstständigkeit eingeräumt und die Ge¬
meinden haben es verstanden, mit dem konservativen Sinn, der
den Bauern allerwärts eigen ist, die alte, mit ihren Lebensge¬
wohnheiten nun einmal verwachsene Bauart durch ein Hinterthür-
chen wieder einzuführen.
Das ist der Grund, welcher diese historische Abschweifung
nothwendig machte; denn, abgesehen von den allerletzten Jahren,
stellen alle Neubauten von Schulen schliesslich nur Varia¬
tionen dar über das Grundthema des niedersächsischen Bauern¬
hauses. Durchweg ist nicht die Schulstube, sondern die Diele
als Mittelpunkt des Bauplanes gedacht — ganz entsprechend
der Bauernauffassung, dass die Landwirtschaft doch eigentlich
die Hauptsache für den Lehrer und dass es ein gauz unbilliges
Ansinnen der Regierung ist, dass der Lehrer nicht hierdurch, son¬
dern durch Baarzahlungen der Gemeinde seinen Lebersunterhalt
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc.
35
gewinnen soll! Nun bin ich zwar auch der Ansicht, dass der
Lehrer auf dem Lande Landwirtschaft betreiben soll, dass er auch
hierin durch Lehre und Beispiel fördernd auf die Gemeinde ein¬
wirken soll und dass aus diesem Grunde die für den Betrieb der
Landwirtschaft notwendigen Räume dem Schulhause nicht fehlen
dürfen. Aber ebenso, wie die Lehrtätigkeit die Hauptsache ist
und unter der landwirtschaftlichen Beschäftigung keinen Schaden
erleiden darf, so muss auch im Schulhause die Schulstube die Haupt¬
sache sein; ihre Lage muss bestimmend sein für die ganze Anlage
und sowohl die Wohnung des Lehrers, als auch vor Allem die
landwirtschaftlichen Nebenräume kommen erst in zweiter Linie
in Betracht. Hiergegen ist vielfach gesündigt worden und gerade
die gesundheitlichen Verhältnisse sind es, die am ersten zu kurz
kommen, wenn Schulstube und Lehrerwohnung nur als Anhäng¬
sel an die den ganzen Bauplan beherrschende Diele betrachtet
werden. In neuerer Zeit freilich wird bei Neubauten das gesundheit¬
liche Moment voraussichtlich die ihm gebührende Berücksichtigung
finden, da jeder Bauplan dem Regierungs- und Medizinalrath als Kor¬
referenten zur Beurteilung vorgelegt wird. Dementsprechend sind
die in den letzten Jahren errichteten Schulbauten, da der Lüneburger
Bauer, wenn er sich endlich zu einem Neubau entschlossen hat,
seiner Neigung für solide Gediegenheit entsprechend, mit den Geld¬
mitteln nicht zu kargen pflegt, geradezu mustergültig zu nennen.
Dagegen sind in älteren Gebäuden die Zustände stellenweise recht
arg. Der Geruch aus dem Kuhstall und ungezählte Fliegenschwärme,
ein mit Viehhaltung nothwendig verknüpftes Uebel, machen sich in
der Schulstube breit, ja, stellenweise ist die Wand der Schulstube
von dem unmittelbar daranstossenden Schweinestall aus durch¬
feuchtet und übelriechend! Dass derartige Verhältnisse einen über¬
aus günstigen Nährboden für alle möglichen Bakterien abgeben
müssen, ist von vornherein zweifellos. Schwierig ist nur die Frage,
wie diesen Uebelständen abzuhelfen ist, denn da die Vereinigung
von Mensch und Vieh unter einem Dache ein ortsüblicher, durch
Jahrhunderte lange Gewohnheit geheiligter Brauch ist, da die Leute
sich wohl dabei befinden, da der Gesundheitszustand der Bevöl¬
kerung durchweg gut, die Sterblichkeit sehr gering (in den Jahren
meiner Physikatsverwaltung durchschnittlich noch nicht einmal
20 pro Mille) ist, würden die Leute es als eine ganz ungeheuer¬
liche Bedrückung empfinden, wenn sie nun auf einmal alle ihre,
sonst noch baulich ganz guten Schulhäuser abschaffen sollten.
Uebrigens bin ich auch nicht der Ansicht, dass die Vereinigung
von Schulstube und Lehrerwohnungen mit Stallung und Scheunen
unter einem Dach prinzipiell durchaus zu verwerfen ist. Ich glaube
vielmehr, dass sich Einrichtungen treffen lassen und in einer Reihe
von Fällen auch thatsächlich getroffen sind, welche alle gesund¬
heitlichen Gefahren ausschliessen. Ein paar Skizzen mögen dies
erläutern:
Fig. 1 stellt ein im Jahre 1850 gebautes, also auch noch
relativ neues Schulhaus dar, welches sich indessen ziemlich streng
an die alte Bauweise anschliesst. Namentlich hat die Diele deu
36
Dr. Laugerlmus.
Eingang vom Giebel her und die Richtung der Diele fällt mit der
Längsaxe des Hauses zusammen. Solch Haus ist in keiner Weise
gesundbeitsgemäss herzustellen und hier ist Abbruch oder noch
besser Verkauf des baulich noch ganz gut im Stande befindlichen
Hauses und Neubau an anderer Stelle das richtige Auskunftsmittel,
welches übrigens von der Regierung als Schulaufsichtsbehörde
bereits angebahnt ist. Fig. 2 zeigt ein Schulhaus vom Jahre 1888,
welches ich übrigens sonst auch nicht gerade als Ideal eines Schul¬
hauses hinstellen möchte. Beide Pläne sind im gleichen Verhältniss
(1 : 200) gezeichnet und beide Schulhäuser sind für annähernd die
gleiche Kinderzahl bestimmt, so dass man die gewaltige Steigerung,
welche im Laufe von 30 Jahren die Ansprüche nicht nur an die
Lehrräume, sondern auch an Wohnung und Wirthschaftsräume
für den Lehrer erfahren haben, direkt entnehmen kann.
In Fig. 2 ist die Anordnung von Stall und Scheunen ganz
-^schickt getroffen. Man sieht, dass die Scheunendiele die Stal-
t)ie gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volk «schulen etc. 37
lungen von den Wohnräumen scheidet und diese Scheidung gestal¬
tet sich um so vollständiger dadurch, dass die Stallungen ebenso
wie die Wohnräume auf einem Vs m hohen Feldsteinfundament
liegen, während die Scheunendiele, um die Einfahrt der Erntewagen
zu ermöglichen, natürlich im Niveau der Strasse liegen muss. Eine
etwaige Jauche-Durchtränkung des Bodens unter den Viehställen,
welche bei richtiger Anlage der letzteren allerdings nicht Vorkom¬
men darf, würde durch den festen Lehmschlag, welcher den Fuss-
boden der Diele bildet, verhindert werden, sich dem Boden unter
den übrigen Theilen des Hauses mitzutheilen. Schliesslich zeigen
auch die Wände des Hauses eine vollständige Unterbrechung durch
die grossen OefFnungen für die beiden Scheunenthore (e und t)
so dass die beiden Abtheilungen des Hauses ausser dem Dach
kaum noch etwas gemein haben. Diese Einrichtung bietet vieler¬
lei Vorzüge, und ich kann nicht finden, dass man einen wirklichen
Fortschritt gemacht hat, wenn man bei den Neubauten der aller¬
letzten Zeit in engem Anschluss an die bekannten fünf Muster-
Entwürfe die landwirtschaftlichen Räume gänzlich aus dem Schul¬
hause verbannt hat; denn wenn man ein eigenes Gebäude für Stall
und Scheune errichtet, so findet dies naturgemäss seine Stelle dem
Schulgebäude gegenüber auf der anderen Seite eines Hofes, der
dann natürlich in seiner Mitte den Düngerhaufen enthält, gerade
unter den Fenstern der Lehrerwohnung oder gar der Schulstube,
ganz abgesehen davon, dass bei den gelingen Dimensionen, die
für den Wirthschaftshof des Lehrers erforderlich sind, der Brunnen
gar leicht mit dem Düngerhaufen, dem Komposthauten für die
Wiesendüngung, dem Küchenausfluss oder der Abortgrube in ge¬
fährliche Kollisionen geräth! Dagegen hat die in Fig. 2 wieder¬
gegebene Einrichtung den Vortheil, dass die Thüren der Viehställe
mit den davor lagernden Düngermassen, die nun doch einmal ein
nothwendiges Uebel bilden, an dem äussersten Ende des Bauplatzes
ihre Stätte finden, in der grössten überhaupt zu erreichenden Ent¬
fernung von Schulstube, Küche und Wohnräumen des Lehrers.
Man kann ja dasselbe erreichen, wenn man das Schulhaus und das
Stallgebäude nicht einander gegenüber, sondern nebeneinander stellt;
dann aber kann man ebensogut die Durchfahrt zwischen beiden
überdachen und durch ein paar Scheunenthore abschliessen, wo¬
durch nicht nur eine bessere Ausnutzung des Bodenraumes für
Lagerung der Feldfrüchte, sondern auch wesentlich billigeres Bauen
ermöglicht wird. Es ist daher durchaus nicht erforderlich, dass
man, lediglich einer gewissen Uniformirungslust zu Liebe, da, wo
die Anlage von Viehställen im Schulhause selbst dem Landesbrauch
entspricht, dies prinzipiell untersagen will, vorausgesetzt natürlich,
dass durch eine quer durch das Haus hindurchgehende Scheunen¬
diele eine vollständige Trennung der beiden Abtheilungen des
Hauses erreicht ist.
Was die Bauart der Stallungen betrifft, so ist mit grösster
Entschiedenheit eine vernünftigere Einrichtung anzustreben, als
sie jetzt meistens zu finden ist. Ausmauerung und Zementirung
des Fussbodens mit Gefälle nach einer ebenfalls zementirten Jauchen-
38 Dr. Langerhaus: Die gesundheitl. Verhältnisse der ländl. Volksschulen etc.
rinne, welche die flüssigen Entleerungen in eine genügend grosse,
ausgemauerte und zementirte, mit dichtem Deckel verschlossene
und mit feststehender Jauchepumpe versehene Grube leitet, welche
zweckmässig, wie in Fig. 2 gleichzeitig die Entleerungen aus Ab¬
ort und Pissoir aufnehmen kann, Zementverputz der Wände, we¬
nigstens in den Schweineställen in 1 m Höhe und Ventilation der
Stallungen durch Dunstrohre, das wären Forderungen, deren Durch¬
führung allerwärts, und zwar nicht nur bei Neubauten, mit uner¬
bittlicher Konsequenz verlangt werden müsste und auch kaum auf
unüberwindliche Schwierigkeiten stossen dürfte, da die Landleute
den Werth solcher Einrichtungen, wenn auch nur vom ökonomischen
Standpunkte aus einzusehen und dieselben vielfach einzuführen be¬
ginnen. Die Schule aber soll mit dergleichen nicht hinten nach¬
hinken, sondern sie hat auch hier die Pflicht, mit gutem Beispiele
voranzugehen. Die Sache ist von sehr grosser Wichtigkeit, denn
nur durch derartige Einrichtungen ist die Möglichkeit gegeben,
Reinlichkeit in und vor den Ställen zu schaffen und der gefähr¬
lichen Durchtränkung des Bodens mit zersetzlichen organischen
Substanzen ein Ende zu machen. Ganz besonders dringend ist
diese Aufgabe natürlich da, wo die niedersächsische Bauart der¬
massen eingebürgert ist, dass von den 52 Schulhäusern, welche
sich in den 46 Schulorten des Kreises finden, nicht weniger als
45 gleichzeitig Stall und Scheune unter ihrem Dache bergen. Nun
haben allerdings 14 Lehrer, und zwar meistens junge, vor dem
zweiten Examen stehende Leute keine eigene Viehhaltung. Von
diesen wohnen aber drei in Schulhäusern, welchen die Stallung fehlt;
in vier anderen Fällen sind Theile der Lehrerwohnuugen mit den
zugehörenden Stallungen an andere Leute vermiethet, ein Verhält-
ni8s, zu welchem übrigens wegen mannigfacher hygienischer Be¬
denken die Schulaufsichtsbehörde die Genehmigung verweigern
sollte. Es bleiben somit nur sieben Schulhäuser, in denen die vor¬
handenen Stallungen augenblicklich unbenutzt sind. Im Uebrigen
sind von den 45 Schulhäusern in drei Fällen die landwirtschaft¬
lichen Räume ganz zweckmässig in einer Art von Anbau unter¬
gebracht; in 16 Häusern ist durch eine quer durch das Haus ver¬
laufende Diele eine ziemlich vollständige Trennung der Stallungen
von den übrigen Räumen erreicht, bei 4 Häusern wäre eine der¬
artige Trennung wenigstens sehr leicht herzustellen. Eine Schule
(Wahrenholz 2), welche bis zur Vollendung des bereits in Angriff
genommenen Neubaues mietweise in dem allen hygienischen For¬
derungen hohnsprechenden Pfarrwittwenhause untergebracht ist,
kann hier, wie im Folgenden überall, ausser Ansatz bleiben. Es
bleiben dann immer noch 21 Schulhäuser, bei denen die Scheunen¬
diele in der Längsaxe des Gebäudes verläuft, so dass die Stal¬
lungen Wand an Wand mit bewohnten Räumen und auf gemein¬
schaftlichem Fundament errichtet sind. Hier kann natürlich die
beste Bauart der Stallungen die gröbsten hygienischen Missstände
nicht hintanhalten, hier wird man vielmehr zu radikaleren Mitteln
greifen müssen und entweder, wo die Grösse des Bauplatzes es
gestattet, ein eigenes Gebäude für Stall und Scheune errichten
oder aber, da es sich meistens um ältere, auch sonst den heutigen
Statistische (Übersicht über die Ertheilung • des Titels „Sanitätsrath“. 39
Ansprüchen nicht mehr genügende Häuser handelt, einen Neubau
in’s Auge fassen. Umbauten sind hier wenig zweckmässig,
da sie nach Allem, was ich davon gesehen habe, so eingreifend
sein müssen, dass die Baubeständigkeit der Häuser ernstlich ge¬
fährdet wird, ohne dass schliesslich wirklich gesunde Zustände
erreicht werden. (Fortsetzung folgt.)
Statistische Uebersicht Uber die Ertheilung des Titels
„Sanitätsrath“ in Preussen.
Von einem Kollegen sind der Redaktion nachstehende, auf
Grund des Hirschwald’schen Medizinalkalenders zusammenge¬
stellte Uebersichten zur Verfügung gestellt, die für sämmtliche
Kollegen von Interesse sein dürften. Sie zeigen, dass der Cha¬
rakter „Sanitätsrath“ nur ausnahmsweise Medizinalbeamten und
praktischen Aerzten vor Ablauf von 25 Jahren nach erfolgter Ap¬
probation verliehen wird, dass von den Medizinalbeamten aber
45,0 °/ 0 diese Auszeichnung besitzen gegenüber nur 5,5 °/ 0 der
praktischen Aerzte. Auffallend ist ferner der Unterschied in den
einzelnen Regierungsbezirken; so haben in den Regierungsbe¬
zirken Stralsund, Schleswig, Münster, Düsseldorf und Sigmaringen
noch nicht 4 °/ 0 aller ansässigen Aerzte den Charakter als Sanitäts¬
rath gegenüber 10,7 °/ 0 in Berlin, 10,32 °/„ im Reg.-Bez. Erfurt,
l,l°/ 0 im Reg.-Bez. Osnabrück und 12,32 °/ 0 im Reg-Bez. Lüneburg.
Aehnliche Unterschiede treten auch bei den Eieisphysikern zu
Tage und sind hier diejenigen der Reg.-Bez. Gumbinnen, Danzig
und Magdeburg entschieden am ungünstigsten, diejenigen in Berlin
und in den Reg.-Bez. Koblenz, Aachen und Oppeln am günstig¬
sten gestellt.
Uebersicht I.
Es sind vorhanden im:
Regierungsbezirk Ae J^ pt Über ‘
Davon haben den
Charakter
als Sanitätsrath
Von den Sanitätsräthen
sind nach 1870 approbirt
Königsberg
368
24
=
6,52 °/ 0
1
Gnmbinnen
138
6
=
4,35 „
• -
Danzig
187
14
=
7,49 „
--
Marienwerder
189
14
=
7,41 „
1
Berlin
1605
171
=
10,07 „
s
Potsdam
633
43
==
6,79 „
o
Frankfurt
311
19
=
6,11 n
—
Stettin
266
15
-—
5,64 „
—-
Köslin
177
11
—
6,21 „
—
Stralsund
94
3
=
3,19 „
—
Posen
272
22
=
8,09 „
2
Bromberg
150
10
—
6,67 „
Breslan
691
52
=
7,51 „
1
Liegnitz
353
25
=
7,08 „
—
Oppeln
326
31
=
9,50 „
1
Magdeburg
417
22
=
5,28 „
—
Merseburg
427
34
—
9,20 „
2
Erfurt
159
19
—~
10,32 „
—
Schleswig
546
18
=
3,30 „
—
Hannover
267
23
8,62 „
1
Hildesheim
240
17
=
7,08 „
1
40 Statistische Uebersicht über die Ertheilung des Titels
„Sauitätsrath
U
Ap rzt.e
Davon haben den Von den SaoitAtarftüieti
Regierungsbezirk
hanpt
JSSSSLk -* 1870
Lüneburg
138
17
=
12,32 „
—
Stade
111
6
=
5,41 „
—
Osnabrück
109
12
=
11,01 „
—
Aurich
122
8
=
6,55 „
—
Münster
218
7
=
3,21 „
9,63 „
—
Minden
187
18
=
—
Arnsberg
463
28
=
6,05 „
1
Kassel
355
19
=
5,35 „
1
Wiesbaden
585
50
=
8,55 „
2
Köln
470
39
=
8,30 „
—
Düsseldorf
737
29
=
3,94 „
2
Koblenz
263
24
=
9,13 „
—
Aachen
213
15
=
7,04 „
—
Trier
181
17
=
9,39 „
—
Sigmaringen
28
1
=
3,57 „
—
Zusammen: 11967
889
=
7,35 %
26
Uebersicht II. Kreisphysiker.
\
Es sind vorhanden im:
Kreis¬
Davon sind
Von diesen
Von den
Davon sind
Reg.-Bez.
physik.
Sa
Pro-
seisoren
sind approbirt
vor
Kreisphysi¬
kern sind
approbirt
vor
ange¬
stellt als
Kreis-
über¬
nitdts- oder
riithe
nalrStbe
15-20,20-26, 25
noch nicht
16-20,20-26,26
Physiker
haupt
Jahren
Sanitätsräthe
Jahren
vor 1880
Königsberg
21
8
1
—
2
6
12 = 57,1 o/o
2
3
i
i
Gumbinnen
16
2
—
—
—
2
14 = 87,5 „
3
3
6
4
Danzig
11
2
—
—
—
2
9 = 81,8 „
—
2
3
1
Marienwerder 15
8
—
1
—
7
7 = 46,6 „
4
— ■
—
1
Berlin
14
11
1
—
2
9
2 = 14,3 „
—
1
—
—
Potsdam
17
6
1
—
1
5
10 = 59,3 n
6
1
1
—
Frankfurt
19
8
—
—
—
8
11 = 58,0 „
4
3
2
4
Stettin
12
6
—
—
—
6
6 = 50,0 „
3
1
—
1
Köslin
11
6
—
—
—
6
5 = 45,4 „
2
—
1
—
Stralsund
4
—
1
—
—
—
3 = 75,0 „
2
—
1
—
Posen
26
10
1
—
1
9
15 = 57,7 „
4
— ■
—
—
Bromberg
13
3
—
—
—
8
10 = 77,0 „
3
—
1
1
Breslau
26
12
1
—
1
11
13 = 50,0 „
2
4 ■
—
—
Liegnitz
19
7
—
—
—
7
12 = 63,2 „
2
4
3
1
Oppeln
19
12
—
—
—
12
7 = 36,8 „
2
2
—
—
Magdeburg
15
2
1
—
—
2
12 = 80,0 „
6
1
4
7
Merseburg
17
6
—
—
1
5
11=64,7 „
3
3
2
?
Erfurt
9
4
—-
—
—
4
5 = 65,5 „
1
2
—
1
Schleswig
29
10
—
—
—
10
19 = 65,5 „
6
—
10
10
Hannover
12
4
1
—
—
4
7 = 56,3 „
3
2
1
1
Hildesheim
14
3
—
1
—
2
11 = 78,6 „
7
2
1
—
Lüneburg
13
6
—
—
—
6
7 = 53,8 „
2
2
—
—
Stade
14
4
—
—
=
4
10 = 71,4 „
5 = 50,0 „
4
3
1
2
Osnabrück
10
5
—
—
—
5
4
— •
—
—
Aurich
6
2
—
—
—
2
4 = 66,6 „
1
1 ■
—
—
Münster
10
4
—
—
—
4
6 = 60,0 „
8
1
1
1
Minden
10
6
—
—
—
6
4 = 40,0 „
1
2
1
1
Arnsberg
18
10
—
—
1
9
8 = 44,4 „
4
2
1
1
Kassel
23
11
—
—
—
11
12 = 52,2 „
3
—
5
2
Wiesbaden
17
9
1
—
1
8
7 = 41,3 „
5
—
1
2
Köln
12
6
1
1
—
5
5 = 41,7 „
2
2
1
1
Düsseldorf
17
10
—
—
—
10
7 = 41,3 „
1
1
8
—
Koblenz
13
10
—
—
1
9
3 = 23,1 „
—
1
—
—
Aachen
11
8
—
—
1
7
3 = 27,3 „
1
1
1
1
Trier
13
7
—
—
—
7
6 = 46,2 „
4
— ■
—
1
Sigmaringen
4
1
—
—
—
1
3 = 75,5 w
—
2
—
—
Zusammen:
530 229
10
3
12 214 291 = 55,0 # / 0
100
52
52
47
Aua Verasmmlungen und Vereinen.
41
Aus Versammlungen und Vereinen.
Bericht fiber die SS. Versammlung der Hed.< Beamten
des Beg.-Bea. Arnsberg.
Die Versammlung tagte am 5. November 1892 in Hagen unter dem Vor¬
sitz des Herrn Reg. - Med. - Rath Dr. Tenholt. Fast sämmtliche Medizinal-
Beamten des Bezirks batten sich zu derselben eingefunden; auch der Herr
Reg. - Präsident Winzer beehrte die Versammlung mit seiner Gegenwart.
Ansserdem nahm Theil: Herr Reg.-Med.-Rath Dr. H ö 1 k e r aus Münster. Die
Präsenzliste ergab ausser den Vorgenannten als anwesend: Die Kreisphysiker
Geh. San.-Rath Dr. Klostermann-Bochum, Geh. 8an.-Rath Dr. Hagemann-
Dortmund, San. - Rath Dr. Büren- Iserlohn, San.-Rath Dr. Gruchot - Hamm,
Dr. Bremme-Soest, San.-Rath Dr. Terfloth-Lüdenscheid, Dr. Schulte-
Hörde, Dr. Schulte-Lippstadt, San.-Rath Dr. L e m m e r - Schwelm, San.-Rath
Dr. Mo or8s-Hagen, San.-Rath Dr. Li mp er-Gelsenkirchen, Dr. Pies-Brilon.
Dr. Guder- Laasphe, Dr. Spanken -Meschede, Dr. Köper- Arnsberg, Dr.
Graeve-Hattingen, die Kreiswundftrzte Dr. B ang e- Marsberg, Dr. Rose-
Menden, Dr. Lenzmann -Camen, Dr. Red ek er -Bochum und die pro physicatu
geprüften praktischen Aerzte Dr. Grüttner-Gelsenkirchen, Dr. vom Hofe-
Altena, Dr. Schütz- Henrichshütte; ferner war von den eingeladenen Apotheken¬
revisoren der Apotheker Funke-Witten erschienen.
Zum ersten Gegenstände der Tagesordnung: „Die Phosphorvergiftnng
vom gerichtsärztlichen Standpunkte“ erhielt das Wort Herr Krei-physikus
Dr. Schulte-Hörde.
Der mit grossem Beifall aufgenommene Vortrag führte etwa Folgen¬
des ans:
Die Phosphorvergiftungen kommen in Folge von Selbstmord, Mord oder
Fahrlässigkeit vor. Der Phosphor ist leicht löslich in Alkohol, Aether und Oel,
daher ist der Gehalt der Speisen an letzterem unter Umständen wichtig; in
Wasser ist er dagegen fast gar nicht löslich, kann aber in demselben im feih-
vertheilten Zustande enthalten, zu Vergiftungen Veranlassung geben. Am
meisten zugänglich ist der Phosphor der Streichhölzchen, zu denen eine Phos¬
phorpaste benutzt wird; diese Pasten enthalten durchschnittlich 2 °/ 0 Phosphor,
doch verlieren sie mit der Zeit an ihrem Gehalte.
Der Gerichtsarzt hat bei Verdacht auf eine Phosphorvergiftnng auf die
Krankheitserscheinungen, den Leichenbefund und den chemischen Nachweis 2U
achten. Als Kranklieitssymptome kommen in Betracht: Durst, Aufstossen von im
Dunkeln leuchtenden Gasen, Schmerzen in der Speiseröhre und dem Magen,
Erbrechen, oft schwere Nervenzufälle: Konvulsionen, Bewusstlosigkeit u. a. Am
zweiten Tage nach der Vergiftung tritt fast stets Ikterus ein, Leberschwellung
ist meist nachweisbar.
Die Krankheitsdauer ist meistens kurz, der Tod tritt entweder plötzlich
oder nach Stunden, selbst nach dem 7. Tage ein. Der Befund nach dem Tode
eigiebt häufig Ikterus, nicht selten Blutaustritte unter die Haut; aus den Kör¬
peröffnungen entweichen wohl bläuliche Dämpfe. Der Magen zeigt in frischen
Fällen Phospborgeruch und Leuchten des Inhalts.
Die früher als konstante Befunde angenommenen Anätzungen des Magens
sind lediglich nach dem Tode entstandene Leichenerscheinungen. Orth be¬
hauptet mit Sicherheit, dass die Phosphorvergiftung keine korrosive Wirkung
habe. Vortragender hat selbst eine Reihe von Versuchen mit Phosphorrer-
giftungen bei Kaninchen angestellt, aber nie eine Aetzung der Magenschleimhaut
gefunden. Ein fast konstanter Befund ist jedoch eine parenchymatöse Ent¬
zündung der Magenwand mit trüber, von den Drüsen ausgehender Schwellung,
die sich anch im Dünndarm vorfindet. In der Leber die bekannten Verände¬
rungen, desgleichen in den Nieren.
Das Blut enthält Fetttröpfchen und ist meist dünnflüssig. Der chemische
Nachweis erfolgt durch die bekannten Proben und ist Sache des Chemikers. — r
Darauf sprach Herr Reg.-Med.-Räth Dr. Tenholt über: ffassregeis
zur Abwehr der Cholera. Der Vortrag beschränkte sich, wegen der bereits
vozgeschrittenen Zeit, auf eine Besprechung der wichtigsten, gegen die Ein¬
schleppung und Weiterverbreitung der Cholera ergangenen Buniaterial- und
Präsidial' - Erfasse mit Anknüpfung technisch-wissenschaftlicher Bemerkungen.
42
Ans Versammlungen und Vereinen,
Unter anderem wurde ein Bescheid des Herrn Ministers auf einen Bericht des
Herrn Reg.-Präsidenten zu Arnsberg, betreffend die Frage der Zulässigkeit der
in den Eisenbahnwagen befindlichen bisherigen Abtritte während des Herrschens
der Cholera erwähnt. Der bezügliche Erlass vom 3. September 1892 M. 8391
enthält den Bescheid, „dass die Frage, ob die in den einzelnen Wagen der
Personenztige befindlichen Aborte entweder ganz zu beseitigen oder derartig ein¬
zurichten sind, dass die etwaigen Stuhlgänge und der Urin in wasserdichte Be¬
hälter anstatt auf die Bahnkörper entleert werde, eingehender Erörterung unter¬
zogen, eine Abänderung des bisherigen Verfahrens jedoch nicht für erforderlich
und zweckmässig erachtet worden sei.“ Die Gründe, welche höheren Orts für
diese Ansicht massgebend gewesen sind, sind nicht mitgetheilt worden. Viel¬
leicht hat man die Möglichkeit, dass Fäces von cholerakranken Reisenden auf
die Bahnkörper gelangen, deshalb für minder wichtig gehalten, weil die Bahn¬
körper fast nur von den Eisenbahnbediensteten begangen werden und nur zu¬
fällig die Exkremente auf Bahnübergänge, Bahnhöfe, Eiseübahnbrttcken, bezw.
in den Fluss gelangen würden.
Ein anderer, vom Vortragenden erwähnter, vom 4. Oktober 1892 datirte
Erlass des Herrn Ministers des Innern und der Medizinal - Angelegenheiten
beseitigt etwaige Zweifel bezüglich der Zulässigkeit der Ein- oder Durchfuhr
von „Margarine“, indem hiernach letztere unter den Begriff „Butter“ nicht fällt
und daher dem Ein- und Durchfuhrverbote nicht unterworfen ist. Infolgedessen
mussten die seitens mehrerer Polizeibehörden getroffenen Anordnungen, nach
welchen die aus Hamburg eingeführte Kunstbutter zurückgewiesen worden war,
aufgehoben werden. Man war diesseits bis zu dem erwähnten Erlasse der An¬
sicht, dass die Margarine, weil bei der Herstellung derselben viel Wasser und
etwa 10 bis 15°/ 0 Milch verwendet wird und eine Abtödtung der etwaigen
Cholerakeime durch die Herstellung selbst nicht erfolgt, bezüglich der Gefahr
der Uebertragung der Krankheit wie natürliche Butter zu betrachten sei, zumal
auch die fertige Margarine nicht selten mit natürlicher Butter betrügerisch
vermengt wird.
Es scheint, dass Angesichts des weiteren Verlaufs der diesmaligen Cholera-
Epidemie an massgebender Stelle sieh die Ansicht, dass der Verkehr mit Waaren
betreffs der Weiterverbreitung der Seuche nur von sehr untergeordneter Be¬
deutung ist, mehr und mehr gefestigt hat. Und in der That, wenn man den
grossartigen Konsum von Hamburger Waaren im hiesigen Industriebezirk berück¬
sichtigt, der trotz der Beschränkung immer noch ein recht erheblicher geblieben
ist, so können die auf diesem Wege drohenden Choleragefahren nur geringfügige
sein, da wir keinen Cholerafall im Bezirk erlebt haben*
Redner geht hierauf auf die Frage näher ein, ob überhaupt den diesseits
getroffenen Massnahmen die Thatsache, dass wir vollständig von der Invasion
verschont geblieben sind, zu verdanken sein dürfte, oder ob nicht etwa der
Schluss: „post hoc ergo propter hoc“, wie so häufig, so hier falsch sein würde.
Seiner Ansicht nach würde es indessen noch viel gewagter sein, zu behaupten:
die Massnahmen haben nichts genützt. Er weist hierbei auf die zahlreichen
Dampfdesinfektions-Apparate hin, welche im Regierungsbezirk Arnsberg wohl
mehr als in anderen Bezirken vorhanden sind und die, wenigstens in den grösse¬
ren Städten: Dortmund, Bochum, Hagen, Gelsenkirchen, Hamm u. a. fast be¬
ständig mit der Desinfektion von Reisegepäck und sonstigen Effekten der aus
Hamburg kommenden Reisenden beschäftigt gewesen sind. In Freudenberg bei
Siegen wurde eine aus Hamburg anlangende grössere Sendung von Lumpen,
hauptsächlich wollenen Strümpfeu und Unterbeinkleidern, die daselbst und mög¬
licherweise noch zur Zeit der Hamburger Epidemie gesammelt waren, polizeilich
mit Beschlag belegt Da die Vernichtung der Waaren durch den Kostenpunkt
derselben — 3000 bis 4000 M. — verboten wurde und auch die Rücksendung
unstatthaft war, so wurde die Desinfektion mittelst Ausbrühen in grossen,
glücklicherweise in dem Fabrikorte Freudenberg vorhandenen Kesseln angeordnet
und durchgeführt. Mehrere aus Hamburg eingetroffene Flüchtlinge, einzelne
Personen sowohl, wie auch ganze Familien mit Sack und Pack, wurden recht¬
zeitig ermittelt und vorschriftsmässig desinfizirt.
Nachdem Redner diese und ähnliche Massnahmen nur beispielsweise an¬
geführt hat, beschäftigt sich derselbe noch mit der Aetiologie der während der
Hamburger Epidemie auch im diesseitigen Reg.-Bezirke auffallend häufig, nach
Ansicht der mitanwesenden übrigen Medizinalbeamten wirklich ausserordentlich
Kleinere Mittheilungen und Referate an» Zeitschriften.
43
zahlreich Torgekommenen Fällen von Cholera nostras. Eine nur scheinbare
Häufigkeit derselben, erklärbar etwa durch die Annahme, dass solche Fälle mehr
als sonst zur Kenntnissnahme der Medizinalbehörden gelangt sind, muss verneint
werden. Insbesondere aber giebt die Thatsache, dass mehrere Todesfälle bei
Erwachsenen infolge von Cholera nostras vorgekommen sind, zu denken Anlass,
ob nicht gewisse, so zu sagen verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den
Ursachen des Ausbruchs der Cholera asiatica und denen der Cholera nostras
bestehen. Redner steht durchaus auf dem Standpunkt, dass cs sich um zwei
verschiedene Krankheiten handelt, von welchen die eine auf der Infektion
mittelst des Kommabacillns, die andere weder auf letzterem noch anf einem
sonstigen bisher nachgewiesenen Erreger beruht. Seiner Ansicht nach ist die Cholera
nostras eine Infektionskrankheit, deren Erreger voraussichtlich noch gefunden
werden wird und dessen Gedeihen vielleicht durch dieselben zeitlichen Momente,
wie bei Cholera asiatica, begünstigt werde. Eine gewisse örtliche und zeitliche
Disposition zum Ausbruch der asiatischen Cholera müsse angenommen werden.
Redner erwähnt hierauf einen tödtlich verlaufenen Fall von Cholera nostras
bei einem etwa 85 jährigen Arbeiter in Bochum. Die von ihm in Gemeinschaft mit
dem Kreisphysikus vorgenommene Leichenöffnung bot zunächst ein dem Befunde
bei Cholera asiatica so ähnliches Bild, dass man zuvörderst an diese vorliegende
Krankheit denken musste. Abgesehen von der Cyanose, der runzeligen Haut,
wurde auch die „Fechterstellung“ der Arme nicht vermisst, und im Dünndarm
fand sich eine grosse Menge farbloser mit weissen Flocken untermischter Flüssig¬
keit. Der Verlauf der Krankheit war nur ein kurzer mit stürmischen Brech¬
durchfällen und reiswasserartigen Stühlen gewesen. Die bakteriologische, unter
allen erforderlichen Kautelen sofort in Angriff genommene Untersuchung des
Darminhalts und der gezüchteten Reinkulturen ergab indessen keine Komma¬
bazillen. Wenn schon aus diesem negativen Befunde angenommen wurde, dass
es sich höchstwahrscheinlich nur um Cholera nostras gehandelt habe, so wurde
die Annahme später noch durch den Umstand bestätigt, dass die Krankheit
nicht weiter um sich gegriffen hatte, obgleich dies für den Fall, dass Cholera
asiatica vorlag, gewiss geschehen wäre, weil die Häuslichkeit und die sonstigen
Einrichtungen in der Familie des Verstorbenen und der Mitbewohner des Hauses
zur Weiterverbreitung dieser Krankheit wohl angethan waren. —
Nach Schluss der an den Vortrag sich knüpfenden Debatten hielt ein
fröhliches Mal die Theilnehmer der Versammlung noch mehrere Stunden lang
zusammen.
Kleinere Mittheilunqen und Referate aus Zeitschriften.
A. Gerichtliche Medizin.
Un cas d’infanticide par Hngestion d’un potage contenant des
des fragments d’eponge. Le Propres medical; 1892, Nr. 48.
In -der Sitzung der Pariser Gesellschaft für gerichtliche Medizin vom
14. November 1892 wurde über einen von Cazeneuve in Marseille beobach¬
teten Fall von Kindesmord berichtet, der wohl ein Unikum darstellen möchte.
Die Leiche eines 5 Monate alten Kindes wurde 16 Monate nach der Beerdigung
aasgegraben, die Weichtheile bildeten nur noch eine unförmliche Masse, in der
man vergeblich nach Giften suchte. An Stelle der Bauchhöhle aber fanden sich
acht Stücke eines Schwammes, nnd Cazeneuve nahm an, dass sie die Todes¬
ursache gebildet hatten. Er erinnerte daran, dass in manchen Gegenden Hunde
und Katzen dadurch getödtet würden, dass man sie kleine mit Fett getränkte
Schwämme schlucken lässt, die dann aufquellen und eine tödtliche Darmver¬
schlingung herbeiführen können. Dem Kinde seien die Schwammstücke in Milch
oder Suppe beigebracht worden, und hätten seinen Tod auf die gleiche Weise
verursacht Der Angeschuldigte wurde verurtheilt.
Dr. Woltemas -Gelnhausen.
Ueber den Nachweis des Kohlenoxydgases im Blute. Von Prof.
Dr. Laudois. Deutsche mediz. Wochenschrift Nr. 44; 1892.
In der Sitzung des Greifswalder medizinischen Vereins hat Verfasser ein Ver¬
fahren zur Ausmittelung des CO - Gases im Blute demonstrirt, welches eine besonders
44
Kleiner« Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften.
deutliche Reaktion zeigt und dazu in der Ausführung sich sehr einfach gestaltet.
Man bereitet ans dem Kohlenoxydblut eine lackfarbene Lösung, indem man etwa
3 ccm Blut mit 100 ccm Aq. destill. vermischt; es können aber auch stärkere
oder schwächere Lösungen verwendet werden. Zur Kontrole dient eine gleich
starke Lösung von normalem Blote; beide Lösungen werden in ganz gleicher
Weise behandelt. Es werden einige Tropfen verdünnter Kalilauge hinzugefttgt,
hierauf wenige Tropfen einer wässerigen Pyrogallollösung, dann schüttelt man
e i n m a 1 um und setzt beide Gefässe, welche die Proben enthalten, vollständig
gefüllt und vor Luftzutritt verschlossen, hin. Die Probe des normalen Blutes wird
schnell, indem die Pyrogalluslösung den Sauerstoff an sich reisst, missfarbig • braut,
während die CO-Probe eine rothe Färbung beibehält. Will man die Probe mit
Blut machen, in welchem die Blutkörperchen unaufgelöst erhalten worden sind,
so mischt man die abgemessenen kleinen Blutproben anstat mit Aq. destill. mit
honzentrirter Natriumsulphatlösung. Zweckmässig ist es, beide Proben zu gleicher
Zeit vorzunehmen.
Das Verfahren wird denjenigen Herren Kollegen, denen ein Spektralapparat
nicht zur Verfügung steht, wegen der Möglichkeit einer einfachen und schnellen
Ausführung ein willkommenes Hilfsmittel sein.
Dr. Israel-Medenau.
Beiträge nur Kasuistik der traumatischen Trommelfellruptnren.
Von Dr. Veith. Münchener medizinische Abhandlungen, 32. Heft, VIII. Reihe.
München 1893. Verlag von J. F. Lehmann, 23 8.
Die traumatischen Trommelfellrupturen nehmen mit den vom Verfasser
ans dem Material der Münchener chirurgischen Poliklinik der letzten 5 Jahre
znsammengestellten Fällen einen relativ geringen Prozentsatz ein; sie machen
im Mittel etwa 0,65°/ 0 aller Ohrenerkrankungen aus. Die grösste Anzahl von
Rupturen fand eich bei Patienten im Alter von 15—30 Jahren; in den meisten
Fällen lag nur eine Oeflhung vor, in seltenen Fällen zwei und mehrere. Di«
Grösse schwankte zwischen Stecknadelkopf- nnd Hanfkorngrösse. Die Herab¬
setzung der Hörne,härfe schwankte in den verschiedenen Fällen zwischen 0,5 m
und 2,5 m Hörweite für Flüsterstimmen auf dem verletzten Ohre; ca. 10 */„ der
Fälle waren mit Labyrintherschtttterung kombinirt.
Für die Benrtheilung der forensischen Fälle der trauma¬
tischen Trommelfellruptnren ist zuerst die Frage zu beantworten, ob die
Lücke im Trommelfelle wirklich durch ein Trauma gesetzt wurde oder
nicht. Um dies festzustellen, ist es vor allen Dingen wichtig, dass der
Verletzte in den ersten 2—3 Tagen nach dem Trauma zur Untersuchung
kommt. Findet nämlich die gerichtsärztliche Untersuchung erst längere
Zeit nach der Verletzung statt, so ist man, da eine Vernarbung bereits einge¬
treten sein kann, nicht mehr im Stande zn sagen, ob eine Verletzung vorliegt.
Es heilen die traumatischen Perforationen vermöge der intensiven Regenerations¬
kraft des Trommelfellgewebes oft schon vollständig in 5—8 Tagen, während
die dnreh Suppuration enstandenen Oeffnungen längere Zeit zur Heilung brauchen,
und sich überhaupt nicht mehr schliessen, sobald einmal die Wundräuder über¬
bautet sind. Ein weiterer Unterschied ist folgender: Das Ausknitationsgeräusch
der beim Vasalva’schen Versuch bezw. beim Politzer’scben Verfahren durch
die Rupturöffnung strömende Luft ist bei Perforationen, die durch Erkrankungen
des Mittelobres entstehen, ein scharf zischendes, selbst bei grossen Substanzve»-
losten; dagegen hört man bei traumatischen Rupturen eines gesunden Ohres dt»
Loft mit einem breiten, tiefen and hauchenden Geräusche aus dem Ohre strömen.
Dabei ist zur Durchtreibnng der Luft durch die Tube ein viel geringerer Kraft¬
aufwand nöthig als bei Perforationen pathologischer Natnr.
Die Bedingungen, unter deneo die Perforationenzn Staad«
kommen, lassen sich in drei Gruppen bringen: 1) Verletzungen durch unmit¬
telbares Eindringen eines Gegenstandes in das Trommelfell (Strohhalme, Holz¬
splitter, Federhalter). Nach Untersuchungen an Lebenden und nach den vo»
Z a n f a 1 angestellten Leichenversuchen hat sich ergeben, dass in der Mehrzahl
der Fälle bei direkten Verletzungen der Sitz der Rupturen in der vorderen
Hälfte des Trommelfells zn finden ist. 2) Perforationen, welche durch Fort¬
pflanzung einer Fraktur der Schädelknochen auf das Trommelfell entstanden
sind oder dnreh starke Erschütterung desselben. 3) Perforationen durch plötz¬
liche Verdichtung der im äusseren Gehörgange befindlichen Loft.
Kleinere Mittheilungen and Referate ans Zeitschriften.
46
Von 43 vom Verfasser zusammengestellten F&llen sind 32, also ca. 75 0 /„
aller traumatischen Rupturen auf diese Weise verursacht. Unter diesen sind 27
d. i 58 °/ 0 in Folge von Schiftgen anf das Ohr, mit der Faust sowohl, als mit
der flachen Hand entstanden. Als Rarität seien noch die bei Erhängten beob¬
achteten Rupturen zu erwähnen, von denen es noch nicht feststeht, ob es eine
postmortale, durch Herabfallen der Leiche beim Abschneiden des Striches ver¬
ursachte Verletzung ist, oder ob es sich um eine indirekte Ursache (Luftver¬
dünnung in der Tube) handelt.
Bei der Aufnahme der Anamnese muss man betreffs der Aussagen von Zeugen,
der Patient sei bisher stets ohrengesund gewesen, sehr vorsichtig sein. Es kann
einerseits eine Uebertreibung des Klägers zwecks Erlangung einer höheren Ent¬
schädigungssumme etc. vorliegen, andererseits liegt die Erfahrung vor, dass sich
oft eine einseitige hochgradige Schwerhörigkeit nur durch einen Zufall zu er¬
kennen giebt und das betreffende Individuum bis dahin nicht nur von Anderen,
als beiderseits normalhörig betrachtet wurde, sondern sich selbst beiderseits für
ohrengesund gehalten hatte. Hat man einen Patienten vor, der zur Uebertrei¬
bung oder Simulation hinneigt, so muss man mit den einfachen und komplizirten
Prüfungsmethoden vielfach ab wechseln, um ihn zu entlarven. Bei Beurtheilung
der Frage, ob die Verletzung eine leichte oder schwere sei, wird man die letz¬
tere dann anzunehmen haben, wenn die Perforation mit einer Labyrintlierschüt-
terung kombinirt ist, die Knochenleitung also vermindert ist und wenn sich eine
Mittelohreiterung der Verletzung anschloss, weil hierbei eine stete Quelle der
Lebensgefahr vorliegt. In jedem Falle ist eine längere Beobachtungszeit des
Verletzten von mindestens 3 Monaten nothwendig. Ders.
B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Untersuchungen über den Typhus * Bacillus und den Bacillus coli
communis. Von Dr. Wm. Dunbar, Assistenten am hygienischen Institut zu
Oiessen. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten. XII. 4.
Die bei der überwiegenden Mehrzahl der bakteriologischen und epidemio¬
logischen Forscher vorherrschende Ueberzeugung, dass gerade durch das Trink¬
wasser besonders häufig ausgedehntere Typhusepidemien entstehen, sichert der
Untersuchung des Wassers auf die Anwesenheit von Typhus-Bakterien eine
ganz hervorragende Wichtigkeit unter den Aufgaben der praktischen Sanitäts¬
polizei zu. Doch ist bekanntlich diese Aufgabe nicht so leicht zu lösen, da das
Vorhandensein einer Anzahl „typhusähnlicher Bakterien" die bestimmte Identifi-
zirung des echten Typhus• Bacillus sehr schwierig, ja nach Ansicht einiger
Forscher unmöglich machen kann. Namentlich ist es ein Theil der französischen
Schule, welcher den Typhus-Bacillus für identisch mit dem gewöhnlichsten
Dannbewohner, dem Bacillus coli communis erklärt, welcher unter gewissen
Umständen pathogene Eigenschaften annehmen könne. Epidemiologische und,
wie wir sehen werden, bakteriologische Gründe werden dieser Ansicht in Deutsch¬
land zwar wenig Freunde verschaffen, trotzdem ist von den häufiger vor¬
kommenden und genauer studirten Bakterien das Bacterium coli commune aller¬
dings am meisten geeignet, zu Verwechselungen Veranlassung zu geben. Denn
es ist ein regelmässiger Bewohner des menschlichen Darmes, es gedeiht auch
besser in gewöhnlichem Wasser, als der empfindlichere Typhus-Bacillus und
man wird daher mit grösster Wahrscheinlichkeit da, wo man den Typhus-Bacillus
erwarten darf, auch den Bacillus coli communis antreffen.
Verfasser giebt nun in Tabellenform eine sehr vollständige und übersicht¬
liche, durch eigene Nachprüfungen ergänzte, bezw. berichtigte Zusammenstellung
der gesammten morphologischen und biologischen Kennzeichen beider Arten.
Weder die Beweglichkeit, noch das Wachsthum auf der Kartoffel lässt Verfasser
als charakteristische und unterscheidende Eigentümlichkeiten des Typhus-
Bacillus gelten; auch der Bacillus coli communis ist beweglich und ebenso, wie
der Typhus-Bacillus mit Geisselfäden dicht besetzt; auch er vermag unter Um¬
ständen das „unsichtbare Wachsthum" auf der Kartoffelscheibe zu zeigen,
während andererseits auch Typhus - Bazillen unter Umständen einen sichtbaren
Rasen bilden können. Die übrigen, oft angeführten Unterschiede, welche sich
im Aussehen der Platten-, Stich- und Strichkulturen auf gefärbten und unge¬
färbten Nährboden zeigen, sind nach Verfasser nur quantitativer Natur und
lassen daher für eine einzelne Kultur inmitten des Bakteriengemisches einer
46
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
stark besetzten Wasserplatte eine schnelle Entscheidung nicht mit Sicherheit zu.
Für beweisend hält Verfasser dagegen die Gasbildung in einfachem Fleisch¬
wasser und die Gerinnung sterilisirter Milch, zwei Erscheinungen, die nur dem
Bacillus coli communis zukommen, bei dem echten Typhus-Bacillus dagegen
regelmässig fehlen. —
Wenn Verfasser als die schwierigste Aufgabe bei der Untersuchung eines
typhus - verdächtigen Wassers die Unterscheidung des Typhus - Bacillus vom
Bacillus coli communis bezeichnet, so muss er aile diejenigen Methoden ver¬
werfen, welche das letztere Bakterium, welches sich auf der Platte vom
Typhus - Bacillus hauptsächlich durch schnelleres und freudigeres Wachsthum
unterscheidet, in seinem Wachsthum hemmen, da es dadurch dem Typhus-
Bacillus nur ähnlicher gemacht wird. Diesen Vorwurf glaubt Verfasser keiner
der von ihm im einzelnen beleuchteten Methoden ersparen zu können. Weder
die Uffelmann’sche Methode, noch die Verwendung der Kartoffelgelatine
nach Holz, noch endlich die Methoden von Parietti, Vincent, G'hante-
messe-Vidal und Thoinot linden demgemäss Gnade vor seinen Augen,
ja Verf. ist sehr geneigt, die verschiedenen positiven Funde, welche die betr.
Erfinder mit ihren Methoden erzielt haben, dahin zu deuten, dass sie, durch die
Mängel ihrer Methoden getäuscht, den Bacillus coli communis für den echten
Typhus - Bacillus gehalten haben! Es wird dieser negative Theil der Arbeit
vielleicht einige Einschränkung erfahren; auf jeden Fall ist der entschiedene
Hinweis auf die grosse Bedeutung der Milchgerinnung und der Gasbildung des
Bacillus coli communis im Gegensatz zum Typhus - Bacillus sehr beachtenswert!!.
Dr. Langerhans-Hankensbüttel.
Untersuchung der Marktmilch in Giessen. Von Dr. phil. U h 1. (Aus
dem hygienischen Institut der Universität Giessen.) Zeitschrift für Hygiene und
Infektionskrankheiten, XII. 4.
Auf Veranlassung von Prof. Dr. Gaffky vorgenommoue Untersuchungen,
welche ähnlich, wie Renk’s bahnbrechende Veröffentlichungen über die Ver¬
unreinigung der Marktmilch in Halle, bei der in Giessen zum Verkauf gelangen¬
den Milch in erster Linie den Schmutzgehalt feststellen sollen, daneben aber
auch den übrigen hygienischen Eigenschaften der Milch, der chemischen Zu¬
sammensetzung, dem Grade der eingelciteten Säurebildung und dem Bakterien¬
gehalt die eingehendste Berücksichtigung schenken. Der Gehalt an Schmutz —
der mikroskopischen Untersuchung gemäss ausschliesslich aus Kuhkoth, Haut-
.schuppen und Härchen bestehend — schwankte innerhalb sehr weiter Grenzen,
zwischen 3,8 mg bis zu 42,4 mg Trockensubstanz im Liter Milch, was einem
Gehalt von 19, bezw. 212 mg frischen Kuhkoth entsprechen würde! Das Mittel
der Verunreinigung, aus 29 Proben berechnet, betrug 19,7 mg Trockensubstanz
oder 98,5 mg frischen Kuhkoth im Liter! Da nach derselben Methode in Würz¬
burg nur 2,02 mg, in Leipzig 2,8 mg, in München 9 mg, in Berlin 10,3 mg,
in Halle 14,92 mg Trockensubstanz von Schmutz im Liter gefunden wurden,
steht Giessen mit beinahe 20 mg in der Reihe bis jetzt obenan; doch ist wohl
kaum zu bezweifeln, dass ähnliche Untersuchungen an vielen anderen Orten
dieselben Verunreinigungen aufweisen würden; denn die Unsauberkeit des Milch¬
viehs, der melkenden Personen und der zum Melken benutzten Geräthschafteu
ist häufig unglaublich gross!
Die übrigen Ergebnisse der Uhl’ sehen Arbeit sind von untergeordneterem
Interesse. Erwähnung mag das häufige Vorkommen des Bacterium coli commune
finden. Ders.
Ueber die Giftigkeit des von Menschen inhalirten Schwefelwasser¬
stoffs mit besonderer Rücksicht auf die Fabrikhygiene. Von A.
Kwilecki. Inaugural - Dissertation. Würzburg 1890; 35 Seiten und 1 Tafel.
Verfasser hat durch eine Reihe von Versuchen, die unter der Leitung
von Prof. Lehmann im Würzburger hygienischen Institute an Menschen ange¬
stellt werden, den zulässigen prozentischen Gehalt der Luft an Schwefelwasser¬
stoff in bewohnten Räumen angestelit. Bei den zum ersten Male mit Menschen
angestellten Versuchen wurden folgende wichtige Grenzwerthe für die Möglich¬
keit des Aufenthaltes von Arbeitern in Räumen, deren Luft durch Schwefel¬
wasserstoff verunreinigt wird, aufgestellt: Die Arbeit ist stundenlang möglich
Kleinere Mittheilungen rund Referate ans Zeitschriften. 47
bei einem (Jehalt von 0,1—0,145°/ 0 an Schwefelwasserstoff; die Arbeit ist noch
kurze Zeit möglich, Aufenthalt aber lästig bei 0,145—0,3%; die Arbeit endlich
ist unmöglich und der Aufenthalt beginnt gefährlich zu werden bei 0,575 %.
Dr. Israel-Medenau.
Eine Epidemie von hysterischen Krämpfen in einer Dorfschule.
Von Prof. Dr. L. Hirt in Breslau. Berliner Klinische Wochenschrift 1S92,
Nr. 50.
In einem in der schlesischen Gesellschaft ftlr vaterländ. Kultur zu Breslau
gehaltenen Vortrage berichtet Hirt über eine interessante Schulepidemie, zu
der als Analoga aus der neuesten Literatur nur eine einzige Schulepidemie im
Juli-Augustheft 1891 der Zentralblätter für Nervenheilkunde und Psychiatrie
angeführt werden kann, welche Palmer in Bieberach beobachtete, wo 13 Mäd¬
chen an Kopfweh und darauf folgendem tiefen Schlaf erkrankten, der von schleu¬
dernden Bewegungen des ganzen Körpers, Halluzinationen und Delirien unter¬
brochen wurde und wobei es sich zweifellos um Hystero- Epilepsie handelte.
Ende September 1892 wurden im Verlauf von 3—4 aufeinander folgenden
Tagen Prof. Hirt durch Dr. Lindner in Gross-Tinz bei Liegnitz 3 je zwölf¬
jährige Mädchen zugeschickt, bei denen ungefähr folgendes Krankheitsbild be¬
stand: Die Kinder vermochten, wenn man sie autrichtete, nicht zu stehen,
sondern knickten in den Beinen zusammen und waren nicht dazu zu bringen,
einen Scliritt vorwärts zu tbun oder überhaupt zu laufen, so dass sie getragen
werden mussten. Dabei war die Sensibilität am ganzen Körper, auch an den
Unterextremitäten völlig normal, die Patellarreflexe Hessen nicht das mindeste
Abnorme erkennen. Störungen von Seiten der Blase und des Mastdarms waren
nicht vorhanden. Kurz nach Beendigung der Untersuchung durchlief ein kon¬
vulsivisches Zucken den ganzen Körper, die Muskeln wurden erst steif, dann
brettartig hart, die Respiration wurde beschleunigt und unregelmässig, es ent¬
wickelten sirh, indem Schaum vor den Mund trat, klonische und tonische
Krämpfe bei völligem Verluste des Bewusstseins. Die Kinder wurden
auf dem Sopha auf- und niedergeschleudert, der Körper krümmte sich bogen¬
förmig und deutlich traten Halluzinationen ängstlichen und schmerzhaften In¬
haltes auf. (Ein Mädchen fürchtete sich in der Halluzinationsperiode beson¬
ders vor Hunden, so dass sie während der Anfälle wiederholt 2—3 Minuten lang
wie ein Hund bellte und winselte.) Die einzelnen Anfälle dauerten zwischen
*/. Stunde und 2—3 Stunden, dann brach allgemeiner Schweiss aus und die
Kinder fielen in Schlaf. Diese Anfälle hatten seit August bei den Kindern etwa
bestanden und waren 2—3 Mal täglich aufgetreten.
Die Mittheilungen der Angehörigen, dass in der Tinzer Schule noch eine
Menge analoger Erkrankungen vorgekommen wären, veranlassten Hirt, den Ort
aufzusuchen und im Verein mit dem behandelnden Arzte und dem seit 26 Jahren
an derselben Schule wirkenden Lehrer gelang es ihm, Folgendes festzustellen:
Die erste Erkrankung innerhalb der Schule erfolgte am 28. Juni a. c.,
woselbst ein lOjähriges Mädchen ohne jede nachweisbare Veranlassung zunächst
mit der rechten Hand, dann allmählich mit der ganzen Körpermuskulatur zu
zittern anfing, ein Zustand, der etwa % Stunde anhielt und ohne alle weiteren
Folgen vorüberging. Am nächsten Tage trat das Zittern schon bei mehreren
Mädchen in der Schule auf, welche einige Bänke von einander getrennt sassen.
Die Zitterattacken kamen nun regelmässig täglich wieder und dauerten immer
länger, so dass der Schulunterricht, da die befallenen Mädchen nicht schreiben
konnten, zu leiden begann. In den ersten Tagen des Juli wurde eines der
zitternden Mädchen von Krämpfen befallen und stürzte unter die
Bank; obwohl dieses Kind, welches während der Krämpfe das Bewusstsein nicht
verlor, sofort aus der Klasse entfernt wurde, traten doch bald mehrere neue
Krampfanfälle an bis dahin gesunden Mädchen auf und am 19. Juli betrug die
Zahl der Erkrankten zwanzig. In der Zeit vom 14. bis 20. Juli traten fast auf
jeder Bank Krampfanfälle auf, die Konvulsionen ergriffen die ganze Körpermus¬
kulatur, die Mädchen stürzten unter die Bänke und mussten von den in der
Klasse mitbefindiichen Knaben hinaustransportirt werden, wo dann die Anfälle
nach verschiedener langer, ca. %—1 Stunde variirender Dauer allmählich ver¬
schwanden. Von den 20 erkrankten Mädchen verloren 8 während der Krämpfe
das Bewusstsein und wussten nach dem Erwachen nichts mehr von dem Gesche-
4S
Besprechungen.
henen. Der Eintritt der Sommerferien am 27. Juli machte der Sache, nachdem
38 Mädchen bereits am 20. Juli vom Unterricht disponsirt waren, ein vorläufiges
Ende. Nach Wiederbeginn der Schulstunden am 19. August, war bei den Kin¬
dern von Zittern keine Rede mehr, dagegen klagten mehrere Kinder Über hef¬
tige Kopfschmerzen, welche so stark waren, dass man die Mädchen, es waren
wiederum nur weibliche Patienten, nach Hause schicken musste. Während der
Herbstferien schwanden auch die Kopfschmerzen und bei Wiederbeginn des
Unterrichts am 20. Oktober konnte die Epidemie als beendet betrachtet werden.
Was die Natur der Krankheit anbelangt, so ist Hirt der festen
Ueberzeugung, dass es sich um hysterische Zustände handelt. Der Um¬
stand, dass von 32 Knaben, welche neben den Mädchen sassen, kein einziger
erkrankte, bringt die Vermuthung nahe, dass unter gewissen Verhältnissen die
Prädisposition des weiblichen Geschlechts für die Hysterie er¬
heblich grösser zu sein scheint, als die des männlichen. Will man
die Art, wie die „Ansteckung“ oder die Weiterverbreitung der Krankheit
unter den Kindern vor sich ging, erklären, so muss man auf das „Sehen“
zurttckgreifen und dem Ansehen des Vorganges, wie dem Triebe znr Nach¬
ahmung, eine Hauptrolle zuschreiben. Den Schullokalitäten war in der Aetio-
logie umsoweniger etwas nachzusagen, als dieselben als vorzüglich geschildert
werden.
Hinsichtlich der Behandlung der Krankheit ist zu erwähnen, dass mit
des Darreichung von Brom eine Art psychische Therapie verbunden wurde, welche
darin bestand, dass man den Kindern ernsthaft und eindringlich versicherte,
dass nach dem Gebrauche der Pulver ein Anfall oder überhaupt ein Unwohlsein
nicht mehr eintreten könne. Bei zwei Kindern, welche im Anschluss an die
in der Schule acquirirten Krämpfe an Hystero - Epilepsie als Schreckneurose er¬
krankten, erwies sich die Suggestionstherapie mit einem mässigen Grade von
hypnotischer Beeinflussung von ausgezeichneter Wirkung.
Dr. Dütschke-Aurich.
Bewegung der Bevölkerung des Deutschen Reiches im Jahre
1891. Nach der im Kaiserl. statistischen Amt zusammengestellten Nachweisung
über die Bewegung der Bevölkerung im Jahre 1891 haben im Deutschen Reich
stattgefunden:
im Jahre
1891
Eheschliessungen .... 399 399
Geburten \ einschliesslich 1903160
Sterbefälle / Todtgeburten 1 227 409
Mehr Geburten als
Sterbefälle . . . 675 751
im Durchschnitt
auf 1000 der
von
Bevölkerung
1882/91
1891
1882/91
373 840
8,03
7,86
1814226
38,24
38,16
1247918
24,66
26,55
566309
13,58
11,91
Die Zahl der Eheschliessungen war demzufolge im vergangenen Jahre
absolut wie relativ grösser, die der Sterbefälle dagegen kleiner als im Durch¬
schnitt der zehnjährigen Periode 1882 bis 1891 und der Geburten - Ueberschuss
erreichte eine vergleichsweise sehr bedeutende Höhe.
Unter den Geborenen waren:
im Jahre im Durchschnitt
1891 von 1882/91
Unehelich Geborene . . 172456 168898
Todtgeborene .... 62 988 66 499
Prozent der Geborenen
1891 1882/91
9,06 9.31
3,31 3,66
Besprechungen.
Dr. med. R. Ostertag, Professor an der thierärztlichen Hochschule
in Berlin: Handbuch der Fleischbeschau für Thierärzte,
Aerzte und Richter. Mit 108 in den Text gedruckten Abbildungen.
Stuttgart, 1892. Verlag von Ferdinand En ke. Gr. 8°, 560 S.
Besprechungen.
49
Das vorstehende Handbuch bringt in seinem ersten Haupttheil allgemeine
Erörterungen über das Wesen und die Aufgaben des Fleischschau, die reichs¬
gesetzlichen Grundlagen für die Regelung des Fleischverkehrs, die Schlachtmethode
und den Gang des gewerbsmässigen Schlachtens, wie die Untersuchung der aus¬
geschlachteten Thiere, die normale Beschaffenheit der einzelnen Theile der Schlacht-
thiere und die Unterscheidung des Fleisches der verschiedenen Scblachtthiere.
Es folgt sodann in der zweiten Hälfte eine (Iberall bis in die kleinsten Details
gehende Schilderung der das sanitätspolizeiliche Interesse in Anspruch nehmenden,
von der Norm abweichenden physiologischen, wie pathologischen Verhältnisse der
Schlachtthiere, bedingt zum Theil durch Organkrankheiten, Blutanomalien und
Intoxikationen, zum Theil durch thierische und pflanzliche Parasiten. Den Schluss
bilden die Kapitel über Nothschlachtungen, postmortale Veränderungen des
Fleisches, Mehlzusatz zu Würsten, Färben und Aufblasen des Fleisches, wie
Konservirung des Fleisches und Kochen, Dampfsterilisation und unschädliche Be¬
seitigung des Fleisches.
Bei der reichen Fülle des Gebotenen können selbstverständlich nur einige
Einzelheiten hervorgehoben werden, welche ein besonderes Interesse für die
Medizinalbeamten voraussetzen lassen. Dahin mag die Mittheilung des Verfassers
gehören, dass im Königreich Preussen jetzt die obligatorische Fleischschau, ins¬
besondere aber die mikroskopische Untersuchung der Schweine, überall thatsäch-
lich eingeführt ist, bis auf den Regierungsbezirk Aachen. Oeffentliche-Schlacht¬
häuser sind in den letzten 10 Jahren im Königreiche Preussen geradezu aus dem
Boden gewachsen, und es giebt Regierungsbezirke, wie z. B. Oppeln, in welchem
jede Stadt mit namhafter Einwohnerzahl ein öffentliches Schlachthaus bereits
besitzt, oder doch die Erbauung eines solchen in Angriff genommen hat. Solchen
Regierungsbezirken stehen aber andere, wie beispielsweise der westpreussische
Bezirk Danzig gegenüber, in welchem noch kein einziges öffentliches Schlacht¬
haus besteht, wie auch nicht eine Gemeinde Uber Untersuchung des zur mensch¬
lichen Nahrung bestimmten Fleisches Vorschriften erlassen hat.
Dem Referenten, welchem die erst vor Kurzem in dieser Zeitschrift
(Nr.20—23, 1892) veröffentlichte ausführliche Abhandlung des Geh. San.-Rath
Dr. Müller-Minden „Ueber die Verwendbarkeit des Fleisches tuberkulöser
Thiere u. s. w.“ noch in lebhafter Erinnerung war, musste es besonders interessant
sein, das Kapitel über die sanitätspolizeiliche Beurtheilung der Tuberkulose auch
mal im Ostertag’sehen Licht betrachtet, zu lesen. Er kann jedoch zu seinem
Bedauern nur versichern, dass die betreffenden Ausführungen ihn ebenso wenig
wie die früheren geharnischten Artikel Ostertags in der Zeitschrift für Fleisch-
und Milchhygiene, von der Ungefährlichkeit des Genusses des Fleisches noch nicht
abgemagerter Thiere, welche lokalisirte Tuberkulose zeigen, überzeugt haben und
dass er die Aufhebung des nach Ostertag „der wissenschaftlichen Begründung
entbehrenden“ Mindener Verfügung, noch beute bedauert.
Mit Recht fordert der Verfasser in dem Abschnitte, der von der Trichinen¬
schau handelt, dass die nachträgliche Untersuchung des amerikanischen Schweine¬
fleisches unerlässlich sei, nachdem in Deutschland wiederholt lebende Trichinen
in demselben festgestellt seien, entgegen die Anschauungen Wasserfuhr’B
und C. Fränkel’s.
Für den gerichtsärztlichen Sachverständigen werden besonders die Kapitel
über den Mehlzusatz zu Würsten und das Färben derselben, über das Aufblasen
des Fleisches und die Konservirungsmethoden von Interesse sein, zumal sie
gleichzeitig zahlreiche, hierauf bezügliche rcichsgerichtliche Entscheidungen ent¬
halten, während den Gesundheitsbeamten vornehmlich der Abschnitt Uber das
Kochen, die Dampfsterilisation und unschädliche Beseitigung des Fleisches angeht,
in dem auch der Rohrbeck'sehe Dampfdesinfektor eine gebührende Wür¬
digung findet.
Das interessant und fesselnd geschriebene Werk wird gewiss bald einen
grossen Abnehmerkreis finden und den Vertretern der Sanitätspolizei häufig zum
schnellen Nachschlagen in Veterinärsachen dienen, zu welchem Zweck es sich
seiner grossen Ucbersichtlichkeit wegen ganz besonders eignet.
Dr. Dütschke-Aurich.
50
Besprechung«!.
Dr. Th. Weyl: Studien zur Strassenhygiene mit besonderer
Berücksichtigung der Müllverbrennung. Reisebericht, dem Ma¬
gistrat der Stadt Berlin erstattet, mit dessen Genehmigung er¬
weitert und veröffentlicht. Mit 5 Abbildungen im Text und
11 Tafeln. Jena 1893. Verlag von Gust. Fischer. Gross 8°.
142 Seiten.
Der Verfasser schildert die Beobachtungen bezüglich der Strassenhygiene,
welche er auf einer im Auftrag des Magistrats der Stadt Berlin im August 1891
unternommenen Reise nach Brüssel, London und Paris angestellt hat. Der Be¬
richt zerfällt in zweiTheile; der erste Abschnitt enthält Beobachtungen, Erkun¬
digungen und literarische Ermittelungen über Verkehr, Pflaster, Strassenreinigung,
Bedürfnissanstalten und Beseitigung der städtischen Abfallstoffe in den bereisten
drei Städten. Auf Grund der dort gewonnenen Eindrücke schlägt Weyl vor:
1. Die Berliner Schutzleute sollten nach dem Vorbilde der Londoner
Policemen bei der Regulirung des Straßenverkehrs thätig sein.
2. Das nach Pariser Vorbild zu verlegende Holzpflaster sollte in
grosserem Umfang als bisher in Anwendung gezogen werden.
3. Bei trockenem Wetter sollte der Strassenreinigung jedesmal
die Besprengung der Strasse vorhergehen.
4. Es sollte versucht werden, ob es durch ein über der Brause des Spreng¬
wagens angebrachtes Tuch von genügender Breite gelingt, dem beim Sprengen
aufgewirbelten Staub niederzuhalten (Staubsegel nach Blasius).
5. Die in London-City gebräuchlichen Hydranten sollten geprüft werden.
6. Die Müllabfuhr sollte in grossen Städten nur nach einem vom
Magistrate festzustellenden Plane und nur zu bestimmten Stunden, nicht
aber den ganzen Tag hindurch gestattet seiu. Der Müll ist in festen Kästen
aufzusammeln und in diesen Kästen auf die Müllwagen zu verladen, ohne
dass eine Entleerung der Kästen auf den Müllwagen stattfände. Die gefüllten
Müllkästen sind gegen leere Kästen umzutauschen. Eigenthümerin der Kästen
ist die Stadt, welche für deren Benutzung und Erneuerung eine passend abzu¬
stufende Abgabe von den Hausbesitzern erhebt.
7. Aus Gründen der Decenz, der Aesthetik und im Interesse des Verkehrs
sollten die auf öffentlichen Plätzen und Strassen befindlichen freistehenden
Bedürfnissanstalten aller Art allmählich verschwinden und nach Londoner
Vorbild unterirdisch angelegt werden.
9. Im Interesse des Verkehrs und aus Ersparnissrücksichten wäre die
Verbringung des Schnees in die Kanäle und Flussläufe zu versuchen.
Im zweiten Abschnitt versucht der Verfasser ein Bild von dem Stande
der Verbrennung städtischer Abfallstoffe in England zu geben und
schildert unter Zuhülfenahme anschaulicher Zeichnungen die gebräuchlichsten
Verbrennungsöfen. Zum Schluss empfiehlt Weyl auch den deutschen Hygienikern
und Stadtverwaltungen aufs Angelegentlichste die Müllverbrennung als eine nütz¬
liche und nachahmenswerte Methode der Städtereinigung und hebt hervor, dass
sich in nicht kanalisirten Städten, Fäces, Hausmüll im weitesten Sinne,
Marktreste und verdorbene Waaren wie Lebensmittel aller Art zur Verbrennung
eignen, während in kanalisirten Städten, Hausmüll, Marktmüll, die Sink¬
stoffe der Kanäle, der Gullies, die Produkte der Kläranlagen, verdorbene Waaren
und Lebensmittel aller Art für die Verbrennung in Betracht kommen.
Das Buch wird besonders den grösseren Gemeinwesen ein willkommener
Berather für die Strassenhygiene sein! Ders.
Dr. Constantin Kaufmann, Dozent für Chirurgie an der Universität
Zürich: Handbuch der Unfall-Verletzungen mit Be¬
rücksichtigung der deutschen, österreichischen und schweizeri¬
schen Unfallpraxis für Aerzte, Versicherungsbeamte und Juristen.
Stuttgart 1892. Verlag von Ferdinand Enke. Gr. 8°, 256 S.
Durch das vorliegende Handbuch der Unfallverletzungen ist die seit In¬
krafttreten der Unfallversicherung im schnellen AnfblUhen begriffene Literatur
Tagesnachrichten.
51
jeues neuen Gebietes der ärztlichen Thätigkeit wiederum um eiuc grössere
Arbeit bereichert worden und, dass Referent es im Eingang gleich betont, durch
ein Werk, welches sich als das beste und vollkommenste in der Unfallsliteratur
bislang erweist. Das Handbuch hat sich zur Aufgabe gestellt, die Unfallver¬
letzungen im Anschlüsse an die Unfallpraxis der drei Staaten zu behandeln.
Es zertällt in zwei Tkeile: Der erste Theil enthält die allgemeinen Gesichts¬
punkte für die Untersuchung und Beurtheiluug, und erfahren, nachdem die ein¬
schlägige Literatur vorausgeschickt ist (wobei übrigens manches bekannte Werk,
es mag nur an Seeligmüller's Abhandlungen über traumatische Neurose und
Unfallkrankenhäuser erinnert werden, gar nicht erwähnt wird), die einzelnen
Unfall- nml Haft.ptfichtgesetze der drei Staaten eine übersichtliche Zusammen¬
stellung; hieran schliesst sich die Definition des Betriebsunfalles, die Begut¬
achtung und Untersuchung der Todesfälle, wie der herbeigeführten Körperver¬
letzungen, während den Schluss dieses Abschnittes die Untersuchung auf Simulation
und Bestimmung der Erwerbsunfähigkeit, wie Form und Inhalt der ärztlichen
Gutachten bilden. Im zweiten Theile werden die Unfallverletzungen mit be¬
sonderer Berücksichtigung ihrer Heilungsdauer und ihrer Folgen für die Er¬
werbsfähigkeit besprochen, Der zweite Theil vornehmlich ist es, der durch seine
bis in die kleinsten Details gehenden Vollständigkeiten den mit der Begutachtung
betrauten Arzt voll befriedigen wird, da für die häufigsten Verletzungen eine
grössere Zahl von Entschädigungsbestimmungen angeführt wird, an welche er
sich halten kann. Die grössten Schwierigkeiten bereitet ja erfahrungsge näss
dem Gutachter meist die von den Berufsgenossenschaften und Schiedsgerichten
verlangte prozentuale Bestimmung der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit; dankbar
wird es daher der Besitzer des Kaufmann’sehen Handbuches empfinden, dass
ihm in dem zweiten Theil für diese Beurtheiluug eine erschöpfende Fülle von
Beispielen geboten wird, denen er den zu beurtheilenden Fall leicht anpassen
kann. Besonders ausführlich ist in dieser Beziehung das Kapitel über die
oberen und unteren Extremitäten behandelt, welche ja nach den statistischen
Zusammenstellungen bei Arbeitern das grösste Kontingent von Unfall Verletzungen
naturgemäss bilden.
Am wenigsten, will es dem Referenten erscheinen, ist das Kapitel der
„traumatischen Neurose* geglückt und wäre hier eine minder stiefmütterliche
Behandlung um so mehr am Platz gewesen, als unsere gebräuchlichsten medi¬
zinischen Handbücher bis jetzt diesen Punkt gar nicht berücksichtigen, der
Arzt somit ausschliesslich auf die Unfallliteratur angewiesen bleibt, wie der
Verfasser in der Einleitung zu jenem Kapitel selbst hervorhebt. Aus diesem
Grunde hätte auch eine reichhaltigere Literatur herangezogen werden müssen,
welche nicht nur die Oppen he im’scheu bezw. S trttm pelTschen An¬
schauungen vertritt, sondern auch Autoren das Wort gestattet, die eine trau¬
matische Neurose als ein Krankheitsbild sui generis nicht anerkennen.
Diese kleine Ausstellung soll selbstverständlich den Werth der interessant
und fesselnd geschriebenen Arbeit nicht herabsetzen, zumal eine gewiss bald
erforderlich werdende Neuauflage diesem Mangel leicht abhelfen kann. Die
Vorzüge des Buches, besonders in seinem zweiten Theil, sind für die Praxis so
hervorstechend, dass sich dasselbe voraussichtlich schnell den begutachtenden
Aerzten als unentbehrlich zeigen wird. Ders.
Tagesnachrichten.
Zu dem vom 24. September bis 1. Oktober d. J. in Rom st&tt-
findenden XI. internationalen medizinischen Kongress hat der Geschäfts-
ausschuss (Prof. G. Baccelli in Rom, Vorsitzender, Prof. L. Pagliani in
Rom, Schatzmeister und Prof. E. Maragliano in Genua, Generalsekretär) die
Einladungen erlassen unter Beifügung der Statuten, des Verzeichnisses der
Sektionen und eines Formulars für etwaige Beitritts - Erklärungen und An¬
kündigungen von Vorträgen. Anmeldungen oder sonstige Schriftstücke sind an
den Generalsekretär Prof. E. Maragliano, Institnto di Clinica Medica, Ospe-
dale Pammatone -Genova (Italien) zu richten (vergl. auch weiter unten die Be¬
kanntmachung des 'Vorstandes des Preussischen Medizinalbeamten - Vereins).
52
Tagesnachriohten.
Ebenso wie bei deu früheren internationalen medizinischen Kongressen
sind auch diesmal 18 Sektionen vorgesehen: L Anatomie, II. Physiologie,
III. allgemeine Pathologie nnd pathologische Anatomie, IV. Pharmakologie,
V. Interne Medizin, VI. Kinderheilkunde, VII. Psychiatrie, Neurologie und
kriminelle Anthropologie, VIII. Chirurgie und Orthopädik, IX. Qeburtshülfe und
Frauenkrankheiten, X. Laryngologie, XI. Otologie, XII. Ophtalmologie,
XIII. Zahnheilkunde, XIV. Militärische Medizin und Chirurgie, XV. Hygiene,
XVI. Bau - Sanitätswesen, XVII. Hautkrankheiten und Syphiligraphie, XVÜI. Ge¬
richtliche Medizin. Gegenüber den auf dem Berliner internationalen medizini¬
schen Kongresse im Jahre 1890 getroffenen Eiutheilung der Sektionen ist, abge¬
sehen von der veränderten Reihenfolge, nur insofern eine Aenderung eingetreten,
dass an Stelle der XVI. Sektion für medizinische Geographie und Klimatologie
jetzt eine solche für Bau - Sanitätswesen eingerichtet ist.
Die Statuten, die ebenfalls gegenüber denjenigen des Berliner Kon¬
gresses einige Abänderungen erfahren haben, lauten wie folgt:
„Art. 1. Der elfte internationale medizinische Kongress wird in Rom
am 24. September 1893 eröffnet und am 1. Oktober 1893 geschlossen werden.
Art 2. An den Arbeiten des Kongresses können afle jene Aerzte theil-
nehmen, die durch Erfüllung der mit der Inskription verbundenen Obliegenheiten
in Besitz der Mitgliedskarte gelangt sind.
Art. 3. Doktoren anderer Disziplinen, die sich wegen ihrer Spezial¬
studien für die Arbeiten des Kongresses interessiren, können mit den gleichen
Rechten und Pflichten, wie die Aerzte, Kongressmitglieder sein, und steht ihnen
ebenfalls das Recht zu, thätigen Antheil an den Arbeiten zu nehmen sowohl
durch Vorträge, als durch Theilnahme an den Diskussionen.
Art 4. Der Beitrag der Mitglieder des Kongresses ist auf fünfundzwanzig
Lire (frs. 25.—, Mk. 20.—, L. 1.—) festgesetzt und berechtigt zum Bezüge eines
Exemplars der Kongress-Akten, das ihnen sofort nach Drucklegung derselben
zugesandt werden wird.
Art. 5. Der Zweck des Kongresses ist ausschliesslich wissenschaftlich.
Art. 6. Die Arbeiten des Kongresses werden unter 18 Sektionen ver¬
theilt; jeder Beitretende wird ersucht, gelegentlich der Beitrittserklärung die
Sektion anzugeben, der er anzugehören wünscht.
Art. 7. Das Zentral - Comitt wird in der Eröffnungssitzung die Wahl
des definitiven Bureaus veranlassen. — Dasselbe wird bestehen aus
einem Vorsitzenden,
drei Stellvertretern und
einer unbeschränkten Anzahl von Ehrenpräsidenten und Schriftführern.
Jede Sektion wählt, bei Organisirung ihrer Sitzungen, die eigenen Vor¬
sitzenden und die geeignete Anzahl von Ehrenpräsidenten, die in bestimmter
Reihenfolge die Sitzungen leiten.
Ein Theil der Schriftführer wird aus den ausländischen Mitgliedern
gewählt, denen die Redaktion der Vorträge und Diskussionen in fremden
Sprachen obliegt.
Art. 8. Die Versammlungen des Kongresses finden täglich statt, sei es
zu allgemeinen Sitzungen, sei es zu den Arbeiten der Sektionen.
Die Stunde, die Anzahl nnd die Tagesordnung der allgemeinen Sitzungen
werden von dem Vorsitzenden bestimmt.
Art. 9. Den allgemeinen Sitzungen sind Vorbehalten:
a) die Diskussionen bezüglich der Arbeiten und der allgemeinen
Interessen des Kongresses;
b) die Vorträge und Mittheilungen von allgemeinem Interesse.
Art. 10. Die Vorträge in den allgemeinen und eventuellen ausserordent¬
lichen Sitzungen werden vom Zentral -ComitS erwählte Mitglieder halten.
Art. 11. Die am Kongresse zu haltenden Vorträge müssen bis spätestens
30. Juni 1893 angemeldet werden.
Von jedem Vortrage ist ein kurzgefasster Auszug mit den Schlussfolge¬
rungen einzusenden, dessen Druck und Verteilung an die Kongressteilnehmer
die Präsidenz besorgt.
Diese Auszüge sollen spätestens bis 31. Juli 1893 eingesendet werden.
Nach diesem Tage eintreffende oder während des Kongresses angemeldete
Tagealachrichten.
53
Vorträge können nur dann auf die Tagesordnung gesetzt werden, wenn die vor¬
her angesetzten Vorträge die hierzu nöthige Zeit frei lassen.
Die Tagesordnungen für die Arbeiten der einzelnen Sektionen werden
von den Vorsitzenden der Sektionen selbst und nach deren Gutachten festgesetzt.
Art 12. Die Stunden für die Sitzungen der Sektionen werden von den
Sektionen selbst bestimmt, unter Rücksichtnahme, dass selbe mit den nicht all¬
gemeinen Sitzungen kollidiren.
Vereinigte Sitzungen zweier oder mehrerer Sektionen können nach Ver¬
einbarung der bezüglichen Vorsitzenden veranstaltet werden.
Ueber wissenschaftliche Fragen ist die Abstimmung nicht zulässig.
Art. 13. Die für jeden Vortrag bestimmte Zeitdauer ist fünfzehn Minuten.
Die an der Diskussion Theilnehmenden können je einmal während fünf
Minuten sprechen. Dem Autor des Vortrages sind nach Beendigung der Dis¬
kussion zehn Minuten zugemessen, um alle Entgegnungen zu beantworten.
Die Vorsitzenden haben Vollmacht, in Berücksichtigung der Bedeutung
eines Gegenstandes nach eingeholtem Gutachten der Sektion, Autoren von Vor¬
trägen ausnahmsweise eine längere Zeitdauer zu bestimmen.
Art. 14. Der Text aller Vorträge, die sowohl in den allgemeinen
Sitzungen als in denen der Sektionen gehalten werden, muss vor Schluss der
bezüglichen Sitzung den Schriftführern übergeben werden.
Ein von der Präsidenz ernanntes besonderes Redaktions -Comit6 bestimmt,
ob und in welchem Umfange diese Texte im Kongressberichte veröffentlicht
werden sollen.
Die an der Diskussion Theilnehmenden sind gebeten, den Schriftführern
innerhalb des Tages der bezüglichen Sitzung, einen schriftlichen Auszug der von
ihnen vorgebrachten Entgegnungen zu übergeben.
Art. 15. Die offiziellen Sprachen für alle Sitzungen sind: italienisch,
französisch, deutsch und englisch.
Die Statuten, Programme und Tagesordnungen werden in diesen vier
Sprachen veröffentlicht.
In den Sitzungen sind ganz kurze Bemerkungen in einer anderen Sprache
gestattet, falls eines der anderen Mitglieder sich bereit erklärt, selbe in eine
der offiziellen Sprachen zu übersetzen.
Art. 16. Die Vorsitzenden leiten die Verhandlungen nach den in der¬
artigen Versammlungen gebränchlichen parlamentarischen Regeln.
Art. 17. Im Art. 3) nicht inbegriffene Personen, die sich für die Arbeiten
einer besonderen Sektion interessiren, können auf Entscheidung der Präsidenz
des Kongresses zu denselben Zutritt erhalten.
In solchem Falle empfangen selbe eine besonders bezeichnete Mitglieds¬
karte, haben den für die Kongressmitglieder vorgeschriebeuen Beitrag zu leisten
und erhalten das Recht zum Bezug eines Exemplars der Kougressakten.
Die auf Grund dieser Bestimmung zum Kongresse zugelasseuen Personen
können weder in allgemeinen Sitzungen noch in denen jener Sektionen, bei
welchen sie nicht eingeschrieben sind, das Wort ergreifen.
Art. 18. Studenten der Medizin können vom Präsidenten eingeladen
werden oder die Befugniss erhalten, den Sitzungen beizuwohnen, aber blos
als Zuhörer.
Die Eintrittskarten für dieselben werden unentgeltlich abgegeben.“
Das Preussische Medizinalwesen stellt sich nach dem Staatsliaus-
halts-Etat für das Jahr 1993/94, wie folgt:
1. Für Besoldungen der Mitglieder der Provinzial-Medizinal¬
kollegien, der Regierungs-Medizinalräthe u. 8. w. . . . 238 404,00 M.
2. Für Besoldung der Kreis-, Bezirks- und Stadtphysiker,
Kreiswundärzte etc. 727 695,82 „ *)
[darunter 36000 Mark für Stellenzulagen].
3. Zu Wohnungsgeldzuschüssen für die Reg.-Medizinalräthe 21 780,00 n
_ Zu übertragen 9S7 879,82 M.
*) 2550 Mark weniger durch erledigte AussterbebesoMnng eines Amts-
physikus im Reg.-Bez. Kassel und der entbehrlich gewordenen Kreiswnudarzt-
stellen der Stadtkreise Hannover und Wiesbaden und des Kreises Düren; da¬
gegen 900 mehr für Besoldung eines Physikus auf der Insel Helgoland.
64
Tagesnachrichten.
Uebertrag 987879,82 M.
4. Zur Remunerirnng eines Medizinalassessors bei dem Polizei¬
präsidium in Berlin, sowie der Barean- nnd Kanzleihülfs-
arbeiter bei den Provinzial-Medizinalkollegien . . . 12 598,00 „
5. Zu Bureaubedttrfnissen der Medizinalkollegien, sowie za
Reisekosten and Tagegeldern für auswärtige Mitglieder
der Provinzial • Medizinalkollegien and Dienstaufwands-
Entschädigung (1200 Mark) za Reisekosten für den Re¬
gierungs- und Medizinalrath in Berlin. 9 642,00 „ *)
6. Zur Remunerirung der Mitglieder und Beamten der Kom¬
mission f. die Staatsprüfungen d. Aerzte, Zahnärzte, Apo¬
theker u. Physiker, sowie zu sachl. Ausgaben bei denselben 159 500,00 „
7. Zuschüsse für Uuterrichts-, Heil- und Wohlthätigkeits-
Anstalten (Charite - Krankenhaus in Berlin u. s. w ) . . 451 661,32 „ 3 )
darunter 233 055 Mark Zuschuss für das neu errich¬
tete Institut für Infektionskrankheiten.
8. Für das Impfwesen (Remunerirung der Vorsteher nnd
Impfärzte bei den Impf- und Lympherzeugungs- Instituten,
sachliche Ausgaben u. s. w. 87 201,00 „
9. Für Reagentien bei den Apothekerrevisionen .... 1900,00 „
10. Zu Unterstützungen für aktive und für ausgeschiedene Me-
dizinal beamte und deren Wittwen und Waisen ... 55 000,00 „ 4 )
11. Zu Almosen an körperlich Gebrechliche zur Rückkehr in
in die Heimath, sowie für arme Kranke. 900,00 „
12. Für medizinalpolizeiliche Zwecke . 28 500,00 „
13. Verschiedene Ausgaben (Quarantäne-Anstalten, künftig
wegfallende Besoldungen, Zuschüsse u. s. w.) . . . . 44 098,83 „
Zusammen 1 838 930,97 M.
im Vorjahre 1 828 410,97 „
demnach mehr 10 520 M.
Im Extraordinarium sind ausserdem 550190 Mark für Neu- und Um¬
bauten, Ergänzung des Inventars, Deckung von Fehlbeträgen bei verschiedenen
Universitätskliniken tte. (in Königsberg, Berlin, Breslau, Greifswald, Halle, Kiel
und Marburg) eingestellt; desgleichen 20 000 Mark als 2. Rate zur Abhaltung
von Fortbildungskursen in der öffentlichen Gesundheitspflege
für Regierungsmedizinalräthe und Kreisphysiker.
Zu dieser Ausgabe heisst es in den Bemerkungen zum Etat:
„Die Erfahrung hat gelehrt, dass den einberufeuen Beamten auch das
Honorar für die Universitätslehrer, welche die Kurse abhalten nnd der Betrag,
welcher für Verbrauch von Materialien zu entrichten ist, nicht füglich auferlegt
werden kann, da die Beamten durch die Theilnahme an denselben nicht uner¬
hebliche Einbussen an ihren Einnahmen aus der Praxis, sowie aus dienstlichen
Gebühren erleiden, ausserdem auch die Beschaffung der für die Kurse erforder¬
lichen Mikroskope ihnen Kosten bereitet. Es ist daher beabsichtigt, in Zukunft
diese durchschnittlich etwa 60 Mark für jeden Theilnehmer an den Kursen be¬
tragenden Kosten auf Staatsfonds zu übernehmen. Eine Erhöhung der für die
Kurse in Aussicht genommenen Summe von insgesammt löuOOO Mark wird da¬
durch nicht erforderlich werden.“
Man dürfte hier wohl mit Recht fragen, warum sollen die Kosten erst
künftighin auf Staatsfonds übernommen und nicht auch den bisherigen Theil-
nehmem wieder zurückerstattet werden? Wenn die Erfahrung gelehrt, hat, dass
die Physiker durch Theilnahme an jenen Kursen in ihren sonstigen Einnahmen
nicht unerbebliohe Einbusse erleiden, und dass dadurch auf einen ausreichenden
*) 50 Mark mehr.
*) 2120 Mark mehr.
*) 10 Oi <0 Mark mehr, da sich dieser Fonds in seiner bisherigen Höhe als
gänzlich unzureichend erwiesen hat.
Tagesnachrichten
56
Besuch der Kurae nicht zu rechnen ist — ein Umstand, auf dem wir Übrigens
gleich bei Einrichtung dieser Kurse aufmerksam gemacht haben — dann sollte
man aber auch diejenigen Physiker, die trotz der pekuniären und sonstigen Opfer
an den Kursen theilgenommen haben, nicht schlechter behandeln, als diejenigen,
die bisher in kluger, ihnen nicht zu verdenkender Vorsicht ruhig zu Hause
geblieben sind.
Im Uebrigen bringt der Etat, ausser der schon längst nothwendigen, aber
auch jetzt nicht ausreichenden Erhöhung des Fonds zur Unterstützung für aktive
und für ausgeschiedene Medizinalbeamte und deren Wittwen und Waisen, für
die Kreisphysiker nichts Erfreuliches. Die in der letzten Nummer der Zeitschrift
mitget heilte, von politischen Blättern gebrachte Nachricht, dass in dem Etat
eine Summe eingestellt sei, um die Kreisphysiker selbstständiger zu stellen
und sie vou der Praxis unabhängig zu machen, hat sich, wie wir gleich
befürchteten, nicht bewahrheitet und wenn nicht das Reichsseuchengesetz in
dieser Hinsicht noch eine Aenderung nothwendig macht, dann sind die Medizinal-
beamten in ihren Hoffnungen wieder einmal gründlich getäuscht worden. Bis
jetzt lauten allerdings die Nachrichten betreffs der Fertigstellung des Reichs¬
seuchengesetzes noch immer günstig, denn nach einer in der Budgetkommission
des Reichstags kürzlich vom Staatssekretär v. Bötticher gemachten Mitthei¬
lung wird der Entwurf des Gesetzes voraussichtlich noch im Januar dem Bun-
desrathe und im Februar dem Reichstage zugehen. Die für dieses Jahr drohende
Choleragefahr wird ausserdem nicht unwesentlich zur Beschleunigung der An¬
gelegenheit beitragen, die scheiubar in den letzten Wochen durch die Erkran¬
kung des Direktors des Reichsgesundheitsamtes eine Verzögerung erlitten hat.
Das Seuchengesetz wird sich, wie jetzt mitgetheilt wird, auf alle gefähr¬
lichen ansteckenden Krankheiten beziehen und die zu ihrer Abwehr und Be¬
kämpfung erforderlichen Vorschriften enthalten. Dahin gehören: 1. die Regelung
der Anzeigepflicht; 2. Abwehrmassregeln gegen das Ausland, als Grenzsperren,
Beschränkung des Grenzverkehrs durch Einfuhrverbote, Quarantänevorschriften;
3. Schutzmassregeln im Inlande, als Bekanntmachung der Krankheit., Isolirnng
der Kranken und Desinfektion, Ausfuhrbeschränkung, Verbot von Märkten, Ver¬
sammlungen, Schulbesuch etc., Beschränkung einzelner Gewerbebetriebe, sowie
des Verkehrs mit gewissen Nahrungs- und Genussmitteln, Vorschriften über
Beerdigung und Leicbenbeförderuug; 4. Regelung der Entschädigungspflicht für
das aus Anlass der Seuchengefahr vernichtete oder beschädigte Privateigenthum;
5. Strafbestimmungen.
Cholera. Die Zahl der Cholera-Erkrankungen hat sich in Hamburg
mit Beginn dieses Jahres wesentlich verringert; in der ersten Woche vom 1.—7.
Januar sind nur 7 Erkrankungen und 1 Todesfall vorgekommen, und vom 8.—12.
Januar 4 Erkrankungen und 1 Todesfall; ausserdem sind aus Altona und
Pinneberg noch je 2 Erkrankungen gemeldet.
In den Niederlanden kommen immer noch vereinzelte Cholerafälle vor;
anch in Frankreich ist die Seuche noch nicht völlig erloschen und werden
besonders aus Dünkirchen, Calais und Nantes neue Erkrankungen gemeldet.
Dasselbe gilt von Galizien, wo in den beiden letzten Dezemberwochen 22 Er¬
krankungen mit 7 Todesfällen in den Bezirken Borszcow und Husiatyn zur An¬
zeige gelangt sind. In Pesth betrug die Zahl der Erkrankungen an Cholera
vom 27. Dezember bis 7. Januar nur noch 6, diejenige der Todesfälle 1.
In Russland ist die Seuche immer weiter in der Abnahme begriffen,
besonders in den westlichen Gouvernements. Nach den neuesten amtlichen Fest¬
stellungen sind im ganzen russischen Reiche bis zum November 551478 Personen
an der Cholera erkrankt und 266200 = 48,9 % gestorben.
In Hamburg ist vor Kurzem ein Gesetz, betreffend den Verkehr mit
Kuhmilch erlassen worden. Dasselbe bestimmt u. A.: Frische Kuhmilch darf
nur als Vollmilch oder Magermilch in den Verkehr gebracht werden. Voll¬
milch ist die Kuhmilch, welcher nichts zugesetzt und nichts genommen worden
ist und welche einen Fettgehalt von mindestens 3 Proz. und ein spezifisches
56
Tagesnachrichten.
Gewicht von mindestens 1,028 bei + 15° C. hat. Halbmilch ist die Kuh-
milch, deren Fettgehalt durch theil weise Abrahmung oder durch Vermischung
von Vollmilch mit abgerahmter Milch verringert worden ist. Sie muss noch
einen Fettgehalt von mindestens 1,8 Proz. und ein spezifisches Gewicht von min¬
destens 1,080 bei —(-15 0 0. haben. Magermilch ist die Kuhmich, welche fast
völlig, wie namentlich durch maschinelle Kraft, z. B. durch Zentrifugen ent¬
fettet worden ist. Sie muss einen Fettgehalt von mindestens 0,15 Proz. and ein
spezifisches Gewicht von mindestens 1,085 bei -|- 15.° C. haben.
Preus8ischer Medizinalbeamtenverein.
Der Geschäftgausschuss des XI. internationalen medizinischen
Kongresses hat nachfolgendes Einladungsschreiben an den Vorsitzenden unseres
Vereins gerichtet:
„Sehr geehrter Herr Kollege!
Der Vorsitzende des Kongresses hat sich seiner Zeit beehrt, Sie
und die Herren Mitglieder Ihres Vereins zu bitten, der Einladung des
Zentral - Coraites zur Theilnahme am internationalen medizinischen Kon¬
gresse, der im Jahre 1898 in Rom tagen wird, Folge leisten zu wollen.
Es ist der angelegentliche Wunsch des Komitees, dass der bevor¬
stehende Kongress sich derart gestalte, dass alle Kollegen zu dem¬
selben mit den Früchten ihrer persönlichen Thätigkeit beitragen mögen,
so dass die Vereinigung der einzelnen Kräfte ein Ganzes gebe, würdig
der hohen Stufe, welche die medizinische Wissenschaft erreicht hat.
Deshalb füge ich der Einladung zur Theilnahme am Kongresse die
Bitte bei, Sie und Ihre Herren Kollegen mögen zum vollen Gelingen
der Arbeiten des Kongresses durch Vorträge beisteuern.
Das Comit6 schmeichelt sich, dass Sie, geehrter Herr Kollege, in
Ihrem eigeuen Namen den Mitgliedern Ihres Vereins den Ihnen im
Vorstehenden mitgethoilten Wunsch ausdrücken wollen und spreche ich
Ihnen im Vorhinein für den Eifer, mit dem Sie dessen Bestrebungen
fördern werden, meinen verbindlichsten Dank aus.
Der Präsident: Der General-Sekretär:
G. Baccelli. E. Maragliano.
Indem der Vorstand das vorstehende Schreiben zur Kenntniss der Vereins¬
mitglieder bringt, richtet er an diese gleichzeitig die Bitte, der Einladung thun-
lichst Folge zu leisten. Statuten und Verzeichniss der Sektionen des Kongresses
sind in der heutigen Nummer der Zeitschrift unter Tagesnachrichten mitgetheilt.
Zu Beitrittserklärungen und zur Anmeldung etwaiger für den Kongress be¬
stimmter Vorträge hat der Geschäftsausschuss dem Vorstande eine Auzahl For¬
mulare zur Verfügung gestellt, in deueu die Sektion, welcher der Betreffende
anzugehören wünscht, sowie der Titel des anzukündigenden Vortrages einzutragen
sind. Wer von den Vereinsmitgliedern daher an dem Kongresse theilzunehmen
beabsichtigt, kann ein solches Formular auf Verlangen jederzeit von dem Unter¬
zeichneten Schriftführer erhalten. Alle Anmeldungen und sonstige den Kongress
betreffende Schriftstücke sind an den Generalsekretär E. Maragliano, Istituto
di Clinica Medica — Ospedale Pammatone — Genova (Italien) zu richten.
Der Vorstand des Preussischen Medizinalbeamtenvereins.
Im Auftr.
Dr. Rapmund, Schriftführer des Vereins.
Reg.- und Med.- Rath in Minden.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmnnd, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i W.
* J. 0. G. Bruns, Bnchdruckcrei, Minden.
58
Dr. Fielitz.
erkrankt: gestorben:
20.
Jan.
16
1
21.
79
9 (2 Aerzte, 1 Wärter)
7
22.
79
12
4
23.
79
8
2
24.
71
13 (1 Arzt)
1
25.
79
4
5
26.
79
2
0
27.
79
0
2
28.
79
2 (1 Beamtenfrau)
2
Zusammen 113 42
Die Krankheit brach in einem alten Flügel der Anstalt aus,
welcher 1866 eine starke Epidemie durchgemacht hatte, sprang
aber sofort nach den meisten Gebäuden über, so dass auch von
den neueren nur eins verschont blieb, obwohl es zwischen 2 infizir-
ten Villen lag. Das ganze explosionsartige Auftreten der Seuche
deutete auf eine Verbreitungsart, die für alle Insassen gemein¬
schaftlich war und man musste nach Lage der Sache ohne Wei¬
teres an das Wasser denken. Woher die Einschleppung erfolgt
ist, hat sich bis zur Stunde noch nicht genügend aufklären lassen,
aber man wird nicht fehlgehen mit der Annahme, dass der Keim
von Hamburg durch eine Person, eventuell schon vor mehreren
Wochen, in die Anstalt gebracht wurde. Das Waaren oder sonstige
Gegenstände verantwortlich gemacht werden könnten, ist ausge¬
schlossen. Die überaus schnelle Ausbreitung und das verschiedene
Befallenwerden der drei Verpflegungsklassen, ebenso wie der plötz¬
liche Abfall seit dem 25. Januar wird verständlich, wenn man die
Wasserversorgung in’s Auge fasst.
Die Anstalt hat eine Wasserleitung, welche ihren Bedarf aus
einem Nebenarm der Saale, der sog. wilden Saale, schöpft, die
Halle gar nicht berührt und verhältnissmässig reines Wasser führt.
Das Wasser fliesst aus diesem Arme in ein Filter und wird aus
dem Sammelbassin nach der Anstalt gepumpt und zwar in Wasser¬
reservoire, welche in Verbindung stehen und sämmtliche Gebäude
versorgen. Die Abflusswässer werden über Rieselfelder geleitet
und sammeln sich in einen Wassergraben, welcher an der Anstalt
vorüberführt und seinen Inhalt der wilden Saale etwa 50 Meter
oberhalb der Entnahmestelle zuführt. Es ist somit ohne Wei¬
teres klar, dass Infektionsstoffe, wenn solche aus der Anstalt ab-
flossen und auf den Rieselfeldern nicht unschädlich gemacht
wurden, wieder in die Anstalt zurückkehren konnten, sobald das
Filter nicht ausgezeichnet funktionirte. Koch’s Untersuchungen
ergaben sehr bald, dass weder Filter noch Rieselfelder ihre Schul¬
digkeit thaten, ersteres wegen falscher Anlage, letztere wegen der
anhaltenden starken Kälte, die beim Ausbruch der Epidemie fast
22° erreicht hatte.
Die exakten Untersuchungen des Leitungswassers, welche
im Institut für Infektionskrankheiten unter Pfeiffer’s Leitung
vorgenommen wurden, förderten sehr bald den Kommaba-
Karze Bemerkungen über die Choleraepidemie in der Irrenanstalt Nietleben. 59
cillu8 auch in dem Wasser zu Tage, welches das Filter
passirt hatte.
Unterdessen war bereits am 23. Januar das Saalewasser von
der Anstalt vollständig abgesperrt und ein Ersatz durch das vor¬
zügliche Hallesche Leitungswasser geschaffen worden. Diese Mass-
regel entsprach vollkommen Koch’s Erwartungen, denn vom
25. Januar ab fiel die Erkrankungsziffer, ohne dass eine meteoro¬
logische oder andere Erklärung zu finden wäre. Die Nachzügler
sind nicht zu verwundern: so ist am 28. eine Beamtenfrau als
erkrankt gemeldet, die seit dem 24. ihre Durchfälle verschwiegen
hatte. Die zweite Erkrankte betraf eine vollständig irre Frau,
die in der Abtheilung der schmutzigen Kranken wohnt, wo viele
Erkrankungen jedenfalls deshalb vorkamen, weil die ersten Pa¬
tienten den Infektionsstoff überall herumgeschmiert hatten. v Es f
handelt sich hier um Personen, welche viel an der Erde zubringen,
ja selbst ihre Fäkalien verzehren u. dergl. Eine Räumung und
Desinfektion dieser Abtheilung ist bereits eingeleitet.
Dass im Saalewasser der Krankheitserreger von nun ab zu
suchen war, bewies sehr bald ein Uebergreifen der Cholera nach
Trotha, einem 3 Kilometer unterhalb der Irrenanstalt belegenen
Dorfe.
Vor dem Genüsse des Saalewassers war wiederholt und drin¬
gend gewarnt worden und Einheimische scheuen sich aus mancher¬
lei Gründen in dieser Gegend Flusswasser zu trinken oder zu
anderen als gewerblichen Zwecken resp. für das Vieh zu gebrauchen.
Anders denken schlesische Arbeiter, wie sie in einer am Ufer der
Saale liegenden Kaserne in Trotha wohnen.
Hier fand ich am 24. Januar früh 2 Pferde- und 2 Ochsen¬
knechte erkrankt, während keins der zahlreichen Familienglieder
bis heute ergriffen wurde. Das Räthsel löste sich leicht, sowohl
im Ochsen- wie im Pferdestalle des Gutes findet sich Wasserlei¬
tung, welche aus der Saale Fabrik und Oekonomiegebäude mit
Ausnahme der Molkerei versorgt. Letztere hat einen eigenen sehr
guten Brunnen, den auch die Arbeiter benutzen dürfen. Ekel
kennen die schlesischen Knechte nicht und es war ihnen sehr be¬
quem, einfach aus den Wasserhähnen im Stalle zu trinken.
Die durchgreifendsten Massregeln scheinen auch diesen In-
fektionsheerd erstickt zu haben: heute finden sich in den Fäkalien
der Ueberlebenden keine Kommabazillen mehr und es ist nicht
eine Person weiter im Dorfe erkrankt.
Gestern Abend wurde ein neuer Fall in Wettin a./S. kon-
statirt, mehrere Stunden unterhalb Trotha. Es handelte sich um
eine Frau von 70 Jahren, welche am 23. Januar den ganzen Tag
gewaschen hatte, am 24. Januar mit Durchfall erkrankte, aber erst
am 26. Januar in ärztliche Behandlung kam und als verdächtig
gemeldet wurde. Obwohl sie Nachmittag 4 Uhr durchaus nicht
wie eine Cholerakranke aussah, fanden sich in den flockigen Be-
standtheilen der Entleerung dennoch die Koch’schen Bazillen fast
in Reinkultur. Heute fand ich die Frau schwer asphyktisch!
Hoffentlich gelingt es auch hier, den Heerd unschädlich zu
60
Dr. L&ngerhans.
zu machen, obgleich bereits mehrfache Erkrankungen in leichter
und deshalb unbeachteter Form vorgekommen zu sein scheinen.
Auch diese alte Frau hat bis zu ihrer Erkrankung Flusswasser
gebraucht, wie sie noch gestern sagte: „nur nicht zum Kochen!“
Ich brauche nicht hinzuzufügen, dass die genauesten Ermit¬
telungen darüber angestellt sind, ob die Kranken — sowohl in
Trotha wie in Wettin — nicht auf andere Weise zu dem Infek¬
tionsstoffe gelangt sein können. Diese Möglichkeit ist aber aus-
zuschliessen und eine Uebertragung durch das Saalewasser auch
hier als sicher anzusehen.
Ein abschliessendes Urtheil über die hochbedeutsame Epidemie
lässt sich natürlich zur Zeit nicht fällen. Ich möchte nur darauf
hinweisen, dass scheinbar unschuldige Fälle die gefährlichsten sind,
weil sie die Krankheit verschleppen, ehe sie erkannt werden und
dass es einer rücksichtslosen Energie bedarf, wenn zwischen indo¬
lenter Bevölkerung solche Funken gelöscht werden sollen.
Augenblicklich weilen noch Herr Professor Dr. Pfuhl und
Herr Stabsarzt Dr. Zenthoefer in Halle, um die Behörden mit
ihrer Erfahrung in jeder Weise zu unterstützen und so können
wir hoffen, doch noch Herr der schrecklichen Seuche zu werden.
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen
und der Schulkinder des Kreises Isenhagen.
Von Dr. Max Langerhans, Kreisphysikus in Hankensbüttel.
(Fortsetzung.)
Die Bauausführung der Schulgebäude.
Der Holzreichthum des Kreises bringt es mit sich, dass die
Gemeinden den Fachwerkbau bevorzugen und so sind 35 Schul¬
häuser aus Fachwerk errichtet, fast durchweg mit Ziegelstein¬
füllung; nur die älteren Gebäude haben an einzelnen Theilen
Lehmfüllung. Massiv in Ziegelrohbau sind 16 Gebäude ausge-
führt, wovon 3 eine Isolirschicht über dem Fundament und eine
Hohlschicht in den Aussen wänden besitzen. Von den Häusern
sind nur 30 in allen Theilen trocken, während 21, d. h. also rund
40 Prozent mehr oder weniger feucht sind. Es hat dies verschie¬
dene Gründe. In sehr vielen Fällen ist die Lage des Schulhauses
Schuld an der feuchten Beschaffenheit der Wände. Beispielsweise
hat gerade in den bevölkertsten Theilen des Kreises, in den Nie¬
derungen der Ise und der Ohra, das Grundwasser einen so hohen
Stand ( 1 / 8 —1 m), dass es kaum möglich ist, einen passenden
Bauplatz zu wählen, selbst wenn man auf Anlage eines Kellers
von vornherein verzichtet. Auch fallt die Wahl der Gemeinden
aus Bequemlichkeitsrücksichten oder aus Sparsamkeitsgründen
häufig auf ein ganz verkehrtes Grundstück, wie beispielsweise in
Zasenbeck, wo die Gemeinde im Jahre 1883 ein anspruchsvolles
und kostspieliges Haus an der allernassesten Stelle des tief ge¬
legenen Dorfes errichtet hat, so dass in der Schulstube das Wasser
von den Wänden läuft und in der Lehrerwohnung die Tapeten in
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc.
61
Fetzen herabfallen, während dicht am Dorfe auf einem sandigen
Hügel das schönste Bauterrain zu haben war. Um dergleichen
Vorkommnissen vorzubeugen, ist Besichtigung des Grundstückes,
Prüfung des Untergrundes und der Grundwasser- und Trinkwasser¬
verhältnisse durch den Kreismedizinalbeamten vor Beginn eines
Neubaues eine der dringendsten Aufgaben der Schulgesundheits-
pflege. Häufig ist auch die verkehrte Wahl des Baumaterials Schuld
an feuchter Beschaffenheit der Wände. Ein gewöhnlicher Massiv¬
bau aus dem wenig hart gebrannten Material, welches die etwas
primitiven Ziegeleien hiesiger Gegend liefern, wird bei den an¬
gegebenen Grundwasserverhältnissen an der Nord- und Westseite
stets feucht bleiben, während ein Fachwerkbau aus gutem Eichen¬
holz mit Bretterverschlag an den Wetterseiten leichter trocken
zu halten ist. Im Ganzen ist natürlich der Backsteinbau vorzu¬
ziehen und es ist anzunehmen, dass die in den letzten Jahren
errichteten Gebäude, bei denen durch Fundamentisolirung und
durch Anlage einer Hohlschicht für Trockenheit und Wärme der
Wände gesorgt ist, ihren Zweck erreichen werden. In einem
Falle (Wahrenholz 1) ist ein früher sehr feuchtes Schulhaus durch
Ziehen von Drainröhren wesentlich verbessert worden und es
wäre wünschenswerth, wenn von diesem Mittel ein weit ausgiebi-
gererGebrauch gemacht würde. Auch Anbringung von Verschalungen,
wo solche fehlen und Ventilirung feuchter Räume durch Luft¬
röhren würden an vielen Stellen gute Dienste thun.
Das Dach besteht in 39 Fällen aus Dachpfannen, in 2 Fällen
aus Schiefer, die übrigen 10 Häuser haben Strohdächer. 41
Dächer werden als dicht bezeichnet, während 10 mehr oder weni¬
ger undicht sind. Meistens sind das die alten Strohdächer, an
welche die Gemeinden, die sich auf einen Neubau gefasst machen,
keine grossen Reparaturen mehr wenden wollen.
Das Schulzimmer,
a. Der Eingang.
Für das ländliche Schulhaus, welches, bei uns wenigstens,
regelmässig auch die Lehrerwohnung umfasst, ist mit aller Ent¬
schiedenheit darauf zu dringen, dass die Schulkinder ihren eigenen
Eingang haben und mit den zur Lehrerwohnung gehörenden
Räumen und mit der Familie des Lehrers in gar keine Berührung
kommen. Es ist dies eine im Interesse der Schuldisziplin und der
Schulhygiene gleich wichtige Forderung; denn, wenn die Schul¬
kinder über die Diele oder über den Flur der Lehrerwohnung
hindurch gehen müssen, um in das Schulzimmer zu gelangen, ist
Schliessung der Schule gar nicht zu umgehen, sobald in der
Lehrerfamilie irgend ein Fall einer ernsteren ansteckenden Krank¬
heit auftritt. Für die, jedem Physikus altbekannte Häufigkeit
derartiger Störungen ist die Tabelle von Fizia (1. c.) sehr be¬
zeichnend, wonach im Bezirk Teschen im Zeitraum von 7 Jahren
wegen Infektionskrankheiten, welche unter den Schulkindern herrsch¬
ten, zusammen 57 Schulen während 1943 Tagen geschlossen
werden mussten, während für die Schliessung von 64 Schulen
62
Dr. Langerhans.
während 1587 Tagen der Ausbruch einer Infektionskrankheit im
Schulhause die ausschliessliche Veranlassung abgab. Namentlich
die mehrmals bald hintereinander nothwendig werdende Schliessung
der Schule, wenn sich einmal Diphtherie mit der ihr eigenen
Zähigkeit in einer Lehrerwohnung eingenistet hat und immer von
Neuem wieder aufflackert, muss nothwendig den eigentlichen
Zweck der Schule ernstlich gefährden und ist daher nur zu ge¬
eignet, beim Publikum, aber auch bei Lehrern und Lokalschul¬
inspektoren ernste Verstimmung über die Massregeln des mit der
Handhabung der Schulhygiene (wenigstens in dieser einen Ange¬
legenheit) betrauten Medizinalbeamten zu erwecken. Und es liegt
dann leider nur zu nahe, dass die angeordne.ten Massregeln lässig
ausgefühlt werden und ihren Zweck verfehlen, selbst da, wo das
Meldewesen und die Kontrole desselben straff genug orientirt sind,
um eine Verheimlichung solcher Krankheitsfälle zu verhindern.
Das von Fizia vorgeschlagene Radikalmittel, Unterbringung der
Lehrerwohnung und der Unterrichtsräume in zwei vollständig von
einander getrennten Gebäuden, ist, für das rauhe Klima Nord¬
deutschlands wenigstens, nicht geeignet, wie ich in dem Nachbar¬
kreise Salzwedel Gelegenheit gehabt habe, mich zu überzeugen.
Denn ein solches, einzeln stehendes, nur das Schulzimmer ent¬
haltendes Gebäude ist im Winter gar nicht gleichmässig durch¬
zuwärmen; es bilden sich aber auch an den bei Nacht stark abge¬
kühlten Aussenwänden während der Schulzeit aus der feuchten
Exspirationsluft der Schulkinder so starke Niederschläge, dass die
Wände überhaupt gar nicht mehr austrocknen. Ein eigener Ein¬
gang aber, welcher durch eine kleine, als Garderobe benutzte
Vorhalle in das Schulzimmer führt, ist fast allerwärts, und zwar
mit geringen Kosten, herzustellen und es muss als eine der dring¬
lichsten Aufgaben der Schulhygiene für ländliche Verhältnisse
bezeichnet werden, dass im Schulaufsichtswege die Schulgemeinden
ausnahmslos angehalten werden, derartige Einrichtungen zu treffen.
Allerdings muss bei der Bauausführung darauf geachtet werden,
dass nicht etwa die Fenster verbaut werden, oder dass gar an
Stelle eines Fensters die neue Eingangsthür angelegt wird; denn
die Beleuchtungsverhältnisse sind nirgends derart, dass auch nur
die geringste Beeinträchtigung geduldet werden könnte.
In unserem Kreise findet sich ein derartiger eigener Eingang
in 14 Schulhäusern = 27 Proz. und zwar nicht nur bei Neubauten,
wo er sogar in einem Falle fehlt, sondern auch als neuerdings
ausgefiihrter Anbau an ältere Häuser. Stets sind in solchem Anbau
Haken zum Aufhängen der Garderobe vorhanden; 16 andere Schul¬
häuser haben solche Haken innerhalb der Schulzimmer, eine Ein¬
richtung welche wegen der üblen Ausdünstungen der durchnässten
wollenen Kleidungsstücke entschieden fehlerhaft ist. Bei sechs
Schulhäusern ist überhaupt keinerlei Vorrichtung für das Unter-
briugen etwaiger Garderobe getroffen, während für die Schüler
aller übrigen Klassen Haken auf dem für Schüler und Lehrer¬
familie gemeinschaftlichen Flur angebracht sind.
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc.
68
b. Grösse und Gestalt der Schulzimmer.
Die Schülerzahl der Klassen und die von ihr abhängende
Grösse der Klassenzimmer ist wegen der Kleinheit der Schulge¬
meinden auffallend gering. Auch in den grösseren Gemeinden ist
durch die verschiedenen Organisationen, welche innerhalb des
Rahmens der preussischen Volksschule möglich sind, namentlich
durch die Einrichtung der Halbtagsschule und der dreiklassigen
Schule mit zwei Lehrern, oder, soweit der herrschende Lehrer¬
mangel dies gestattet, auch durch Schaffung neuer Lehrerstellen
der Ueberfüllung der Klassen seitens der königlichen Regierung
zu Lüneburg in systematischer und erfolgreicher Weise vorgebeugt
worden. Hält man sich an die Normen, welche in dem amtlich¬
statistischen Werk „Das gesammte Volksschulwesen im preussi¬
schen Staate im Jahre 1886“ aufgestellt werden, wonach die
Schülerzahl bei einklassigen Schulen die Zahl 80 und bei zwei-
und mehrklassigen Schulen die Zahl 70 nicht überschreiten soll,
so kommt Klassenüberfüllung und zwar obenein in sehr geringem
Grade im ganzen Kreise nur zweimal vor, in Knesebeck 3 mit 71
Schülern und in Warenholz 1 mit 80 Schülern. Die Theilung
der letzteren Klasse ist inzwischen bereits eingeleitet wor¬
den. Uebrigens lässt sich gar nicht verkennen, dass trotz aller
Vorzüge die getroffenen Auskunftsmittel sich zum Theil doch auch
nur als Nothbehelfe betrachten lassen; denn sowohl die Halbtags¬
schule, als die dreiklassige Schule mit zwei Lehrern leiden an
dem Uebelstand, dass hintereinander zwei verschiedene Alters¬
klassen in demselben Klassenzimmer unterrichtet werden, wobei
es natürlich nicht möglich ist, beiden Abtheilungen die richtige
Grösse der Subsellien zukommen zu lassen, ausserdem aber die
zweite Abtheilung gezwungen ist, die durch mindestens zwei¬
stündigen Unterricht der ersten Abtheilung bereits verdorbene
Luft einzuathmen. Doch wird sich der ideale Zustand, dass jede
Klasse auch ihr eigenes Klassenzimmer besitzen muss, in abseh¬
barer Zeit für die Halbtagsschule nicht erreichen lassen, während
allerdings bei der dreiklassigen Schule mit 2 Lehrern der Bau
eines dritten Klassenzimmers überall gefordert werden müsste
(übrigens bei dem Neubau in Warenholz von der Regierung auch
gefordert worden ist). Auf jedem Fall haben wir mit der hygie¬
nisch sehr erfreulichen Thatsache zu rechnen, dass eigentliche
Klassenüberfüllung im hiesigen Kreise nicht im Entferntesten die
bedenkliche Rolle spielt, wie in anderen Gegenden, beispielsweise
im Kreise Belzig (vid. Gleitsmann 1. c.) oder gar im politi¬
schen Bezirk Teschen, wo nach Fizia 68 Proz. der Volksschulen
mehr als 80 Schüler haben! Die geringe Klassenfrequenz ist
natürlich in erster Linie eine Folge der schwachen, wenig zu¬
nehmenden Bevölkerung und der geringen Kinderzahl (der Kreis
Isenhagen hat auf 1000 Einwohner nur 169 schulpflichtige Kinder
gegen 189 im Staate Preussen). Andererseits hebt aber auch
Friese (Die Volksschule des Reg.-Bez. Lüneburg, Lüneburg 1891)
mit Recht hervor, „dass es unbillig und ungerecht wäre, darüber
die Arbeit und Opfer zu vergessen, denen die Betheiligten sich
64
Dr. Langerhaus.
zur Erzielung normaler Sehulverhältnisse grösstentheils in edler
Bereitwilligkeit unterzogen haben.“
Die Frequenz der einzelnen Klassen zeigt nachstehende
Tabelle:
Schülerzahl
1—10
10—20
20-30
30—40
40—50
50-60
60—70
70—80
Zahl
der Klassen
1
6
8
22
14
10
!
2
l
2
l
Die Form der Schulzimmer betreffend zeigt sich eine grosse
Vorliebe für das quadratförmige Zimmer und zwar nicht nur da,
wo eine sehr geringe Schülerzahl diese Form zweckmässig er¬
scheinen lässt. Bei grossen Klassenzimmern hat aber diese Form
ernste Missstände zur Folge, da selbst bei zweiseitiger Beleuch¬
tung (von links und hinten), welche in solchen Fällen meistens
gewählt wird, die Entstehung eines „todten Winkels“ in der den
Fensterseiten abgewendeten Ecke gar nicht zu vermeiden ist,
in welchem' dumpfige, muffige Beschaffenheit der Luft und die
übrigen Uebelstände mangelhafter Ventilation und Beleuchtung sich
meistens in widerwärtigster Weise kund thun. Am meisten tritt
diese Erscheinung hervor in dem Klassenzimmer Wahrenholz 1,
welches allerdings mit 8,18 und 7,10 Wandlänge das zweitgrösste
Klassenzimmer des Kreises und daher für eine solche Form besonders
ungeeignet ist. Es kommt sogar eine ganze Reihe von „Breitklassen“
vor, bei welchen die Längsaxe, in welcher die Kinder den Lehrer
anblicken, die kürzeste der beiden Flächendimensionen ist. Zum
Theil ist dies die Folge einer vor einigen Jahren angeordneten
Umstellung der Subsellien, durch welche allerwärts der Lichtein-
fall von links, bezw. links und hinten erzielt werden sollte. Es
liess sich dies häufig nicht anders erzielen, als durch Aufstellung
der Bänke parallel mit den Längswänden. Doch auch bei Neu¬
bauten findet sich diese auffallende Vorliebe für die in jeder Be¬
ziehung unpraktische Breitklasse. Beispielsweise zeigt das 1888
vollendete Schulhaus Hankensbüttel 2 in seinem Schulzimmer eine
Länge von 6,35 bei einer Breite von 7,83, so dass die circa 50
Schulkinder auf nur 5 Reihen von je 10 Kindern vertheilt sind!
Die Erscheinung der Breitklasse findet sich im Ganzen bei 18
Zimmern, am Ausgesprochensten in Betzhorn mit 4,3 Länge und
8 m Breite, wobei der fast ausschliesslich von hinten erfolgende
Lichteinfall die ungünstigste Schattenbildung verursacht und der
Lehrer ganz ausser Stande ist, die in Reihen von 13 bis 14 vor
ihm sitzenden Schüler zu übersehen.
Uebermässige Grösse der Schulzimmer, ein Vorkommen, über
welches Gleitsmann vielfach zu klagen hat und welches nach
den Tabellen von Fizia auch im Bezirk Teschen vielfach zu
finden zu sein scheint, ist bei den geschilderten Verhältnissen
unseres Kreises nicht zu erwarten; sie findet sich höchstens in
einem Schulzimmer (Knesebeck 2) mit 10,8 Länge und 6 m Breite,
ln nachstehenden Tabellen sind die Schulzimmer nach Länge und
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc.
65
Breite (unabhängig von der
geordnet.
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1
Flächeninhalt
für 1 Kind
in Qm.
Zahl der
Schulzimmer
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bis
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1,25
bis
1,49
1
Bauminhalt
für 1 Kind
in Knb.-m.
Zahl der
Schulzimmer
Es ergiebt sich aus diesen Tabellen die Thatsache, dass 10
66
Dr. Langerhans.
Schulzimmer = 18,2 Prozent nicht einmal die vorschriftsmässige
Mindest-Höhe von 3 m erreichen und dass 2 Zimmer den Kindern
nicht einmal den Flächenraum von 0,6 Quadratmeter, 4 Zimmer
nicht den Kubikraum von 2 kbm darbieten, was um so ernster auf¬
zufassen ist, als diese Mindestmasse eigentlich für grosse Klassen
von 70—80 Schülern zugeschnitten sind, während bei den kleinen
Klassen grössere Ausmasse verlangt werden müssen, da bei ihnen
ein unverhältnissmässig grosser Theil von dem Ofen, dem Schul¬
schrank, Katheder und ähnlichen Ausrüstungsstücken in Anspruch
genommen wird. Und so ist denn thatsächlich die Zahl derjenigen
Zimmer, welche an Flächenraum und Kubikinhalt nicht den An¬
sprüchen der Hygiene genügen, erheblich grösser. Natürlich sind
es meistens die alten, strohgedeckten Häuser, in welchen der¬
artige Zimmer anzutreffen sind und man findet darin thatsächlich
zuweilen Verhältnisse, welche lebhaft an Gleitsmann’s klassische
Schilderungen erinnern und welche man gesellen haben muss, um
es zu glauben, dass dergleichen überhaupt noch möglich ist! Das
Musterbild einer solchen Schule, wie sie nicht sein soll, findet sich
in Räderloh! Das Schulzimmer mit 3,70 Länge, 4,45 Breite und
2,40 Höhe bietet den 23 Schulkindern nur je 0,72 qm Bodenfläche
und 1,72 cbm Rauminhalt. Die beiden Fenster liegen an der
Rückenwand, so dass das Licht den Kindern diiekt von hinten
auf die Tische fallt und sind so klein, dass das Verhältniss der
Glasfläche zur Bodenfläche nur weniger grösser, als 1:14 ist!
Auf den alten, wackeligen, an den knüppelartigen Rücklehnen
nicht einmal abgehobelten Subsellien von 3,50 m Länge drängen
sich je 8 Kinder zusammen, so dass beim Schreibunterricht sich
mindestens zwei Kinder mit an den Tisch setzen müssen, der dem
Lehrer an Stelle eines Katheders dient. Die Kinder auf der letz¬
ten Bank sitzen mit dem Rücken direkt an der Rückwand, welche
mit ihren undichten Fenstern gegen Wind und Kälte nur sehr
mangelhaften Schutz verleiht. Das Strohdach ist undicht und zum
Ueberfluss ist noch der grösste Theil der Lehrerwohnung und die
Stallung an eine Häuslingsfamilie vermiethet, welche bei Vieh¬
haltung und Dünger-Handhabung und - Aufbewahrung natürlich
nur an ihre eigenen ökonomischen Interessen und nicht an die
Forderungen der Schulhygiene denkt. Das einzige Gute, was ich
an der ganzen Schule gefunden habe, ist ein neues, schönes Ge¬
bäude für Pissoir und Abtritt, welches aber offenbar von den
Schulkindern nicht benutzt wurde! Solche Zustände sind ja er¬
freulicher Weise selten, anscheinend, soweit dies aus den spärlich
vorliegenden Nachrichten zu entnehmen ist, sogar seltener, als an
vielen anderen Orten auf dem platten Lande, immerhin bleibt der
Schulhygiene noch ein recht reiches Arbeitsfeld und es wird noch
mancher Verhandlungen und des ergiebigsten Druckes von Oben
bedürfen, ehe allerwärts mit solchen Verhältnissen aufgeränmt ist!
c. DerFussboden.
Sämmtliche Schulzimmer haben Dielen aus Weichholz, zwischen
welchen meistens breite Fugen klaffen, in denen, namentlich bei
den feucht gelegenen Schulzimmern der hereinfallende Staub und
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 67
der zum Fegen verwendete Sand mit dem Aufwaschwasser einen
widerwärtigen, hygienisch im höchsten Grade bedenklichen Brei
zu bilden ptlegt! Es ist sehr zu beklagen, dass bei Neubauten
diese wichtige Angelegenheit keineswegs die gebührende Beach¬
tung findet, dass nur zu häufig, frisches nicht genügend ausge¬
trocknetes Holz von minderwerthiger Beschaffenheit gewählt wird,
ja dass die Bretter häufig nicht einmal mit Nuth und Feder ver¬
sehen werden, so dass der Stubenstaub direkt in den Füllboden
hineinfällt. Es ist wahrscheinlich, dass die belehrende Thätigkeit
und der persönliche Einfluss des Kreismedizinalbeamten, wenn er
zu wichtigeren Berathungen der Schulvorstände zugezogen würde,
die Wahl eines hygienisch zuverlässigeren Materials bewirken
könnte, namentlich würde in hiesiger Gegend, da die Gemeinden
ausnahmslos Eichenbestände besitzen, ein Fussboden aus Eichen¬
stabholz in Frage kommen. Nothwendig ist aber vor Allem
eine Verfügung, wonach in sämmtlichen Schulzim¬
mern die Fussboden geölt, gefirnisst oder gestrichen
werden müssen, damit an Stelledes verwerflichen
Fegens mit Sand das nasse Aufwischen treten kann.
Bis jetzt ist von den Schul^immern nur ein einziges
(und zwar mit Carbolineum) gestrichen.
Die Wände.
Es ist bereits oben erwähnt, dass zahlreiche Schulhäuser
mehr oder weniger feucht sind, ein Verhalten, welches natürlich
auf die Beschaffenheit der Wände des Schulzimmers von Einfluss
sein muss. Ich habe die betr. Frage nicht bei allen Fragebogen
ausgefüllt, es sind aber ausdrücklich 12 Klassenzimmer als feucht
bezeichnet. Die Wände sind durchweg sauber gehalten, denn sie
werden ausnahmslos alljährlich frisch gestrichen; es ist nur zu
bedauern, dass dabei der Kalkanstrich, der ja im Ganzen sehr
zweckmässig ist, dem Landesbrauch entsprechend, ganz allgemein
ohne jeden Farbenzusatz verwendet wird. Das grelle Weiss ist
natürlich den Augen der Schulkinder ebensowenig zuträglich, wie
denjenigen des Lehrers, auf dessen Augen bei der beliebten zwei¬
seitigen Fensteranordnung so wie so schon gar wenig Rücksicht
genommen wird. Nur 7 Klassenzimmer sind grau, eins braun
gestrichen, alle übrigen haben den grell weissen Anstrich. Eine
Verfügung der Regierung, welche den weissen An¬
strich untersagt und eine leichte Tönung in Grau
oder Braun vorschreibt, ist wünschenswerth.
Holzpaneel, überall zweckmässig, nothwendig aber in allen
feuchten Zimmern und überall da, wo Kinder direkt an Aussen-
wänden sitzen, ist 28 mal vorhanden.
Die Fenster der Schulzimmer.
Einseitigen Lichteinfall besitzen 7 Schulzimmer, während bei
49 Zimmern die Fenster auf zwei Wände vertheilt sind. Von
den ersteren fällt bei sechs das Licht von links, bei einem (Räder¬
loh) von hinten hinein. Die Zimmer mit zweiseitigem Lichteinfall
haben den letzteren sämtlich von links und hinten mit Ausnahme
68
Dr. Langerhans.
des Klassenzimmers Oesingen 2, bei welchem das Licht von rechts
und von links hereinfallt. Uebrigens ist, nach diesem Beispiel zu
schliessen, die in Deutschland herrschende Abneigung gegen diese
in französischen Schulen so verbreitete Fensteranordnung durchaus
berechtigt. Die Schattenbildung beim Schreiben ist sehr störend
und es bilden sich auf der Demonstrationstafel, welche in dem
Volksschulunterricht eine so hervorragende Rolle spielt, sehr grelle,
das Auge stark belästigende Reflexe.
Das Nähere zeigen die Tabellen:
Tabelle VII. Zahl der Fenster.
Zahl der Fenster.
1
2
3
4
5
6
7
Zahl d. Schulzimmer
1
6
18
23
7
—
Tabelle VIII. Richtung der Fenster nach den Himmelsrichtungen,
a) Zimmer mit einseitiger Beleuchtung,
Richtung nach
0.
SO.
s.
sw.
W.
NW.
N.
NO.
Zahl d. Schulzimmer
2 1
1
—
3
1
i
i 1
—
—
b) Zimmer mit zweiseitiger Beleuchtung.
Richtung nach
s. u. 0.
S.u. W.
W. u.N.
1
0. u. N.
!
SO.u.NO.
N. u. S.
Zahl d. Schulzimmer
21
17
7
2
1
1
Tabelle IX. Relative Grösse der Fenster.
Verhältnis der (Tlas-j
fläche z. Rodenfläche 1
Vaj
1
7. 1 7.
./ 1
ho j
7 ..
7,.
Vis!
7.«
7i& 7.«
Bemerk.
Zahl d. Schulzimmer
7
1 9
i
8 j 8
n |
4
4
i
1
1 —
2 Zimm«T
nicht bekt.
Tabelle X. Höhe der Wand unter dem Fenster.
Höhe der Wand in cm
unter dem Fenster
60
bis
69
70
bis
79
80
bis
89
90
bis
99
100
bis
110 j
110
bis
120
Bemerkung.
Zahl d. Sehulzimmer j — j 5
Tabelle XL 1
16
lobe
27
der 1
6 —
Vaud über
2 Zimmer uubekaunt.
dem Fenster.
Höhe der Wand in cm
über dem Fenster j
10
bis
19
20
bis
29
30
bis
39
I 40
! bis
| 49
50
bis
59
00
bis
68
: 70
i bis
79
80
bis
89
Bemerkung.
Zahl d. Schulzimmer
1
5
i 10
13
i 11 i 7
1 3 |
1 1
3
8 Zimmer un¬
bekannt.
Ein erfreuliches Bild ist es nicht, welches sich in diesen
Zahlenreihen entrollt und die Sache wird noch schlimmer dadurch,
dass in 22 Fällen obendrein noch durch benachbarte Gebäude,
herabhängende Weinranken, häufig auch durch von der Hand des
Lehrers kunstvoll gezogene breite und dichte Obstspaliere der an
und für sich schon dürftige Lichteinfall mehr oder weniger beein¬
trächtigt wird. Schon durch Entfernung der Bäume würde häufig
Besserung zu erzielen sein, obgleich eine solche Massregel mit den
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschalen etc. 69
an und für sich berechtigten Liebhabereien der Lehrer meistens
in Kollision gerathen würde. Auf jeden Fall sind wir von der
Erfüllung der Forderung, welche Nussbaum (Zeitschrift für
Schulgesundheitspflege I. 70) aufstellt, dass nämlich auch bei Land¬
schulen die Fensterwand Nichts, als eine grosse Glasfläche dar¬
stellen soll, noch recht weit entfernt und zwar leider auch bei
unseren besten Neubauten. Aber auch nach einer anderen Richtung
hin, in diesem Falle aber erfreulicher Weise, befinden wir uns im
Gegensatz zu Nussbaum, insofern nämlich dieser für die Fenster¬
wand die Nordseite gewählt wissen will. Wie Tab. VIII zeigt, be¬
vorzugen unsere Schulvorstände in ganz hervorragender Weise
die Südseite und ich bin überzeugt, dass in diesem Falle unsere
Landleute, im Gegensatz zu dem gelehrten Techniker, instinktiv
das Richtige gefunden haben. Denn es trifft nicht den Kernpunkt
der Sache, wenn Nussbaum den ganzen Werth der Besonnung
des Schulzimmers in der Ersparung einiger Zentner Steinkohlen
zu finden glaubt! Die Erwärmung ist doch nur einer, und zwar
bei Weitem nicht der wichtigste der vielen Faktoren, welche bei
Werthschätzung der hygienischen Bedeutung des Sonnenlichtes in
Frage kommen, von denen aber ungeachtet der hohen Entwicklung
der modernen Technik nur der kleinste Theil durch Vorrichtungen
der letzteren ersetzt werden kann. Freilich sind wir noch weit
entfernt von einer vollständigen Kenntniss der hygienischen Wirk¬
samkeit des Sonnenlichtes. Wir wissen nicht, wieviel von dem
unzweifelhaft gesundheitsbefördernden Einfluss des Sonnenlichts
auf die chemische Kraft desselben kommt, wieviel seiner Nerven¬
belebenden und Stoffwechsel - anregenden Wirkung zuzuschreiben
ist; auch die oxydirende Wirkung auf die organischen Bestandtheile
verunreinigter Luft wird gerade in Schulstuben sehr in Betracht
zu ziehen sein. Schliesslich aber ist durch neuere Untersuchungen
(Büchner, Centralblatt für Bakteriologie XII) im Anschluss an
eine Beobachtung Robert Koch’s unzweifelnaft festgestellt, dass
eine grosse Zahl von Mikroorganismen, namentlich auch pathogene
Bakterien, Typhus- und Diphtherie-Bazillen in direktem Sonnen¬
licht sehr schnell, auf jeden Fall viel schneller, als in diffusem
Tageslicht abgetödtet werden. Gerade für die Volksschulen, deren
jugendliche Insassen dem Eiuflusse der ansteckenden Krankheiten
in viel höherem Grade ausgesetzt sind, als die durchschnittlich
älteren, von der Hygiene bisher mit besonderer Vorliebe berück¬
sichtigten Jahrgänge der Mittelschüler ist dieser bakterientödtende
Einfluss des Sonnenlichtes von allergrösster Bedeutung. Und wenn
ich das bescheidene Mass von Einwirkung, welches einem preussi-
schen Physikus auf die Handhabung der Schulhygiene gestattet
ist, bisher mit Vorliebe und theil weise auch mit Erfolg aut die
Besserung der Beleuchtungsverhältnisse verwendet habe, so ge¬
schah dies in vollem Bewusstsein, dass es sich hierbei für die
Volksschulen mit ihrem geringen Prozentsatz von Kurzsichtigen
keineswegs hauptsächlich um die Verhütung der Kurzsichtigkeit
handeln kann, welche allerdings in den höheren Schulen mit Recht
die grösste Beachtung findet. Für die Volksschule stehen die
70
Dr. Langerhans: Die gesundheitlichen Verhältnisse etc.
übrigen, gesundheitsfördernden Faktoren des Lichtes und speziell
des Sonnenlichtes in erster Linie und es ist keine Frage, dass
nicht nur die Gesundheit, sondern auch die geistige und körper¬
liche Frische, die Regsamkeit und Lernfreudigkeit der Blinder
sich kräftiger und freudiger in einem hellen, freundlichen und
luftigen Raum entwickeln muss, als in den dumpfen Mauerlöchern
der alten Schulen.
Leider bildet, wie Tab. IX, bei welcher übrigens die Glas¬
fläche im strengsten Sinne, mit Ausschluss von Fenster-Rahmen,
-Kreuzen und dergl. gemessen ist, zeigt, das mangelhaft beleuch¬
tete Zimmer die Regel und zwar ist es viel weniger die geringe
Zahl, als die geringe Grösse der Fenster, welche hieran die
Hauptschuld trägt. Häufig nehmen auch die klotzigen Fenster¬
rahmen, welche die dörflichen Tischler für nothwendig halten,
einen ganz ungebührlich grossen Theil der Fensternische für sich
in Anspruch. Wichtig ist namentlich Tab. XI, aus welcher sich
ergiebt, dass eigentlich nur in einem einzigen Zimmer die Fenster
genügend hoch bis an den Deckensturz hinaufgeführt sind, dass
dagegen beinahe die Hälfte aller Schulzimmer über dem Fenster
eine für den Lichteinfall nicht benutzte Fläche von Vs m un ^
darüber besitzt! So sehr dies zu beklagen ist, so liegt doch ge¬
rade hierin die Handhabe für eine Besserung der Beleuchtungs¬
verhältnisse. Zumal in den Fachwerkgebäuden wäre es leicht
und mit wenig Kosten möglich, die Steinfüllung aus dem Fach
über dem Fenster herauszuschlagen und durch eine grosse Glas¬
scheibe zu ersetzen. Der Effekt würde häufig ein sehr bedeutender
sein, zumal der grössere Winkel, in dem das Oberlicht einfällt,
gerade bei den tiefen Klassen von grösster Bedeutung ist. In
dem neu eingerichteten Klassenzimmer Knesebeck 2 beispielsweise
ist es mir gelungen, durch Eingabe an die Regierung die Be¬
schaffung von Fenstern mit 10 Scheiben an Stelle der bereits
angeschafften 8scheibigen durchzusetzen, wodurch die Glasfläche
um ein Viertheil der ursprünglich beabsichtigten Grösse vermehrt
und das Verhältnis der Glasfläche zur Bodenfläche von 14,1
wenigstens auf 11,27 gehoben wurde — freilich noch wenig
genug für ein erst 1889 neu eingerichtetes Schulzimmer!
Bei der von mir für nothwendig gehaltenen allgemeinen
Schul-Enquete, welche sich auch auf eine ärztliche Revision der
hygienischen Verhältnisse sämmtlicher Schulgebäude zu erstrecken
haben würde, müsste auf die Beleuchtung mit in erster Linie das
Augenmerk gerichtet werden und ich bin überzeugt, dass es durch
Anbringen neuer Fenster, durch Vergrösserung der vorhandenen,
bezw. durch Anbringen von Lichtscheiben über denselben bei
einer sehr grossen Zahl von Schulzimmern ohne erhebliche Kosten
gelingen würde, eine sehr viel hellere Beleuchtung und dadurch
gleichzeitig eine wesentliche Verbesserung der Schulluft und des
gesammten hygienischen Charakters des Zimmers zu erreichen. —
Die Vorhänge, welche bei dem beliebten weissen Kalkan¬
strich und der mit Vorliebe für die Fensterwände gewählten
Sonnenseite zur Milderung allzu grellen Lichtes gar nicht zu ent-
Dr. Richter: Die im Kreise Gross-Wartenberg getroffenen Massregeln etc. 71
behren sind, sind häufig von mangelhafter Beschaffenheit, fehlen
sogar wohl theilweise ganz! Ich habe 10 Zimmer notirt, welche
in dieser Beziehung Mängel erkennen Hessen. —
(Schloss folgt.)
Die im Kreise Gross-Wartenberg getroffenen Massregeln
gegen die Cholera.
Von Kreisphysikus Dr. Richter, Gross - Wartenberg.
Da eine Einschleppung der Cholera in unsern Kreis am
meisten von Seiten Heimkehrender, sogenannter Sachsengänger zu
fürchten war, so wurde:
1. An der Hauptbahnstation des Kreises, d. i. in Gross-
Wartenberg, und zwar etwa in der Mitte zwischen dem ca. zwei
Kilometer von der Stadt abgelegenen Bahnhofe und dieser eine
hölzerne Cholerabaracke für 6 Betten errichtet, welche von
mir so berechnet worden war, dass zur Noth allenfalls 10 Betten
darin Platz finden. Für die nothwendigen Nebenräume — Aerzte-
zimmer, Wäscheraum, Spülraum und Desinfektionskammer — ebenso
für einen besonderen Leichenschuppen ist gesorgt.
2. Für Desinfektionszwecke wurde ein fahrbarer Desin¬
fektionsapparat für strömenden Wasserdampf angeschafft,
welcher vorläufig im Desinfektionsraum der Baracke Platz fand,
später überall im Kreise bei ausbrechenden Epidemien Verwendung
finden wird.
3. Zum Zwecke der Desinfektion wurden endlich im Kreise
Desinfektoren ausgebildet und überallangestellt. Jeder Amts¬
bezirk schlug je einen, grössere Bezirke zwei geeignete Leute
vor. Die drei Städte durften bis je drei Desinfektoren präsentiren.
Die Ausbildung dieser, nach dem erhaltenen Eindruck im
Ganzen geeigneten Leute musste ich selbst der Kostenersparniss
wegen — die Leute erhielten 3 M. Tagegelder und Fuhrkosten-
entschädigung — innerhalb drei Tagen an meinem Wohnort über¬
nehmen. Ich theilte den Unterricht so ein, dass ich an zwei
Tagen das Theoretische vortrug und repetirte, am dritten Tage
im Krankenhause sämmtliche Desinfektionsmittel übungsweise
hersteilen und praktische Uebungen in der Desinfektion von
Krankenräumen vornehmen liess.
Ich hatte die Genugthuung, dass fast sämmtliche der Leute
sich als anstellig und von gutem Begriffsvermögen erwiesen.
Alsdann händigte ich jedem Schüler ein Exemplar einer von
mir ausgearbeiteten Dienst - und Desinfektions - Anweisung ein;
je eines derselben erhielten auch die Herren Amtsvorsteher über¬
sendet.
Nunmehr wurden die ausgebildeten Desinfektoren durch die
Polizeibehörden verpflichtet. —
Für die erste Anschaffung der nöthigen Requisiten, welche
durch die Polizeibehörden überwacht wurde, gab der Kreis eine
Beihülfe von 6 M. pro Kopf der Desinfektoren.
72
Dr. Ascher.
Als Gebühren für Desinfektoren wurden bis auf Weiteres
50 Pf. pro Arbeitsstunde einschl. der zurückzulegenden Wege,
wobei jede angefangene Stunde voll zu rechnen, festgesetzt, als
Mindestbetrag für jede Verrichtung aber 1 M.
Der Kreis behielt sich vor, im Falle der Unbemitteltheit für
Erstattung der Kosten aufzukommen.
Jeder Amtsvorstand erhielt aus Kreismitteln 1 Karton mit
je 6 Röhrchen Anger er Pastillen zu 10 Stück ä 0,5 gr Sublimat
mit der Weisung, für jede Desinfektion eines Krankenraumes dem
beauftragten Desinfektor ein Röhrchen auszuhändigen.
Dieser hat gleich bei Ankunft an Ort und Stelle sämmtliche
10 Pastillen vorschriftsmässig zu lösen und nach stattgehabter
Desinfektion alle Reste in den Abort zu giessen.
Zur Herstellung von Kalkmilch hat jeder Amtsbezirk 25 Ctr.
Stückkalk zu beschaffen.
Unser Kreis ist einer der ärmsten der Monarchie. Dennoch
war jetzt die nöthige Bereitwilligkeit da und dieselbe musste
benutzt werden.
Von den Desinfektoren waren je 5 Freistellenbauern und
Häusler, 4 Schuhmacher, je 3 Barbiere bezw. Heildiener, Tischler
und Fleischbeschauer, davon 2 gleichzeitig Gastwirthe und je
1 Schneider, Gartenarbeiter, Gemeindevorsteher, Amtsbote, Stell¬
macher und emer. Lehrer, zusammen also 29 Desinfektoren auf
ca. 50000 Kreisinsassen.
Ich mache mir keine Illusionen Über die Vortrefflichkeit
dieser Massregeln, sie tragen zum Theil die Spuren der Eile, aber
es ist zunächst etwas geschaffen, worauf sich in Zukunft mit der
nöthigen Zähigkeit weiter bauen lassen wird.
Desinfektion auf dem Lande.
Von Dr. Ascher, Kreiswandarzt in Bomst.
Die Theilnahme an dem Weyl’schen Desinfektionskursus in
Berlin im Oktober v. J., sowie der Versuch, ähnliche Einrichtungen
wie dort auch bei uns auf dem Lande zu schaffen, sind die Ver¬
anlassung für die folgenden Zeilen geworden.
Das Wichtigste bei einer ansteckenden Krankheit wird in
Bezug auf deren Verbreitung sein, dass während der Krankheit
selbst die Ausbreitung möglichst beschränkt wird. Ich sage
„möglichst“, denn auf dem Lande ist die Absperrung eines Patienten
deshalb meist unmöglich, weil die Leute nicht in ein Krankenhaus
wollen oder können, und die ganze Familie, — wenigstens bei
uns im Osten — oft in einem einzigen Raume und in zwei ge¬
meinschaftlichen Betten haust. Der Arzt kommt gewöhnlich erst,
wenn die Krankheit auf ihrem Höhepunkt ist und bedrohliche Er¬
scheinungen gemacht hat; dann ist aber anzunehmen, dass alles,
was infektionsfähig war, auch bereits infizirt ist. Nichtsdesto¬
weniger müssen wir alles, was mit dem Genesenen oder Gestor¬
benen in Berührung gekommen ist, reinigen und desinfiziren lassen.
Desinfektion anf dem Lande.
73
Dazu ist im Allgemeinen zu zählen: Bett- und Leibwäsche, die
Betten, Nachtgeschirre, Speigläser etc., ferner der Fussboden und
seit Cornet’s Untersuchungen über Tuberkulose auch Wände und
Decke, kurz, das ganze Krankenzimmer, nicht zu vergessen end¬
lich, den Genesenen selbst. Für letzteren genügt ein warmes
Seifenbad — auf dem Lande allerdings meist ein frommer Wunsch.
Wird das Krankenzimmer den Vorschriften der Berliner Desinfek¬
tionsanweisung nach desinfizirt, so ist als Bedingung autzustellen,
dass die Desinfektion innerhalb eines Tages vollendet ist, weil
man auf längere Zeit namentlich ärmere Angehörige kaum von der
Benutzung der noch nicht desinfizirten Betten und Kleidungsstücke
des Patienten zurückhalten kann. Zu beanspruchen ist ferner,
dass das desinfizirte Zimmer am Abend wieder bewohnbar ist, es
sei denn, dass mehrere Räume zu Gebote stehen. Bei der Des¬
infektion einer Wohnung in Berlin erzählte uns auf unsere Frage
die Inhaberin, die erst vor Kurzem eine Desinfektion erlebt hatte,
dass das Zimmer Abends in Folge der Feuchtigkeit nicht bezogen
werden konnte. In der That ist auch wenig wahrscheinlich, dass
eine so grosse Wassermenge, wie sie zur Desinfektion nach Ber¬
liner Muster gebraucht wird, von Mittag bis Abend selbst durch
Heizen entfernt werden kann, ausgenommen vielleicht durch mehr¬
fach aufgestellte Koaksöfen etc. oder im Hochsommer. Dass aber
die Leute ein noch feuchtes Zimmer beziehen, dürfen wir unter
keinen Umständen zugeben, sonst hätten wir auch kein Recht,
baupolizeiliche Vorschriften über Beziehen von Neubauten etc. zu
verlangen. Und bei der Desinfektion ist es nicht allein die Feuch¬
tigkeit, sondern auch der unangenehme Karbolgeruch, der berück¬
sichtigt werden muss. Kommen diese Missstände aber schon in
Berlin bei glatten Wänden und glattem Boden vor, um wieviel¬
mehr wird dies erst bei Lehm-Wänden und -Fussboden der
Fall sein.
Man wird mir nun vielleicht erwidern, dass wir uns mit der
Desinfektion dessen, was mit dem Patienten und dessen Auswurf in
unmittelbare Berührung gekommen ist, begnügen können. Das
festzustellen, ist aber unmöglich; denn bis wir den Leuten bei-
bringen, nicht auf den Fussboden zu spucken, namentlich, wenn
es sie im Halse kratzt, darüber wird noch manche Zeit ver¬
gehen. Wollen wir wirklich die Desinfektion auf dem Lande ein¬
führen, wo die Wohlhabenheit geringer und andererseits die Aus¬
führung der Desinfektion schwieriger und kostspieliger ist, so
müssen wir auch mit gutem Gewissen einen irgendwie sicheren
Erfolg versprechen können, und das ist nur möglich, wenn wir
versuchen, das möglichst Beste einzuführen.
Zur Durchführung der Desinfektion nach Berliner Muster
wird es in erster Linie auf die Beschaffung eines Desinfektions-
Apparates für strömenden Dampf ankommen. Was für ein Apparat
gewählt wird, ist ziemlich gleichgültig; die billigsten und als voll¬
kommen bewährt gefundenen sind zur Zeit die Kröne-Comet’-
schen aus der Fabrik von Senking in Hildesheim (Kostenpreis:
180—400 Mark, soweit mir bekannt). Für die ländlichen Verhält-
74
Dr. Ascher: Desinfektion auf dem Lande.
nisse genügt ein Apparat, der so gross ist, dass ein Federbett
hineingeht, also mit einem Raum von 50 : 80 cm. Matratzen kom¬
men hier selten vor, und wer solche besitzt, hat auch die Mittel,
sie in einer näheren grösseren Stadt desinfiziren zu lassen. Die
Frage, ob stationärer oder transportabler Apparat wird sich nach
lokalen Verhältnissen beantworten lassen. Nur muss es als unstatt¬
haft angesehen werden, die infizirten Sachen „gelegentlich“, wie
Matthes 1 ) meint, zur Desinfektionsanstalt zu senden; denn wir
müssen eben als Norm festhalten, dass die gesammte Desinfektion
innerhalb eines Tages bewerkstelligt ist. Ebenso unzulässig er¬
scheint der Vorschlag von Matthes, diese Sachen in mit 5°/ 0
Karbollösung getränkten Säcken zu verschicken. Zwischen den
Fäden des Sackes können die Bazillen sehr bequem heraus, und
die bloss in den Fäden enthaltene Karbollösung, die bald ver-
flüohtigt ist, hält sie ebensowenig zurück. Der Transport muss
also keimdicht geschehen, denn sonst richtet so ein Bauer, der vor
jeder Schenke hält, mit seinem Bakterien - Transport mehr Schaden
an, als wenn die Sachen zu Hause ausgewaschen würden. In Bezug
auf die Verpackung der Sachen müsste daher in den Kreisen, wo
stationäre Apparate sind, die Absendung in festen, mit Blech aus¬
geschlagenen Kisten vorgeschrieben und in jeder Gemeinde der¬
artige Kisten beschafft werden; denn auf Abholung der Sachen
durch besondere Wagen und von dazu geschultem Personal, wie
in Berlin, müssen wir auf dem Lande von vornherein verzichten.
Ist für die Desinfektion der transportablen Sachen genügend
gesorgt, so handelt es sich weiter darum: Wer soll die Woh¬
nung desinfiziren? Entschieden ein dazu vorgebildeter Mann;
denn einer Diakonissin, wie jüngst vorgeschlagen, können wir eine
Wohnungs-Desinfektion nach Berliner Muster nicht zumuthen.
Ausser dem eigentlichen „Desinfektor“ braucht man aber
noch einen Mann oder auch eine Frau, die ihm dabei hilft. Zum
Desinfektor wird man im Allgemeinen den Heildiener, wo sich ein
solcher vorfindet, ausbilden lassen. Dass es einer eigentlichen Aus¬
bildung bedarf, wird Niemand bezweifeln, der die Desinfektion einer
Wohnung praktisch ausgeführt oder unter seiner Leitung hat aus¬
führen lassen; man begreift oft nicht, wo all’ der Schmutz in den
Wohnungen herkommt und andererseits verursacht in den besseren
Wohnungen die Desinfektion der geschnitzten Möbel, der Spiegel
u. s. w. oft die grössten Schwierigkeiten. — Ist kein Heildiener
im Ort, so wird man auch bildungsfähige Elemente schon finden,
wenn nur die Bezahlung eine entsprechende wird. Die letztere
Frage ist nicht zu unterschätzen, namentlich, da man schwerlich
die ländlichen Desinfektoren als Beamte anstellen, sondern ihnen
voraussichtlich eine ähnliche Stellung anweisen wird, wie den Heb¬
ammen, also staatliche Kontrolle, aber privater Erwerb. Das Bei¬
spiel mit den Hebammen hinkt jedoch in zweifacher Beziehung:
in Bezug auf die Ausrüstung und in Bezug auf die Bezahlung.
Die Ausrüstung ist wesentlich theurer — diejenigen der Berliner
') Zeitschrift für Uedizinalbeamte, Heft 19, 1892.
Aas Versammlungen and Vereinen.
75
Desinfektoren als Muster angenommen — und muss ausserdem
auch für die Hilfsperson vorhanden sein; und bei der Bezahlung
fragt es sich, wer die Kosten trägt. Denn dass ein Bauer die
Hebamme bezahlt, die seine Frau entbindet, das leuchtet ihm ein,
dass er aber den Desinfektor bezahlen soll, nachdem sein Kind
gesund geworden oder gestorben ist, — also bloss, damit Andere
sich nicht anstecken — das wird man ihm schwer plausibel machen.
Dazu kommt, dass, wenn erst einmal die Kosten und die Umstände
einer Desinfektion bekannt werden, die Leute noch mehr als bis¬
her Krankheiten geheim zu halten versuchen werden. Hier also
muss ein grösserer Verband, Kreis oder Provinz eingreifen, und
auch die Kosten für Ausbildung und Ausrüstung der Desinfek¬
toren übernehmen, wogegen sich diese verpflichten müssen, die
Desinfektionen bei Armen unentgeltlich vorzunehmen und, was
die Hauptsache ist, eine gewisse Zeit an einem bestimmten Orte
zu bleiben.
Die Frage nach der Anzahl der Desinfektoren wird sich
ebenfalls nur nach lokalen Verhältnissen beantworten lassen. Als
erstrebenswerth muss gelten, dass womöglich in jeder grösseren
Landgemeinde oder wenigstens in jedem Orte, wo sich ein Arzt
oder eine Apotheke befindet, auch mindestens ein Desinfektor ist,
damit die Kosten der Desinfektion nicht noch durch grössere Reisen
des Desinfektors unnöthig erhöht und dieser auch möglichst früh
am Tage mit der Desinfektion beginnen und sie stets bis zum
Abend vollenden kann.
Wir kommen also zu folgenden Schlüssen:
1) Die Desinfektion nach der Berliner Desinfektions - Anwei¬
sung ist auf dem Lande wünschenswerth und mit geringen Abän¬
derungen durchführbar.
2) Es ist auch hier zu verlangen, dass dieselbe innerhalb
eines Tages vollendet und, wo kein zweiter Wohnraum vorhanden
ist, der desinfizirte Raum am Abend wieder beziehbar ist.
3) Die infizirten Sachen müssen in demselben Zeitraum des-
inflzirt und getrocknet werden.
4) Die Desinfektion muss von einem geprüften, ausgebildeten
Desinfektor vorgenommen werden.
5) Der Transport infizirter Sachen nach einem Desinfektions-
Apparat darf nur in keimdichter Verpackung erfolgen, also am
besten in Kisten, die mit einem Blech ausgeschlagen sind.
Aus Versammlungen und Vereinen.
Bericht über die Versammlung; der Physiker des Herzog-
thums Braunsehweig;.
In der am 10. Dezember v. J. in Börssam abgehaltenen Versammlung
deaaVereins der Physiker des Herzogthums Braunsehweig wurden zunächst die
vorgelegten Statuten, die mit denjenigen des Preussischen Medizinalbeamten-
Vereins im Wesentlichen übereinstimmen, berathen und genehmigt. Den wei¬
teren Gegenstand der Tagesordnung bildete eine Eingabe an das Herzogliche
Obersanitäts-Kollegium, betreffend Einrichtung von Fortbildungkursen,
die damit begründet wurde, dass die Lehre von den hygienischen Untersuchungs-
76
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
methoden in der jüngsten Zeit eine bedeutende Ausdehnung genommen habe nnd
nicht nur auf dem Gebiete der Bakteriologie, sondern auch in allen übrigen Dis¬
ziplinen der Hygiene eine Reihe neuerer Verfahren entdeckt und ausgebildet
seien, deren Kenntniss für die Medizinalbeamten sowohl in ihrem eigenen ab
im öffentlichen Interesse unerlässlich sei. Im Königreich Preussen habe man
daher mit Erfolg hygienische Fortbildungskurse für sämmtliche Physiker und
Regierungs- und Medizinalräthe eingerichtet; ein Gleiches sei auch für die Phy¬
siker des Herzogthums Braunschweig erforderlich, wenn diese ihre Pflichten als
Gesundheitsbeamte in vollkommener Webe als bbher genügen sollten.
Die anwesenden Physiker erklärten sich mit der Eingabe einverstanden,
in der ausserdem die Erwartung ausgesprochen war, dass bei Einrichtung solcher
Kurse den tbeilnehmenden Physikern Tagegelder und Reisekosten sowie eine
Entschädigung für Stellvertretung in ihrer Praxis gewährt werden möge.
Den Schluss der Berathung bildete eine kurze Mittheilung des Physikus
Dr. de Bra über die gerichtsärztlichen Gebühren. Von einer ein¬
gehenden Besprechung dieser Frage wurde mit Rücksicht darauf, dass ein dar¬
auf bezüglicher Antrag bereits der Aerztekammer Vorliegt, Abstand genommen.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
A. Gerichtliche Medizin.
L’obsession criminelle morbide par le Dr. Magnan und l’obsession
de meurtre par le Dr. Lada me, zwei auf dem letzten Anthropologen - Kon¬
gress in Brüssel gehaltene, von Dr. Lewald-Liebenburg übersetzte und in
den Nummern 3—6 des Irrenfreundes veröffentlichte Vorträge beschäftigten sich
mit dem forensisch hochwichtigen Gebiet der Zwangsvorstellungen bezw. Zwangs¬
handlungen.
Die Ausführungen Magnan’s kommen zu dem Satze, dass Zwangsvor¬
stellungen bei gebtig normalen Menschen nicht zu Zwangshandlungen führen,
weil hier die konstrastirenden Gegenvorstellungen zur Geltung kommen. Bei
hereditär zu Psychosen Disponirten, also bei Degenerirten ist letzteres trotz leb¬
haften inneren Kampfes oft nicht der Fall, und deshalb das Zur - Thatwerden
des Gedankens, die impulsive Handlung. Magnan unterscheidet 4 Reihen von
Zwangsvorstellungen:
1. solche, die zum Morde treiben, 2. die auf Eigenthumsverletzung ge¬
richteten Zwangsvorstellungen (Kleptomanie resp. Kleptophobie), 3. Zwangsvor¬
stellungen in Bezug aufs Feuer (Pyromanie resp. -phobie) und 4. das auf den
Geschlechtssinn gerichtete Zwangsdenken — Erotomanie, Priapismus, konträre
Sexualempfindung, Bestialitäten und platonische Narrheiten. — Man sieht, dass
ein so hervorragender Psychiater, wie Magnan — vergl. z. B. dessen neueste
Arbeit: Psychiatrische Vorlesungen, übersetzt von P. J. Möbius 1 ) — sich doch
noch nicht ganz frei machen kann von der Monomanienlehre der älteren franzö¬
sischen Autoren.
Ladame, dessen Vortrag im Wesentlichen ältere und neue Kasuistik
bringt, sondert aus den mit Mordtrieb verbundenen Geisteskrankkeiten diejenigen
ab, in denen primordial auftauchende oder durch aufregende Lektüre, durch das
Ansehen von Hinrichtungen u. drgl. geweckte Zwangsvorstellungen zum Morde
trei ben. Auch er unterscheidet solche Kranke, deren Zwangsvorstellungen theoretisch
bleiben und solche, welehe dem Drange zur That erliegen, also das Verbrechen
begehen; rechnet aber alle Fälle von der in Frage stehenden Zwangsvorstellung
zum hereditären Irrsinn und betont den wichtigen Umstand, dass sich die Zwangs¬
vorstellung zu morden bei Hereditarien manchmal ganz isolirt findet.
Dr. Kühn-Uslar.
B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Die Beziehungen der Fliegen zur Verbreitung der Cholera. Aus
dem Institute der allgemeinen Pathologie zu Kiew. Von Dr. J. Sawtschenko,
Assistenten am Institute. Zentralblatt f. Bakteriologie, XU, Nr. 25.
l ) Leipzig 1892; Verlag von Georg Thieme; besprochen in Nr. S. 21 und
22 (S. 590) dieser Zeitschrift, Jahrg. 1892.
Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften.
77
Es ist durch Untersuchungen verschiedener Forscher festgestellt worden,
dass Cholera-Bakterien, welche an der Körperoberfläche, namentlich an den
Füssen von Fliegen hangen geblieben sind, stundenlang ihre Lebensfähigkeit
und Uebertragbarkeit behalten können. Verfasser ist nun der Meinung, dass
hieraus eine wesentliche Gefahr für die Cholera - Uebertragung kaum entstehen
könnte, da beim Herumschärmen der Fliegen im Freien die Austrocknung und
die Wirkung der Sonnenstrahlen für rasche Abtödtung der Bazillen Sorge tragen
würden. Für viel bedenklicher hält er die Möglichkeit, dass die Fliegen Cholera-
Bazillen mit der Nahrung aufnehmen und in lebensfähigem Zustand mit dem
Kothe wieder abgeben könnten. Die Details der Versuchsanordnung, die Art
und Weise, wie Verfasser seine Fliegen durch Laufenlassen auf mit Sublimat
getränktem Fliesspapier zur Desinfizirung veranlasste und wie er sie zur Ab¬
gabe ihres Kothes gerade zu dem von ihm beliebten Zeitpunkt zu bringen
wusste, sind recht spasshaft zu lesen; die Ergebnisse sind aber sehr ernsthaft!
Denn es ergab sich, dass die Fliegen nach Fütterung mit Cholera - Entleerungen
und mit Reinkulturen längere Zeit hindurch — bis zu 4 Tagen — lebensfähige
und durch das Thierexperiment als vollviruleut erwiesene Cholera - Bazillen
entleerten. Verfasser ist sogar geneigt, eine lebhafte Vermehrung der aufge¬
nommenen Keime innerhalb des Fliegendarmes anzunehmen und der Thätigkeit
der Fliegen einen ganz hervorragenden und in diesem Umfang ohne Widerspruch
wohl kaum allgemein anzuerkennende Bedeutung für die Entstehung von Cholera-
Epidemien zuzuweisen. Erwähnung verdient übrigens, dass die gewöhnliche
Stubenfliege Cholera-Exkremente nur ungern aufnahm, so dass die Versuche,
soweit es sich um Cholera-Exkremente bezw. um den Darminhalt von Cholera-
Leichen handelt, nicht mit der Stubenfliege, sondern mit einer andern Art, nach
Verfassers wenig exakter Beschreibung vermuthlich der blauen Schmeissfliege
(dem sog. Brummer), Calliphora vomitoria angestellt sind. Im Darm dieser
Fliegen fand sich übrigens neben dem Cholera - Bacillus häufig noch ein anderer,
für Meerschweinchen und Tauben ebenfalls pathogener Vibrio, dessen Kulturen
mit dem Vibrio Metschnikoff grosse Aehnlichkeit haben.
Dr. Langerhans -Hankensbtittel.
Zur Aetiologie von Masern, Pocken, Scharlach, Syphilis. Von
Dr. P. Döhle, Privatdozenten und 1. Assistenten am pathologischen Institut
zu Kiel. Zentralblatt f. Bakteriologie, XII, Nr. 25.
Verfasser glaubt die lange gesuchten Erreger der Masern, des Scharlachs,
der Pocken (incl. Vaccine) und der Syphilis gefunden zu haben in Gestalt klein¬
ster, frei im Blute lebender und sich daselbst lebhaft bewegender Protozoen.
Die beigegebenen Abbildungen, welche leider nur nach Zeichnungen statt nach
Photograinmeu angefertigt sind, zeigen die angeblichen Protozoen in Gestalt
glänzender Körner, zum Theil umgeben von einem helleren Hof, häufig auch mit
Geissein versehen. Auch zu mehreren zeigen sich die glänzenden Körper,
welche in diesem Fall wohl als Sporen zu deuten sein würden, innerhalb eines
solchen Hofes.
Nach Verfassers Mittheilungen ist ihm auch die künstliche Züchtung seiner
Organismen geglückt — eine Angabe von der allergrössten Bedeutung, nicht nur
weil dadurch das Studium dieser Wesen und die Sicherstellung ihrer Bedeutung
iür die fraglichen Krankheiten ganz wesentlich erleichtert würde, sondern vor
Allem, weil die gelungene Züchtung der schmarotzenden Protozoen (allenfalls
mit Ausnahme der Dysenterie-Amöbe von Kartulis) ausserhalb des Thier¬
köpers noch Niemand geglückt ist, und gerade aus diesem Mangel erklären sich die
vielfältigen Lücken in unserer Kenntniss dieser Thierklasse, welche für die
Aetiologie der Infektionskrankheiten stetig an Bedeutung gewinut. Man darf
daher den in Aussicht gestellten weiteren Veröffentlichungen Döhle’s mit einer
gewissen Spannung entgegen sehen. Ders.
Die Infektionskrankheiten in Oesterreich wahrend des Jahres
1891. Oestcrreichisches Sanitätswesen, Beilage zu Nr 52, 1892.
Aus den vorliegenden Berichten lässt sich entnehmen, dass der Anzeige¬
pflicht beim Auftreten von Infektionskrankheiten in Oesterreich im Jahre 1891
besser entsprochen ist, als in den Vorjahren (vgl. Ref. in Nr. 8 der Zeitschr.,
1892, S. 205); immerhin bleibt in dieser Hinsicht besonders in den Landge¬
meinden noch viel zu wünschen übrig und wird voraussichtlich erst mit völliger
78
Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften.
Durchführung der Organisation des Gemeinde - Sanitätsdienstes in den im Reichs¬
lande vertretenen Königreichen und Ländern eine gründliche Besserung jenes
Missstandes erreicht werden.
Im Vergleich zu den Vorjahren hat eine bedeutend geringere Ausbreitung
bei Masern und Unterleibstyphus stattgefunden; dagegen eine Zunahme
bei Blattern, Schar lach und Diphtherie. Die Zahl der Blatter n kranken
ist von 24412 auf 28873, also um 18,' °/ 0 gestiegen. Von 100 Erkrankten
starben 16,9 °/ 0 , und zwar von den Geimpften 9,4 °/ 0 , von den Ungeimpften 29,3 °/ 0
gegen 14,7 °/ 0 . bezw. 7,7 und 24,8 °/ 0 im Vorjahre. Auf Tausend Einwohner
kommen 1,21 Erkrankungs- und 0,2 Todesfälle an Blattern, gegen 1,02 bezw.
0,55 im Jahre 1890; diese Ziffern wurden besonders in Böhmen (mit 2,01 und
0,32 °/ 00 ) erheblich überschritten, während Oberösterreich, Kärnthen, Triest,
Görz und Gradiska, Istrien und Vorarlberg von der Seuche fast vollständig ver¬
schont geblieben sind. Die verhältnissmässig grosse Verbreitung der Blattern
in Oesterreich erklärt sich daraus, dass von je 100 Lebendgeborenen alljährlich
noch der vierte Theil ungeimpft bleibt und somit eine grosse Anzahl gegen
Blattern nicht geschützter Personen vorhanden ist. Auffallend erscheint es nur,
dass z. B. in Böhmen, Mähren und Galizien durchschnittlich in den Jahren 1881
bis 1890 77 bezw. 79,5 # / 0 und 85 # / 0 der lebendgeborenen Kinder geimpft wurden
und hier trotzdem die meisten Blattern • Erkrankungen vorkamen, während in
den von der Krankheit gar nicht oder fast gar nicht betroffenen Ländern Vorarl¬
berg und Triest die Zahl der geimpften Kinder während desselben Zeitraums
durchschnittlich nur 59.4 bezw. 45,5 °/ 0 betrug.
Auch bei dem Scharlach hat im Jahre 1891 nicht nur die Zahl der
Bezirke und Gemeinden, in denen solche Erkrankungen zur Anzeige gelangten,
sondern auch die Zahl der angezeigten Fälle eine erhebliche Zunahme gegenüber
dem Vorjahre erfahren, besonders in der Bukowina, Kärnthen, Galizien, Salz¬
burg und Istrien, wo auch die Mortalität im Verhältniss zur Einwohnerzahl am
höchsten war: 5,0, 2,63, 2,46, 2,18 und 2,14 °l 00 gegenüber 1,71 °/ 00 im Gesammt-
staate. Von 40985 Erkrankten starben 8577 = 29,9°/ 0 ; die höchste Sterblich¬
keitsziffer hatte die Bukowina (28,5 °/ 0 ). die niedrigste Vorarlberg (4,3 °/ 0 ), das
auch eine sehr niedrige Erkrankungsziffer zeigte und in dieser Hinsicht nur
noch von Dalmatien übertroffen wurde.
Ebenso wie früher scheint auch im Jahre 1891 der Anzeigepflicht bei
Krupp und Diphtherie am wenigsten entsprochen zu sein. Angemeldet
sind im ganzen Staate nur 25478 Erkrankungen mit 10263 Todesfällen, das
sind auf 100<> Einwohner 1,06 Erkrankungen und 0,43 Todesfälle gegenüber 0,84
und 0,36 °/„ 0 im Vorjahre. Die Zahl der infizirten Bezirke hat sich hier gegen
früher wenig verändert; diejenige der infizirten Gemeinden ist aber ebenso wie
die Zahl der Erkrankungen gestiegen. Die höchsten Erkrankungs- und Sterb¬
lichkeitsziffern zeigten auch hier wieder die Bukowina (2,56 und 1,41 °/ 00 ), die
niedrigsten Vorarlberg (0,19 und 0,6 # / oo ) und Dalmatien (0,17 und 0,61 °/ 00 ).
Die Masern, welche im Vorjahre besonders mehr in den östlich uud im
Centrum gelegenen Ländern aufgetreten waren, haben sich im Jahre 1891 mehr
nach Norden, Westen und Süden ausgebreitet; die Gcsammtzahl der Erkrankungen
(168086) ist aber erheblich zurückgegangen (von 9,6 auf 5,l°/ 00 der Einwohner),
dagegen die Mortalität gestiegen; denn von 100 Masernkranken starben 5,8
gegenüber nur 5,1 °/ 0 im Vorjahre. Die meisten Erkrankungsfälle kamen in
Salzburg (38,1 °/ 00 der Bevölkerung) vor; auch in Istrien, Vorarlberg, Steiermark
und Tyrol stieg die Morbidität über 10,0 °/ 00 der Bevölkerung, während sie in
Dalmatien unter 2°/ 0? zurückblieb (1,92 °/ 00 ).
Der Abdominaltyphus tritt in einer grossen Zahl von Bezirken
endemisch auf, besonders in der Bukowina und in Galizien, wo ebenso wie in
den Vorjahren die Typhus-Morbidität am höchsten war: 2,03 und 1,99°/ 00 der
Bevölkerung gegenüber nur 0,86 °/ 00 in allen Ländern zusammen. Von den Er¬
krankten sind 15,4 °/ 0 gestorben, fast genau soviel als im Jahre 1890 (15,5 °/ 0 ).
Der Flecktyphus ist nur in Böhmen und besonders in Galizien in
einer grösseren Anzahl von Bezirken aufgetreten, in allen übrigen Ländern ist
er aber seltener geworden. Die Gesammtzahl der Erkrankten betrug 4422 mit
518 Todesfällen = 11,6 °/ 0 , davon entfallen auf Galizien allein 4303 Erkran¬
kungen mit 483 Todesfällen.
Auch die epidemische Ruhr ist nur in Galizien und in der Bukowina
in grösserer Ausbreitung aufgetreten (23174 bezw. 3130 Erkrankungen mit
Besprechungen. 79
3255 = 14,6 °/ 0 und 324 = 26,3°/ 0 Todesfällen), in den anderen Ländern da¬
gegen nur sporadisch.
Von den Erkrankungen am Kindbettfieber scheint nur ein verschwin¬
dend kleiner Theil (1153 Erkrankungen mit 675 = 57,7 °/„ Todesfällen) zur An¬
zeige gekommen zu sein; denn danach würde nur ungefähr 1 Erkrankung auf
1000 Geburten kommen, jedenfalls eine recht niedrige Ziffer. Rpd.
Bewegung der Bevölkerung in Frankreich im Jahre 1891. Nach
dem soeben veröffentlichten amtlichen Berichte betrug die Zahl der Eheschliessungen
in Frankreich im Jahre 1891: 285458, die der Geburten 866377 (im Vorjahre
nur 838059), die der Todesfälle 876882. Im Vergleich zum Vorjahre haben die
Eheschliessungen um 16126, die Geburten um 28318 und die Todesfälle um 317
zagenommen. Es zeigt sich somit eine Verbesserung. Während die Zahl der
Todesfälle fast die nämliche geblieben ist, sind die Eheschliessungen um 6%,
die Geburten um 3,37 °/ 0 gestiegen. Die Gesammtbevölkerung Frankreichs betrug
im Jahre 1891 38348122 Personen.
Besprechungen.
Dr. Adolf Lesser, a. o. Professor und gerichtlicher Stadtphysikus
in Breslau: Atlas der gerichtlichen Medizin. Zweite
Abtheilung. Achtzehn Tafeln in Chromolithographie mit er¬
läuterndem Text. Breslau 1889—1892. Verlag der schlesischen
Buchdruckerei, Kunst- und Verlagsbuchhandlung (vorm. S.
Schottländer). Folio, 211 Seiten.
Die zweite Abtheilnng des Lesser’ sehen Atlas der gerichtlichen Medizin,
deren erste Lieferung bereits vor mehreren Jahren erschienen ist, liegt nunmehr
vollendet vor und hat Verfasser damit ein Werk geschaffen, das ebenso wie der
erste, 1883/84 herausgegebene, die Vergiftungen behandelnde Theil seines Atlas
als unübertroffen in der medizinischen Litteratur dastehen dürfte. Auf 18
chromolithographischen Tafeln sind die für den Gerichtsarzt besonders wichtigen
traumatischen Verletzungen, die bedeutungsvollsten Befunde bei Neugeborenen
und die wesentlichsten Leichenerscheinungen in zahlreichen Abbildungen darge¬
stellt, die in Bezug auf Naturtreue, Feinheit der Zeichnung und Kolorirung als
wahre Kunstwerke bezeichnet werden müssen. Dabei hat der Verfasser mit
dem ihm zu Gebote stehenden reichhaltigem Beobachtungsmateriale die be¬
treffenden Objekte mit grosser Sorgfalt ausgewählt, um dem Gerichtsarzte ein
klares Bild nicht nur von den alltäglichen, sondern auch von den selteneren Be¬
funden bei derartigen gerichtlichen Obduktionen zu geben.
In den ersten neun Tafeln werden besonders charakteristische Fälle von
Verletzungen der Haut, des Gehirns und Rückenmarks, der Schädelknochen, des
Halses und Kehlkopfes (besonders in Folge von Strangulation), der Brust- und
Bauchorgane (durch Ueberfahrenwerden) zur Anschauung gebracht, in den darauf¬
folgenden Tafeln (10 u. 11) die Gebärmutter- und Scheidenverletzungen durch
kriminellen Abort. Die Tafeln 12 und 13 zeigen die forensisch wichtigen Be¬
funde bei Neugeborenen (Veränderungen des kindlichen Schädels bei der Geburt,
luftleere und lufthaltige Lungen mit und ohne post mortale Veränderungen,
Pauckenhöhlen - Inhalt, Kindspech, Knochenkern in der Oberschenkel - Epiphyse
u. s. w.); während die Tafeln 14—17 lediglich den kadaverösen Veränderungen
der verschiedenen körperlichen Gewebe und Organe gewidmet sind. Den Schluss
des Atlas bilden auf Tafel 18 vorzügliche Abbildungen mikroskopischer Prä¬
parate von rothen Blutkörperchen des Menschen und anderer Säugethiere, von
Häminkrystallen, Seiden-, Baumwollen-, Hanf- und Jutefasern, von Menschen-
und Thierhaaren.
Der die Abbildungen begleitende Text beschränkt sich keineswegs auf
eine Erklärung und Beschreibung der dargestellten Objekte, sondern bringt neben
zahlreichen kasuistischen und statistischen Mittheilungen hochinteressante, zum
Theil völlig neue Gesichtspunkte bietende wissenschaftliche Untersuchungen und
Beobachtungen des Verfassers über die hier in Betracht kommenden gerichts¬
ärztlichen Fragen. Insonderheit mögen hier die Abschnitte über Strangulation
und Verletzungen des Kehlkopfs, über kriminellen Abort, über die forensische
Bedeutung der Lungen-, Magen- und Darmprobe, über den Tod durch Er-
80
Tagesnachrichten.
trinken n. s. w. erwähnt werden, die den betreffenden Abschnitten der besten
Handbücher der gerichtlichen Medizin nach jeder Richtung hin mindestens gleich*
stehen. Dadurch wird aber der Atlas besonders für die weniger beschäftigten
Gerichtsärzte um so werthvoiler; denn er bietet ihnen in seinen vortrefflichen
Abbildungen nicht nur den besten Ersatz für die etwa fehlende eigene An¬
schauung, sondern die in dem Texte gegebenen kasuistischen Beleuchtungen werden
ihnen auch die richtige Beurtheilung selten vorkommender forensischer Fälle
wesentlich erleichtern.
Wenn beim Erscheinen des ersten Theils des Besser’sehen Atlas die
Gerichtsärzte von kompetenter Seite beglückwünscht wurden ob des grossen
Vorzuges, allen anderen Fachgenossen gegenüber das beste und zuverlässigste
Bilderwerk zu besitzen, so dürfte dies im Hinblick auf den vorliegenden zweiten
Theil des Atlas nicht minder gerechtfertigt sein. Jedenfalls sind die Gerichts¬
ärzte dem Verfasser für sein verdienstvolles Werk den grössten Dank schuldig;
auch die Verlagsbuchhandlung verdient denselben; denn sie hat keine Kosten
gescheut, um den Atlas so vollkommen als möglich herzustellen. Möge derselbe
daher in den Kreisen der Fachgenossen die weiteste Verbreitung finden! Der
Preis (90 Mark) muss mit Rücksicht auf die grossen Vorzüge wie auf die vor¬
zügliche Ausstattung des Werkes als ein niedriger bezeichnet werden.
Tagesnachrichten.
Die zweite Lesung des Entwurfs eines Reichsseuchengesetzes, welche
im Reichsamte des Innern unter Mitwirkung von Kommissarien der betheiligten
Centralstellen des Reiches und Preussens stattgefunden hat, ist am Mittwoch zum
Abschluss gebracht worden. Es darf nunmehr als sicher angenommen werden,
dass Anfangs Februar der Bundesrath mit dem Entwürfe befasst werden wird.
Bei der durch die Vorgänge der letzten Tage wiederum ernst in Erinnerung ge¬
brachten Dringlichkeit der Sache liegt es in der Absicht, die Erledigung der
gesetzgeberischen Arfgabe jedenfalls noch in der laufenden Tagung
des Reichstages herbeizuführen.
In der am 14. Januar d. J. stattgehabten Sitzung der Aerztekammer
der Provinz Brandenburg und des Stadtkreises Berlin ist betreffs
der Forderung, die Entmündigung und Unterbringung der Geistes¬
kranken durch eine Laienkommission entscheiden zu lassen, einstimmig dem
Vorschläge der Referenten Geh. San.-Rath Dr. Liersch und Prof. Dr. Mendel
gemäss folgende Resolution gefasst worden: Die Aerztekammer legt öffentlich
Protest ein gegen den in eine Anzahl von Zeitungen ergangenen Aufruf, wonach
es im Interesse der Kranken erstrebenswerth sei, dass in Zukunft eine Laien¬
kommission über die Annahme Geisteskranker und die Entmündigung zu ent¬
scheiden habe; und beauftragt ihren Vorstand, diese Angelegenheit dem Aus¬
schuss der preussischen Aerztekammer zu unterbreiten, um ein gemeinsames
Vorgehen gegen jene Bestrebungen hervorzuheben.
Cholera. Ueber das explosionsartige Auftreten der Cholera in der
Provinzial-Irrenanstalt in N i e 11 e b e n bei Halle a. d. Saale ist bereits an anderer
Stelle (s. S. 58) berichtet worden. In Hamburg sind in der Woche vom
8.—14. Januar 13 Erkrankungen und 2 Todesfälle (nicht 4 bezw. 1 wie in der
vorhergehenden Nummer angegeben war) vorgekommen, in der Woche vom 15.
bis 21. Januar: 7 Erkrankungen und 2 Todesfälle. In Altona betrug die
Zahl der Erkrankungen während desselben Zeitraums 2; in der darauffolgenden
Woche vom 22.—28. Januar sind aber 5 neue Erkrankungen und 2 Todesfälle
hinzugekommen. Auch in der Gemeinde Schulau (Kreis Pinneberg) wurden
in der Woche vom 15.—21. Januar 3 Erkrankungen mit 1 Sterbefall festgestellt.
In Oesterreich hat sich die Cholera dem Laufe des Zbruz entlang und
zwar in der Richtung nach Süden zu etwas ausgebreitet. In dem hier liegenden
Bezirk Borszczow (Galizien) sind 12 Erkrankungen und 4 Todesfälle in
dem Zeitraum vom 1.—14. Januar zur amtlichen Kenntniss gelangt. Auch in
P e s t ist die Zahl der Erkrankungen wieder gestiegen und betrug in der Woche vom
8.—14. Jan.: 4 mit 2 Todesfällen, in derjenigen vom 16.—24.: 16 mit 5 Todesfällen.
In Russland scheint die Seuche besonders in den westlichen Gouverne¬
ments dem Erlöschen nahe zu sein.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.-u. Med.-Rath i. Minden LW.
J. 0. C. Bros*, Buohdrockerel, Mlndtn.
6. Jahrg.
Zeitschrift
1893.
für
MEDIZINALBEAMTE
. Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMÜND
San.-Ruth u.gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in Minden
und
Dr. WILH. SANDER
Medizinal rat h und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer's mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserat«, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlang and Rad. Mosse
entgegen.
No. 4.
Emeheint am 1. und 15. Jeden Monats.
Preis j&hrlleh 10 Mark.
15. Febr.
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen
und der Schulkinder des Kreises Isenhagen.
Von Dr. Max Langerhans, Kreisphysikus in Hankensbüttel.
(Fortsetzung.)
f. Heizung.
Sämmtliche Schulklassen haben Ofenheizung. Einen eisernen
Ofen hat nur eine Schule; alle anderen haben die landesübliche
Kombination von Kachel- und Eisen-Ofen, derart, dass sich auf
einem eisernen Kasten ein thönemer Aulbau, meist mit ein paar
Durchsichten, erhebt. Und zwar finden sich von dem oben ge¬
schilderten altväterlichen Urbild an alle möglichen Abschattirungen
bis zum Mantelofen und anderen mit Regulirung, Luftzuführung
und Füllvorrichtung versehenen Erzeugnissen moderner Ofen-
Technik. Das grösste Schulzimmer, Knesebeck 2, hat zwei der¬
artige Oefen. Die Heizung geschieht in der Hälfte der Fälle vom
Schulzimmer aus, sonst von aussen, von der Diele oder von der
Küche her. Man ist meist geneigt, diese Einrichtung für
etwas Unvollkommenes zu halten. Ich bin nicht dieser Meinung;
denn die Ventilation durch die ansaugende Kraft des brennenden
Ofenfeuers kommt für die Schule schon aus dem Grunde nicht
zur Geltung, dass bei gehöriger Heizung die Flamme bereits nieder¬
gebrannt und die Ofenthür zugeschraubt sein soll, wenn die Kinder
in die Schule kommen und die Kohlensäure-Produktion und Luftver¬
schlechterung in Gang kommt. Auf jeden Fall ist der Vortheil
der Ofen-Ventilation ein so unbedeutender, dass er gar nicht in
Betracht kommen kann gegen die Nachtheile, welche die tägliche,
ohne grossartige Staubentwicklung im Zimmer gar nicht mögliche
Ausräumung der bedeutenden Aschenmengen, welche die landes¬
übliche Heizung mit Torf und Kiefernbuschholz liefert, nothwendig
mit sich bringt. Heizung mit Steinkohlen findet sich nur in sieben
82
Dr. Langerhans.
Klassen. Die bedeutende Verteuerung, welche der Achsentrans-
port für dieses Brennmaterial in unserem, von der Eisenbahn noch
nicht berührten Kreise bedingt, giebt wohl hierfür und für die
langsame Einführung des sonst für Schulen so zweckmässigen
Eisenofens die Erklärung ab.
Die Oefen werden ausnahmslos alljährlich gereinigt und ver¬
schmiert, waren auch sonst gut im Stande gehalten, was bei der
unverwüstlichen Bauart der alten Oefen freilich kein Kunststück
ist. Nur in drei Fällen wurde Klage darüber geführt, dass die
Oefen rauchen. Mehrere Zimmer, namentlich in den feuchteren
Lagen des Kreises sind schlecht zu erwärmen. Ein grosser
Uebelstand ist der, dass in einigen Zimmern die Kinder sehr nahe
— bis zu 30 cm — an dem Ofen sitzen, ohne durch einen Ofen¬
schirm, der nur in drei Zimmern vorhanden ist, gegen die strahlende
Wärme Schutz zu finden. Thermometer sind in allen Schulzimmern
vorhanden.
g. Ventilation.
Keinerlei VentilationsVorrichtung ist in vier Schulzimmern:
Wunderbüttel, Oerrel, Langwedel - Lingwedel und Alt-Isenhagen
vorhanden! Alle anderen haben, zum Theil etwas ursprüngliche
Lüftungs - Vorrichtungen. Sehr verbreitet sind Blechröhren von
15 bis 20 cm Durchmesser, welche, innen häufig mit einer Klappe
zum Schliessen versehen, unter der Decke vom Zimmer aus in’s
Freie führen. Meistens sind zwei bis drei solcher Köhren auf
zwei Wände vertheilt; zuweilen finden sich ähnlich konstruirte
Holzkasten oder thönerne Drainröhren, welche die Kommunikation
zwischen Zimmer- und Aussenluft herstellen. In einem Falle
fand ich die Ventilationsröhren sorgfältig zugestopft! Luftabzug
durch ein Loch in der Mitte der Stubenecke findet sich in fünf
Zimmern. Achtmal ist eine Ventilationseinrichtung, so wie sie in
den „Erläuterungen zu den fünf Entwürfen für einfache
Schulhäuser“ empfohlen wird, in Verbindung mit der Heizungs¬
anlage eingerichtet worden und bewährt sich recht gut. Es muss aber
doch betont werden, dass die Achtsamkeit der Lehrer in viel
höherem Grade für Reinheit der Schulluft Gewähr leistet, als die
schönste Lüftungsanlage und dass ganz gewöhnlich die älteren
Lehrer auf ausgiebiges Oeffnen der Fenster — was schliesslich
doch die Hauptsache bleibt — nicht annähernd ein solches Gewicht
legen, wie die jüngere Generation, denen auf dem Seminar in er¬
freulichster Weise das Bedürfniss nach reiner Luft anerzogen ist.
Untersuchungen der Schulluft nach der Pettenkofer’schen
Methode habe ich nur in drei Klassen in Wittingen und Hankens-
büttel angestellt. Die Ergebnisse weichen in keiner Beziehung
von dem anderwärts auch Gefundenen ab und ich kann von ihrer
Veröffentlichung um so eher Abstand nehmen, als solche einmalige
Beobachtungen sehr von Zufälligkeiten, Temperaturdifferenzen
zwischen Aussen- und Innenluft und dergl. abhängen und daher
einen sicheren Rückschluss auf gute oder schlechte hygienische
Beschaffenheit der Schulzimmer nicht ohne Weiteres zulassen.
Ich habe sodann Versuche gemacht mit dem von Wolpert kon-
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 83
struirten und von Wolpert selbst und Anderen (Tischler,
Fizia) mehr oder weniger warm empfohlenen Luftprüfer. Ich
kann aber dies Instrument, wo wissenschaftliche Genauigkeit in
Frage kommt, in keiner Weise empfehlen; es ist eine für Laien
sehr interessante und auch unterrichtende, wissenschaftlich ange¬
hauchte Spielerei, auf deren Resultate aber, wie wiederholte Ver¬
suche in demselben Zimmer oder der Vergleich mit den Ergeb¬
nissen der Pettenkofer’sehen Methode zeigen, keinerlei Ver¬
lass ist!
h. Subsellien.
Neue Subsellien mit veränderlicher Distanz haben nur die
fünf Schulklassen der Stadt Wittingen und zwei Dorfschulen; alle
anderen haben unveränderliche Distanz und zwar natürlich sämmt-
lich Plusdistanz. Ich habe mich der Mühe unterzogen, die sämrat-
lichen Maas^e aller Subsellien zu ermitteln. Es ist eine unfrucht¬
bare Arbeit und ich halte es für vollständig überflüssig, die Maasse
dieser alten, weder nach festen Prinzipien, noch nach irgend wel¬
cher Kenntniss der Maassverhältnisse des kindlichen Körpers,
sondern lediglich nach dem Gutdünken irgend eines Dorftischlers,
häufig aus den • vorhandenen Brettern noch älterer Bänke und
Tische recht und schlecht zusammengeschlagenen Subsellien, im
Einzelnen anzuführen! Es mag genügen, dass die meisten in allen
Dimensionen zu gross sind, dass namentlich die Distanz in einzel¬
nen Klassen ganz unzulässig hohe Werthe — bis zu 24 cm! —
erreicht und dass auf den wenigsten Bänken eine ungezwungene
natürliche Körperstellung beim Schreiben möglich ist. Ich lege
nun der Subsellienfrage für die ländliche Volksschule mit der ge¬
ringen Zahl der Schreibstunden nicht annähernd einen so hervor¬
ragenden Werth bei, wie für höhere Schulen; ich halte es
für übertrieben, wenn man mit Rücksichtslosigkeit
von allen Schulen die sofortige Beschaffung von Sub¬
sellien neueren Systems verlangen wollte, denn es
giebt wichtigere und dringlichere hygienische Auf¬
gaben zu lösen. Ich halte auch eine unverrückbare Plus¬
distanz von einigen cm, wie beispielsweise bei der preussischen
„Normal-Schulbank“ nicht für durchaus verwerflich. Aber selbst
mit all diesen Konzessionen und mit Herabschraubung der An¬
sprüche auf das denkbar bescheidenste Maass habe ich doch in
meinen Tabellen die Subsellien von 44 Prozent aller Schulklassen
als „schlecht“ bezeichnen müssen! Es lässt sich leider nicht ver¬
kennen, dass wir in der „Subsellienfrage“ etwas zurückgeblieben
sind und dass die Volksschulen anderer Länder, namentlich Sach¬
sens, Oesterreichs und der Schweiz in Beseitigung der alten, un¬
brauchbaren Subsellien ein viel schnelleres Tempo eingeschlagen
haben und bei Neuanschaffungen viel weitergehende Anforderungen
zu erfüllen haben, als die preussische Schulverwaltung für
nöthig hält.
Uebrigens würde ein verhältnissmässig grosser Theil der un¬
zweckmässigen Schulbänke durch geringe Abänderungen in brauch¬
baren Zustand zu versetzen sein, wenn dem Kreismedizinalbeamten
84
Dr. Langerhans.
ein grösserer und vor Allem unmittelbarer Einfluss auf die Schul¬
hygiene zustande. Denn bei der jetzigen Einrichtung, wo die
Anordnungen der Regierung erst auf dem Umweg durch den
Schulvorstand dem ausflihrenden Handwerker zukommen, wird dem
letzteren der Kernpunkt, auf den es bei einer solchen Reparatur
ankommt, überhaupt gar nicht klar, so dass die wunderlichsten
Missverständnisse und Missgriffe Vorkommen, welche bei persön¬
licher Besprechung mit dem Kreisphysikus leicht zu vermeiden
wären. —
i. Reinlichkeit der Schulzimmer.
Ein eigentlich schmutziges Schulzimmer habe ich
nur einmal angetroffen; bei allen übrigen war innerhalb der¬
jenigen Grenzen, welche von der Schulaufsichtsbehörde verlangt wer¬
den, für Reinlichkeit gesorgt worden. Ich muss mich hierbei auf das¬
jenige beziehen, welches in dem Kapitel „Fussboden“ gesagt worden
ist und nochmals darauf zurückkommen, dass der Schulstaub und der
ihm anhaftende, ganz eigenthümliche Geruch erst aufhören werden,
integrirende Bestandtheile der „Schulluft“ zu sein, wenn durch
Streichen oder Oelen der Fussboden ein tägliches nasses Auf¬
wischen derselben ermöglicht sein wird. Allerdings wird diese,
sowie jede andere Art gründlicher Reinigung durch die Fussbretter,
mit denen so viele Schulbänke versehen sind, wesentlich erschwert.
Erwähnung verdient noch, dass auf und unter dem Schulschrank
sich häufig der reinigenden Thätigkeit des Besens unzugängliche
Stellen finden, wo der Staub ein ganz ungestörtes Dasein führt
und zu dichten flockigen Massen zusammengeballt liegen bleibt! Bei
Neubauten wird man daher zweckmässig auf Anlage eines Wand¬
schrankes Bedacht zu nehmen haben. —
Mit der Reinlichkeit in engstem Zusammenhang steht die in
letzter Zeit so viel erörterte „Spucknapffrage“. Es ist durch
Verordnung der Königlichen Regierung bestimmt worden, dass in
jeder Schulstube Spucknäpfe aufzustellen sind, welche täglich -zu
reinigen und mit frischem Wasser anzufüllen sind. Es sind aber
zum Theil recht unzweckmässige Modelle, auf welchen die, des
ärztlichen Beirathes entbehrenden Schulvorstände verfallen sind.
Man findet gewöhnliche, flache Porzellanspucknäpfe, die gar nicht
hinausgetragen werden können, ohne dass der Träger mit dem
Finger in die Flüssigkeit hineingeräth und auch wohl einen Theil
des Inhaltes verschüttet oder grosse, kugelabschnittförmige Näpfe
aus starkem Glase, die allerdings bequem zu entleeren und leicht
zu reinigen sind, dafür aber, wenn zufällig dagegengestossen wird,
leicht umkippen; man findet auch zierlich geschweifte Milchglas¬
vasen mit so enger Oeffnung, dass das Hineinspucken gar keine
leichte Aufgabe, eine ordnungsmässige Reinigung aber ganz un¬
möglich ist! Als Kuriosum sei erwähnt, dass in der Schule in
Emmen die drei als Spucknäpfe dienenden flachen Glasbecken in
eisernen Gestellen ruhend im Mittelgang in der Höhe der Tisch¬
platten angebracht waren, wo sie einen ganz widerwärtigen An¬
blick darboten und den Knaben zu allerhand Spielereien den will-
kommsten Anlass boten, nebenbei aber natürlich zu Besudelungen
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc.
85
der Kleider des Lehrers und der Schüler führen mussten. Ich
kann nicht sagen, ob diese widersinnige Einrichtung inzwischen
beseitigt worden ist.
Die Spucknäpfe wurden in einigen wenigen Fällen ohne jede
Füllung, in anderen Fällen mit der beliebten Sandtüllung vorge¬
funden, bei Weitem die meisten waren vorschriftsmässig mit Wasser
angefüllt. Uebrigens waren die Lehrer von der neuen Einrichtung
durchweg recht wenig erbaut — nicht mit Unrecht, denn ich
glaube nicht, dass dieselbe, so wie sie faktisch zur Ausführung
gelangt ist, lange bestehen bleiben kann. Die Spucknäpfe werden
natürlich nur äusserst selten benutzt; denn im Interesse der Schul¬
zucht wird es wohl kein Lehrer dulden, dass jeder Knabe, dem es
in den Sinn kommt, aufstehen und seinen Platz verlassen darf, um
einmal in den Spucknapf zu spucken. Es kann sich immer nur
um diejenigen Schüler handeln, welche an langwierigen Husten
und Auswurf leiden. Die Zahl solcher Kinder ist aber, wie ich
festgestellt habe, eine so verschwindend geringe, dass es sehr
leicht durchführbar, für die Verhütung der Tuberkulose sehr viel
wirksamer und dem Interesse der Patienten am meisten dienlich
sein würde, wenn dieselben einem „Schularzt“ vorgeführt und falls
sie tuberkulös befunden werden sollten, vom Schulbesuch ausge¬
schlossen würden. Dasselbe gilt — mutatis mutandis — von der
Tuberkulose verdächtigen Lehrern, deren zweifelhafter Gesundheits¬
zustand einem achtsamen Lokal - Schulinspektor doch nicht unbe¬
kannt sein kann. Die Absicht, durch die Aufstellung wasserge¬
füllter Spucknäpfe der Tuberkulose entgegenzuwirken, kann, bei
der Art und Weise, wie diese Massregel seitens der Schulvorstände
ausgeführt worden ist, ihren Zweck nicht erreichen, muss vielmehr
zu unerträglichen Missständen führen. Denn selbst bei strengster
Handhabung der Schulzucht kann es nicht ausbleiben, dass in die
wassergefüllten Näpfe, die auf dem Fussboden einer stark besuch¬
ten Schulklasse autgestellt sind, gelegentlich Kirschkerne, sonstige
Obstreste, Brotkrümel, Papierschnitzel und dergl. absichtlich oder
unabsichtlich hineingerathen und dass einmal der eine oder der
andere Napf überschwappt, umkippt oder auch zertreten wird.
Man muss es selbst gesehen haben, wie diese Näpfe auf einer
stets durchfeuchteten Stelle des Fussbodens stehen, wie sie im
Hochsommer von Insekten umschwärmt werden und von zappelnden
Fliegen und Fliegen - Kadavern wimmeln, um sich zu sagen, dass
im Laufe der Jahre der Fussboden an den Standorten der Spuck¬
näpfe nothwendig eine nichts weniger als hygienische Beschaffen¬
heit nothwendig annehmen muss! Will man die Schulstuben mit
Spucknäpfen ausstatten, was, schon des Beispiels wegen, ganz
zweckmässig sein mag, so sind dazu Gläser von der Form der
Lazareth - Speigläser, aus ästhetischen Gründen von dunkler Farbe,
auf jeden Fall aber mit einem Deckel versehen zu wählen und
ihnen ein Platz auf Konsolen an der Wand, wie in einigen öffent¬
lichen Gebäuden anzuweisen. Auf jeden Fall zeigt auch
diese Angelegenheit, dass es nicht möglich ist, hy¬
gienische Massregeln für die Volksschule lediglich
86
Dr. Langerhans.
durch Verordnungen von oben herab in wirksamer
Weise zur Ausführung zu bringen, dass vielmehr
solche Massregeln, wenn die Art und Weise ihrer
Ausführung nicht von sachkundiger Seite und zwar an
Ort und Stelle überwacht wird, in den meisten Fällen
ihren Zweck verfehlen, ja sogar häufig das Gegentheil
des Beabsichtigten erreichen werden.
k. Nebenbenutzung der Schulzimmer.
Im Kirchspiel Brome findet sich vielfach die Einrichtung, dass
der Lehrer Sonntags im Schulzimmer eine Andacht abzuhalten
hat, welche namentlich von den älteren Leuten, welche die weiten
Wege zum Kirchdorf scheuen, zahlreich besucht zu werden pflegt.
Es ist gewiss anerkennenswerth, dass in dieser Weise für das
religiöse Bedürfniss der streng kirchlich gesinnten Bevölkerung
Sorge getragen wird, umsomehr, als diese Einrichtung wesentlich
den Gebrechlichen und Kranken zu Gute kommt. Es muss aber
doch hervorgehoben werden, dass der Benutzung der Schulzimmer
zu diesem Zwecke ernste hygienische Bedenken entgegenstehen.
Es ist schon nicht gleichgültig, dass der an und für sich knapp
genug bemessene freie Raum in einem Schulzimmer durch die
Bänke, welche für die Theilnehmer der Sonntagsandachten be¬
stimmt sind, noch mehr geschmälert wird. Viel wichtiger aber
ist es, dass alle Bemühungen der Lehrer, durch Fernhalten der¬
jenigen Kinder, in deren Häusern ansteckende Krankheiten herr¬
schen, der Weiter Verbreitung dieser Krankheiten entgegenzu¬
wirken, nothwendig scheitern müssen, wenn die Eltern der kranken
Kinder Sonntags auf denselben Bänken Platz nehmen, welche am
nächsten Tage von den Schulkindern benutzt werden sollen! Und,
wenn es auch ganz unbedenklich ist, wenn altersschwache Leute,
Emphysematiker und dergl. Sonntags eine Stunde in der Schulstube
sitzen, so gilt dies doch nicht in gleicher Weise von den Schwind¬
süchtigen, von denen doch anzunehmen ist, dass sie in den letzten
Monaten ihres Lebens die regelmässigsten Besucher dieser An¬
dachten sein werden. Als ein noch viel bedenklicherer und unbe¬
dingt der Abhülfe bedürfender Missbrauch muss es aber bezeichnet
werden, dass an einem Orte sogar die Leichenandachten in der
Schulstube abgehalten werden, so dass die Wände der Schulstube
als befremdlichen Schmuck die Todtenkränze tragen!! Wir be¬
sitzen in der Provinz Hannover eine Verordnung des Königlichen
Konsistoriums vom Jahre 1884, worin die Leichenbegleitung durch
die Schulkinder bei ansteckenden Krankheiten verboten wird, um
die Schulkinder vor dem Betreten des Sterbehauses und vor Be¬
rührung mit den Angehörigen des Verstorbenen zu behüten —
gewiss sehr zweckmässig; aber diese Vorsichtsmassregeln können
keinerlei Wirkung haben, wenn das ganze Trauergefolge im Schul¬
zimmer zusammen kommt! Die ganze Einrichtung, dass diese
Sonntags - Andachten, auf deren Beibehaltung die Bevölkerung
allerdings wohl grosses Gewicht legen dürfte, in den Schulstuben
stattfinden, ist mit Forderungen der Schulhygiene unvereinbar.
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 87
Das Wünschenswertheste wäre es ohne Frage, wenn irgend
welche andere Benutzung der Schulzimmer, als zum Unterricht
überhaupt nicht stattfände. Denn die Untersuchungen der Schul¬
luft liefern den Beweis, dass die ausgiebigste Anwendung der
künstlichen und natürlichen Ventilation, selbst mit thunlichstem
Offenhalten von Thüren und Fenstern während der ganzen schul¬
freien Zeit bei der baulichen Beschaffenheit der meisten Zimmer
nur eben ausreicht, um bis zum Wiederbeginn des Unterrichts
eine leidliche Reinheit der Luft herzustellen. Dieser für die Ge¬
sundheit der Schulkinder so wichtige Reinigungsprozess muss aber
durch jede Nebenbenutzung unterbrochen werden. Trotzdem ist
eine solche vielfach nicht zu vermeiden; namentlich ist für den so
wichtigen Fortbildungsunterricht für die Handwerkslehrlinge,
welcher an den grösseren Orten zweimal wöchentlich in den Abend¬
stunden stattfindet, kaum ein anderes Lokal zu finden. Auch die
Uebungen dörflicher Gesangvereine werden meist, und mit Recht,
in den Schulstuben abgehalten. Bedenklicher ist es jedenfalls, dass
verhältnissmässig viele Schulstuben als Impflokale* benutzt werden.
Da aber der Impfarzt in den meisten Fällen nur zwischen Gast¬
stube und Schulstube zu w r ählen hat, so wird Jeder, der mit den
hygienischen Schattenseiten dörflicher Gaststuben bekannt ist, der
Wahl der Schulstube den Vorzug geben und es wird Sache des
Impfarztes und der Organe der Sanitätspolizei sein, den unleug¬
baren Gefahren einer solchen Benutzung der Schulzimmer durch
umsichtige Thätigkeit vorzubeugen. —
Hervorgehoben sei schliesslich noch, dass bei zu dürftiger
Beschaffenheit der Lehrerwohnung nicht nur der Lehrer bei seinen
scliriftlichen Arbeiten, sondern auch die Lehrerfrau mit einem
Theil ihrer wirtschaftlichen Thätigkeit, Wäsche-Plätten und dergl.
gern auf die Schulstube tibergreift und dass aus diesem Grunde
eine den jetzigen Verhältnissen des Lehrerstandes angemessene
Beschaffenheit der Lehrerwohnungen als eine notwendige Forde¬
rung der Schulhygiene bezeichnet werden muss. —
Trinkwasser.
46 Schulhäuser besitzen einen Brunnen, zum Theil allerdings
in Gemeinschaft mit anderen Häusern. 4 Schulhäuser, und zwar
ausschliesslich solche, bei denen die Anlage eines Brunnens auf
grosse Schwierigkeiten stossen würde, sind auf die Benutzung
fremder Brunnen angewiesen. In Steinhorst endlich wird das
Wasser des Lachteflusses benutzt. Die Beschaffenheit der Brunnen
ist sehr verschieden. Die ältesten Brunnen bestehen aus einem
Kessel, der aus Feldsteinen ohne jedes Bindemittel zusammengefügt
ist und aus dem das Wasser mittelst der bekannten Wippe oder
bei tieferem Wasserstande mittelst einer Winde heraus befördert
wird. Man findet ausserdem aus Sandsteinplatten zusammengefügte,
oder aus Backsteinen gemauerte, neuerdings mit Vorliebe aus
Zementringen bestehende Brunnenkessel, daneben auch einige
Abessynier. Zum Verdecken eines Brunnens und Anlage einer
Pumpe können sich die Schulvorstände in einer unbegreiflichen,
88
Dr. Laugerhans.
hartnäckigen Vorliebe für die, jeder Verunreinigung so leicht zu¬
gängigen offenen Brunnen, meist nur schwer entschliessen. Die
Trinkwasserverhältnisse, welche ich durch eine sehr grosse Anzahl
chemischer und bakteriologischer Untersuchungen studirt habe,
können innerhalb des Rahmens dieser Arbeit nur in ganz allge¬
meinen Umrissen gekennzeichnet werden; denn die Güte eines
Trinkwassers hängt nicht in erster Linie von der baulichen Ein¬
richtung und Unterhaltung des Brunnens ab, sondern in viel höhe¬
rem Grade von den gesummten Untergrunds Verhältnissen. Diese
sind durchweg günstig auf dem Haiderücken, wo das Grundwasser
durchschnittlich recht tief (bis zu 20 m) in reinem, grobkörnigen
Sande steht, sehr ungünstig dagegen in den Thälern der Ise und
der Ohra, wo eine mächtige Schicht blauen Thones von spärlichen
diluvialen Lehm- und Kiesschichten und einem überaus ungünstigen,
von Schlick- und Moor-Bildungen durchsetzten, an organischen
Stoffen und Eisenoxyd reichen Alluvium bedeckt ist, in welchem
der Grundwasserstand ein so hoher ist, dass bei Brunnenbauten
schon nach welligen Spatenstichen das Wasser von allen Seiten
hervorquillt. Unter diesen Umständen ist es überaus schwierig,
gutes Trinkwasser zu gewinnen und man darf an die chemische
Zusammensetzung desselben nicht zu hohe Ansprüche machen.
Denn ein Gehalt an organischen Substanzen, an Ammoniak und an
Chloriden, welcher auf dem Haiderücken auf eine ganz grobe Ver¬
unreinigung des Brunnens, vermuthlich auf einen direkten Jauche¬
zufluss hindeuten würde, findet sich, namentlich in der Ise-Niede-
rung ganz gewöhnlich, selbst bei sehr gut gehaltenen Brunnen.
Andererseits üben doch auch die Bauart und die Art und Weise der
Unterhaltung der Brunnen einen mächtigen Einfluss auf die Be¬
schaffenheit des Wassers aus und in Folge dessen liefern die Schul¬
brunnen, auf deren Instandhaltung die Schulvorstände sel¬
ten erhebliches Gewicht legen, ganz gewöhnlich das
schlechteste Wasser im Dorfe. Diese Thatsache veranlasste
mich, im Jahre 1890 in dem an die Regierung einzuliefernden Jahres¬
bericht 10 Schulen namhaft zu machen, deren Brunnen ungeniessbares
Wasser lieferten, wodurch die Königliche Regierung sich veranlasst
sah, mich mit Vorschlägen zu beauftragen, wie dem abzuhelfen sei.
Ich muss es mit Dank anerkennen, dass die Regierung sich meinen
Vorschlägen, welche sich theils auf Reinigungs- und Herstellungs¬
arbeiten, theils auf den Bau neuer Brunnen bezogen, fast durchweg
anschloss und die Durchführung derselben den betr. Schulgemeinden
auferlegte. Leider war der Erfolg nicht allerwärts der gewünschte
und zwar aus dem Grunde, dass dem Kreisphysikus die Möglich¬
keit fehlt, die Schulvorstände bei solchen Ausführungen anzuleiten,
bezw. zu beaufsichtigen! Beispielsweise stand im Dorf Schöne¬
wörde, welches im Ganzen an sehr ungünstigen Wasserverhält¬
nissen leidet, der Brunnen der Schule gegenüber auf einer tiefge¬
legenen Wiese in einer alten, zugewachsenen und verschütteten
Flussrinne, wo der Wasserstand so hoch war, dass das Wasser
aus dem offenen Brunnen einfach mittelst Handeimers herausge¬
schöpft wurde. An der sehr schlechten Beschaffenheit des Wassers
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 89
war also vor Allem die ungünstige Lage des Brunnens Schuld
und ich hatte demgemäss Bau eines neuen Brunnens beantragt.
Das geschah denn auch; aber der neue Brunnen fand seinen Platz
an derselben Stelle und liefert nun, nachdem durch den Abbruch
des alten und den Bau des neuen Brunnens die schlick- und
moorhaltigen Schichten der alten Flussrinne gründlichst durchein¬
ander gerührt sind, ein Wasser, welches viel schlechter ist, als
vorher, vollständig undurchsichtig, von dicken Flocken durchsetzt
und dunkelbraun, wie ziemlich starker, schwarzer Kaffee. Ich
habe nunmehr probeweise einen Berckefeld’sehen Kieselguhr-
filter dort aufgestellt, der wenigstens klar durchsichtiges, wenn
auch gelblich gefärbtes, ganz appetitliches Wasser liefert. Die
grösseren Modelle dieser so brauchbaren Filter, wie sie Bercke¬
feld liefert, würden demnach ausgedehntere Anwendung verdienen.
In Wahrenholz hat sich die Schulgemeinde beim Neubau der zweiten
Schule endlich zu der von mir bisher vergeblich beantragten Tief¬
bohrung entschlossen und der Erfolg wird zeigen, ob unter der
blauen Thonschicht, deren bedeutende Mächtigkeit allerdings durch
eine vergebliche Bohrung an anderem Orte des Kreises festgestellt
worden ist, trinkbares Wasser zu finden ist. Sollte dies der Fall
sein, so würden auch in anderen Orten die Gemeinden zur Vornahme
von Tietbohrungen zu veranlassen sein. Auf jeden Fall würde
die Besserung der Trinkwasserverhältnisse für den mit den geolo¬
gischen und hydrographischen Verhältnissen des Kreises vertrauten
Medizinalbeamten ein sehr dankbares Arbeitsfeld sein, dessen
Früchte nicht nur der Schuljugend, sondern des gegebenen Bei¬
spiels wegen, der gesammten Bevölkerung zu Gute kommen wür¬
den, wenn nicht durch die Mängel der bestehenden Medizinal-
Organisation dem Medizinalbeamten nach allen Richtungen hin die
Hände gebunden wären.
Eine Anzahl von Missständen, welche dadurch erwachsen,
dass die Misthaufen oder Jauchegruben in zu grosser Nähe der
Brunnen angelegt sind, würden bei geregelter ärztlicher Schulauf¬
sicht sehr schnell verschwinden. —
Wünschenswerth ist es, dass das Trinkwasser den Kindern
leicht zugänglich gemacht wird, wozu sich am besten ein in der
Eingangshalle aufgehängter Wassereimer mit Trinkbecher eignet.
Diese Einrichtung habe ich nur einmal vorgefunden; dagegen findet
sich mehrfach ein am Brunnen festgeketteter Becher. An den
meisten Orten gehen indessen die Kinder, wenn sie trinken wollen,
in die Küche des Lehrers, wodurch eine, vom Standpunkte der
Gesundheitspolizei nicht wünschenswerthe Verbindung zwischen
Schulkindern uud Lehrer-Wohnung und Familie unterhalten wird.—
Aborte und Pissoirs.
Jede Schule ist mit einem Abort und neuerdings auch mit
einem Pissoir versehen worden. Allerdings ist es häufig weniger
das Verständnis für die Nothwendigkeit solcher Anlagen, als die
Zwangslage, die Verordnungen der Regierung ausführen zu müssen,
was die Gemeinden zur Anlage dieser hygienisch so wichtigen
90
Dr. Langerhans: Die gesandheitlichen Verhältnisse etc.
Anlagen bewogen hat. Demgemäss sind die hygienischen Anfor¬
derungen, welche man an ein Abortgebäude auf dem Lande zu
stellen hat, nur bei etwa 6 Schulhäusern nothdürftig erfüllt, alle
anderen lassen jedes Verständniss dafür vermissen, dass mensch¬
liche Fäkalien ein Gegenstand sind, dessen gleichgültige Behand¬
lung unter Umständen die ernstesten Gefahren für Leben und Ge¬
sundheit herbeiführen kann! Meist ist weder ein Kübel, noch
eine Grube vorhanden, sondern die Fäces fallen einfach auf die
Erde, wo sie liegen bleiben, bis sich im landwirtschaftlichen
Betrieb des Lehrers dafür eine Verwendung findet. Die Pissoirs
haben gewöhnlich eine Holz- oder Blechrinne, aber keinerlei Ge-
fass zum Auffangen des Urins, so dass an dieser Stelle eine be¬
denkliche Durchtränkung mit fäulnissfahigem Stoffe entstehen würde
— wenn eben die Pissoirs regelmässig benutzt würden. Die ganze
Beschaffenheit vieler Pissoirs zeigt aber nur zu deutlich, dass sie
kaum je benutzt sind und dem Kundigen ist es nur zu bekannt,
dass auf dem Lande nicht nur die Jugend, sondern auch die Er¬
wachsenen in dem Abraachen derartiger natürlicher Bedürfnisse
coram publico weder etwas Anstössiges, noch in der Besudelung
des Bodens etwas Bedenkliches finden. Hier wäre eine strengere
Handhabung der Schuldisziplin, welche den Kindern ein schick¬
licheres und den Regeln der Hygiene mehr angemessenes Verhalten
von vornherein zur Gewohnheit machen müsste, den Lehrern
dringend anzurathen.
Schulhöfe, Schulplätze und Turnplätze.
Mit Ausnahme von Wittingen und Knesebeck 2 sind aller-
wärts weite, geräumige Tummelplätze vorhanden, welche in den
Frei Viertelstunden eifrig benutzt werden. Auch die Turngeräthe,
welche dort meistens aufgestellt sind, erfreuen sich bei der männ¬
lichen Jugend grosser Beliebtheit und nicht nur in den Frei Vier¬
telstunden, sondern auch ausser der Schulzeit sieht man die Knaben
sich fleissig an Reck und Barren üben, wobei sie häufig eine an¬
erkennenswerte Gewandtheit zeigen, während die für die Dorf¬
jugend besonders wichtigen Ordnungs- und Freiübungen sich ge¬
wöhnlich geringerer Beliebtheit erfreuen. —
Ich schliesse hiermit die Betrachtungen über die
gesundheitlichen Einrichtungen der Schulgebäude des
hiesigen Kreises. Dieselben liefern den Beweis, dass
auch im Kreise Isenhagen, obgleich er nach den spär¬
lich vorliegnden Nachrichten aus anderen Gegenden *),
hinter diesen nicht zurückbleibt, ihnen im Gegentheil
vielfach überlegen ist, die ländlichen Volksschulge¬
bäude eine sehr grosse Zahl zum Theil recht bedeu¬
tender hygienischer Mängel besitzen, welche wohl
*) Erst während des Druckes kommt mir die Besprechung eines Vortrages
von Dieckmann (Aerztl. Vereinsblatt 1893, 2) über die schulhygienischen
Verhältnisse des Kreises Franzburg zur Kenntniss. Meine Ansicht, dass es
anderwärts vielfach noch viel schlimmer um die Schulhygiene bestellt ist, als
im Kreise Isenhagen, findet auch durch diesen Vortrag Bestätigung. Verf.
Entscheidungen zum Taxgesetz.
91
geeignet sind, die Gesundheit der heranwachsenden
Jugend zu beeinträchtigen, dass aber die jetzige Or¬
ganisation der Sanitätspolizei nicht genügt, um diesen
Mängeln abzuhelfen.
(Fortsetzung folgt.)
Entscheidungen zum Taxgesetz.
Der Sachverständige ist verpflichtet, bei derihm
gerichtsseitig aufgetragenen Untersuchung einer zu
entmündigenden, ausserhalb seines Wohnorts wohnen¬
den Person sich vorher über deren Anwesenheit.zu er¬
kundigen. Unterlässt er dies, und wird dadurch seine
Reise eine vergebliche, so hat er diese Resultatlosig¬
keit verschuldet und in Folge dessen keinen Anspruch
auf Gebühren bezw. Reisekosten und Tagegelder.
Beschluss des Königl. Landgerichts zu Köslin vom
10. November 1891 und des Königlichen Oberlandes¬
gerichts zu Stettin vom 28. Dezember 1891.
Am 16. Juli 1891 erhielt der Kreisphysikus Dr. L. zu N.
folgende gerichtliche Vorladung:
„In Sachen, betreffend die Entmündigung der verehelichten M. zu
W. soll der Kr.-Phys. San.-Rath Dr. L. als zweiter Sachverständiger
zugezogen werden. Derselbe wird beauftragt, nach vorheriger Infor¬
mation aus den Akten die Provokatin in ihrer Wohnung zu besuchen
und Bericht zu erstatten, ob die Provokatin transportfähig ist oder ob
es angezeigt erscheint, dass der Explorationstermin in ihrer Wohnung
zu W. abgehalten wird.„
In Folge dieser Verfügung begab sich der betreffende Kreis-
phykus am 27. Juli 1891 in die Wohnung der zu entmündigenden
Person, traf diese aber nicht anwesend, da sie verreist war. Vier
Tage später machte der Sachverständige sodann einen zweiten
Besuch und liquidirte hierauf für beide Besuche die taxmässigen Reise¬
kosten und Tagegelder. Das Königl. Amtsgericht zu N. lehnte jedoch
durch Bescheid vom 16. Oktbr. 1891 die Zahlung der Tagegelder und
Reisekosten für die erste Reise ab, „da die Resultatlosigkeit dieser
Reise von dem Sachverständigen verschuldet sei.“ Gegen diesen
Bescheid wurde von dem letzteren bei dem Königl. Landgericht zu
Köslin Beschwerde erhoben und damit begründet, dass eine Be¬
stimmung, die den Sachverständigen zur zuvorigen Anmeldung
seines Besuchs verpflichte, nicht bestehe, durch eine solche Anmel¬
dung auch keineswegs die Anwesenheit der zu entmündigenden
Person sicher gestellt werde. Bei den Vorbesuchen behufs Ex¬
ploration von Gemüthskranken sei ausserdem gerade ein unver-
muthetes, nicht vorher angemeldetes Eintreffen im Interesse der
Sache geboten und im vorliegenden Falle ausserdem eine zuvorige
Benachrichtigung um so weniger angezeigt gewesen, als es sich um
eine angeblich „nicht transportfähige“ Person gehandelt habe.
Trotz dieser Begründung wurde die Beschwerde durch Beschluss
des Königl. Landgerichts Köslin vom 10. Nov. 1891 kostenpflichtig
zurückgewiesen,
92
Entscheidungen zum Taxgesetz.
„weil sich der Beschwerdeführer vor der ersten Reise nach W. nach
der Anwesenheit der zu Entmündigenden daselbst bei dem dortigen
Gemeindevorsteher brieflich erkundigen konnte und die Unterlassung
dieser Erkundigung als jedenfalls unverzeihlich zu bezeich¬
nen ist, so dass die Schuld der vergeblichen Reise den Herrn Be¬
schwerdeführer trifft.“
Gegen diesen Beschluss wurde seitens des betreffenden Sach¬
verständigen Beschwerde bei dem Oberlandesgericht zu
Stettin erhoben, diese aber durch Beschluss vom 2 3. Dezember
1891 als unzulässig verworfen,
„da nach Absatz 2, §. 531 der Givilprozessordnung eine weitere Be¬
schwerde gegen die Entscheidung des Beschwerdegerichts nur insoweit
zulässig ist, als in der letzteren ein neuer selbstständiger Beschwerde¬
grund enthalten ist. Diese Voraussetzung trifft im vorliegenden Falle
nicht zu, da die Entscheidungen des Königlichen Amtsgerichts zu Neu-
* Stettin vom 16. Oktober 1891 und des Königl. Landgerichts zu Köslin
vom 10. November 1891 vollständig nicht nur in der Endentscheidung,
sondern auch in der Begründung derselben übereinstimmen. Nach
§. 537 der Civ -Proz.-Ordn. ist daher die weitere Beschwerde als un¬
zulässig zu verwerfen.“
Die im vorliegenden Falle ergangenen gerichtlichen Urtheile
werden mit Recht die Verwunderung der betheiligten Kreise er¬
regen. Jedenfalls mahnen sie zur Vorsicht, um in ähnlichen Fällen
nicht Gefahr zu laufen, nicht nur eine Reise umsonst gemacht zu
haben, sondern auch noch den völlig ungerechtfertigten Vorwurf
eines „unverzeihlichen“ Verhaltens einstecken zu müssen. Soviel
bekannt, ist eine zuvorige Anmeldung bei derartigen Vorbesuchen
nirgends üblich und auch nirgends vorgeschrieben, desgleichen
tragen die gerichtlichen Vorladungen keineswegs einen dahin lau¬
tenden Zusatz; aber selbst dann würde es Sache des Gerichtes
und nicht des Sachverständigen sein, dafür Sorge zu tragen, dass
die zu untersuchende Person von jenem zu Hause angetroffen
wird.
Es darf wohl angenommen werden, dass der hier mitge-
theilte Fall nicht vereinzelt steht; bei der prinzipiellen Bedeutung
der Angelegenheit bitten wir daher die Kollegen um Mittheilung
etwaiger in analogen Fällen gemachten Erfahrungen bezw. ergan¬
genen gerichtlichen Entscheidungen.
b. Durch Abhalten eines gerichtlichen Termins an
verschiedenen Oerelichkeiten wird dieser nicht unter¬
brochen. Es steht dem Sachverständigen daher keine
Gebühr für die äussere Besichtigung einerLeiche zu,
wenn diese an einer anderen Oertliclikeit vorgenommen
wird, wie die unmittelbar darauf folgende Obduktion.
Beschluss der Strafkammer des Königl. Landge¬
richts II zu Berlin vom 23. März 1892.
Der Kr.-Phys. Dr. F. zu B. war zur Vornahme einer gericht¬
lichen Obduktion vorgeladen. Dieselbe begann in der Sterbewoh¬
nung mit der Augenscheinseinnahme der Leiche und der Untersuchung
auf etwaiges Vorhandensein von Blutflecken in den Kleidungs¬
stücken u. s. w., während die eigentliche Obduktion an einem andern
Orte, in der Leichenhalle des Friedhofes, stattfand. Der vorge-
Entscheidungen zum Taxgesetz.
93
nannte Sachverständige liquidirte sowohl für die Leichenbesichti¬
gung wie für die Obduktion, erhielt aber nur die Gebühr für die
letztere von dem Königl. Amtsgerichte in K. zugebilligt. Eine
hiergegen erhobene Beschwerde wurde von der Strafkammer des
Königl. Landgerichts in Berlin kostenpflichtig als unbegründet
zurückgewiesen und lautet das betreffende Urtheil vom 23. März
v. J. wie folgt:
„Die Gründe des angefochtenen Beschlusses sind durchaus zutreffende.
Der Beschwerdeführer war zu einem gerichtlichen Termin vorgeladen, dessen
Zweck eine Leichenöffnung war; er hatte deshalb drei verschiedene Thätigkeiten
zu leisten: den Termin wahrzunehmen und zu diesem Behufe alle ausserhalb des
eigentlichen Bereiches der Leichenöffnung liegenden Erklärungen abzugeben,
den Leichnam zu besichtigen und denselben zu obduziren. Diese drei Thätig¬
keiten und nicht mehr hat er geleistet und ist dafür durch die erhaltene Ge¬
bühr von 12 M., abgesehen von den nicht in Frage stehenden Reisekosten, ent¬
schädigt worden. Allerdings sind die vom Sachverständigen gerichtsseitig bean¬
spruchten Verrichtungen nicht an einem und demselben Orte, sondern in drei
verschiedenen Lokalitäten erfolgt: an der Gerichtsstelle, in der Wohnung des
Ermordeten und in der Leichenhalle; so wenig aber der Beschwerdeführer für
das Erscheinen an Gerichtsstelle, wohin seine Volladung lautete, eine besondere
Gebühr fordern konnte, hatte er eine solche dafür zu beanspruchen, dass er sich
in die Wohnräume des Verstorbenen begab. Denn er nahm immer nur denselben
in mehrere Abschnitte zerfallenden gerichtlichen Termin wahr. Die Leitung
dieses Termins lag lediglich in den Händen des Richters. Dieser hätte z. B.,
wenn er dies für zweckmässig im Interesse der Sache gehalten hätte, die ge-
sammte äussere Besichtigung der Leiche in der Sterbewohnung und die Obduk¬
tion im engeren Sinne dieses Wortes in der Leichenhalle vornehmen lassen
können; in diesem Falle wäre es nicht zweifelhaft gewesen, dass der Beschwerde¬
führer eine besondere Gebühr aus §. 3, Abs. 2 des Gesetzes vom 9. März 1872
nicht hätte beanspruchen können. Im gegenwärtigen Falle hat der Richter
dieses Verfahren nicht beliebt, sondern die äussere Besichtigung in zwei Theile
zerlegt: eine allgemeine, die in der Sterbewohnung, und eine in’s Einzelne
gehende, die auf dem Friedhofe stattfand. Hierzu war er berechtigt, und er
hat nicht etwa dadurch einen zweiten neben dem ersten herlaufenden gericht¬
lichen Termin anberäumt. Dazu war er gar nicht im Stande, denn der Termin
hatte an Gerichtsstellc, wohin die Sachverständigen geladen waren, begonnen,
wurde in der Grunauerstrasse fortgesetzt und auf dem Kirchhofe vollendet. Er
ist nicht unterbrochen worden, um inzwischen einen anderen Termin stattfinden
zu lassen, als welcher sich eine während der Terminsdauer erfolgende Testa¬
mentsaufnahme dargestellt haben würde, sondern das gesammte gerichtliche Ver¬
fahren hat von Anfang bis zu Ende dem einen von vornherein in’s Auge ge¬
fassten Ziele, der Leichenöffnung des B., gedient, und es haben nur die
Zwecke der Untersuchung es nothwendig gemacht, dass dies in drei verschie¬
denen Räumlichkeiten erfolgen musste. So wenig der Beschwerdeführer dafür
eine Vergütung hätte beanspruchen können, wenn er sich in drei verschiedene
Zimmer des Gerichtsgebäudes hätte begeben müssen, so wenig erwächst ihm ein
Anspruch aus dem Umstande, dass der Richter ihn veranlasst hat, sich in drei
verschiedene Gebäude zu begeben. Erst wenn die von ihm zurückzulegcnden
Entfernungen eine Länge von 2 Kilometern im Sinne der hierfür massgebenden
Vorschriften überschritten haben würden, wäre ein Recht zur Forderung von
weiteren Reisekosten entstanden. Dies ist in vorliegender Sache nicht der Fall
gewesen. Eine Gebühr aus §. 3, Abs. 2 a. a. 0. hätte dem Sachverständigen
nur dann zugestanden, wenn von ihm eine andere Besichtigung als die innerhalb
des Rahmens des für ihn anberaumten Termines liegende gefordert wäre. Hätte
er also vielleicht noch eiue zweite in demselben Hause liegende Leiche in Augen¬
schein nehmen müssen, so wäre in der That der erste Termin unterbrochen ge¬
wesen und es hätte ein zweiter Termin selbst dann stattgefunden, wenn sich
sämmtliche in beiden Terminen stattgehabten Vorgänge in einem und demselben
Raume abgespielt hätten. Allein, derartiges ist nicht in Rede.
In dieser Sache hat sich nicht das Geringste ereignet, was einem andern
Zwecke als dem der Besichtigung und Oeffnung des B.’schen Leichnams
94
Entscheidungen zum Taxgesetz,
gedient hätte. Diese ist nur in einem einzigen Termine geschehen, und hätte
es selbst der Richter für geboten erachtet, den Termin in noch mehr einzelne,
in noch mehr verschiedenen Lokalitäten vor sich gehenden Abschnitte, als hier
geschehen, zu zerlegen. Wäre der Richter sogar, was hier nicht geschehen,
dabei zweckwidrig verfahren, so würde dem Sachverständigen daraus nur mög¬
licherweise ein Beschwerderecht bei der Dienstaufsichtsbehörde, aber nicht in
Anspruch auf Zahlung erhöhter Gebühren entstanden sein.
Der Beschwerdeführer scheint andeuten zu wollen, als habe sich in der
B.'schen Wohnung die Besichtigung nicht auf die Augenscheinseinnahme
hinsichtlich der Leiche beschränkt, sondern sei auch weiteres etwa die vorhan¬
denen Blutspuren oder dergleichen besichtigt worden. Allein, abgesehen davon,
dass es äusserst zweifelhaft ist, ob dies eine weitere Liquidation gerechtfertigt
erscheinen lassen würde, ob nicht viel mehr die Sachverständigen sogar ver¬
pflichtet gewesen wären, ohne Mehrentschädigung sich über weitere mit den
Untersuchungszwecken in Verbindung stehende Fragen, etwa über Beschaffenheit
und Grösse der soeben erwähnten Blutspuren, über das Viirhandensein von Blut¬
flecken in den Kleidungsstücken des Ermordeten und der muthmasslichen Thäter,
über die Art von in den Händen des Todten befindlichen Haaren u. s. w. gut¬
achtlich zu änssern, ist ausweislich des allein hierfür ausschlaggebenden gericht¬
lichen Protokolls die Besichtigung in der Sterbewohnung auf die Einnahme
des Augenscheines an der Leiche beschränkt gewesen.“
c. Amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte.
Wir sind in der Lage, wiederum zwei Fälle mitzutheilen, in
denen die Frage, ob die Physiker verpflichtet sind, auf behördliche
Aufforderung Staatsbeamte auf ihren Gesundheitszustand und auf
ihre derzeitige Dienstbrauchbarkeit von Amtswegen ohne besonderes
Entgelt zu untersuchen und zu begutachten, in höchster Instanz
zu Gunsten der Kreisphysiker entschieden ist. In einem Falle
handelte es sich um die auf Requistion eines Königlichen Haupt¬
zollamts ausgeführte Untersuchung und Begutachtung eines Zoll¬
beamten mit Rücksicht auf seinen körperlichen und geistigen Zu¬
stand. Der Anspruch auf eine Gebühr für das erstattete Gutachten
wurde zunächst von dem Oberzolldirektor unter Hinweis auf den
§. 1 Abs. 1 des Gesetzes vom 9. März 1872 und die Verfügung
vom 16. Februar 1844 als ungerechtfertigt zurückgewiesen, eine
dagegen eingelegte Beschwerde von dem Herrn Finanzminister
aber als begründet erkannt und die Auszahlung der von dem Physikus
beanspruchten Gebühr angeordnet.
Aehnlich verlief ein zweiter Fall, in dem ein anderer Kol¬
lege auf Requisition der Eisenbahnbehörde einen Rangirmeister
untersucht und begutachtet hatte, aber mit seinem Anspruch auf
Gebühren unter Hinweis auf die oben erwähnten Bestimmungen
abgewiesen war. Auch hier erfolgte auf die dagegen eingelegte
Beschwerde ein für den Physikus günstig lautender Bescheid der
höheren Instanz.
Beide Fälle zeigen von Neuem, dass sowohl vom Finanz¬
ministerium als vom Ministerium der öffentlichen Arbeiten die Be¬
rechtigung des von den Physikern erhobenen Anspruchs auf Ge¬
bühren bei Ausstellung amtsärztlicher Gutachten für Staatsbeamte
rückhaltlos anerkannt wird, auch wenn diese Ausstellung auf Re¬
quisition der Staatsbehörde erfolgt. Es ist nun nicht anzunehmen,
dass diese Entscheidungen ohne Mitwirkung des für die Medizinal¬
beamten zuständigen Ressortministers getroffen sind, es würde
Kleinere Mittheilungen und Referate au» Zeitschriften.
95
dies wenigstens dem sonst bei derartigen Fragen üblichen Ge-
schäftsvertahren vollständig widersprechen. Man kann vielmehr
mit Bestimmtheit annehmen, dass die betreffenden Entscheidungen
im Einverständniss mit dem Herrn Kultusminister er¬
folgt sind. Dadurch erhalten sie aber für die Medizinalbeamten eine
besondere Wichtigkeit; denn diese sind darnach entschieden berech¬
tigt, in allen hier in Betracht kommenden Fällen, in denen es sich
nicht um die blosse Ausstellung eines Befundattestes handelt, son¬
dern von ihnen ein Gutachten auf amtliche Aufforderung erstattet
wird, für dieses nach Massgabe des §. 3 Nr. 6 des Gesetzes vom
9. März 1872 eine Gebühr zu beanspruchen.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
A. Gerichtliche Medizin.
Ueber schwere Körperverletzung. (§. 224, D. St. G. B.) Von Kreis-
physikus Dr. Moritz in Schlochau. Separat - Abdruck aus der Viertcljahrs-
schrift für gerichtliche Medizin. III. Folge, IV., 2.
Um die Unsicherheit bei der Beurtheilung der „schweren Körperverletzung“
Aöglichst einzuschränken, sind vom Gesetzgeber in dem betreffenden Paragraphen
des Deutschen Strafgesetzbuches diejenigen Merkmale, welche eine solche Ver¬
letzung charakterisiren, namhaft gemacht worden. Trotzdem ist in Bezug auf
die Auffassung so häufig eine Verschiedenheit bei den Richtern und begutach¬
tenden Aerzten zu bemerken, dass es nützlich erscheint, die Interpretation des
§. 224, dem Sinne des Gesetzgebers gemäss und nach den in den Entscheidungen
des höchsten Gerichtshofes normirten Grundsätzen zu präzisiren. Verfasser hat
in der vorliegenden Arbeit seine Betrachtung, nachdem er eine geschichtliche
Einleitung gegeben und besonders das dem Paragraphen zu Grunde liegende
Gutachten der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen vom
24. März 1869 besprochen, an der Hand der äusserst sorgfältig gesammelten
Littcratur an folgende Stichwörter angckuüpft: 1. Folge, 2. Verlust, 3. wich¬
tiges Glied des Körpers, 4. Sehvermögen, 5. Gehör, 6. Sprache, 7. Zeugungsfähig¬
keit, 8. erhebliche dauernde Entstellung, 9. Verfall in Siechthum, 10. Verfall
in Lähmung, 11. Verfall in Geisteskrankheit.
Wir heben im Folgenden folgende bemerkenswerthe Gesichtspunkte her¬
vor: Bei der Beurtheilung der „Folge“ liegt der Fall einfach, wenn eine Ver¬
letzung einen der Zustände des §. 224 ira sofortigen Gefolge hatte oder im
normalen Verlauf der Dinge zu ihr führte, ebenso werden Zweifel kaum ent¬
stehen, wenn die Vermittelung zwischen Insult und Erfolg auf psychischem
Wege, durch Schreck, Furcht u. s. w. geschah. Schwieriger wird die Beur¬
theilung der Fälle, bei denen der Insult die faktisch eingetretene Folge nicht
gehabt hätte, sondern diese nur eintrat durch das Hinzukommen von Nebenum¬
ständen, die auf den Heilungsverlauf ungünstig einwirken (Vernachlässigung der
Wunde, zu schlechte oder zu späte Behandlung, ungünstige allgemeine sanitäre
Verhältnisse u. s. w.). ln dieser Beziehung hat das Reichsgericht anlässlich
eines Spezialfalles entschieden: „Entscheidend ist, ob nachweislich der Biss einer
der Faktoren war, die den Schaden nach sich zogen, und der dann vorhandene
Kausalzusammenhang wird nur dann aufgehoben, wenn nachweislich letztere auch
ohne die qn. That den qu. Erfolg gehabt hätten.“ Ferner ist entschieden
worden, dass als „Folge“ nur ein wirklich vorhandener Zustand, nicht ein,
wenn auch noch so sicher bevorstehender zu betrachten sei.
Unter „Verlust“ versteht der vulgäre Sprachgebrauch das physische
Abhandenkommen; indem der höchste Gerichtshof in seinen Entscheidungen dieser
Auffassung folgt, führt er weiter ans, dass der Verlusst eines wichtigen Gliedes
nicht den Fall umfast, wenn dieses Glied als ein Theil des menschlichen
Körpers physisch dauernd vorhanden, dasselbe jedoch zu seinen Funktionen völlig
oder in erheblicher Weise unbrauchbar sei.
96
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
Unter „Glied* versteht man gewöhnlich einen Theil des Ganzen, be¬
sonders wenn er gegen das Ganze freie Beweglichkeit hat. Der Aasdruck
„Glied* umfasst nicht jeden Theil des Körpers, sondern nur einen solchen,
der eine in sich abgeschlossene Existenz mit besonderer Funktion im Gesammt-
organismus hat. Fingerglieder sind nur Bestandtheile des Fingers, nicht aber selbst¬
ständige Giieder des Körpers. Zu den Körpergliedern wären hiernach Arme, Beine,
Hände, Füsse, Finger und Zehen zu rechnen. Welches Glied ist nun als „wich¬
tiges* zu bezeichnen ? Es kann, wie auch das Reichsgericht entschieden hat,
für den Begriff der Wichtigkeit nicht der relative Werth in Betracht kommen,
welchen der Besitz oder Verlust eines Gliedes für den Verletzten nach seinem
individuellen Lebensberufe, besonders seinem Nahrungs- und Erwerbszweige be¬
sitzt und dasselbe Glied kann nicht für den einen werthvoll, für den anderen
werthlos sein. Es muss für das einzelne Körperglied das Werthverhältniss ent¬
scheiden, in welcher cs seiner Wichtigkeit nach zu dem Gesammtorganismus
steht, ohne Berücksichtigug der besonderen Zwecke, zu denen in konkreto das
verlorene Glied benutzt wurde. Arme, Beine, Hände und Füsse, vielleicht auch
der Daumen sind als wichtige Glieder anzusehen, nicht die Finger.
Wann ist das Sehvermögen als verloren zu betrachten? Der Werth
des Sehvermögens liegt weniger in der Fähigkeit, Hell und Duukel zu unter¬
scheiden, als vielmehr darin, die Gegenstände der Aussenwelt als solche zu
erkennen und unter einander zu unterscheiden. Es ist also nicht erforderlich,
dass jede Empfindung für Lichteindrücke ausgeschlossen sei. Das Analoge ist
auch vom Verlust des Gehörs zu sagen.
Was den Verlust der Sprache betrifft, so ist zu beachten, dass das¬
jenige was die menschliche Sprache kennzeichnet die Artikulation ist un<J
dass der Verlust der Sprache somit in dem Verlust der Artikulationsfähigkeit
besteht. Die Sprache ist ja ohne Stimme als Flüstersprache, wenn auch nur
für kurze Entfernung, immer noch möglich.
Die Zeugungsfähigkeit im engeren Sinne ist die Fähigkeit des
Mannes oder Weibes einen befruchtenden Beischlaf auszuführen. Der Verlust
derselben kann in dem Verlust der Potentia coeundi oder der Potentia generaudi
resp. concipiendi oder beider zugleich bestehen. Hierher wird man wohl auch
den Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit rechnen müssen, (wie dies Li man
that) also die Fähigkeit des Weibes, die konzipirte Frucht in ihrem Uterus zur
Reife gelangen zu lassen (potentia gestandi) und schliesslich zu gebären (pot.
parturiendi), zumal solche meist mit Zuständen, welche mit denjenigen der
Zeugungsunfähigkeit im engeren Sinne Zusammenhängen, verbunden zu sein pflegen.
Bei der Beurtheilung, ob eine erhebliche dauernde Entstellung vor-
licge, kann nur die Frage entscheiden, ob der entstellte Körpertheil nach den
natürlichen und sozialen Lebensverhältnissen des Verletzten, Dritten gegenüber
derart verdeckt zu werden pflegt, dass der Mangel als wesentliche Entstellung
nur unter besonderen Umständen nach aussen erkennbar sein und als solche
empfunden würde. Eine Entstellung liegt im Sinne des Paragraphen nur dann
vor, wenn sie sich als solche auch unter den Verhältnissen, bei der Bekleidung
darstellt, unter denen der Entstellte sich in der Oeffeutlichkeit bewegt. Es ist
unerheblich, ob der entstellte Körpertheil bekleidet oder unbekleidet ist, sofern
nur die Entstellung als solche auch unter der Bekleiduug augenfällig bleibt.
„Erheblich* ist die Entstellung, wenn sie den Gesammtorganismus betrifft.
Bezüglich des „S i e c h t h u m s* hat die wissenschaftliche Deputation begut¬
achtet, dass in dem Worte Siechthum der Begriff der Unheilbarkeit nicht unbe¬
dingt liegt, dass sich ein bestimmtes Maass für die minimale Dauer eines als
Siechthum zu bezeichnenden Krankheitszustandes nicht aufstellen lasse. —-
„Lähmung* ist eine andauernde, wenn auch nicht unheilbare Unfähigkeit, den
betreffenden Körpertheil zu denjenigen Bewegungen zu gebrauchen, zu welchen
er von der Natur bestimmt ist. — Bezüglich der „Geisteskrankheit* besagt eine
Reichsgerichtsentseheidung: „Es kann nicht bestritten werden, dass es auch heil¬
bare Geisteskrankheiten giebt, und §. 224 giebt nicht zu erkennen, dass von
seiner Strafbestimmung nur die Verursachung einer unheilbaren Geisteskrank¬
heit getroffen werden solle. Auch bezüglich des Siechthums und der Lähmung
wird vom Gesetze eine Unheilbarkeit nicht gefordert.*
Dr. Israel-Medenau (O.-Pr.)
Kleinere Mitthueilungen und Referate aus Zeitschriften.
97
B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Verbreitung der Tollwnth im Deutschen Reiche während des
Jahres 1891.
Nach dem im Kaiserlichen Gesundheitsamte bearbeiteten, vor Kurzem
erschienenen (Verlag von Julius Springer; Berlin 1892) sechsten Jahres¬
bericht über die Verbreitung von Thierseuchen im Deutschen
Reiche ist die Tollwuth unter den Thieren im Jahre 1891 gegen das Vorjahr')
sowohl dem Grade der Verseuchung als auch der räumlichen Verbreitung nach
erheblich zurückgegangen; denn es sind an der Seuche erkrankt und ge¬
fallen oder getödtet nur 543 Thiere gegenüber 714 im Vorjahre, also 23,9°/ 0
weniger. Die Fälle vertheilen sich auf 445 Hunde (590 im Vorjahre), 3 Katzen
(11), 10 Pferde (4), 1 Esel, 70 Rinder (98), 8 Schafe (2), 1 Ziege (0) und 4
Schweine (9).
Von der Seuche betroffen wurden ausser den vom Vorjahre her ver¬
seuchten Staaten Preussen, Bayern, Sachsen, Sachsen-Weimar, Oldenburg, Sachsen-
Meiningen, Elsass-Lothringen noch: Schwarzburg-Rudolstadt und Waldeck; wäh¬
rend Sachsen-Koburg-Gotha, Reuss j. L. Lippe und Hamburg diesmal verschont
geblieben sind. Die einzelnen Tollwuthfälle vertheilen sich auf 36 Regierungs¬
bezirke (davon 23 in Preussen) und 146 Kreisen (davon 141 in Preussen) gegen
40 und 178 im Vorjahre.
Die meisten Tollwuthfälle wurden ebenso wie früher in den Re¬
gierungsbezirken Posen (164 gegen 83 im Voijahre), Königsberg (86 gegen 56),
Gumbinnen (51 gegen 53), Liegnitz (47 gegen 82), Breslau (36 gegen 78), Op¬
peln (33 gegen 20) und Bromberg (28 gegen 52) festgestellt. Von den einzelnen
Kreisen waren von der Seuche am meisten betroffen die Kreise Schrimm (33),
Mohrungen (29), Pieschen (22), Koschmin (18), Osterode in Ostpr. und Schroda
{je 17), Wreschen (15). Heilsberg (12), Lyck (11) und Krotoschin (10). Die¬
jenigen Kreise, in denen im Vorjahre verhältnissmässig viele Tollwuthfälle vor¬
gekommen sind, wurden im Berichtsjahre, abgesehen von dem Kreise Osterode,
verhältnissmässig wenig oder gar nicht von der Seuche heimgesucht. Das
Verbreitungsgebiet ist gleichwohl im Allgemeinen dasselbe geblieben:
Die östliche Grenzzone des Königreichs Preussen, und die an Böhmen grenzen¬
den Gebiete des Königreichs Sachsen und der Provinz Schlesien und die west¬
lichen Grenzbezirke von Elsass-Lothringen, jedoch sind. Westpreussen, Sachsen
und Schlesien weniger, Ostpreussen und Posen dagegen stärker verseucht.
Nach den einzelnen Vierteljahren vertheilen sich die Tollwuthfälle
wie folgt:
Es sind erkrankt und gefallen oder getödtet:
im ersten Vierteljahre 116 Thiere, darunter 108 Hunde und 3 Rinder,
zweiten
191 „
71
167 „
, 17 *
dritten
138 „
7}
84 „
T) 41 „
vierten
V
98 „
7)
86 „
, 9 »
Uebereinstimmend mit den Vorjahren erreichte die Seuche auch im Be¬
richtsjahre unter den Hunden im zweiten, unter den Rindern im dritten Viertel-
jatre ihren höchsten Stand.
Von je 100 im Reiche an Tollwuth erkrankten Hunden entfielen aut*
die Provinz Posen . . .
140 =
31,46
°/o
gegen
17,46
[>/
Io
im Vorjahre,
„ Schlesien . .
112
25,17
J1
7)
28,14
Yf
7)
n Ostpreussen .
103
23,15
7)
V
11,69
7)
n
das Königreich Sachsen .
24 =
5,39
n
n
12,03
7)
71
Elsass-Lothringen . . .
15 =
3,37
n
n
1,53
n
71
die Provinz Westpreussen
14 =
3,15
71
71
12,03
n
71
das Königreich Bayern
8 =
1,80
*
n
10,34
7)
71
Der Grad der Verseuchung hat sich hiernach gegen das Vorjahr in der
Weise verschoben, dass er in Schlesien, Westpreussen, Bayern und Sachsen abge¬
nommen, in Ostpreussen, Posen und Eisass-Lothringen dagegen zugenommen hat.
Von ansteckungsverdächtigen Hunden wurden auf polizeiliche An¬
ordnung getödtet: 1253 gegen 2164 im Vorjahre (42.1 °/ 0 weniger); auf je
einen wuthkranken Hund kamen somit 2,82 getödtete ansteckungsverdächtige
*) Vergleiche das betreffende Referat in Nr. 2 dieser Zeitschrift, Jahrg.
1892 S. 43.
98 Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
Hunde, gegen 3,67 im Vorjahre. Ausserdem wurden 30 ansteckungsverdäch¬
tige Hunde, 79,2 °/ 0 weniger als im Jahre 1890 (144) unter polizeiliche Beob¬
achtung gestellt, und 276 herrenlose wuthvcrdächtige Hunde getödtet, 10,7 w / 0
weniger als im Vorjahre (309).
In auswärtigen Staaten scheint die Tollwuth nach der dem Berichte
beigeftlgten Zusammenstellung etwas zugenommen zu haben; in Belgien sind
z. B. 216 Tollwuthfälle gemeldet gegen 182 im Vorjahre, in Frankreich 1407
(1221), in Rumänien 68 (49), Schweiz 15 (5); auch in Bulgarien, Italien und
Oesterreich hat sich die Zahl der verseuchten Ortschaften gesteigert.
Einschleppungender Toi lwuth aus Russland,Böhmen u. Frankreich
konnten in einzelnen Fällen bestimmt nachgewiesen werden.
Die Inkubationsdauer schwankte, soweit eine Feststellung überhaupt
möglich war, bei Hunden zwischen 6 und 102 Tagen, bei Pferden zwischen 19
und 63 Tagen, beim Rindvieh zwischen 19 Tagen und 11 Monaten, bei Schafen
zwischen 25 und 57 Tagen.
Fälle von Uebertragung der Tollwuth auf Menschen sind 3
gemeldet, die sämmtlich tödtlieh endigten und zwar je 50 und 59 Tage nach
dem erfolgten Bisse. Rpd.
Uebertragungen von Thierseucben auf Menschen im Deutschen
Reiche während des Jahres 1891.
Nach dem vorerwähnten Jahresberichte sind im Berichtsjahre 68 Fälle von
Uebertragungen des Milzbrandes auf Menschen gemeldet (gegen 111 im
Vorjahre), und 12 Personen der Ansteckung erlegen. Die häufigste Veranlassung
bildete wieder die Nothschlachtung und das Abhäuten. Unter den erkrankten
Personen befanden sich 1 Kreisthierarzt, 33 Fleischer und deren Gehülfen.
Uebertragung des Rotzes auf Menschen hat bei einem Kutscher im
Kreise Ragnit stattgefunden, der sich bei der Pflege eines rotzkranken Pferdes
angesteckt hatte. Er erkrankte unter typhösen Erscheinungen und starb nach
23 tägigem Leiden. An der Leiche fanden sich unter den Augen, um die Nase
und auf der linken Hand erbsengrosse Gesehwüre mit gelbem Grunde. Ausser¬
dem wird noch über drei Fälle von Rotzinfektion berichtet, von denen 2 gleich¬
falls tödtlieh verliefen, während in dem dritten Genesung nach 7 Monaten eintrat.
Uebertragungen der Maul- und Klauenseuche auf Menschen sind
verschiedentlich beobachtet worden und zwar besonders in Folge des Genusses
ungekochter Milch seuchekranker Thiere. Die Krankheit zeigte sich dann
meist in Form eines Ausschlages an den Lippen und der Schleimhaut des Mundes.
In einigen Fällen war die Infektion durch Melken erkrankter Thiere hervorge¬
rufen, bei einer von diesen Personen traten neben Bildung besonders grosser
Blasen beträchtliche Schwellung der Hände sowie ein heftigeres Allgemein-
leiden auf. _ Rpd.
Ueber Anstellung von Bezirkshebammen. Von Kr.-Phys. San.-Rath
Dr. K o r n f e 1 d - Grottkau.
Die allgemeine Verfügung vom 6. August 1883, betreffend das Heb¬
ammenwesen, ist bekanntlich von verschiedenen Kreisen für nicht verbindlich
erklärt und die Anstellung von Bezirkshebammen unterlassen worden. Viel¬
fach ist gegen die Nothwendigkeit der Anstellung der Einwurf erhoben
worden, dass ja durch die Anwesenheit einer oder, wie oft, mehrerer frei-
praktizirender Hebammen das Bedürfniss gedeckt ist. Die Hebamme reicht
ihre Liquidation bei Zahlungsunfähigen dem Armenverband ein und nach Prü¬
fung erfolgt eventuell deren Berichtigung. Für die Nothwendigkeit muss indess
angeführt werden, dass eine freipraktizirende Hebamme jederzeit fortziehen
kann, wodurch der Bezirk eine Zeit lang ganz ohne Hebamme bleiben kann,
und dass sie ausserdem nach dem angeführten Min.-Erl. §. 8, insbesondere An¬
merkung 3 im neuen Hebammen - Lehrbuch S. 280 sich gar nicht der unentgelt¬
lichen Dienstleistung zu unterziehen braucht. Sie braucht sich dem Risiko nicht
auszusetzen, nach einer oft sehr schweren Mühe und unter Verwendung einer
Zeit, in der sie zu einer lohnenderen Praxis vielleicht gerufen worden wäre,
ihre Liquidation vom Armenverbande abgewiesen zu sehen. Dies gilt allerdings
nur für die nichtvereidigten Hebammen, seitdem die Vereidigung nicht ange-
Besprechungen.
99
stellter Hebammen nicht mehr obligatorisch *) ist. Ein Fall, wo eine Hebamme
bestraft worden ist, weil sie — ohne besondere Verpflichtung — eine zahlungs¬
unfähige Person nicht entbunden hat, ist mir übrigens nicht bekannt. Nicht
selten liegt es so, dass in der Nacht zur Hebamme geschickt wird. Sie kann
keinen Auftrag des Armenvorstandes abwarten und doch soll sie gehen, obschon
ihr aus Erfahrung bekannt ist, dass sie von der Betreffenden nichts erhält und
vom Armenverbande nachträglich abgewiesen wird. Das gilt übrigens auch von
der angestellten Hebamme bezüglich der nur für den täglichen Unterhalt sor¬
genden unteren Klasse, die theils nicht zahlen kann, theils böswilliger Weise
nicht will und gerichtlich nicht zu fassen ist.
Dürfte es nicht gerecht sein, wenn die Hebamme, die ja in solchen Fällen,
wo es sich um die Qefahr für zwei Menschenleben handelt, helfen soll, auch
die Sicherheit hat, für ihre Mühe entschädigt zu werden?
Die Hebammen sollten nicht bloss bei „notorisch der Armenpflege Anheim¬
gefallenen“ (die wohl allermeistens keine Hebammen mehr bedürfen werden),
und nicht bloss’in einem zweifelhaften „Spezialfall“, sondern in allen Fällen
von nachgewiesener Unmöglichkeit, gerichtlich zu ihren Gebühren zu kommen,
durch den Armenverband oder Kreis, je nach der Auffassung der Kreisvertretung,
entschädigt werden.
Besprechungen.
Dr. R. Becker, Medizinalrath und Amtsphysikus in Gotha: Samm¬
lung gerichtsärztlicher Gutachten. Berlin 1892. Ver¬
lag von S. Karger. Gr. 8°, 116 S.
Die 28 Gutachten sind von dem Verfasser während seiner zwanzigjährigen
gerichtsärztlichen Thätigkeit abgegeben worden und behandeln zum Theil Be-
urtheilungen bei Verbrechen, zum Theil Untersuchungen zweifelhafter Geistes¬
zustände. Die Gutachten sind eingehend und sehr geschickt abgefasst und be¬
weisen die grosse Kenntniss und Erfahrung des Verfassers auf den einschlägigen
Gebieten.
Als Beispiele für Untersuchungen zweifelhafter Geisteszustände sind die
dem Gerichtsarzte wohl am häufigsten zur Beurtheilung kommenden Formen
der Verrücktheit ausgewählt, des Verfolgungs-, Querulanten- und Grössenwahnes,
ferner der erotischen Verrücktheit, der Melancholie, der folie raisonante oder
chronischen maniakalischen Exaltation, der senilen Atrophie und der Fall eines
jugendlichen Verbrechers, welcher wegen der äusserlich ganz unkenntlichen Mo¬
tive der Unthat psychologisches Interesse bietet. Der Thatbestand und die Ent¬
wickelung der Krankheiten sind vom Verfasser in psychologisch richtigster
Schlussfolgerung hergeleitet. Freilich lässt sich über seine Auffassung des letzt¬
genannten Falles streiten. Gewandte Sprache macht das Studium doppelt an¬
ziehend.
Die Auswahl aus dem Gebiete der gerichtlichen Medizin umfasst vier
Fälle von Kindesmord. Die Fragen über die Möglichkeit der Unkenntniss der
Angeschuldigten von ihrer Schwangerschaft, über die präzipitirte Geburt, über
Verletzungen durch die Geburt und durch äussere, absichtlich zugefügte Gewalt,
über gewaltsame oder zufällige Erstickung der Neugeborenen werden darin be¬
sonders behandelt. In drei Fällen von Anklagen auf Mord war durch die Gut¬
achten die verbrecherische Ursache des Todes festgestellt, obschon zweimal
Selbstmord durch Erhängen, einmal durch Ertrinken angenommen war. Eine
Phosphorvergiftnng wurde durch den Leichenbefund und den chemischen Nach¬
weis des Giftes in Substanz bewiesen; ein Gutachten über Raubmord ergeht sich
ausführlicher über Blutfleckenuntersuchung. Von sechs mitgetheilten Fällen, in
denen die Anklage auf fahrlässige Tödtung oder Körperverletzung lautete,
gerichtet gegen Aerzte und Kurpfuscher, beanspruchen zwei, welche dem Ka¬
pitel der Gebärmutterzerreissung angehören, wegen der verschiedenen Auffassungen
der Begutacchter ein besonderes Interesse.
Das Buch kann jedem Gerichtsarzte empfohlen werden.
Dr. R u m p - Osnabrück.
>) Ist nicht zutreffend, denn durch Rundverfügung vom 27. Dezember 1888
(8. Wernich S. 289) ist die Vereidigung der freipraktizirenden Hebammen obli¬
gatorisch.
Besprechungen.
100
Dr. J. L. A. Koch, Direktor der Irrenanstalt Zwiefalten: Die
psychopathischen Minderwertigkeiten. Ravensburg 1892.
Verlag von 0. Maier. Zwei Abtheilungen. 337 S.
Die psychischen Abnormitäten, welche zwischen dem gesunden Geistes¬
leben und der ausgesprochenen Geisteskrankheit liegen, — das ist ein Gebiet,
dessen Ausdehnung sich nach subjektivem Ermessen richtet! Dieses Gebiet will der
Verfasser näher untersuchen, alle auf demselben vorkommenden psychischen Ab¬
weichungen in klinische Gruppen bringen und das Ganze mit dem Namen der
psychopathischen Minderwerthigkeiten umfassen. Unter diesem Terminus — so
präzisirt Koch den Ausdruck selbst in der Einleitung zu seinem Buche —
sollen alle, seien es angeborene, seien es erworbene, den Menschen in seinem
Personenleben beeinflussenden psychischen Regelwidrigkeiten zusaramengefasst
werden, welche auch in schlimmen Fällen doch keine eigentliche Geisteskrank¬
heit darstellen, welche aber die betreffenden Individuen auch im günstigsten
Falle nicht als im Vollbesitz geistiger Normalität und Leistungsfähigkeit stehend
erscheinen lassen.
Dass der Verfasser eine grosse Kenntniss aller dieser psychopathischen Zu¬
stände besitzt, und dass er mit grossem Fleiss und redlichem Bemühen den
bunten Wirrwarr der hierher gehörigen Krankheitserscheinungen zu ordnen
sucht, wer wollte Das bestreiten! Und immerhin bleibt eine einheitliche Bear¬
beitung dieses forensisch so wichtigen Kapitels ein Verdienst. Ob sich aber der
Ausdruck psychopathische Minderwerthigkeiten und besonders der Versuch jener
schematischen Gruppirung des oben skizzirten Materials, welchen der Verfasser
macht, einen grossen Freundeskreis erwerben wird, das dürfte fraglich sein. Wo
sich so viele fliessende Uebergänge, so viele Wiederholungen einzelner Krank¬
heitszüge bei unbegrenzter Mischung der Symptome in den Einzelfällen finden,
da hat ein strenges System von vornherein etwas Prekäres. Giebt es doch zur
Zeit noch nicht einmal für die ausgebildeten Psychosen ein allgemein anerkanntes
System. Was soll uns bei dieser Sachlage die Systematisirung eines Grenz-,
eines Uebergangsgebietes zwischen psychischer Normalität und psychischer Er¬
krankung !
Der Verfasser theilt seine Stoffe:
1) in die angeborenen Minderwerthigkeiten — das erste Heft des in
zwei Abtheilungen erschienenen Buches — und
2) in erworbene psychopathische Minderwerthigkeiten.
Mit letzteren beschäftigt sich das zweite Heft. Jede der beiden Gruppen
wird dann in leichtere und schwere Fälle dadurch geschieden, dass die leichten
als disponirt, die schwereren als belastete Minderwerthige besprochen werden.
Was wir nun als angeborene psychopathische Minderwerthigkeiten vor¬
geführt bekommen, das sind allbekannte Bilder psychischer Sonderbarkeiten und
Anomalien, welche wir als angeborene Disposition zu Psychosen, als leichte De¬
generationsformen, auch wohl als leichte Fälle originärer Verrücktheit zu be¬
zeichnen gewohnt sind. Von den erworbenen psychopathischen Minderwerthig¬
keiten scheidet der Verfasser eine besondere Gruppe als gemischte psychopathische
Minderwerthigkeiten aus und rechnet alle jene Fälle dahin, in denen psychische
Insulte oder durch irgend welche somatische Ursachen bedingte Schwächung des
Centraluervensystems bei angeborenen Minderwerthigen die Disposition zur Er¬
krankung an deutlichen Psychosen erhöhen oder ein Schwererwerden der ange¬
borenen Anomalien bedingen. Und Koch’s erworbene Minderwerthigkeiten oder,
wie der Verfasser der Kürze wegen von S. 200 an zu sagen beliebt: die erwor¬
bene psychopathische Belastung? Da kommen zuerst als leichtere idiopathische
Belastung Krankheitsbilder an die Reihe, welche Jeder trotz des Verfassers Dif-
ferenzirung für Neurasthenien erklären wird, und zwar für Formen der Neu¬
rasthenie, bei denen aber die psychischen Symptome stark ausgeprägt sind. Von
diesen sollen sich die schwerer idiopathisch Belasteten dadurch unterscheiden,
dass die psychischen Anomalien ihr Gepräge durch eine allerdings heilbare
intellektuelle Schwäche bekommen. Ja, solche Krankheitsbilder bezeichnet der
Psychiater doch als leichte Fälle heilbaren Stumpf- resp. Blödsinns. Dann kommt
eine Abtheilung der konstitutionell beeinflussten Belastungen (S. 248ff.),
welche wieder eingetheilt werden in allgemeine konstitutionelle und in spe¬
zifisch konstitutionell beeinflusste Belastungen. Der Verfasser zerlegt dann
wieder die erstere Gruppe (S. 252) in leichtere und schwere Fälle und giebt nur
Besprechungen.
101
zur Erkennung der leichteren Fälle der allgemeinen konstitutionell beeinflussten
Belastung — ich gebrauche jetzt die eigenen Worte des Verfassers — andere
Leser finden sich vielleicht eher darin zurecht wie ich seihst — folgenden An¬
halt: „Die einzelnen Fälle von allgemein konstitutionell beeinflusster Belastung
sind nicht nur nach ihren individuellen Verschiedenheiten, sondern auch darnach
zu beurtheilen, wie weit die einen oder die andern derselben Uubergänge dar¬
stellen mögen zu den gemischten und den verbundenen und den verstärkten
angeborenen psychopathischen Minderheiten.“ Nachdem wir dann noch in einem
Abschnitt die spezifischen konstitutionell beeinflussten Belastungen, d. h. also
einfach die psychischen Anomalien kennen gelernt haben, welche durch Intoxi¬
kationen (Alkohol, Morphium u. s. w) nach Krankheitszuständen (Influenza etc.)
und besonderen Lebensvorgängen (Entwicklung, Schwangerschaft etc.) bedingt
werden können, folgt ein Schlusskapitel C: Die konstitutionellen Belastungen,
also wieder etwas Anderes, als die konstitutionell beeinflussten Belastungen.
Kapitel C soll unheilbare Leiden vorführen, welche wieder in allgemein
konstitutionelle Belastungen — gewöhnliche Schwächeformen — und in spezi¬
fische — Hypochondrie und Hysterie — zerfallen.
Wer sich nun durch das Ganze wirklich durchgelesen hat und wollte
einen Menschen, der durch Onanie neurasthenisch geworden ist, in Koch’s
Schema einstellen, der müsste den Kranken also zu den onanistisch konstitutionell
beeinflussten erworbenen psychopathischen Minderwerthigkeiten resp. zu der
onanistisch konstitutionell beeinflussten Belastung rechnen: Eine langathmige
Bezeichnung!
Auch die therapeutischen Winke des Verfassers lehnen sich an bekannte
Grundsätze an.
Das Werkchen bietet also im Ganzen nichts Neues, sondern bringt nur
Dinge, welche seit Beard, Sander, Westphal, Samt, Krafft-Ebing
u. A. wohlbekannt geworden sind, in neuer Gruppirung und mit neuen Bezeich¬
nungen. Aber in dieser Anordnung findet sich selbst der Irrenarzt mit dem
besten Willen nicht leicht zurecht; und das Verständnis wird dadurch nicht
erleichtert, dass in dem Werkchen durch reichliche Ausnutzung von fettem und
gesperrtem Druck die Aufmerksamkeit bei dem Wichtigeren festzuhalten gesucht
wird. Wir können ja den Ausdruck psychische — nicht psychopathische — Min¬
derwertigkeit für die psychischen und somatischen Eigentümlichkeiten be¬
halten, welche ausserhalb dos psychisch Normalen liegen und zu den leichtesten
krankhaften Affektionen hinül erleiten. Für das Verständniss ist es unseres Er¬
achtens nach aber weit werthvoller, wenn wir darin leichte Formen von Entar¬
tungspsychosen resp. Paranoiasehen, denen sich dann die psychischen Anoma¬
lien anschliessen, welche, ohne zu ausgesprochenem Irrsinn zu führen, durch In¬
toxikationen, Erschöpfungszustände u. dergl. bedingt worden sind. Die Dege¬
nerationsanomalien sind ja in den letzten Jahren in ihren verschiedenen Erschei¬
nungsformen gründlich studirt, so dass wir die leichtesten Formen, deren psychische
Abneigung nur eine Disharmonie des geistigen Seins zeigt, ebensogut, wie die
verschiedenen Grade des Schwachsinns kennen gelernt haben. Behalten wir
doch den Rahmen, in dem wir bisher das von Koch Besprochene unterzu¬
bringen gewohnt waren. Die Psychiatrie ist schon lange mit einer Fülle der
Bezeichnung für Gleiehwerthiges belastet! Es thut uns deshalb eine Verein¬
fachung der Terminologie, keine Einführung neuer Namen für bisher Bekanntes
Noth. Dr. Kühn- Uslar.
Dr. B. Ascher: Zur staatlichen Beaufsichtigung der
Irrenanstalten. Berlin 1893. Verlag von S. Karger.
36 Seiten, gross 8°.
Verfasser knüpft in seiner Schrift an die bekannten Vorgänge der letzten
Monate an und berichtet zur Belehrung für diejenigen Kreise, welche noch
immer der Ansicht sind, dass bei uns Vergewaltigungen von gesunden Personen
von Seiten der Irrenärzte in den Anstalten Vorkommen, über die zur Zeit be¬
stehenden gesetzlichen Bestimmungen. Dieselben erstrecken sich über die Ein¬
richtung und Verwaltung von Irrenanstalten; ganz besonders ausführlich ist das
Kapitel des Aufnahmeverfahrens und der Entmündigung behandelt. Am Schlüsse
der lesenswerthen Arbeit fasst Verfasser seine Vorschläge betreffend die Aus¬
dehnung der staatlichen Aufsicht u. s. w. in folgenden Sätzeu zusammen, die
102 Besprechungen.
Übrigens theilweise auch schon früher von anderer Seite aofgestellt worden
sind:
1. Es ist eine Zentralbehörde für das preussische Irren wesen zu schaffen,
welche aus einem erfahrenen Irrenanstaltsleiter, einem höheren Verwaltungs¬
beamten und einem technischen Beirath zusammengesetzt ist. Dieser Behörde
liegt ausser den sub 2 anzuführenden Pflichten eine Begutachtung aller Pläne,
welche neu einzurichtende Irrenanstalten sowie die Umänderung bestehender
betreffen, ob. Sie hat ferner ein stetes Augenmerk darauf zu richten, ob die
von den dazu verpflichteten Verbänden gemachten Aufwendungen für die Irren¬
pflege den Bedürfnissen genügen. Sie hat alle Neuerungen in der Irrenpflege
zu versorgen und der Ordnung der Verpflegungsart geisteskranker Verbrecher
und verbrecherischer Geisteskranker ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden.
2. Die öffentlichen Irrenanstalten werden in fünfjährigen Fristen, die
Privatanstalten einmal alljährlich von der Zentralbehörde besichtigt.
3. Das Aufnahmeverfahren ist möglichst zu vereinfachen. Erforderlich
ist zur Aufnahme das Attest eines approbirten Arztes, in welchem dargethan
wird, dass die Aufnahme der betreffenden Person in eine Irrenanstalt uothwendig
ist. Ausser den Polizei- und Gerichtsbehörden müssen die Ehegatten, Ange¬
hörigen, der Vormund, das Vormundschaftsgericht und die Armenpflege zur Auf¬
nahmerequisition berechtigt sein.
4. Ueber jede Aufnahme eines Geisteskranken hat die Anzeige an die
Staatsanwaltschaft zu erfolgen (Geschieht auch jetzt schon. Ref.). Eine Entmündi¬
gung der Geisteskranken in den öffentlichen Irrenanstalten hat nicht nothwendiger
Weise stattzufinden; die in den Privatanstalten befindlichen Geisteskranken
müssen entmündigt werden, sobald sie als unheilbar erkannt sind, bezw. ihre
Heilung binnen einer festzusetzenden Zeit nicht zu erwarten ist.
Ders.
Deutscher Hebammen-Kalender fDr das Jahr 1893. V. Jahrgang.
Berlin 1893. Verlag von Elwin Staude. 12°.
Der vorliegende Jahrgang des Deutschen Hebammen - Kalenders für 1893
enthält neben anderen Erweiterungen als wichtigste die von Gleitsmann-
Wiesbaden kurz und zweckmässig zusammengestellten Pflichten und Rechte
der Hebammen nebst den hauptsächlichsten Unterschieden des alten
und neuen Lehrbuchs. Zu erwähnen wäre etwa Folgendes: Bei Kapitel Wohn¬
sitz (S. 2) müssten die in Klammer gesetzten Worte lauten: „auf dem Lande
meistens der Amtsvorsteher bezw. auch Bürgermeister“: bei Kapitel „Geburten-
Verzeichniss“ (S. 8) wäre wohl hinzuzufügen „bezw. das Tagebuch selbst einzu¬
senden“, wie es ganz zweckmässig in den meisten Bezirken eingeführt ist.
Im Uebrigen sind die Rechte der Bezirkshebammen (S. 25) noch immer nicht
überall, zumal in diesem Umfange, statutarisch geregelt, weil seitens der Re¬
gierungen ein Zwang auf die Hebammenbezirke nicht ausgeübt werden kann.
Recht praktisch sind auch die Anweisung zur Ernährung und
Pflege der Kinder, die zehn goldenen Regeln von Prof. Leopold,
der Diätzettel und die Meldebriefe an den Arzt. Ob die Bezugs¬
quellen nicht besser fortzulassen wären, will ich dahingestellt sein lassen,
jedenfalls können sie die Hebamme leicht zu einer durch das neue Lehrbuch
noch besonders streng verbotenen selbstständigen Anordnung bezw. Verordnung
verleiten. Ferner dürfte die Hebamme ihre Klienten in erster Reihe auf die
nächstgelegene Apotheke bezw. Drogenhandlung zu verweisen haben.
Besonders erörtern muss ich aber die im Vordruck über den Gebrauch
des Kalenders gegebene Anweisung, dass erst nach Vollendung der Ge¬
burt und nach Einstellung der Besuche die Tagebuchnotiz und als¬
dann das eigentliche Tagebuch auszufüllen ist. Das Hebammen - Tage¬
buch ist das urkundliche Journal, das über die Handlungen der Hebammen
jederzeit Auskunft geben soll, daher sind die Einträge sobald als möglich, in
der Regel spätestens innerhalb 24 Stunden zu machen. Alle anderen Aufzeich¬
nungen, so zweckmässig und lehrreich sie sein mögen, bleiben schwerer kon-
trolirbare Privatnotizen. Uebrigens erleichtert das Quartformat des Tagebuchs
die Mitführung in der Hebammentasche behufs sofortiger Eintragung bezw. Vor¬
lage vor dem Arzte. Wo dieses Verfahren nicht angeordnet ist, kann wenig¬
stens die sofortige Eintragung in die dieselbe Rubriken führende Tagebuchnotiz
Tagesnachrichten.
103
▼erlangt werden. Hierbei wäre die Einführung des früher wohl allgemein
üblichen Folioformats zu erwägen, das in vieler Hinsicht, z. B. für Zählungen,
Addiren der Karbolsäure, bequem, auf jeden Fall aber sparsamer gewesen ist.
Der geringe Preis (1 Mark) ermöglicht jeder Hebamme wenigstens die
einmalige Anschaffung des Kalenders, die im äussersten Fall auf Kosten der
Hebammenbezirke zu veranlassen wäre, da der Kalender, wenigstens in je einem
Exemplare, zu den für die Hebamme erforderlichen Büchern zu rechnen ist.
Dr. Blokusewski-Daun.
Tagesnachrichten.
Der 12. Kongress für innere Medizin findet vom 12. bis 15. April
1893 zu Wiesbaden statt. Zur Verhandlung werden folgende Themata ge¬
langen: Am ersten Sitznngstage, Mittwoch, den 12. April: Die Cholera.
Beferenten: Prof. Dr. R u m p f - Hamburg und Prof. Dr. Ga ff ky-Giessen. Am
dritten Sitzungstage, Freitag, den 14. April: Die traumatischen Neu¬
rosen. Referenten: Prof. Dr. Strümpell -Erlangen und Prof. Dr. W e r n i c k e-
Breslau. Ausserdem sind folgende Vorträge bereits angemeldet: Ueber parenchy¬
matöse Injektionen bei Tonsülenerkraukungen: Geh. Rath Prof. v. Ziemssen-
München. — Die Herstellung, Konserrirung und Verwerthung des Immuntoxin¬
proteins (Immunprote'idins) zur Schutzimpfung und Heilung bei Infektionskrank¬
heiten: Prof. Dr. Emmerich-München. — Ueber den Krebs und seine
Behandlung: Prof. Dr Adamkiewicz-Krakau. — Zur Chemie des Blutes:
Prof. Dr. v. Jak sch-Prag. — Ueber die Funktion des Magens: Prof. Dr.
v. Me ring-Halle. — Ueber die Behandlung einiger Reizerscheinungen und
Blutungen des Magens: Prof Dr. Flei n er-Heidelberg. — Haben die Karls¬
bader Wässer ekkoprotische Wirkung?: Dr. Pollatschek-Karlsbad.— Ueber
Phloridzinwirkung: Dr. Rosenfeld-Breslau. — Ueber Blutuntersuchungen im
Gebirge: Dr. Koeppe-Reiboldsgrttn.
Der XII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie wird
vom 12.—15. April d. J. in Berlin im grossen Hörsaale des Langenbeckhanses
stattfinden. Etwaige Vorträge oder Ankündigungen von Demonstrationen sind
so bald als möglich bei dem ständigen Schriftführer, Herrn Geh. Med.-Rath
Prof. Dr. Gnrlt (Berlin W., Keithstrasse Nr. 6.) anzumelden.
Unterrichtskurse für die bakteriologische Ermittelung der Cholera.
Der Reichskanzler hat unter dem 30. Januar d. J. an sämmtliche ausserpreussi-
schen Bundesregierungen nachstehendes Rundschreiben erlassen, betreffend die
Abhaltung von Unterrichtskursen im Kaiserlichen Gesundheitsamte für die bak¬
teriologische Ermittelung der Cholera:
„Bei der vorjährigen Cholera - Epidemie in Deutschland hat sich an man¬
chen Orten ein Mangel an Aerzten geltend gemacht, welche im Stande gewesen
wären, die zur Feststellung der Cholera erforderlichen bakteriologischen Unter¬
suchungen auszuführen. Um diesem Missstande für den Fall eines neuen Seuchen-
ansbruchs vorzubeugen, ist in Aussicht genommen, im Kaiserlichen Gesundheits¬
amt durch Abhaltung von Kursen, gleichwie dies im Jahre 1884 geschehen ist,
Aerzten die Gelegenheit zu bieten, sich für die bakteriologische Ermittelung der
Cholera auszubilden. Der Beginn der Unterrichtskurse, an welchen je acht Aerzte
theilnehmen könnten, ist für die erste Hälfte des nächsten Monats in Aussicht
genommen. Der Unterricht, für welchen je eine Dauer von 14 Tagen vorge¬
sehen ist, würde von dem Regiernngs - Rath im Kaiserlichen Gesundheitsamt
Dr. Petri geleitet und sowohl auf die bakteriologische Erkennung der Cholera,
als auch auf die Epidemiologie der Seuche erstreckt werden. Für die Theil-
nahme an den Kursen können nur Aerzte in Betracht kommen, welche sich in
der bakteriologischen Technik von früher her schon eine gewisse Vorbildung er¬
worben haben und im Besitze eines ausreichenden Bakterienmikroskops sind,
welches zu dem Unterrichtskurse mitzubringen sein würde. Für den Fall, dass
dortseits der Wunsch bestehen sollte, Aerzte zur Theilnahme an den Unterrichts¬
kursen zu entsenden, beehre ich mich dem etc. (der etc., Eurer etc.) ergebenst
anheimzustellen, die hierfür in Aussicht genommenen Aerzte dem Direktor des
104
T&gesn&chrichten
Kaiserlichen Gesundheitsamts, der den Zeitpunkt der Einberufung nach dem
Umfang der Betheiligung festzusetzen haben wird, gefälligst bezeichnen zu
wollen.“
Reichsseuchengesetz. Der Entwurf eines Gesetzes, betreffend
die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten, ist nunmehr
dem Bnndesrathe zugegangen und im Reichsanzeiger veröffentlicht. Dasselbe
ist in der heutigen Beilage in extenso abgedruckt. Eine eingehende Besprechung
des Entwurfes behalten wir uns vor.
Die Cholera kann im Saalkreis als erloschen angesehen werden. In
der Provinzialirrenanstalt zu Nietleben sind seit dem 8. Februar keine neue
Erkrankungen mehr vorgekommen; die Gesammtzahl der Erkrankten seit Auf¬
treten der Epidemie stellt sich auf 119 mit 49 Todesfällen. Ausser den ver¬
einzelten Erkrankungen in Trotha (5) u. Wettin (1) sind noch 3 solche in Lettin
und 4 in Kröllwitz mit je einem Todesfall beobachtet worden.
In Hamburg ist seit dem 21. Januar nur noch eine einzige Erkrankung
an Cholera vorgekommen; während in Altona die Zahl der Erkrankungen in der
Woche vom 22.-28. Januar 7 mit 5 Todesfällen, in derjenigen vom 29. Januar
bis 4. Februar 15 mit 9 Todesfällen und in der Woche vom 5.—11. Februar 11
mit 4 Todesfällen betrug.
In Galizien scheint die Seuche völlig erloschen zu sein, wenigstens sind
seit dem 30. Januar keine Cholera-Erkrankungen mehr zur amtlichen Kenntniss
gelangt.
In Pest betrug die Zahl der Erkrankungen vom 22.-28. Januar 16 mit
11 Todesfälle, vom 29. Januar bis 4. Februar 14 mit 9 Todesfällen.
Ueber den Stand der Cholera in Russland liegen keine näheren Nach¬
richten vor; dagegen wird das Auftreten der Seuche in Marseille (Frank¬
reich) gemeldet.
Im Preussischen Kultusministerium ist am 10. d. M. unter dem Vorsitz
des Ministerialdirektors Bartsch eine Konferenz zur Berathung von
Massnahmen gegen die Cholera zusammengetreten, an der Kommissare
aus den Ministerien für Handel, Landwirthschaft, öffentliche Arbeiten und Me¬
dizinalangelegenheiten, der Oberpräsident v. Gossler und der Reg.-Rath Del¬
brück aus Danzig theilgenommen haben. Die Verhandlungen dieser Konferenz
dürften im Zusammenhang stehen mit der vom Deutschen Reich und Oesterreich
in Anregung gebrachten internationalen Konferenz behufs Berathung
der gegen die Cholera mit Rücksicht auf den Verkehr zu ergreifenden Mass-
regeln. Als Versammlungsort dieser Konferenz ist Dresden in Aussicht
genommen. _
Leichenverbrennong. Die freireligiöse Gemeinde in Berlin hat auf die
an den Minister des Innern gerichtete Vorstellung um Zulassung der Leichen-
verbrennnng einen von diesem und dem Kultusminister Unterzeichneten ablehnen¬
den Bescheid erhalten, in dem es am Schlüsse heisst, „dass die Minister nach
wiederholter Erwägung der Sache auf dem von ihren Amtsvorgängern einge¬
nommenen Standpunkte verharren müssen und daher nicht in der Lage sind,
dem erneuten Gesuche um Zulassung der Leichenverbrennung weitere Folge
zu geben.“
Auch in der am 3. d. M. stattgehabten Landtagssitzung wurde die vom
Abgeordneten Dr. Langerhans in Anregung gebrachte Frage der Leichen¬
verbrennung vom Herrn Ministerpräsidenten und Minister des Innern Grafen
zu Eulenburg ablehnend beantwortet. Die Angelegenheit sei aus Anlass der
Cholera - Epidemie von den Verwaltungsbehörden und betheiligten Ministerien
von Neuem unter Zuziehung von Sachverständigen und von allem zu Gebote
stehenden Material auf das Sorgfältigste in Erwägung gezogen, „das Ergebniss
dieser Erwägung aber dasselbe gewesen, wie dasjenige der Kommission des Ab¬
geordnetenhauses im vorigen Jahre: nämlich auf dem Standpunkte zu bleiben,
dass die Genehmigung zur Leichenverbrennung nicht zu erthcilen sei“.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med -Rath i. Minden i. W.
C. C. Bmn», Boohdruckerei, Mindun.
6. Jahrg.
Zeitschrift
für
1893.
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rathu.gerichtl.Stadtphysikus inBerlin. Reg.- und Meduinalrath in Minden.
und
Dr. WILH. SANDER
Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalld«rf-lk-rlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlung und Rud. Mosso
entgegen.
No. 5.
Erscheint am 1. und 15. jeden Monats.
Preis j&hrlioh 10 Mark.
1 .
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen
und der Schulkinder des Kreises Isenhagen.
Von Dr. Max Langerhans, Kreispliysikus in Haukensbüttel.
(Fortsetzung.)
B. Die Schulkinder.
Genaue Untersuchungen grösserer Mengen von Schülern ver¬
danken wir bekanntlich vor Allem (len in Dänemark und Schweden
zur Untersuchung der Schulgesundheits - Verhältnisse eingesetzten
Untersuchungs - Ausschüssen und das klassische Werk, in dem
Axel Key als Berichterstatter des schwedischen Ausschusses die
Ergebnisse dieser auf viele Tausende von Schülern ausgedehnten
Untersuchungen niedergelegt hat, wird iiir ewige Zeiten einen
Markstein in der Entwickelung der Sehulgesimdheitspiiege bilden.
Es ist nicht nur die überraschende Fülle neuer und wichtiger
Thatsachen, mit denen uns diese in grossartigstem Styl vorge¬
nommene Untersuchung bekannt gemacht hat, sondern vor Allem
wird auch die dabei verwendete Methode, namentlich die um¬
fassende Verwendung von Maass und Waage bei allen ähnlichen
Untersuchungen als Muster zu dienen haben. Dagegen wird das
Zusammenwirken von Schule und Haus, von welchem Key mit
bestem Erfolg bei Feststellung des Gesundheitszustandes der
Mittelschüler so ausgedehnten Gebrauch macht, für die ländliche
Volksschule kaum in Betracht kommen. Denn, wer die schrift¬
lichen Elaborate unserer Landleute aus eigener Erfahrung kennt,
wird mir darin Recht geben, dass auf dem Wege des Zählblätt¬
chens, dessen Fragen durch die Eltern beantwortet werden sollen,
brauchbares Material nicht zu gewinnen ist. Ich bin daher, ebenso
wie übrigens auch H e r t e 1 bei den dänischen Volksschulen, anders
verfahren; ich habe die sämmtlichen Schulkinder des Kreises
selbst untersucht und mich auf die Ergebnisse meiner Unter-
106
Dr. Langerhans.
suchung verlassen, wobei ich natürlich den vorgebrachten Klagen
der Schulkinder, den Anmerkungen in den Schulversäumnisslisten,
vor Allem aber auch den Angaben der Lehrer die gebührende
Beachtung schenkte.
1. Messung und Wägung.
Bei der Untersuchung bin ich so verfahren, dass ich zunächst
bei sämmtliehen Kindern einer Klasse Körperlänge, Brustumfang
und Gewicht feststellte. Für die Längenmessungen benutzte ich
einen zusammenlegbaren und leicht tragbaren Messapparat, wel¬
chen ich, da mir Virchow’s Reise-Messapparat und Topinard’s
toise anthropomdtrique nicht geeignet, bezw. zu tlieuer erschienen,
nach eigenem Modell hersteilen liess. Gemessen wurde nach Ab¬
legung des Schuh Werkes — ein Akt, der sich bei der pantoffel-
bekleideteu Dortjugend mit grosser Leichtigkeit vollzieht. Der
Brustumfang wurde über dem Hemde, bei Mädchen meistens über
dem am Unterrock befestigten Leibchen gemessen. Bei der
Wägung, zu der die gewöhnliche, auf jedem Bauernhüte vorhandene
Dezimal-Briiekenwaage verwendet wurde, wurden Oberkleider und
Schuhwerk abgelegt. Maasse unter cm, bezw. Gewichte unter
1 2 kg wurden vernachlässigt. Die gesummte Zahl der unter¬
suchten Kinder der sämmtliehen Schulklassen des Kreises betrug
2393, davon 1170 Knaben und 1217 Mädchen; dazu kommen noch
51 nicht den Volksschulen angehörende Knaben im Alter von 14
bis 17 Jahren, Präparanden, Privatschüler und Schüler der ge¬
werblichen Fortbildungsschulen, welche ich ebenfalls untersucht
habe, da ich die Fortsetzung der Wägungen und Messungen über
das schulpflichtige Alter hinaus für besonders wichtig liälte wegen
des Vergleiches mit gleichaltrigen Schüler höherer Lehranstalten.
Leider ist das mir hierin zu Gebote stehende Material zu klein,
um für eine zuverlässige Statistik Verwendung zu finden.
Die Grössen- und Gewichtsverhältnisse der Volksschüler er-
giebt nachstehende Tabelle:
Tabelle I.
Durchschnittdange und Durchschnittsgewicht der Volksschüler,
i Knaben. Mädchen.
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Sa. 1170 , , Sa. 1217
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 107
Hierzu ist Folgendes zu bemerken:
Auffallend könnte zunächst die Abnahme der 14jährigen
Kinder, welche sich sowohl bei Knaben, wie bei Mädchen in Kör¬
perlänge und Gewicht zeigt, erscheinen. Die Zahlen — 13 Knaben
und 12 Mädchen — sind allerdings nur klein; ich möchte trotzdem
diese schwächliche Beschaffenheit der 14 jährigen Kinder nicht für
ein Spiel des Zufalles halten; denn im normalen Verlauf sind im
Herbst in der Volksschule 14 jährige Kinder überhaupt nicht vor¬
handen; es kann sich also bei diesen Kindern nur um irgendwie
abnorm, körperlich oder geistig zurückgebliebene Individuen handeln,
welche das Ziel der Volksschule rechtzeitig zu errreichen nicht
im Stande waren. Es wäre daher unbillig, diese wenigen, zurück¬
gebliebenen Kinder als Repräsentanten ihrer Altersklasse ver-
werthen zu wollen und habe ich sie daher aus der nachfolgenden
Statistik grundsätzlich ausgeschlossen, ebenso wie die wenigen
5 jährigen Kinder, so dass stets nur die normalen 8 Jahrgänge der
Volksschule berücksichtigt werden. Somit sinkt die Zahl der
Kinder auf 1160 Knaben und 1204 Mädchen. —
Im Uebrigen zeigt sich die bekannte, durch sämmtliche ähn¬
liche Untersuchungen zu der Gültigkeit eines allgemeinen Gesetzes
erhobene Erscheinung, dass die Knaben im Anfang sowohl grösser,
als schwerer sind, wie die Mädchen, dass aber bei den letzteren
in Folge der früher auttretenden Geschlechtsreife eine ungemein
viel schnellere Entwickelung eintritt. Schon mit 11 Jahren sind
daher die Mädchen den Knaben an Länge und Gewicht ziemlich
gleich und lassen sie von diesem Zeitpunkt an in beiden Be¬
ziehungen weit hinter sich. Es ist dies ein Unterschied in der
Entwickelung, der erst nach Ablauf der schulpflichtigen Jahre
seine endgültige Ausgleichung zu Gunsten der Knaben zeigt.
Von Interesse ist ferner ein Vergleich mit den Zahlen anderer
Untersucher, wie sie die nachfolgenden Tabellen zeigen.
Tabelle II.
Körperlänge der Knaben verschiedener Nationen.
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11
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137,9
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143,1 9
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I
108
Dr. Langerhans.
Tabelle III. Körpergewicht der Knaben verschiedener Nationen.
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Tabelle IV. Körperläuge der Mädchen verschiedener Nationen.
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125,0
126,1
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130
11
130,1
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Tabelle V. Körpergewicht der Mädchen verschiedener Nationen.
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40,0
Die. ganz bedeutenden Unterschiede, welche in dem grossen
Zahlen-Material dieser Tabellen enthalten sind, lassen sich in sehr
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 109
übersichtlicher Weise, wobei allerdings manches interessante und
wichtige Detail verwischt wird, auf die Art zur Anschauung
bringen, dass man von jeder Kategorie von Schulkindern durch
Zusammenfassen aller acht Jahrgänge Durchschnittslänge- und
-Gewicht berechnet.
Tabelle VI
Dnrchschnittslänge und Durchschnittsgewicht der Schulkinder verschiedener
Nationen.
Knaben
Mädchen
Länge
cm
Gewicht
kg
Länge
cm
Gewicht
kg
Belgier.
124,0
24,5
122,0
23,0
Amerikaner ....
128,5
28,5
128,0
27,0
Italiener.
123,0
24,0
123,0
23,5
Schweden.
131,0
29,0
129,5
29,0
Dänen .
127,0
28,0
127,0
27,5
Sachsen .
126,5
28,0
126,0
28,0
Lüneburger ....
127,5
28,0
128,0
28,0
Es ist von vornherein klar, dass es in erster Linie Racen-
Eigenthümlichkeiten sind, welche in den grossen Längen-
und Gewichts - Unterschieden zur Anschauung gelangen. Und
wenn die auffallend starke körperliche Entwickelung, welche als
Stammes - Eigentümlichkeit der germanischen Völker den Römern
bei der ersten Begegnung in die Augen fiel, sich auch heute noch
bei den Schulkindern germanischer Abstammung ihren gleichaltri¬
gen Genossen romanischen und slavischen Stammes gegenüber
durch Waage und Gewicht nachweisen lässt, so muss diese beach-
tenswerthe anthropologische, bezw. ethnologische Thatsache
den hygienischen Werth dieser Untersuchungsmethode nothwendig
in hohem Grade beeinträchtigen. Den nordischen Völkern freilich
hat ihre isolirte Lage es ermöglicht, den germanischen Typus
verhältnissmässig rein und unvermischt zu bewahren und hier
mag der von Axel Key nahe gelegte Schluss, dass Zurück¬
bleiben der Schulkinder in Länge und Gewicht auf hygienische
Mängel der betreffenden Schule hinweisen dürfte, berechtigt sein.
Anders in Deutschland! Denn hier hat das Durcheinanderwirbeln
der verschiedensten Stämme während der Völkerwanderung, die
darauffolgende Besiedelung durch die Wenden und das Jahr¬
hunderte lange Hin- und Herwogen zwischen diesem Volksstamme
und den wieder rückwärts drängenden Germanen, dazu allerlei
Beimengungen romanischen und polnischen Blutes eine so mailich-
faltige Blutmischung zur Folge gehabt, dass gar nicht anzunehmen
ist, dass Waage und Maass allerwärts gleiche Befunde geben
sollten. Thatsächlich ist das Vorkommen von Volksschlägen klei¬
neren oder grösseren Körperbaus auf räumlich oft recht eng um¬
grenzten Gebieten eine Erscheinung, welche den Militär - Ersatz-
Kommissionen sehr wohl bekannt ist. Auch im Freiberger Distrikt
war dem Schulrath Lolise aufgefallen, dass die nach den sächsi¬
schen Normalmaassen angefertigten Subsellien durchweg zu gross
waren und die auf seine Veranlassung vorgenommene Messung und
110
Dr. Langerhans: Die gesnndheitlichen Verhältnisse etc.
Wägung sämmtlicher Schulkinder ergab denn auch, dass sie
durchschnittlich erheblich kleiner waren, als die Kinder im übrigen
Sachsen! Es ist ferner bekannt und ja auch nur zu verständlich,
dass mangelhafte Ernährung und die übrigen Schädigungen sozialer
und hygienischer Missstände hemmend auf die körperliche Ent¬
wickelung ein wirken; es erklärt dies aber nur zum Theil die
Thatsache, dass die Schüler der höheren Lehranstalten allerwärts
grösser befunden werden, als die Kinder der Volksschulen und es
ist nicht unwahrscheinlich, dass auch hierbei vererbte ethnologische
Eigenthümlichkeiten in die Erscheinung treten.
Es war mir nun seit langer Zeit bekannt, dass auch in un¬
serem Kreise derartige Verschiedenheiten vorhanden sind, dass
namentlich im Süden und Westen des Kreises die Bevöl¬
kerung durchweg längeren Körperbau besitzt, als die
gedrungener gebauten Bewohner des östlichen, an die
Altmark angrenzenden Theiles. Ich muss es mir leider ver¬
sagen, an dieser Stelle näher einzugehen auf die sehr interessanten
Thatsachen, welche sich mir bei näherer Prüfung dieser Verhältnisse
aufdrängten, welche zum grossen Theil aber mehr auf anthropolo¬
gischem, als auf eigentlich hygienischem Gebiet liegen. Für diejenigen
Leser, welche ländlichen Verhältnissen näher stehen, wird es keiner
näheren Ausführung bedürfen, warum ich bei dieser Betrachtung nicht
das einzelne Dorf, sondern das Kirchspiel als Einheit zu Grunde legen
konnte, wobei allerdings von den elf Kirchspielen des Kreises die
unter 1000 Einwohner zählenden Kirchspiele Ohrdorf, Oesingen,
Sprackensehl, Steinhorst und Zasenbeck wegen der kleinen Zahl
der Schulkinder keine Berücksichtigung fanden. Das kleine Kirch¬
spiel Isenhagen (300 Einwohner) konnte zu dem räumlich nicht
von ihm getrennten Hankensbüttel zugezogen werden, so dass
fünf grössere Kirchspiele: Brome (2825 E.), Knesebeck (2080E,),
Hankensbüttel - Isenhagen (3244 E.), Wahrenholz (1448 E.) und
Wittingen (3524 E.) für die Vergleichung übrig bleiben. Ich will
von Aufführung der Tabellen Abstand nehmen und nur das Schluss¬
resultat anführen, dass thatsächlich in Brome und Knesebeck die
Schulkinder kleiner und leichter sind, als in Wahrenholz, Wittingen
und Hankensbüttel - Isenhagen, ja, dass diese Differenzen, die sich
in sehr gleichmässiger Weise, bei Knaben, wie bei Mädchen und
einige unbedeutende Schwankungen abgerechnet, Jahrgang für
Jahrgang wiederholen, sehr beträchtliche — bis 3cm und 2 1 j a kg —
sind. Ich kann ferner anführen, dass die Rekrutirungs-Stamm-
rollen, welche mir Seitens des Landrathsamts in freundlichster
Weise zur Verfügung gestellt w r orden, dies Resultat durchaus be¬
stätigen, dass z. B. die Rekruten der drei Jahrgänge 1890, 1891
und 1892 aus dem Kirchspiel Brome durchschnittlich nur 165,0 cm
lang und 59,5 kg schwer, aus Walirenholz dagegen 168,3 cm lang
und 62.3 kg schwer waren. Die Ursache dieser Erscheinung ist
nicht ohne Weiteres festzustellen; die Erklärung, mit der das
Volk sich der allbekannten Thatsache gegenüber ablindet, dass
nämlich die Grossen und Kräftigen germanischen und die Kleinen
und Gedrungenen wendischen Stammes seien, findet durch ge-
Dr. Friedrich: Maseru und Rüthein.
111
schichtliche Nachrichten, soweit sie mir zugängig waren, vorge¬
schichtliche Funde und durch das Studium der Orts- und Eigen¬
namen nur eine sehr bedingte Bestätigung. Von den übrigen
Mitteln anthropologischer Forschung, Schädelmessung, genauerer
Würdigung der Haar- und Augenfarbe u. s. w. habe ich, um die
Untersuchung nicht zu sehr auszudehnen, mit Bedauern Abstand
nehmen müssen. Ich bin aber der Meinung, dass eine allgemeine
Schul - Enquete, wie ich sie für nothwendig halte, auch auf diese
Verhältnisse wird Rücksicht nehmen müssen; denn die beiden
Disziplinen, Schulhygiene und Anthropologie haben so viele ge¬
meinschaftliche Berührungspunkte, dass ein Handinhandgreifen für
beide die erspriesslichsten Folgen haben müsste. Zu dem Schul¬
mann, dem Arzt und dem Statistiker, welche die Elemente des
nordischen Untersuchungs-Ausschusses bilden, hätte also als Vier¬
ter der Anthropologe hinzuzutreten. Es ist bereits oben ausgeführt
worden, dass eine solche Enquete, welche festzustellen hätte, wie
die von Axel Key und Hertel aufgedeckten Entwickelungsgesetze
sich für unsere Schuljugend gestalten, gleichmässig die verschieden¬
sten Bevölkerungsklassen, wohlhabende, ärmere, städtische und länd¬
liche, Ackerbau- und Gewerbetreibende Klassen zu berücksichtigen
haben würde. Ja, man wird noch weiter gehen müssen und nicht
umhin können auf die von mir betonten örtlichen Unterschiede
das Augenmerk zu richten. Die Resultate der Messung und
Wägung, für jeden Schulort inTabellenform zusammen¬
gestellt,würden nicht nurunmittel bar praktische Ver-
werthbarkeitbesitzen,beispielsweisebeiBe8timmung
der Ausmaasse für Subsellien, sondern sie würden vor
Allem die Grundlage abgeben für regelmässige, perio¬
disch wiederkehrende Messungen und Wägungen sämmt-
licher Schüler, wie sie nach AxelKey’s denkwürdigen
Forschungen eine unabweisbare Forderung der Schul¬
hygiene bilden, zum wenigsten für alle diejenigen
Schulen, welche weitgehende Ansprüche stellen an die
körperlichen und geistigen Kräfte der Schüler.
(Fortsetzung folgt.)
Masern und Rötheln.
Von Kreisphysikus Dr. Friedrich in Landsberg a. W.
Zur Frage, ob Masern und Rötheln identisch sind, welche
in Nr. 1 dieser Zeitschrift besprochen ist, bin ich in der Lage
Material beizubringen, welches meines Erachtens den unzweifel¬
haften Beweis bringt, dass beide Krankheiten völlig selbstständige
Arten sind, wie ja auch Herr Kollege Flatten annimmt.
Vor etwa 8 Jahren traten hier zwei sehr ausgedehnte Epi¬
demien beider Krankheiten neben einander auf. Die Symptome
beider Krankheiten waren dieselben nur mit dem Unterschiede, dass
die Rötheln eine durchschnittlich in jeder Beziehung leichtere Er¬
krankung darstellten, sodass schwere Röthelfälle den mittelschweren
Maserfallen glichen. Im Einzelfalle war oft die Diagnose zwischen
beiden nicht zu machen, sondern nur, wenn ein Kind nachweislich
112
Dr. Schlegtendal.
schon eine der beiden Krankheiten überstanden hatte, oder wenn
die Quelle der Infektion sicher gestellt war.
Da die Rötheln viele Jahre vorher nicht aufgetreten waren,
so nahmen sie eine sehr bedeutende Ausdehnung an und befielen
die Mehrzahl sämmtlicher Kinder der damals etwa 22000 Ein¬
wohner zählenden Stadt, verschonten auch nicht die älteren in den
obersten Klassen des Gymnasiums. Von den Masern hingegen
wurden, wie der Regel nach, diejenigen verschont, die die Krank¬
heit bereits überstanden hatten. In vielen kinderreichen Familien
wurde also die Beobachtung gemacht, dass, wenn zufällig die
Rötheln zuerst eingeschleppt waren, sämmtliche Kinder daran er¬
krankten, und dann etwa 2—3—4 Wochen später nur die Jüngeren,
die bisher die Masern noch nicht gehabt hatten, an dieser Krank¬
heit. Ebenso häufig traten auch zuerst die Masern bei den jünge¬
ren und einige Wochen später bei den gesammten Geschwistern
die Rötheln auf. Es wurden auch selbstredend eine Anzahl Fälle
beobachtet, in denen, wie sich aus den Erkrankungen im Umgangs¬
kreise, bezw. in der Schulklasse nachweisen liess, von zwei Ge¬
schwistern eines die Masern, das andere fast gleichzeitig die
Rötheln bekam und beide dann nach zwei Wochen die Rollen
vertauschten. Durch Hunderte von Fällen wurde also der Nachweis
geliefert, dass das Ueberstehen der einen Krankheit vor der In¬
fektion mit der anderen nicht den geringsten Schutz gewährt.
Nach jener grossen Röthel-Epidemie sind in meinem Bezirk
noch einige kleine in ländlichen Ortschaften und vor 2 Jahren
abermals in der Stadt beobachtet. Die Diagnose stützte sich
darauf, dass die Kinder befallen wurden, gleichviel ob sie die
Masern überstanden hatten oder nicht, und wurde dadurch nach¬
träglich sicher gestellt, dass in mehreren Fällen später Maser-
Erkrankungen folgten. —
Bei dieser Gelegenheit möchte ich daran erinnern, dass es
ausser der hier in Betracht gezogenen Röthelkrankheit noch andere
Röthel-Arten giebt. Jene dürfte nach Felix Niemeyer wegen
ihrer Aehnlichkeit mit Masern am Besten als Maser-Rötheln be¬
zeichnet werden. Nach meinen Beobachtungen giebt es sicher
noch wenigstens zwei Krankheits - Arten dieser Kategorie, die
übrigens viel seltener und stets eng begrenzt erscheinen. Die
eine hat mit leichtem Scharlach Aehnlichkeit — Seharlach-Rötheln;
die andere, die ich in ausgeprägter epidemischer Form zweimal
beobachtet habe mit je etwa 15 und 8 Fällen, zeigte kreisrunde,
linsengrosse, spärliche Flecken, ähnlich der Typhus-Roseola, etwa
20 bis 100 gleichmässig über den ganzen Körper vertheilt.
Aepfelsaures Zink in amerikanischen Apfelschnitten.
Mittheilung von Dr. Schlegtendal, Kreisphysikus in Lennep.
In der Beilage zu dieser Zeitschrift 1892 Nr. IG, Seite 114
findet sich folgende Rundverfügung des Ministers der u. s. w. Me-
Aepfelsaures Zink in amerikanischen Apfelschnitten.
113
dizinalangelegenheiten vom 28. Juli 1892 — AL N. 6484 — an
8ämmtliche Königlichen Regierungspräsidenten abgedruckt:
„Nach einer Mittheilung des Herrn Reichskanzlers ist in den aus Amerika
eingeführten getrockneten Aepfeln bezw. Apfelschnitten vielfach ein Gehalt von
äpfelsaurem Zink und zwar zum Theil in solcher Meng^ festgestellt worden, dass
für die Konsumenten die Gefahr einer (Tesundheitssehädigung entstehen kann.
Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich um gefällige Anzeige, ob im dortigen
Verwaltungsbezirk bei der Kontrole über den Verkehr mit Nahrungsmitteln
derartige Beobachtungen gleichfalls gemacht sind, eventuell in welchem Umfange,
ob ferner Gesundheitsbeschädigungen durch den Genuss solcher Aepfel bekannt
geworden, und ob Strafanträge bezw. Bestrafungen auf Grund des Nahniug.s-
mittelgesetzes, eventuell in welchem Umfange erfolgt sind.“
Wohl in Folge dieser Anregung wurden im Sommer v. J.
seitens der Polizeiverwaltung in Remscheid zahlreiche Proben von
Apfelschnitten aus den Läden entnommen und zur chemischen
Untersuchung gebracht. Der Chemiker stellte fest, dass in der
Mehrzahl dieser Proben äpfelsaures Zink enthalten war. Es wurde
hieraufhin Strafantrag gestellt, zunächst gegen fünf dieser Händler,
wegen Vergehens gegen das Nahrungsmittelgesetz, speziell wegen
„fahrlässigen“ Feilhaltens von gesundheitsschädlichen Nahrungs¬
mitteln. Der Termin vor der Königlichen Strafkammer in Elber¬
feld fand am 1. Februar 1893 statt.
Die Angeklagten hatten tlieils keine Ahnung davon gehabt,
dass ihre Waare zinkhaltig war, theils hatten sie sich zu sichern
geglaubt durch die Atteste amerikanischer Chemiker, nach denen
die betreffenden Apfelschnitte zinkfrei seien. Sie hatten selbst
von der Waare häufig genossen und weder bei sich selbst Schädi¬
gungen gemerkt, noch solches von Käufern jemals gehört.
Die Untersuchung der beiden Chemiker Dr. Will in Elber¬
feld und Dr. Kays er in Dortmund hatte übereinstimmend den
Zinkgehalt nachgewiesen, ferner hatten sie gefunden, dass derselbe
ganz ausserordentlich schwankte. Es beruht die Zinkaufnahme
darauf, dass in Amerika die Apfelschnitte auf verzinkten Eisen¬
stäben getrocknet weiden. Dieselben bleiben dann möglichst
weiss, während sie braun oder schwarz werden, wenn sie beim
Trocknen auf Holz oder unverzinktem Eis.*n lagern. Je nach dem
Zustand der Verzinkung löst sich nun von dem Zink in der Aepfel-
säure auf und bleibt an den Apfelsclmitten haften. Es ist klar,
dass unter diesen Umständen der Gehalt an äpfelsaurem Zink ganz
beträchtlich schwanken kann, sowohl von Fass zu Fass als auch
von der einzelnen Apfelschnitte zur anderen desselben Fasses.
Uebrigens waren stets nur je ca. 200 g einer Probe zusammen
untersucht, nicht aber einzeln ausgesuchte Apfelschnitte; diese
Proben hatten ‘bis zu 0,23 °/ 0 äpfelsaures Zink, berechnet zur
Trockensubstanz, ergeben.
Unser sachverständiges Gutachten ging davon aus, dass das
Zink und seine Salze zu den nicht indifferenten Stoffen gehören;
deshalb sind sie in der Pharmakopoe zu den Separanden gerechnet,
deshalb sollen die Kautschuck - Mundstücke etc. zinkfrei sein
(Reichsgesetz vom 25. Juni 1887, §. 2), deshalb dürfen zinkhaltige,
weil gesundheitsschädliche Farben zur Herstellung von Nahrungs¬
und Genussmitteln, welche zum Verkauf bestimmt sind, nicht ver-
114
{Die Enttäuschung der Medizinalbeamten.
wendet werden (Reichsgesetz vom 5. Juli 1887 §. I). Im All¬
gemeinen sei der berechnete Zinkgehalt allerdings nicht so hoch,
dass von ihm ohne Weiteres Gesundheitsschädigungen zu erwarten
seien. Andererseits könne wohl schon manche Indisposition uner¬
kannter Weise mit dem Genuss derartiger Apfelschnitten Zu¬
sammenhängen. Am bedenklichsten sei nach unserem Dafürhalten
der ausserordentlich wechselnde Gehalt an Zink. Während eine
grosse Zahl von Proben nur Spuren aufweisen, seien andere viel
reicher daran. Als noch bedeutungsvoller sei die Diiferenz
zwischen den einzelnen Apfelschnitten anzunehmen, und zwar auf
Grund der jetzt erst bekannt gewordenen Herstellungsweise und, wie
mit Wahrscheinlichkeit auch zu befürchten sei, nach den Exposes der
Chemiker. Es wäre nur zu gut denkbar, dass eine einzelne zink¬
reiche Apfelschnitte, ohne weitere Zubereitung, einem Kinde ge¬
geben werden könne, oder dass durch ein zufälliges Zusammen¬
treffen ein Gericht gerade vorwiegend aus stark zinkhaltigen
Apfelschnitten zusammengesetzt werde. In solchen Fällen sei
mit Bestimmtheit eine Einwirkung auf den Körper zu erwarten,
zumal auch bekannt sei, dass gewisse Personen sehr empfindlich
auf Zinksalze reagirten.
Das Gericht erkannte, dass 1. bewiesen sei, dass der Zink¬
gehalt die Apfelschnitten zu solchen Nahrungsmitteln zu zählen
veranlasse, deren Genuss „geeignet ist, die menschliche Gesundheit
zu beschädigen“, dass aber 2. nicht bewiesen sei, dass die Ange¬
klagten „fahrlässig“ gehandelt hätten. Die Unkenntniss sei ent¬
schuldbar, entschuldigend sei ferner, dass ihnen niemals faktische
Gesimdheitsschädigungen bekannt geworden seien. Die Ange¬
klagten wurden freigesprochen, und die Kosten aut die Staatskasse
übernommen.
Wie mir Herr Dr. Kay sei* aus Dortmund hernach mit¬
theilte, seien dort die Angeklagten Anfangs ebenfalls freigesprochen;
seitdem aber das Feillialten von zinkhaltigen Apfelschuitten
durch Polizeiverordnung verboten sei. würden nunmehr Strafen
verhängt, sobald sich in den untersuchten Waaren Zink vorfinde.
Die Enttäuschung der Medizinalbeamten.
Unter dieser Ueberschrift bringt die Berliner „Post“ in der
Beilage zu Nr. 48 ( vom 18. Februar d. J.) einen ihr von beach-
tenswerther Seite eingeschickten Artikel, dessen nach allen Rich¬
tungen hin zutreffenden Ausführungen jedenfalls ■sämmtliche Me-
dizinalbeamten zustimmen werden. Der Artikel lautet wie folgt:
n Die Enttäuschung“ der Medizinalbeamten über den diesjährigen Etat des
Medizinalwesens ist eine allgemeine und berechtigte, nachdem sie der festen
lÜberzeugung sein durften, dass endlich die auch von uns vor einiger Zeit ge¬
schilderte ganz unhaltbare Stellung der Kreisphysiker eine Aenderung erfahren
wurde. Der Etat bringt aber auch in diesem Jahre keine Summe zur Auf¬
besserung der Phvsikatsgehälter. Nicht das langjährige Bedürfnis, nicht der
eiinnüthige Wunsch aller Parteien, ja nicht einmal das drohende Gespenst der
(’holera haben dem Herrn Minister eine verliältnissmässig geringe Summe ent¬
locken können zur Reform des preussischen Medizinalwesens! Es liegt uns fern,
Die Enttäuschung der Medizinalbearaten.
115
nochmals die Dringlichkeit nachzuweisen: wir wissen, dass hiervon auch die
Regierung überzeugt ist. Aber wir halten es für unsere Pflicht zu betonen,
dass die Enttäuschung unserer Sanitätsbeamten vom ganzen Lande getheilt wird.
Das wird sich bei der Berathung des Medizinaletats zeigen.
Welchen Zweck hat unter diesen Umständen eine Verfügung des Herrn
Ministers vom 23. November 1892, welche eine 'U ebersicht über die jähr¬
lichen Einnahm cn der Physiker aus ihrer ain11 ichen Ste 11 ung
für die letzten fünf Jahre einfordert? Soll nach dem Ausfälle die er
Uebersicht die Nothwendigkeit einer Aufbesserung der Physikate beurtheilt
werden? Das können wir kaum anuehmen, denn wie würden sonst Tagegelder
und Reisekosten zu den Einnahmen gerechnet werden dürfen? Und welchen
Nutzen hat der Staat von der Thätigkeit seiner Sanitätsbeamten in deren Eigen¬
schaft als Krankenhaus- oder Eisenbahnarzt? Diese Stellungen pflegt man hier
und da — auch nicht überall — den Medizinalbeamten zuzuweisen, um ihre
Existenz zu sichern, aber nicht, um ihnen Zeit zu verschaffen, sich um die
sanitären Verhältnisse ihrer Kreise zu bekümmern. Nur solche Einnahmen
können hier in Betracht kommen, die aus sanitätspolizeilichen und event. aus
gerichtsärztlichen Geschäften fliessen — und das sind sehr winzige Summen.
Welchen Nutzen hat das Land, wenn die Physiker auf diese oder jene Neben¬
einnahmen angewiesen sind und dafür ihre Zeit und Kraft opfern müsseu?
Unsere Gegenwart verlangt Gesundheitsbeamte, die in erster Reihe
ihr em Amte leben müssen, und dazu gehört eine gänzliche Umgestaltung
des heutigen Medizinalweseus. Nicht nur das Gehalt, sondern auch die Stellung
der Physiker muss eine Aenderung erfahren. Man darf ihnen nicht nur in
Cholerazeiten Machtbefugnisse auf Wochen verleihen, denn es giebt noch andere
Feinde zu bekämpfen, welche vielleicht grösseren Widerstand entgegensetzen
als die Cholera. Der Entwurf des Reichsseuchengesetzes will ja den Kampf
gegen die Diphterie aufnehmen: Das ganze Reich kann damit zufrieden sein,
aber man verhehle sich doch nicht, dass ein solcher Kampf aussichtslos ist,
wenn nicht Beamte ihn ansfechten können. Diphtherie und Typhus erfordern ein
genaues Studium der sämmtlichen Bedingungen, unter denen die Bewohner eines
ergriffenen Landes leben, und Sachverständige wissen, welche Zeit und Mühe
solches Studium kostet. Soll hierzu unser heutiger Physikus befähigt sein? Wir
müssen es verneinen, denn seine Zeit ist durch Bahnarzt- und Krankenkassen-
thätigkeit allzusehr in Anspruch genommen.
Noch wäre es Zeit, eine Summe flüssig zu mächtig um endlich den
Wünschen des Volkes in dieser Beziehung gerecht zu werden. Wir sind über¬
zeugt, dass ein Seuchengesetz nicht durchführbar ist ohne Gesundheitsbeamte
nach unserem Sinne. Mau wird gezwungen sein, früher oder später eine Aende¬
rung vorzunehmen. Aber gerade hier ist jedes Jahr nicht nur, nein jeder Monat
kostbar, denn die Beamten müsseu sich zunächst einarbeiten und vorbereiten.
Die Cholera hat an verschiedenen Orten gezeigt, wie die Hülfe der Me¬
dizinalbeamten nöthig ist und wie sich deren privatärztliehe Praxis schlecht
verträgt mit ihren amtlichen Funktionen. Bricht solche Seuche aus,
dann hat der Physikus keine Z ei t zu anderen Leistungen und
er wird auch von furchtsamen Leuten gemieden. Und ist die Epidemie beendet,
dann soll er sich fortwährend bereit halten, wenn eine andere Gefahr droht,
Gerade die nächsten Jahre werden viel Arbeit bringen, wenn der Entwurf zur
Bekämpfung ansteckender Krankheiten Gesetz wird. Von Stunde ab werden die
Kreisphysiker angestrengt, ihrer schweren Verantwortlichkeit gemäss thätig
sein müssen.
Sollen wir nicht die Mittel finden, diesen Beamten in einer Weise beizu¬
springen, welche Lust uud Freudigkeit am Berufe und eine angemessene
Stellung gewährleistet?“
Leider hat die am 25. Februar stattgehabte Berathung des
Medizinaletats im Abgeordnetenhause die Aussichten auf eine bal¬
dige Medizinalreform nicht sehr verbessert, wenn auch die von
dem Herrn Minister auf die Anfrage des Abg. Jerusalem, wie
weit die Medizinalreform gediehen sei, gegebene Antwort etwas
günstiger lautete, als die seiner Amtsvorgänger in früheren Jahren.
116
Kleinere Mittliciluugeu uml Referat« aus Zeitschriften.
Nach dem in den politischen Blättern gebrachten Bericht sprach
sich der Herr Minister ungefähr wie folgt aus:
„Der Gedanke einer Medizinalreform wird im Kultusministerium seit
Jahren eingehend erwogen. Aber auch hier gilt der Spruch: Am Golde hängt,
nach Golde drängt doch alles. Es ist eine grosse Schwierigkeit, für neue
Zwecke erhebliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Wir müssen Rücksicht
nehmen auf unsere Finunzverhältuisse. Im vorigen Jahre wies besonders das
Auftreten der Cholera darauf hin, zu erwägen, wie weit wir mit unsern
jetzigen Ortsorganen der Medizinalverwaltung den im gesundheitlichen In¬
teresse zu stellenden Anforderungen gegenüber gerecht werden können. Leider
muss ich eingestehen, dass zu den ilassrcgeln, wie sie wirklich nothwendig
gewesen wären, unsere Organe nicht ausreichten; andererseits muss ich aber
hervorheben, dass namentlich die Ortsorgane der Medizinalverwaltung sich mit
grosser Umsicht, Hingebung und Pflichttreue den ihnen gestellten schwierigen Auf¬
gaben unterzogen haben und daher die vollste Anerkennung verdienen. Dank
dem Entgegenkommen der Militärbehörde ist es uns aber gelungen, die Cholera
zu lokalisiren, wie Sie aus der erhaltenen Denkschrift über die Cholera ersehen
werden. Was nun die Kreisphysici anlangt, so sind diese nicht nur auf die
900 M. Einkommen aus dem Kreisphysikat angewiesen, sondern beziehen
daneben noch für gewisse Amtshandlungen Gebühren, deren Höhe allerdings in
den einzelnen Kreisen sehr verschieden ist. Es kommt ferner in Frage,
wie weit sie ihre Praxis beibehalten sollen, doch ist dabei auch nicht zu ver¬
gessen, dass sie gerade durch die Privatpraxis Fühlung mit dem praktischen
Leben behalten. Ich erkenne aber an, dass die Sache so schwerlich weiter
gehen kann. Ich habe mich mit dem Herrn Finanzminister in Verbindung ge¬
setzt und es werden zunächst genaue Erhebungen über die materielle Lage der
Kreisphysiker angestellt. Diese Erwägungen sind noch nicht abgeschlossen, so
dass ich zur Zeit noch nicht bestimmte Versprechungen geben kann, wann die
Organisation fertig zu stellen möglich ist. Ganz leicht ist die Sache nicht, denn
es handelt sich nicht blos um die Gehaltsfrage, sondern um die ganze Stellung
der Physiker, um die Abgrenzung ihrer Obliegenheiten u. s. w. Seien Sie aber
überzeugt, dass die Verhältnisse selbst uns drängen, die Organisation fertig zu
stellen und haben Sie das Vertrauen, dass wir den Ernst der Verhältnisse voll
anerkennen und die Sache mit aller Energie in die Wege leiten. Mir persönlich
ist es auffallend, dass auch unter den jetzigen ungünstigen Verhältnissen der
Andrang zu den Physikatsstellen ein ausserordentlicher ist. Auch jetzt ist
seitens unserer Kreisphysiker trotz der ungünstigen Besoldung und Stellung
Grosses geleistet worden, und mit einer Hingabe, Treue und Aufopferung ge¬
arbeitet, die ich nirlit genug rühmen kann. Jedenfalls wird die Frage nicht
von der Tagesordnung verschwinden und hoffe ich, demnächst dem hohen Hause
eine Vorlage in der Angelegenheit machen zu können.“
Wir werden in der nächsten Nummer der Zeitschrift den
stenographischen Bericht der betreffenden Berathung vollständig
bringen.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
A. G e r i c h 11 i c he M c d i z i n.
Der Einfluss von Bewegungen einer Kimlesleiehe anf deren
Respirations- und Digestionstractus. Von Dr. Sigismund 31 er kt* 1. Fried-
reiclis Blätter für gerichtliche .Medizin u. s. w. lieft VI. 1892.
Die Frage, oh durch Bewegungen, welche mit einer Kindesleiche vorge¬
nommen werden, Luft in den Respirationstractus derselben gelangt, hat lange
Zeit verschiedene Beantwortung erfahren, nachdem zuerst Prof. Runge die
Aufmerksamkeit auf die Wirksamkeit, richtig ausgeführter S c hu 11 ze ’ scher
Schwingungen für den Luftgehalt in den Lungen sclieintndter sowie todtgebore-
ner Kinder gelenkt hatte. Auf dem letzten internationalen Kongress hob
Ungar hervor, dass Luft in die tieferen Tlieile des Dünndarmes durch künst¬
liche Respiration nicht gebracht weiden könne, da die aktiven Bewegungen der
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
117
Magenmuskulatur nach dem Tode aufhören und daher die Luft aus dem Magen
nicht weiter befördert wird. Aus den Versuchen, welche von verschiedenen
Forschern gemacht wurden, geht hervor, dass Bewegungen der Kindesleiche
durch Transport, Stossen oder Schütteln derselben, durch absichtliches Kornpri-
miren und Dehnen des kindlichen Thorax, durch wenige Schnitze’ sehe
Schwingungen keine Luft in den Respirationstractus des Kindes gelangen lassen.
Nach 15 Schnitze’sehen Schwingungen, sowie durch Pacini’sehe Schwingungen
wurden die Lungen theilweise, aber ganz ungleichmässig, lufthaltig; nach ca. 30
Schultze’schen Schwingungen nahm der Luftgehalt der Lungen zu, doch
wurden die Unterlappen nie in toto lufthaltig und schwiramfähig. Dadurch
unterscheiden sich die Lungen von den Lungen der Kinder, welche gelebt hatten
und dann gestorben waren. Die Versuche wurden gemacht bei vor dem Blasen¬
sprung abgestorbenen reifen Früchten, zu welchen aus anderen Ursachen keine
Luft gelangen konnte. Der Gerichtsarzt wird also eventuell, wenn von irgend
einer Seite angegeben wird, es seien regelrecht ausgeführte Schultze’sehe
Schwingungen in grösserer Anzahl gemacht worden, den Luftgehalt der Lungen
auf die Schwingungen zurückführeu und nicht auf Gelebthaben des Kindes.
Doch wird ein solcher Fall in praxis sich kaum ereignen, da die heimlich Ge¬
bärende oder ihre Komplizen Wiederbelebungsversuche kaum vornehmen oder,
wenn sie solche wirklich vornehmen sollten, sie ohne Effekt ausführen
würden. Denn für die Zuführung der Luft sind eine grössere Anzahl Schwing¬
ungen und die regelrechte Ausführung derselben nöthig. Eine Hebamme wäre
freilich im Stande, dies mit Erfolg zu thun. Liegen jedoch solche Angaben
nicht vor, so wird der Gerichtsarzt nach wie vor und mit vollem Rechte den
Luftgehalt der Lungen (Fäulniss ausgeschlossen) von stattgehabtem Luftathmen
nach der Geburt ableiten.
Kann durch Bewegungen Luft in den Digestionstractus des Kindes hin¬
eingebracht werden ? Bei Anwendung von ca. 30 S c h u 11 z e ’ sehen Schwingungen
wird der Magen schwimmfähig, der Anfang des Darmtractus lufthaltig. Paci-
nische Schwingungen blieben ohne Resultat. Einige wenige (4—5 )Schultze-
sche Schwingungen konnten nach Haun Luftbläschen in den Magen gelangen
lassen, nach anderen Experimentatoren jedoch selbst mehr Schwingungen nicht.
Zweifelhaft erscheint auch, ob durch Schwenken der Kindesleiche Luft in den
Magen des Kindes gelangt. Mit Rücksicht hierauf wird in Zukunft ein Befuud
von Luft im Magen eines Neugeborenen erst dann als ein Beweis für das
extrauterine Leben des Kindes zu verwerthen sein, wenn eine intrauterine
Luftaufnahme auszuschliessen ist und nach der Geburt keine Luft in den Magen
durch Schwingungen eingetrieben sein kann. Die eigenen Versuche des Ver¬
fassers ergänzen die Thatsachen/dass durch wenige Schultze’sche Schwingungen,
durch rhythmische Kompressionen des Thorax, Trausportiren, durch Ma rschal 1-
Hall’sche Schwingungen keine Luft in den Magen oder Darm von Kindesleichen
gelangen konnte. Dr. Rum p-Osnabrück.
B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Beitrag zur bakteriologischen Differenzial-Diagnose der Cholera.
Von Dr. Max Bleisch, Königl. Kreisphysikus zu Kosel, 0.-Schl. Zeitschrift
für Hygiene und Infektionskrankheiten XIII.
Eine der zahlreichen durch die jüngste Cholera-Epidemie veranlagten
und ohne Frage sehr nothwendigen Beschreibungen von „cholera- ähnlichen
Bakterien“. Das von Bleisch aus den Dejektiouen eines unter cholera-ähn¬
lichen Erscheinungen gestorbenen Mannes isolirte Bacterium ist mit dem Koch-
schen Komma-Bacillus nicht verwandt, es ist ein plumpes, nicht gekrümmtes
Kurzstäbchen, welches aber namentlich auf der Platte eine sehr bedeutende
Aehnlichkeit der Kolonien mit denjenigen des echten Komma - Bacillus zu zeigen
scheint. Freilich ist die bakteriologische Differential - Diagnose nicht schwer;
das Wachsthum des Blei sch ’ scheu Bacteriums ist bedeutend schneller und
kräftiger, dasselbe wächst auch bereits bei Zimmertemperatur auf Kartoffeln
und bringt im Brüfcschrank schon in IG Stunden Gerinnung in der Milch hervor.
Eine Verwechslung beider Bakterien ist somit wohl ausgeschlossen; mit Recht
macht Bleisch aber auf die Gefahr aufmerksam, dass, bei dem besonders im
Anfang so ähnlichen Verhalten beider Organismen auf der Gelat inplatte, etwa
auf der Platte in der Minderzahl gleichzeitig gewachsene Cholerakolonien über-
118
Kleinere Mittheilongen and Referate aas Zeitschriften.
sehen werden können and mahnt daher zur Vorsicht bei Stellung einer end¬
gültigen, negativ ausfallenden Diagnose, ehe man nicht sicher ist, alle ihrem
Aussehen nach an Cholerakolonien erinnernden Ansiedelungen sachgemäss unter¬
sucht zu haben.
Beachtung verdient ferner die von Bleisch mitgetheilte Thatsache, dass
er in seinen Kulturen des echten Komma-Bacillus, welche Schmidtmann aus
einem Cholerafall iin Kreise Gross-Strelitz isolirt hatte, weder Häutchenbildung
auf Bouillon, noch die Cholerarothreaktion mit Schwefelsäure erzielen konnte
und dass dieser Komma-Bacillus auch bei Bruttemperatur auf Kartoffeln nicht
wachsen wollte. Dr. L a n g e r h a n s - Hankensbttttel.
Zur Kenntnis» des Wachsthums der Kommabazillen auf Kartoffeln.
Von Dr. Hans Krannhals, prakfc. Arzt, Prosektor am Stadtkrankenhause zu
Riga. Zentralblatt für Bakteriologie XHI., 2.
Verfasser sah sich als Prosektor und Bakteriologe am Stadtkrankenhause
vor die Aufgabe gestellt, den obersten Medizinalbeamten der Stadt Riga durch
Demonstration von mikroskopischen Präparaten und von Kulturen von dem
thatsächiichen Vorhandensein der Cholera in der Stadt ad oculos zu demonstriren.
Auch er musste mit dem Geständniss hervortreten, dass der gefundene und von
ihm als Cholera - Bacillus angesprochene Bacillus das in den Lehrbüchern be¬
schriebene Wachsthum auf saueren Kartoffeln im Brutschrank vermissen liesse.
Wunderbarer Weise wurde nun Krannhals, so überzeugend seine übrigen
Kulturen auch ausgefallen sein mochten, die Nachlieferung von Kartoffelkulturen
zur Bedingung gemacht!!! Er half sich, indem er mit Soda alkalisirte Kar¬
toffelscheiben verwendete, auf denen sich dann im Brutschrank, aber auch bei
Zimmertemperatur typische Kulturen entwickelten, welche dann auch bei den
Vätern der Stadt die gebührende Anerkennung fanden. Verfasser sah sich nun
veranlasst, durch eingehendere Versuche die Bedingungen festzustellen, unter
welchen das Kartoffelwachsthum des Cholera - Bacillus stattfindet. Er verwen¬
dete drei verschiedene Kartoffelsorten 1. eine gelbe Kartoffel, Oschlapping ge¬
nannt, schottischer Abstammung, 2. Rosenkartoffeln in den beiden bekannten
Species early rose und late rose, 3. weisse Kartoffeln Rieht er’s Imperator und
Champion. Uebrigens spielt nach Verfasser die Sorte bei dem Ausfall der Ver¬
suche nur insofern eine Rolle, als trockenere Beschaffenheit der Kartoffel das
Wachsthum zurückhält. Das Ausschlaggebende ist vielmehr die Re¬
aktion der Kartoffel. Denn es fand ausnahmslos auf sämmt-
lichen alkalischen Kartoffeln Wachsthum des Cholera-Bacillus
statt und zwar nicht nur im Brutschrank, sondern auch bei
Zimmertemperatur. Dagegen erhielt Verfasser auf den saueren
Kartoffelscheiben in der Mehrzahl der Fälle auch beiBruttem-
peratur kein Wachsthum; auf 23 von 136 solchen Scheiben entwickelte
sich ein Rasen, der indessen zu den Schilderungen anderer Forscher nur wenig
passte und auf Verfasser den Eindruck machte, als ob weniger die Substanz der
Kartoffelscheibe, als die mitgeimpfte Gelatine den spärlich erfolgten Bakterien¬
wachsthum die Nährstoffe geliefert habe. Nur in vier Fällen sah Verfasser ein
einigermassen charakteristisches, den klassischen Rotzbazillen ähnlichen Rasen
entsprechendes Wachsthum erfolgen, hier aber ergab die Kartoffelsubstanz, auf
Lakmuspapier gedruckt, alkalische Reaktion. Die Ursache dieses Umschlagens
der saueren Reaktion ist Verfasser nicht im Stande zu erklären.
Verfasser empfiehlt auf Grund dieser Beobachtungen Vorsicht bei Beur-
theilung von Kartoffelkulturen und fornmlirt folgende Vorschläge: Bei Angabe
des Kartoffelwachsthums eines Organismus ist zu notiren: 1. die Sorte der be¬
nutzten Kartoffel, 2. die Reaktion derselben nach stattgehabtem Beginn des
Wachsthums eines Pilzrascns, 3. das Verhalten dergleichen Bakterien auf künst¬
lich alkalisirten Kartoffeln. Ders.
Schutz gegen Seuchen. Ein Weck- und Mahnruf für Stadt und Land.
Die Unschädlichmachung von Fäkalstoffen und deren Nutzbarmachung zu Dünge¬
mitteln. Von Dr. J. H. Vogel, Geschäftsführer des Sonderausschusses für Ab-
lüllstoffe der deutschen Landwirthschaftsgesellschaft.
Titel und Preis des frisch und flott geschriebenen Sehriftebens zeigen,
dass dasselbe für die Massenverbreitung bestimmt ist und dieser Zweck mag die
Kleinere Mittheilungen und Referate am* Zeitschriften.
119
Kürze der Darstellung (14 Seiten), sowie die Art der Beweisführung, welche
auf vorgebrachte Gegengründe keine Rücksicht nimmt, bestimmt haben. Es ist
natürlich hier nicht der Platz für eine ausführliche Würdigung aller Vorzüge
und Nachtheile des von Vogel für Mittel- und Grossstädte mit grosser Wärme
empfohlenen Liernur’schen Systems. Wenn aber Vogel ganz apodiktisch sagt:
„Nachtheile sind mit demselben überhaupt nicht verbunden“, so mag nur auf
die ernsten Bedenken hingewiesen werden, welche der Einleitung der nur durch
Entschlammung gereinigten — nach Vogel gefahrlos gemachten — Hauswässer
in die öffentlichen Wasserläufe entgegenstehen. Gegen diese Gefahren ist die
vom Verfasser hervorgehobene Möglichkeit, in jedem Hause, wo eine Epidemie
ausbricht, durch eine einfache Vorrichtung die Abwässer von der für sie bestimmten
Leitung abzusperren und der Fäkalleitung zuzuführen, denn doch ein sehr un¬
sicheres Mittel! Verfassers Vorstellungen über die Funktion der „Nothauslässe“
bei den Berliner Schwemm - Kanälen entsprechen übrigens dem wirklichen Sach¬
verhalt ebenso wenig, als seine Ausführungen über die Kostspieligkeit der Riesel¬
felder gegenüber den stetig ansteigenden Reinerträgen der letzteren aufrecht
erhalten werden können. Uebrigens steht Ref. auf dem von F. Hoffmann
vertretenen Standpunkt, dass die Frage nach der besten Beseitigung der mensch¬
lichen Abfallstoflfe nicht principaliter, sondern nur von Fall zu Fall zu ent¬
scheiden ist und es mag gern zugegeben werden, dass für viele grössere und
Mittelstädte, namentlich, wo örtliche Verhältnisse die Einführung der Schwemm-
k&nalisation verbieten, das Liernur’sche System eine wesentliche Verbesserung
der hygienischen Verhältnisse bedeuten würde.
Der zweite Theil der Arbeit „Vorschläge für die kleinen Städte und das
platte Land“ enthält eine warme Empfehlung selbstthätiger Torfmull-Streu¬
klosetts — ein Vorschlag der gewiss beherzigenswerth ist, dessen allgemeiner
Durchführung leider zahlreiche Hindernisse entgegenstehen dürften. Ders.
Die Cholera in Russland im Jahre 1892. Im russischen Regierungs¬
anzeiger vom 15. (3) Dezember v. J. ist eine Uebersiehtstabellc über Gang,
Dauer und Intensität der Choleraepidemie veröffentlicht, welche bis zum Monate
November reicht und den Gang, welchen die Epidemie auf ihrem Zuge nach
Norden und Westen eingeschlagen hat, genau veranschaulicht.
Darnach gelangte die Seuche aus den persischen Häfen zuerst nach der
russischen Provinz Transk asp ien, von wo sie Anfang Mai offiziell gemeldet
wurde und von hier aus Anfang Juni nach zwei Richtungen sich ausbreitete
und zwar gelangte dieselbe auf dem Landwege gegen Osten Anfang Juni in die
asiatischen Gebiete der Gouvernements Syr-Darja, Ferghana, trat in der
zweiten Hälfte Juni in den Bezirken Sem iretsc h je und Samarkand, gegen
Ende dieses Monats in Sakatala und Ak molinsk auf, so dass um diese Zeit
das ganze russische Gebiet östlich vom Kaspischen Meere und dem Aralsee
bereits verseucht war.
Gleichzeitig aber war die Seuche auf dem Seewege an das westliche Ufer
des Kaspisee’s und mit dem Schifffahrtsverkehr auf der Wolga in die
Gouvernements längs dieses Flusses eingeschleppt worden, erschien zuerst in der
Hafenstadt Baku der gleichnamigen Provinz, gelangte im Handelsverkehr am
12. Juni nach Astrachan und von hier aus gegeu Norden in die Gouverne¬
ments am rechten und linken Ufer der Wolga und zwar am 14. nach Saratow,
von da im raschen Laufe am 23. nach Ssamara, am 24. nach Simbirsk, am
25. nach Kasan und am 27. nach Wjatka.
Gleichzeitig hatte sich die Seuche jedoch auch in den kaukasischen
Provinzen ausgebreitet, eingeschleppt aus Baku längs der ins Gebirge führenden
Handelsstrassen.
Am 13. Juni zeigte sich die Cholera in Tiflis, war am 18. schon gegen
Westen in das Kubans’che Gebiet gedrungen und gleichzeitig im Norden in
Terek und im Osten in Dagest an zum Ausbruche gekommen. Am 28. Juni
war die Seucheninvasion bereits in das Gebiet des Donisehen Heeres gleich¬
zeitig ans dem nördlich gelegenen Saratow, von Westen aus Astrachan und von
Süden aus Kuban erfolgt.
Die längs der Wolgaufer liegenden verseuchten Distrikte bildeten ein
von Süd nach Nord sich erstreckendes Seuchengebiet, von wo aus die Cholera
nach Westen und Osten im Laufe des Monats Juli ihren verheerenden (Tang
fortsetzte.
120
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
In dem an Transkaspien, Astrachan und Ssamara angrenzenden Ural¬
gebiete trat die Seuche am 8. Juli, in den nördlich von Semiretschje gelegenen
Gouvernements Tomsk am 12. und Tobolsk am 17. Juli auf. In rascher
Reihenfolge folgten die an das asiatische Russland angrenzenden Gebiete von
Perm am 6. Juli, Orenburg am 8. Juli, Ufa am 18. ferner in der asiati¬
schen Proviuz Turgai am 24. Juli.
Im Bereiche des Kaukasus war die Infektion am 7. Juli nach Eriwan,
am 18. nach Jelissabetpol, am 20. nach Kars und Stawropol, am
22. Juli nach Kutais eingeschleppt worden.
Auch gegen Westen hatte sich von den Wolgadepartements aus die
Seuche ihre Wege gebahnt und im Fluge neue Gebiete erobert. Offiziell wurden
die ersten Cholerafälle gemeldet in Woronesch am 2. Juli, in Nischni-
Nowgorod am 7., in Poltawa, Charkow und Pensa am 8., in Rjasan
am 10., in Kursk am 14., in Tambow am 16., in Orel am 17., in Wladi¬
mir am 19. Fast gleichzeitig, am 20. Juli, hielt die Krankheit ihren Einzug
in Moskau und Petersburg, wurde am 21. aus Jaroslaw und Jakate-
rinoslaw, am 25. in Kostroma und am 26. Juli in Tula gemeldet.
Während im Mai nur das Gebiet von Transkaspien verseucht war,
herrschte die Cholera Ende Juni in 19 Verwaltungsgebieten und hatte seit
Beginn ihres Auftretens bis Ende Juli 47 Gouvernements ergriffen; im Juni
waren 18, im Juli 28 Provinzen des russischen Reiches in den Ausweisen zuge¬
wachsen.
Im Monate August hatte sich die Cholera im asiatischen Theile des
Reiches in den grossen Ländergebieten von Irkutsk am 2. August, Jenis-
seisk am 4. und Semip alatinsk am 12. August ausgebreitet, wo sie jedoch
in Irkutsk nach 2, in Semipalatinsk nach 11 und in Jenisseisk nach 9 Wochen
erlosch.
Dagegen aber war die Seuche im europäischen Russland weiter gegen
Westen und Norden vorgerückt und war, begünstigt durch den regen Verkehr,
im Norden des Reiches am 5. August in Twer, am 15. in Nowgorod, am
20. in Wologda und am 21. in Olonez aufgetreten. Im südlichen Theile
war die Seuche erschienen in den Gebieten Taurien am 3. August, Cherson
am 8., in Kiew am 16., in Bessarabien am 26. und in Podolien am
30. August. Infektionsinseln bildeten die Gouvernements Lublin, wohin der
Krankheitskeim am 1. August wahrscheinlich durch den regen Verkehr der
Provinz Polen mit den Städten Petersburg und Moskau eingeschleppt worden
sein dürfte, und ferner das Gouvernement Mohilew, welches von der Moskau-
Warschauer Bahn durchquert wird und wo die ersten Erkrankungen am 30. Aug.
gemeldet wurden.
Im August waren abermals 14 Seuchenbezirke zugewachsen, so dass die
Zahl der Choleradistrikte seit Beginn der Pandemie um diese Zeit auf 61 ge¬
stiegen war.
Während des Monats September wurde eine Weiterverbreitung der
Cholera im Osten des Reiches nicht gemeldet, dagegen aber dehnte sich das
Epidemiegebiet auf den grössten Theil der bisher verschont gebliebenen Ver¬
waltungsgebiete im Westen aus.
Am 3. September machte sich die Cholera im Gouvernement Wolhy nien,
am 5. im benachbarten Tsehernigow und gleichzeitig in dem südlich von
Petersburg liegenden Livland bemerkbar, erschien am 11. in Warschau,
am nächsten Tage in Kielce, am 19. in Radom, am 29. in Petrokow
(sämmtlieh in Russisch-Polen), nachdem vorher am 12. aus Gradno, am 19. aus
Minik, am 23. aus Pskow und am 2G. aus Smolensk Erkrankungen ge¬
meldet worden waren. Per Zuwachs der verseuchten Gebiete betrug im Sep¬
tember 11 Gouvernements und war die Gesammtsumme der bis dahin von der
Cholera ergriffenen Distrikte auf 72 gestiegen. Bei der geringen Zahl von
Gouvernements, in denen die Krankheit bis dahin noch nicht aufgetreten war,
konnte die weitere Ausbreitung im Oktober keine nennenswerthe sein. Es
wurden auch tatsächlich in diesem Monate (’holerafälle nur aus dem mitten
im Seucbengehiete gelegenen, aber bis dabin verschont gebliebenen Gouverne¬
ment Kaluga am 17. Oktober, daun am 10. Oktober aus Kurland und end¬
lich aus den polnischen Gebietsteilen am 14. aus Piozk und am 22. aus
Ln ms ha gemeldet. Pie Zahl der bis dahin verseuchten Bezirke hatte die
Ziffer von 70 erreicht.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
121
Die Gesammtzahl der Erkrankungen betrug bis November 551478, jene
der Todesfälle 266200 = 48°/ 0 . In mehreren Gouvernements (Astrachan,
Samarkand, Ferghana-Gebiete) ist die genaue Zahl der Erkrankungsfälle nicht
bekannt geworden, nnd für die Uebersichtstabelle aus der Zahl der Todesfälle
unter der Voraussetzung berechnet, dass die Lethalität 50 Prozent betrug.
Die Erkrankungshäufigkeit (auf 100000 Einwohner) wird berechnet in
den Gouvernements :
Dagestan.
3912
Bezirk Sakatnla ....
. 1320
Terek-Gebiet.
3883
Eriwan.
. 1294
Astrachan.
2494
Kars-Gebiet.
. 1273
Ferghana-Gebiet ....
2415
Jelissabetpol.
. 1079
Samarkand.
2139
Syr-Darja-Gebiet . . .
. 1038
Stawropol.
2115
Ssimbirsk.
. 1025
Kuban-Gebiet.
1937
Ural-Gebiet.
. 1023
Tobolsk.
1865
Woronesch.
. 893
Gebiet des Donischen Heeres
1811
Tiflis.
. 748
Saratow.
1719
Orenburg .
. 745
Baku.
1603
Tambow.
. 721
Ssamara.
1547
Lublin.
. 509
In sechs Gouvernements
betrag
somit die Zahl der Erkranten
mehr als
2 Prozent, in 13 Gouvernements 1—2, und in vier Gouvernements 0,5—1,0
Prozent der Bevölkerung. In allen übrigen Gouvernements blieb die Erkrankungs¬
ziffer unter 0,5 Prozent der Einwohner. In den Gouvernements und Gebieten
Sibiriens, Zentral-Asiens nnd des Kaukasus war die Zahl der Choleraerkr&nkungen
durchweg eine ungleich höhere als im europäischen Russland, in welchem nur
in vier Gouvernements die Seuche sehr intensiv auftrat.
In den grösseren Städten blieb die Morbidität an Cholera weit unter der
analogen Ziffer der Gouvernements und erreichte in keiner die Höhe von 0,5
Prozent der Bevölkerung. (Oesterreichisches Sanitätswesen Nr. 5, 1893.)
Die Verbreitung der Cholera in den im österreichischen Reichs-
rathe vertretenen Königreichen und Ländern im Jahre 1892. Oesster-
reichisches Sanitätswesen; Beilage zu Nr. 3, 1893.
Von den österreichischen Kronländern ist nur Galizien in stärkerem
Maasse von der Cholera betroffen worden. Der erste Cholerafall ereignete sich
am 8. September in Podgorze (Westgalizien), dem schon am 11. September
die erste Erkrankung in der Stadt Krakau folgte. lu welcher Weise und auf
welchem Wege die Krankheit iu Podgorze Eingang gefunden hat, konnte nicht
nachgewiesen werden. Die Mehrzahl der später in Westgalizien ergriffenen
Gemeinden (Bezirke Wieliczka u. Krakau) lag iu nächster Nähe der beiden zuerst
infizirten Städte und am Weichselfluss. Im Monat November erschien hier die
Seuche allenthalben erloschen, als plötzlich iu Ostgalizien, in dem längs des
Zbrucz an der russischen Grenze belegenen Bezirke Husiatyn und Borszczow sich
mehrere Seuchenheerde entwickelten, deren Entstehung jedenfalls auf Einschlep¬
pung aus Russlaud zurückzuführen war. Die Gesammtzahl der in Galizien
von der Cholera heimgesuchten Gemeinden betrug 32; diejenige der Erkrankungen
207, der Todesfälle 119 — 57,5 °/ 0 . Auffällig war, dass die zuerst erkrankten
Personen in ihrer Beschäftigung hauptsächlich mit Nahrungs- und Genussmittelu
zu thun hatten.
Eine Verschleppung der Cholera aus den verseuchten galizischeu Ge¬
meinden nach den übrigen im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Län¬
dern oder nach Ungarn hat nicht stattgefunden. Im Ganzen sind ausserhalb
Galiziens nur 7 Cholera - Erkrankungen, darunter 6 mit tödtlichem Ausgange
vorgekommen, und zwar 4 in Niederösterreich (Wien), 2 in Steiermark
(Sabofzen) und 1 in Böhmen (Posek). Die Ursache dieser Erkrankungen wird
auf die Cholera-Epidemie in Ungarn, namentlich in Budapest zurückgeführt.
Was die gegen die Einschleppung der Cholera von aussen an¬
geordneten sanitätspolizeilichen Massregeln anbetrifft, so stimmen
diese im Allgemeinen mit den in Deutschland getroffenen Massnahmen überein:
sanitäre Kontrole der aus Russland, Deutschland und der Schweiz kommenden
Reisenden, Revision und Desinfektion ihrer Kleider, Wäsche und Effekten; Ein¬
fuhrverbote für Hadern, alte Kleider, altes Tauwerk, gebrauchte Leibwäsche
122
Besprechungen.
und gebrauchtes Bettzeug, Obst, Gemüse, Kaviar, Fische, thierische Häute oder
sonstige thierische Produkte. Nahezu alle längs der ganzen Grenze von der
Schweiz bis Rumänien eingerichteten Revisionsstationen waren mit Dampf-Des¬
infektionsapparaten versehen; die Thätigkeit dieser Stationen war im Allge¬
meinem eine sehr ausgedehnte, besonders in Niedergrund und Schandau für den
Schiffsverkehr auf der Elbe, wo 54346 Personen, 44 261 Gepäcks- und 11088
Frachtstücke zur sanitären Revision gelangten. Die Zahl der auf den Stationen
konstatirten verdächtigen Fälle war eine verhältnissmässig geringe; denn bei
allen mit der Eisenbahn zugereisten und wegen Erkrankung oder Verdacht
unter Beobachtung gehaltenen Personen stellte sich alsbald der unverdächtige
Zustand heraus und nur unter den Passagieren der Elbschifte wurde ein Cholera¬
kranker gefunden,
Um der Ausbreitung der Cholera im Inlande wirksam zu be¬
gegnen und die Seuche in ihrem Anfänge zu bekämpfen, wurde der Schwerpunkt
darauf gelegt, durch möglichst ausgedehnte Assanirungsmassnahmen,
durch Beseitigung sanitärer Miss stände dem etwa eingeschleppten
Krankheitskeim den Boden für die Weiterentwicklung und Verbreitung zu ent¬
ziehen. Bewährt haben sich hierbei die zu diesem Zwecke fast überall in’s
Leben gerufenen „Sanitätswehren“, die etwa unsern Sanitätskommissionen
entsprechen. Nicht minder bewährt hat sich auch die Bestallung von inspi-
zirenden Amtsärzten für grössere Bezirke, die die Aufgabe hatten, „der
auf die Abwehr und eventuellen Tilgung der Cholera erforderlichen Abstellung
von sanitären Uebelständen, der Erzielung zweckmässiger Vorkehrungen und Ein¬
richtungen, sowie der sachverständigen Ausführung der angeordneten Massregeln
ihr besonderes Augenmerk zuzuwemlen.“ Hierdurch traten sie mit den politischen
Behörden der Bezirke und Städte, mit den Amtsärzten, Gemeindevertretungen,
Sanitätskommissionen u. s. w. in persönliche Berührung, regten manches Unter¬
lassen an, lösten Zweifel, bewirkten ein einheitliches Handeln der zahlreichen
betheiligten Kreise, förderten das in erfreulichem Maasse rege gewordene Interesse
an sanitär-fortschrittlichen Einrichtungen und erzielten auf diese Weise Erfolge,
die im gewöhnlichen Gange der Dinge niemals zu Stande gekommen wären.
Besondere Aufmerksamkeit wurde der Beschallung von Dampf-Desin¬
fektionsapparaten und der Bereitstellung genügender Mengen von De sin -
fcktionsmiteln gewidmet und von der Mehrzahl der Landesvertretungen
erhebliche Geldmittel zu diesem Zwecke bewilligt.
Anzeigepflicht, auch der chuleraverdächtigen Fälle, Feststellung der
ersten Erkrankungen durch bakteriologische Untersuchung, amts¬
ärztliche Revisionen u. s. w. waren in ähnlicher Weise wie in Deutsch¬
land geregelt. Zum Zwecke der Isolirung wurden Epidemie - Nothspitäler in
grosser Menge errichtet, so dass z. B. in Niederösterreich von 1611 Gemeinden
i486, in Kärnthen sogar alle Gemeinden mit Ausnahme von zwölf derartige
Isolirspitäler besassen.
Am Schluss des höchstinteressanten Berichtes heisst es dann: „Der Gang
und die Verbreitung der Cholera in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen
und Ländern, die Einschränkung der Epidemie in Krakau und Umgebung, die
rasche Unterdrückung der Verbreitung des eingesehleppten Krankheitskeimes
in einer Reihe von Gemeinden sind der sprechendste Beweis für den Werth der
eingeleiteten Vorkehrungen, der wohl unabhängig ist von den wechselnden
Theorien, die hinsichtlich der Verbreitungsursachen der Cholera die wissenschaft¬
liche Welt beschäftigen, da alle Forscher darin einig sind, dass die Dejokte der
Cholerakranken hauptsächlich die Infektion verursachen und daher der Aussaat
des Choleraagens und der Vermehrung desselben durch eine möglichst «ausge¬
dehnte Schmälerung des für den Cholerakeim geeigneten Nährbodens, durch
Assanation vor Allem vorgebeugt werden muss.“ Rpd.
Besprechungen.
Dr. Wiener, Geh. Sanitätsrath und Kreispliysikus in Graudonz:
S a in m 1 u n «f g e r i <• li 11 i e h - medizinischer übereil t,a <•, li-
Besprechungen.
123
ten. Berlin 1891—92. Fisch er’s medizinische Buchhandlung.
Gross 8°; 633 Seiten.
Die 91 Gutachten behandeln, systematisch geordnet:
I. Verletzungen durch mechanische Gewalt.
1. Durch Schlag, Stoss, Fall, Wurf, Stich, Schuss, Schnitt, lliss.
a. Kopfverletzungen: Fall 1—10.
b. Hals- und Brustverletzungen: Fall 11—22.
c. Unterleibs-Verletzungen: Fall 23—28.
d. Verletzungen der Extremitäten: Fall 29 - 32.
e. Komplex örtlich zerstreuter Verletzungen: Fall 33—36.
2. Mechanischer Verschluss der ßespirations-Organe.
a. Strangulation: Fall 34—44.
b. Verschluss der Respirations - Organe durch Fremdkörper: Fall 45.
c. Erstickung durch Kompression des Brustkorbes: Fall 46.
EL. Sexuelle Insulte (Krimineller Abort, Stuprum) Fall 47—50.
HI. Dynamische Einwirkungen:
1. Vergiftungen: durch Schwefelsäure, Salpetersäure, Dynamit, Arsen,
Phosphor, Mohnköpfe, Atropin, Alkohol, Sckwefelwasserstoftgas, Kupfersalze:
Fall 51—65.
2. Exzessive Temperaturen (Erfrieren): Fall 66.
IV. Fragliche Kunstfehler der Medizinal - Personen: Fall 67—75.
V. Kurpfuscherei: Fall 76—79.
VI. Tödtung Neugeborener: Fall 80—91.
Der reichhaltige Inhalt beweist schon, dass die Sammlung Gutachten über
die verschiedenartigsten, nicht nur häutigsteu, sondern auch seltenen Verletzungen,
Todesarten und Todesursachen enthält. Die Gutachten haben hohen Werth,
weil sie von der preussischen wissenschaftlichen Deputation für das Me¬
dizinalwesen , von Medizinal - Kollegien, Medizinal - Comit6es, Universitäts-
Fakultäten und angesehenen Professoren erstattet sind; und in den dem
grössten Theile der Obergutachten beigefügten epikritischen Bemerkungen
hat der Verfasser die in den periodisch erscheinenden Zeitschriften nieder¬
gelegten Ergebnisse der neuen und neuesten wissenschaftlichen Forschungen
und Untersuchungen zusammengetragen. In den epikritischen Bemerkungen
finden sich ausserdem werthvolle Definitionen und Deklarationen bedeutender
Fachmänner und höchster Gerichtsbehörden über Begriffe des Strafgesetzbuches,
welche verschiedene Deutung zulassen, z. B. der Begriffe Siechthum, Lähmung,
Verlust wichtiger Körperglieder.
Das Werk ist ebenso sehr ein lehrreiches Lehrbuch der angewandten gericht¬
lichen Medizin mit einer Summe klinischer Erfahrungen, als ein Nachschlage¬
werk für den begutachtenden Gerichtsarzt, so dass nicht nur dieser, sondern
auch der praktische Arzt sich stets Rath aus demselben holen kann, wenn ihn
seine Thätigkeit als Sachverständiger mit dem Richter zusamraenbringt. Wenn
auch nicht ein jeder Fall als Paradigma gelten kann, — denn es liegt ja kaum
je ein Fall genau wie der andere iu der forensischen Praxis — so bietet doch
jeder einzelne genug, um daraus Belehrung zu schöpfen, die Auflassung zu er¬
leichtern und der Beurtheilung einen sicheren Stützpunkt zu gewähren. Das¬
selbe behält dadurch bleibenden Werth und sein Erscheinen ist von allen Seiten
aufs Beste beurtheilt worden.
Ein ausführliches Inhalts- und Autoren-Verzeichniss wird die Benutzung
des Werkes erleichtern.
Die Ausstattung ist eine sehr gute. Dr. R u m p - Osnabrück.
Der kleine Liebreich. Pharmacopoea jocosa van Otho Aquila.
Verlag von Fischer’s med. Buchhandlung, Berlin. Gross 8°, 47 Seiten.
Die trocknen Maximaldosen, das Kreuz aller Staatsexaminanden, sind in
dem vorliegenden Büchlein in lustigen Versen mit mnemotechnischen Regeln zu¬
sammengestellt. Wir empfehlen allen Freunden eines gesunden Humors die
Lektüre der lustigen sieben Kapitel über die „Maximal -Kunst“.
Dr. Israel-Medenau (O.-Pr.).
124
Tagesnachrichten
Tagesnachrichten.
Der Vorstand des Preussisclien Medizinalbeamtenvereins hat in
der am 27. Februar stattgehabten Vorstandssitzung beschlossen, die im Herbst
vorigen Jahres wegen der Cholera ausgefallene X. Hauptversammlung des
Vereins am 10. und 11. April d. J. abzuhalten. Den ersten Gegenstand der
Tagesordnung wird die Besprechung des Reichsseuchengesetzes bilden.
Mit Rücksicht darauf sind auch die Medizinalbeamten der anderen deutschen
Bundesstaaten zur Theilnahme an der Versammlung freundlichst eingeladen.
Die Tagesordnung ist am Schluss der heutigen Nummer der Zeitschrift
abgedruckt.
Im Hinblick auf ein etwaiges Wiederauf treten der Cholera hat der Herr
Minister der u. s. w. Medizinalangelegenheiten die Errichtung einer bakterio¬
logischen Anstalt in Bonn zunächst für die Dauer von 6 Monaten angeordnet.
Zum Leiter dieser Anstalt ist der Assistent am Institute für Infektionskrank¬
heiten, Dr. Frosch in Berlin, ernannt.
In Folge einer Interpellation des Abgeordneten Seif far dt-Magdeburg
beschäftigte sich das Abgeordnetenhaus in seiner Sitzung vom 14. Fe¬
bruar mit der Frage der Vernnreinigung cler Elbe durch die Abflüsse der
Stassfurter Soda- und Kalifabriken und der Mansfelder Bergwerke. Seitens
des Handelsministers Frhr. v. Berlepsch wurde zugegeben, dass für
Magdeburg in Folge dieser Zuflüsse eine ernste Kalamität bestehe, indem das
Elbwasser dadurch einen so hohen Salzgehalt erhalte, der es, wenn auch nicht
direkt gesundheitsgefährlich, so doch als Trinkwasser unbrauchbar mache. Die
Beseitigung dieses Misstandes sei aber eine sehr schwierige, da den gesundheit¬
lichen Verhältnissen der Stadt Magdeburg die gewerblichen Interessen wichtiger
Industrien gegenüberständen. Die Anlage eines unterhalb in die Elbe einmün¬
denden Vorfluthskanal, in den die betreffenden Abwässer sämmtlieh abgeführt
werden sollten, sei wegen des hohen Kostenaufwandes und der schwierigen tech¬
nischen Ausführung wieder aufgegeben; auch eine Klärung der Abwässer vor
ihrem Abfluss sei mit so holieu Kosten verbunden, dass die Kalifabriken dann
gezwungen werden würden, ihren Betrieb gänzlich einzustellen, da unter diesen
Umständen von irgendwelchem Reinertrag nicht mehr die Rede sein könnte.
Die schon seit Jahren bestehende Kalamität sei im Laufe des vorigen Jahres
noch besonders durch den Zufluss der salzigen Abwässer des Mansfelder Berg¬
baues und durch den auffallend niedrigen Wasserstand der Elbe vermehrt; denn
bei mittlerem Wasserstaude (405 cbm pro Sekunde) würden der Elbe per cbm
0,41 kg Salze aus den Mansfelder Bergwerken und 0,024 kg Salze (darunter
0,08 Magnesia) aus den chemischen Fabriken, also 0,434 kg zugeführt, bei nie¬
drigem Wasserstande (139 cbm pro Sekunde) dagegen pro cbm 1,2 und 0,072 kg
= 1,272 kg Salze. Eine Besserung des Zustandes stehe daher bei höherem
Wasserstande zu erwarten, ausserdem würden auch voraussichtlich die Abwässer
des Mansfelder Bergbaus durch die beabsichtigte Expropiation und Entwässerung
des salzigen Sees erheblich verringert werden. Dem jetzigen Zustande jedoch
dauernd abzuhelfen, sei nur durch eine Klärung der Abwässer der Kalifabriken mög¬
lich, das sei aber gleichbedeutend mit Untergrabung dieser für die Laudwirth-
scliaft so wichtigen und unentbehrlichen Industrie. Ehe man daher zu einem
solchen Mittel greife, müsse versucht werden, ob dasselbe Ziel nicht auch auf
anderem Wege erreicht werden könne. Dies sei aber möglich und zwar dadurch,
dass die Stadt Magdeburg künftighin ihren Wasserbedarf nicht aus der Elbe,
sondern aus anderen Quellengebieten und Tiefbrunnen entnehmen würde. Zur
Anlage einer derartigen Wasserleitung würden die betheiligten Kaliindustrien
einen Kostenbeitrag zu leisten haben und wenn sie es nicht, wie zu erwarten
stehe, freiwillig thun würden, könnten sie indirekt durch Auflage der zu-
vorigeu Klärung ihrer Abwässer gezwungen werden. Dieser Mittelweg, in ver¬
ständiger Weise und so rasch als möglich eingeschlagen, werde sicher zur Be¬
seitigung des jetzigen Uebelstandes führen. Nach Lage der Gesetzgebung habe
Tagcsnachrichton.
125
übrigens keine Stadt einen gesetzlichen Anspruch darauf, dass das Wasser eines
öffentlichen Flusslaufes so rein gehalten wird, dass sie ihr Trinkwasser daraus
bestreiten könne, sondern den Staatsbehörden läge nur die Verpflichtung ob, das
Wasser der öffentlichen Flussläufe soweit wie irgend möglich in einem Zustande
zu erhalten, dass es zu gewerblichem Zwecken von den Anwohnern benutzt
werden könne.
Auf die im Laufe der Debatte ausgesprochene Besorgniss, dass der jetzige
Zustand de9 Elbwassers möglicher Weise eine grosse Gefahr für den Ausbruch
einer Cholera-Epidemie bedingen könne, erwiderte der Minister der u. s. w.
Medizinalangeiegenheiten, Dr. Bosse, dass nach den auf seine Ver¬
anlassung von dem Direktor des Berliner hygienischen Instituts, Prof. Dr. Rubner
angestellten Untersuchungen der Magdeburger Verhältnisse eine derartige Ge¬
fahr nicht bestehe. Der Cholerabazillus bleibe in versalztem Wasser kürzere
Zeit als in gewöhnlichem Wasser am Leben; ausserdem werde er durch gute
Filtrationsanlagen überhaupt zurüekgehalreu. Die Versalzung des Elbe- und
Saalewassers habe sogar für die Nichtverbreitung einen gewissen Vortheil, da
das Flusswasser daun überhaupt nicht getrunken und dadurch die sonst beste¬
hende grosse Gefahr einer Verschleppung der Cholera auf diesem Wege ausge¬
schlossen werde. Auch er stehe auf dem Standpunkt, dass sich die Stadt Magde¬
burg an anderer Stelle ein besseres Trinkwasser suchen müsse, damit die jetzige
Kalamität dauernd beseitigt werde, da ein gutes und einwandfreies Trinkwasscr
eine der ersten Lebensbedmgungcn der Bevölkerung sei. Nach den ihm zuge¬
gangenen Nachrichten werde es voraussichtlich auch gelingen, in den fiskalischen,
nördlich von Magdeburg gelegenen Waldgebieten ausreichendes uud gutes Trink¬
wasser für eine neue Wasserleitung zu erhalten.
Aus dem Reichstage. Bei der zweiten Berathung des Etats des Reiclis-
amts des Innern wurde beim Kapitel „Reichsgesundheitsamt“ in der
Sitzung vom 22. Februar die Frage der Leichenverbrennung durch die
Abgeordneten Lingens, Goldschmidt, Schröder, Baumbach und
Frohme angeregt. Der Staatssekretär v. Bötticher erwiderte, dass in
Hamburg eingehende Versuche über die Lebensfähigkeit des Cholerabazills in
der Erde bei begrabenen Choleraleichen angestellt seien und, wenn diese Ver¬
suche auch noch nicht völlig abgeschlossen seien, so stehe doch schon jetzt fest,
dass der Cholerabazill sehr bald in der Erde absterbe. Betreffs der von ver¬
schiedenen Rednern verlangten Einführung der fakultativen Feuerbestattung käme
ein Eingreifen des Reiches nur dann in Frage, wenn sich solches aus sanitäts¬
polizeilichen Gründen rechtfertigen lasse. Erweise sich aber die Leichenver¬
brennung behufs der Bekämpfung der Seuche als nothwendig, dann müsse sie
auch obligatorisch gemacht werden, wenigstens für die Zeit, in der Seuchen
herrschen. Andererseits müsse man aber sagen, dass in sehr vielen Kreisen der
Bevölkerung eine energische Gegnerschaft gegen die obligatorische Leichenver¬
brennung besteht und dass die Durchführung dieser Massregel an vielen Orten,
besonders auf dem platten Lande, gar nicht möglich ist. Eine positive Lösung
der Frage sei daher bei den ausserordentlichen Schwierigkeiten nicht zu er¬
warten; auch empfehle es sich nicht, einen auf Einführung der fakultativen
Leichenverbrennung lautenden Antrag bei Berathung des Reichsseuchengesetzes
einzubringen, wie dies von dem Abgeordneten Dr. Bau mb ach beabsichtigt
werde, da dadurch möglicher Weise die Annahme des Seuchengesetzes ernstlich
gefährdet werden dürfte.
Ueber die vom Abg. Frohme angeregte Frage einer Erweiterung der
Befugnisse des Reichsgesundheitsamtes äusserte sich der Staatssekretär
dahin, dass das Reichsgesundheitsamt gar nicht als eine Exekutivbehürde gedacht
und es seiner Ansicht nach auch nicht richtig sei, es als solche auszugestalten,
da dann Kollisionen mit anderen Ressorts nicht ausbleiben dürften. Das Reichs-
gesnndheitsamt müsse auch fernerhin eine dem Reichsamt des Innern unterge¬
ordnete, in der Hauptsache zu wissenschaftlichen Forschungen und zur Abgabe
von Gutachten berufene Behörde bleiben. Der Vorwurf jedoch, dass dasselbe
während der Cholera-Epidemie nicht das seinige gethan hätte, sei in aller Schärfe
zurückzuweisen: denn vom ersten Moment ab, wo die Besorgnis« einer Einschlep¬
pung der Cholera von Osten Vorgelegen, haben das Gesundheitsamt und alle seine
Mitglieder mit einer seltenen Pflichttreue, mit einem Eifer, der den vollen Dank
126
Tagesnachrichten.
der Nation verdiene, sich den ihm obliegenden Aufgaben unterzogen. Jedenfalls
sei es der vereinten Tätigkeit aller berufenen Organe zu verdanken, dass die
im verflossenen Jahre in Deutschland überraschend zum Ausbruch gekommene
Cholera-Epidemie keine weitere Ausbreitung gefunden habe.
In der nächstfolgenden Sitzung, am 23. Februar, kam sodann ein von dem
Abgeordneten Baumbach uud v. Bar gestellte Antrag betreffs Zulassung
der Frauen zur Approbation als Arzt zur Berathung. Der Antragsteller
führte aus, dass sich bereits die Kammern in Baden und iu Hessen günstig zu
der Frage gestellt hätten, auch die Beschlüsse des preussischen Abgeordneten¬
hauses seien entgegenkommend. Während früher die Petitionskommission des
Reichstages durch den Uebergang zur Tagesordnung über die jene Zulassung
fordernden Petitionen empfohlen habe, habe die Kommission jetzt einstimmig
einen anderen Standpunkt eingenommen und halte eine Revision der von dem
Bundesrath auf Grund des §. 29 der Gewerbeordnung erlassenen Vorschriften
über den Nachweis der Befähigung als Arzt nach der Richtung für nothwendig,
dass auch Frauen die Approbation als Arzt ertheilt werden könne.
Der Staatssekretär v. Bötticher erwiderte, dass schon jetzt Frauen die
Heilkunde in Deutschland ausüben dürfen und auch thatsächlich ausüben. Die
Gesetzgebung gestatte nur nicht die Approbation der Frauen als Arzt; denn
diese sei von bestimmten Vorbedingungen, dem Reifezeugniss des Gymnasiums
uud dem Universitätsstudium abhängig. Diese Vorbedingungen für die Frauen
zu beseitigen, könne in keiner Weise empfohlen werden; soll daher der Wunsch
der Antragsteller durchgeführt werden, so müsse den Frauen gleichfalls die
Möglichkeit gegeben werden, sich die verlangte Vorbildung zu erwerben. Hierzu
die Wege zu ebneu, sei aber Sache der Einzelstaaten und nicht des Reiches, an
die Adresse jener müsste in Folge dessen auch der Antrag gerichtet werden.
Während die Abgeordneten Dr. Endemann und Dr. Hoeffel die Ab¬
lehnung des Antrages empfahlen, da den Frauen zum ärztlichen Berufe die
erforderliche Thatkraft, Einsicht und Sachlichkeit fehle und ihre Urtheilskraft
zu sehr dem Gefühle unterworfen sei, vertraten die übrigen Redner v. Bar,
Bebel und Rio kort den entgegengesetzten Standpunkt. Schliesslich wurde
die weitere Berathung der Angelegenheit bis zur Verhandlung der denselben
Gegenstand betreffenden Petitionen verschoben.
Die im ausserordentlichen Etat eingestellte Summe für die Erwerbung
eines Bauplatzes und Errichtung eines neuen Dienstgebäudes ftir das Reichs¬
gesundheitsamt ist vom Reichstag in seiner Sitzung vom 24. Februar ge¬
nehmigt worden.
Cholera - Erkrankungen sind vom 12.—25. Februar in Altona nur 7
mit 2 Todesfällen; in Hamburg und in Niet leben je 1 vorgekommen.
In Galizien ist die Seuche vollständig erloschen; auch in Pest scheint
dies der Fall zu sein, wenigstens siud seit dem 10. Februar Cholera-Erkrankungen
dort nicht mehr zur Anmeldung gelangt wnd die letzten beiden Cholerakranken
am 21. Februar geheilt aus dem Barackenspital entlassen. Die Gesammtzahl der
in der ungarischen Hauptstadt seit Beginn der Seuche (26. September v. J ) an
Cholera erkrankten Personen betrug 1063; davon sind 459 = 43,3% gestorben.
In Marseille sind vom 25. Januar bis 9. Februar 75 Personen au
Cholera gestorben; die Seuche hat aber scheinbar ihren Höhepunkt bereits er¬
reicht uud ist in der Abnahme begriffen.
Ueber den Stand der Cholera in Russland liegen auch diesmal keine
nähere Nachrichten vor.
Berichtigung. In dem Referat über Koch’s psychopathische Min-
derwerthigkeiten, S. 100 und 101 voriger Nummer muss es heissen auf S. 100,
Zeile 32 „seinen Stoff“ statt „seine Stoffe“, Zeile 54 „eben“ statt „aber“ und iu
der letzten Zeile „dann“ statt „nur“. Auf S. 101, Zeile 11 und 12 ist ferner
zu lesen „durch“ Krankheitszustände und besondere Lebensvorgänge statt
„nach“ Krankheitszuständen u. s. w., sowie in Zeile 43 „Abweichung 4 * statt „Ab¬
neigung“ und in den Zeilen 46 und 47 „von Bezeichnungen“ statt „der Be¬
zeichnungen“.
Tages-Ordn. der X Hauptversamml. des Preuss. Mcdizinalbeamt-en-Vereins. 127
Tages-Ordnung
der
am IO. und 11. A] >i*i 1 1898
zu
I3ei*lin
im
Langenbeck - Hause (Ziegelstrasse)
stattfindenden
X. Hauptversammlung
des
Preussischen ttedizinalkamlen-V ereins.
Sonntag, den 9. April.
8 Uhr Abends: Gesellige Vereinigung zur Begriissung bei
Sedlmayr (Friedrichstrasse 172).
Montag, den 10. April.
9 Uhr Vormittags: Erste Sitzung im Langenbeck-Hanse.
1. Eröffnung der Versammlung.
2. Geschäfts- und Kassenbericht; Wahl der Kassenrevisoren.
3. Der Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Bekämpfung
gemeingefährlicher Krankheiten. Herr Reg.- uud Med. - Rath
Dr. Rapmund in Minden i. W.
4. Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten. Herr
Kreisphysikns Dr. Fielitz in Halle a./S.
5. Anträge und Diskussionsgegenstände:
a. Amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte, sowie Unter¬
suchungen in der Wohnung des Gerichtsarztes ohne
vorheriges Aktenstndinm behufs Abgabe eines münd¬
lichen Gutachtens im Termin (Antrag der Medi¬
zinalbeamten in Berlin).
b. Die Hnfeland'sehen Stiftungen. (Antrag der Medi¬
zinalbeamten des Regierungsbezirks Minden.)
4 Uhr Nachmittags:‘Festessen im „Engli sehen Hause“
(Huster) Mohrenstrasse Nr. 4!).
128 Tages-Ordn. der X. Hauptversamml. des Prenss. Medizinalbeamten-Vereins.
9 Uhr Abends: Gesellige Vereinigung bei Sedlmayr (Fried¬
richstrasse 172).
Dienstag, den 11. April.
9 Uhr Vormittags: Zweite Sitzung im Langenbeck-Hanse.
1. Zur Lehre der Arsen Vergiftung. Herr Privatdozent und gericht¬
licher Stadtphysikus Dr. Fr. Strassmann in Berlin.
2. Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. Herr
Dr. Leppmann, Arzt der Königl. Strafanstalt zu Moabit.
3. Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens. Herr Kreis-
physikus Dr. Meyhof er in Görlitz.
4. Vorstands wähl; Bericht der Kassenrevisoren.
5. Unfall- und Bruchschaden. Herr Kreisphysikus Dr. Grisar in
Trier.
Nach Schluss der Sitzung: Besichtigung der Königlichen
Strafanstalt zu Moabit und der damit verbundenen Beob¬
achtungsanstalt für geisteskranke Verbrecher, Lehrterstr. 3.
9 Uhr Abends: Gesellige Vereinigung bei Sedlmayr (Fried¬
richstrasse 172). _
Indem der Unterzeichnete Vorstand auf eine recht zahlreiche
Betheiligung der Vereinsmitglieder, sowie auch derjenigen Kol¬
legen hofft, die dem Verein bisher noch nicht beigetreten sind,
bittet er, etwaige Beitrittserklärungen, Anmeldungen zur Theil-
nahme an der Versammlung oder sonstige Wünsche demnächst dem
Schriftführer des Vereins gefälligst mittheilen zu wollen.
Medizinalbeamte anderer deutscher Bundesstaaten werden
zur Theilnalime an der Versammlung freundlichst eingeladen.
Berlin, Ende Februar 1893.
Der Vorstand des PrenssiscDen MedizinalDeamten- Vereins.
Dr. Kanzow, Vorsitzender, Dr. Rapmund, Schriftführer,
Regierungs- u. Geh. Medizinal-Rath iu Regierungs- u. Medizinalrath in
Potsdam. Minden.
Dr. Schulz, Dr. Wallichs,
Polizei-Stadtphysikus, Sanitätsrath und Kreisphysikus u. Geh. Sanitätsrath in
Direktor des Königl. Impf-Iustituts in Altona.
Berlin.
Dr. Mittenzweig,
Gerichtlicher Stadtphysikus und Sanitätsrath in
Berlin.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. liapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W.
J. C. C. Bruns, Buchdruckerei, Minden.
6. Jahrg.
Zeitschrift
1893 .
für
MEDIZINALBEAMTE
Heraasgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rathu.gerichtl.Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medi/.in.drath in .Vli,,.i, .
and
Dr. WILH. SANDER
Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer's mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
iDunte, die durchUafende PetlUeile 46 Pf. nimmt die VerUgshondlung and Rad. Moese
entgegen.
No. 6.
Emhelit m 1. und 15. jeden Monate.
Preis Jährlich 10 Mark.
15. März.
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen
und der Schulkinder des Kreises Isenhagen.
Von Dr. Max Langerh&ns, Kreisphysikus in H&nkensbttttel.
(Fortsetzung.)
2. Untersuchung: des Gesundheitszustandes.
Ich habe mich bei der Untersuchung ganz genau an die von
Axel Key eingefUhrte Fragestellung gehalten. Das von mir be¬
nutzte Formular enthielt also ausser den Kolumnen für Namen,
Alter und Wohnort des Kindes, für Länge, Gewicht und Brust¬
umfang je eine Rubrik für die nachfolgenden chronischen Krank¬
heitszustände : Blutarmuth, Nasenbluten, Nervosität,
Appetitlosigkeit, Kopfschmerz, Angen krankheit,
Kurzsichtigkeit, Rückgratsverkrümmung, Skrofeln
und „Andere langwierige Krankheit“. Bei der Unter¬
suchung musste mir die ausgedehnte Personalkenntniss, welche ich
mir durch 15 jährige Thätigkeit in Amt und Praxis, früher in
Wittingen, jetzt in Hankensbüttel erworben habe und in Folge
deren ich wohl jede Familie des Kreises mit Ausnahme des abge¬
legenen Kirchspiels Brome persönlich kenne, ebenso zu Statten
kommen, wie das lebhafte Interesse und die bereitwillige Unter¬
stützung, welche meinen Untersuchungen seitens der Lehrer zu
Theil wurde. Anch die bei den Physikats - Akten befindlichen
Listen über Infektionskrankheiten, welche bei der streng durch¬
geführten Anzeigepflicht als vollständig und zuverlässig gelten
können, lieferten sehr werth voll es Material, so dass die Anamnese
mindestens ebenso vollständig zu ihrem Rechte kam, wie bei der
Key'sehen Methode der Befragung des Hauses. Die körperliche
Dr. Langerhans.
180
Untersuchung - erstreckte sich daun auf die Betrachtung des ganzen
Körperbaues, auf die Entwickelung der Armmuskulatur und des
Fettpolsters, die Farbe der sichtbaren Schleimhäute, die Hals¬
drüsen, die Beschaffenheit der Augen und auf die Prüfung der
Gehör- und Sehschärfe. Natürlich wurden in denjenigen Fällen,
wo dazu eine Veranlassung vorlag, auch weitergehende Unter¬
suchungen, namentlich physikalische Untersuchungen der Brust¬
organe, Besichtigungen der Racheuorgane u. s. w. vorgenommen.
Zufällige Krankheiten, Erkältungszustände, akute Infektionskrank¬
heiten, in Folge deren mehrere Kinder nicht zur Untersuchung
kamen, wurden nicht berücksichtigt, auch wurden diejenigen Kinder,
welche am Untersuchungstage aus anderen Gründen vom Schul¬
besuch entschuldigt waren, ausser Ansatz gelassen, so weit sie
mir nicht als „gesund“ oder „krank“ persönlich bekannt waren.
Von den untersu chten 2367 Kindern waren
gesund 1752 = 74,0 Proz.
krank 615 = 26,0 „
und nach Abrechnung der Kurzsichtigkeit
gesund 1879 = 79,4 Proz.
krank 488 = 20,6 „
Von den 1160 Knaben waren
gesund 845 = 72,9 „
krank 315 = 29,1 „
und nach Abrechnung der Kurzsichtigkeit
gesund 907 = 78,2 Proz.
krank 253 = 21,8 „
Von den 1207 Mädchen waren
gesund 907 = 75,2 „
krank 300 = 24,8 „
und nach Abrechnung der Kurzsichtigkeit
gesund 972 = 80,6 Proz.
krank 235 = 19,4 „
Tabelle VII.
Kränklichkeit der Knaben.
u
a>
<
Jahr
Zahl der
Untersuchten
inclusive Kurzsichtigkeit
exclusive Kurzsichtigkeit
ge¬
sund
krank
ge¬
sund
0/
Io
krank
°/o
ge¬
sund
krank
ge¬
sund
X
krank
°/o
6
141
113
28
80,0
20,0
114
27
80,7
19,3
7
143
111
32
77,6
22,4
118
25
82,6
17,4
8
153
100
53
65,4
34,6
109
44
71,3
28,7
9
145
108
37 j
74,5
25,5
114 ,
31
78,5
21,5
10
138
99
1 39 !
71,8
28,2
108 1
30
78,3
21,7
11
139
95
44 |
68,4
31,6
100
39
72,0
28,0
12
161
114 ;
47 ,
70,9
29,1
131 ;
30
81,3
18,7
13
140
105 |
| 35
75,0
25,0
113 ]
27
80,7 |
19,3
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschalen etc. 181
Tabelle VIII. Kränklichkeit der Mädchen.
<
Jahr
P
©
«,P
inclusive Kurzsichtigkeit
exclusive Kurzsichtigkeit
al
as
P
ge¬
sund
krank
ge¬
sund
*/.
krank
*/.
ge¬
sund
krank
ge¬
sund
*lo
krank
0/
/ 0
6
142
119
23
83,8
16,2
121
21
85,2
14,8
7
167
124
43
74,3
25,7
138
29
82,6
17,4
8
150
125
25
83,4
16,6
135
15
90,0
10,0
9
161
123
38
76,7
23,3
130
31
80,8
19,?
10
131
97
! 34
74,1
-5,9
105
26 j
80,2
19,8
11
144
102
42
70,9
29,1 |
118 1
31
78,5
21,5
12
147
105
■ 42 j
71,5
28,5
108 j
39 1
! 73,5
26,5
13
165
112
53
67,9
32,1 |
122
43
74,0
| 26,0
Tabelle IX.
Kränklichkeit sämmtlicher Kinder.
inclnsive Kurzsichtigkeit
exclusive Kurzsichtigkeit
4J
<
Jahr
p
p
'
ge¬
sund
krank
ge¬
sund
°/o
krank
°/o
ge¬
sund
krank
ge¬
sund
0/
Io
krank
°/o
6
283
232
51
82,0
235
48
83,1
16,9
7
235
75
75,8
24,2
256
54
82,3
17,7
8
225
78
74,3
25,7
244
59
19,5
9
231
75
75,5
24,5
244
62
79,8
20,2
269
196
73
72,9
27,1
213
56
79,2
20,8
11
283
197
86
69,1
213
70
75,3
24,7
12
219
89
71,1
28,9
239
69
78,6
22,4
13
217
88
71,0
235
77,0
Sa. 2367
1752
615
74,0 !
26,0
1879
488
79,4
20,6
Aus diesen Tabellen geht hervor, dass die Kränklichkeit der
Schulkinder des Kreises Isenhagen verhältnissmässig recht gering
ist, auf jeden Fall sehr viel geringer, als sie bei den Schülern
höherer Lehranstalten gefunden wird, wo die Krankenzahl, zumal
in den obersten Klassen bekanntlich eine erschreckend hohe zu
sein pflegt. Doch auch den Volksschülern anderer Gegenden
gegenüber, beispielsweise den dänischen ländlichen Volksschülern,
welche 29 Prozent Kranke aufzuweisen haben, erweist sich unsere
Schuljugend mit 20,6 Prozent Kränklicher als verhältnissmässig
recht gesund.
Die Kleinheit der Zahlen muss zu einer gewissen Vorsicht
bei weitergehenden Schlussfolgerungen mahnen! Immerhin dürfte
der Schluss gestattet sein, zumal unter Berücksichtigung des Um¬
standes, dass allerwärts die gleiche Erscheinung festgestellt wurde,
dass das Krankenprozent während der Zeit des Schulbesuches,
wenn auch nur in geringem Grade zunimmt. Diese Zunahme ist
aber, wenn man namentlich Tab. VII und VIII in das Auge fasst,
so wenig gleichmässig, dass man kaum ein sich gleich bleibendes,
allmählich in schädlichem Sinne auf die Gesundheit der Kinder
einwirkendes Agens als die wesentliche Ursache annehmen kann.
Der Gedanke liegt vielmehr nahe, dass es zufällig einwirkende,
132
Dr. Langerhans.
bald hier, bald da sich geltend machende und dann ein plötzliches
Anschwellen der Krankenziffer hervorrufende Einflüsse sind, welche
in dieser allmählichen, im Ganzen aber doch so wenig stetigen
Zunahme der Krankenziffer zur Geltung kommen. Die eingehen¬
dere Betrachtung wird in der That zeigen, dass es zumeist epide¬
mische Einflüsse, mit anderen Worten die Infektionskrank¬
heiten und ihre Folgezustände sind, welche gewissen Oertlich-
keiten und auch gewissen Altersklassen das Gepräge einer grösseren
Kränklichkeit aufdrücken!
Die Art und Weise, wie die oben angeführten Krankheiten
an dem Zustandekommen des Kranken - Prozentes für beide Ge¬
schlechter und für die einzelnen Jahrgänge betheiligt sind, ergeben
die nachfolgenden Tabellen:
Tabelle X.
Krankheits-Prozente für die einzelnen Krankheiten. Knaben.
-
a
Kurzsichtig¬
keit
Rückgrats-
Ver¬
krümmung
1 ^
** 1
2
<5
Jahr
Blutarmut]
Nasenblute
Nervosität
Appetit¬
losigkeit
Kopfschmei
Augen¬
krankheit
Skrofeln
Andere lanj
wierige
Krankheit
6
■a
___
r
1,4
0,7
1,4
4,2
12,7
7
2,4
—
— Ul
0,7
2,8
7,0
3,5
6,3
8
K&l
—
—
1,3
3,3
7,2
0,7
11,1
13,7
9
mm
—
1,4
0,7
4,8
5,6
0,7
6,2
12,4
2,2
—
3,6
4,4
9,3
6,6
8,0
11
2,9
1,4
1,4
7,9
4,2
4,2
0,7
8,6
10,7
12
0,6
K&3
—
3,1
3,7
12,9
0,6
4,8
8,0
13
Mam
3,5
2,1
7,1
0,7
5,0
8,1
Sa. 1,6 |
0,3 |
0,3 (
0,5 i
2,6 |
U i
6,7 i
0,6 |
6,3 | 10,0
Tabelle XI.
Krankheits-Prozente für die einzelnen Krankheiten. Mädchen.
c
0>
4»
<
Jahr
Blutarmuth
Nasenbluten
Nervosität 1
Appetit¬
losigkeit
Kopfschmerz
Augen¬
krankheit
Kurzsichtig-1
keit
Rückgrata-
ver-
krümmung
Skrofeln
Andere lang¬
wierige
Krankheit
6
2,1
- ,
r ,,
-
1,4
i .
4,2
7,7
7
1,2
—
—
—
1,2
mjm
raxa
2,4
5,4
7,2
8
3,3
—
—
0,6
1,2
2,6
7,3
0,6
3,3
5,3
9
2,4
—
0,6
1,8
1,2
4,9
6,8
1,8
3,0
7,4
2,1
wm
1,4
4,2
4,2
6,1
14
3,5
5,3
11
2,1
n&Sl
—
2,1
2,1
—
4,9
7,0
7,6
12
2,1
Ät$l
—
7,5
4,9
2,1
Wi*«
3,5
13,6
13
5,4
—
—
—
7,8
6,5
10,3
1,2
3,5
5,4
Sa. 2,6
0,3
0,2
0,8
3,2 | 3,2
6,6
1,6
4,1
7,4
Bemerkenswerth ist bei diesen Tabellen (X und XI) vor
Allem das vollständige Zurücktreten der eigentlichen „Schul¬
krankheiten“, denen ein so grosser Theil der Spalten des
Key’schen Formulars gewidmet ist und zwar mit Recht gewidmet
ist; denn die hohe Kränklichkeitsziffer, welche die von K ey unter¬
suchten „Mittelschüler“ aufzuweisen haben, setzt sich zum über-
l)ie gesundheitlichen Verhältnisse der läudlicheu Volksschulen etc. UW
wiegenden Theile gerade aus diesen Krankheitszuständen zusammen
und es sind bereits in den untersten Klassen nicht weniger, als
14—16 Prozent der Schüler bleichsüchtig, während etwa 5 Proz.
an Nasenbluten und 12 Proz. an Kopfschmerz leiden! Auch für
Nervosität und Appetitlosigkeit finden sich viel höhere Prozent¬
angaben, als ich bei der Isenhagener Dorfjugend finden konnte.
In diesem Sinne könnte das von mir benutzte Key’ sehe Formular
für das mir vorliegende Untersuchungsobjekt eigentlich etwas un¬
praktisch erscheinen. Trotzdem habe ich geglaubt, daran fest-
halten zu müssen! Denn es verliert beispielsweise die hübsche
Arbeit von Nester off über den Gesundheitszustand der Schüler
des klassischen Gymnasiums zu Moskau sehr erheblich an prak¬
tischer Verwerthbarkeit dadurch, dass Nesterolf dem gewöhn¬
lichen Gebrauch entgegen die Rubrik „Kopfschmerz“ gestrichen
und dieses Leiden unter „Nervosität“ mit eingerechnet hat. Es
kann ja zugegeben werden, dass es Fälle von Nervosität giebt,
die sich zu Zeiten hauptsächlich als Kopfschmerz äussern, es giebt
aber doch noch vielerlei andere Ursachen für Kopfschmerz und
gerade der spezifische „Schülerkopfschmerz“ ist doch im Wesent¬
lichen als Ermüdungserscheinung aufzufassen und kommt oft genug
während des Schülerlebens bei Leuten vor, die sonst keinerlei
Zeichen einer nervösen Anlage zeigen und auch später keineswegs
Neurastheniker werden. Vor Allem aber halte ich es für noth-
wendig, sich an die von Key und Hertel gegebenen Normen zu
halten; denn alle diese statistischen Arbeiten haben doch im
Wesentlichen nur den Werth von Bausteinen! Selbst die kolos¬
salen Zahlenreihen der nordischen Enqueten genügen nicht zu
allseitiger Aufklärung der so wichtigen Frage nach dem Einfluss
des Schulbesuches auf die Gesundheit der Schüler. Es ist viel¬
mehr die Herbeischaffung eines umfangreicheren und vielseitigeren
Materials die Vorbedingung einer gründlichen Beantwortung. Wie
aber der Architekt bei demselben Bau nur Bausteine desselben
Formats verwenden kann, so ist auch bei unserem Material eine
gewisse Gleichmässigkeit thunlichst anzustreben! Dies ist der
Grund, weswegen ich u. A. auch die Rubriken „Nasenbluten“ und
„Nervosität“ in mein Formular aufgenommen habe, obgleich diese
Zustände unter unserer Schuljugend in erheblicher Verbreitung
keineswegs zu erwarten waren. Kopfschmerz, welcher bei 2,6 Proz.
der Knaben und 3,2 Proz. der Mädchen beobachtet wurde, zeigt
eine beachtenswerthe Zunahme bei den der Pubertät sich nähern¬
den, beiden ältesten Jahrgängen der Mädchen (7,5 und 7,8 Proz.).
Dieselbe Erscheinung zeigt sich auch bei der Blutarmuth,
welche nur bei 1,5 Proz. der Knaben und 2,6 Proz. der Mädchen
vorkam. Auch hier steigt die Zahl der Blutarmen im letzten
Jahrgang der Mädchen von 2,1 auf 5,4 Proz.
Nasenbluten mit 0,3 Proz. und Nervosität mit 0,2 Proz.
bei Mädchen und 0,3 Proz. bei Knaben spielen nur eine sehr
untergeordnete Rolle. Ich bemerke aber, dass ich den dehnbaren
Begriff „Nervosität“ ziemlich eng gefasst habe, dass ich also nur
Zittern, Ohnmächten, krankhafte Schreckhaftigkeit, Weinkrämpfe
134
l)r. Langerlialis.
und dergleichen hierunter verstanden habe, dass ich dagegen die
eigentlichen Neurosen: Chorea, Epilepsie, Stottern, ebenso wie die
schwereren Störungen der Gehirnthätigkeit, Blödsinn und Schwach¬
sinn unter der Sammelrubrik „ andere langwierige Krankheit“ ein¬
getragen habe.
Appetitlosigkeit, als solche kam kaum je vor! Ja die
darauf hin gerichtete Frage, die ihnen ganz fremde Vorstellung,
als ob einer von ihnen sich nicht des allerbesten Appetits erfreuen
könnte, pflegte den Kindern sehr spasshaft vorzukommen. Unter
den sämmtlichen Kindern waren es nur 16 und zwar meistens
Rekonvalescenten oder sonst schwächliche Individuen, von denen
über Appetitlosigkeit geklagt wurde oder eine solche den Lehrern
oder Banknachbarn bekannt war.
Die äusseren Krankheiten des Auges, welche so
zahlreiche Kinder, namentlich der niederen Volksklassen in die
Sprechstunden der Aerzte und die Polikliniken treiben, fanden sich
recht zahlreich, nämlich bei 39 Knaben (3,3 Proz.) und bei 41
Mädchen (3,2 Proz.). Die nachstehende Tabelle, bei welcher beide
Geschlechter unbedenklich gemeinschaftlich abgehandelt werden
konnten, enthält nähere Angaben über die Art der Krankheit und
über die Verkeilung auf die einzelnen Jahrgänge.
Tabelle XII. Augenkrankheiten.
h
<
Jahr
Conjunctivitis
follicularis
andere For¬
men von Con¬
junctivitis
Blepharitis
ciliaris
Keratitis
* £3
~ S>
||
11
° s
w «
Nystagmus
Schielen
Andere
Augenkrank¬
heiten
Augenkrank-
lieit ohne nä¬
here Angabe
Summa
Bemerkungen
6
2
_
_
_
2
7
3
i
1
i
2
—
i
i*)
—
10
*) Ooloboma
iridis.
8
3
i
2
i*)
1
—
—
—
i
9
*) phlyctaenosa.
!*
3
i
8
i
—
1*)
—
i
15
*) Amaurosis
congenita bei¬
derseits.
10
4
—
5
—
1
1
—
i*)
—
12
*) Phthisis bulbi
n. Hypopion.
11
1
i
i
2*1
1 _ 1
—
—
i**)
—
f>
*) traumatica.
**) Dacryocystis
12 !
3
i
3
1
1
1 -
i
—
2
12
13
8
—
3
—
2
1*)
— i
14
*) mit einseiti¬
—
gem Cataract,
Sa. 2ö
5
25
! 6
7
1 3
2
1 3
4
80
Trotz der Kleinheit der Zahlen darf man wohl den Schluss
ziehen, dass eine Zunahme der Augenkrankheiten während des
Schulbesuches unter den hiesigen Schulkindern nicht festzustellen
ist. Im Uebrigen bemerke ich, dass diejenigen Augenkrankheiten,
welche man mit Vorliebe skrophulös nennt oder doch nannte, nicht
unter „Skrophulose“, sondern nur hier notirt sind, falls nicht noch
andere Symptome der Skrophulose Anlass gaben, den Fall ausser¬
dem noch unter „Skrophulose“ zu verzeichnen. —
Epidemischer Follikular-Katarrh, der in unserer
(übrigens beiläufig bemerkt, ganz trachom - freien) Gegend seit
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 13?>
vielen Jaliren nicht aufgetreten war, herrschte im Frühjahr des
Untersuchungsjahres, aus Braunschweig eingeschleppt, in ausge¬
dehntester Verbreitung in den drei Klassen des Marktfleckens
Brome und in dem nahe gelegenen Tülau. Ich hatte damals den
Versuch gemacht, die beiden Schulvorstände zu energischen
Schritten gegen diese Krankheit zu veranlassen und hatte nament¬
lich regelmässige Revision sämmtlicher Schulkinder und ärztliche
Behandlung der Erkrankten durch einen der in Brome ansässigen
Aerzte in Vorschlag gebracht! Leider bildete der Geldpunkt und
der scheinbar milde Verlauf der Krankheit ein unüberwindliches
Hinderniss und der Ausgang war, dass bei meiner im August
vorgenommenen Untersuchung fast ein Drittel der Kinder eine
mehr oder weniger follikuläre Beschaffenheit der Bindehäute zeig¬
ten! Dagegen konnte ich in dem, meinem Wohnorte nahegelege¬
nen Dort Schweimke, wo im Juni eine ebensolche Epidemie nach
und nach wohl sämmtliche Schulkinder ergriff, den dortigen sehr
intelligenten Lehrer für die Behandlung interessiren, welche er
unter meiner Anleitung auf das Sorgfältigste durchführte mit dem
schönen Erfolg,dass unter 55 Schulkindern nur ein einziges Follikel-
Bildung auf der Bindehaut zeigte 1 ). Uebrigens habe ich nicht jeden
Fall, wo sich bei genauester Untersuchung ein paar Follikel auf
der Lid-Schleimhaut sehen Hessen, als „Augenkrankheit“ einge¬
tragen, sondern nur diejenigen, wo Reizerscheinungen, Zusammen¬
ziehungen des Ringmuskels, Zwinkern oder Thränenfliessen beim
Umklappen des Lides eine noch bestehende grössere Empfindlich¬
keit des Auges kennzeichneten oder bei denen die ganze Ueber-
gangsfalte hahnenkammartig mit dicht gedrängten Follikeln bedeckt
war, da ein solcher Zustand für die Zukunft des Auges doch
gewiss nicht gleichgültig sein kann. Als Curiosum sei erwähnt,
dass ich in zwei Fällen auf der Hornhaut festsitzende Fremdkörper
(Flügeldecke eines kleinen Käfers und Stahlsplitter) vorfand und
entfernte, von deren Vorhandensein die Kinder keine Ahnung
hatten.
Die Funktionsprüfung der Augen habe ich ausschliess¬
lich mit Hülfe der Schweigger’schen Sehproben vorgenommen.
Spiegeluntersuchungen habe ich nicht angestellt und auf die Fest¬
stellung der Hypermetropie Verzicht geleistet. Ich habe ferner
sehr bald die sechsjährigen Kinder von der Funktionsprüfung aus¬
geschlossen. Die Grande sind sehr naheHegende. Denn einmal
waren in einigen Schulen die Kinder beim Studium ihrer Fibel
noch nicht bei der Druckschrift angelangt und wenn es auch leicht
gewesen wäre, dem Mangel von Sehproben in Schreibschrift durch
Selbstanfertigung solcher Proben abzuhelfen, so wäre dabei doch
nicht viel herausgekommen. Denn es zeigte sich, dass die Kinder
im geistigen Erfassen der ihnen vorgehaltenen Schriftproben sich
ganz verschieden verhielten. Einige Kinder, namentUch in den
besser geleiteten Schulen beherrschten allerdings die Formen der
*) Sehr erfreulich ist es, dass der Entwurf des Reichsseuchengesetzes unter
Berücksichtigung dieser Verhältnisse unter Umständen die zwangsweise Anord¬
nung eines Heilverfahrens für zulässig erklärt, vid. §. 21.
l.'tfj Dr. Langerhans: Die Gesundheitlichen Verhältnisse etc.
Buchstaben mit grosser Sicherheit, während die anderen unsicher
wurden, sobald die Buchstaben in Form und Grösse auch nur die
geringste Abweichung von den aus der Fibel gewohnten Gestalten
zeigten. Es hat dies ja auch nichts Auffallendes, wenn man be¬
denkt, dass die Kinder erst seit wenigen Monaten die Schule be¬
suchten, dass im Sommer die Zahl der Unterrichtsstunden nur sehr
klein ist und dass ausserdem für diese beginnenden ABC-Schützen
ein guter Theil der Zeit durch die Nothwendigkeit, sich erst an
das ihnen fremde Hochdeutsch gewöhnen zu müssen, verloren geht.
Somit würde die Sache schliesslich mehr auf eine Prüfung der
Lehrgeschicklichkeit des Lehrers, als der Sehschärfe der Kinder
hinauskommen. — Ich habe daher nur einige wenige 6jährige
Kinder, bei denen die Kurzsichtigkeit unzweifelhaft und bedeutend
war, eingetragen, habe aber den ganzen Jahrgang bei der Statis¬
tik ausser Acht gelassen.
Es erwiesen sich von den 2084 Schulkindern der ältesten
7 Jahrgänge 106 = 7,6 Prozent als kurzsichtig. Von den Mäd¬
chen waren 7,5, von den Knaben 7,8 Proz. kurzsichtig. Es konn¬
ten daher beide Geschlechter, zumal der Unterricht gemeinsam
stattfindet und, abgesehen von dem geringfügigen Handarbeits¬
unterricht der Mädchen, gleiche Ansprüche an die Sehkraft gestellt
werden, auch hier gemeinschaftlich abgehandelt werden, wodurch
zufällige Schwankungen, die bei der Kleinheit des Zahlen-Materials
unvermeidlich sind, besser ausgeglichen werden.
Tabelle XIII. Kurzsichtigkeit. Knaben uud Mädchen zusammen.
Alter
j Zahl der 1
i Untersuchten i
i i
Zahl der
Kurzsichtigen
Prozent der
Kurzsichtigen
7 Jahr
310
25
8,0
« »
, 303
22
7,2
9 *
306
19
6,2
10 „
260
21
7,8
H *
1 283
21
7,5
12 *
309
25 1
8,9
13 *
i 304
28 |
9,2
Summe 2084 ;
160 i
7,6
Wenn es nach dieser Tabelle auch scheinen möchte, als ob
die Zahl der Kurzsichtigen mit der Dauer des Schulbesuches zu¬
nähme, so ist doch diese Zunahme so gering, dass der Zufall dabei
eine Rolle spielen kann, sie entbehrt auch so vollständig diejenige
Regelmässigkeit, welche andere Uutersuclier bei anders geartetem
Untersuchungsmaterial schon bei viel kleinerer Schülerzahl fest¬
stellen konnten, so dass bei unseren Schulkindern eine regelmässig
und gleichmässig wirkende Ursache für Entstehung und Zunahme
der Kurzsichtigkeit, wie sie in höheren Schulen die Ueberan-
strengung der Augen bildet, sicher keine erhebliche Rolle spielt.
Die Hauptursache ist hier offenbar Vererbung! Es
wurde mir in sehr vielen Fällen (ich habe leider keine näheren
Notizen gemacht) von dem Lehrer angegeben, dass die Eltern
Dr. Matthe«: Erwiderung auf den Artikel: Zur Desinfektion auf dem Lande. 137
oder die älteren Geschwister ebenfalls kurzsichtig seien. Inter¬
essant war auch, dass unter den fünf Zwillingspaaren, welche sich
in den Schulen vorfanden, in zwei Fällen beide Zwillinge kurz¬
sichtig waren. Es verdient ferner Erwähnung, dass der Lehrer¬
stand, der wohl mit Recht als der brillentragende Stand xax’
eine ganz unverhältnissmässig grosse Zahl kurzsichtiger
Kinder in die Schulen geliefert hat. Meistens sind es gerade
die höheren Grade der Kurzsichtigkeit, bei denen Erblichkeit nach¬
zuweisen war. Im Ganzen ist die Zaül der Kurzsichtigen erheb¬
lich höher, als sie in Dorfschulen sonst angetroffen wird (Cohn
fand in schlesischen Dorfschulen 1,4 Proz. Kurzsichtige). Eine
Erklärung für diese auffallende Thatsache vermag ich nicht an¬
zugeben. —
(Schluss folgt.)
Erwiderung auf den Artikel: Zur Desinfektion auf
dem Lande.
Von Kreisphysikus Dr. Matthes in Obornick.
In Nr. 3 dieser Zeitschrift wird in obigem Artikel Bezug ge¬
nommen auf meine Veröffentlichung in Heft 19 vom Jahre 1892
„Die Durchführung der Desinfektion bei Infektionskrankheiten in
ländlichem Kreise“ und als unstatthaft bezeichnet, die infizirten
Sachen „gelegentlich“ zur Desinfektionsanstalt zu senden, indem
darauf Gewicht gelegt wird, die Desinfektion an einem Tage zu
beendigen. Ich lege dasselbe Gewicht darauf und habe mit den
Worten „die Sachen können gelegentlich befördert werden“ durch¬
aus nicht sagen wollen, dass die Beförderung aufgeschoben werden
soll, vielmehr damit gemeint, dass zum Zwecke der Beförderung
jede Gelegenheit benutzt werden kann, denn ich sprach kurz vor¬
her von den Kosten des Transportes und Kollege Ascher sagt
ja selbst „auf Abholung durch besondere Wagen müssen wir auf
dem Lande verzichten“. Es wird ferner als unzulässig bezeichnet,
infizirte Sachen in eng gewebten, mit 5 °/o Karbollösung getränk¬
ten Säcken zu befördern. Ich bemerke hierzu, dass die bezügliche
Verordnung in meinem Amtsbezirke besagt, „die Sachen sind in
doppelten Säcken, die in 5°/ 0 Karbollösung getränkt sind, zu ver¬
senden“. Vielleicht hat Herr Kollege Ascher dadurch Beruhigung,
ich meinerseits halte die Versendung für vollständig gefahrlos,
obgleich ich es ja als wünschenswerth in meiner Veröffentlichung
bezeichnete, Blechkasten zu haben, doch damals mir schon sagte,
„am Gelde hängt etc.“ manches Problem in der Sanitätspolizei.
Die diesjährigen Verhandlungen des preussischen Abgeord¬
netenhauses über den Medizinaletat.
Wir haben bereits in der letzten Nummer der Zeitschrift
einen kurzen Bericht über die am 25. v. M. stattgehabte Berathung
138 Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc.
des Medizinaletats im Abgeordnetenhause gebracht. Nach dem
jetzt vorliegenden stenographischen Berichte lautet übrigens die
von dem Herrn Minister in Bezug auf die Medizinalreform gegebene
Erklärung günstiger, als nach den in den politischen Blättern ge¬
brachten Berichten. Nicht minder wichtig ist die bei der am 5.
d. M. stattgefundenen dritten Berathung des Medizinaletats im
ministeriellen Aufträge abgegebene Erklärung des Herrn Ministerial¬
direktors Dr. Bartsch: dass auch der Herr Finanzminister im
Prinzip mit einer finanziellen Verbesserung der Stellung der Kreis¬
physiker einverstanden sei. Aber wenn diese Verbesserung etwa
abhängig gemacht werden soll von der Höhe der Nebeneinnahmen,
welche die Physiker noch etwa sonst aus ihrer amtlichen Thätig-
keit beziehen, so würde dies unseres Erachtens vollständig unge¬
rechtfertigt sein. Es mag ja sein, dass einzelne Physiker erheb¬
liche Nebeneinnahmen haben, aber darauf kommt es doch bei der
Entscheidung der vorliegenden Frage gar nicht an, sondern ledig¬
lich darauf, ob die jetzigen Gehalts- oder Kompetenzverhältnisse
der Medizinalbeamten ausreichen, um an diese Beamten solche
Anforderungen zu stellen, wie sie im öffentlichen gesundheitlichen
Interesse gefordert werden müssen. Und diese Frage ist unbedingt
zu verneinen, sie wird auch vom Herrn Minister ebenso wie von
seinen Amtsvorgängern verneint und man muss sich nur wundern,
dass dieser allseitig anerkannten Thatsache gegenüber erst noch
Ermittelungen angestellt sind, die für die Entscheidung der Frage
selbst keine Bedeutung haben. Ebenso wie die Thätigkeit eines Me¬
dizinalbeamten mit der ärztlichen Praxis unvereinbar ist, ebensowenig
liegt es im Interesse seiner dienstlichen Thätigkeit, ihn für das geringe
Gehalt, dass er für diese erhält, durch Zuwendung von Nebenein¬
nahmen schadlos zu halten; denn auch in dieser Hinsicht muss
alles vermieden werden, um die beamteten Aerzte zum Konkurrenten
der praktischen Aerzte zu machen, ohne deren bereitwillige Mit¬
wirkung sie in ihrer amtlichen Wirksamkeit mehr oder weniger
lahm gelegt werden. Das Reichsseuchengesetz und die Cholera
wird ja endlich dafür sorgen, dass die Besserstellung der Physiker
in Bezug auf Gehalt und Kompetenz thatsächlich zur Durchführung
gelangt und dass sie nicht wieder in den Akten begraben bleibt,
wie so manche nothwendige Reformen des Medizinalwesens. Wenn
der Abg. Dr. Graf von einer „Stagnation“ auf diesem Gebiete
spricht, so hat er damit nur das richtige Wort getroffen; denn
was nützen alle noch so schönen Vorarbeiten der wissenschaftlichen
Deputation, was nützen alle Umfragen bei den zuständigen Be¬
hörden, Erörterungen u. s. w., wenn sie keine Früchte tragen,
wenn dem Worte nicht die That folgt? Und sehen wir uns um
nach diesen Thaten, so ist davon wenig zu spüren, besonders nach
Abzug desjenigen, was eigentlich auf Konto der Reichsregierung
gesetzt werden muss, wie das Impfgesetz, die Regelung des Ver¬
kehrs mit Arzneimittel u. s. w. Gerade der grösste deutsche Staat
ist in der Fortentwickelung seines Medizinalwesens hinter den
meisten anderen deutschen Staaten zurückgeblieben, während er
Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 130
auf dem Gebiete des medizinischen Unterrichtswesens jenen weit
vorangeeilt ist; der beste Beweis, dass die Unterrichtsverwaltung
der Medizinalverwalt.ung keinen Vortheil gebracht, sondern sie
nur in den Hintergrund gedrängt und ihre Interessen gefährdet
hat. Wir können auch jetzt die Befürchtung nicht unterdrücken,
dass trotz des Wohlwollens, die der jetzige Herr Minister diesem
Zweige seiner ausgedehnten Verwaltung entgegenbringt, demselben
die zu seinem Gedeihen erforderlichen Lebenskräfte von dem über¬
mächtigen anderen Zweigen des Kultusministeriums beschnitten
werden und er nicht eher zur vollen Entwickelung gelangen wird,
als bis er einen eigenen Boden (Medizinalministerium) oder einen
ihm mehr zusagenden Boden (Ministerium des Innern) erhält, von
denen das erstere vorläufig noch ein frommer Wunsch bleiben wird.
Ebenso wie in früheren Jahren sind die Abgeordneten Dr.
Langerhans, Dr. Graf und v. Pilgrim wiederum bei der
Etatsberathung in eindringlicher und zutreffender Weise für die
Besserstellung der Kreisphysiker eingetreten, diesmal noch unter¬
stützt von zwei Mitgliedern der Centrumspartei, den Abgeordneten
Brandenburg und Jerusalem. Die Anerkennung, die vom
Ministertische aus an beiden Verhandlungstagen den Medizinal¬
beamten für ihre aufopfernde Thätigkeit während der vorjährigen
Cholera - Epidemie im vollsten Maasse zu Theil geworden ist, wird
sie für das ihnen seiner Zeit ertheilte Misstrauensvotum in Bezug
auf die bakteriologische Untersuchungen einigermassen entschädi¬
gen. Ob die bei Bekämpfung der Cholera erzielten Erfolge „wirk¬
lich glänzend“ genannt werden können, darüber werden allerdings
die Ansichten ebenso getheilt sein wie darüber, ob wir, falls die
Seuche noch einmal ihr Haupt erheben sollte, thatsächlich voll¬
kommen vorbereitet sind? Der Herr Ministerialdirektor scheint
jedenfalls nach dieser Richtung hin zuversichtlicher zu sein als
der Herr Minister selbst, der ja offen zugestanden hat, dass die
Ortsorgane der Medizinalbeamten zur Durchführung der erforder¬
lichen Massregeln nicht ausgereicht haben, so dass die Militär¬
medizinalverwaltung aushelfen musste. Man trägt sich daher
unwillkürlich, was denn seitdem geschehen ist, um jene Zuversicht¬
lichkeit zu rechtfertigen? Mit der Einrichtung bakteriologischer
Kurse und bakteriologischer Stationen ist in dieser Hinsicht doch
nicht viel erreicht; denn der Schwerpunkt bei der Cholera und
den anderen Volksseuchen liegt nicht allein in der bakteriologi¬
schen Feststellung der Krankheit, sondern vielmehr in den vor¬
beugenden Massregeln, in der Prophylaxe. Man sollte sich daher
hüten, die Medizinalbeamten, um mit v. Pettenkofer zu reden,
einseitig als Bazillenfänger und zwar speziell als Kommabazillen-
fanger auszubilden! Ohne den Werth der Bakteriologie für den
Medizinalbeamten unterschätzen zu wollen, müssen diese doch in erster
Linie Hygieniker und vor allem ihrer Stellung nach volle Sanitätsbe¬
amte sein; ehe aber letzteres nicht erreicht ist, wird man der Bevölke¬
rung auch nicht die Garantie geben können, dass alle Schutzmassregeln
gegen den drohenden Feind getroffen sind!
140 Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc.
Wir lassen im Nachstehenden den stenographischen Bericht
der Verhandlungen des Abgeordnetenhauses folgen, soweit sie die
Medizinalreform betreffen. In der Sitzung vom 5. d. M. kam auch
die Irrenfrage zur Verhandlung; der Bericht hierüber hat wegen
Mangels an Raum bis zur nächsten Nummer zurückgestellt werden
müssen.
1. Medizinalreform.
a) Sitzung vom 25. Februar d. J.
Abg Jerusalem: M. H.! Ich möchte mir an den Herrn Minister die
Anfrage gestatten, ob und eventuell bis wann die Medizinalreform durchgeführt
werden soll. Schon seit Jahrzehnten wird auf eine Medizinalreform gewartet,
aber bisher ohne jeden Erfolg, und in letzter Zeit ging durch die Zeitungen die
Nachricht, dass die Medizinalreform abgeschlossen oder wenigstens nahe bevor¬
stehend sei. Trotzdem finden wir im diesjährigen Etat noch nichts hiervon, ob¬
schon namentlich mit Rücksicht auf das dem Reichstage vorgelegte Reichs¬
seuchengesetz eine solche Reform sehr zu wünschen wäre.
M. H., ich möchte in Verbindung damit in Anregung bringen, die Kreis-
physiker als Staatsbeamte im Hauptamte anzustellen und ihnen jedwede Privat¬
praxis zu verbieten. Die neuere medizinische Wissenschaft erfordert ein tie¬
feres Eingehen auf die einzelnen Krankheitserscheinungen, namentlich, da man
vielfach zu der Ansicht gekommen ist, dass viele Krankheiten auf Bazillen als
Krankheitserreger zurückzuführen sind. Es ist daher zur Auffindung der Heil¬
mittel nothwendig, diese Bazillen aufzusuchen und eine intensive bakteriologische
Untersuchung vorzunehmen; diese Arbeit setzt ein grosses Wissen und Können
voraus. M. H., wenn der Kreisphysikus nebenbei Privatpraxis betreiben soll, so
ist er kaum in der Lage, diesen namentlich in der Folge an ihn zu stellenden
Ansprüchen, wie solche auch heute schon an ihn gestellt werden, vollständig
gerecht zu werden; hat er aber keine Privatpraxis, so wird er kaum in der
Lage sein, mit dem Gehalt von 900 Mark auszukommen.
M. H., ich möchte nun der Ansicht sein, dass es möglich ist, dem Kreis¬
physikus noch eine Reihe vou besoldeten Geschäften zu übertragen oder ihnen
die ärztliche Praxis, z. B. in öffeutlichen Krankenhäusern oder in Gefangenen-
anstalten, auzuvertrauen. Dadurch würde er von mancher Seite Gehaltszulagen
bekommen, die es unnöthig machten, das Gehalt als solches so sehr hoch in den
Etat einzustellen. Ich möchte daher nur die Bitte wiederholen: der Herr Mi¬
nister möchte uns Aufschluss darüber geben, wie es mit der Medizinalreform
aussieht, und ob insbesondere beabsichtigt wird, in Bälde eine anderweitige Re¬
gelung der Gehalts- und Kompetenzverhältnisse der Kreisphysici vorzunehmen.
Kultusminister Dr. Bosse: M. H.! Der Gedanke einer organischen Re¬
form der Medizinalverwaltung — ich kann wohl sagen — an Haupt und Glie¬
dern, also einschliesslich der Frage einer Abzweigung der Medizinalverwaltung
vom Kultusministerium, namentlich aber der Gedanke einer Reform der Medi¬
zinalverwaltung in ihren örtlichen Organen, den Kreisphysikern, ist seit Jahren
im Kultusministerium erwogen worden. Als ich in mein jetziges Amt eintrat,
habe ich die Frage bereits im Fluss vorgefunden. Sie ist in gewisser Weise ein
Schmerzenskind des Kultusministeriums. Auch für sie gilt, wie in so vielen
Dingen meines Ressorts, der Satz: Am Golde hängt, nach Golde drängt doch
alles. Aber Sie wissen doch Alle, wie schwierig es unserer jetzigen Finanzlage
gegenüber ist, erhebliche Mittel für an sich höchst wünschenwerthe Zwecke
flüssig zu machen. Ich habe die Pflicht — und darin wird das Hohe Haus mit
mir einverstanden sein —, auch meinerseits Rücksicht auf das zu nehmen, was
der Herr Finanzminister unter den jetzigen Umständen thun kann. Natürlich
dürfen dadurch die Dinge selbst nicht wesentlich geschädigt werden. Und zu
den dringenden Anträgen, mit welchen ich an die Finanzverwaltung herantrete,
gehört auch die Frage einer Reform der Medizinalverwaltung.
M. H., im vorigen Jahre wies uns das Auftreten der Cholera ganz beson¬
ders darauf hin, zu erwägen, wie weit wir mit unsern jetzigen Ortsorganen
der Medizinalverwaltung den bedeutsamen Anforderungen, die an sie gestellt
werden, gerecht werden können. Die Antwort darauf konnte nicht zweifelhaft
sein, dass für die abwehrenden Massnahmen, zu denen wir verpflichtet waren,
unsere Organe nicht voll ausreichten. Man hat mir gesagt, das wäre doch
t)ic diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses ctc. 141
eigentlich ein beschämendes Ergebniss unserer Einrichtungen, und das ist bis zu
einem gewissen Grade auch richtig.
Auf der anderen Seite aber muss ich hervorheben, dass die Organe unserer
Medizinalverwaltung, namentlich auch die Ortsorgane sich mit einer Umsicht,
Hingebung und Pflichttreue den ihnen gestellten schwierigen Aufgaben unterzogen
haben, die vollste Anerkennung verdienen. Es ist uns in Preussen gelungen,
wobei ich der ausserordentlich entgegenkommenden Hülfe der Militärverwaltung
dankend gedenken darf, im Grossen und Ganzen die Cholera, wo sie Sich zeigte,
zu lokalisiren. Das ist ein grosser Erfolg, den wir früher nicht erreicht haben,
und der offenbar zusammenhängt mit dem Stande der bakteriologischen Forschung*
Ueber diese Frage werden die Herren noch in einer besonderen Denkschrift Aus¬
kunft erhalten; ich werde heute nicht näher darauf eingehen.
Was unsere Physiker anlangt, so muss sich ja Jedermann die Frage auf¬
drängen: wie kann man von Leuten, die mit einem nicht pensionsfähigen Ein¬
kommen von 900 Mark jährlich angestellt sind, Angesichts der täglich wachsen¬
den Aufgaben der prophylaktischen Medizinalverwaltung verlangen, dass sie
allen Anforderungen ihres schwierigen und umfassenden Amtes gerecht werden?
Nun, m. H., die Frage hat sich auch die Medizinalverwaltung in der Zentral¬
instanz längst vorgelegt. Aber so ganz einfach ist sie doch nicht zu entscheiden.
Denn unsere Physiker sind nicht ausschliesslich auf das Gehalt von 900 Mark
angewiesen, sie beziehen daneben für gewisse Amtshandlungen Gebühren, und
diese sind in den verschiedenen Kreisen, ebenso wie Umfang und Art der Amts¬
geschäfte selbst, ganz ausserordentlich verschieden. Hier wird sich ein Ausgleich
nicht leicht finden lassen. Dazu kommt die schwierige Frage, die ja auch der
Herr Vorredner bereits berührt hat: wie weit sollen die Physiker ihre Praxis
beibehalten dürfen und wie bisher auf ihre Praxis angewiesen sein? Einerseits
ist es wohl ganz zweifellos, dass Angesichts der oft sehr dringenden, sehr weit
reichenden, sehr verantwortungsvollen Aufgaben, welche die amtliche Stellung
den Kreisphysikern auferlegt, die Privatpraxis — ich will mich nur ganz milde
ausdrücken — hindernd sein kann und letztere wohl auch die Stellung zu den
nicht beamteten Aerzten mitunter in unerwünschter Weise erschwert. Anderer¬
seits hat die Privatpraxis auch wieder ihre Vorzüge, selbst nach der amtlichen
Seite hin; sie erhält die Physiker in Zusammenhang mit der praktischen Medizin,
giebt ihnen eine engere Fühlung mit den Bedürfnissen des praktischen Lebens
und bietet ihnen mehr Gelegenheit, Einblick in die örtlichen Zustände und in
die Lebensverhältnisse der Kreiseinwohner zu nehmen, sowie die dabei gesam¬
melten Erfahrungen fruchtbringend zu verwerthen, als wenn sie ausschliesslich
auf die unmittelbaren Aufgaben ihres Amtes beschränkt wären. Ich will alle
diese Bedenken nur angedeutet haben. Aber ich erkenne an, wie die Sache
jetzt ist, wird sie schwerlich auf die Dauer weitergehen. Ich habe auch sofort
Angesichts der Gefahr, die, wie erwähnt, im vorigen Jahr hervorgetreten ist,
mich aufs Nene und sehr dringend mit dem Herrn Finanzminister in Verbin¬
dung gesetzt. Es hat das den Erfolg gehabt, dass zunächst neue Ermittelungen
angestellt worden sind über die jetzige Lage der Physiker, ihr Gehalt, ihre Be¬
züge aus Amtsgeschäften und ihre Nebeneinnahmen als Impfärzte, als Aerzte
bei Krankenhäusern, Gefängnissen u. s. w. Die Ermittelungen sind noch nicht
abgeschlossen; unmittelbar nach ihrem Abschluss werde ich die Frage weiter
verfolgen und Vorschläge machen, wie die Organisation des Physikats künftig
zu gestalten sein wird. Ganz leicht ist die Sache nicht, denn es handelt sich
nicht blos um die Gehaltsfrage, es handelt sich dabei auch um die ganze Stel¬
lung der Physiker, um die Abgrenzung ihrer Obliegenheiten und Befugnisse, um
ihre Einreihung in die Organe der Verwaltung, die für die Gesundheitspflege zu
sorgen haben. Also ich kann zur Zeit nicht ein bestimmtes Versprechen abgeben,
ich kann nicht sagen: bis zu dem oder jenem Zeitpunkte wird die Organisation
fertig sein. Ich kann nur sagen: Seien Sie überzeugt, dass die Verhältnisse selbst
uns drängen, und haben Sie das Vertrauen, dass wir den Ernst der Verhält¬
nisse anerkennen und wir die Sache mit allem Ernst und mit aller Energie in
die Wege leiten.
Allerdings ist es ja auffallend und mir persönlich auffallend gewesen, ein
wie grosser Andraug auch unter den jetzigen ungünstigen Besoldungsverhält¬
nissen zu jeder erledigten Physikatsstelle bei uns stattfindet, und wie sehr die
Aerzte sich auch zu der kleinen Einnahme aus dem Physikat drängen. Inwie¬
weit dies auf die ungünstigen Einnahmeverhältnisse der Aerzte überhaupt
142 Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc.
zurückznführen ist, will ich hier nicht weiter erörtern. Hervorheben muss ich
aber, dass die Klagen über die im Verh<niss zu der Arbeitslast ungenügende Besol¬
dung allgemein sind, und dass nicht selten bald nach der Anstellung die Kreisphy¬
siker auf ihr Amt verzichten oder Versetzung in ein besseres Physikat verlangen.
Endlich fühle ich mich verpflichtet, ausdrücklich anzuerkennen,
dass ungeachtet dieser vielfach unzulänglichen Besoldung und
ungeachtet der mannigfach verbesserungsbedürftigen Stellung
dieser Beamten unsere Physiker Tüchtige s geleist et haben, das s
sie mit einer Hingabe, mit einer Treue, mit einer Aufopferung
<}ie Geschäfte, die ihnen von Amtswegen aufgetragen werden,
erledigen, die ich nicht genug rühmen kann.
M. H., wir sind uns der grossen Aufgabe, die wir auf diesem Gebiete
haben, vollständig bewusst, und ich hoffe, demnächst in der Lage zu sein, dem
Hohen Hause eine Vorlage in der Angelegenheit machen zu können. Jedenfalls
kann die Frage nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden. (Bravo!)
Abg. Dr. Langerhans: M. H.! Ich theile ganz den Wunsch des Herrn
Abgeordneten Jerusalem, dass möglichst bald eine Medizinalreform in’s
Leben tritt, wenngleich ich darin auch dem Herrn Abgeordneten Jerusalem
widersprechen muss, dass die Privatpraxis für die Physici den Uebelstand nicht
hat, den Herr Abgeordneter Jerusalem in der Privatpraxis der Physici findet.
Es ist nicht zweckmässig, wenn die Leute, die über das pulsirende Leben ein
Urtheil abgeben sollen, nicht mitten im Leben stehen, wenn sie nicht eine Ah¬
nung von den Krankheiten haben, wenn sie nicht die Anschauung haben, in
welcher Weise die epidemischen Krankheiten, gegen die man Vorkehrungen
treffen will, verlaufen. Deshalb, glaube ich, ist das vollständig zu rechtfertigen,
was der Herr Minister mit Recht hervorgehoben hat. Auch der andere Grund,
den der Herr Abg. Jerusalem für eine schnelle Medizinalreform anregte, näm¬
lich die Einführung eines Seuchengesetzes, möchte eher dafür sprechen, lieber
eine derartige grosse Medizinalreform anfzuschieben, bis man sich über ein
Seuchengesetz verständigt hat; denn das Ministerium ist Uber diese Angelegen¬
heit ausserordentlich gut berathen, und es wird wahrscheinlich auch das Reichs¬
gesundheitsamt mit recht zweckmässigen Vorschlägen horvortreten.
Aber dessen ungeachtet kann ich es nicht unterlassen, doch der Regierung
einen kleinen Vorwurf zu machen. Seit Jahren sind hier die Wünsche nach
besserer Stellung der Physici laut geworden; wenn eine Mediziualreform in dem
Umfange, wie es gewünscht wird, nicht ausgeführt werden kann, und wenn die
Jetztzeit auch in Beziehung auf die Finanz Verhältnisse nicht günstig ist, um
diese Medizinalreform vollständig durcbznführen, so könnte man doch sagen, es
könnte etwas mehr geschehen in Betreff der Stellung der Kreisphysici. Die
Kreisphysici sind Staatsbeamte. Als solche sind die Kreisphysici so besoldet, dass
sie in der That den Anforderungen nicht genügen können, die an sie gestellt
werden. Es ist ganz richtig, auch die Kreisphysici haben durch ihre Stellung
eine Reihe von Einnahmen. Für bestimmte Atteste, die sie geben, können sie
etwas fordern. Ausserdem sind sie als Kreisphysici angesehene Personen im
Kreise, und deshalb werden sie zur Privatpraxis mehr gesucht, wie vielleicht
manche andere Aerzte. Daher kommt trotz des minimalen Gehalts von 900 M.
der dauernde Andrang zu diesen Stellen. Indessen, wenn Sie gerade auf die
Cholera Rücksicht nehmen, wie wir sie erlebt haben, so würden ohne Zweifel
die Vorsichtsmassregeln zweckmässiger durchgeführt werden können, wenn die
Kreisphysici sowohl in ihrem Gehalt, wie in ihrer Kompetenz eine andere Stel¬
lung bekämen.
Es ist mir sehr zweifelhaft, ob die Kreisphysici heute schon alle in dem
Besitz derartiger Instrumente sind — ich weiss bestimmt, dass sie in einem
Theil des Ostens nicht im Besitz der uothwendigen Mikroskope sind, — um
z. B. die Natur der Vorgefundenen Bazillen festzustellcn. Da das vorläufig nach
unserer bis jetzt gewonnenen Ueberzeugung in der Wissenschaft von ausseror¬
dentlicher Bedeutung ist, so würde man wenigstens in dieser Beziehung den
Kreisphysikern zu Hülfe kommen müssen. Die Untersuchung ist nicht so leicht,
wie das Manchem scheint, und wir, die wir vielleicht etwas mehr davon wissen
und davon verstehen, müssen sagen, es werden eine ganze Menge von Gutachten
abgegeben von Leuten, denen wir ein vollständiges Urtheil darüber, ob die Ba¬
zillen gerade derartig, wie behauptet, sind, nicht Zutrauen. Es gehört dazu
eine ganz grosse Erfahrung und eine grosse Vorbildung. Deshalb wäre es
Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 143
wirklich sehr wichtig, wenn man den Kreisphysikern durch Gewährung eines
höheren Gehalt« die Möglichkeit gäbe, sich mit den nöthigen Instrumenten zu
versehen und einen Theil ihrer Privatpraxis abzugeben, um ihren sonstigen Ge¬
schäften mehr obliegen zu können.
Wir haben das nun schon seit Jahren gefordert-, und nach meiner Ansicht
ist ein Vorwurf der Regierung um so mehr zu machen, als unsere Medizinal¬
verwaltung dem Finanzministerium gegenüber schon lange nicht mit ihren For¬
derungen durchdringen kann. Nach Lage unserer Finanzverhältnisse ist das ja
wohl auch vom Finanzminister zum grossen Theil richtig erkannt. Aber, meine
Herren, deshalb komme ich immer wieder auf unsere alte Forderung zurück,
dass wir diese Leute, in denen doch schliesslich die wirklichen Sachverständigen
gefunden werden müssen bei Beurtheilung der bakteriologischen Erscheinungen
u. s. w., entschieden besser stellen müssten. Ich glaube, das könnte die Regie¬
rung thun, ohne übermässige Kosten, das könnte die Regierung ohne die volle
Durchführung der Medizinalreform.
Eine Medizinalreform vollständig durchzuführen, wird ausserordentlich
schwer sein, auch sachlich sehr schwer, nicht bloss finanziell. Es werden eine
Menge von Widersprüchen erscheinen, es werden grosse Fragen da in Betracht
kommen, z. B. die Frage: wie weit soll man Aerzte zu Beamte machen, wie
weit soll man das nach Möglichkeit vermeiden? Ich halte es für ein Unglück,
wenu die Aerzte in zu grosser Zahl Beamte werden. Ich halte es für glück¬
licher, wenn man den Aerzten, denen man in bestimmten Richtungen und für
bestimmte Dinge Beamtenqualität geben will, auch noch ihre freie Praxis über¬
lässt, wie das sehr treffend der Herr Kultusminister ausgeführt hat. Darum
erhebe ich wieder den Anspruch, dass vor allen Dingen einer der ersten Schritte
der wäre, dass man die Kreisphysici besser stellt. Sie können sich ja doch eine
Medizinalreform gar nicht anders denken, als für jeden bestimmten Kreis — ob
gerade die jetzige Einteilung der Kreise dabei massgebend ist oder nicht, ist
ganz gleichgültig —, aber Sie können sich die Medizinalreform doch gar nicht
anders denken, als dass in kleineren Kreisen bestimmte Anhaltspunkte gegeben
werden für die Medizinalverwaltuug; denn wenn das nicht der Fall ist, dann
tritt die Erledigung in den einzelnen Landestheilen durch die Zeitverschwendung
so sehr zurück, wie es irgend möglich ist. Aber es handelt sich auch inn die
Kompetenz: die Kreisphysici müssen in Beziehung auf die hygienischen Mass-
regeln etwas mehr Macht haben dem Landrath wie den sonstigen Verwaltungs¬
behörden gegenüber, und das, glaube ich, liesse sich ohne wesentliche Mehr¬
kosten durchführen.
Ich glaube, wenn der Herr Minister die Schwierigkeiten einer vollstän¬
digen Medizinalreform durchschaut und er sich vorläufig dahin wenden wollte,
dass eine grössere Sicherheit gegeben wird dadurch, dass in den lokalen Be¬
zirken vorläufig die Kreisphysici etwas grösseres Gehalt und etwas mehr Kom¬
petenz bekämen, dadurch schon vorläufig der Gesundheitspflege in unserem
Staat wesentlich Dienste geleistet würden. (Bravo!)
Abg. Brandenburg: Es war meine Absicht, für die Medizinalbeamten,
die Kreisphysici, hier einzutretcu; nachdem der Kultusminister sich so entgegen¬
kommend geäussert hat, ist das unnöthig geworden. Ich muss sagen, schon als
ich die Vorlage geleseu habe, die wegen des Seuchenengesetzes zunächst an den
Bundesrath gebracht und im Reichsanzeiger veröffentlicht ist, habe ich die Auf¬
besserung der Stellung der Medizimilbeamten als hieraus gegeben erachtet.
Was aber die in dieser Vorlage vorgesehene Erhöhung der Kompetenz
anbetrifft, so möchte ich doch glauben, dass man darin etwas vorsichtig sein
möchte. Es kanu sich fragen, ob man gegenüber dern Hausrecht und gegenüber
dem Familienverbande nicht reichlich weit gegangeu ist, indem man das ge¬
waltsame Einschreiten von dem Ermessen der Kreisphysici abhängig gemacht hat.
Abg. Jerusalem: M. H.! Ich möchte dem Herrn Abgeordneten Dr.
Langerhans entgegnen, dass cs doch wohl nicht gut augeht, den Kreisphysi¬
kern zu sagen: Privatpraxis darfst du haben; aber dieselbe darf deine ganze
Thätigkeit nicht in Anspruch nehmen. Ich meine, da muss eine reinliche
Scheidung vorgenommen werden; mau muss sagen, er darf gar keine Privat¬
praxis übernehmen oder er darf eine solche übernehmen; das letztere würde
meines Erachtens von üblen Folgen für sein Arnt als Kreisphysikus sein. Wenn
ihm neben den bisherigen vielen Amtsgeschäften noch die grossen Aufgaben
auferlegt werden, die das Reiehsseuchengesetz in Aussicht nimmt, so wird er
144 Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc.
nicht in der Lage sein, noch Privatpraxis nebenher zu treiben. Wird man aber
ihm Privatpraxis nebenher gestatten, so wird es für ihn selbst schwer sein, das
Mass seiner Privatpraxis zu bestimmen, und dabei wird sein Amt leicht Schaden
leiden können. Ich möchte mich deshalb dafür entscheiden, dass man den Kreis¬
physikern jede Privatpraxis, nicht aber eine solche in öffentlichen Kranken¬
häusern verbietet. Durch seine Thätigkeit in diesen Anstalten wird er sich
einen genügenden Einblick in die gesundheitlichen Verhältnisse verschaffen
können, und es wird nicht nöthig sein, ihm noch eine ärztliche Praxis in den
Familien zu gestatten.
b) Sitzung vom 5. März.
Abg. Dr. Graf (Elberfeld): M. H.! Ich hatte eigentlich nicht die Absicht,
wie ich das alljährlich gethan habe, über die Fata Morgana der Medizinalreform
hier zu sprechen. Da aber der Gegenstand bei der zweiten Lesung in einer
Sitzung, welcher beizuwohnen ich verhindert war, doch schon behandelt worden
ist, so sehe ich mich veranlasst, dem dort Gesagten einiges hinzuzufügen.
Ich habe bereits öfter nachgewiesen, dass bei der enormen Steigerung
unseres Etats, in specie auch des Kultusetats, allein der Medizinaletat gar keine
Berücksichtigung gefunden hat. Ich habe das durch Zahlen bewiesen. Im
Jahre 1870 betrug der ganze Kultusetat 19 Millionen. Davon entfielen auf den
Medizinaletat l 1 /, Millionen. Für das Jahr 1892/93 sehen wir die Summe
1838000 Mark eingestellt, während der gesammte Etat auf über 103 Millionen
sich beziffert. In diesen 1838000 Mark sind aber noch enthalten erstens ein
durchlaufender Posten von 159000 Mark für Examinationsgebühren, welcher
lediglich ein rechnerischer Posten ist, der sich in den Einnahmen wiederfindet;
cs ist ferner darin enthalten der Beitrag für das Charitekrankenhaus mit
206000 Mark und das Institut für Infektionskrankheiten mit 233000 Mark, so
dass für Ausgaben, die die eigentliche Medizinalverwaltung betreffen, nicht ganz
1 */« Millionen übrig bleiben. Da habe ich mich denn fragen müssen, ob nicht
doch vielleicht die Ursache dieser Stagnation in der Verbindung mit Kirche und
Schule zu finden ist. Ich habe früher stets für die Verbindung mit dem Kultus¬
ministerium plädirt, weil ihm die Sorge für die medizinische Lehre und Wissen¬
schaft obliegt, und weil dasselbe der Sitz der wissenschaftlichen Deputation für
das Medizinalwesen ist. Es ist mir auch fraglich, ob an der Stelle, wo die
Sorge für die Medizinalpolizei und -Verwaltung obwaltet, beim Ministerium des
Innern, uns ein günstigeres Loos blühen wird, und so muss ich als das Ziel der
Zukunft unbedingt hinstellen ein eigenes Medizinalministerium. In den
10 Jahren, die ich Abgeordneter bin, habe ich drei Kultusminister erlebt, alle
nicht nur von dem landesüblichen Wohlwollen beseelt, sondern alle mit Sach-
kenntniss und klarer Erkenntnis des Nothwendigen ausgestattet, und ich erinnere
mich recht wohl der Zeit, wo der jetzige Herr Kultusminister als Medizinal¬
referent im Kultusministerium Pläne für die Mcdizinalreform ausgearbeitet hat.
Alle diese Herren sind aber nicht im Stande gewesen, die nothwendige finanzielle
Grundlage zu schaffen; wir haben auch einen Finanzminister, dessen ganze Ver¬
gangenheit sich in hervorragender Weise auf dem Gebiet der öffentlichen Ge¬
sundheitspflege bewegt hat, und dem wir wohl Zutrauen müssen, dass er deren
Bedürfnisse erkennt. Dennoch liegt die Sache so, wie ich eben geschildert habe.
Heute muss ich die letzte Hoffnung daran knüpfen, dass die Cholera,
die grosse Lehrmeisterin der Menschheit, wieder an unsere Pforten geklopft hat,
ja, dass sie nicht blos an unseren Grenzen, sondern auch im engeren Vaterlande
schon Eingang gefunden und zahlreiche Opfer gefordert hat, dass also durch sie
die Frage der Abwehr und der Bekämpfung der Seuche und damit die Medizinal¬
reform wieder in Fluss gekommen ist. Der Herr Minister hat selbst anerkannt,
dass die Organe unserer Medizinalverwaltung nicht ausreichten, dass die Mili¬
tärverwaltung aushelfen musste. M. H., dass das nicht so bleiben kann, ist gar
keine Frage.
Als im September des vorigen Jahres im Reichsgesundheitsamt die Vor¬
berathungen für das Reichsseuchengesetz stattfanden, haben wir Preussen mit
berechtigtem Neid auf die anderen deutschen Staaten blicken müssen, in denen
die einschlägigen Verhältnisse weit besser geordnet sind. Kommt dieses
Seuchengesetz zur Verabschiedung, was wir hoffen wollen, sei es in der jetzt
geplanten weiteren Ausdehnung, sei es nach den Wünschen vieler in seiner Be¬
schränkung auf die mehr exotischen Krankheiten, auf Cholera, Pocken, Pest,
Gelbfieber, Rückfallfieber, während die mehr einheimischen Seuchen der Gesetz-
Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 145
gebung der einzelnen Länder Vorbehalten bleiben sollen — wird also das Seuchen¬
gesetz perfekt, dann bringt es eine Seihe von Aufgaben für den beamteten und
den praktischen Arzt mit sich, die unbedingt eine Neuordnung des Medizinal-
wesens erfordern.
Nach dem vorliegenden Entwürfe des Reichsseuchengesetzes soll der
Amtsarzt beim Ausbruch einer Seuche sich augenblicklich an Ort und Stelle
begeben, dort Ermittelungen über Art, Stand und Ursache der Krankheit vor¬
nehmen, im Nothfalle auch ohne Requisition der Polizeibehörde; er soll den
Gang der Krankheit örtlich und zeitlich verfolgen, soll im Nothfalle auch auf
Anordnung der Behörde jeden einzelnen Krankheits- und Todesfall seiner Er¬
mittelung unterziehen; der Amtsarzt soll ferner Zutritt zu dem Kranken und
zur Leiche und das Recht zu den erforderlichen Untersuchungen haben; er soll
auf seinen Antrag die Sektion der Leiche vornehmen dürfen; Hausarzt und
Haushaltungsvorstände sind verpflichtet, ihm Auskunft zu ertheilen; ferner kann
er in Gemeinschaft mit der Behörde die Ueberführung in das Krankenhaus und
die Isolirung des Kranken anordnen; er kann Wohnungen räumen lassen; er
kann die Desinfektion oder die Vernichtung von Gegenständen anordnen. M. H.,
das sind alles tief einschneidende Massregeln, welche viel Geld kosten, namentlich
auch durch die zu zahlenden Entschädigungen.
Aber sollte auch das Reichsgesetz sich nur auf den Kriegszustand, auf
jene genannten Krankheiten, Cholera, Pocken u. s. w. beschränken, so bleibt
dann noch ebenso wichtig, ja noch viel wichtiger der Kampf gegen unsere täg¬
lichen Feinde, Typhus, Scharlach u. s. w. Und da möchte ich auch hier vor
dem vielfach im Publikum verbreiteten Irrthum warnen, als seien Bakterio¬
logie und Hygiene identisch. Wir sind stolz auf unsere bakteriologischen
Entdeckungen, auf den Nachweis der Träger der Ansteckung bei Tuberkulose,
Cholera u. s. w. Aber, meine Herren, diese Wissenschaft ist fortwährend im
Fluss begriffen; ihre letzten Konsequenzen sind noch nicht gezogen: wir kennen
noch nicht genügend die Lebensbedingungen für diese kleinsten Lebewesen, die
Verhältnisse, unter denen sie gedeihen und nicht gedeihen. Da ist es mit dem
Nachweis eines Bacillus oder mit der Schaffung der nöthigen Instrumente für
den Pbysikus nicht gethan. Deshalb bleibt nach wie vor von der hervor¬
ragendsten Bedeutung die unausgesetzte Bekämpfung der Krankheitsursachen
und der Krankheitsbedingungen, die Prophylaxe der Krankheit. Dahin ge¬
hört die Sorge für alle Anforderungen der öffentlichen Gesundheitspflege,
Nahrungsmittel, Sorge für Reinhaltung der Wasserläufe und Kanäle, Trink¬
wasserversorgung u. s. w.
Für die Erfüllung aller dieser Aufgaben bedarf es einer veränderten Or¬
ganisation und einer erweiterten Kompetenz jener Beamten, ln England
gipfelt die Organisation des öffentlichen Gesundheitswesens in einem Gesund¬
heitsamte, local government of health, und wie ich soeben lese, geht man auch
dort mit dem Gedanken um, ein Ministerialdepartement für das öffentliche Ge¬
sundheitswesen mit einem verantwortlichen Minister zu schaffen. Für Deutsch¬
land stehen einer solchen Zentralisirung ganz bestimmte politische Schwierig¬
keiten entgegen. Aber für den grössten deutschen Bundesstaat, fürPreussen,
ist eine straffe Organisation doch sicher durchführbar. In England giebt es
dann Gesundheitsbeamte für grössere Bezirke von 80 bis 150000 Ein¬
wohnern ohne Privatpraxis und mit dem Nachweis spezialistischer Kenntnisse.
Dazu tritt aber noch das Institut der Armenärzte, welche gleichfalls Auf¬
gaben der öffentlichen Gesundheitspflege zu erfüllen haben, und in grossen
Gemeinden dann noch die Einrichtung der Gesundheitsaufseher, welche
die Häuser auf Schädlichkeit zu untersuchen haben, die Kanäle, Klosets, die
Herbergen, Schlachthäuser u. s. w. Die finanzielle Seite ist in England derartig
geregelt, dass der Staat einen Zuschuss an die Physiker und Armenärzte giebt
im Betrage von 6 Millionen Mark, also etwa das drei- bis vierfache unseres
gesammten Etats. M. H., dass wir auch nicht annähernd daran denken können,
solche Summen für Preussen flüssig zu machen, ist ja klar; aber ebenso sicher
ist, dass die jetzige Bezahlung der Physiker mit 900 Mark geradezu wie ein
Holm klingt. Alle sachverständigen Kreise stimmen darin überein, dass ein
festes pensionsfähiges Gehalt nothwendig ist, welches jene Aerzte von der Ueber-
nahme einer Privatpraxis unabhängig stellt und ihnen ihr Amt nicht als reines
Nebenamt erscheinen lässt. Wie weit bei der Beschaffung dieses Gehalts die
Gemeinden und Kreise, in deren Interesse ja ein grosser Theil der Aufgaben
146 Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc.
jener Beamten liegt, heranzuziehen sind, das dürfte wohl zu erwägen sein. Da¬
gegen gehen bekanntlich die Meinungen darüber auseinander, ob diese Physiker
in Zukunft von der Privatpraxis gänzlich auszuschliessen seien. Für grosse
Städte und Bezirke, wie zum Beispiel für die Mehrzahl der Regierungsmedizinal-
räthe, hat die Macht der Thatsachen das schon bewirkt, es bleibt ihnen einfach
keine Zeit. Meines Erachtens muss sich in Zukunft das mehr und mehr so
vollziehen. Und wenn hier der Einwand erhoben ist, jene Aerzte müssten im
Interesse ihrer Wirksamkeit mit der Praxis in permanenter Berührung bleiben,
so steht dem entgegen, dass es sich bei diesen Gesundheitsbeamten wesentlich
um ältere Aerzte handelt, welche eine längere praktische Vergangenheit hinter
sich haben.
Soll ich meine persönliche Idee darüber entwickeln, wie sich diese Sache
weiter gestalten soll, so würde ich zunächst dafür plädiren, die kleineren Physi-
katbezirke zu grösseren zusammenzulegen, sodass dieselben dann für einen Ge¬
sundheitsbeamten genügende Beschäftigung bieten, während für die kleineren
Bezirke bestimmten praktischen Aerzten, z. B. Distrikts- oder Armenärzten,
gewisse Pflichten der öffentlichen Gesundheitspflege überwiesen werden können.
Diese Beamten würden natürlich das Recht der Initiative und Exekutive nicht
haben. Dagegen möchte ich dringend davor warnen, etwa eine Aufbesserung
des Gehalts der Physiker durch Anweisung derselben auf solche Nebenein¬
nahmen, wie sie aus Kassenstellen, Impfwesen u. s. w. hervorgehen, zu bewirken.
M. H., eine gründliche Reform ist aber nöthig auch noch aus einem
anderen Grunde, und das ist das Verhältnis des praktischen Arztes zum be¬
amteten Arzt. Schon heute erheben sich darüber mannigfache Klagen, weil
gerade der Amtsarzt der schärfste Konkurrent des praktischen Arztes ist.
Dauert ein solches Verhältniss fort, so wird — das ist meine feste Ueberzeugung
— das Seuchengesetz nicht zur vollen Wirkung kommen. Dieses Seuchengesetz
beruht in erster Linie auf einer sorgfältig durchgeführten Anzeigepflicht
und belastet also die praktischen Aerzte in der erheblichsten Weise. Es ist
nicht die kleine Mühe der Anzeige, nein, es ist die Rückwirkung auf das Ver¬
hältniss zur Familie, welcher durch die gemachte Anzeige die schwersten Be¬
lastungen erwachsen, wodurch das Gesetz für die Aerzte ein äusserst drückende«
wird. Dazu soll nun nach dem Entwurf noch treten, dass der beamtete Arzt
gewissermassen zum Vorgesetzten und Kontroleur des praktischen Arztes ge¬
macht wird. Der Amtsarzt soll, wie ich schon erwähnt habe, Zutritt in die
Familien haben; er stellt die Diagnose fest, wenn nöthig, durch erzwungene
Leichenschau; er kann den behandelnden Arzt vernehmen, und dieser muss ihm
Auskunft geben bei Strafe. Alle diese Quälereien fallen fort, wenn ein Patient
zugleich ein Patient des Amtsarztes ist. Dann macht dieser die Anzeige an
sich selbst und trifft selbstständig Anordnungen, die der praktische Arzt allein
zu treffen nicht befugt ist. Was liegt nun also näher, als dass die Familien
sich lieber den Amtsarzt zum Hausarzt nehmen, der ihnen in Zeiten von Epide¬
mien so grosse Erleichterung verschaffen kann. Der Herr Minister hat es vor
einigen Tagen ja auch schon gestreift, dass die Privatpraxis in vieler Beziehung
ein Hinderniss für die Thätigkeit der beamteten Aerzte darstellt.
Es ist ja nun fraglich, ob das Seuchengesetz in der vorgelegten Form
auch zur Annahme gelangt. In jedem Falle ist es aber wichtig, dass dasselbe
nicht auf dem Papier stehen bleibt, und da ist doch der gute Wille des prak¬
tischen Arztes eine sehr wichtige Vorbedingung. Den Arzt zwingen, eine richtige
Diagnose zu stellen, kann Niemand. Darum ist nicht blos eine gänzlich ver¬
änderte Stellung der beamteten Aerzte, nein, auch derjenigen der praktischen
Aerzte angebracht.
Die Gewerbeordnung hat dazu geführt, dass im §. 2 jenes Gesetzes als
unter den zur Anzeige Verpflichteten neben dem Arzt auch „jede mit der Pflege
und Behandlung des Kranken beschäftigte Person“ genannt wird, und wir müss¬
ten ja eigentlich noch dankbar sein, dass der Kurpfuscher hier nicht vor uns
genannt wird. Diese Anzeige der Kurpfuscher ist aber eine ganz nutzlose.
Welcher Werth ist der Diagnose eines nicht sachverständigen Mannes beizulegen?
Und ein Zwang gegen dieselben wird auch trotz der gesetzlichen Vorschrift
nicht ausgeübt werden, denn die Herren wissen ganz genau, dass sie schliesslich
doch nicht bestraft werden, weil man bei ihnen die mangelnde wissenschaftliche
Vorbildung in Betracht zieht.
Sie werden sich erinnern, mit welchem geringen Wohlwollen der ärztliche
Die diesjährigen Verhandlungen des prcuss. Abgeordnetenhauses etc. 147
Stand bei Gelegenheit der Krankenkassennovelle im Reichstage behandelt worden
ist. Da ist es sicher nicht zu verwundern, wenn neben aU den Lasten und
Opfern, welche nns die sozialpolitische Gesetzgebung auferlegt hat, keine beson¬
dere Begeisterung für die Uebernahme solcher neuen Lasten besteht. Der Herr
Minister hat selbst die schlechte Lage der Aerzte anerkannt. Er hat sie be¬
wiesen durch den grossen Andrang, welcher auch trotz der geringen Besoldung
zu den Physikaten stattfindet.
Also es muss auch den praktischen Acrzten ein Ausgleich gewährt werden.
Nicht etwa wie in England, wo jede gemachte Anzeige seitens eines praktischen
Arztes mit 2,60 Mark und seitens eines Krankenhausarztes mit 1 Mark honorirt
wird. Dafür plädire ich nicht. Aber, m. H., noch immer warten wir vergeb¬
lich auf die Wiedereinführung des Befähigungsnachweises fiirdie
Heilkunde, während ein solcher längst für Schornsteinfeger und Hufschmiede
anerkannt ist.. Wir wollen, dass die Kurpfuscher aus der Gewerbeordnung und
aus dem Krankenkassengesetz ansgewiesen werden. Wir wollen nicht länger,
dass diese Gesellschaft durch Gesetze anerkannt und legalisirt werde. Mögen
sie ihr Unwesen im Dunkeln weiter treiben, wir wollen sie nur in den Winkel
zurückgedrängt sehen, iu den sie gehören.
Wir wollen weiter die endliche Durchführung der Organisation des
ärztlichen Standes. Im nächsten Jahre ist ein Vierteljahrhundert verflossen,
seit die Gewerbeordnung, ein Gesetz, welches damit beginnt, dass es die Heil¬
kunde ausdrücklich ausschliesst, in 5 Paragraphen die Verhältnisse des ärzt¬
lichen Standes geregelt hat. Vergeblich haben wir seitdem auf eine Abän¬
derung jener Gesetzgebung und auf ein neues Gesetz, eine deutsche Aerzte-
ordnung gewartet. Vergeblich hat der Reichstag im Jahre 1883 auf Antrag
des Abg. Windhorst diesem Verlangen in einer Resolution Ausdruck gegeben.
Und noch im Jahre 1889 sind wir seitens des Reichskanzlers Fürsten Bismarck
wieder auf die Hülfe der Einzelstaaten hingewiesen worden, aber auch hier sind
leider Resultate nicht zu verzeichnen.
M. H., die ärztlichen Vereine haben sich redlich bemüht, der drohenden
Auflösung einen Damm entgegenzusetzen, aber sie sind machtlos; denn die ausser¬
halb stehenden Aerzte kümmern sich nicht um ihre Beschlüsse. Bayern und
Sachsen haben diesen Vereinen wenigstens dadurch eine moralische Unterstützung
zu Thuil werden lassen, dass sie dieselben als Repräsentanten des ärztlichen
Standes anerkannt haben. Die preussischen, auf allgemeinem Wahlrecht beruh¬
enden Aerztekammern kranken an ihrer mangelndon Kompetenz und ihrer un¬
gesicherten Finanzirung. Zunehmende Ueberfüllung des ärztlichen Standes macht
das Innehalten des alten Standesbewusstseins und der alten Ehrbegriffe, der Be¬
griffe von dem, was sich schickt, immer schwieriger. M. H., da kann man nur
mit schwerer Sorge in die Zukunft des deutschen Aerztestandes blicken. Es liegt
hier nicht ein blosses Standesintercsse vor; es sind schwerwiegende Interessen
des Staates und der öffentlichen Gesundheitspflege, welche hier gefährdet sind.
(Bravo!)
Ministerialdirektor Dr. Bartsch: M. H.! Der Herr Medizinalmiuister, in
dessen Aufträge ich das Wort nehme, ist dem Herrn Vorredner sehr dankbar,
dass er eine so wichtige Frage angeregt hat, wie die der Medizinalreform ist.
Der Herr Minister seinerseits ist tief durchdrungen von der Nothwendigkeit,
dass auf diesem Gebiete etwas weiteres geschehen muss, so dass ich nicht nöthig
habe, dies noch besonders zu versichern. Der Herr Vorredner hat seine Aus¬
führungen mit der sehr interessanten Frage der Trennung der Medizinalabthei¬
lung vom Kultusministerium eröffnet. Ich glaube annehmen zu sollen, dass der
Herr Vorredner nicht von mir erwartet, dass ich diese wichtige Organisations¬
frage bei der gegenwärtigen Geschäftslage des Hohen Hauses gründlich erörtere.
Nur auf ein paar Bemerkungen glaube ich mich beschränken zu sollen. Der
Herr Kultusminister ist der Meinung, dazs diese Frage mit allergrösster Vor¬
sicht behandelt sein will. Man darf, glaube ich, meine verehrten Herren, nicht
vergessen, dass die Medizinalverwaltung aus der Unterrichtsverwaltung ihre
Lebenskraft zieht, kann ich geradezu sagen. Ich will sie nur erinnern an das
weite und wichtige Gebiet des medizinischen Prüfungswesens, an das Gebiet der
klinischen Universitätseinrichtungen und sonstige Anstalten. Wollte man auf
eine Trennung ausgehen, so würde man, wie ich glaube, wichtige Interessen der
Medizinalverwaltung gefährden. Wie gesagt, diese Frage ist augenblicklich
nicht spruchreif, und ich möchte mich daher nur auf die Bemerkung beschrftn-
148 Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc.
ken, dass, ehe man dieselbe spruchreif macht, man sie noch sehr eingehend und
genau erwägen muss.
Der Herr Vorredner ist dann näher eingegangen auf die Nothwendigkeit
der Medizinalreform. Da wird es mir gestattet sein, daran zu erinnern, dass
wir bereits im Jahre 1885 einen vollständigen Plan der Medizinalreforra aufge¬
stellt haben. Er liegt in unseren Akten und ist aus den Akten nicht ver¬
schwunden; im Gegentheil, diese Frage hat noch in den allerletzten Tagen die
ernsteste Aufmerksamkeit des Herrn Ministers erregt. Ich will nur daran er¬
innern, dass das damalige Projekt der Medizinalreform in zwei grosse Theile
zerfiel. Der erste Theil behandelte die Reform der beamteten Stellen der Medi¬
zinalverwaltung; der zweite Theil die Organisation des ärztlichen Standes.
Dieser zweite Theil, meine Herren, ist bereits praktisches Recht. Im Jahre
1887 ist durch eine Allerhöchste Verordnung vom 25. Mai eine ärztliche Stan¬
desvertretung eingerichtet worden mit Aerztekammem, die, wie dem Herrn Vor¬
redner ja ausreichend bekannt ist, vortrefflich funktioniren. Wir sind auch in
diesem Augenblick mit der Frage beschäftigt, ob es möglich sei, die Funktionen
dieser ärztlichen Standesvertretung nach gewissen Richtungen hin zu erweitern.
Was nun im Uebrigen die Reform der Medizinalverwaltung betrifft, meine
# Herren, so hat sich der Herr Minister sagen müssen, dass im Hinblick auf die
bevorstehende Reichsseuchengesetzgebung der gegenwärtige Moment ein ausser¬
ordentlich unglücklicher wäre, um sie von neuem in Augriff zu nehmen. Ich glaube,
wir werden den Erfolg dieser wichtigen Gesetzgebung abzuwarten haben, ehe
wir weitere Entschlüsse fassen. Das hat aber nicht ausgeschlossen, dass der
Herr Medizinalminister wenigstens einzelne Theile dieser Reform weiter geführt
hat, und namentlich in der Richtung, dass er fortgesetzt bemüht ist, die Stellung
der Kreisphysiker zu verbessern. Ich glaube, es wird keiner Ausführung bedür¬
fen, dass ein nicht pensionsfähiges Gehalt von 900 Mark eine wenig ausreichende
Unterlage ist, um ein so wichtiges Amt hinlänglich zu dotiren. Der Herr Mini¬
ster hat sich daher auch fortgesetzt — und es ist dies eine der Sorgen, die er
von seinem Herrn Amtsvorgänger überkommen hat — bemüht, die Stellung der
Kreisphysiker finanziell zu verbessern. Es gereicht dem Herrn Medizi¬
nalminister zur ausserordentlichen Befriedigung, erklären zu
können, dass auch der Herr Finanzminister im Prinzip mit
ihm vollkommen einig ist; aber, m. H., bei der gegenwärtigen Fi¬
nanzlage wird es nicht leicht sein, in der Beziehung Reraedur zu schaffen.
Um aber die Frage vorzubereiten, werden zur Zeit im ganzen Lande dar¬
über Erhebungen angestellt, wieviel Einnahme jeder einzelne Kreisphysikus
bezieht. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die Physiker nicht blos
ein Staatsgehalt von 900 Mark beziehen, sondern dass sie auch gewisse
Nebencinnahmen haben, welche man kennen muss, um sich über die Frage
schlüssig zu machen, ob und inwieweit eine Erhöhung ihres Gehalts einzutreten
habe. Der Herr Medizinalminister ist also fortgesetzt bemüht, die Medizinal-
reform, soviel an ihm liegt, weiter zu führen.
Wenn nun aber der Herr Vorredner noch ein Wort gebraucht hat, welches
möglicherweise zu Missdeutungen führen kann, das Wort „Stagnation“, so bin
ich doch verpflichtet, ihn daran zu erinnern, was wir bei der gegenwärtigen
Mcdizinalverwaltung, die er für unvollkommen erklärt, geleistet haben. Ich kann
erinnern an die wirklich glänzenden Erfolge, die wir bei der Bekämpfung der
Cholera in den letzten Monaten erzielt haben. In den Händen der Herren Mit¬
glieder dieses Hauses befindet sich eine ausführliche Denkschrift, in welcher
dargelegt ist. welche Massregeln die preussische Medizinalverwaltung getroffen
hat, um die drohende Seuche von unserm Vaterlande fern zu halten, und wenn
auch die vorgekommeneu Todes- und Krankheitsfälle in hohem Maasse und tief
zu beklagen sind, so muss ich doch hier konstatiren, dass diese im Verhältnis»
zu der Gesammtbevölkerung einen verschwindend kleinen Prozentsatz bilden, so
dass man wirklich sagen kann, wir haben Unerwartetes geleistet. Dieser Erfolg
ist auch von seiner Majestät dem Kaiser und König anerkannt, Allerhöchstwel-
cher die Gnade gehabt hat, in einer Allerhöchsten Ordre vom 17. Oktober
vorigen Jahres, die durch den Druck Ihnen zugänglich gemacht ist, anzuerkennen,
dass durch die Hingabe aller betheiligten Beamten an ihrem Beruf auf diesem
Gebiete solche Erfolge erzielt siud. Wir sind auch für den Fall, dass die Seuche
noch einmal im Frühjahr ihr Haupt erheben sollte, vollkommen vorbereitet. Der
Herr Minister hat bakteriologische Kurse für beamtete Aerzte eingerichtet, er
Die diesjährigen Verhandlungen den preuss. Abgeordnetenhauses etc. 149
hat ferner bakteriologische Stationen in Bonn und Danzig hergestellt, und es
sind auch sonst Vorkehrungen mancherlei Art getroffen worden, welche der Be¬
völkerung im Lande die ausreichendste Sicherheit dafür gewähren können, dass
wir, falls die Seuche wiederkehren sollte, ebenso gute Erfolge erzielen werden,
wie wir sie, Gottlob, in den letzten Monaten erzielt haben.
Um den Ausdruck „Stagnation“ nicht zu einer Mythenbildung kommen
zu lassen, möchte ich den Herrn Vorredner auch daran erinnern, was die preussi-
sche Medizinal Verwaltung ihrerseits gethan hat, um das Reichsseuchengesetz
vorbereiten zu helfen. Der Herr Vorredner ist selbst ein hervorragendes Mitglied
der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen und er weiss sehr
wohl, dass wir in ernster Arbeit uns bemüht haben, die Vorarbeiten für dieses
wichtige Gesetz zu schaffen. Ich erinnere ihn daran, dass wir eine vollständige
Desinfektionsordnung, sowie die Grundsätze für die Ausübung der Anzeigepflicht
festgestellt und dadurch der Reichsseuchengesetzgebnng unsere Dienste zur Ver¬
fügung gestellt haben. Ich darf ihn ferner daran erinnern, dass wir dabei sind,
eine Apothekengesetzgebung zu schaffen; wir haben in jahrelanger mühsamer
Arbeit Entwürfe festgestellt, sind auch mit dem Herrn Reichskanzler in Ver¬
bindung getreten, und es ist alle Aussicht vorhanden, dass auch diese Vorarbei¬
ten in der Reichsgesetzgebung ihre Früchte tragen werden. Ich erinnere ihn
endlich daran, dass wir die Grundsätze für eine Leichenschauordnung, sowie für
den Gifthandel erörtert haben, — lauter Gegenstände von nicht minderer Be¬
deutung, so dass wohl kaum im Ernst die Rede davon sein kann, dass in der
Medizinal Verwaltung eine Stagnation eiugetreten ist. Im Gegentheil, ich kann
in der That bezeugen, dass ein sehr frisches und thatkräftiges Leben und Wirken
in der Medizinal Verwaltung herrscht, und dass wir nicht auf hören werden, nach
allen Richtungen hin dafür zu sorgen, dass die sanitären Verhältnisse in Stadt
und Land sich bessern; denn darin erblicken wir eine der wichtigsten Aufgaben
der Medizinalverwaltuug. Ich glaube, der Herr Vorredner wird aus diesen kurzen
Bemerkungen die Ueberzeugung gewonnen haben, dass der Herr Medizinal-
minister nicht ruhen wird, bis die wichtige Frage der Medizinalreform ihren
gedeihlichen Abschluss gefunden hat.
Abg. v. Pilgrim: Wir haben heute vom Ministertisch die beruhigende
Mittheilung bekommen, dass die Medizinalreform im Fluss ist und nicht wieder
zum Stillstand kommen wird. Es ist für das Land in jedem Falle eine beru¬
higende Erklärung Angesichts der grossen Gefahren, die uns durch ansteckende
Krankheiten von Jahr zu Jahr bevorstehen.
Zu dem Wesen der Reform gehört aber vor allen Dingen die Thätigkeit
der beamteten Aerzte. Will man diese Thätigkeit zur Wahrheit werden lassen,
so muss man denselben auch das nöthige Auskommen gewähren, ungehindert
von Nebenbeschäftigung ihrem wichtigen Amte obzuliegen. Der Herr Minister
hat ja durch seinen Kommissarin« auch heute erklären lassen, dass er das sehr
wohl einsehe und das dringende Bedürfnis« nicht verkenne. Er hat zu dem
Zwecke eine Erhebung im Lande veranstaltet über das Einkommen der beam¬
teten Aerzte, der Kreisphysiker, in den letzten fünf Jahren aus anderer Beschäf¬
tigung, als gerade aus dem unmittelbaren Gehalt für ihre amtliche Thätigkeit.
M. H., diese Erhebungen können sich doch nur darauf erstrecken, was die be¬
amteten Aerzte aus der Stellung, die sie vielleicht als Krankenkassenärzte, als
Krankenhausärzte, Eisenbalinärzte u. s. w. nebenbei verdienen. Diese Erhebungen
können aber schwerlich den Erfolg haben, dass man von der Aufbesserung des
amtlichen Gehaltes des Kreisphysikus Abstand nehmen könne. Was sind diese
Beschäftigungen anders, als eine Art von Privatpraxis, und gerade davor möchte
ich die beamteten Aerzte bewahren, dass sic zu viel Privatpraxis und zu viel
Nebenbeschäftigung haben. Ich meine, wir haben das Recht, nach der Erklärung
des Herrn Ministers zu fordern, dass die beamteten Aerzte bald so gestellt
werden mögen, dass sie ihr wichtiges Amt im vollen Umfange versehen können.
Die Pensionsverhaltnis.se sind dabei selbstverständlich mit inbegriffen in die For¬
derung. Nun meine ich, wenn man die Reform vornehmen will, so lasse man
doch die wichtige Frage der Aufbesserung der beamteten Aerzte nicht hinterher
hinken, sondern nehme sie vorher in erster Reihe als einen Abschlag auf die
Medizinalreform; denn hat man die Organe, so kann man auch die Reform leichter
in’s Leben rufen. Auf die Organe im Lande kommt es hauptsächlich an, um
ansteckenden Krankheiten zu rechten Zeit entgegenzutreten und alle diejenigen
Massregeln zu ergreifen, die, wie der Herr Abg. Dr. Graf vorhin schon er-
150
Kleinere Mittheilungeu und Referate aus Zeitschriften.
wähnte, das neue Seucheugesetz mit sich bringt. Ich will also bei dieszr Gele¬
genheit nochmals im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege und damit des
Wohles des ganzen Landes bitten, diese Verbesserung der Kreisphysiker beson¬
ders im Auge zu behalten, und dieselbe vor allen anderen Aenderungen iui
Medizinalwesen zur Wirklichkeit werden zu lassen.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Die Aetiologie des infektiösen fieberhaften Ikterus (Weil 'sehe
Krankheit). Ein Beitrag zur Kenntniss septischer Erkrankungen und der Patho¬
genität der Proteusarten. Von Stabsarzt Dr. H. Jäger, Privatdozeuten für
Hygiene an der technischen Hochschule in Stuttgart. Zeitschrift für Hygiene
und Infektionskrankheiten, XII. 4.
Verfasser, dem wir werthvolle Untersuchungen zur Epidemiologie des
Unterleibstyphus verdanken, hatte Gelegenheit, in Ulm eine Reihe von Fällen
der „Weil 1 sehen Krankheit“, jener in ihrer Stellung zu den anderen Infektions¬
krankheiten, namentlich zu Griesinger’s biliösem Typhoid vorläufig mit
Sicherheit nicht zu bestimmenden, mit Betheiliguug der Nieren, der Milz und
des Zentralnervensystems unter schwerem Ikterus und hohem Fieber einher¬
gehenden Infektionskrankheit zu beobachten und bakteriologisch zu bearbeiten.
Es sind in der Garnison Ulm in den Jahren 1885 bis 1891 neunzehn Fälle
dieser Krankheit und zwar sämmtlich in den Monaten Juni bis September zur
Beobachtung gelangt. Bemerkenswerth ist hierbei, dass unter diesen neunzehn
Soldaten nicht weniger als elf Pioniere, deren dienstliche Beschäftigung sie in
nahe Berührung mit dem Flusswasser bringt, waren und dass auch von anderen
Erkrankten das Baden in der Donau als die Ursache der Erkrankung angegeben
wurde. Verfasser hat nun bei zwei tödtlich verlaufenden Fällen in Organ-
Schnitten eine wohl charakterisirte Bakterienart in charakteristischer Anordnung
angetroffen. Er hat dann dieselbe Bakterienart im Harn der Lebenden vorge¬
funden und hat sie aus den Organen rein gezüchtet und die Reinkulturen erfolg¬
reich unter Erzeugung von der Weil’ sehen Krankheit ähnlichen Symptomen
verimpfen können. Er glaubt daher, den spezifischen Erreger der Weil’ sehen
Krankheit in Händen zu haben. Von eingehender Beschreibung des Bacillus,
welche ohne die dem Original in grosser Zahl und vorzüglicher Beschaffenheit
beigegebenen Abbildungen doch nur mangelhaft ausfallen kann, muss an dieser
Stelle abgesehen werden. Es mag genügen auf den sehr weitgehenden Pleomor¬
phismus hinzuweisen, der diesem Bacillus eigen ist und der ihn in morphologi¬
scher Beziehung innerhalb sehr weiter Grenzen vnriiren lässt, so dass er bald
in Kokken- bald in Stäbchenform erscheint. Aber auch die Kulturen zeigen
sehr weitgehende Verschiedenheiten im Aussehen, im Pcptonisirungsvermögen
und in der Fluorescenz, die einigen Kulturen eigen ist. Verfasser glaubt den
Organismus den Protens - Arten anreihen zu müssen. Das massenhafte, durch
einfache mikroskopische Untersuchung leicht festzustellende Vorkommen im
Harn der Kranken würde für die bei vereinzelten Fällen unter Umständen
recht schwierige Diagnose natürlich von der grössten Bedeutung sein. —
Bedeutendes Interesse beanspruchen die vom Verfasser mit grosser Um¬
sicht und Sorgfalt angestellten Untersuchungen über die Aetiologie dieser in
auffallender Weise auf die militärische Bevölkerung von Ulm beschränkte Krank¬
heit. Ein paar sehr übersichtliche Situationspläne von Ulm und Umgegend und
zahlreiche Tabellen über bakteriologische Wasseruntersuchungen bilden die Be¬
läge für Verfassers wohl begründet erscheinende Ansicht, dass thatsächlich die
Militär-Badeanstalt, welche in der Donau liegt unterhalb des Einflusses der Blau,
eines namentlich in Ulm durch städtischen Unrath stark verunreinigten Flüss¬
chens, in ursächlichem Zusammenhang mit der Infektion zu bringen ist. Ver¬
fasser ist indessen der Meinung, dass die Stadt Ulm, deren Zivilbevölkerung von
der Weil’ sehen Krankheit fast vollständig frei ist, den Infektiousstoff, den er
im Wasser der Blau voraussetzt, nicht hat in diese liefern können, dass die
Quelle der Verunreinigung vielmehr weiter stromaufwärts zu suchen sein dürfte.
Es wurde nun festgestellt, dass daselbst in dem Dorfe Söflingen seit Jahren
Kleinere Mittheilungen mul Referate aus Zeitschriften.
151
in <len Sommermonaten unter dem Geflügel eine verderbliche, häufig mit Ikterus
verlaufende Seuche herrschte und dass die krepirten Thiere meistens in die Blau
geworfen wurden. Verfasser konnte nun dnreh die Sektion von fünf Geflügel-
Kadavern denselben Bacillus, wie bei der Weil’ sehen Krankheit seiner Soldaten
feststellen, er erfahr ferner von dem in Söflingen praktizirenden Arzt, dass
unter der dortigen Zivilbevölkerung, welche das Wasser der Blau als Gebrauchs¬
wasser benutzt, wiederholt Weil’ sehe Krankheit vorgekommen war; es gelang
Verfasser schliesslich auch noch, seinen Bacillus im Wasser eines Armes der
Blau direkt nachzuweisen, so dass die Aetiologie der Krankheit vollständig auf¬
geklärt erscheint. — Dr. Langerhans-Hankensbüttel.
Ueber die in Preussen 1892 getroffenen Massnahmen gegen die
Cholera ist dem Abgeordnetenhause eine im Kultusministerium ausgearbeitete
Denkschrift vorgelegt worden, die mit dem Ausbruch der Cholera in Altona
am 19. August u. s. w. beginnt. Schon vor diesem Ausbruche waren in Ham¬
burg eine bedeutende Zahl gleichartiger, aber nicht als echte Cholera festgestellte
Erkrankungen vorgekommen, der grösste Theil der in Altona aufgetretenen Fälle
betraf ausserdem Personen, die in Hamburg oder am Hamburger - Altonaer Hafen
gearbeitet oder sonstwie sich dort aufgehaltcn oder mit solchen Personen in
Verkehr gestanden hatten, nur bei einem geringen Rest blieb die Erkrankungs¬
ursache unaufgeklärt. Wenn die Seuche in der mit Hamburg unmittelbar zu¬
sammenhängenden Stadt Altona nur eine geringe Zahl von Opfern (578 Erkran¬
kungen mit 332 = 0,23 °/„ der Bevölkerung gegenüber 1,24 u /„ in Hamburg) ge¬
fordert hat, so ist dies jedenfalls lediglich der besseren Art der VVasser-
versorgung zu verdanken. Ausser Altona wurden alsbald die mit Hamburg
ebenfalls eng zusammen hängenden oder in regem Verkehr stehenden Orte
Wandsbeck (mit 64 Erkrankungen und 44 Todesfällen), Lauenburg (mit
43 Erkrankungen und 21 Todesfällen), die preussischen Orte auf der Elbinsel
Wilhelmsburg (mit 116 Erkrankungen und 61 Todesfällen), die Elbinseln
Finken werder und Altenwerder (mit 28 Erkrankungen u. 16Todesfällen),
die diesen gegenüber liegende Ortschaft Neuen fei de (mit 47 Erkrankungen
u. 25 Todesfällen), sowie eine grössere Anzahl vornehmlich in den Hamburg
benachbarten Reg.-Bez. Stade, Lüneburg und Schleswig liegenden Orte ergriffen.
Auch hier war im weitaus grössten Theile der Fälle die Krankheit von Hamburg
unmittelbar eingeschleppt, nur ein geringer Theil ist durch Weiterverbreitnng
der Krankheit an den Orten selbst entstanden. Die Verschleppung fand
sowohl durch den Landverkehr als durch den Wasserverkehr statt und zwar
hauptsächlich durch die Flussschifffahrt. Die Erklärung hierfür liegt darin, dass
die C'holerakeirae längere Zeit im Wasser lebensfähig bleiben, dass die Fluss¬
schiffer allgemein ihren Wasserbedarf zum Trinken und zu allen sonstigen
Zwecken da entnehmen, wo es ihnen gerade am bequemsten ist, unbekümmert,
ob das Flusswasser bereits infizirt ist oder nicht, und dass sie ferner ihre Fäka¬
lien dem Flosse überliefern ohne Rücksicht darauf, dass diese ansteckend sind
oder nicht, und dass infizirtes Wasser durch die undichten Stellen der Fahrzeuge
in diese (Bilge- oder Kielräume) eindringen kann, von denen es durch Auspum¬
pen, Ausschöpfen oder freiwilliges Austreten wieder in den Fluss geräth. Die
Verbreitung vollzieht sich daher nicht etwa nur flussab-, sondern auch flussauf¬
wärts. Auf diese Weise gelangte die Cholera durch die Elbe, Havel. Spree und
die damit verbundenen Schifffahrtskanäle in die Oder, sowie von den Nieder¬
landen ans in den Rhein und von Polen aus in die Weichsel. Dank dem ener¬
gischen Eingreifen der Landes- und Ortsbehörden ist die Cholera selbst an den
grösseren, von auswärts infizirten Orten lokalisirt geblieben. In Berlin er¬
krankten 37 Personen, von denen 7 aus Hamburg zu Lande zugereist waren
und 14 der Schifffahrtsbevölkerung angehörten, die übrigen hatten meist infizirtes
Spreewasser getrunken. Unaufgeklärt blieb die Ursache von 2 kleinen Epidemien
in Mie senheim (Kreis Mayen) und Kiewo (Kreis Culm).
Als erloschen konnte am Schlüsse des Jahres 1892 die Cholera in Preussen
leider nicht betrachtet werden; denn noch in der letzten Woche waren in Altona meh¬
rere aus Hamburg eingeschleppte Fälle vorgekommen, und es müssen auch noch wei¬
terhin neue Invasionen von dort her befürchtet werden. Die gleiche Gefahr droht fort¬
dauernd von den westlichen und östlichen Grenzländern her, da noch aus der letzten
.Tahreswoche Krankheitsfälle aus Nordfrankreich und den Niederlanden, wie auch aus
162
Kleinere Mitthoilungen und Referate aus Zeitschriften.
den rassisch-polnischen Gouvernements Radom, Lublin, Warschau, Plock nnd Lomza
gemeldet worden sind. Auch in Preussen selbst sind möglicherweise von den
bisherigen Fällen her Keime unvernichtet und lebensfähig verblieben, welche
nach unbestimmt langer Latenz unter günstigeren Bedingungen, z. B. in der
wärmeren Jahreszeit, sich weiter entwickeln und einen neuen Akt der Epidemie
herbeiführen können.
Die Denkschrift geht dann näher auf die zum Zwecke der Abwehr und
Unterdrückung der Cholera getroffenen Massregeln unter Beifügung der be¬
treffenden Erlasse ein, die den Lesern der Zeitschrift hinreichend bekannt sein
dürften. Interessant dürfte daraus die Mittheilung sein, dass in zwei Fällen die
völlige Absperrung einer Ortschaft angeordnet ist, und zwar der Insel Helgo¬
land zu ihrem eigenen Schutze und des Ortes Kiewo zum Schutze der Umgebung.
Nach der am Schluss des Berichts beigefügten Uebersicht sind die Regierungs¬
bezirke Königsberg, Gumbinnen, Danzig, Breslau, Liegnitz, Merseburg, Erfurt,
Münster, Arnsberg, Kassel, Trier, Aachen, Köln und Sigmaringen von der Seuche
völlig verschont geblieben; aber auch in der Mehrzahl der übrigen Bezirke sind
nur vereinzelte Erkr ankung en vorgekommen, wie die nachstehende Uebersicht
zeigt. Danach betrug die Zahl der
infizirten
Regierungsbezirke:
Kreise:
Ortschaften:
Erkrankungen: Todesfälle
Marienwerder
4
6
20
9
Berlin
1
1
32
14
Potsdam
9
22
67
43
Frankfurt
4
7
11
9
Stettin
9
21
103
68
Köslin
1
1
1
—
Stralsund
2
8
3
3
Posen
1
1
1
1
Bromberg
2
3
3
—
Oppeln
2
2
3
1
Magdeburg
7
11
24
16
Schleswig
18
77
81)2
475
Hannover
3
8
5
1
Hildesheim
8
3
5
4
Lüneburg
8
2f>
204
116
Stade
6
31
164
89
Aurich
1
1
1
—
Osnabrück
2
2
2
2
Minden
1
1
1
—
Wiesbaden
1
1
3
3
Koblenz
4
6
24
12
Düsseldorf
3
3
3
2
92
231
1572
878
= 55,9 «/ 0
Ueber die Maassnahmen gegenüber der Gefahr einer nenen
Cholera - Epidemie in Hamburg hat die Cholerakommission des dortigen
Senats eine Denkschrift veröffentlicht, aus der wir entnehmen können, dass sich
Hamburg in jeder Weise gerüstet hat, um den Kampf gegen die Seuche erfor¬
derlichenfalls mit allen Mitteln aufnehmen zu können. Die Anzeigepflicht und
Untersuchung choleraverdächtiger Fälle ist streng geregelt, desgleichen der
Kranken- und Leichentransport. 36 Krankenwagen und 10 Leichenwagen stehen
zur Verfügung, deren Zahl durch Vereinbarungen mit Privatunternehmern sofort
auf die doppelte Zahl erhöht werden kann. Zur Bedienung der Wagen ist eine
Sanitätakolonne vorhanden, die erforderlichenfalls bis auf 300 Mann verstärkt
werden kann.
Zur Aufnahme der Kranken sind 26 neuerbaute Baracken mit 822
Betten und ausserdem noch eine Anzahl Baracken mit 450 Betten, zusammen
1272 Betten verfügbar; auch ist Vorsorge getroffen worden, dass für den Fall
eines etwaigen Wiederausbraches der Epidemie hinreichend Aerzte und Pflege¬
personen zur Verfügung stehen.
4 grosse Leichenhallen vermögen mit den in den Baracken zu diesem
Zwecke vorgesehenen Räumlichkeiten mehr als 1000 Leichen aufzunehmen.
Besprechungen.
153
Streng geregelt ist ferner die Desinfektion, die durch die von der Polizei¬
behörde eingerichteten Desinfektionskolonnen geschieht. Ansser zwei bereits
vorhandenen Desinfektions-Anstalten sind noch zwei transportable Apparate
vorhanden, ansserdem sind Vorkehrungen getroffen, dass im Bedarfsfälle
sechs Desinfektionsanstalten an geeigneten Plätzen eingerichtet und in Betrieb
gesetzt werden können. An geschultem Desinfektionspersonal ist kein Mangel.
Um erforderlichen Falls Wohnungen oder Häuser vollständig evakuiren zu
können, steht der Behörde ein grosses Logirhaus fttr 450 Personen mit 250 Schlaf¬
räumen zur Verfügung. Die hier untergebrachten gesunden Personen erhalten minde¬
stens 6 Tage lang auf Staatskosten Wohnung und Verpflegung und werden vor
ihrer Entlassung ebenso wie ihre Kleidung sorgfältig desinfizirt.
Eine wichtige Aufgabe, die Untersuchung der Wohnungen auf ihre
sanitäre Beschaffenheit, liegt den über die ganze Stadt vertheilteu, aus freiwil¬
ligen Mitgliedern bestehenden 25 Gesundheitskommissionen ob, die auch darüber
zu wachen haben, dass eine genügende Desinfektion der inflzirten Wohnungen
erfolgt.
Die wichtigste aller angeordneten Vorsichtsmassregeln dürfte aber die vorläu¬
fig eingerichtete Wasserversorgung sein, die bis zur Fertigstellung des Sandfiltra¬
tionswerkes durch 56 öffentliche Brunnen, 84 Privatbrunnen, 43 Kochstellen, 126
Zapfstellen der Altonaer und Wandsbecker Wasserwerke, 98 Wasserwagen und
6 Barkassen besorgt werden soll. Die Brunnen stehen unter einer steten Kon-
trole des neu eingerichteten hygienischen Instituts; der Betrieb der Kochstellen,
von denen einige 60 cbm Wasser täglich liefern, ist jetzt überall vom Staate
übernommen; die Kosten stellen sich auf 0,2 pro Liter. Die mit Trinkwasser
nmherfahrenden Wagen entnehmen ihr Wasser zum erheblichen Theile den
artesischen Brunnen, während die Barkassen den Schiffen gekochtes Wasser
zuführen.
Die getroffenen Massregeln müssen als äusserst zweckmässig erachtet
werden; sie werden auch ihre Wirksamkeit nicht versagen, wenn, was Gott ver¬
hüten möge, die Seuche von Neuem in Hamburg zum Ausbruch kommen sollte.
Jedenfalls hat der Hamburger Senat keine Kosten zur Verbesserung der sani¬
tären Verhältnisse und Einrichtungen der Stadt gescheut; seit Beginn der vor¬
jährigen Epidemie sind nahezu 4 Millionen aus staatlichen Mitteln für Cholera¬
zwecke ausgegeben und für die jetzt bestehenden Einrichtungen betragen die
täglichen Ausgaben mehrere Tausend Mark. ßpd.
Besprechungen.
Dr. Penkert, Sanitätsrath und Kreisphysikus zu Merseburg: Kurze
Anleitung zur Trichinenschau. Merseburg 1893. Verlag
bei Friedrich Stollberg. 8°, 31 Seiten mit Abbildungen.
Trotz der vielen demselben Zwecke dienenden Schriftchen hat das vor¬
liegende einem wirklichen Bedürfnisse insofern abgeholfen, als es alles Wissens-
nöthige in einer Form bringt, welche auch dem einfachen ungebildeten Menschen
leicht verständlich ist. Der Verfasser sagt im Vorwort selbst, dass er den
Stoff s o bearbeitet habe, weil die meisten Trichinenschauer auf einer nicht gerade
hohen günstigen Entwicklungsstufe stehen. Dabei findet der Fleischbeschauer
auf 30 Seiten alles, was er überhaupt in seinem Berufe gebrauchen kann, so
dass ihm nicht nur ein Leitfaden beim Unterricht, sondern auch ein Berather
für spätere zweifelhafte Fälle geboten wird. Die Eintheilung der Materie ist
dieselbe wie in anderen ähnlichen Schriften und die Ausstattung bei billigem
Preise (1 Mark) eine vorzügliche.
Den Herren Kollegen kann das Buch warm empfohlen werden, besonders
auch für ältere Fleisch besohauer, die bei den Nachprüfungen so häufig zeigen,
was sie alles vergessen haben. Dr. Fie 1 itz-Halle.
Tagesnachrichten.
ln der am 17. Februar d. J. stattgehabten Sitzung der Aerzte-
kammer der Provinz Pommern wurde auf Antrag des Medizinalraths
154
Tagesnachrichten
Dr. Siemens (Lauenburg) einstimmig folgender Beschluss in Bezug auf die
Entmündigung und Unterbringung von Geisteskranken gefasst:
„Die Poinraer’sche Aerztekammer legt Verwahrung ein gegen den in einer
Anzahl von Zeitungen verbreiteten Aufruf, betreffend die Aufnahme von Geistes¬
kranken in Irrenanstalten und die Entmündigung derselben, und ersucht ihren
Vorstand ein gemeinsames Vorgehen aller Aerztekammern gegen diese Be¬
strebungen herheizufUhren. Insbesondere ist die Zuziehung von Laienkommissionen
zur Beurtheilung der Nothwendigkeit auf Unterbringung in Irrenanstalten oder
der Entmündigung entschieden abzulehnen.
Bakteriologische Unterrichtskurse. Nach einem Erlass des Herrn
Ministers vom 10. d. M. werden im Laufe des Aprils für eine Anzahl von Me¬
dizinalbeamten Lehrkurse zur eingehenden Unterweisung in der sanitätspolizei¬
lichen Bekämpfung der Cholera durch den Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Koeh in
Berlin abgehalten, um die betreffenden Beamten bei etwaigem erneuten Auftreten
der Seuche innerhalb und erforderlichenfalls auch ausserhalb ihrer Kreise als
Kommissarien zur Anleitung und Unterstützung der örtlichen Behörde zu ver¬
wenden. Zu diesem Zwecke sollen besonders umsichtige und thatkräftige, zu¬
gleich körperlich rüstige und bereite Beamte herangezogen werden.
Auch im Königreich Sachseu macht das.Ministerium des Innern bekannt,
dass es mit Rücksicht auf den nicht ausgeschlossenen Fall des Wiederausbruchs
der Cholera erwünscht sei, dass die im öffentlichen Dienste befindlichen beamte¬
ten, sowie die an Krankenhäusern angestellten Aerzte mit den zur Erkenntnis«
der Cholera erforderlichen bakteriologischen Kenntnissen ansgestattet sind und
dem Ministerium ausserdem noch eine Anzahl mit bakteriologischer Bildung ver¬
sehener approbirter Aerzte zur unmittelbaren Verfügung stehen, um dieselben
zu Dienstleisten an Lazarethen u. s. w. verwenden zu können.
Zur Erreichung dieses Zweckes finden unter Leitung des Prof. Geh. Med.-
Rath Dr. Hoffmann und Geh. Med.-Rath Dr. Birch-Hirschfeld in Leipzig
vom 13. d. M. ab 14 tägige bakteriologische Unterrichtskurse statt. Den Theil-
nehmern an diesen Kursen werden Tagegelder bis zu 18 Mark pro Tag gewährt;
die Kurse aber unentgeltlich ertheilt.
Ebenso werden auf Veranlassung der bayerischen Staatsregierung an
den hygienischen Universitätsinstituten in München und Würzburg bakteriolo¬
gisch-epidemiologische Kurse für Aerzte und Medizinalbeamte während der
Osterferien abgehalten werden.
Der Entwurf des Reichsseuchengesetzea wird sowohl in den Fach¬
blättern als in der politischen Presse lebhaft angegriffen; besonders macht sich
in Süddeutschland eine starke Bewegung gegen das Gesetz bemerkbar. Man
beklagt die Hast, mit welcher dieses für die ganze Bevölkerung, für Handel
und Verkehr und vor allem für die Aerzte so wichtige und einschneidende Ge¬
setz ausgearbeitet sei und zur Entscheidung gebracht werden soll, ohne zuvorige
gutachtliche Anhörung der kompetenten Organe der einzelnen Landesregierungen,
der Aerztekammern u. s. w. Von einer Seite werden die im Gesetze vorgesehe¬
nen Vorschriften über die Anzeigepflicht, Absonderung der Kranken, Desinfektion
u. s. w. als viel zu rigoros, von anderer Seite dagegen als nicht weitgehend
genug erachtet. Aehnliche Meinungsverschiedenheiten machen sich geltend be¬
treffs der im Gesetz den Landesbehördeu angewiesenen Befugnis«, die Gemeinden
zur Beseitigung der Vorgefundenen gesundheitsgefährlichen Missstände und zur
Herstellung öffentlicher Einrichtung für Versorgung mit Trink- und Wirthschafts-
wasser und zur Fortschaftüng der Abfallstofle auzuhalten. Dagegen herrscht in
dem Punkte allgemeine Uebereinstimmung, dass die Durchführung des Gesetzes
nur möglich sei, wenn die Kompetenzverhältnisse der beamteten Aerzte ent¬
sprechend erweitert und den Medizinalbeamten ein sie von der ärztlichen Praxis
vollständig unabhängig machendes Gehalt gewährt wird.
Wir werden bei Gelegenheit der Generalversammlung des preussischeu
Medizinalbeamtenvereins noch genügend Gelegenheit haben, aut die verschiedenen
gegen den Entwurf gemachten Einwürfe zurückzukommen; möglicherweise wird
derselbe schon bei den Berathuugen im Bundesrathe einige Abänderungen er¬
fahren, die aber hoffentlich nicht im Sinne der unter Nr. 1 vou dem erweiter¬
ten Geschäftsausschuss des Deutschen Aerztevereinsb undes in
Tagosnachricktcn.
155
seiner am 5. d. AI. stattgehabteu Sitzung gefassten Beschlüsse ausfullcn; denn
ein Reichsseuchengesetz, das nur auf Cholera, (Gelbfieber, Pest, Pocken und
Flecktyphus beschränkt ist, würde nur wenig Werth haben. Alit den übrigen
Beschlüssen des Ausschusses kann man sich einverstanden erklären, nur der 2. Ab¬
satz in Nr. 5 ist unter den jetzigen Verhältnissen der Gesetzgebung nicht auf¬
recht zu halten.
Die Beschlüsse lauten wie folgt:
1. Dem vorliegenden Gesetzentwurf gegenüber halten wir für zweckent¬
sprechend, dass dem dringendsten Bedürfnisse durch eine Beschränkung des Ge¬
setzes auf die in §. 1 Absatz I des Gesetzentwurfes genannte Krankheitsgruppe
(Cholera, Gelbfieber, Pest, Pocken, Flecktyphus) genügt werde, unbeschadet des
Rechtes der einzelnen Landesbehörden, für weitere Krankheiten Bestimmungen
zu treffen.
2. Die Anzeigepfiicht soll den approbirten Aerzten möglichst erleichtert
werden und erachten wir nach, dieser Richtung hin die einmalige Anzeige für
ausreichend. Dass den zur Anzeige verpflichteten Aerzten keinerlei Auslagen
erwachsen dürfen, halten wir für selbstverständlich.
3. Wenn Ermittelungen durch den beamteten Arzt vorzunehmen sind,
halten wir es für wünschenswert!!, dass der behandelnde Arzt hiervon benach¬
richtigt wird.
4. Für die Entwickelung der Gesetzgebung auf diesem Gebiete ist es
nothwendig, dass die beamteten Aerzte durch gesetzlich geregeltes pensions¬
fähiges Gehalt von der Praxis unabhängig gestellt werden, so dass das Amt
nicht mehr die Nebenfunktion bildet.
5. Die Bekämpfung der gemeingefährlichen Krankheiten ist wesentlich
gefährdet durch die Freigebuug der Heilkunst an nicht dafür vorgebildete Per¬
sonen (Kurpfuscher). Eine Anzeigepflicht derselben halten wir für nutzlos, und
wünschen die gemeinschädliche Aufhebung des Kurpfuschereiverbotes nicht durch
die Anzeigepflicht der Kurpfuscher weiter gefestigt zu sehen, wie es der Para¬
graph 2 al. 2 des Gesetzes bestimmt.
6. Für die Hinterbliebenen der Aerzte inkl. Amtsärzte, Geistliche, Kran¬
kenpfleger, Polizeibeamte, weiche im Aufträge der zuständigen Behörden mit
Personen, welche an übertragbaren Krankheiten leiden, in Berührung kommen,
dabei selbst erkranken und in Folge der Krankheit sterben, hat Fürsorge
aus öffentlichen Mitteln nach Alassgabe der landesgesetzlichen Regelung zu
erfolgen.
Die internationale Sanitäts - Konferenz ist am 12. d. Mts. in
Dresden zusammengetreten. Der sächsische Staatsminister v. Metzsch
eröffnete im Namen des deutschen Kaisers und des Königs von Sachsen die Kon¬
ferenz mit einer Rede, in der er die Bedeutung derselben für die öffentliche
Gesundheitspflege hervorhob. Hierauf wurde der preussische Gesandte Graf
Dönhoff zum Vorsitzenden gewählt. Die eigentlichen Verhandlungen haben
am 15. d. Mts. begonnen und werden voraussichtlich drei Wochen dauern. Ver¬
treten sind auf der Konferenz fast alle europäischen Staaten, und zwar
Deutschland: durch den preussischen Gesandten Graf Dönhoff, Geh. Ober-
Reg.-Rath im Reichsamt des Innern Hopf, königl. Bayer. Ober - Reg. - Rath
Ritter von Landmann, königl. Säcks. Geh. Reg.-Rath von Criegern,
Geh. Medizinal - Rath Professor Dr. Koch und kaiserl. Legations - Rath Dr.
Lehmann; — Oesterreich-Ungarn: durch den k. und k. Gesandten
Hengeimüller von Heugervär, General - Konsul Ritter von Gsiller,
k. k. Mininsterial-Rath Ritter Dr. Kusy und Sektions - Rath von Ebner,
k. nngar. Ministerial - Rath von Fascho-Moys und Ober - Ingenieur der k.
Ungar. Staatsbahnen Karl Vaikay; — Belgien: durch den General - Sekre¬
tär Becco und Professor Dr. van Ermengen (Gent); — Dänemark: durch
den Gesandten in Wien von Loewenoern; — Spanien: durch den Minister-
Residenten im Haag Raminez de Villa-Ue rrutia und Dr. San Martin;
— Frankreich: durch den Gesandten in München Bar rer e, Professor Dr.
Brouardel (Paris) und General-Inspektor des Sanitätswesens Professor Dr.
Proust; — Grossbritannien: durch den Alinister - Residenten in Dresden
M. Strachey und den Chef der Medizinal - Abtheilung des Lokal-Government
Board Dr. Thorne; — Griechenland: durch den Legations-Sekretär in
Berlin Antonopoulos und den Delegirten beim internationalen Gesundheits-
156
Tagesnachrichten.
amt in Konstantinopel Dr. Vaffiades; — Italien: durch den Gesandten
Grafen Cnrtopassi und den Direktor des Gesundheitsamts im Ministerium
des Innern Prof. Dr. Pagliani; — Montenegro: durch den k. u. k. öster¬
reichisch‘Ungarischen Gesandten Hengelmttller von Hengerv&r; —
Niederlande: durch den ehemaligen Minister-Besidenten van Ruyssenaers
und den Rath im Königlichen Ministerium des Innern Dr. Rnysch; — Por¬
tugal: durch den Geschäftsträger in Berlin Grafen Selir; — Rumänien:
dnrch den Gesandten in Berlin Gregor Ghika und den General - Direktor des
Sanitätswesens in Rumänien Dr. Felix; — Russland: durch den Geh. Rath
und Gesandten Yonine, ersten Legations-Sekretär Baron Wrangell und
den Delegirten bei der europäischen Donaukommission Ladijenski; — Ser¬
bien: durch den Geschäftsträger in Berlin Pavlowitsch; — Schweden
und Norwegen: durch den Gesandten von Lagerheim; — Schweiz:
durch den Gesandten in Berlin Dr. Roth und des Dr. Schmied, Mitglied des
Gesnndheitsrathes in Bern.
Eine der wesentlichsten Aufgaben der Konferenz wird in der Festsetzung
der Maximalgrenze bezüglich der Absperrungsmassregeln bestehen und zugleich
darin, eine allgemeine Richtschnur dafür zu gewinnen, wenn solche Massregeln
überhaupt anzuwenden seien. _
Die Tagesordnung der in der zweiten Hälfte der Pfingst-
woche in Würzburg stattfindenden XVIII. Versammlung des Deutschen
Vereins fttr öffentliche Gesundheitspflege ist dieselbe wie im vorigen
Jahre. Sie lautet:
Donnerstag, den 25. Mai: Die unterschiedliche Behandlung der
Bauordnungen für das Innere, die Aussenbezirke und die Umgebung von Städten.
Referenten: Oberbürgermeister Ad ick es (Frankfurt a. M.) und Oberbaurath
Professor Baumeister (Karlsruhe). — Reformen auf dem Gebiete der Brot¬
bereitung. Referent: Professor Dr. K. B. Lehmann (Würzburg).
Freitag, den 26. Mai: Die Grundsätze richtiger Ernährung und die
Mittel, ihnen bei der ärmeren Bevölkerung Geltung zn verschaffen. Referenten:
Privatdozent Dr. Ludwig Pfeifer (München) und Stadtrath Fritz Kalle
(Wiesbaden). — Vorbeugungsmassregeln gegen Wasservergeudung. Referent:
Wasserwerkdirektor Kümmel (Altona).
Samstag, den 27. Mai: Die Verwendung des wegen seines Aus¬
sehens oder in gesundheitlicher Hinsicht zu beanstandenden Fleisches, ein¬
schliesslich der Kadaver kranker getödteter oder gefallener Thiere. Referent:
Oberregierungsrath Dr. Lydtin (Karlsruhe).
Sonntag, den 28. Mai: Ausflug nach Rothenburg an der Tauber.
Daselbst Aufführung des historischen Festspiels: „Der Meistertrunk.“
Ferner hat der Ausschuss beschlossen, wie dies auch bei gleicher Veran¬
lassung in früheren Jahren geschehen ist, für 1898 von den bisherigen
Mitgliedern einen Jahresbeitrag nicht zu erheben.
Der XV. Internationale Kongress fttr Hygiene und Demographie
wird in der ersten Hälfte des Monats September 1894 in Budapest statt¬
finden. Se. Majestät der König und Kaiser soll um Uebernahme des Pro¬
tektorats, Graf K & r o 1 y i um Uebernahme des Präsidiums gebeten werden. Als
zweiter Präsident ist Prof. Dr. Fodor, als [Generalsekretär Prof. Dr. Koloman
Müller gewählt worden. Die ständige Organisirungs-Kommission besteht aus
dem Bürgermeister Kammermayer als Präsidenten, dem Vizebürgermeifcter
Gerlöczy und dem Magistratsrath Dr.Haberhauer als Vizepräsidenten, sowie
aus Vertretern der einzelnen Ministerien, der wissenschaftlichen Anstalten und
Körperschaften, der ärztlichen und naturwissenschaftlichen Vereine, der Univer¬
sitäten und der Apothekervereine. Die Kommission zerfällt in 4— 5 Sektionen:
a. für Hygiene, b. für Demographie, c. für Empfang und Feierlichkeiten, d. für
Ausstellung und e. für finanzielle Angelegenheiten. Als Sekretäre werden
fungiren: Dr. S. Gerlöczy, Dr. 0. Pertik, Dr. G. Dirner, Dr. S. Löw,
Zolt&n R&th, G. Thierring, Michael Kaillinger und E. Toik.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W.
J. 0. C. Brno*, Buchdrucker«!, Kindts.
Zeitschrift —
für
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rnthu.gerichtl.Stadtphysikus in Berlin. Reg.-und Meduinalrath in Mii
and
Dr. WILH. SANDER
Mediiinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer's mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Yerl&gshandlung and Rad. Mosse
entgegen.
No. 7.
Erscheint am 1. und 15. Jeden Monats.
Preis jfthrlioh 10 Mark.
1. April.
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen
und der Schulkinder des Kreises Isenhagen.
Von Dr. Max Langerhans, Kreisphysikus in Hankensbüttel.
(Schluss.)
Rückgratsverkrümmung kam bei 7 Knaben (0,6Proz.),
dagegen bei Mädchen in der erstaunlich grossen Zahl von 20
Fällen (2 Proz.) zur Beobachtung, wobei zweifelsohne eine grosse
Zahl leichterer Fälle übersehen wurde. Es ist mir mehr als
zweifelhaft, ob mit dieser Erscheinung der Schulbesuch überhaupt
etwas zu thun hat. Ich glaube vielmehr, dass das Tragen jüngerer
Geschwister die Hauptschuld an der grossen Zahl der Rückgrats¬
verkrümmungen der Mädchen trägt. Die blinde Liebe, mit der
der Bauer an seinen Kindern, namentlich den kleineren hängt,
lässt es ihm ganz undenkbar erscheinen, dass ein Kind einmal
sich selbst überlassen sein könnte, sondern solch ein kleiner Erden¬
bürger wird den ganzen Tag entweder in sausendem Tempo ge¬
wiegt oder auf dem Arm getragen, wozu, da die Mütter keine
Zeit finden und ein Kindermädchen selbstverständlich nicht ge¬
halten wird, regelmässig ältere Schwestern und zwar in einem
Alter, wo sie zu anderer Arbeit noch nicht zu brauchen sind, ver¬
wendet werden. So sieht man denn kleine sechs- bis siebenjährige
Mädchen sich stundenlang mit schweren ein- bis zweijährigen Ge¬
schwistern herumschleppen und es ist nur verwunderlich, dass
nicht noch viel mehr Rückgratsverkrümmungen Vorkommen!
Skrophulose kam sehr häufig vor. Ich stehe auf dem
Standpunkt, dass auch nach der Entdeckung, dass bei skrophu-
lösen Individuen der Tuberkel-Bacillus sehr häufig vorgefunden
wird, die Begriffe Skrophulose und Tuberkulose nicht identifizirt
werden dürfen. Ich halte es für eine grosse Einseitigkeit, wenn
man nur die Fälle von stationär geschwollenen oder eiternden
Halsdrüsen, von Lupus und Knochentuberkulose in’s Auge fassen
158
Dr. Langerhans.
und sich blind verhalten will gegen die zahllosen, jedem Kinder¬
arzt, ja jeder sorgsamen Mutter so wohl bekannten und so über¬
aus klaren Krankheitsbilder, wo ein Kind Jahre lang bald diese,
bald jene Affektion, Hautkrankheiten, Schleimhautentzündungen,
Gerstenkörner u. s. w., u. s. w. bekommt und dies Alles begleitet
von ganz unverhältnissmässig starken, aber so sehr wechselnden
Drüsenschwellungen! Trotz Entdeckung des tuberkulösen Ober¬
flächenkatarrhs glaube ich nicht, dass diese Drüsenschwellungen,
die wir doch bei geeigneter Behandlung der die Grundkrankheit
bildenden Ernährungsstörung so schnell zurückgehen sehen, sämmt-
lich tuberkulöser Natur sind! Der Organismus gerade der skro-
phulösen Kinder müsste dann wenigstens eine ganz besondere
Kraft besitzen, mit dem Tuberkel - Bacillus leicht und sicher fertig
zu werden, die mit der Thatsache, dass gerade diese Kinder mit
Vorliebe an anderen Bakterienkrankheiten erkranken, als welche
wir doch das ganze Heer der oben genannten Krankheiten aufzu¬
fassen haben, in lebhaftem Widerspruch steht! Nicht eine erhöhte
Vernichtungsfähigkeit gegen eindringende Bakterienkeime tuber¬
kulöser oder anderer Natur ist es, was die skrophulöse Ernährungs¬
störung kennzeichnet, sondern im Gegentheil die mangelnde Wider¬
standskraft, eine zeitweise fehlende Immunität, welche es zur Folge
hat, dass die ganze Schaar der pathogenen Bakterien, Tuberkel-
Bazillen, Eiterkokken u. s. w. auf Wegen, welche ihnen beim
gesunden Organismus verschlossen sind, in den skrophulösen Or¬
ganismus eindringt. Das primäre ist die Ernährungsstörung, das
sekundäre die Bakterienansiedelung! Die Untersuchung einer Klasse,
die einen grösseren Prozentsatz skrophulöser Kinder enthält, ist
in dieser Beziehung sehr lehrreich und derjenige, welcher alle
diese Kinder, welche beispielsweise in der Rekonvalescenz von
Scharlach oder unter dem Einfluss anderer Schädlichkeiten eine
Zeit lang das typische Bild der Skrophulose darbieten, für tuber¬
kulös halten wollte, dürfte weit über das Ziel hinaus schiessen.
Auf jeden Fall kann der Schulhygieniker den Begriff
Skrophulose noch weniger entbehren, wie der ärzt¬
liche Praktiker.
Das Bild der Skrophulose ist in den ausgeprägten Fällen,
wie erwähnt, ein überaus klares, auf den ersten Blick zu er¬
kennendes: dagegen ist die Abgrenzung nach oben und nach unten
hin so einfach nicht! Ich habe zunächst alle offenbar tuberkulösen
Alfektionen, Gelenkleiden u. s. w. ausgeschlossen; ich habe auch
eiternde Halsdrüsen u. s. w., sobald sie das einzige Symptom
bildeten, unter Tuberkulose und nicht unter Skrophulose einge¬
tragen, ich habe andererseits aber auch nicht jedes Kind, bei dem
die sorgfältigste Untersuchung eine einzelne geschwollene Hals-
drüse erkennen Hess, nun gleich skrophulös genannt. Es verhält
sich hiermit, wie mit den anderen chronischen Krankheiten auch.
Blutarmuth z. B. ist ein ähnlicher Begriff: über die ausgeprägten
Fälle kann kein Zweifel sein, — ob aber im gegebenen Fall die
blasse Farbe der Wangen und der sichtbaren Schleimhäute noch
innerhalb der Breite normaler Schwankungen liegt, oder ob sie
•reits ein Zeichen krankhafter Blutbeschaffenheit ist, mit einem
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 159
Worte, ob der Strich in die Rubrik „Gesund“ oder „Krank“ ein¬
zutragen ist, ist oft schwer zu entscheiden. Der einzelne Arzt
freilich gewöhnt sich bei einer grösseren Untersuchungsreihe sehr
schnell an eine grosse Gleichmässigkeit der Beurtheilung; bei ver¬
schiedenen Aerzten wird aber die Entscheidung je nach der sub¬
jektiven Natur des Arztes verschieden ausfallen. Was dem einen
gleichgültig erscheint, wird der andere bereits als ausgeprägten
Krankheitszustand ansehen. Dies der Grund der mich veranlasste,
meinen Standpunkt hier etwas eingehender klar zu legen. —
Die Zahl der Skrophulöseu ist, selbst mit der Einschränkung,
in der ich den Begriff angewendet habe, recht gross; es sind 73
Knaben (6,2 Proz.) und 52 Mädchen (4,3 Proz.) unzweifelhaft
skrophulös. Auffallend ist und vielleicht durch die Verschiedenheit
der Auffassung seitens der untersuchenden Aerzte bedingt, dass
unter den dänischen Kindern so sehr viel mehr (20—36 Proz.
aller Krankheitsfälle) als skrophulös bezeichnet werden, während
unsere Zahlen sich den schwedischen nähern. Allerdings mit einer
sehr wesentlichen Einschränkung! Denn während in Schweden
Skrophulose meist als Begleiterscheinung anderer Krankheitszu¬
stände vorkam, für sich allein dagegen überaus selten war, ist es
bei uns umgekehrt; hier ist es gerade die Skrophulose, die für
sich allein vorkommt oder doch das Krankheitsbild beherrscht und
in Folge dessen ist es gerade diese Krankheit, die bei häufigerem
Vorkommen in einer Klasse zur Erhöhung des Kränklichkeits-
Prozents am Meisten beiträgt!
Die Rubrik „Andere langwierige Krankheit“ enthält
natürlich eine Zusammenstellung der allerverschiedensten leichten
und schweren Krankheitszustände.
Es sind darunter zunächst die Ohrenkrankheiten zu er¬
wähnen, welche in einigen Schulen das Krankenprozent nicht un¬
erheblich beeinflussen und welche um so wichtiger sind, als sie
häufig den Grund zu unheilbarer Schwerhörigkeit legen. Der Zahl
nach am häufigsten waren eitrige Ohrenausflüsse, die bei 40 Kindern
(24 Knaben, 16 Mädchen) verzeichnet sind. Schwerhörigkeit, ohne
dass zur Zeit der Untersuchung Ausfluss vorhanden war, war in
15 Fällen (5 Knaben, 10 Mädchen) vorhanden. Indessen handelte
es sich auch hier häufig um die Folgen eitriger Ohrenausflüsse.
In anderen Fällen waren Erkrankungen des Rachens, Schwellungen
der Mandeln oder Wucherungen im Nasenrachenraum als Ursache
der Schwerhörigkeit anzusehen. Indessen habe ich auf diese Ver¬
hältnisse nicht eingehender geachtet, was ich bereitwillig als einen
Fehler eingestehen will, den ich bei etwaiger Wiederholung sol¬
cher Untersuchungen vermeiden würde. Auch sonst mögen, ob¬
gleich in jedem Falle auf die Gehörschärfe geachtet wurde, bei
der etwas kursorischen Art dieser Untersuchung einige leichtere
Fälle von Schwerhörigkeit unerkannt geblieben sein. Auf jeden
Fall aber ist die Zahl der schwerhörigen Kinder auch nicht im
Entferntesten so hoch, Avie Schmigelo.w angiebt, der von 581
Kindern einer Volksschule in Kopenhagen die Hälfte in höherem
oder geringerem Grade schwerhörig fand und bei den meisten von
diesen chronischen Nasen- und Rachenkatarrh oder adenoide Vege-
160
Dr. Langorbans.
tationen im Nasenrachenraum fand. Derartige Uebertreibungen
des Spezialistenthums sind es nach meiner Erfahrung hauptsäch¬
lich, welche die ärztliche Schulaufsicht bei Lehrern und Eltern in
Misskredit bringen. Auf jeden Fall sind es bei uns viel weniger
die genannten Krankheiten der Rachenorgane, als die Infektions¬
krankheiten, und ihre Folgezustände, die namentlich zu den höhe¬
ren Graden von Schwerhörigkeit führen. So ergab sich aus den
Physikatsakten, dass von den 40 Kindern mit Ohreneiterung 26
in den beiden letzten Jahren Scharlach durchgemacht hatten,
während bei 5 Kindern der Ohrenfluss als Folge einer schweren
Masernepidemie zurückgeblieben war. Auch bei den 15 Kindern,
die, ohne Ohrenfluss zu haben, als schwerhörig verzeichnet sind,
ist sieben Mal Scharlach, ein Mal Masern als Ursache der Schwer¬
hörigkeit anzusehen!
Von Hautkrankheiten wurden 5 Fälle von Ekzem und
8 anderen Hautkrankheiten notirt, ausserdem aber 18 Fälle von
Impetigo contagiosa. Diese Krankheit trat urplötzlich in
Vorhop, Kirchspiel Knesebeck im Frühjahr 1891 bei einigen 40
Kindern epidemisch auf, ohne dass es gelungen wäre, die Quelle
der Ansteckung festzustellen. Zur Zeit meiner Schülerunter¬
suchungen war diese Epidemie bereits erloschen, während in der
Umgegend, namentlich in Knesebeck und Hankensbüttel immer
wieder neue kleine Haus- und Gruppen-Epidemien auftraten (und
auch noch auftreten). Interessant ist, dass unter den 18 Impetigo-
Kranken 16 Knaben waren, offenbar eine Folge der geringer ent¬
wickelten Reinlichkeit bei der männlichen Schuljugend. Aus dem
Pustelinhalt züchtete ich einen Streptococcus, anscheinend den¬
selben, welchen dann im Reichsgesundheitsamt Stabsarzt Dr. Kurth
aus dem von mir aus Vorhop eingesandten Material isolirte und
gleichzeitig mit Impetigo - Streptokokken anderer Herkunft näher
untersuchte.
Herzkrankheiten wurden bei 10 Kindern vorgefunden,
worüber unten Näheres gesagt werden wird.
Lungenkrankheiten waren, wenn man absieht von den
meist epidemisch verbreiteten sog. Erkältungskrankheiten, in Folge
deren mehrmals notirt war: „fast sämmtliche Schüler husten!“
recht selten. Länger dauernder Husten mit Auswurf
fand sich nur bei 5 Kindern, von denen eines an vorge¬
schrittener Lungen- und Kehlkopftuberkulose litt, ein anderes der
Lungentuberkulose mindestens sehr verdächtig war. Vom Schul¬
besuch zurückgehalten wurde ferner ein Kind mit Tuberkulose der
Lungen und der Rückenwirbelsäule.
Knochen- bezw. Gelenktuberkulose fand sich bei drei
Kindern. Zwei Kinder waren wegen ähnlicher Leiden in auswär¬
tigen Kliniken untergebracht. Zwei Kinder litten an Zahnfistel.
Rachitis höheren Grades war bei drei Kindern vorhanden,
Magen- und Leib schm erzen wurde häufig, nämlich bei 17
Mädchen und 9 Knaben angegeben, wohl meist Folge der über¬
reichlichen und derben Kost!
Defekte der psychischen Thätigkeit von leichtem,
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 161
aber entschieden krankhaften Schwachsinn bis zum ausgebil¬
detsten Blödsinn wurden bei 20 Kindern, (10 Knaben, 10 Mäd¬
chen) festgestellt, häufig mit anderen krankhaften Zuständen,
anscheinend auch mit Schwerhörigkeit, die bei diesen Kindern
allerdings sehr schwer festzustellen ist, zuweilen auch mit körper¬
lichen Missbildungen komplizirt. Eins der unglücklichen Kinder
litt gleichzeitig an Hasenscharte, Missbildung der Ohren und
Aphasie, ein anderes hatte einen ausgeprägten Microcephalus.
Leider sind die Eltern in falsch angebrachter Zärtlichkeit wenig
geneigt, dem weitgehenden Entgegenkommen unserer humanen
Kreisvertretung entsprechend, diese Kinder, die ein für die Volks¬
schule durchaus ungeeignetes Element bilden, der idiotenanstalt
zur Erziehung zu übergeben!
Chorea wurde bei zwei Mädchen, die derselben Schulklasse
angehörten, Epilepsie sechs Mal (drei Knaben, drei Mädchen)
vorgefunden.
Stottern fand sich bei 23 Kindern und zwar bemerkens-
werther Weise bei 19 Knaben und 4 Mädchen. Soweit die kleinen
Zahlen einen Schluss zulassen, scheint die Zahl der Stotterer
und die Heftigkeit des Stotterns während des Schulbesuches zu¬
zunehmen.
Ein Knabe litt an Incontinentia urinae, mehrere an
Bettnässen. Vier Knaben hatten Leistenbrüche, einer litt
an Wasserbruch.
Schliesslich finden sich noch einige Missbildungen, ein
Mal beiderseitige Klumpfüsse (inzwischen auf Kosten des Kreises
in Göttingen operativ beseitigt), ein Mal Defekt beider Ellen¬
bogengelenke, ein Mal eine Missbildung des Schädels, einige ge¬
heilte Hasenscharten und zwei kleinere Gefässgeschwülste.
Es erübrigt schliesslich noch die Vertheilung der Krank¬
heiten auf die einzelnen Kirchspiele, welche sehr inter¬
essante Gesichtspunkte ergiebt, zu erörtern, wobei die Kurzsich¬
tigkeit ausserhalb der Betrachtung bleiben kann.
Tabelle XTV.
Vertheilung der Krankheiten auf die verschiedenen Kirchspiele in Prozenten.
Kirchspiel
Wittingen . . .
Hankensbttttel-
Isenhagen. . .
Knesebeck . . .
Wahrenholz. . .
Brome.
Oesingen. . , .
Ohrdorf . . . .
Sprackensehl . .
Steinhorst . . .
Zasenbeck . . .
478 17,2 1,8 1,1 0,4 0,4 0,8 3,9 1,1 4,1 7,5
423 18,0 1.2 1,2 — 0,2 2,2 2,4 1,4 4,4 5,5
352 21,4 1,8 — 0,9 1,2 2,7 4,1 1,2 3,2 7,7
250 24,1 4,0 — - 0,4 1,2 2,0 0,8 10,2 11,4
405 27,3 1,7 — 0,2 1,0 5,7 5,7 1,2 5,2 9,3
106 19,8 4,7 — — — 6,6 0,9 2,7 0,9 4,7
97 20,6 4,1 — — 1,0 — 3,1 — 3,1 9,3
59 18,6 1,7 — — — 8,5 3,4 — 10,2 3,4
73 20,5 2,7 — — 4,1 5,5 1,4 1,4 2,7 6,8
124 18,5 2,4 0.8 — — 1,6 3,2 — 5,0 10,0
2367 20,6 2,2 0,3| 0,2 0,7 2,9 3,4 1,1 5,3 8/7
162 i)r. Langerhans.
Ich bemerke zunächst, dass ich die 5 kleinen Kirchspiele
Oesingen, Ohrdorf, Sprackensehl, Steinhorst und Zasenbeck bei
Seite lasse, wobei ich mich auf Axel Key’s treffende Ausfüh¬
rungen berufe, dass in einer Klasse von 50 Kindern ein einziges,
zufällig an Kopfweh leidendes Kind die Verhältnisszahl ftir diese
Krankheit gleich um 2 Proz. erhöhen würde. Uebrigens zeigen
diese 5 Kirchspiele im Ganzen mittelgünstige Gesundheitsverhält¬
nisse. Die günstigsten Verhältnisse zeigen unter den 5 grossen
Kirchspielen Wittingen und Hankensbüttel, auch Knesebeck über¬
steigt nur um ein Geringes den Durchschnitt, sowohl in der Pro¬
zentzahl für die Gesammtkränklichkeit, als für die einzelnen
Krankheiten. Dagegen zeigen Wahrenholz und Brome ein den
Durchschnitt erheblich übersteigendes Krankenprozent von 24,1,
bezw. 27,3, welches bei der Grösse der Zahlen auf Zufall nicht
beruhen kann und eine eingehendere Betrachtung erfordert.
Ein Blick auf Tabelle zeigt, dass es ganz verschiedene
Krankheiten sind, an welchen in diesen beiden Kirchspielen die
Kinder leiden. Im Kirchspiel Brome überwiegen die Augen¬
krankheiten und der Kopfschmerz und zwar sind es die
drei Schulklassen des Marktfleckens Brome, in welchen der grösste
Theil dieser Krankheiten zu finden ist, während die Aussendörter
verhältnissmässig frei davon sind.
Zahl
krank
Kopfschmerz
Augen¬
krankheit
Skrofeln
Andere lang¬
wierige
Krankheiten
Flecken Brome . . .
Aussendürfer ....
143
262
36.4
22.5
lü
■Boi
8,4
4,2
4,8
5,3
11,8
8,0
Zusammen 405
27,3
5,7 5,7
5,2
9,3
Wir haben es bei der grossen Zahl der Augenkrankheiten
mit den Ueberbleibseln der oben erwähnten Epidemie von Folli-
kularkatarrh zu thun. Uebrigens ist es mir unzweifelhaft, dass
der in Brome so sehr häufig beobachtete Kopfschmerz in vielen
Fällen ebenfalls eine Folge der lange dauernden Konjunktival-
reizung ist, was um so weniger auffallend ist, als es gerade die der
Geschlechtsentwickelung nahe stehenden, besonders empfindlichen
beiden ältesten Jahrgänge der Mädchen waren, welche über Kopf¬
schmerz klagten. Aber auch abgesehen von diesen beiden
Krankheiten bleibt der Gesundheitszustand im Kirchspiel Brome,
namentlich im Flecken Brome selbst, wenigstens um einige Pro¬
zente hinter dem Durchschnitt des Kreises zurück und es ist nicht
ausgeschlossen, dass die verhältnissmässig schlechte wirthschaft-
liche Lage, in der sich ein Theil der Einwohner des Fleckens
Brome den anderen Theilen des Kreises gegenüber befindet, in
diesen Zahlen zum Ausdruck kommt. Immerhin handelt es sich
hierbei höchstens um einige Prozente und die Hauptschuld an dem
hohen Krankenprozent trägt ohne Frage jene, vom Publikum ihres
Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 163
anscheinend milden Charakters wegen vernachlässigte Epidemie
von Follikularkatarrh.
Wesentlich anders lag die Sache in Wahrenholz, dem zwei¬
ten Kirchspiel, welches eine den Durchschnitt des Kreises über¬
schreitende Kränklichkeit besitzt. Hier war es zu einer eigen¬
tümlichen Häufung der akuten Infektionskrankheiten gekommen,
indem die Kinder wohl ausnahmslos im Sommer 1890 von Keuch¬
husten, dann, kaum von dieser Krankheit genesen, im Oktober
und November desselben Jahres von den Masern, schliesslich auch
noch im Dezember 1890 und in den ersten Monaten des Jahres
1891 vom Scharlach befallen wurden. Nun hatte dieselbe Epidemie
von Masern und Scharlach zwar zum Theil auch in den Kirch¬
spielen Wittingen und Knesebeck geherrscht; allein beide Krank¬
heiten waren hier zeitlich durch einen viel längeren Zwischenraum
getrennt, hatten ausserdem einen so überaus milden Verlauf ge¬
zeigt, dass nur in einigen wenigen Ohreneiterungen Spuren, nament¬
lich des Scharlachs, aufzufinden waren. Anders in Wahrenholz!
Denn hier, wo Masern und Scharlach recht bösartig aufgetreten
waren, wurde das Gesammtbild der Kränklichkeit, wie ich es
bei meiner Schuluntersuchung vorfand, ausschliesslich durch die
Folge- und Nachkrankheiten beider Infektionskrank¬
heiten, namentlich des Scharlachs beherrscht. Es war
ein ganz eigentümlicher, von Allem, was ich bisher gesehen hatte,
abweichender Anblick, den diese Schulklassen darboten! Nicht
nur war die Zahl der Blutarmen unter den Bonst so kräftig
entwickelten Kindern gerade dieses Kirchspieles eine sehr grosse,
sondern auch die Zahl der Skrophulösen, wobei noch hervor¬
zuheben ist, dass gerade hier mit der Diagnose Skrophulose keines¬
wegs freigiebig verfahren wurde! Denn die Thatsache, dass nach
der sog. Scharlachdiphtheritis sehr oft Anschwellungen der Hals¬
drüsen Zurückbleiben, musste die Bedeutung dieses sonst für
Skroph ulose so wichtigen Symptoms wesentlich herabdrücken. Es
fanden sich hier bei fast allen Kindern Drüsenschwellungen, theils
als dicke Packete, theils als einzelne, perlschnurartig an einander
gereihte bewegliche Knoten, ich habe diese Zustände indessen,
wenn die Kinder sonst gesund waren, nicht als Krankheit notirt!
Erwähnt ist bereits die grosse Zahl der Ohreneiterungen;
es litten hieran im Kirchspiel Wahrenholz 11 Kinder (4,4 Prozent
gegen 1,7 im ganzen Kreise), mit einer Ausnahme sämmtlich in
Folge von Scharlach.
Noch wichtiger und medizinisch sehr interessant ist das
häufige Vorkommen von Herzkrankheiten. Herzkrankheiten
sind im Ganzen unter Schulkindern sein- selten, ich habe unter den
2117 übrigen Kindern nur drei Mal eine solche notirt, während
unter den 250 Kindern des Kirchspiels Wahrenholz nicht weniger
al.s sieben unzweifelhafte Zeichen einer Erkrankung des Herzens
aufzuweisen hatten; und zwar war ein Mal ein Klappenfehler, ein
Mal eine Verschiebung des Herzens mit Herzklopfen in Folge
eines schrumpfenden Exsudats, drei Mal Vergrösserung des Herzens
mit Herzklopfen und Kurzathmigkeit, ein Mal Unregelmässigkeit
164
Dr. Langerhans: Die gesundheitlichen Verhältnisse etc.
und Schwäche der Herzthätigkeit, ein Mal nur Herzklopfen vor¬
handen. Es ist wohl zweifellos, dass diese Herzaffektionen in den
meisten Fällen die Folge des Scharlachs, bezw. einer damit ver¬
bundenen Nierenkrankheit waren, obgleich es nur bei zwei von
diesen sieben Kindern zu wassersüchtigen Schwellungen gekommen
zu sein schien! —
Fassen wir die Resultate unserer Schuluntersuchun¬
gen in w enigen Worten zusammen, so würde sich ergeben, dass
im Ganzen die körperliche Entwickelung unserer Lüneburger Dorf¬
jugend eine recht kräftige ist und dass der Gesundheitszustand
derselben im Vergleich zu anderen Kindern, die unter anderen
Verhältnissen aufwachsen, recht günstig zu nennen ist. Denn die¬
jenigen langwierigen Krankheitszustände, welche sich als Folge
sozialen Elends, vor Allem ungenügender Ernährung, ausbilden,
spielen hier eben so wenig eine erhebliche Rolle, wie die eigent¬
lichen „Schülerkrankheiten“, die als Folge geistiger Ueberanstren-
gung anzusehen sind; es sind vielmehr fast ausschliesslich die
Seuchen, welche, ebenso wie sie für die grössere oder geringere
Sterblichkeit alljährlich das ausschlaggebende Moment abgeben, so
auch die Kränklichkeit der Schüler in hervorragendster Weise be¬
einflussen. Es ist daher zu hoffen, dass das vom ärztlichen Stande,
namentlich aber von den Medizinalbeamten seit Jahren mit steigen¬
dem Nachdruck geforderte, nunmehr der Verwirklichung endlich
nahe erscheinende Reichsseuchengesetz dazu beitragen wird, den
verderblichen Seuchenzügen ein Ende zu bereiten, welche Jahr
für Jahr so zahlreiche Opfer unter der blühenden Schuljugend
fordern und Siechthum und Elend in ihrem Gefolge zurücklassen!
Freilich, mit dem Gesetz allein ist es auch nicht gethan! Denn
je eingehender man sich in die Schulverhältnisse hineinvertieft, je
näher man die Verhältnisse zu ergründen sucht, wo die bessernde
Hand einzugreifen haben würde, je gewissenhafter man sich die
Frage vorlegt, wie, selbst an der Hand des zu erhoffenden Reichs¬
seuchengesetzes, im gegebenen Fall der Ausbreitung beispiels¬
weise einer Scharlach- oder Diphtheritis - Epidemie vorgebeugt
werden soll, um so ernstere Bedenken müssen auftauchen,
ob der Zustand unserer Medizinal Verfassung eine
wirksame Thätigkeit thatsächlich ermöglichen wird,
ob nicht eine vollständige Umwälzung in der Stel¬
lung der Medizinalbeamten die Vorbedingung hier¬
für ist! Denn — darüber dürfen wir uns keinen Hlusionen
hingeben — mit ein paar Ausschliessungen von Schulkindern oder
auch mit ein paar Schliessungen von Schulen ist es nicht gethan;
worauf es ankommt, das ist die systematische, nur durch jahre¬
lange, zielbewusste Arbeit zu erreichende Hebung der gesammten
hygienischen Beschaffenheit aller Einrichtungen der Schule, das
ist ferner die Erweckung hygienischen Verständnisses und hygie¬
nischen Geistes bei den Lehrern, was aber nicht zu erreichen ist
durch ein paar hygienische Stunden auf dem Seminar, sondern
nur durch stetige, gemeinsame Thätigkeit des Lehrers und des
Dr. Meyhoefer: Zur Regresspflichtigkeit des medizinischen Gutachters. 165
Hygienikers, durch eine organische Verbindung des Letzteren mit
der Schule, die ihm nicht etwa eine vorwiegend polizeiliche, son¬
dern vor Allem eine anregende, belehrende, befruchtende Thätigkeit
sichert. Der Nutzen einer solchen Thätigkeit wird sich nach beiden
Seiten hin geltend machen; ich wenigstens denke mit lebhaftem
Vergnügen zurück an die nahe Berührung, in welche mich meine
Untersuchung zu den Schulen, namentlich auch zu den Kreis- und
Lokal-Schu’inspektoren, sowie zu den Lehrern gebracht hat und,
wenn ich häufig das Gefühl hatte, dass meine Anregungen nicht
auf unfruchtbaren Boden fielen, so habe ich auch diesen, inmitten
der Praxis des Schulwesens stehenden Männern eine Fülle der
mannichfaltigsten Belehrungen zu verdanken. Und ich bin
überzeugt, dass die ärztliche Schulaufsicht, wenn sie
in diesem Sinne ausgeübt wird, den erwarteten, hier
und da wohl auch thatsächlich bestehenden Wider¬
stand Seitens der Schulmänner mit Leichtigkeit über¬
winden und eine überaus segensreiche Thätigkeit ent¬
falten muss zum Segen der heran wachsenden Jugend!
Zur Regresspflichtigkeit des medizinischen Gutachters.
Eine Hittbeilung aus der Praxis, von Dr. Meyhoefer, Kreisphysikus in Görlitz.
Nachstehendes Erlebniss, welches nachweist, in welche fatale
Lage man auch bei gewissenhafter Ausstellung eines Gutachtens
gerathen kann, dürfte den Herren Kollegen nicht uninteressant
sein. Häufen sich doch von Jahr zu Jahr die Anforderungen,
welche von Behörden und Berufsgenossenschaften an die Sachver-
8tändigenthätigkeit gerade der Medizinalbeamten gestellt werden.
Am 15. Juni 1891 wurde mir von dem Königl. Eisenbahn-
Betriebsamt Cottbus der Knecht H. zur Untersuchung zugeschickt,
welcher am 19. Juli 1890 einen Eisenbahnunfall erlitten hatte.
Als derselbe mit einem Fuhrwerk durch den unverschlossenen Ueber-
gang den Bahndamm erreicht hatte, war ein Zug vorbeigebraust,
hatte die Pferde getödt^t, den Wagen zur Seite und den darauf
sitzenden H. zu Boden geschleudert. Die unmittelbare Folge dieser
Verletzung war eine ausgedehnte Quetschung der Lenden- und
Bauchmuskulatur der linken Seite gewesen, welche Erscheinungen
hervorgebracht hatte, die unter ärztlicher Behandlung bald zurück¬
gegangen waren. Es waren aber Störungen von Seiten des Ma¬
gens zurückgeblieben, welche sich allmählich gesteigert hatten.
Da der H. vorher nach dieser Richtung stets gesund gewesen sein
sollte, so hatte der behandelnde Arzt Dr. S. die Magenbeschwerden
auf den vorausgegangenen Unfall bezogen und den Verletzten
6 Wochen als vollständig, 6 weitere Wochen als halb erwerbsfähig
erklärt; von da ab wurde ihm eine Erwerbsfähigkeit von 75 Proz.
und eine Monatsrente von 10 Mark zuerkannt.
Diese Einzelheiten sind mir erst später bekannt geworden,
zur Zeit der Untersuchung am 15. Juni 1891 war ich bezüglich
der Anamnese im Wesentlichen auf die Aussagen des H. angewiesen
166
Dr. Meyhoefer.
Bei dieser Untersuchung fand ich in demselben einen Mann
von gutem Ernährungszustände, gesunder Gesichtsfarbe und ohne
alle und jede nachweisbare krankhafte Veränderungen. Insbeson¬
dere war seine Zunge rein und bot die Besichtigung und Betastung
der Magengegend irgend etwas Auffälliges nicht dar. H. klagte
über Appetitlosigkeit und häufige Magenschmerzen, wodurch es ihm
schwer werden sollte, seine Arbeit zu leisten.
Im Uebrigen erschien derselbe bei mir im Arbeitsanzuge, und
auf meine Frage, welche Arbeit er denn verrichte, erklärte er mir,
„dieselbe wie früher“. Er sagte weiter aus, dass er nach wie
vor „mit Pferden fahre“.
Ich bemerke auch noch, dass ich ihn zunächst zu einem Termin
auf den Tag vorher bestellt hatte, dass er aber durch seinen Herrn
schriftlich entschuldigt worden war mit der Begründung, dass an
diesem Tage die Arbeit besonders dränge.
Mein Gutachten ging dahin, dass ich bei dem nach jeder Rich¬
tung negativen Befunde keinen Anhalt dafür hätte entnehmen
können, dass der H. nicht voll arbeitsfähig sein sollte.
Einige Zeit darauf wurde mir von dem Betriebsamt ein am
30. Juni ausgestelltes Gutachten des behandelnden Arztes zuge¬
schickt mit dem Ersuchen, mich zu äussern, ob ich nach Kennt-
nissnahme von demselben bei meiner Erklärung stehen bleiben
wolle. In diesem Gutachten wurde gesagt, dass die Gesichtsfarbe
des H. eine krankhafte, seine Zunge belegt, die Magengegend
„geschwollen“ und er nur theilweise arbeitsfähig wäre. Da ich
von diesen Symptomen keines bemerkt hatte, musste ich natürlich
bei meiner Ansicht beharren.
Sehr erstaunt war ich nun, als ich geraume Zeit darauf, am
28. April v. J., ein Schreiben von dem Königl. Eisenbahn-Betriebs¬
amt erhielt, in welchem dieses mir mittheilte, dass es gestützt
auf mein Gutachten dem H. die Rente entzogen hätte, dass H.
aber klagbar geworden wäre und bei dem Landgericht Cottbus ein
obsiegendes Erkenntniss erstritten hätte, dass nunmehr das Betriebs¬
amt mich für die ihm entstandenen Kosten haftbar machen müsste,
da ich es bei der Ausfertigung meines Gutachtens an der erfor¬
derlichen Aufmerksamkeit hätte fehlen lassen. „Der Abgabe des
Gutachtens,“ so wurde ausgeführt, „kann unseres Erachtens eine
eingehende Untersuchung des Klägers nicht vorangegangen sein,
da sonst der chronische Magenkatarrh an der Hand der vom Pa¬
tienten gemachten Angaben hätte entdeckt werden müssen.“ Nach
§§. 219, 220, Theil I, Titel 13 des Allgemeinen Landrechts hafte
ein Sachverständiger, wenn er in Angelegenheiten seiner Kunst
oder Wissenschaft gegen Bezahlung oder Belohnung Rath ertheile,
für ein mässiges Versehen. Ein mässiges Versehen heisse aber
dasjenige, welches bei einem gewöhnlichen Grade von Aufmerk¬
samkeit vermieden werden konnte (§. 20, Theil I, Titel 3 a, a. 0.).
Da ich nun die übliche Belohnung in Höhe von 6 Mark er¬
halten hatte, sollte ich meine Bereitwilligkeit erklären, die „nicht
unerheblichen Kosten“, welche durch das Prozessverfahren dem
Betriebsamt erwachsen waren, zu erstatten. „Dieselben betragen,“
Zur Regresspflichtigkeit des medizinischen Gutachters.
167
so hiess es in dem Schreiben, „für unsere Vertretung durch einen
Rechtsanwalt 113,40 Mark, die dem Gegner zu erstattenden Rechts¬
anwaltkosten sind uns noch nicht bekannt, werden aber ungefähr
dieselbe Höhe erreichen. Dazu treten noch die einstweilen von
der Gerichtskasse verauslagten Gebühren der Zeugen und Sach-
Aerständigen.“
Da ich das an mich gestellte Ansinnen ablehnte, so reichte
das Betriebsamt die Klage bei dem hiesigen Landgericht gegen
mich ein, welches, wie vorauszusehen war, beschloss, ein Obergut¬
achten von dem Medizinal-Kollegium der Provinz einzuholen.
Des erheblichen allgemeinen Interesses wegen lasse ich den
hauptsächlichen Inhalt dieses Obergutachtens nachstehend wörtlich
folgen.
„Die vorliegende Klage gegen den Kreisphysikus Dr. Meyhoefer stützt
sich wesentlich auf die Anschauung, dass das von demselben am 15. Jnni 1891
erstattete Gutachten in Folge Mangels an Anfmerksamhcit so oberflächlich und
ungenau abgefasst worden sei, dass dadurch der Eisenbahnfiskus irregeführt
warde. Wer das betreffende Dr. Meyhoefer’sche Gutachten ohne Kenntniss
der übrigen Akten durchliest, wird bei strenger Kritik nichts Anden, was eine
derartige Auffassung rechtfertigen könnte. Das Gutachten ist zwar kurz, be¬
rücksichtigt aber in sachlicher und dabei ganz bestimmter Weise die wesent¬
lichen Punkte, welche nach den von H. vorgebrachten Klagen in’s Auge zu
fassen waren. Die ungünstige Kritik des betreffenden Gutachtens konnte somit
nur auf Grund der Differenzen zwischen demselben und den Aussagen des Dr. S.
gefällt werden. Und da der weitere Verlauf der Sache dem Letzteren Recht
gegeben hat, so konnte wohl mit Recht der Verdacht entstehen, dass Dr. Mey¬
hoefer leichtfertig geurtheilt habe. Wir müssen hier darauf hinweisen, dass
es zu den häufigen Vorkommnissen gehört, dass in ärztlichen Gutachten von
verschiedenen Personen ausgesprochene Meinungen wesentlich von einander diffe-
riren, ja nicht selten einander gegenüberstehen, ohne dass man das Recht hätte,
dem einen oder andern Arzt den Vorwurf der Leichtfertigkeit zu machen. Selbst
bei krankhaften Zuständen, deren Symptome objektiv leicht und sicher nachzu¬
weisen sind, ist oft eine verschiedene Auffassung in der Bedeutung dieser Symp¬
tome möglich; umsomehr wird dies der Fall sein, wenn gar keine greifbaren,
objektiv sicheren Erscheinungen vorliegen, wie es zweifellos beim E. H. der
Fall war.
Die Differenz im Urtheil der beiden Sachverständigen gestattet somit an
und für sich keinen Schluss in Betreff der von denselben angewendeten Sorgfalt.
Wenn wir auf die Differenzen in Bezug auf die thatsächlichen Angaben
der beiden Sachverständigen eingehen, so können wir nur folgende Punkte als
wesentlich ansehen.
1. Dr. Meyhoefer sagt aus, der p. H. sei ein kräftiger Mann in gutem
Ernährungszustände, während Dr. S. ihn als abgemagert, von gelblichgrauer
Gesichtsfarbe bezeichnet.
2. Dr. Meyhoefer sagt, die Magengegend zeige sowohl bei der Be¬
sichtigung als bei der Betastung keine krankhaften Veränderungen, Dr. S. da¬
gegen, dass die Magengegend geschwollen und druckempfindlich sei.
3. Dr. Meyhoefer sagt, die Zunge des H. sei rein, während Dr. S.
angiebt, dieselbe habe bei allen Untersuchungen einen weisslichen festen Belag
gehabt.
Hierzu ist zu bemerken, und zwar
ad 1. Die Beurtheihing des Ernährungszustandes eines Menschen ist
Sache einer Schätzung, die namentlich bei Personen, die nur einmal und vorüber¬
gehend gesehen werden, bei denen also der Vergleich mit einem früheren Er¬
nährungszustand fehlt, keinen Anspruch auf besondere Genauigkeit haben kann.
Ebenso verhält, es sich mit der Angabe über die Gesichtsfarbe. In Betreff der
letzteren ist es übrigens ganz gut denkbar, dass die beiden Aerzto den H. in
relativ verschiedenem Zustande gesehen haben, denn es lag ein Zeitraum von
2 Wochen zwischen der Untersuchung des Dr. Meyhoefer und der nächstfol¬
genden des Dr. S.
168
Dr. Rother: Masern und Rüthein.
ad 2. Dasselbe lässt sich über den Befund an der Magengegend sagen.
Dass die Magengegend „geschwollen“ gewesen sei, wie Dr. S. angiebt, ist auch
nur auf eine ungefähre Schätzung zu beziehen, die für die Diagnose eines
Magenleidens nicht den geringsten positiven Anhaltspunkt giebt. Die Druck-
einpfindlichkeit der Magengegend hat dagegen Dr. Meyhoefer nicht über¬
sehen, er führt sie nur unter den subjektiven Beschwerden an, die er eben anders
gedeutet hat, als Dr. S.
ad 8. Hier widersprechen sich zwei positive, eindeutige Angaben. Wenn
man die betreffende Angabe des Dr. Meyhoefer beanstandet, so beschuldigt
man ihn, wissentlich eine falsche Aussage gemacht zu haben. Dazu liegt aber
kein Grund vor, denn der H. kann doch wohl am 15. Juni 1891 eine reine, und
2 Wochen später eine belegte Zunge gehabt haben.
Es muss zum Schluss noch nachdrücklich hervorgehoben werden, dass Dr. S.
in keiner seiner Aussagen durch objektive Symptome ein Magonleiden bei H.
wissenschaftlich festgestellt hat. Er giebt auch keine präzise wissenschaftliche
Diagnose, sondern beschränkt sich auf vage Angaben, welche keineswegs ein
Urtheil über die Art des Magenleidens gestatten. Es sei hier bemerkt, dass
eine genaue Diagnose von Magenkrankheiten oft zu den schwierigsten Aufgaben
der Diagnostik gehört und meist nur mit Hülfe von schwierigen und kompli-
zirten Methoden zu stellen ist, die hier von keinem der beiden Aerzte ange¬
wandt worden sind.
Aus dem Gesagten ergiebt sich die Beanwortung der an uns gestellten
Fragen wie folgt:
1. Es lässt sich nach den Akten als wahrscheinlich annehmen, dass der
Knecht H. an einem chronischen Magenübel leidet; ein sicherer wissenschaft¬
licher Nachweis ist aber hierfür nicht erbracht.
2. Ob der H. am 15. Juni 1891 an diesem Magenübel gelitten hat, lässt
sich nicht bestimmen.
3. Noch weniger lässt sich behaupten, dass Dr. Meyhoefer an jenem
Tage das vorausgesetzte Magenleiden erkennen musste, wenn er den gewöhn¬
lichen Grad von Aufmerksamkeit angewendet hätte.“
Ist es wohl einem der Herren Kollegen bei Abgabe eines
Gutachtens, welches mit dem von einem anderen Sachverständigen
erstatteten nicht üboreinstimmte, schon einmal in den Sinn ge¬
kommen, dass er für den Ausgang eines Prozesses civilrechtlich
verantwortlich gemacht werden könne? Soll es vielleicht gar
noch möglich werden, dass bei dissentirendem Ausspruch der eine
der beiden Gutachter sich gegen die Beschuldigung der „wissent¬
lich falschen Aussage“ zur Wehr setzen müsste?
Fürwahr: Difftcile satyram non scribere!
Masern und Rötheln.
Von Kreisphysikus Dr. R. Rother in Falkenborg O./Sehl.
Zur Frage der Selbstständigkeit der Rötheln, welche von
einigen Autoren noch immer für modifizirte Formen von Scharlach
oder Masernangesehen werden, möchte auch ich, nachdem diese Ange¬
legenheit durch den Kollegen Flatten angeregt worden ist, einen
Beitrag liefern, welcher wohl an Beweiskraft für die Selbstständig¬
keit des akuten Exanthems nichts zu wünschen übrig lassen dürfte.
Im April 1890 überfiel unser kleines Landstädtchen das
Scharlachfieber und hauste in bösartiger Weise bis Ende
November.
Im Oktober desselben Jahres rückten die Masern ein und
überzogen in ruschem Fluge den Ort. Den Höhepunkt erreichte
die Epidemie im November; sie erlosch Anfang Januar 1891.
Zur Frage der Entmündigung der Geisteskranken etc.
169
Mitte Februar 1891 wurde plötzlich der Wiederausbruch der
Masern gemeldet und zwar in solcher Ausbreitung, dass eine amt¬
liche Untersuchung angeordnet wurde. In den zahlreich betroffenen
Familien waren die Kinder ohne vorherige auffallende Krankheits¬
erscheinungen von einem masernähnlichen Ausschlage befallen wor¬
den. Kleinfleckiger Ausschlag, zerstreut, ohne Neigung zu kon-
fluiren, ohne febrile oder katarrhalische Erscheinungen trat plötz¬
lich hervor.
Sämmtliche Kinder, die ich untersuchte, hatten entweder in
früheren Jahren oder während der eben abgelaufenen Epidemie
die Masern überstanden. In wenigen Tagen waren die Kinder
völlig genesen. Kurzum, es bestand und entwickelte sich eine
ausserordentlich ausgebreitete Epidemie der Rötheln.
Es war interessant zu beobachten, wie in zahlreichen Fami¬
lien die Kinder in rascher Aufeinanderfolge die sog. Kinderkrank¬
heiten: Scharlach, Masern und Rötheln, glücklicher Weise in dieser
Abstufung zur milderen Krankheitsform, jedoch ohne Beeinträch¬
tigung des charakteristischen Krankheitsbildes überstanden.
Zur Frage der Entmündigung der Geisteskranken und deren
Unterbringung in eine Irrenanstalt.
Der im Juli vorigen Jahres veröffentlichte und mit zahl¬
reichen Unterschriften, — darunter auch mit denjenigen mehrerer
Rechtsgelehrten, Professoren, Mitglieder des Preussischen Herren-
und Abgeordnetenhauses — versehene Aufruf 1 ), betreffs Reform
der Irrengesetzgebung, hat der Aerztekammer der Provinz Pommern
Veranlassung gegeben, in ihrer am 17. Februar d. J. stattgehabten
Sitzung die Frage der Entmündigung der Geisteskranken und die
Aufnahme derselben in eine Irrenanstalt einer Besprechung zu
unterziehen. Dieselbe wurde von Herrn Med.-Rath Dr. Siemens
(Lauenburg) durch nachstehendes Referat eingeleitet:
M. H.! Der Verein der Aerzte des Reg.-Bez. Stettin hat unsere Aerzte-
k&mmer ersucht, den Bestrebungen ihr Augenmerk zuzuwenden, welche sich in
einem Aufruf 1 ) kundgeben betreffend die Entmündigung von Geisteskranken
und ihre Unterbringung in Irrenanstalten. Wenn Jemand, m. H., der den Stand
der Sache nicht genau kennt, die Eingangsworte dieses Aufrufs und die weitere
Ausführung liesst, so muss er den Eindruck haben, dass das Irrenwesen und die
rechtlichen Verhältnisse der Geisteskranken bei uns auf einer bedenklich schlech¬
ten Stufe stehen. Der Willkür, dem Irrthum und der bösen Absicht ist nirgends
ein so grosser Spielraum gewährt, als auf dem rechtlichen Gebiet der Irrsinns¬
erklärung! Dem als geisteskrank Angeschuldigten ist die Vertheidigung nahezu
unmöglich gemacht, dem im Irrenhaus Begrabenen ist sie vollkommen genommen!
Das müssen ja furchtbare Zustände bei uns sein.
Eine solche Uebertreibung richtet sich selbst. Mit derselben Berechtigung
könnte man aus der Thatsache, dass zuweilen Unschuldige vom Gericht oder den
Geschworenen verurtheilt werden, folgern, dass in unserer Kriminalrechtspflege
dem Irrthum, der Willkür und der bösen Absicht ein grosser Spielraum gewährt
sei. Dies ist aber, wie alle Einsichtigen wissen, so wenig der Fall wie Jenes,
und es ist daher die Fassung des Aufrufs geeignet, in weiteren Kreisen falsche
Anschauungen über das Irrenwesen und die rechtlichen Verhältnisse der Geistes-
*) Derselbe ist in dieser Zeitschrift, Nr. 14; Jahrgang 1892, Seite 370
abgedruckt.
170
Zur Frage der Entmündigung der Geisteskranken etc.
kranken zu verbreiten, und Richter und Aerzte in der Achtung der Leute
herabzusetzen.
Dies ist der erste Vorwurf, den wir den Unterzeichnern des Aufrufs
machen müssen, mehr in formeller Hinsicht. Wir verwahren uns dagegen, dass
so etwas in die Welt hinausgerufen wird.
Sehen wir nun zu, wie es mit der materiellen Berechtigung des Aufrufs
steht. Die Beispiele, welche die behaupteten Missstände beweisen sollen, sind
alle höchst zweifelhafter Natur; bei einigen der angeführten Leute handelt es
sich sicher um Geisteskranke. So wurde der Letzte, de Jon ge, kurz nachher
von der Anklage der Beleidigung wegen vorliegender geistiger Störung vom
Gericht freigesprochen! Alle diese Leute aber haben in und ausserhalb der
Irrenanstalt — falls sie in einer solchen gewesen sind — ihre Rechte ausgiebig
wahren können, es hat ihnen an dem Schutz der Oetfentlichkeit, an berufenen
und unberufenen Vertheidigern nicht gefehlt, und über sie uud von ihnen selbst
sind ganze Stösse von Broschüren und Zeitungsartikeln geschrieben worden.
Entsprechend ihrem meist nahe der Grenze zwischen geistiger Gesundheit
und Krankheit liegenden Zustand ist die Beurtheilung dieser Fälle naturgemäss
eine schwierige; die Gutachten mögen sich daher mitunter widersprochen haben,
je nach ihrer genaueren oder mangelhafteren Kenntniss der betreffenden Zu¬
stände. Die Parteinahme der Laien für oder wider hängt zum Theil von ausser¬
halb der wissenschaftlichen Beurtheilung liegenden Gründen ab, es haben
Farailieninteressen oder Rücksichter anderer Art, auch wohl die Parteipolitik
und der Eigennutz mitgcspielt. Aus diesen wenigen Beispielen streitiger Art
(streitig z. Th. nur für die Laien) so schwerwiegende allgemeine Vorwürfe gegen
die Irrenanstalten, gegen die Richter und die sachverständigen Aerzte herzu¬
leiten, dazu haben die Unterzeichner des Aufrufs keine Berechtigung.
Es ist vor einigen Jahren vom Vorstand des Vereius der deutschen
Irrenärzte eine Enquete veranstaltet worden darüber, ob in Deutschland Fälle
von widerrechtlicher Einsperrung geistig Gesunder in Irrenanstalten zur Kennt¬
niss gekommen oder Gegenstand amtlicher Erörteruug gewesen seien — es hat
sich kein einziger Fall der Art ermitteln lassen. Auch für Oesterreich hat der
verst. Prof. Schleger die wenigen Fälle, welche zum Gegenstand von Angriffen
gegen die Irrenanstalten wegen angeblicher widerrechtlicher Einsperruug ge¬
macht, und welche von den Behörden untersucht wurden, als solche erwiesen,
in welchen ein inkorrektes Vorgehen der Irrenanstaltsbeamten nicht vorlag, und
es ist dies auch von den Behörden anerkannt worden. (Allg. Zeitschr. f. Psycli.
Band XXXX S. 1.)
Dass die Gesetzgebung Sicherheitsmassregeln ergreift, damit eine solche
Freiheitsberaubung nicht Vorkommen kann, ist in der Ordnung, und auch bei
uns fehlen solche gesetzlichen Vorschriften nicht. Es fehlt auch nicht an staat¬
licher Beaufsichtigung der Irrenanstalten. Dass letztere noch anders uud besser
gehandhabt werden kann, soll zugegeben werden. Es kann hinsichtlich der
staatlichen Kontrole der Irrenanstalten noch mehr gethan werden. Es wird dem
ganzen Irrenwesen nur zum Vortheil gereichen, wenn die oberen Staatsbehörden
sich mehr darum kümmern, und die Aerzte an den Anstalten werden sich am
meisten freuen, wenn einmal die ganze Irrenversorgung nach grossen allgemeinen
Gesichtspunkten einheitlich im Staate behandelt wird, und wenn in alle klein¬
lichen, unpraktischen uud unzureichenden Verhältnisse energisch hineiugeleuchtet
und bessernd eingegriffen wird.
Gerade von irrenärztlicher Seite ist wiederholt und öffentlich gefordert
worden, dass besondere staatliche Aufsichtskommissionen für die Irrenanstalten
eines Bezirks eingesetzt würden, welche öftere und eingehende Revisionen vor¬
zunehmen hätten. Sie werden am besten aus einem erfahrenen und psychiatri¬
schen Fachmann, einem Verwaltungsbeamten bezw. Juristen und — für die
baulichen Angelegenheiten — aus einem Techniker zu bestehen haben. Auch
an der Centralstelle, im Ministerium, sollte ein psychiatrischer Fachmann
als Berather des Ministers und Dezernent für diese Angelegenheiten vor¬
handen sein.
Aber durch alle diese Reformen werden die Unterzeichner des Aufrufs
schwerlich befriedigt werden. Insbesondere ist es nicht wahrscheinlich, dass die
bewährten und völlig ausreichenden gesetzlichen Bestimmungen über die Ent¬
mündigung Geisteskranker, welche ich hier als bekannt voraussetze, dahin un-
geändert werden, dass eine Laienkommission über die Irrsinnserklärung befindet.
Zur Frage der Entmündigung der Geisteskranken etc.
171
Die Herren unterschätzen die technischen Schwierigkeiten einer solchen gericht¬
lich-psychologischen Expertise — von den unzweifelhaften Fällen abgesehen,
bei denen jeder verständige Mensch den Irrsinn sogleich erkennt. Und oft, sehr
oft ist Gefahr im Verzugo! Wie viel Vermögen ist schon verloren gegangen
oder vergeudet worden, weil die Geistesstörung des Besitzers nicht rechtzeitig
erkannt und weil nicht rechtzeitig dem Kranken die Verfügung über sein und
der Seinigen Besitz entzogen wurde! Und nun soll dies Verfahren noch so un¬
endlich erschwert werden!?
Auch in Bezug aut die zweite Forderung des Aufrufs, dass die Ent¬
scheidung üher jede Unterbringung in Irrenanstalten von der Laienkommission
gegeben werden soll, dürfte eine Reform des Irrenwesens den Unterzeichnern
nicht entgegenkommen. Im Gegentheil! Die Tendenz einer verständigen Ver-
waltungsgesetzgebung muss dahin zielen, die Aufnahmebedingungen der Irren¬
anstalten zu erleichtern, die Anstalten immer mehr zu dem zu machen, was sie
eigentlich sind, zu Krankenhäusern! Ich brauche hier vor Aerzten nicht daran
zu erinnern, dass die Aussichten auf Heilung bei den Geisteskranken um so
günstiger sind, je eher die Kranken aus den Verhältnissen, in denen sie erkrankt
sind, unter sachverständige Behandlung und in eine Anstalt gebracht werden.
Bei manchen Universität« - Irrenkliniken ist man schon soweit gegangen, dass zur
Aufnahme ein einfaches ärztliches Attest genügt, wie es in jedem Krankenhause
verlangt wird. Wieviel Unglücksfälle, wieviel Selbstmorde, wieviel Fälle von
Unheilbarkeit sind nicht dem erschwerten, verschleppenden Aufnahmeverfahren
zur Last zu legen!
Man erleichtere also die Aufnahmebedingungen noch mehr und ersetze das
Freigegebene durch eine intensivere Kontrole der Anstalten in der oben ange¬
deuteten Weise! Das wird den Anstalten wie den Kranken nützen. —
Gestatten Sie mir nun noch, m. H., einige kurze Bemerkungen. Wenn
man die Namen der meisten Unterzeichner des Aufrufs betrachtet und die
Zeitungen, in welchen der Aufruf zuerst erschien, und dann weiter diejenigen
Zeitungen, welche im Verlauf der Diskussion die schärfsten Angriffe gegen die
Anstalten, und die Richter und Sachverständigen richteten, so verkennt man
nicht, dass die ganze Bewegung nicht ganz frei von Parteipolitik ist. Hoch-
konservative, orthodox-kirchliche, antisemitische und sozialdemokratische Organe
sind es vorzugsweise, welche die Angriffe enthalten. Wir denken nicht daran,
den Angreifern auf das politische Gebiet zu folgen; zu bedauern bleibt es, dass
solche Dinge, welche doch eigentlich an sich mit Politik nichts zu thun haben,
je nach der Parteirichtung so oder so behandelt werden.
Nur eine Gruppe unserer Gegner möchte ich ein wenig beleuchten, das
ist die orthodox-kirchliche. Sie wissen, dass die Erörterungen über Irrsinns¬
erklärung und Irrenanstalten eingeleitet wurden durch einen heftigen Angriff
des Herrn Stöcker im Landtage, und dass Herr Stöcker auch unter dem
Aufruf steht als Hauptagitator.
Herr Stöcker und die Herren von der evangelisch-orthodoxen innem
Mission sind ja überhaupt auf die Aerzte und die ärztliche Leitung der Irren¬
anstalten nicht gut zu sprechen. Die innere Mission hält dafür, und Herr Pastor
von Bodelschwingh spricht es klar und offen aus, dass die Pflege und Be¬
handlung der Geisteskranken nicht Sache der Aerzte, sondern Aufgabe der
Kirche, der Geistlichkeit sei. Die innere Mission hat daher beschlossen und den
Beschluss bereits thatsächlich hier und da ausgeführt, selbst Heil- und Pflege¬
anstalten zu errichten, welche unter geistiger Leitung stehen. Dass schon viele
Anstalten unter geistlicher Leitung bestehen für Idioten, Epileptische u. s. w.,
wissen Sie; in ihnen wird überall jetzt tapfer gebaut, auch für Geisteskranke,
und manche Provinzial-Verwaltungen (auch unsere) haben nach dem Erlass des
Gesetzes vom 11. Juni 1891 über die erweiterte Armenpflege ihnen reiche
Mittel gegeben zu Neu- und Erweiterungsbauten. Dass in diesen Anstalten der
Arzt gar keine oder doch nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt, ist selbst¬
verständlich. Herr von Bodelschwingh will seinem eigenen Ausspruch nach
(vergl. Verh. d. I. Konferenz deutscher evang. Irrenseelsorgcr) „die ärztliche
Hülfe nur insoweit in Anspruch nehmen, als dieselbe für die mit den Seelen¬
krankheiten verbundenen leiblichen Krankheiten nöthig ist“, — denn „der nackten
(so sagt v. B.) medizinischen Wissenschaft fehlen gewaltige Faktoren sowohl
zur Beurtheilung der Geisteskrankheiten, als zu deren vollständigen Heilung;
sie rechnet nicht mit Sünde und Gnade, Gebet und Glauben, Heiligung und Er-
172
Zur Frage der Entmündigung der Geisteskranken etc.
lösung.“ (Verh. d. IL Conf.) — Herr von Bodelschwingh hat den Grund¬
satz: „Im Allgemeinen kann gesagt werden, dass je weniger der leibliche Arzt
seine medizinischen Mittel bei den Geisteskranken anwendet, desto besser ist es.
Dieselben wirken in den meisten Fällen nur schädigend auf Leib und Seele.
Der leibliche Arzt kann aber immerhin manche gute Hülfe auch in der Seelen¬
pflege bieten. Demnach ist die Behandlung der kranken Seele die Hauptsache,
und diese sollte nicht in erster Linie oder gar allein dem Arzte zustehen.“
(Verh. d. I. Conf.) —
Sie sehen, m. H., die klare Tendenz der Herren geht dahin, den Aerzten
die Leitung und wesentliche Mitwirkung bei der Heilung und Pflege der Geistes¬
kranken aus der Hand zu nehmen und den geistlichen Organen zu überantworten.
Ob dadurch das wahre Wohl der Kranken gefördert wird, müssen wir bezweifeln;
man denke nur an die bekannt gegebene Auffassung der Geisteskrankheiten als
Ausfluss der Sünde und als Besessenheit, an den bei den orthodoxen Herren
noch vorherrschenden Dämonen- und Teufelsglauben, — aber das will ich hier
nicht weiter untersuchen; ich hoffe an anderer Stelle bald die Gelegenheit dazu
zu finden.
Aber eine Frage müssen wir doch thun, mit Rücksicht auf den Aufruf,
mit dem wir uns hier beschäftigen. Wie steht es in den pastoralen Anstalten
mit der staatlichen Kontrole und mit dem Schutz der persönlichen Freiheit der
Internirten? Denn interniren wollen und müssen doch die Herren Pastoren die
unruhigen und gefährlichen Kranken auch, ganz ebenso wie alle anderen Irren¬
anstalten!? Sie sehen hier, m. H., ein Flugblatt des Herrn von Bodel¬
schwingh, Mittheilung Nr. 89, Magdala. Er spricht seine Freude aus und
dankt Gott, jetzt ein festes Haus zu haben mit versicherten Thüren und Fenstern
und mit einer hohen Mauer umgeben, in welchem weibliche Gemüthskranke
untergebracht werden können, ohne die Gefahr, dass sie sich entfernen können,
und er bittet Gott, dass Er ihm sobald wie möglich auch für männliche Kranke
eine solche Zufluchtstätte schenken möge. Er sei im Laufe der Jahre zu seinem
Kummer öfter genöthigt gewesen, solche Kranke seiner Anstalt, bei denen ein
schweres Gemüthsleiden sich zeigte, und die auch wohl für längere Zeit in Tob¬
sucht verfielen, in eigentlichen Irrenanstalten unterzubringen, weil es an einem
Hause mit festen Mauern und versicherten Fenstern und Thüren gebrach. Das
sei jetzt nicht mehr nöthig, er könne sie jetzt selbst unterbringen.
Soll nun über die Einsperrung von Kranken in diesen Häusern auch erst
eine Laienkommission urtheilen ? 0 nein, daran denkt Niemand. Diese, wie alle
pastoralen Anstalten bis jetzt, beaufsichtigt und kontrolirt man nicht. Den
Regierungen ist es in das diskretionäre Ermessen gestellt (vergl. Minist.-Erlass
vom 4. Juni 1873), sie machen aber für gewöhnlich keinen Gebrauch davon.
Wollte der Kreisphysikus da einmal revidiren, käme er schön an. 1 )
Wo bleibt hier nun die Gleichheit vor dem Gesetz? Diese eingesperrten
Kranken haben doch auch ihre Rechte; wer wacht denn nun über diese? Hier
bleibt noch viel nachzuholen, und hoffentlich dringen die Unterzeichner des Auf¬
rufs mit uns darauf, dass es geschieht.
Wir aber, m. H., erkennen die Vorwürfe, welche der Aufruf gegen Aerzte
und Richter schleudert, nict als gerechtfertigte an, wir verwahren uns dagegen.
Ich bitte Sie daher nachfolgenden Antrag anzunehmen:
„Die Pommersche Aerztekammer legt Verwahrung ein gegen den in einer
Anzahl von Zeitungen verbreiteten Aufruf betreffend die Aufnahme von Geistes¬
krankheiten in Irrenanstalten und die Entmündigung derselben, und ersucht
ihren Vorstand, ein gemeinsames Vorgehen aller Aerztekammer gegen diese Be-
*) Der Referent befindet sich hier in einem grossen Irrthum: Die von
Bodelschwing’sehen Anstalten bei Bielefeld werden genau so revidirt, wie
alle anderen Kranken- und Irrenanstalten im hiesigen Regierungsbezirke. Der
Leiter jener Anstalten hat auch bisher noch niemals irgend welche Schwierigkeiten
bei diesen Revisionen bereitet, sondern im Gegentheil den Medizinalbeamten
wie der Aufsichtsbehörde gegenüber stets das grösste Entgegenkommen gezeigt.
Ebenso unterliegt das Aufnahmeverfahren in der obengenannten Anstalt Magdala
für weibliche Geisteskranke den in dem Ministerialerlass vom 19. Januar 1888
gegebenen Vorschriften. Desgleichen ist <lie ärztliche Behandlung dieser Kranken
einem erfahrenen Irrenarzte übertragen, der lange Zeit hindurch als Assi¬
stenzarzt der La ehr’schen Irrenanstalt Schweizerhof bei Zehlendorf fungirt hat.
Bpd.
Die diesjährigen Verhandlungen des preusg. Abgeordnetenhauses etc. 173
strebongen herbeizuführen. Insbesondere ist die Zuziehung von Laienkommissio¬
nen zur Beurtheilung der Nothwendigkeit auf Unterbringung in Irrenanstalten
oder der Entmündigung entschieden abzulehnen.“
Die vorstehenden Ausführungen werden voraussichtlich bei
allen Aerzten und Medizinalbeamten die gleiche Zustimmung finden
wie in der Pommerschen Aerztekammer, die den vom Referenten
gestellten Antrag einstimmig angenommen hat. Unseres Erachtens
würde es ein schwerer Fehler sein, die Aufnahmebedingungen in
eine Irrenanstalt noch zu verschärfen, hier ist eher eine Erleich¬
terung angezeigt; dagegen müsste die staatliche Kontrole der Privat¬
anstalten eine viel schärfere sein, üb das Letztere aber durch die
von dem Referenten wie von der Wissenschaftlichen Deputation in
Vorschlag gebrachte Einrichtung von besonderen „Revisionskommis¬
sionen“ (8. den nachstehenden stenographischen Bericht über die am
5. März d. J. stattgehabte Sitzung des Abgeordnetenhauses) erreicht
werden wird, dürfte sehr zweifelhaft sein. Derartige Kommissionen
arbeiten viel zu schwerfällig und können eigentlich nur für Super¬
revisionen, aber nicht für die erforderliche stete Kontrole in Frage
kommen; diese wird nach wie vor in erster Linie den zuständigen
Medizinalbeamten verbleiben müssen.
Die diesjährigen Verhandlungen des preussischen Abgeord¬
netenhauses Uber den Medizinaletat.
2. Die Unterbringung von Geisteskranken in Privat - Irrenanstalten
und Beaufsichtigung dieser Anstalten.
(Sitzung vom ö. März.)
Abg. Stoecker: -Indess das ist es nicht, wozu ich mir das
Wort erbeten habe; ich wollte vielmehr auf eine Angelegenheit zurückkommen,
die ich schon in der vorigen Session berührt habe. Das ist die Irrensache, die
während des letzten Jahres in der Presse, im öffentlichen Leben so vielfach
erörtert worden ist. Eine ganze Anzahl von Prozessen, auf die ich nicht im
einzelnen eingehen mag, haben herausgestellt, dass hier Punkte sind, welche
mit den Anforderungen, die man an einen Rechtsstaat zu stellen hat, nicht im
Einklang stehen, Punkte, die auch mit den Pflichten einer christlichen Gesell¬
schaft im Widerstreit sind. Wir haben aus gerichtlichen Verhandlungen gesehen,
dass Leute, die keineswegs den Eindruck von Irren machten, in Irrenhäuser ein¬
gesperrt worden sind auf den leichtesten Verdacht hin. Es hat sich klar her-
ausgestellt, dass es unrecht war, sie einzusperren. Ein Gutachten des Arztes,
auf Grund dessen die Einsperrung geschah, ist von den Richtern selbst für ein
leichtfertiges erklärt. Landgerichte haben die Erkenntnisse von Amtsgerichten
kassirt, unter den schwersten Beschuldigungen gegen die Rechtsprechung und
gegen das medizinische Gutachten. Ich brauche das nur zu erwähnen, um all¬
gemein das Gefühl zu erwecken, dass es angezeigt ist, die Königliche Staats¬
regierung zu fragen, wie sie diese Sache auffasst.
Ich möchte besonders drei Punkte betonen; erstens: lässt sich keine
Aenderung schaffen, dass bei der grossen Unsicherheit der Irrenheilkunde, bei
der grossen Unwissenheit mancher Aerzte, bei dem Widerstreit der Meinungen,
wo oft ein Sachverständiger gegen den andern steht, mit grösserer Sorgfalt
schon bei dieser medizinischen Begutachtung verfahren wird? Das zweite:
sollte es nicht möglich sein, die Irrenhäuser einer besseren Aufsicht zu unter¬
werfen? Wir haben Verhältnisse vor Augen gehabt, dass Leute, die sich für
unschuldig und grundlos eingesperrt hielten, Monate lang im Iirenhause ver¬
weilen mussten, ohne dass sie Gelegenheit hatten, ihre Beschwerden zur Sprache
zu bringen.
Ich meine, das darf nicht sein in einer Gesellschaft, der die persönliche
Freiheit das höchste politische Gut ist. Ist das so, so muss die persönliche
174 Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc.
Freiheitsberaubung so schwer gemacht sein, dass nur in äussersten Ausnahme¬
fällen ein Missbrauch damit getrieben werden kann. Und doch haben wir jetzt
vielfach das Gegentheil davon vor Angen.
Man hat in anderen Staaten die Gegenmittel dagegen gesucht und ge¬
funden. In unserem Nachbarlande Sachsen ist die Anordnung getroffen, dass in
Privatirrenhäuser überhaupt Niemand aufgenommen wird, der nicht zuvor in
einem öffentlichen Irrenhanse in Bezug auf seinen Zustand geprüft ist. Dadurch
sind namentlich die Fälle, wo der Eigennutz von Anverwandten in Kombination
mit unredlichen Aerzten die Einsperrung betreibt, nahezu unmöglich gemacht.
Dass solche Fälle Vorkommen, haben allbekannte Thatsachen gezeigt.
Meine Meinung ist, dass die Irrenhäuser, welche in Privathänden sind,
mindestens alle Monate einmal zu revidiren seien, und zwar nicht blos durch
einen Arzt, am wenigsten durch einen solchen, der in geschäftlichen Beziehungen
zum Irrenhause steht, sondern durch eine Kommission, bei der nicht blos Aerzte,
auch nicht blos Juristen sein sollen, sondern auch Männer aus anderen Ständen,
die nicht nach Fachkenntnissen urtheilen, auch nicht durch medizinische Gut¬
achten beeinflusst sind, sondern auf den Augenschein sehen.
Seitdem ich im vorigen Jahre mich hier über die Irrensache äusserte,
habe ich eine Menge Menschen kennen gelernt, die zu mir kamen mit der Klage:
wir haben so und so lange im Irrenhause gesessen, wir sind für unmündig, für
blödsinnig, für geistig todt erklärt. Die Leute hatten vielleicht hie und da einen
wirren Gedanken, sie hatten vielleicht, wie man sagt, einen Sparren zu viel;
aber sie waren im ganzen völlig gesund, sprachen Uber alles vollkommen richtig
und unterhielten sich mit vollem Verständniss der Dinge. Ich kenne einen
Fall, wo ein Mädchen, welches für unzurechnungsfähig erklärt ist, ihren Vater
mit redlicher Arbeit aufs beste ernährt und von ihm für ein ausgezeichnetes
Kind gehalten wird; aber sie ist vor Gericht blödsinnig und bürgerlich todt.
Damit komme .ich zum dritten Punkt: das ist die gerichtliche Praxis.
Ich höre zu meiner Freude, dass seit den Anregungen, die hier gegeben sind,
zwischen der Einsperrung und der gerichtlichen Feststellung nicht mehr so viel
Zeit verfliegst, wie früher. Sonst sind oft Monate darüber hingegangen, ehe die
Sache zum gerichtlichen Urtheil kam. Das gehört ja nicht in das Ressort des
Kultusministers, sondern greift in andere Gebiete Uber — aber ich meine, wenn
man einem Menschen, bei dem vielleicht der Irrsinn ausgebrochen ist, seine Frei¬
heit nimmt und ihn in ein Irrenhaus einsperrt, so müsste in der kürzesten
Zeit, spätestens binnen 8 Tagen, darüber befunden und ein Zeugenverhör ange¬
stellt werden — kurz, es müsste ein ordentliches, öffentliches Rechtsverfahren
stattfinden, um die Sache zur völligen Klarheit zu bringen. Nur das entspricht
den Anforderungen eines Rechtsstaates, wie der christlichen Sympathie, die
solche Unglückliche von uns in Anspruch nehmen können. Ich höre, dass auch
in den Kreisen des Kultusministeriums Uber diese Sache Rath gepflogen ist.
Und meine Anregungen sollten nichts anderes bezwecken, als die Staatsregie¬
rung zu bitten, uns mitzutheilen, was in dieser Sache bisher gethan ist. (Leb¬
haftes Bravo.)
Ministerialdirektor Dr. Bartsch: M. fl.l Der Herr Vorredner hat am
Schlüsse seiner Rede eine Angelegenheit zur Sprache gebracht, welche dem
Herrn Medizinalminister sehr am Herzen liegt, und ich hoffe, dass die von mir
in seinem Namen abgegebene, wenngleich nur kurze Erklärung dazu beitragen
wird, eine gewisse Beunruhigung, welche sich auf diesem Gebiete in weiten
Kreisen gezeigt hat, thunlichst zu beschwichtigen. Die Frage ist ja von der
allergrössten Tragweite; denn es handelt sich in jedem einzelnen Fall der Auf¬
nahme in eine Irrenanstalt um das bürgerliche Sein oder Nichtsein. Man kann
deshalb von vorneherein überzeugt sein, dass die Königliche Staatsregierung
dieser Frage ihre vollste Aufmerksamkeit zuwendet.
Zunächst möchte ich der Auffassung entgegentreten, der man nicht etwa
in diesem Hause begegnet, aber doch ausserhalb desselben und namentlich in
der Presse, der Auffassung, als ob die Staatsregierung diesem Zweige der Ver¬
waltung nicht die gehörige Aufmerksamkeit zugewendet oder ihn wohl gar
vernachlässigt habe. Nichts wäre unrichtiger, m. H., als diese Auffassung. Ich
könnte Ihnen, wenn ich nicht auf die Geschäftslage dieses Hohen Hauses Rück¬
sicht zu nehmen hätte, in einem längeren Vortrage darlegen, wie die Staats¬
verwaltung, um nur von diesem Jahrhundert zu reden, von Anfang desselben
an, in gewissen Zwischonräumen sich immer von Neuem mit der Regelung dieser
Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 175
ernsten nnd schwierigen Frage beschäftigt hat. Die neuesten Vorschriften auf
dem hier in Rede stehenden Gebiete datiren aus den Jahren 1888 und 1889.
Es ist damals, was insbesondere die Frage der Aufnahme in eine Irrenanstalt
betrifft, durch die betheiligten Herren Ressortchefs angeordnet worden, dass
Niemand in eine Irrenanstalt aufgenommen werden solle, es sei denn auf Grund
eines eingehend motivirten Attesten eines beamteten Arztes. Nur nach einer
Richtung hin ist auf Anregung einer Aerztekammer eine Ausnahme von dieser
Regel gestattet worden, nämlich die, dass die Aufnahme auch auf Grund des
Attestes eines Privatarztes soll erfolgen dürfen, wenn die Aufnahme erfolgt
auf Requisition einer Gerichts- oder Polizeibehörde, indem man von der Auf¬
fassung ausging, dass in diesem Falle die requirireude Behörde selbst die Ver¬
pflichtung habe, sich die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit der Aufnahme
eines angeblich Geisteskranken in eine Irrenanstalt zu verschaffen. Andere Vor¬
schriften in Bezug auf die Aufnahme bestehen nicht, und ich muss sagen, dass,
abgesehen von einzelnen Irregularitäten, die ja vorgekommen sein mögen auf
diesem schwierigen und delikaten Gebiete, doch im Wesentlichen sich die Vor¬
schriften als ausreichend erwiesen haben; die Staatsverwaltung ist auch in dor
That nicht in der Lage, eine andere Garantie zu bieten, als das Gutachten
eines beamteten Arztes gewährt.
Als nun aber, m. H., im vorigen Jahre ein bekannter Fall das öffentliche
Interesse weiter Kreise in Anspruch nahm, da hat der damalige Herr Medizinal¬
minister, ich darf es sagen: auf meinen Rath — diese Frage der Wissenschaft¬
lichen Deputation für das Medizinal wesen, deren Geschäfte zu leiten ich die
Ehre habe, zur Begutachtung überwiesen, die Frage nämlich, ob die gegenwärtig
bestehenden Vorschriften für ausreichend zu erachten seien, um eine Sicherheit
dafür zu geben, dass Jemand nicht wider seinen Willen in eine Irrenanstalt
aufgenommen oder in derselben detinirt werden könne. Die Wissenschaftliche
Deputation, m. H., die ich heute schon einmal von dieser Stelle aus erwähnen
durfte, besteht aus Mitgliedern, die unbedingt als medizinische Autoritäten
ersten Ranges bezeichnet werden dürfen; sie hat auch hervorragende Psychiater
in ihrer Mitte, und war daher recht eigentlich berufen, diese Frage zu begut¬
achten. Die Wissenschaftliche Deputation bat aber aus eigenem Antriebe die
Frage erweitert, nicht blos die Frage der Aufnahme eines Kranken in eine
Irrenanstalt in den Kreis ihrer Begutachtung gezogen; sie hat vielmehr das
ganze Material gutachtlich erörtert. Wir haben uns in den Gesetzgebungen
anderer Staaten nmgesehen, in den Gesetzgebungen Frankreichs, Belgiens, der
Schweiz, Norwegens und anderer Kulturstaateu, um zu prüfen, ob die dort be¬
stehenden gesetzlichen und administrativen Vorschriften etwa Material enthalten,
welches auch für uns verwerthbar wäre. So haben wir im vorigen Jahre in
monatelanger, ernster Arbeit und in wiederholten Lesungen ein umfangreiches
Gutachten über die gesummte Frage des Irrenwesens fertig gestellt, welches
demnächst auch weiteren Kreisen durch den Druck zugänglich gemacht werden
wird. Es ist ja bei der kurzen Zeit ausgeschlossen, auch nur anuähernd den
Inhalt dieses umfangreichen Gutachtens wiedergeben zu können; nur auf zwei
Punkte und namentlich auf denjenigen, dessen auch der Herr Vorredner erwähnt
hat, möchte ich kurz eingehen.
Zunächst die Aufnahmefrage. Die Wissenschaftliche Deputation
steht im Allgemeinen auf dem Standpunkt, dass in diesem Punkte die bestehen¬
den Vorschriften vielleicht zu verschärfen wären. Aber, m. H., es ist doch dabei
auch nicht zu vergessen, dass eine solche Verschärfung mit grosser Vorsicht
gehandhabt werden müsste; denn es kommen doch auch nicht selten Fälle vor,
in denen die Erschwerung der Aufnahme eines so unglücklichen Kranken in eine
Irrenanstalt unter Umstäuden eine grosse Härte ist, — für ihn und seine Ange¬
hörigen. Man wird also suchen müssen, die richtige Mitte zu finden; and wie
das zu geschehen hat, m. H., das unterliegt noch weiterer Erwägung.
Eine nicht minder wuchtige Frage, die auch von dem Herrn Vorredner
in dankenswerther Weise erwähnt worden ist, ist die Frage der Aufsicht.
Es werden die Irrenanstalten ja schon jetzt von Zeit zu Zeit amtlich revidirt,
und zwar durch den Kreisphysikus und den Regierungsmedizinalrath. Die
Wissenschaftliche Deputation ist nun aber auf Grund der Erfahrungen, die in
anderen Länderen gemacht worden sind, zu der Ueberzeugung gekommen, dass
die in dieser Beziehung bestehenden Vorschriften einer Erweiterung bedürftig
seien. Wir sind mit dem Herrn Vorredner der Auffassung, dass die Kraft eines
176
Ein Vorschlag zur Medizinalreforiü;
einzelnen Beamten nicht genügt, um eine hinreichende Aufsicht zu üben; wir
sind der Meinung, dass eine Kommission, die wir salva redactione „Besuchs¬
kommission“ genannt haben, einzusetzen sein wird für bestimmte Bezirke, be¬
stehend aus einem hervorragenden Kenner der Psychiatrie, etwa dem Direktor
einer Irrenanstalt, aus einem höheren Verwaltungsbeamten und aus sonst geeig¬
neten, auch von dem Herrn Vorredner gekennzeichneten Elementen. Diese Be¬
suchskommission würde die Irrenanstalten, die ihr bezirksweise unterstellt sind,
nicht blos nach der Seite der sanitären Einrichtungen zu untersuchen haben,
sondern namentlich auch nach der Seite der Krankengeschichte jedes einzelnen
Patienten; sie würde berufen sein, deren Beschwerden und diejenigen ihrer An¬
gehörigen entgegenzunehmen, und so würde die Kommission ein reiches und
ergiebiges Feld der Thätigkeit haben. Dieses Gutachten der Wissenschaftlichen
Deputation, auf dessen Einzelheiten ich ja, so interessant sie auch sind, nicht
näher eingehen kann, ist dem Herrn Medizinalminister unterbreitet worden, und
derselbe hat sich im Wesentlichen mit dem Gutachten und den darin entwickel¬
ten Grundsätzen einverstanden erklärt; er ist sodann mit denjenigen Herren
Ressortchefs, die bei dieser Angelegenheit in gleicher Weise betheiligt sind,
nämlich mit den Herren Ministern des Innern und der Justiz in Verhandlung
getreten, und auch diese haben im Grossen und Ganzen das, was die Wissen¬
schaftliche Deputation ihnen unterbreitet hat, als zutreffend anerkannt. Da nun
aber, m. H., die Angelegenheit bei ihrer grossen Schwierigkeit noch einer ein¬
gehenden Durcharbeitung bedarf, so haben die Herren Ressortminister kommissa¬
rische Berathungen in Aussicht genommen, und diese finden gegenwärtig statt.
Wir sind also mitten in der Arbeit, und ich glaube, ich darf mich auf diese
Bemerkungen beschränken, um bei Ihnen die Ueberzeugung zu begründen, dass
die Herren Ressortministers Alles daran setzen werden, um diese schwierige und
ernste Frage zu einem gedeihlichen Abschluss zu bringen. (Bravo!)
Ein Vorschlag zur Medizinalreform.
Die „Berliner neuesten Nachrichten“ bringen in Nr. 134 nach¬
folgenden, jedenfalls von sachkundiger Hand verfassten Artikel zur
Medizinalreform:
Mehrfach gingen in den letzten Monaten des vergangenen Jahres Nach¬
richten durch die Presse, dass eine Reform des Medizinalwesens in Angriff ge¬
nommen und vom Finanzminister eine entsprechende Summe in den Etat einge¬
stellt sei. Zur grossen Enttäuschung der Medizinalbeamten und zum Erstaunen
eines grossen Theiles der Bevölkerung brachte der Etat nichts derartiges.
Auf Anregung eines Abgeordneten konstatirte der Minister bei Lesung
des Etats, dass ein Bedürfnis einer Reorganisation unzweifelhaft vorhanden
sei, es habe sich bei der jüngsten Choleraepidemie die vollständige Unzuläng¬
lichkeit in beschämender Weise herausgestellt, aber am Gelde hänge doch alles,
der Geldpunkt sei der Stein des Anstosses; und dieser Standpunkt wurde auch
bei der dritten Lesung von dem Ministerial - Direktor vertreten. Ausserdem sei
die Frage desshalb schwierig, weil es sich darum handele, ob man die Physiker
zum Theil auf Privatpraxis anweisen oder sie von derselben unabhängig
stellen solle.
Die absolute Nothwendigkeit der Aenderung einer Organisation, die in
beschämender Weise ihre Unzulänglichkeit bewiesen hat, einer Seuche entgegen¬
zutreten, so dass nur durch Unterstützung der Militärbehörde ein erfolgreiches
Einschreiten möglich war, bedarf keines Wortes und ist allgemein anerkannt.
Man denke nur an die Zustände, die entstehen, wenn in einem Kriege gleich¬
zeitig im Lande eine Seuche ausbricht, man denke nur an die Tausende von
blühenden Kindern, die alljährlich der Diphtheritis zum Opfer fallen, ohne dass
die jetzige Einrichtung genügt, der Krankheit energisch entgegenzutreten. Es
bedeutet dies, ganz abgesehen von dem Jammer zahlreicher Familien eine erheb¬
liche Schwächung unserer Wehrkraft.
Es müsste daher logischer Weise die Organisation geändert werden,
und wenn auch bedeutende Mittel dazu gehörten. Dies ist aber gar nicht der
Fall. Bei geeigneter Organisation kommen die Mittel gegenüber anderen Auf-
Ein Vorschlag zur Modizinalreform.
177
Wendungen, die nicht nothwendiger sind als die Medizinalreorganisation, gar
nicht in Betracht, wie gleich bewiesen werden soll.
Zunächst ist za erwähnen, dass ohne Loslösung des Physikus von der
Nothwendigkcit der Privatpraxis eine für die Gesammtheit wirklich erspriessliche
Thätigkeit desselben nicht möglich ist. Kollisionen kommen immer vor; ich
erwähne nur die unangenehme Lage, in die der Physikus kommt, wenn er
gleichzeitig zu einem eiligen Falle in seiner besten Privatpraxis gerufen wird
und eine amtliche Verrichtung vornehmen soll; er riskirt dabei immer, seine
Privatpraxis an einen andern Arzt zu verlieren. Oder der Physikus ist zur Be¬
gutachtung einer Fabrik aufgefordert, die in irgend einer Weise gemeinschädlich
wirkt und bei deren Besitzer er Hausarzt ist oder für deren Arbeiter er Kassen¬
arzt ist. Ein Gutachten, welches dem Besitzer erhebliche Schwierigkeiten oder
Schaden bereitet, kann dem Physikus seine Hausarztstelle und seine Kassenpraxis
kosten, auf die er doch, um für sich und seine Familie den Unterhalt zu erwer¬
ben, angewiesen ist. Derartige Kollisionen kommen in der That vor und sie
werden später, wenn die Thätigkeit des Physikus erweitert werden sollte, noch
öfter Vorkommen.
Durch seine Privatpraxis wird ausserdem der Physikus nur mit den Ver¬
hältnissen der Stadt, in der er wohnt, und höchstens mit der nächsten Umgebung
vertraut, nicht aber mit dem bei weitem grössten Theile seines Bezirkes, und
gerade die Kcnntniss der Verhältnisse der Stadt u. s. w. kann er sich besonders
leicht auf andere Weise verschaffen, durch die Besuche bei Epidemien und be¬
sonders durch den persönlichen Verkehr mit den im Orte wohnenden Aerzten,
die dem selbst nicht praktizirenden Physikus gerne Auskunft ertheilen werden,
da er ja nicht mehr Konkurrent ist. Es ist auch nicht mehr zu befürchten,
dass etwa der nicht praktizirende Physikus nur Theoretiker werde; denn schon
jetzt wird vor lOjähriger Praxis nur ausnahmsweise eine Physikus angestellt,
wie sich leicht aus dem Medizinkalender ersehen lässt, und später würde es
voraussichtlich noch länger dauern, er ist also auf alle Fälle lange Zeit hindurch
praktisch geschult. Ausserdem kann man ihm ja auch, wie jetzt den Medizinal-
räthen, das Recht lassen, sich mit Privatpraxis, wenn auch nur konsultativ, zu
befassen, soweit es ohne Schädigung seines Amtes möglich ist.
Jetzt zum Kostenpunkte.
Es giebt in Preussen ca. 570 Bezirks-, Polizei-, Stadt-, Kreis-, Oberamts-
physikatssellen, die aber nicht alle von einem Physikus versehen werden, mehr¬
fach sind zwei und selbst drei Stellen in einer Hand vereinigt. Ebensoviel
Kreiswundarztstellen sind vorhanden, wenn anch nicht alle besetzt. Erstere
bringen 900, letztere 600 Mark. Es kostet also zusammen 855 000 M. pro Jahr.
Wenn man nun die Grösse und Einwohnerzahl der einzelnen Bezirke vergleicht,
so zeigt sich, dass ein ganz ungeheurer Unterschied herrscht. In Berlin mit
1600 000 Einwohnern giebt es 14 Gerichts-, Polizei- und Bezirksphysiker. Der
Kreisphysikus des Kreises Teltow, der auch Charlottenburg versieht, hat ca.
300000 Seelen in seinem ca. 1665 Qu.-Kilometer grossen Bezirke. Essen (Stadt
und Land) hat ca. 252000 Seelen und ca. 198 Qu.-Kilometer. Eine grosse Zahl
von Kreisen, besonders in Oberschlesien, Rheinland und Westfalen hat 120—200000
Einwohner, und nicht blos Stadtbezirke, sondern auch Landbezirke, z. B. Oppeln
ca. 120000 Einwohner und 1400 Qu. - Kilometer. Dagegen hat Haigerloch in
Hohenzollern ca. 11700 Einwohner auf 135 Qu. - Kilometer, Haramertingen ca.
13000 auf 328 Qu. - Kilometer, Dannenberg in Hannover ca. 14000, Montjoie im
Rheinland ca. 18400 auf 361 Qu. - Kilometer und eine grosse Zahl anderer hat
unter 20000, eine grosse Zahl 20—30000 Einwohner.
Dass nun ein Physikns einen grossen Kreis verwalten kann, ist erwiesen;
denn sonst hätte man nicht, wie in Teltow, Essen, Frankfurt a. 0. sogar zwei
grosse Kreise in eine Hand gegeben. Ausserdem befinden sich grade die grossen,
von nur einem Physikus verwalteten Kreise in Industriegegenden, wo an sich
erheblich mehr gerichtliche Fälle den Physikus in Anspruch nehmen, wie in den
mehr Ackerbau treibenden Gegenden, besonders Hannovers und Hessens, wo sich
gerade die kleineren Kreise befinden.
Wenn nun auch nach der Reorganisation erheblich mehr Ansprüche an
den Physikus gestellt werden, so tritt dem doch entgegen das Fortfällen der
Privatpraxis, worauf der Physikus jetzt zum grössten Theile angewiesen ist.
Es ist also anzunehmen, dass ein nur als Beamter fnngirender Physikus auch
später recht gut die grösseren Kreise wird versehen können, wenn man auch
178
Tagesnachrichteu
von den ganz exzeptionell grossen Kreisen absieht, besonders in dünn bevölkerten
Gegenden mit schlechten Verkehrsmitteln.
Es liesse sich daher durch Zusammenlegen der kleineren Bezirke (in ein¬
zelnen Fällen ist dies schon lange durchgeführt) die Zahl der Physikatsstellen i echt
gut von ca. 750 auf ca. 350 reduziren. Es beruht diese Zahl auf einer Berechnung
der Grösse, der Einwohnerzahl und der geographischen Lage der einzelnen Kreise.
In diesen Kreisen müsste dem Physikus ein Kreisassistenzarzt (Kreis¬
wundarzt) zur Seite gestellt werden, der 1) die Vertretung des Physikus in
Erkrankungsfällen, 2) die Mitbesorgung der gerichtlichen Geschäfte und 3) im
Nothfalle zur Aushülfe sanitätspolizeiliche Geschäfte (bei grossen Epidemien)
übernehmen müsste. Bleibt man hier bei einem Gehalt von 600 M., wie bisher,
was auch hoch genug ist, da der Kreiswundarzt nur wenig in Thätigkeit tritt,
und er seine Thätigkeit fast immer extra bezahlt bekommt, daher hauptsächlich
Privatpraxis ausüben kann, so macht das pro Jahr 210000 M. Die nöthige Zahl
dieser Beamten würde leicht dadurch zu erhalten sein, dass man nur solche
Aerzte zu Kreisphysikern beförderte, die vorher Kreiswundärzte gewesen sind.
Im Nothfalle könnten auch, wie bisher, die Stellen kommissarisch mit geeigneten
und bereiten Aerzten besetzt werden.
Setzt man nun das Gehalt des Physikus auf 3500 M. im Mittel (2000
bis 5000 M.) fest, so dürfte das unter Hinzurechnen der amtlichen Nebenein¬
nahmen, die durch die Vergrösserung der Bezirke theilweise auch steigen würden,
eine entsprechende Existenz gewähren, wenn man noch einen Wohnungsgeld¬
zuschuss (im Mittel ca. 500 M.) hinzurechnet. Die Kosten würden also betragen
350 X 4000 = 1400000 M., dazu für die Kreiswundärzte 210000 M. =
1610000 M. Hiervon abgerechnet die jetzt schon entstehenden Kosten von
855 000 M. würde ein Mehrbetrag von 755 000 M. entstehen. Hierzu kämen noch
die Kosten der Pension und einige sachliche Kosten, sodass mit weniger als
einer Million sich die ßeorganisation durchführen liesse. Dies ist aber im Ver-
hältniss zu dem grossen Vortheile, den die zweckentsprechende Bekämpfung der
Seuchen bringt, eine verschwindend kleine Summe, und es ist kaum zu verstehen,
dass an einer solchen gringen Summe die absolut nothwendige Reorganisation
scheitern müsste.
Es liesse sich nun zwar nicht die Zahl der Stellen sofort auf 350 herab¬
setzen, denn es sind erheblich mehr Physiker angestellt; es würde einige Zeit
dauern, aber beschlennigt würde es sicher dadurch, dass nach Einführung einer
Gehaltserhöhung mit Pensionsfähigkeit eine grosse Zahl sehr alter Physiker, die
jetzt nicht pensionirt werden können, freiwillig sich pensioniren lassen würden,
da sie vielfach wohl nur, um das Gehalt nicht zu verlieren, noch bleiben.
Pekuniär würde auch die Anfangs grössere Zahl der Stellen dadurch zum Theil
aufgewogen, das vorläufig keine Pension zu zahlen wäre und jede Peusionirung
eine Stelle frei machte und die Zahl um eine verringerte.
Tagesnachrichten.
Eben.se> wie der Reichstag (s. Nr. 5 dieser Zeitschrift, S. 125) hat sich
auch das prcussische Abgeordnetenhaus mit der Frage der Feuerbestattung
beschäftigt. Eine die fakultative Zulassung derselben beantragende Petition
gelangte in der Sitzung vom 17. März zur Berathung. Von Seiten der Abge¬
ordneten (t o l d sc h in i d t und Dr. Lange rh ans wurde beantragt, die Petition
der Regierung zur Berücksichtigung zu überweisen und dieser Antrag damit
begründet, dass alle Bazillen durch Feuer sicher zerstört würden, während dies
bei der Erdbestattung noch zweifelhaft sei. In den grösseren Städten sei die
letztere ausserdem schon wegen der entfernten Lage der Kirchhöfe mit Uebel-
ständen verbunden, ganz abgesehen davon, dass die Beschaffung geeigneter
Kirchhöfe in Folge von Grundstückspekulationen immer schwieriger werde. Dem¬
gegenüber machte der Abg. Mies (Gentrum) ästhetische und religiöse Bedenken
gegen die Leichenverbrennung geltend. Nach seiner Ansicht arbeiteten die
Krematorien auch viel zu langsam, um z. B. bei Epidemien schnell genug alle
Leichen beseitigen zu können, eine Ansicht, die von dem Abg. Dr. Langer-
hans mit Recht als völlig unzutreffend bezeichnet wurde. Das Abgeordneten¬
haus lehnte jedoch den oben genannten Antrag ab und nahm deu von der
Kommission gestellten Antrag auf Geborgang zur Tagesordnung an.
Tagesnaehrichten.
179
Die Apothekerfrage hat auch in diesem Jahre (in der Sitzung vom
17. März) das preussische Abgeordnetenhaus in Folge zweier Petitionen beschäf¬
tigt. In der einen von dein Verein der Apotheker des Regierungsbezirkes
Düsseldorf und des westfälischen Industriebezirkes ausgegangenen Petition war
um baldige gesetzliche Regelung des Apothekerwesens und
Einschränkung der K onzession i r ung neuer Apotheken gebeten. Die
Petitionskommission beantragte über diese Petition zur Tagesordnung iiberzu-
gehen mit Rücksicht auf die von dem Ministerialkommissar in der Kommission
abgegebene Erklärung. Dieselbe lautete wie folgt: „Die gesetzliche Regelung
der Materie, welche enorme Schwierigkeiten biete, werde voraussichtlich in der
nächsten Zeit erfolgen. Was die Vermehrung der Apotheken betreife, so könne
eine bestimmte Normalzahl nicht gegeben werden; Wohlhabenheit, Lebensge¬
wohnheiten der betreffenden Bevölkerung müssten den Ausschlag geben. Durch
das Krankenkassengesetz sei ja ein erhöhtes Bedürfnis« eingetreten und dadurch
eine grössere Vermehrung bedingt. Es sollen deshalb die Überpräsidenten auf¬
gefordert werden, in geeigneten Fällen Vorschläge zur Vennehrung zu machen.
In der Rheinprovinz seien die Verhältnisse noch besonders ungünstig; indess
könne es doch nicht Aufgabe der Staatsregierung sein, möglichst viele Apotheken
zu schaffen, um nicht die soziale Stellung des einzelnen Apothekers zu sehr
herabzudrücken. Es sei die Absicht, nach den Ergebnissen der neuen Volks¬
zählung der Frage wieder näher zu treten und in allen den Orten neue Kon¬
zessionen zu schaffen, wo ein Bedürfnis vorhanden sei.“
Das Abgeordnetenhaus beschloss diesem Anträge gemäss, unter Aufrecht¬
haltung seiner früheren Beschlüsse (in den Jahren 1886 und 1888), wonach
künftighin nur unveräusserliche, keine persönliche Konzessionen ertheilt werden
möchten.
Auch hinsichtlich der zweiten Petition, betreffend die Bewerbung
früherer Apothekenbesitzer um eine neue Konzession, schloss sich
das Abgeordnetenhaus dem Vorschläge der Petitions-Kommission an, indem es den
einen Theil der Petition, wonach alle geprüften Apotheker, mit alleiniger Aus¬
nahme solcher, denen bereits früher eine Konzession vom Staate geschenkt ist,
sieb um eine solche bewerben dürfen sollen, der Regierung zur Berücksichtigung
überwies; bezüglich des anderen Verlangens aber, dass in Zukunft der Ver¬
mögensnachweis bei den Konzessionsbewerbungen fortfallen solle, zur Tages¬
ordnung überging.
Im preussischen Abgeordnetenhause sind vor Kurzem zwei die Cholera
betreffende Anträge eiugebracht. Jti dem einen vom Grafen Douglas gestell¬
ten wird an die Regierung die Anfrage gerichtet, welche Massregeln dieselbe
der Choleragefahr gegenüber zu ergreifen gedenkt; in dem andern wird die
Regierung aufgefordert, Ermittelungen über die durch die Bekämpfung der
Cholera im Jahre 1892 entstandenen Kosten anzustellen, das Ergebnis« dem
Hause in einer Nachweisung vorzulegen und dabei mitzutheilen, welche Theile
dieser Kosten die Regierung auf Landespolizeifonds zu übernehmen gedenkt.
Die Anträge werden voraussichtlich bald nach den Osterferien zur Be-
rathnng gelangen. Inzwischen hat bereits am 28. März im Kultusministerium
unter dem Vorsitz des Ministerialdirektors Dr. Bartsch eine Konferenz von
Vertretern der botheiligten Ministerien stattgelünden, um die fiir den Fall
des Wiederausbruchs der Cholera zu ergreifenden Massregeln zu berathen und
die Grundsätze über die zur Abwehr der Seuche etwa erforderlichen Kosten zu
vereinbaren.
Auf dem Cholera - Kongress russischer Aerzte, der in der letzten
Woche des Dezember vorigen Jahres in Petersburg getagt hat, sind in Bezug
auf die Vor b e ugu n g sin ass rege 1 n gegen Einschleppung der Krankheit
folgende Beschlüsse gefasst worden:
1. See-und Landquarantänen zur Vorbeugung von Choleraverschleppuugen
haben nur Bedeutung als ärztliche Beobachtnngsstatiouen behufs Absonderung
der Kranken von den Gesunden und behufs Desinfektion etwa inffzirter Effekten.
2. Die Aufsicht auf den Verkehrsstrasseu ist nur nützlich und nothwendig
in Bezug auf Bewegung von Arbeitermassen, Auswanderern u. s. w., namentlich
wenn sie aus intizirten Gegenden kommen. An allen Orten, wo Arbeiter sich
ansammeln und ein bedeutender Verkehr stattriudet, ist die Errichtung von
180
Tagesnachrichten.
Verpflegungspuuktcn erforderlich mit billigem Verkaufe oder womöglich unent¬
geltlicher Vertheilung von warmen Speisen uml Thee. Desgleichen ist unum¬
gänglich die Anlage von Nachtasylen, Badestuben nebst Waschanstalten.
3. Das Besichtigen und Befragen von Eisenbahnreisenden ist eine nutzlose
und lästige Massregol, ebenso wie das obligatorische Desinfiziren des Gepäckes
von gesunden Reisenden aut Eisenbahnen oder Dampfschilfen.
4. Die Desinfektion infizirter und verdächtiger Sachen muss nach den in
dieser Beziehung für die verschiedenen Gegenstände bestehenden Anfragen aus¬
geführt werden.
5. Heilanstalten für Cholerakranke sind unter Berücksichtigung der lokalen
Verhältnisse und der Forderungen des Arztes anzulegen. Auch Räume für
choleraverdäehtige Personen sind erwünscht.
6. Messen, Märkte, Wallfahrten u. s. w. zu verbieten, ist nach den bei
der letzten Cholera - Epidemie gemachten Erfahrungen nicht nothwendig. Die
Gefahren grosser Volksversammlungen werden auf Null reduzirt durch Ergreifung
von umfangreichen Vorbeugungsmassregeln und zwar besonders durch Errichtung
von Nachtasylen, Verabfolgung guter Nahrung, Beschaffung unschädlichen
Wassers u. s. w.
Behufs der Feststellung der Cholera heisst es dann: „Ist eine
bakteriologische Untersuchung auch wünschenswerth, so ist sie doch nicht unbe¬
dingt erforderlich für die Diagnose der Cholera, zu der auch eine Summe
klinischer und pathologisch-anatomischer Daten vollkommen genügt.“
Als Desinfektionsmittel wird mit Recht die ungereinigte Karbol¬
säure (Acidum carbolicum crudum) als unzuverlässig bezeichnet und die Ver¬
wendung von reiner krystallisirter Karbolsäure verlangt.
Die internationale Sanität» - Konferenz in Dresden hat sich nach den
politischen Blättern über die Hauptpunkte der ihrer Berathnng obliegenden
Fragen ziemlich schnell geeinigt. Wesentlich erleichtert scheinen die Berathungen
dadurch zu sein, dass seitens der österreichisch - ungarischen Regierung schon
vorher die hauptsächlichsten in Betracht kommenden Fragen festgestellt und
den Regierungen der zur Konferenz eingeladenen Staaten mitgetheilt waren.
Die Fragen waren theils allgemeiner Natur (z. B. wann ist ein Ort als cholera¬
verseucht, choleraverdächtig oder als wieder rein anzusehen), theils betrafen sie
den Waaren-, Brief- und Personen-Verkehr, den durchgehenden Eisenbahnver¬
kehr, den Fluss-, Binnensee- und Schiffsverkehr. Es handelte sich hierbei um
die Festsetzung der Grenzen für Ein- und Durchfuhrverbote, für die Desinfektion
von Reisegepäck, Frachtgütern, Briefen u. s. w.; um Regelung des Grenzver¬
kehrs, um die Zulässigkeit und NothWendigkeit von Land- und Seequarantänen;
um Hafenschliessuugen u. s. w. Die Berathuugen werden voraussichtlich bald
nach Ostern beendet sein.
Im Reichs-Versicherungsamt hat am 27. März d. J. eine Konferenz von
Vertretern der Landesversicherungsämter und der Invaliditäts- und Altersver¬
sicherungsanstalten unter dem Vorsitz des Präsidenten Dr. Bödiker statt¬
gefunden, deren erster Berathungsgegenstand die Frage betraf: Welche Mass¬
nahmen zu treffen seien, um in allen Fällen ein sachgemäßes ärztliche» Gut¬
achten über die Erwerbsfälligkeit eines Invalidenrentenbe Werbers mit
möglichst geringen (!!) Kosten zu erhalten. Nachdem seitens des Reichs-Ver-
sicherung-amts und der Vertreter der meisten Versicherungsanstalten die bisher
in dieser Richtung gemachten Erfahrungen mitgetheilt. worden waren, einigte
man sich dahin, daran festzuhalten, dass es regelmässig Sache des Renten¬
bewerbers sei, das zur Begründung seines Antrags erforderliche ärztliche Gut¬
achten selbst zu beschaffen und zu bezahlen; dass es aber den Versicherungs¬
anstalten nicht verwehrt sei, zu den Kosten des ersten ärztlichen Attest.es all¬
gemein einen Zuschuss zu zahlen, und dass es dem Ermessen der Vorstände an¬
heimgestellt werde, sich in dieser Beziehung mit den Aerzten ihres Bezirks in
Verbindung zu setzen. Es wurde dabei betont, dass ein Handinhandgohen der Ver¬
sicherungsanstalten und der Aerzte im Interesse der Durchführung der Versicherung
dringend zu wünschen sei, und dass eine Einigkeit sich am ehesten erzielen lasse,
wenn man den berechtigten Wünschen der Aerzte Entgegenkommen beweise.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Kapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W.
J. C. C. Bruns, ßnchdruckerel, Minden.
6. Jahrg.
Zeitschrift
für
1893 .
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
S:xn.-Rath u.gerichtl.Staatphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in Minden
and
Dr. WILH. SANDER
Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitseile 46 Pf. nimmt die Verlagshandlang and Rad. Mosse
entgegen.
No. 8.
Rrseheint am 1. and 15. Jeden Monats.
Preis Jährlich 10 Mark.
15. April.
Vorläufiger Bericht über die am 10. und II. April d. J. zu
Berlin (Langenbeck-Haus) abgehaltene X. Hauptversamm¬
lung des Preussischen Medizinalbeamtenvereins.
Erster Sitzungstag, Montag, den 10. April, Vormittags
9 1 /* Uhr.
1. Eröffnung der Versammlung. Der Vorsitzende, Reg.-
und Geh. Medizinal-Rath Dr. Kanzow (Potsdam) hiess die An¬
wesenden — es waren gegen 80 Mitglieder erschienen — herz¬
lich willkommen und gab einen kurzen Ueberblick über die
Thätigkeit des Vereins, der in diesem Jahre sein zehntes Jahres¬
fest feiere. Er begrüsste hierauf die im Aufträge des Ministers
des Innern und des Reichsamtes des Innern erschienenen Vertreter,
Geh. Reg.-Rath Kr ohne und Geh. Ober - Reg.-Rath Dr. Hopf,
und die anwesenden Vortragenden Räthe der Medizinal - Abtheilung
des Kultusministeriums, Geh. Ober-Med.-Räthe Dr. Skrzeczka
und Dr. Schönfeld, sowie Geh. Med.-Rath Dr. Pistor.
Der Vorsitzende gedachte hierauf derjenigen Mitglieder, die
der Verein seit der letzten Generalversammlung (Sept. 1891) durch
den Tod verloren hat. Die Versammelten erhoben sich zum An¬
denken der Verstorbenen von ihren Sitzen.
Beim Beginn der Verhandlungen erschien der Direktor der
Medizinal-Abtheilung Wirkliche Geheime Ober - Regierungs - Rath
Dr. Bartsch und richtete an die Versammlung folgende Worte:
„Meine Herren! Der Herr Medizinalminister, in dessen Auf¬
träge ich in Ihrer Mitte erscheine, bedauert aufrichtig, dass er
durch andere dringende Amtsgeschäfte verhindert ist, Sie beim
Eintritt in Ihre Berathungen willkommen zu heissen. Se. Exzellenz
entbietet der Versammlung durch mich seinen herzlichen Gruss
und ich entledige mich dieses Auftrages um so lieber, als mir
182 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. iu Berlin
dadurch von Neuem Gelegenheit geboten wird, an Ihren Verhand-
handlungen Theil zu nehmen.
Wiederum, meine Herren, haben Sie Sich zu gemeinsamer
ernster Arbeit, zum Austausch von Meinungen, zur Pflege per¬
sönlicher Beziehungen vereinigt, nachdem im vorigen Jahre die
schon anberaumte Sitzung aus bekannten Gründen hat ausfallen
müssen. Seitdem haben wir in den durch die Choleragefahr be¬
drohten Landstrichen sorgenvolle Tage verlebt, ohne dass sich
Gottlob! die gehegten Befürchtungen verwirklicht haben. Im
Gegentheil haben wir bei der hingebenden Mitarbeit aller Be¬
theiligten dankenswerthe Erfolge erzielt, und es gereicht mir zur
besonderen Freude, auch in diesem Kreise an die Allerhöchste
Ordre vom 17. Oktober v. J. erinnern zu dürfen, durch welche
Seine Majestät der Kaiser und König dies huldreichst anzuer¬
kennen die Gnade gehabt haben. Die an den Herrn Medizinal¬
minister gerichtete Allerhöchste Orde lautet:
„Ich habe von Ihrem Mir unterm 4. d. Mts. erstatteten Be¬
richt über die Choleragefahr in Preussen und die zu ihrer Be¬
kämpfung angeordneten Massnahmen mit lebhafter Befriedigung
Kenntniss genommen. Die getroffenen Vorkehrungen finden
Meine volle Billigung. Ich bin sehr erfreut, dass die auf
wissenschaftlicher Forschung und praktischer Erfahrung be¬
ruhenden Anordnungen von allen dazu berufenen staatlichen und
kommunalen Organen mit grosser Umsicht und regem Eifer zur
Ausführung gebracht sind und auch bei der Bevölkerung ver-
ständnissvolle Aufnahme und Beachtung gefunden haben. Wenn
es unter des Allmächtigen gnädigem Schutze und sichtlichem
Beistände bisher gelungen ist, die Choleragefahr im Lande so
erfolgreich zu bekämpfen, und die zuversichtliche Hoffnung auf
ein baldiges völliges Erlöschen der Seuche berechtigt erscheint,
so hat hierzu, wie Mir wohl bewusst ist, die aufopferungsvolle,
pflichttreue und zielbewusste Arbeit der Behörden und einzelnen
Beamten wesentlich beigetragen. Ich kann es Mir daher nicht
versagen, allen Betheiligten Meinen wärmsten Dank und Meine
besondere Anerkennung hiermit auszusprechen, und ersuche Sie,
dies in geeigneter Weise zu ihrer Kenntniss zu bringen.“
Marmor - Palais, den 17. Oktober 1892.
gez. Wilhelm R.
An
den Minister der geistlichen, Unterrichts¬
und Medizinal - Angelegenheiten.
Diese Allerhöchste Kundgebung ist der Stolz der Medizinal¬
verwaltung und es hat jeder von uns, der zur Bekämpfung der
Seuche mitzuwirken berufen ist, seinen freudigen Antheil daran.
Sie soll uns ein Sporn sein, bei etwaiger Wiederkehr der Gefahr
alle unsere Kräfte einzusetzen zum Wohle des Vaterlandes!
Ihre diesmalige Tagesordnung, meine Herren, beweist, wie
eifrig Sie bemüht sind, durch reichhaltige Gestaltung derselben
wichtige Fragen der Sanitätspolizei und der Medizinalverwaltung
in den Kreis Ihrer Berathungen zu ziehen. Der Herr Minister
abgehaltene X. Hauptversammlung des Preuss. MedizinalbeamtenVereins. 183
wünscht lebhaft, dass Ihre Berathungen dem allgemeinen Besten
zum Nutzen gereichen und dass sie auch dazu beitragen mögen,
die Zusammengehörigkeit der Mitglieder Ihres Vereins fester zu
begründen, den Sinn für Kollegialität zu stärken und Ihre Ver¬
sammlungen immer mehr das werden zu lassen, was sie sein
sollen, — eine fruchtbringende und segenreiche Vereinigung der
Preussischen Medizinalbeamten!“
Namens der Versammlung, welche sich bei der Verlesung
der Allerhöchsten Ordre von ihren Sitzen erhoben hatte, sagte der
Vorsitzende dem Redner Dank, welchen dieser dem Herrn
Minister zu übermitteln versprach.
U. Geschäfts- und Kassenbericht. Wahl der Kassen¬
revisoren.
Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund (Minden): Die auf
der letzten Versammlung von einigen Seiten geäusserte Befürch¬
tung, dass die Zahl der Mitglieder in Folge der damals beschlosse¬
nen Erhöhung des Beitrages abnehmen würde, hat sich keineswegs
bewahrheitet; denn dem ungemein hohen Verluste von 20 Mit¬
gliedern durch den Tod, steht ein Zuwachs von 46 neueingetrete-
nen Mitgliedern gegenüber. Der Verein zählt z. Z. 532 Mit¬
glieder gegen 506 im Herbst 1891 und 286 Mitglieder im ersten
Vereinsjahre (1883).
Die Einnahmen haben 6212,86 Mark, die Ausgaben 6028 Mark
betragen, so dass sich ein rechnungsmässiger Ueberschuss von
184,86 Mark ergiebt, durch den sich das Vereins vermögen auf
3163,81 Mark erhöht hat. Dem vorjährigen Beschlüsse gemäss sind
in diesem Jahre mehrfach bei streitigen Taxfragen von prinzipieller
Bedeutung die Prozesskosten auf die Vereinskasse übernommen
und dadurch eine Endentscheidung dieser Fragen herbeigeführt,
die leider nicht immer zu Gunsten der Medizinalbeamten ausge¬
fallen ist.
(Eine Diskussion knüpft sich an den Geschäfts- and Kassenbericht nicht.)
Zu Kassenrevisoren wurden die Kreisphysiker Dr. Elten
(Angermünde) und Dr. Struntz (Jüterbogk) gewählt.
in. Der Entwurf eines Reichsgesetzes betreffend die
Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten.
Der Referent, Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund führte
aus, dass das Bedürfniss nach dem Erlasse eines Reichsgesetzes
behufs Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten bereits so oft
von Aerzten, Medizinalbeamten und Hygienikern sowohl, als von
den gesetzgebenden Körperschaften anerkannt sei, dass es kaum
nöthig erscheine, darüber ein Wort zu verlieren. Die einschlä¬
gigen in den einzelnen Bundesstaaten zur Zeit geltenden gesetz¬
lichen Vorschriften seien so verschiedenartig und ausserdem zum
Theil so veraltet (besonders in Preussen), dass auf Grund der¬
selben ein erfolgreicher Kampf gegen die für Deutschland haupt¬
sächlich in Betracht kommenden ansteckenden Krankheiten nicht
geführt werden könne. Die Aussicht eines Erfolges auf diesem
Gebiete sei eben nur dann gegeben, wenn auf der ganzen Kampfes-
184 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. in Berlin
linie zielbewusst und mit gleichen Waffen vorgegangen würde;
denn die Volksseuchen machten bekanntlich nicht vor den Grenz¬
pfählen der einzelnen Bundesstaaten halt. Man könne daher der
Reichsregierung nur dankbar sein, dass sie sich entschlossen habe,
das Verfahren betreffs Bekämpfung gemeingefährlicher Krank¬
heiten auf reichsgesetzlichem Wege zu regeln, müsse aber anderer¬
seits ungemein bedauern, dass der dem Bundesrathe vorgelegte
Gesetzentwurf daselbst eine wesentliche Einschränkung besonders
in Bezug auf diejenigen Krankheiten erlitten habe, auf welche er
Anwendung finden solle. Gerade den jetzt im Entwurf gestriche¬
nen ansteckenden Krankheiten: Typhus, Rückfallfieber, Ruhr,
Scharlach, Diphtherie und Wochenbettfieber fallen alljährlich in
Deutschland viele Tausende zum Opfer, während die übrigen im
§. 1 des Entwurfs genannten Seuchen, abgesehen von der Cholera,
in Deutschland entweder gar nicht (Gelbfieber und Pest) oder so
selten (Pocken und Fleckfieber) Vorkommen, dass sie eigentlich
als gemeingefährlich nicht bezeichnet werden können. Wunderbar
sei es auch, dass sich der erweiterte Geschäftsausschuss des
Deutschen Aerztevereinsbundes in gleicher Weise für eine der¬
artige Einschränkung des Gesetzentwurfs ausgesprochen habe, und
zwar um so mehr, als dieser Beschluss im vollen Widerspruch
stehe mit den von dem Aerztetage im Jahre 1883 gefassten Be¬
schlüssen über den Erlass eines Reichsseuchengesetzes. Würde
der Entwurf in der jetzt den Reichstag vorgelegten Form Gesetz,
so könne überhaupt von einem Gesetz betreffs einheitlicher Be¬
kämpfung gemeingefährlicher Krankheiten nicht mehr die Rede
sein, sondern nur von einem Ausnahmegesetz gegen die
Cholera. Zu den bisherigen zahlreichen gesetzlichen Bestimmungen
würde noch ein Choleragesetz hinzukommen und dadurch die Man¬
nigfaltigkeit der Bestimmungen auf diesem Gebiete nur noch ver¬
mehrt werden. Im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege, sowie
vor Allem im Interesse einer gesicherten Durchführung, der zur
Bekämpfung von Volksseuchen erforderlichen sanitätspolizeilichen
Massregeln, sei es aber nothwendig, dass dem jetzt in Deutsch¬
land auf diesem Gebiete bestehenden Missstande der
Mannigfaltigkeit und Ungleichheit ein gründliches
Ende gemacht, d. h. ein Reichsgesetz erlassen werde, "welches
sich nicht nur auf diejenigen Seuchen erstrecke, die vom Aus¬
lande her eingeschleppt werden können, sondern auch auf die
gefährlicheren, in Deutschland heimischen ansteckenden Krankheiten.
Der dem Bundesrathe vorgelegte Entwurf entspreche in seiner
ursprünglichen Fassung im Allgemeinen sowohl den in sanitäts¬
polizeilicher als hygienischer Hinsicht zu stellenden Anforderungen
und halte in vorsichtiger Weise die Mitte zwischen der bakterio¬
logischen und epidemiologischen Forschung. Eine Abänderung des
Entwurfs sei jedoch nach verschiedenen Richtungen hin erwünscht.
Referent bedauert, dass das Viehseuchengesetz dem Entwurf
in so umfangreicher Weise als Muster gedient habe, was nach
seiner Ansicht demselben nicht zum Vortheil gereicht habe. Er ist
ferner der Ansicht, dass der Entwurf hätte wesentlich einfacher
abgehaltene X. Hauptversammlung des Preuss. Medizinalbeamtenvereins. 185
and kürzer gefasst werden können und dass es nicht zweck¬
mässig sei, Vorschriftsmassregeln, die sich späterhin leicht als
abänderungsbedürftig erweisen könnten, in das Gesetz autzunehmen,
da dann jedes Mal eine Aenderung desselben in Frage käme.
Alle derartigen Vorschriften, insbesondere die spezielleren für die
einzelnen Krankheiten, gehören nach Ansicht des Referenten in
die Ausführungsbestimmungen. Endlich sei eine Anzahl sehr
wichtiger Vorschriften im Entwürfe unberücksichtigt geblieben.
Referent bemerkt, dass er, die von ihm für nothwendig er¬
achteten Abänderungen in bestimmten Leitsätzen zusammengestellt
habe, die bereits am Tage zuvor einer Vorberathung durch den
Vorstand unter Zuziehung einer Anzahl anderer Vereinsmitglieder
unterzogen seien und hier mit geringen Abänderungen Zustimmung
gefunden hätten.
Die Leitsätze lauten mit diesen Abänderungen wie folgt:
I.
Im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege ist eine ein¬
heitliche Regelung des Verfahrens betreffs Bekämpfung gemein¬
gefährlicher Krankheiten auf dem Wege der Reichsgesetzgebung
dringend geboten. Ein derartiges Gesetz erfüllt aber nur dann
seinen Zweck, wenn es sich nicht nur auf diejenigen Seuchen
erstreckt, die vom Auslande her eingeschleppt werden können,
sondern auch auf die gefährlicheren, in Deutschland heimischen
ansteckenden Krankheiten Anwendung findet.
n.
Der dem Bundesrathe vorgelegte und von dem Preussischen
Medizinalbeamtenvereine mit Freuden begriisste Entwurf, betreffend
die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten, entspricht im All¬
gemeinen den in dieser Hinsicht zu stellenden Anforderungen; es
empfiehlt sich jedoch, denselben noch nach folgenden Gesichts¬
punkten einer Abänderung zu unterziehen:
1. Die Bestimmungen über die anzeigepflichtigen Krank¬
heiten (§§. 1 und 3 des Gesetzentwurfes)’und über die
anzeigepflichtigen Persouen (§§. 2 und 4 des Ge¬
setzentwurfes) sind in je einem Paragraphen zusammen¬
zufassen.
2. Die Anzeigepflicht ist auf den epidemischen Kopf¬
genickkrampf, sowie auf alle Todesfälle in Folge
einer anzeigepflichtigen Krankheit auszudehnen. Von der
Anzeige der Todesfälle ist jedoch in denjenigen Theilen
des Reichs zu entbinden, in denen durch die obliga¬
torische Leichenschau diese Anzeige an den beam¬
teten Arzt gewährleistet ist.
3. Die bei Erkrankungen an gemeingefährlichen Krankheiten
zu erstattenden Anzeigen sind nur an eine Behörde und
zwar an den beamteten Arzt zu richten.
4. Für grossjährige Familienmitglieder und sonstige Haus¬
genossen erscheint eine Verpflichtung zur Anzeige nicht
nothwendig.
186 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. in Berlin
5. Die Form der Meldekarten über Erkrankungen an an¬
steckenden Krankheiten (§. 5 des Gesetzentwurfes) ist
durch den Bundesrath zu bestimmen. Durch die Erstat¬
tung der Anzeige dürfen dem Absender keine Kosten
erwachsen.
6. Dem beamteten Arzte ist die Verpflichtung aufzuerlegen,
die Ortspolizeibehörde von dem Ausbruche oder dem
Verdachte des Auftretens einer ansteckenden Krankheit
„sofort“ in Kenntniss zu setzen.
7. Die im §. 7 des Gesetzentwurfes den Polizeibehörden ein¬
geräumte Befugniss, bei zweifelhaften Todesfällen eine
Oeffnung der Leiche anzuordnen, ist auf diejenigen
Fälle zu beschränken, in denen nach dem Gutachten des
beamteten Arztes nicht ohne die Leichenöffnung eine Ge¬
wissheit darüber zu erlangen ist, ob der Verstorbene an
einer der im §. 1 genannten gemeingefährlichen Krank¬
heiten gelitten hat oder nicht.
8. Es ist in dem Gesetze eine Bestimmung für den Fall vor¬
zusehen, dass Meinungsverschiedenheiten zwischen
dem behandelnden und dem beamteten Arzte über die
Natur der Krankheit oder zwischen der Ortspolizeibehörde
und dem beamteten Arzte über die anzuordnenden Schutz-
massregeln entstehen.
9. Etwaige Vorschriften über öffentliche Bekannt¬
machungen sowie über Benachrichtigungen benach¬
barter Behörden und des Kaiserlichen Gesundheitsamtes
(§§. 9 und 41 des Gesetzentwurfes) beim Ausbruch gemein¬
gefährlicher Krankheiten sind den Ausführungsbestimmun¬
gen vorzubehalten. 1 )
10. Die in dem Gesetzentwürfe vorgesehenen Schutzmass-
r ege ln (§§. 12—27) siüd zum Theil zu weitgehend, besonders
in Bezug auf die Verkehrsbeschränkungen ansteckungs- oder
krankheitsverdächtiger Personen, theils gehen sie zu sehr
in’s Einzelne und bringen Vorschriften, die in die Aus-
fuhrungsbestimmungen gehören; andererseits sind einige
wichtige Schutzmassregeln, z. B. Fürsorge fiir die nöthige
ärztliche Hülfe und das erforderliche Krankenpflegepersonal,
Belehrung der Bevölkerung durch geeignete Bekannt¬
machungen, Verbot des Aufenthaltswechsels kranker Per¬
sonen ohne zuvorige ortspolizeiliche Genehmigung u. s. w.
unberücksichtigt geblieben.
11. Die Schutzmassregeln bei bedrohlicher Ausbreitung einer
übertragbaren Augenkrankheit (§. 21 des Gesetzent¬
wurfes) sind der Landesgesetzgebung zu überlassen.
12. Der Begriff „beamtete Aerzte“ (§. 35 des Gesetzent¬
wurfes) ist einwandsfreier zu fassen.
l ) Dieser Leitsatz war in der Vorberathung mit einer Stimme Mehrheit
abgelehnt worden, ist aber gleich hier mit aufgel’iihrt, weil sich die Hauptver¬
sammlung mit erheblicher Mehrheit für Beibehaltung desselben ausgesprochen hat.
abgehaltene X. Hauptversammlung des Preuss. Medizinalbeamtenvereins. 187
m.
Zur erfolgreichen Durchführung des Reichsseuchengesetzes
ist es nothwendig, dass die beamteten Aerzte durch gesetzlich
geregeltes pensionsfahiges Gehalt von der ärztlichen Praxis unab¬
hängig gestellt und ihre Rechte und Pflichten den Anforderungen
der öffentlichen Gesundheitspflege entsprechend erweitert werden.
Diskassion.
Die sehr lebhafte, mehrstündige Debatte, an der sich hauptsächlich Geh.
San.-Rath Dr. Wall ich s (Altona), Reg.- u. Med.-Rath Dr. Wernich (Berlin),
Kr.-Phys. Dr. Jacobson (Salzwedel), Med.-Rath Dr. Leseberg (Rostock),
Kr.-Phys. Dr. Philipp (Berlin), Kr.-Phys. Dr. Meyboefer (Görlitz), Med.-
Assessor Dr. Wehm er (Berlin), Kreiswundarzt Dr. Peyser (Königsberg i./N.),
Kr.-Phys. Dr. Möbias (Helgoland), Kr.-Phys. Dr. Karsten (Waren), Reg.- u.
Med.-Rath Dr. Roth (Cöslin). Kr.-Phys. Dr. Matth es (Obornik) nnd Kr.-Phys.
Dr. Köppen (Heiligenstadt) betheiligten, hielt sich im Allgemeinen an die ein¬
zelnen, vom Referenten aufgestellten Leitsätze, die von diesem noch eingehender
begründet wurden. Geh. San.-Rath Dr. Wall ich s vertheidigte dem Referenten
gegenüber die Beschlüsse des Aerztevereinsausschusses zum Gesetzentwürfe,
insonderheit wurde es von ihm in hohem Grade bedauert, dass den Kur¬
pfuschern gleichfalls die Anzeigepflicht auferlegt sei und diese dadurch den
Aerzten gewissennassen gleichgestellt würden, eine Ansicht, der sich auch Reg.-
u. Med.-Rath Dr. Wernich völlig anschloss, während die grosse Mehrheit der
Versammlung der vom Refereuten und besonders vom Kr.-Phys. Dr. Philipp
und Kreiswundarzt Dr. Peyser vertretenen Ansicht zustimmte, dass den Kur¬
pfuschern, da sie zur Zeit einmal zur Ausübung der Heilkunde gesetzlich berechn
tigt seien, die Anzeigepfiicht auferlcgt werden müsse, weil sonst die Verheim¬
lichung von Erkrankungen an gemeingefährlichen Krankheiten begünstigt würde.
Eine lebhafte Erörterung erhob sich ferner über die Art der Anzeige¬
pflicht bei Wochenbettfieber, sowie ob die Anzeige an die Ortspolizei¬
behörde oder an den beamteten Arzt zu erstatten sei. Auch über
These 7 (Zwangssektionen) und These 10 (Schutzmassregeln) ent¬
wickelte sich eine lebhafte Debatte. Es gelangten schliesslich jedoch sämmtliche
vom Referenten aufgestellten Thesen in der vorher mitgetheilten Form mit
grosser Majorität zur Annahme, nur These 9, betreffend Meinungsverschie¬
denheiten zwischen dem behandelnden und dem beamteten Arzte, oder zwischen
diesem und der Ortspolizeibehörde wurde als unnöthig gestrichen und der erste
Satz der These 10 in folgender Weise abgeändert:
„Die in dem Gesetzentwürfe angegebenen Schutzmassregeln (§§. 12—27)
sind in Bezug auf die Vcrkehrsbeschränkungen ansteckungs- oder krank¬
heitsverdächtiger Personen zu weitgehend, auch gehen sie u. s. w.“
Ausserdem wurde auf Vorschlag des Referenten noch als neue These (vor
Nr. 10) einstimmig angenommen:
„Die Ortspolizeibehörde hat bei Anordnung der erforderlichen Schutz¬
massregeln den Vorschlägen und Anordnungen des beamteten Arztes
Folge zu leisten.“
Desgleichen wurde dem Vorschläge des Referenten gemäss beschlossen,
sowohl dem Reichsamt des Innern und sämmtlichen Mitgliedern des Bundesraths,
als allen Reichstagsmitgliedern ein Exemplar des stenographischen Berichts der
heutigen Verhandlung über das Seuchengesetz zu übersenden. Die Fertigstellung
dieses Berichts soll thunlichst beschleunigt werden.
IV. Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten.
Kreisphysikus Dr. Fielitz (Ralle a./S.): Im vorigen Jahre
stand das Thema schon auf der Tagesordnung und wurde damals
als dringlich bezeichnet, zumal das Interesse des Vereins eine
erneute Beschäftigung mit dieser Materie forderte, entsprechend
dem in §. 1 der Statuten angegebenen Zwecke: „den gemeinsam
berechtigten Interessen der Medizinalbeamten Berücksichtigung zu
verschaffen.“
188 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. in Berlin
Schon 1886 hat der Verein sehr gründlich berathen, wie uns
zu helfen sei und seine Wünsche in 6 Thesen niedergelegt. Einen
Erfolg dieser Resolutionen haben wir leider nicht gesehen.
Deshalb ist es angebracht, abermals das Thema zu berühren,
trotzdem die Cholera einen Umschwung zu unsern Gunsten herbei¬
geführt zu haben scheint, indem sie die Unzulänglichkeit unserer
sanitätspolizeilichen Einrichtungen klarlegte. Es bleiben Punkte
zu besprechen, die sich nur innerhalb des Vereins erörtern lassen
und in der Presse keine Berücksichtigung finden können.
Es genügt heute, nur in Umrissen anzudeuten, wie wir uns
eine Aenderung unserer Stellung ungefähr ausmalen. Einzelheiten
lassen wir bei Seite, auch soll unser Amt als Gerichtsarzt nur
gestreift werden, sowohl bezüglich der Bezahlung als der Zustän-
keit für den Sanitätsbeamten.
Dass die Kreisphysiker den heutigen Anforderun¬
gen der Gesundheitspflege nicht genügen können, ist
dem grossen Publikum leider erst durch den Cholera¬
ausbruch klar geworden.
Es handelt sich bei den Aufgaben der Gesund¬
heitspolizei nicht allein darum, Infektionskrankheiten
zu bekämpfen, sondern die Volksgesundheit überhaupt
zu fördern.
Der Laie und auch so mancher Arzt stellt momentan die
Bakteriologie in den Mittelpunkt jeder sanitären Massnahme und
vergisst, dass die Gesundheitspflege nicht gleichbedeutend ist
mit Gesundheitspolizei. Sonst hätte der Medizinalbeamte nur
thätig zu sein, sobald eine schwere Seuche das Land heimsucht.
Er soll aber gerade die Zeit der Ruhe benutzen, um die Verhält¬
nisse seines Bezirks gründlich kennen zu lernen: er muss die Wit¬
terungs-, Boden- und Wasserverhältnisse beobachten, die Lebens¬
bedingungen der Bewohner studiren, Wohn-, Arbeits- und Erho¬
lungsstätten unter Kontrole haben und alle Einrichtungen im Auge
behalten, welche Staat oder Gemeinde zum Schutze menschlicher
Gesundheit getroffen hat.
Dazu gehört die ganze Thätigkeit eines Mannes
und dem ist der jetzige Kreisphysikus nicht gewachsen; denn es
fehlt ihm Stellung, Zeit und Einkommen.
Schon 1886 wurde betont, dass von Selbstständigkeit beim
Medizinalbeamten keine Spur zu finden ist. Er ist ein Beamter,
welcher niemals genau angeben kann, was er thun muss und was
er thun darf.
Aber auch deshalb muss die nebenamtliche Thätigkeit als
Physikus aufhören, weil wir jetzt nicht die Zeit haben, den
Verpflichtungen des Amtes in idealer Weise nachzukommen.
Wir haben besonders in den letzten Jahren sehr viele Zeit
geopfert, um den überaus schnellen Fortschritten der Bakteriologie
und Hygiene zu folgen. Viele von uns haben staatliche Kurse
durchgemacht, obwohl die meisten sich klar waren, dass unter
heutigen Verhältnissen eine Verwerthung des Gelernten im Dienste
des Staates unmöglich sein würde.
abgehaltene X. Hauptversammlung des Preuss. Medizinalbeamtenvereins. 189
Daran hindert uns auch das Fehlen eines genügen¬
den Amtseinkommens.
Bei den früheren 200 Thalem stand sich der Physikus besser,
als jetzt bei seinem Gehalt von 900 Mark, denn die Arbeit hat
sich seit 1872 verdrei- und vierfacht. Wir können das jetzige
Einkommen nicht mehr als genügende Entschädigung für die Zeit
betrachten, welche unserm Haupterwerbe als Arzt verloren geht,
zumal die meisten gerichtsärztlichen Geschäfte dem heutigen Geld-
werthe entsprechend schlecht honorirt werden. Es ist durchaus
nöthig, dass auch der Geldpunkt seine Berücksichtigung findet.
Wenn wir trotzdem in der Noth der Zeit amtlichen Anfor¬
derungen genügten, wie der Herr Minister vor der Volks¬
vertretung in dankenswerther Weise anerkannt hat,
so geschah es mit persönlichen Opfern, welche der preussische
Physikus trotz seiner Übeln Position, wenn es darauf ankommt,
ebenso willig bringt, wie jeder andere Beamte.
Daraus kann man aber nicht folgern, dass es so bleiben
kann, auch nicht aus dem uns allen erklärlichen Andrang
zu Physikatsstellen.
Sollten wir endlich vor einer Reform des Medizinalwesens
stehen, so müssen wir uns fragen: wie weit erstrecken sich
unsere Wünsche? welche Forderungen unsererseits
sind berechtigt und welche sind durchführbar?
Einmüthig anerkannt wird von allen Seiten, dass wir wirk¬
liche Staatsbeamte werden müssen.
Die Scheu vor einer erweiterten Kompetenz der Kreisphysi¬
ker ist ganz ungerechtfertigt, nachdem die Cholera gezeigt hat,
dass wir auch weitgehende Vollmachten zu beurtheilen verstehen.
Gerade in den jüngsten Tagen erscheint diese Frage von
Wichtigkeit. Ein Seuchengesetz selbst von beschei¬
denstem Umfange kann nicht wirksam sein ohne Be¬
amte mit selbstverantwortlicher Stellung! Schon im
Jahre 1876 hat die wissenschaftliche Deputation eine Aenderung
in dieser Richtung als nothwendig erachtet.
In seiner Existenz als praktischer Arzt wird der Medizinal¬
beamte während einer schweren Seuche ungemein geschädigt.
Dem kann nur abgeholfen werden durch Beamten¬
stellung mit Pensionsberechtigung.
Wird uns diese Stellung, wie wir nach den wohlwollenden
Aeusserungen des Herrn Ministers hoffen dürfen, bald zu Theil,
dann erledigen sich alle Unterfragen ganz von selbst.
Hierher gehört vor Allem unser Verhältniss zu den
praktischen Aerzten, das seit Jahren getrübt ist — haupt¬
sächlich durch unsere eigene Schuld, da die Aerzte sehen, dass
wir bestrebt waren, unser niedriges Gehalt unter Berufung auf
unser Amt durch allerlei Nebeneinnahmen zu vergrössem. Mit
diesen Nebeneinnahmen ist es überhaupt ein eigen Ding: je grösser
sie werden, desto mehr entziehen sie dem Physikus Zeit, die er
seinem Amte widmen sollte. Und deshalb sollte man als Neben¬
einnahmen nur solche ansehen und gutheissen, welche direkt aus
190 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. in Berlin
sanitätspolizeilichen oder höchstens gerichtsärztlichen Geschäften
fliessen. Gegen diese hat der praktische Arzt nichts einzuwenden.
Auch die Frage der späteren Zulässigkeit ärzt¬
licher Praxis wird sich von selbst entscheiden, wie
das hei den Reg. - Med. - Räthen ebenfalls gewesen ist.
Unter allen Umständen haben die praktischen Aerzte das
grösste Interesse, uns so gestellt zu sehen, dass wir ärztliche
Thätigkeit höchstens als Nebenbeschäftigung betrachten können.
Ist solche Stellung erreicht, dann wird sich auch der Sturm legen,
den nicht ganz mit Unrecht der Seuchengesetzentwurf unter den
Aerzten entfesselt hat. Dann erst wird das Gesetz den gehofften
Nutzen bringen. —
Ueber die event. Höhe unseres Einkommens und über die
Flüssigmachung der erforderlichen Mittel haben wir nicht zu de-
battiren, wenigstens scheint hier nicht der geeignete Ort zu sein.
Nur das muss immer wieder betont werden, dass eine einfache
„Gehaltszulage“ nichts nutzen kann, sondern nur die Einreihung
der Kreisphysiker unter die pensionsberechtigten Staatsbeamten.
Ich stelle deshalb der Versammlung anheim zu beschliessen:
„Der Vorstand des Vereins möge dem Herrn
Minister unsern Dank aussprechen für die den
Medizinalbeamten gezollten Worte der Aner¬
kennung und Sr. Exzellenz die einmüthige An¬
sicht des Vereins unterbreiten, dass auf dem
Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege
eine erspriessliche Thätigkeit der Kreisphysi¬
ker dauernd nur möglich ist, wenn sie zu pen¬
sionsberechtigten Staatsbeamten mit aus¬
reichendem Gehalte und genügender Kompetenz
gemacht werden.“
Diskussion:
In der sich an den Vortrag anschliessenden Debatte pflichteten Bezirks-
physikus Dr. Litthaner (Berlin), Oeh. San.-Rath Dr. Wallichs (Altona)
und Kr.-Phys. Dr. Jacobson (Salzwedel) den Ausführungen des Beferenten im
Allgemeinen bei, auch nach der Richtung hin, dass der Pbysikus nicht völlig
aus der ärztlichen Praxis loszulösen sei, sondern nur so gestellt werden müsse,
dass er auf jene nicht mehr betreffs seines Lebensunterhaltes angewiesen sei.
Geh. Med.-Rath Dr. Kanzow führte dann noch aus, dass auch die Stellung der
Regiemngs- und Medizinalräthe einer Reform bedürftig sei, da diese Beamten
thatsächlich überlastet seien und zwar besonders durch Arbeiten, die mit Sanitäts¬
polizei und Hygiene nichts zu thun hätten, wie Prüfung einer Unmasse von
Rechnungen über Arzneien, ärztliche Gebühren u. s. w.
Der von dem Referenten gestellte Antrag wurde einstimmig angenommen.
Schluss der Sitzung: Nachmittags 3 Uhr. Einen grossen
Theil der anwesenden Mitglieder vereinigte sodann um 4 Uhr Nach¬
mittags ein Festmahl im Englischen Hause zu frohbewegtem Zu¬
sammensein.
Den Schluss des Tages bildete Abends 9 Uhr die übliche
gesellige Vereinigung bei Sedlmayr (Friedrichstrasse Nr. 172).
abgehaltene X. HanptYorssmmlurg des Preuss. Medizin albe amten Vereins. 191
Zweiter Sitzungstag, Dienstag, den 11. April,
Vormittags 9 1 /* Uhr.
I. Zur Lehre von der Arsenvergiftung.
Privatdozent und gerichtlicher Stadtphysikus Dr. Strass-
mann (Berlin): Die Untersuchungen des Vortragenden beziehen
sich auf die Frage, inwieweit — abgesehen von den eigentlichen
Aetzgiften — an der Leiche eine Diffussion in den Magen einge-
führter Gifte, speziell der arsenigen Säure und ein Eindringen
derselben in entferntere Organe stattfindet, ob also der Arsen¬
nachweis in anderen Organen ausserhalb des Magens (und event.
in welchen) eine während des Lebens stattgehabte Resorption be¬
weist oder nicht. Die Frage hat praktische Bedeutung, weil
Fälle Vorkommen künnen und schon vorgekommen sind, in denen
einer Leiche, um einen Unschuldigen des Giftmordes zu verdäch¬
tigen, solches einverleibt worden ist oder in deuen der Angeklagte
den verdächtigen Arsengehalt auf eine zu Konservirungszwecken
gemachte postmortale Einführung zurückzuführen suchte; weil
ferner bei konkurrirenden Todesarten es für die Entscheidung von
Bedeutung sein konnte und war, ob eine stattgefundene Resorption
des Giftes nachgewiesen werden konnte; endlich weil aus der Ver-
theilung des Giftes speziell bei der Arsenintoxikation Schlüsse
auf die zwischen Vergiftung und Tod vergangene Zeit gemacht
werden, die durch eine etwaige postmortale Imbibition natürlich
beeinträchtigt werden müssen. Beobachtungen und Untersuchungen
über diese Frage liegen bisher vor von Orfila, Taylor, Mol-
tedo, Walter, Reese, Prescot und die umfangeichsten von
Dante Torsellini. Letzterer fand nach Einbringung von Arsen
in den Magen einer Leiche schon 7 Tage später As. im Gehirn
und kommt zu dem Resultat, dass nur in den ersten Tagen des
Leichenalters eine Entscheidung möglich sei, ob Vergiftung oder
Giftzufuhr nach dem Tode vorliegt.
Der Vortragende hat diese Frage neu aufgenommen. Seine
gemeinsam mit Dr. Alfred Kirstein angestellten Versuche, die
an anderer Stelle ausführlicher veröffentlicht werden sollen, sind
-an Leichen von Kindern und Thieren mit arseniger Säure, wie
mit verschiedenen anderen Substanzen ausgeführt worden. Es
ergab sich, dass unter günstigen Versuchsbedingungen allerdings
schon nach 12 Tagen Arsen, dass in den Leichenmagen gebracht
worden war, in den benachbarten Organen nachgewiesen werden
konnte, aber auch nach 28 Tagen bisher nur in den benachbarten,
nicht z. B. im Gehirn. Besonderen Werth legt der Vortragende
auf die Thatsache, dass bei der Leichenimbibition die linke Niere
aus anatomischen Gründen schon stark mit der diffundirten Substanz
durchtränkt ist, ehe die rechte noch Spuren eines Eindringens
zeigt. Nur ausnahmsweise blieben beide Nieren frei. Die isolirte
Analyse jeder der beiden Nieren wird danach event. eine Ent¬
scheidung ermöglichen. Giftgehalt der linken, Freibleiben der
rechten Niere wird die Annahme der postmortalen Infiltration im
Gegensatz zur Resorption während des Lebens bestätigen; und
•empfiehlt der Vortragende deshalb in Fällen, in denen bereits bei
192 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. in Berlin
der Obduktion an die Möglichkeit eines postmortalen Eindringens
gedacht wird, jede Niere für sich dem Chemiker zu übergeben.
Ein ähnlicher, wenn auch natürlich nicht so scharfer Unterschied
besteht auch zwischen den linken und rechten Abschnitten der
Leber. —
(Eine Diskussion knüpfte sich an diesen Vortrag nicht.)
U. Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene.
Dr. Leppmann, Irrenanstalts- und Gefängnissarzt (Moabit):
In Straf-Gefangenen- und Korrektionsanstalten sind mindestens
5 Proz. der Insassen geistig defekt oder werden während des Auf¬
enthalts geisteskrank. Dort wo die Irren- und Armenpflege den
Organen der Selbstverwaltung zufällt, tragen die Strafvollzugsober¬
behörden Bedenken, die Erkrankenden, so lange noch Wiederein¬
tritt der Strafvollzugsfälligkeit denkbar ist, aus ihrer Aufsicht zu
entlassen. Auch sträuben sich die öffentlichen Irrenanstalten häufig
gegen die Aufnahme frisch Erkrankender, welche schleunige Hülfe
beanspruchen. Daher wird als These hingestellt:
I. Für grössere Staaten, d. h. für solche mit entsprechend!
zahlreicher Zwangsanstaltsbevölkerung und verwickelter Gliederung
der öffentlichen Fürsorge empfiehlt sich die Begründung besonderer
Beobachtungs- und Heilanstalten für geisteskranke Strafgefangene.
Die besondere Gefährlichkeit der geisteskranken Strafge¬
fangenen kann nicht anerkannt werden. Auch ihre Bescholtenheit
iBt kein genügender Grund, sie als besondere Kategorie von
Kranken hinzustellen, daher:
II. Für geisteskranke Strafgefangene, welche aus dem Straf¬
vollzüge ausscheiden, sind besondere Anstalten oder besondere
Anstaitsabtheilungen weder erforderlich noch wünschenswerth.
Ferner müssen eine Reihe Vorbeugungsmassregeln geschaffen
werden, welche das Vorkommen der Geistesstörung im Strafvoll¬
züge vermindern und ihre rechtzeitige Erkennung erleichtern sollen.
Beschränkt man sich bei den dahin gehenden Forderungen
auf das, was für die nächste Zukunft durchführbar erscheint, so
ergiebt sich:
III. a) Genauere Rücksichtnahme auf die geistige Unzuläng¬
lichkeit in der Strafrechtspflege auf dem Boden geltenden Gesetzes.
b) Verbesserung der Strafvollzugseinrichtungen insbesondere
umfassendere Vermittelung der Persönlichkeit der zur Strafhaft
Eingelieferten, durch systematische Erkundigungen über deren
Vorleben und durch Erweiterung der Stellung und Pflichten der
Anstaltsärzte.
c) Grössere Anerkennung der geistigen Minderwerthigkeit in
der Armenfürsorge mit zweckentsprechender Anstaltsfürsorge.
d) Verwirklichung einiger Gesetzesprojekte, nämlich:
1. Ausgestaltung der bedingten Entlassung mit Berücksich¬
tigung der verschiedenartigen Wirkung der Freiheitsstrafe
je nach der Eigenart der Bestraften.
2. Möglichste Ausdehnung der staatlich überwachten Erziehung
an Stelle der Strafe bei jugendlichen Rechtsbrechern und
in Verwahrlosung Verfallenden. Dadurch wird am ehesten
abgehaltene X. Hauptversammlung des Preuss. Medizmalbeamtenvereiüs. 193
die Möglichkeit gegeben, geistig Defekte vor völliger
Strafmündigkeit zu kennzeichnen und der öffentlichen
Irren-, Armen-, Epileptiker- oder Idiotenfürsorge zu über¬
geben.
Diskussion.
Geh. San.-Rath Dr. Wallichs tritt den Ausführungen des Vortragenden
bei, obwohl er befürchtet, dass seine Wünsche nicht sobald in Erfüllung gehen
werden. Insbesondere ist er damit einverstanden, dass die Sachverständigen
sich bei ihren Gutachten bestimmter über die Frage der Zurechnungsfähigkeit
aussprechen. Die Beobachtung der Simulanten hält er nicht für so unwichtig,
wie es der Vortragende darstellt, da die Simulation doch ziemlich häufig vor¬
komme. Kr.-Phys. Dr. Coester (Goldberg) schildert an einem Falle die selt¬
samen Folgen, die sich ergeben können, wenn die Gerichte bei Begutachtung von
Geisteskrankheiten sich nicht zunächst an den Medizinalbeamten wenden. Der Vor¬
tragende erwidert auf die Ausführungen von Wallichs, dass bei Untersuchungs¬
gefangenen die Simulation häufiger vorkomme und dort durch eine kalte Douche
beseitigt werden könne. Bei den Gefangenen aber, die in die Irrenabtheilung
aufgenommen würden, habe sich noch kein Fall von Simulation gezeigt. Zum
Schluss betont er nochmals, dass sich die Armenpflege nicht auf Kosten der
Strafrechtspflege entlasten dürfe.
m. Ueber die staatliche Beaufsichtigung des Irrenwesens.
Der Referent, Kreisphysikus Dr. Meyhöfer (Görlitz) ver¬
langt, dass dem Hausarzt grösserer Einfluss auf die Unterbringung
eines Geisteskranken in eine Irrenanstalt eingeräumt werde, da
der Hausarzt oftmals kompetenter sei als der Physikus, der den
Kranken nur ein einziges Mal gesehen habe. Im weiteren ver¬
langt der Vortragende, dass nur an Aerzte die Konzession zur Er¬
richtung einer Privat-Irrenanstalt gegeben werden solle, und fasst
schliesslich seine Ausführungen in folgende Thesen zusammen:
1. Eine sorgfältige Ueberwachung der Irrenanstalten ist er¬
forderlich; mit derselben darf aber nicht eine Erschwerung der
Aufnahme eines Geisteskranken verbunden sein, da die möglichst
schleunige Unterbringung desselben im Sinne der Heilbarkeit ge¬
boten ist.
2. Die durch die Königliche Staatsregierung angekündigte
Einsetzung von Besuchskommissionen ist als eine höchst zweck¬
entsprechende Massregel zu begrüssen. Sie wird geeignet sein,
das im Publikum verbreitete Misstrauen bezüglich der Möglichkeit
einer ungerechtfertigten Freiheitsberaubung zu beseitigen und auf
den Betrieb, sowie die Einrichtungen der Anstalten, sowohl der
privaten als der öffentlichen, förderlich einzuwirken.
3. Diesen Besuchskommissionen soll der zuständige Physikus
eo ipso als Mitglied angehören, er soll — abgesehen von den
periodischen Revisionen — die fortlaufende Ueber wachung der
Privat - Irrenanstalten ausüben.
4. Bei Aufnahme eines Geisteskranken in letztere muss die
Anzeige, ausser an die Königliche Staatsanwaltschaft des Heimaths-
bezirkes des Kranken, gleichzeitig an den für die Anstalt zu¬
ständigen Physikus erstattet werden, an letzteren unter Einreichung
des zur Aufnahme erforderlichen ärztlichen Attestes. Die Bei¬
bringung eines Physikatsattestes ist nicht unbedingt erforderlich.
5. An die Polizeibehörden haben Anzeigen lediglich nach
Massgabe des allgemein gültigen Meldewesens zu erfolgen.
194 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. in Berlin
6. Die Gewerbeordnung ist bezüglich des Verfahrens bei Er¬
richtung neuer Privat-Irrenanstalten durch eine Novelle dahin zu
ergänzen, dass der Konzessionsnachsucher ein Arzt sein oder einen
Anstaltsarzt präsentiren muss, welcher allein die Verantwortlich¬
keit zu tragen und ausschliesslich mit der Aufsichtsbehörde zu
verkehren hat.
Diskussion.
Kreiswundarzt Dr. Peyser (Königsberg i./N.) will im Gegensatz zum Vor¬
tragenden entschieden daran festgehalten wissen, dass die Aufnahme in Privat¬
irrenanstalten nur auf Grund eines Physikatsattestes erfolgen darf. Kr.-Phya.
Dr. Philipp ergänzt die Ausführungen des Vortragenden dahin, dass nicht
nur das jetzige Verfahren der Konzessionirung von Irrenanstalten zu leicht,
sondern auch das Verfahren bei Entziehung von Konzessionen zu schwer ist.
Er erläutert dies durch einen Spezialfall, über den sich auch der Vorsitzende
noch ausführlich äussert.
Vor Eintritt der Pause verabschiedete sich der Ministerial¬
direktor Dr. Bartsch von der Versammlung mit folgenden Worten:
„Meine Herren! Durch anderweitige Amtsgeschäfte in An¬
spruch genommen, muss ich diesen Saal und diese Versammlung
zu meinem Bedauern vor Schluss Ihrer Berathungen verlassen.
Ich kann es aber nicht thun, ohne Ihnen im Namen des Herrn
Ministers Dank und Anerkennung auszusprechen, für die ruhige,
ernste, sachgemässe Art, mit welcher Sie unter der bewährten
Leitung Ihres Herrn Vorsitzenden die Gegenstände Ihrer Tages¬
ordnung behandelt haben.
Unter diesen Gegenständen sind einzelne von hervorragender
Bedeutung: Dazu rechne ich vor Allem das gestern von Ihnen
erörterte sogenannte Reichsseuchengesetz, dessen weiteres Schicksal
nunmehr in den Händen des gegenwärtig wieder zusammentreten¬
den Reichstages ruht. Möchten doch die auf diesem Gebiete etwa
noch bestehenden Meinungsverschiedenheiten sich ausgleichen und
möchte das für die fernere sanitäre Entwickelung in unserem
Vaterlande so wichtige Gesetz recht bald praktisches Recht werden!
Nicht minder wichtig ist die ebenfalls gestern von Ihnen behandelte
Stellung der Medizinalbeamten und die damit zusammenhängende
Weiterführung der Medizinalreform überhaupt. Voraussichtlich
wird das Reichsseuchengesetz hierauf von entscheidender Ein¬
wirkung sein; denn es wird die Stellung der Medizinalbeamten,
ihre Zuständigkeit, ihren Wirkungskreis wesentlich verändern.
Der Herr Minister hat es daher für gerathen erachtet, seine weitere
Beschlussfassung über die Medizinalreform bis zum Inkrafttreten
des Gesetzes zu vertagen. Inzwischen ist der Herr Mini¬
ster fortgesetzt darauf bedacht, die Stellung insbe¬
sondere der Herren Physiker zu verbessern, und der
Herr Minister wird, wie ich erklären darf, nicht eher
ruhen, als bis diese Frage einem gedeihlichen Ab¬
schlüsse entgegengeführt ist. Auch das, was heute hier
verhandelt worden ist, hat mein lebhaftes Interesse erregt und
ich darf Namens des Herrn Ministers versichern, dass die gege¬
benen Anregungen nicht unberücksicht bleiben werden.
So stehen Sie denn nun, meine Herren, am Schlüsse Ihrer
abgehaltene X. Hauptversammlung des Presse. Medizinalbeamtenvereins. 195
Verhandlungen und kehren heim, jeder zu seinem Berufe, jeder,
wie man hoffen darf, gefördert und bereichert durch mancherlei
nützliche Eindrücke und Erfahrungen. Möchten wir uns doch Alle
Wiedersehen bei der XI. Hauptversammlung Ihres Vereins! Mit
diesem Wunsche verabschiede ich mich von Ihnen und sage Ihnen
Allen bestens Lebewohl!“ —
Der Vorsitzende sprach dem Redner den erneuten Dank
der Versammlung aus, worauf dieser, von der Versammlung be-
grüsst, sich zurückzog.
IV. Vorstands wähl. Bericht der Kassenrevisoren.
Als Vorstandsmitglieder wurden mittelst Stimmzettel gewählt:
Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund (Minden), Geh. San.-Rath
Dr. Wallichs (Altona), gerichtlicher Stadtphysikus San.-Rath
Dr. Mittenzweig, Kreisphysikus Dr. Philipp und Reg.-Med.-
Rath Dr. Wernich (Berlin). Die früheren Vorstandsmitglieder
Geh. Med.-Rath Dr. Kanzow und Polizeistadtphysikus San.-Rath
Dr. Schulz hatten eine Wiederwahl bestimmt abgelehnt. Betreffs
der Geschäftsvertheilung ist der neugewählte Vorstand dahin über¬
eingekommen, dass Reg.- und Med. - Rath Dr. Rap mund das Amt
des Vorsitzenden übernimmt und gleichzeitig, wenigstens vor¬
läufig, die Geschäfte des Schriftführers beibehält.
Auf Antrag des Geh. San.-Rath Dr. Wallichs wurde der
ausscheidende bisherige langjährige Vorsitzende Geh. Med.-Rath
Dr. Kanzow unter lebhaftem Beifall der Versammlnng einstimmig
zum Ehrenvorsitzenden ernannt.
Die Prüfung der Kassenbücher und der Kasse hatte die
Richtigkeit derselben ergeben; dem Schriftführer wurde daher auf
Antrag der beiden Revisoren Decharge ertheilt.
V. Reg.-Rath Dr. Petri (Berlin) erläutert hierauf einen von
ihm zusammengestellten Cholerakasten. Gelegentlich der Cholera-
Kurse habe sich das Bedürfniss nach einer kompendiösen Zusam¬
menstellung aller für die bakteriologische Diagnose der Cholera
nöthigen Apparate herausgestellt. Der Inhalt des von ihm zusam¬
mengestellten und in der Fabrik von Robert Muencke (Luisen¬
strasse 58, Berlin) angefertigte Kasten sei so bemessen, dass nicht
nur die allernothwendigsten Arbeiten zur Erkennung des Komma-
bazills der Cholera, sondern auch andere Untersuchungen damit
ausgeführt werden könnten.
VI. Unfall und Bruchschaden.
Kreisphysikus Dr. Griesar (Trier): Die Frage nach dem ur¬
sächlichen Zusammenhänge zwischen plötzlicher Bruchbildung und
äusserer Gewalteinwirkung ist alt, aber immer noch nicht ent¬
schieden. Sie hat eine hohe Dignität erlangt seit Emanation der
Unfallgesetze. Um einen Standpunkt zu gewinnen, der den Be¬
dürfnissen der Praxis genügt und auch den Anforderungen der
Wissenschaft entspricht ist eine Kenntniss der einschlägigen Be¬
stimmungen der Unfallgesetzgebung, namentlich aber auch der die
Bruchfrage betreffenden Erkenntnisse des Reichsversicherungsamtes
nothwendig. Die von dieser Behörde aufgestellten Normen bei
Beurtheilung von Körperschädigungen gelten auch bei den plötzlich
196 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. in Berlin
in Folge von Unfällen entstandenen Unterleibsbrüchen. Vorhandene
Dispositionen oder individuelle Anlagen haben bei der Beurtheilung
von Entschädigungsansprüchen ausser Betracht zu bleiben, es
handelt sich nur darum, ob ein Unfall im gesetzlichen Sinne vor¬
lag, ob die Bruchbildung ein zeitlich bestimmtes in plötzlicher
Entwickelung sich vollziehendes Ereigniss darstellte und wie zeit¬
lich und örtlich, so auch ursächlich mit dem versicherungspflich¬
tigen Betrieb in Zusammenhang stand, dergestalt, dass die Bruch¬
bildung plötzlich bei einer schweren Anstrengung erfolgte, welche
zugleich über den Rahmen der gewöhnlichen Betriebsarbeit hin¬
ausging. Die plötzliche Entstehung von Unterleibsbrüchen wird
namentlich von solchen Autoren bestritten, welche in der Bruch¬
sackbildung auch schon den Bruch als fertig gebildet betrachten;
es ist dies unstatthaft. Die Bildung des Bruchsacks erfolgt
wenigstens in den Anfangsstadien allmählich, ist der Zustand bis
zu einem gewissen Grade gediehen, so kann ein Bruch in Folge
einer stärkeren Bauchpressenaktion plötzlich in seiner ganzen
charakteristischen Weise in Erscheinung treten, der sich beim
Fehlen von äusseren grösseren Gewalteinwirkungen möglicherweise
nicht ausgebildet haben würde. Für diese Thatsache sind eine
Menge von Aeusserungen der anerkanntesten Fachchirurgen und
Gerichtsärzte anzuführen. Die gegenteilige Auffassung King-
don’s und Roser’s sind im Uebrigen nicht so schroff, dass sie
nicht auch eine Bestätigung der Auffassung des Reichsversiche¬
rungsamtes bildeten, nur gehören die plötzlich in Folge von Be¬
triebsunfällen entstandenen Brüche nicht zu den Ausnahmefallen,
sie sind nur nicht so häufig wie die im Anschluss an die täg¬
lichen Anstrengungen bei vorhandener Disposition sich ausbilden¬
den Brüche. Der nach Prüfung der einschlägigen Punkte einzu¬
nehmende Standpunkt ist dahin zu präzisiren:
Wir sehen in einer Bauchfellausstülpung an einer der be¬
kannten Bruchpforten, welche sich beim Pressen und Drängen füllt
und sich dem zufühlenden Finger bemerklich macht, um beim
Nachlassen der Bauchpresse wieder zu verschwinden, nicht bereits
einen Bruch, sondern nur die Bruchanlage, weil sie den damit
Behafteten so wenig belästigt, dass der Zustand oft nicht einmal
zum Bewusstsein kommt, jedenfalls ihm keinen Gefahren, speziell
nicht der Einklemmung aussetzt und ihn auch nur soweit in der
Arbeits- und Erwerbsfähigkeit beschränkt, als er vielleicht zur
Verhütung der Bruchbildung gezwungen ist, ein Bruchband zu
tragen. Sind aber die fibrösen Bindegewebsbiindel und Fascien,
welche dem Vortreten der Bauchfellausstülpung vor die Leibes¬
höhle Widerstand leisteten, gerissen oder durch Ueberdehnung
erschlafft, und bleiben jene auch mit Nachlass der Bauchpresse in
gefülltem Zustande ausserhalb der Bruchpforten, so ist der patho¬
logische Zustand gegeben, welchen wir als Bruch bezeichnen,
welcher den Betreffenden der Gefahr der Einklemmung aussetzt,
ihn zwingt, ein gutes Bruchband zu tragen und darauf zu achten,
dass dasselbe dauernd den Bruch zurückhält und sich der Be¬
schränkung bei der körperlichen Arbeit und deren Auswahl stets
abgeh<ene X. Hauptversammlung des Preuss. Medianalbeamtenvereins. 197
eingedenk zu bleiben, ihn somit in der Ausnutzung der Arbeits¬
gelegenheit und der Anwendung der vollen Arbeitskraft und Hin¬
gebung an die gewählte Arbeit hindert. Kommt nun ein Bruch
in der ausgeführten Weise plötzlich zu Stande in ursächlichem
Zusammenhang mit einer schweren, über den Rahmen der gewöhn¬
lichen Betriebsarbeit hinausgehenden körperlichen Anstrengung,
wobei etwaige Dispositionen ausser Betracht bleiben, so liegt ein
Unfall im Betrieb vor, und Entschädigungsansprüche sind begrün¬
det; hingegen sind alle Bräche, welche sich allmählig durch eine
Kette kleinerer und grösserer Anstrengungen entwickeln, als Ge¬
werbekrankheiten zu qualifiziren, die der Wohlthat der Unfall¬
gesetzgebung nicht theilhaftig werden können.
Dass Brucheinklemmungen durch eine plötzliche, verstärkte
Bauchpressenaktion eintreten können, bestreitet Niemand. Sie
kommen selten als Betriebsunfälle in Frage, weil sich die Folgen
vor Ablauf der 13. Woche ausgleichen und der Zustand des ganzen
Individuums kaum schlechter als vorher ist; nur in Todesfällen,
wo es sich um eine Rente für die Hinterbl ebenen handelt, wird
ein Entschädigungsanspruch begründet sein.i
Die Untersuchung angeblich Bruch - Unfallverletzter ist mit
aller Sorgfalt zu führen und auf die Anamnese und die eigene Be¬
weisführung bezüglich des plötzlichen Entstehens Werth zu legen.
Die von dem Reichsversicherungsamt zugebilligte Entschädi¬
gung von 10—15 °/ 0 entspricht durchaus den Verhältnissen. Die
Einwendungen eines neueren Autors, dass Bräche die Erwerbs¬
fähigkeit nicht alteriren, sind nicht stichhaltig.
Die Empfehlung der Radikaloperation zur restitutio ad in¬
tegrum ist nicht gerechtfertigt, weniger wegen der Gefahr dieses
Eingriffes, als vielmehr aus dem Grunde, weil sie nur in ca. 61 °/ 0
dauernden Erfolg hat.
Die allzugrosse Häufigkeit der Bruchbildungen in Folge von
Betriebsunfällen ist statistisch erwiesen. Bei der grossen Zahl
von Unfällen, welche dem Reichsversicherungsamt Vorlagen, ist
z. B. im Jahre 1892 nur in 201 Fällen Bruchschaden als Unfall
Gegenstand des Streites gewesen, nur 38 Fälle wurden zu Gunsten
der Kläger entschieden.
VII. Anträge und Diskassionsgegenstände.
a. Ueber amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte,
sowie Untersuchungen in der Wohnung des Gerichts¬
arztes ohne vorheriges Aktenstudium behufs Abgabe
eines mündlichen Gutachtens im Termin berichtet Kreis-
physikus San.-Rath Dr. Ko lim-Berlin: Er erwähnt zunächst die
gesetzlichen Bestimmungen über die Ausstellung „amtsärzt¬
licher Atteste“ und zeigt an der Hand verschiedener Beispiele,
dass, obwohl nach den jüngsten ministeriellen Entscheidungen eine
unentgeltliche Ausstellung nur bei Befundscheinen, aber nicht
bei Gutachten in Frage kommen könne, trotzdem alljährlich eine
grosse Anzahl derartiger amtsärztlicher Atteste von den Medizinal¬
beamten unentgeltlich ausgestellt würden; nach einer von ihm an-
gestellten Umfrage z. B. im Jahre 1892: 638 Gutachten von 250
198
Eingesandt.
Physikern, was ein Einnahmesoll von ca. 6000 Mark für diese
repräsentire. Die Ursache daran liege jedenfalls in der verschie¬
denartigen und unrichtigen Auslegung der gesetzlichen Be¬
stimmungen und es sei daher dringend erwünscht, eine prinzipielle
ministerielle Entscheidung herbeizuführen. Vortragender beantragt,
den Vorstand zu beauftragen, dieserhalb in einer besonderen Ein¬
gabe bei dem Herrn Ressortminister vorstellig zu werden.
Aehnlich liegen nach Ansicht des Referenten die Verhältnisse
betreffs der zweiten von ihm in Anregung gebrachten Taxfrage:
Die Gebühren für die Untersuchungen von Personen
in derWohnung des Medizinalbeamten oder für Akten¬
studien behufs Abgabe eines mündlichen Gutachtens
im Termin. Auch hier werde in dem einen Bezirke anders als
in dem anderen verfahren, in jüngster Zeit sei jedoch in Folge des
Justizministerialerlasses vom 13. Juli 1992 meist zu Ungunsten
der Medizinalbeamten entschieden. Der Grund dazu müsse in einer
Lücke des Gesetzes vom 9. März 1872 gesucht werden und hält es
Referent daher für wünschenswerth, dass seitens des Vorstandes an
das Abgeordnetenhaus eine Petition um Abänderung jenes Gesetzes
gerichtet werde. Inzwischen empfehle es sich, in jedem einzelnen
Falle den Beschwerdeweg bis zur letzten Instanz zu beschreiten.
Diskussion.
Nach kurzer Erörterung, an der sich Geh. San.-Rath Dr. Wallichs,
Kreisphysikus Dr. Philipp (Berlin), San.-Rath Dr. Wiedner (Kottbus)
und der Vorsitzende betheiligte, wurden die Anträge des Referenten angenommen.
b. Die Hufeland’schen Stiftungen.
Die Berathung dieses Antrages fiel aus, da der Referent,
Reg. - und Med. - Rath Dr. Rapmund, seinen Aufenthalt in Berlin
leider noch vor Schluss der Verhandlungen wegen Erkrankung
hatte abbrechen müssen.
Schluss der Sitzung: 2 1 j i Uhr Nachmittags. Unter
Führung des H. Dr. Leppmann fand sodann die Besichtigung
der Königlichen Strafanstalt zu Moabit und der damit ver¬
bundenen Beobachtungsanstalt für geisteskranke Verbrecher statt.
Am Abend (9 Uhr) kamen die anwesenden Mitglieder wiederum
bei Sedlmayr zusammen.
Eingesandt.
Ueber die Frage, wer die durch Znziehung eines zweiten
Arztes hei Erkrankungen von Gefangenen entstehenden
Kosten zu tragen hat, theüt uns Herr Kreisphysikus und Sanitäts¬
rath Dr. Lebram in Köslin folgenden, auch für weitere Kreise
interessanten Fall mit:
„Als Arzt bei dem hiesigen Bezirks - Gefängniss hatte ich mit der Unter¬
suchung eines Gefangenen zu thun, welcher über den plötzlichen Verlust des
Sehvermögens auf einem Auge klagte. Da ich trotz eifrigen Bemühens nicht im
Stande war, die Ursache des Leidens, an dessen Vorhandensein im Uebrigen
nicht zu zweifeln war, zu ergründen, so stellte ich bei dem ersten Staatsanwalt
des hiesigen Königl. Landgerichts den Antrag, den Gefangenen durch einen am
Orte praktizirenden Augenarzt untersuchen zu lassen. Bevor der erstere dem
Antrag Folge gab, suchte er von mir auf Grund des §. 6 des mit mir im Jahre
1876 geschlossenen Vertrages eine schriftliche Erklärung herbeizuführen, dass
Eingesandt. 199
ich bereit sei, die Kosten einer solchen Untersuchung zu tragen. Der cit. §.
lautet:
„Herr Dr. L. verpflichtet sich, wenn er für seine Person an Aus¬
richtung der vorstehend übernommenen Verbindlichkeiten (die ärztliche
und wundärztliche Behandlung kranker Gefangener) durch Krankheit
oder Abwesenheit oder sonst verhindert sein sollte, sich unbedingt
durch andere qualifizirte Medizinalpersonen, ohne Anspruch vun Ver-
gütigung vertreten zu lassen.“
Im Interesse des Gefangenen und vorbehaltlich des Rechtes auf Rück¬
forderung erklärte ich mich zur vorläufigen Uebernahme der Kosten bereit und
sind diese denn auch später von mir eingezogen worden. In einer hierauf an
den Oberstaatsanwalt bei dem Oberlandesgericht in Stettin gerichteten Beschwerde
führte ich aus, dass nach allgemeinem Sprachgebrauch ein Arzt, der zur Unter¬
suchung eines Kranken in dessen Interesse einen zweiten Arzt zugezogen wissen
wolle, nicht als „verhindert“ angesehen werden könne, seine übernommenen
Verbindlichkeiten zn erfüllen, dass bei der dem Vertrage von dem ersten Staats¬
anwalt untergelegten Interpretation entweder dem kontrahirenden Arzte unmög¬
lich von ihm zu erfüllende Verpflichtungen auferlegt würden, indem von ihm
gefordert werde, dass er die Untersuchungsmethoden in sämmtlichen Zweigen
der medizinischen Wissenschaft beherrsche oder die Justizverwaltung von der
Voraussetzung ausgehe, dass Gefangene auch bei den gefahrdrohensten Krank¬
heiten ein Anspruch auf Theilnahme an den Errungenschaften der medizinischen
Wissenschaft nicht zustehe. Ich führte ferner aus, dass von dem Vorgänger
des ersten Staatsanwalts anderen Aerzten, welche ich zur Assistenz bei an Ge¬
fangenen auszuführenden Operationen hinzugezogen hatte, die von denselben
liquidirte taxmässige Gebühr anstandslos bewilligt worden sei, ohne dafür von
den kontrolirenden Rechnungsbehörden eine Erinnerung erhalten zu haben.
Endlich führte ich aus, dass die kontrahirenden Parteien bei dem Wörtchen
„sonst“ in dem cit. §., welches bei der gegenwärtigen Streitfrage unter den ob¬
waltenden Umständen nur allein in Betracht kommen könne, etwa folgende Um¬
stände im Sinne gehabt haben: Verhinderung des Anstaltsarztes, seiner Ver¬
pflichtung im Gefängniss nachzukommen, durch die Nothwendigkeit längeren
Verweilen» bei einem am Orte wohnhaften Privatpatienten (beispielsweise behufs
Ausführung einer Operation, einer Entbindung und dergl.), oder einer gericht¬
lichen Ladung als Zeuge bezw. Sachverständiger Folge zu geben, oder Verhinde¬
rung wegen besonderer Vorgänge in seiner Familie und anderer durch zahlreiche
Beispiele zu illustrirender Umstände.
Ohne auf die Würdigung meiner Gründe einzugehen, ertheilte mir der
Oberstaatsanwalt einen vom 2. Januar d. J. datirten abweisenden Bescheid mit
der Begründung, dass ich verpflichtet sei, mich in Fällen der Verhinderung,
gleichviel welcher Art, durch einen qualifizirten Arzt auf meine Kosten ver¬
treten zu lassen (eine Vertretung ist von mir aber gar nicht verlangt worden),
da andererseits die Absicht, die ärztliche Behandlung der Gefangenen gegen
ein im Voraus verabredetes Honorar einen bestimmten Arzt zu übertragen, ver¬
eitelt werde.
Gegen diesen Bescheid legte ich unterm 30. Januar d. J. bei dem Herrn
Justizminister Berufung ein, worin ich den früheren Gründen, wegen deren ich
mich durch die vorangegangenen Entscheidungen beschwert fühlte, noch den
hinzufügte, dass, wenn diese als begründet anzuerkennen seien, mir füglich auch
die Kosten, welche aus der Unterbringung kranker Gefangener im städtischen
Krankenhause unter Aufrechterhaltung der Haft erwachsen, auferlegt werden
mussten, was bisher wenigstens noch nicht geschehen sei. In einem vom
21. März d. J. datirten Bescheide, welcher durch seine höfliche und verbindliche
Form noch besonders wohlthuend berührte, erkannte der Herr Justizminister
meine Beschwerde als begründet an und theilte mir mit, dass er den Ober¬
staatsanwalt ersucht habe, den von mir verauslagten Betrag zurückerstatten zu
lassen. Hiernach erscheint das Recht des Anstaltsarztes, wenigstens an den dem
Justizminister unterstehenden Gefangen - Anstalten, auf Zuziehung eines zweiten
Arztes bei Erkrankung von Gefangenen auf justizfiskalische Kosten, in einzel¬
nen wohl zu begründenden Fällen und unter der selbstverständlichen Voraus¬
setzung, dass dies ohne erheblichen Kostenaufwand geschehen kann, von der
höchsten Instanz als anerkannt gelten zu können, wodnrch der vorstehend ge¬
schilderte Fall das Allgemeininteres.se berührt.
200 Kleinere Mittbeilnngen n. Beferate ans Zeitschriften. — Tagesnachrichten.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Die Ursache der Cholera in Budapest ist nach einem Berichte
des dortigen Stadtphysikos auf das Trinkwasser zurttckzuftthren. Die Wasser*
Versorgung von Pest ist eine sehr mangelhafte und erhält seit länger als
10 Jahren ein grosser Theil der Stadt ausschliesslich unfiltrirtes Donauwasser,
das an einer Stelle geschöpft wird, in deren unmittelbarer Nähe mehrere grössere
Strassenkanäle ohne Kloaken sich in die Donau ergiessen. Bei den Nach¬
forschungen über die Ursachen der Cholera stellte sich nun heraus, dass daB
Umsichgreifen der Epidemie nicht auf mangelhafte Wohnungs- und Ernährungs¬
verhältnisse, unregelmässige Lebensweise u. s. w., sondern lediglich dadurch
verursacht war, dass die Erkrankten unfiltrirtes Leitungswasser getrunken haben.
Dagegen waren Bewohner infizirter Häuser, die die ganze Zeit hindurch nur Brun¬
nenwasser oder filtrirtes Leitungswasser getrunken hatten, gesund geblieben.
Ein Stadttheil wurde z. B. bis zum 4. Oktober nur mit unfiltrirtem, von da ab
mit filtrirtem Wasser versorgt; sofort kamen in diesem Stadttheile nur noch sehr
wenige Cholera-Erkrankungen vor, während vorher 95 zu verzeichnen gewesen
waren. Ebenso stieg in den anderen mit filtrirtem Wasser versorgten Stadt-
theilen die Zahl der Cholera-Erkrankungen um das Vierfache als das Wasser¬
werk in Folge einer Störung der Filteranlage schlecht gereinigtes Wasser ge¬
liefert hatte. Nachdem seitens der Stadtverwaltung Alles anfgeboten war, die
ganze Stadt möglichst mit filtrirtem Wasser zu versorgen, kam die Cholera sehr
bald zum Erlöschen. (Wiener Klinische Wochenschrift; No. 12, 1893.)
Tagesnachrichten.
Der fünfte Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie
wird vom 25.—27. Mai d. J. in B r e s s 1 a u tagen. Die Sitzungen werden Vormittags
von 8—12 und Nachmittags von 2—4 Uhr in der Universitätsfrauenklinik abge¬
halten werden. Zur Diskussion stehen die Themata: „Die Symphyseotamie“
und die „Adnezoperationen, Technik und Erfolge“ auf der Tages¬
ordnung. Anmeldungen von Vorträgen und Demonstrationen sind bis Anfang
April an den ersten Vorsitzenden des Vorstandes (Geh. Med.-Rath Prof. Dr.
Fritsch in Breslau, Minzstrasse 5) zu richten.
65. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte Nürnberg.
Durch Rundschreiben vom März d. J. laden die Vorstände der Abtheilungen für
Hygiene und Medizinalpolizei (Hofrath Dr. Stich, als Einführender,
Adlerstrasse 6 und Dr. Goldschmidt, Weinmarkt 12) und für gerichtliche
Medizin (Landgerichtsarzt Dr. Hof mann, Fttrtherstrasse 53 und Dr.Stein-
heimer, Gostenhofer Hauptstrasse 5) die Fachvertreter zur Theilnahme an
der Versammlung ein und bitten, etwaige Vorträge und Demonstrationen bis
Ende Mai bei den Einführenden anznmelden, damit die im Juli d. J. abzusen¬
denden allgemeinen Einladungen bereits eine vorläufige Uebersicht der Abthei-
lungs-Sitzungen bringen können.
Den Physikern des Herzogthums Bi;aunschweig ist auf ihr Gesuch
betreffs Errichtung von Fortbildungskursen (s. Nr. 3 der Zeitschrift S. 75)
unter Hinweis auf die vom Kaiserlichen Gesundheitsamte eingerichteten Cholera¬
kurse abschläglicbe Antwort crtheilt worden.
Cholera. Durch Einschleppung aus Russland sind Ende vorigen Monats
und Anfang d. Monats wieder 10 Choleraerkrankungen in Galizien, und zwar
3 in Zalucze und 8 in Kudrynce (Bezirk Borszczow) vorgekommen. Von den Er¬
krankten sind 6 gestorben.
Auch aus Frankreich wird das Auftreten der Cholera im Arrondisse¬
ment und in der Stadt Lorient gemeldet. Die Zahl der Erkrankungen hält sich
jedoch bis jetzt in massigen Grenzen.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W
J. 0. 0. Brun*, Bochdruokerel, Minden.
Preussischer Medizinalbeamten -Yerein.
Offizieller Bericht
über die
Zehnte Haupt V ersammlung
ZU
BERLIN
am 10. and 11. April 1893.
Berlin 1893.
FISCHER’S MEDIZINISCHE BUCHHANDLUNG.
H. Kornfeld.
Inhalt.
Erster Sitzungstag*. Seite.
1. Eröffnung der Versammlung. 1
2. Geschäfts- und Kassenbericht; Wahl der Kassenrevisoren. 5
3. Der Entwurf eines Gesetzes betreffend die Bekämpfung gemeingefähr¬
licher Krankheiten (Regierangs• und Medizinalrath Dr. Rapmund- 7
Minden). 7
4. Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbcamten (Kreisphysikus Dr.
Fieütz-Halle a. S.). 54
Zweiter Sitzungstag.
1. Zur Lehre yon der Arsenvergiftung (gerichtl. Stadtpbysikus u. Privat¬
dozent Dr. Strassmann-Berlin). 72
2. Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene (Irren- u. Strafanstalts¬
arzt Dr. Leppmann-Moabit). 90
3. Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens (Kreisphysikus Dr.
Meyhöfer-Görlitz). 96
4. Bericht der Kassenrevisoren und Vorstandswahl . ..111
5. Demonstration eines Cholera-Kastens (Reg.-Rath Dr. Petri-Berlin). 118
6. Ueber Unfall und Bruchschaden (Kreisphysikus Dr. Grisar-Trier) . 116
7. Diskussionsgegenstände (Bezirks-Physikus u. San.-Rath Dr. Ko 11m-
Berlin).
a) Amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte.135
b) Die Gebühren für die Untersuchungen vob Personen in der
Wohnung des Medizinalbeamten oder für Aktenstudium
behufs Abgabe eines mündlichen Gutachtens im Termin . 140
Anlage zu dem Vortrage des Reg.- u. Mediz.-Raths Dr. Rapmund,
betreffend den Entwurf des Reichsseuchengesetzes.147
Mitgliederverzeichniss.. 154
Erster Sitznngstag.
Montag, den 10. April, Vormittags 9 1 /« Ulir,
im Sitzungmaie des Langenbeck-Hauses (Ziegelstrasse).
I. Eröffnung der Versammlung.
H. Reg.- und Geh. Med.-Rath Dr. Kanzow (Potsdam), Vor¬
sitzender: Hochgeehrte Herren! Wir treten heute in die zehnte
Generalversammlung ein. Es war am 19. September 1883, als
ich die Ehre hatte, die erste Versammlung des Vereins im Archi¬
tektenhause zu eröffnen. Die späteren Versammlungen haben dann
in der Theerbusch’schen Ressource und hierauf in den für unseren
Beruf mehr ansprechenden Räumen des Hygienischen Instituts
stattgefunden; heute sind wir jedoch stimmungsvoll und gleichwie
zur Feier des erfreulichen zehnjährigen Bestehens des Vereins in
die Stätte eingezogen, welche als Glanzpunkt ärztlicher Vereini¬
gungen auf dem ganzen Erdenrunde bekannt ist. Es kann nur
unser Wunsch sein, dass der Verein hier in einer der äusseren
Ausstattung entsprechenden Weise auch im Innern fernerhin
gedeihe.
Der Verein wurde eröffnet mit einer Zahl von 289 Mitgliedern,
von denen bei der ersten Versammlung 130 anwesend waren. Er
hat seitdem von jeder Seite erfreuliche und dankbar anzuerkennende
Förderung erfahren. Der damalige Kultusminister H. v. Gossler
sprach es aus, dass er die Bildung des Vereins freudig begrüsse
und dem weiteren Gedeihen sein Interesse zuwenden werde. Dieses
Interesse ist dem Vereine bei unserer höchsten Behörde erhalten
geblieben, was uns u. A. auch dadurch bestätigt wird, dass die
Herren Räthe des Medizinalministeriums es nicht verschmäht
haben, anwesend zu sein, wenn wir tagten. Auch heute haben
wir die Freude und die Ehre, sie unter uns begrüssen zu dürfen.
Der Verein ist in seiner Fntwicklung stetig fortgeschritten.
Wir haben jetzt, wie Sie aus dem vorliegenden Mitgliederver-
zeichniss entnehmen wollen, 532 Mitglieder. Wenn es ihm nun
zwar nicht vergönnt gewesen ist, die Aufgaben, die er sich ge¬
stellt hat, und die in §. 1 unserer Satzungen zum Ausdruck gebracht
sind, vollständig zu lösen, so können wir doch mit Befriedigung
2
Eröffnung der Versammlung.
erklären, dass er nicht unthätig geblieben ist und günstige Erfolge
erzielt hat. Schon die gegenseitige Annäherung der Kollegen,
die zum Tlieil aus den fernsten Gegenden unseres Vaterlandes
hierher gekommen sind, — wie wir auch heute wieder die Freude
haben, Herren sowohl aus dem fernsten Osten, wie aus dem
fernsten Westen unter uns zu sehen — hat nicht nur das kolle-
gialische Verhältniss unter uns befestigt, sondern auch schätzens-
wertlie bleibende Erfolge gezeitigt. Eine Reihe interessanter und
trefflicher Vorträge, welche gehalten und in unseren Jahresberichten
niedergelegt worden sind, hat zu ebenso lebhaften, wie nützlichen
und erspriesslichen Besprechungen geführt; denn nicht nur in
unserem Kreise, sondern weithin sind die Ergebnisse dieser Vor¬
träge und Diskussionen bekannt und gewürdigt worden.
Wenn in einem Punkte, auf dem Gebiete der berechtigten
Interessen der Medizinalbeamten, noch nicht das erreicht ist, was
die Mehrzahl der Medizinalbeamten erstrebt, so ist das ein Beweis
für die Schwierigkeit der Regelung gerade dieses Gegenstandes,
welche zu grosser Bedachtsamkeit auffordert. Es ist wohl nicht
allein das finanzielle Bedenken, welches allerdings von wesentlicher
Bedeutung ist, sondern es dürfte auch wohl eine gewisse Scheu
walten, an dieser alten und vielfach bewährten Stellung der Medi¬
zinalbeamten zu rütteln und zu ändern, ehe nicht die Ziele voll¬
ständig klar liegen, welche durch die Thätigkeit der Medizinal¬
beamten erreicht werden müssen.
Der Wechsel der Zeiten und Ansichten ist den Medizinal¬
beamten in dieser Beziehung nicht eben günstig gewesen. Ich
denke hierbei namentlich an die hygienische Beaufsichtigung
der industriellen Anlagen durch die Fabrikinspektoren, oder Ge-
werberäthe, wodurch den Medizinalbeamten ein Zweig ihrer Thätig¬
keit, auf den sie durch ihre Ausbildung, Prüfung und alles Andere
hingewiesen waren und der von ihnen auch wesentlich gefördert
worden ist, fast gänzlich entzogen wurde.
Uebrigens hat die Frage einer anderweitigen Ordnung der
Berufstliätigkeit des Medizinalbeamten den Verein im Laufe der
Jahre reichlich beschäftigt, besonders im Jahre 1886, wo im Früh¬
jahr von einer Deligirtenversammlung das Material zu einer ein¬
gehenden Besprechung vorbereitet wurde, aus welcher bekanntlich
6 Thesen hervorgingen, die dann im Herbst von der Generalver¬
sammlung fast einstimmig angenommen wurden.
Wir haben nun erfreulicher Weise in neuester Zeit die
Genügtliuung gehabt, zu hören, dass die berechtigten Wünsche
der Medizinalbeamten von unseren höchsten Behörden wohlwollend
gewürdigt werden. Auch hat der Herr Minister der Medizinal¬
angelegenheiten üfientlich erklärt, dass die Thätigkeit insbesondere
der Kreismedizinalbeamten eine riihmenswerthe gewesen ist. Es
lässt sich demnach nicht bezweifeln, dass die vielfach gewünschte
Erweiterung dieser Thätigkeit Förderung finden wird, soweit sich
dies mit den dabei weiter in Betracht kommenden staatlichen
Einrichtungen vereinbaren lässt. Schon der Entwurf des Seuchen¬
gesetzes, welchen wir heute unserer Besprechung unterziehen
Eröffnung der Versammlung.
3
wollen, räumt bekanntlich den Medizinalbeamten eine grössere
Freiheit ihrer Bewegung ein. —
Wie die unwandelbaren Naturgesetze es leider mit sich
bringen, ist seit unserer letzten Versammlung eine Zahl von Mit¬
gliedern dem Vereine durch den Tod entrissen worden. Es sind dies:
1. Dr. Altmann, Kreis-Physikus a. D. und Sanitätsratli in Berlin.
2. - Burghard, Geh. Medizinalrath in Hannover.
3. - Cohn, Geh. Medizinalrath.
4. - Delbrück, Kreis-Physikus a. D. u. Geh. SanitätsRatk in Halle a. S.
5. - Dietrich, Regierungs- und Medizinalrath in Posen.
6. - Heer, Kreis-Physikus a. D. und Geh. Sanitäts-Rath in Beuthen.
7. - Hövener, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Werne.
8. - Karsch, Professor und Geh. Medizinalrath in Münster.
9. - Leo, Kreis-Physikus u. Geh. Sanitätsrath in Bonn.
10. - Lindner, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Angermünde.
11. - Lüning, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Diepholz.
12. - Rehder, Kreis-Physikus in Apenrade.
13. - Rockwitz, Regierungs- und Medizinalrath in Kassel.
14. - Roquette, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Iuowrazlaw.
15. - Schirmer, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Grün borg.
16. - Silomon, Kreis-Physikus in Norden.
17. - Sonntag, Kreiswundarzt und Sanitäts-Rath in Allenstein.
18. - Ulm er, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Dramburg.
19. - Voigt, Regierungs- und Medizinal-Rath in Magdeburg.
20. - Wiener, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Graudenz.
Das Andenken dieser Verstorbenen wird uns in Ehren bleiben.
Ich bitte Sie, dieses dadurch zu bestätigen, dass Sie sich von den
Sitzen erheben.
(Geschieht.)
M. H.! Gestatten Sie mir noch, Herrn Wirkl. Geh. Ober-
Reg.-Rath Ministerialdirektor Dr. Bartsch, der inzwischen
erschienen ist, um unsere heutige Versammlung im Aufträge des
Herrn Ministers mit seiner Gegenwart zu beehren, im Namen des
Vereins zu begrüssen.
(Die Anwesenden erheben sich.)
H. Ministerialdirektor Dr. Bartsch: M. H. ! Der Herr Medi¬
zinalminister, in dessen Aufträge ich in Ihrer Mitte erscheine,
bedauert aufrichtig, dass er durch andere dringende Amtsgeschäfte
verhindert ist, Sie beim Eintritt in Ihre Berathungen willkommen
zu heissen. Se. Exzellenz entbietet der Versammlung durch mich
seinen herzlichen Gruss und ich entledige mich dieses Auftrages
um so lieber, als mir dadurch von Neuem Gelegenheit geboten
wird, an Ihren Verhandlungen Theil zu nehmen.
Wiederum, meine Herren, haben Sie Sich zu gemeinsamer
ernster Arbeit, zum Austausch von Meinungen, zur Pflege per¬
sönlicher Beziehungen vereinigt, nachdem im vorigen Jahre die
schon anberaumte Sitzung aus bekannten Gründen hat ausfallen
müssen. Seitdem haben wir in den durch die Clioleragefahr be¬
drohten Landstrichen sorgenvolle Tage verlebt, ohne dass sicli
Gottlob! die gehegten Befürchtungen verwirklicht haben. Im
Gegentheil haben wir bei der hingehenden Mitarbeit aller Be¬
theiligten dankenswerthe Erfolge erzielt, und es gereicht mir zur
4
Eröffnung der Versammlung.
besonderen Freude, auch in diesem Kreise an die Allerhöchste
Ordre vom 17. Oktober v. J. erinnern zu dürfen, durch welche
Seine Majestät der Kaiser und König dies huldreichst anzuer¬
kennen die Gnade gehabt haben. Die an den Herrn Medizinal-
minister gerichtete Allerhöchste Ordre lautet (die Anwesenden
erheben sich):
„Ich habe von Ihrem Mir unterm 4. d. Mts. erstatteten Be¬
richt über die Choleragefahr in Preussen und die zu ihrer Be¬
kämpfung angeordneten Massnahmen mit lebhafter Befriedigung
Kenntniss genommen. Die getroffenen Vorkehrungen finden
Meine volle Billigung. Ich bin sehr erfreut, dass die auf
wissenschaftlicher Forschung und praktischer Erfahrung be¬
ruhenden Anordnungen von allen dazu berufenen staatlichen und
kommunalen Organen mit grosser Umsicht und regem Eifer zur
Ausführung gebracht sind und auch bei der Bevölkerung ver¬
ständnisvolle Aufnahme und Beachtung gefunden haben. Wenn
es unter des Allmächtigen gnädigem Schutze und sichtlichem
Beistände bisher gelungen ist, die Choleragefahr im Lande so
erfolgreich zu bekämpfen, und die zuversichtliche Hoffnung auf
ein baldiges völliges Erlöschen der Seuche berechtigt erscheint,
so hat hierzu, wie Mir wohl bewusst ist, die aufopferungsvolle,
pflichttreue und zielbewusste Arbeit der Behörden und einzelnen
Beamten wesentlich beigetragen. Ich kann es Mir daher nicht
versagen, allen Betheiligten Meinen wärmsten Dank und Meine
besondere Anerkennung hiermit auszusprechen, und ersuche Sie,
dies in geeigneter Weise zu ihrer Kenntniss zu bringen.“
Marmor - Palais, den 17. Oktober 1892.
An
gez. Wilhelm R.
den Minister der geistlichen, Unterrichts
und Medizinal - Angelegenheiten.
Diese Allerhöchste Kundgebung ist der Stolz der Medizinal¬
verwaltung und es hat jeder von uns, der zur Bekämpfung der
Seuche mitzuwirken berufen ist, seinen freudigen Antheil daran.
Sie soll uns ein Sporn sein, bei etwaiger Wiederkehr der Gefahr
alle unsere Kräfte einzusetzen zum Wohle des Vaterlandes!
Ihre diesmalige Tagesordnung, meine Herren, beweisst, wie
eifrig Sie bemüht sind, durch reichhaltige Gestaltung derselben
wichtige Fragen der Sanitätspolizei und der Medizinalverwaltung
in den Kreis Ihrer Berathungen zu ziehen. Der Herr Minister
wünscht lebhaft, dass Ihre Berathungen dem allgemeinen Besten
zum Nutzen gereichen und dass sie auch dazu beitragen mögen,
die Zusammengehörigkeit der Mitglieder Ihres Vereins fester zu
begründen, den Sinn für Kollegialität zu stärken und Ihre Ver¬
sammlungen immer mehr das werden zu lassen, was sie sein
sollen, — eine fruchtbringende und segensreiche Vereinigung der
Preussischen Medizinalbeamten!“
(Lebhafter Beifall.)
Geschäfts- und Kassenbericht; Wahl der Revisoren.
5
Vorsitzender: Hochverehrter Herr Ministerialdirektor! Ge¬
statten Sie mir, Ihnen im Namen des Vereins den verbindlichsten
Dank für die so überaus wohlwollenden Worte auszusprechen, mit
denen Sie unsere Versammlung begrüsst und unserer Vereinsbestre¬
bungen gedacht haben. Ich darf hiermit wohl gleichzeitig die
gehorsamste Bitte verbinden, diesen Dank dem Herrn Medizinal¬
minister hochgeneigtest übermitteln zu wollen.
M. H.! Wir haben heute auch die Freude und Ehre, als
Vertreter Ihrer Excellenzen des Herrn Ministers des Innern und
des Herrn Staatssekretärs des Reichsamts des Innern, die Herren
Vortragenden Räthe Geh. Reg.-Rath Dr. Kr oh ne und Geh. Ober-
Reg.-Rath Dr. Hopf in unserer Mitte begrüssen zu können. Indem
ich dies hiermit im Namen des Vereins thue, sage ich den Herren
gleichzeitig für ihr Erscheinen den herzlichsten Dank.
n. Geschäfts- und Kassenbericht; Yahl der
Kassenrevisoren.
H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund (Minden), Schrift¬
führer: M. H.! Die auf der letzten Versammlung von einigen
Seiten geäusserte Befürchtung, dass durch die damals beschlossene
Erhöhung der Beiträge eine Anzahl von Mitgliedern austreten
würde, hat sich nicht bewahrheitet; im Gegentheil, der Verein hat
noch niemals in einem Geschäftsjahre so viel neue Mitglieder
erhalten, wie im letzten; denn dem ungemein hohen Verluste von
20 Mitgliedern durch den Tod, steht ein Zuwachs von 46 neuein-
getretenen Mitgliedern gegenüber. Der Verein zählt somit z. Z.
532 J ) Mitglieder, fast die doppelte Zahl als bei seiner Gründung
vor 10 Jahren (289). Von sämmtlichen preussischen Medizinal¬
beamten sind 60,7 °/o dem Vereine beigetreten (1883: 32,0 %) und
zwar von den Mitgliedern der Zentral- und Regierungsmedizinal¬
behörden 57 = 60,0 % (1883: 26 = 27,4 %), von den Kreisphysikern
385 = 73,8 % (1883: 188 = 41,8 %), von den Kreiswundärzten
91 = 34,7 % (1883: 75 = 21,0 %). Fast drei Viertel der Kreis¬
physiker sind demnach Mitglieder des Vereins; während von den
Kreis Wundärzten sich auffallender Weise nur ein Drittel dem Ver¬
eine angeschlossen hat. Die Ursache davon dürfte wohl zum Theil
darin liegen, dass wir gleich in der ersten Versammlung das In¬
stitut der Kreiswundärzte für überflüssig erklärt haben und in
Folge dessen bei diesen Amtskollegen kein allzugrosses Vertrauen
zu geniessen scheinen. (Heiterkeit.) Auch in den einzelnen Provinzen
ist das Interesse der Medizinalbeamten an dem Vereine ein ver¬
schiedenes, wie die nachstehende Zusammenstellung zeigt. Dar¬
nach gehören dem Vereine an von den Medizinalbeamten der
Provinz:
l ) Inzwischen auf 536 Mitglieder gewachsen.
6
Geschäfts- und Kassenbericht; Wahl der Revisoren.
Ostpreussen:.
40,0
1 0
gegenüber 16,0
Ol
Io
im Jahre 1883
Westpreussen:.
54,0
yy
Yf
35,0
n
Yf
Brandenburg mit Berlin:
74,7
n
yy
55,0
Yf
Yf
Pommern:.
66,6
Yf
T )
32.0
Yt
Yf
Posen:.
76,5
V
Yf
30,0
rt
Yf
Schlesien: .
53,5
v
yt
28,0
Yf
Yf
Sachsen:.
77,3
Yf
Yf
40.0
Y)
Y)
Schleswig-Holstein: . . .
44,1
jy
Yf
28,0
Yf
Yf
Hannover:.
78,3
yy
Yf
44,0
Yf
Yf
Westfalen:.
67,6
n
Y )
25,0
Yf
Yf
Hessen - Nassau: . . . .
44,3
Yf
r>
21,0
n
Yf
Rheinprovinz u. Sigmaringen:
50,4
yy
Yf
22,0
rt
n
Was die finanziellen Verhältnisse des Vereins betrifft, so
haben sich dieselben ebenso wie in den früheren Jahren ganz
günstig gestaltet. Der Gesammteinnahme von 6212,86 Mark
(6107,86 an Beiträgen und 105 Mark an Zinsen) steht eine Aus¬
gabe von 6028 Mark gegenüber, so dass sich ein reclmungsmässi-
ger Ueberschuss von 184,86 Mark ergiebt, durch den sich das
Vereins vermögen auf 3163,81 Mark erhöht. Hiervon sind 2978,95 M.
in 3Vs preussische Konsols belegt und 184,86 Mark baar in der
Kasse vorhanden.
M. H.! Sie erinnern sich, dass wir in der letzten Versamm¬
lung beschlossen haben, dass in streitigen Taxfragen von prin¬
zipieller Bedeutung, in denen die Herbeiführung einer gerichtlichen
Entscheidung in höchster Instanz angezeigt erscheint, die entstehen¬
den Prozesskosten erforderlichen Falls auf die Vereinskasse
übernommen werden sollen. In Folge dieses Beschlusses sind
mit Einverständnis des Vorstandes verschiedene derartige Pro¬
zesse bis in die höchste Instanz durchgeführt, aber leider
nicht immer mit günstigem Erfolg. Grosse Kosten sind dem Ver¬
eine jedoch dadurch bisher noch nicht erwachsen. In verschiede¬
nen Fällen war übrigens die Einleitung eines Prozesses gar
nicht nothwendig. Hier handelte es sich meist um unrichtig aut-
gestellte Liquidationen oder um ungerechtfertigt beanspruchte
Gebühren, so dass eine entsprechende Aufklärung an der Hand der
gesetzlichen Bestimmungen genügte, um die zweifelhafte Taxfrage
zu entscheiden. M. H., die Thätigkeit des Schriftführers ist durch
diese ziemlich häutigen Anfragen seitens der Kollegen in Taxan-
gelegenheiten allerdings wesentlich gesteigert; ich habe mich dieser
Mühe sehr gern unterzogen und stehe auch ferner in dieser Hin¬
sicht jeder Zeit zur Verfügung.
Vorsitzender: Wünscht Jemand zu dem Geschäfts- und
Kassenbericht das Wort zu ergreifen? Da dies nicht der Fall
ist, so können wir gleich zur Wahl der Kassenrevisoren über¬
gehen und schlage ich hierzu die Kreisphysiker Dr. Struntz
(Jüterbogk) und Dr. Elten (Angermünde) vor.
(Allgemeine Zustimmung.)
Dr. Rapmnnd: Der Entwarf eines Gesetzes betreff, die Bekämpfung etc. 7
III. Der Entwurf eines Gesetzes betreffend die
Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten.
Herr Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmnnd: M. H.! Das Be¬
dürfnis nach dem Erlass eines Reichsgesetzes zur Bekämpfung
gemeingefährlicher Krankheiten ist bereits so oft von Aerzten, Me-
dizinalbeamteu und Hygienikern sowohl, als von den gesetzgeben¬
den Körperschaften anerkannt, dass es kaum erforderlich erscheint,
hierüber noch ein Wort zu verlieren. Allerdings bestehen in allen
Bundesstaaten derartige gesetzliche Vorschriften, dieselben sind aber
so verschiedenartig und zum Theil so veraltet und nicht mehr mit
den neuesten Fortschritten der Wissenschaft auf diesem Gebiete in
Einklang stehend, dass auf Grund dieser Bestimmungen ein erfolg¬
reicher Kampf gegen die in Deutschland hauptsächlich in Betracht
kommenden ansteckenden Krankheiten nicht geführt werden kann.
Ich erinnere Sie nur, m. H., an das in unserem engeren Vater¬
lande zur Zeit noch in den alten Provinzen gültige Regulativ
vom 8. August 1835, dessen Erlass seiner Zeit als eine grosse
sanitätspolizeiliche That betrachtet werden musste und das fast
allen ähnlichen Verordnungen Jahrzehnte hindurch als Muster ge¬
dient hat. Aber sehr bald stellte sich heraus, dass die Vorschrif¬
ten dieses Regulativs nicht mehr völlig zeitgemäss und zweckent¬
sprechend waren, so dass höheren Orts eine Abänderung derselben
schon im Jahre 1857 in Aussicht genommen wurde. Leider ist aber
diese Abänderung dainals ebenso wie im Jahre 1873, wo sie von
Neuem angeregt wurde, unterblieben, zuletzt jedenfalls aus dem
Grunde, weil man sich mit Recht sagte, dass die Aufgabe der Be¬
kämpfung der Volksseuchen nur durch einheitliche Vorschriften für
das gesammte Reichsgebiet in befriedigender Weise gelöst werden
könne. Man hat sich daher in Preussen bei einzelnen im Regu¬
lativ nicht vorgesehenen ansteckenden Krankheiten, wie Diphtherie,
Wochenbettfieber und epidemischem Kopfgenickkrampf, durch Poli¬
zeiverordnungen geholfen; es ist ferner in einzelnen Regierungs¬
bezirken bei Scharlach und Ruhr, vereinzelt auch bei Masern die
obligatorische Anzeigepflicht eingeführt — im Regulativ ist be¬
kanntlich bei diesen Krankheiten nur die fakultative Anzeigepflicht
vorgesehen —, während andererseits die im Regulativ in Bezug
auf Krätze, Syphilis und Weichselzopf getroffenen Bestimmungen
als völlig veraltet gar keine Beachtung mehr gefunden haben.
In ähnlicher Weise wie in Preussen ist auch der Entwicke¬
lungsgang der in Rede stehenden Gesetzgebung in den anderen
deutschen Bundesstaaten gewiesen, nur mit dem Unterschiede, dass
viele von diesen in den letzten 40 Jahren unter Aufhebung der
älteren Bestimmungen neuere, zeit geinässere erlassen und somit
eigentlich den grössten deutschen Bundesstaat nach dieser Rich¬
tung hin überflügelt haben. Auch in den neuen preussischen
Provinzen, in denen das Regulativ vom 8 . August 1835 keine
Geltung hat, ist das Verfahren behufs Bekämpfung ansteckender
Krankheiten fast ausnahmslos durch Polizeiverordnungen der ein-
8
Dr. R&pmund.
zelnen Bezirksregierungen neu geregelt, ohne daes aber diese Vor¬
schriften wiederum unter sich tibereinstimmen.
Bei diesem getrennten Vorgehen der einzelnen Bundesstaaten
in Bezug auf die Regelung dieses wichtigen Th eiles der Gesund¬
heitspolizei ist es daher nicht zu verwundern, dass, wie schon er¬
wähnt, die einschlägigen Bestimmungen sehr erheblich von ein¬
ander abweichen. Eine erfolgreiche Bekämpfung der anstecken¬
den Krankheiten ist aber nur dann gesichert, wenn auf der ganzen
Kampfeslinie zielbewusst und mit gleichen Waffen vor¬
gegangen wird; denn die Volksseuchen machen bekanntlich nicht
vor den Grenzpfahlen der einzelnen Bundesstaaten Halt, sondern
treten im Osten des Reiches genau so aut wie im Westen, in
Bayern, Württemberg oder Baden genau so wie in Preussen,
Sachsen u. s. w. Wir können der Reichsregierung somit nur im
hohen Grade dankbar sein, dass sie sich entschlossen hat, diesem
zur Zeit in Deutschland bestehenden Missstande der Verschie¬
denartigkeit des Verfahrens bei Bekämpfung ansteckender
Krankheiten durch Erlass einheitlicher, reichsgesetz¬
licher Vorschriften ein Ende zu machen. Auch der vorjäh¬
rigen Choleraepidemie gebührt in gewissem Sinne unser Dank, da
sie die Vorlage des betreffenden Gesetzentwurfs wesentlich be¬
schleunigt hat. Gerade zu jener Zeit hat sich der Mangel eines
Reichsgesetzes, durch den ein einheitliches, die Behörden im ganzen
Reiche ohne Weiteres bindendes Verfahren sicher gestellt ist,
in empfindlicher Weise geltend gemacht. Es wurden aus über¬
triebener Cholerafurcht besonders von den örtlichen Behörden An¬
ordnungen getroffen, die nicht nur Handel und Wandel empfindlich
schädigten, sondern sogar den Witzblättern geeigneten Stoff für
ihre Spalten boten. Ich erinnere Sie, m. H., in dieser Hinsicht
nur an die Verordnung eines westfälischen Amtmanns, durch die
den Amtseingesessenen das Fangen von Fliegen polizeilich auf¬
gegeben wurde, da durch diese möglicher Weise die Cholera ver¬
breitet werden könnte. In der Verordnung war nur die eigent¬
lich dazu gehörige Bestimmung vergessen, dass jeder Amtsein¬
gesessene bei Strafe von so und soviel Mark dem gestrengen Herrn
Amtmann täglich eine bestimmte Anzahl Fliegen todt oder lebendig
abzuliefern hätte (allgemeine Heiterkeit).
Fragen wir uns nun, ob der dem Bundesrathe vorgelegte
Entwurf den in sanitätspolizeilicher Hinsicht zu stellenden An¬
forderungen entspricht, so müssen wir diese Frage zweifellos be¬
jahen, insoweit es sich um den ursprünglichen und nicht um
den durch den Bundesrath abgeänderten und in dieser abgeänder¬
ten Form dem Reichstage vorgelegten Entwurf handelt. Es ist
Ihnen ja bekannt, dass der Gesetzentwurf in der letzten Bundes¬
rathssitzung besonders in Bezug auf diejenigen Krankheiten, auf
die er Anwendung finden soll, wesentlich eingeschränkt ist. *) Man
*) Die hauptsächlichsten Aenderungen, welche der Entwurf durch Beschluss
des Bundesrathes erfahren hat, sind folgende:
1. An Stelle des Wortes „Ortspolizeibehörde“ ist überall „Polizeibehörde“
gesetzt,
Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 9
hat den Gesetzentwurf lediglich auf Cholera, Fleckfieber, Pocken,
Gelbfieber und Pest beschränkt, Krankheiten, die in Deutschland
entweder gar nicht (Gelbfieber und Pest) oder, abgesehen von der
Cholera, so selten Vorkommen, dass sie als gemeingefährliche
Krankheiten gar nicht bezeichnet werden können, während anderer¬
seits die gefährlichsten heimischen ansteckenden Krankheiten, wie
Typhus, Rtickfallfieber, Diphtherie und Krupp, Scharlach, Ruhr
und Wochenbettfieber im Entwürfe gestrichen sind. Welche Ver¬
luste an Menschenleben aber gerade diese Krankheiten alljährlich
herbeiftihren, dafür giebt uns die Mortalitätsstatistik den besten
Beweis; denn nach dem Mittel der Jahre 1886—1891 starben in
PreusBen von 100000 Lebenden jährlich an Typhus: 23,7, an
Diphtherie und Krupp: 151,1, an Scharlach: 28,7, an Ruhr: 3,5
und im Kindbett: 18,0 Personen, zusammen also 225 Personen
= 67 500 der Gesammtbevölkerung bezw. aufs deutsche Reich
berechnet: 112000 Personen. Und alle diese Krankheiten müssen
nach dem Standpunkte der heutigen Wissenschaft zu den ver¬
meidbaren gerechnet werden und können durch sorgfältige
Durchführung gesundheitlicher Massnahmen mit Erfolg einge¬
schränkt werden.
Forschen wir nach den Gründen, warum der Entwurf in
dieser Weise verkürzt ist, so dürften zunächst die besonders in
Süddeutschland zu Tage getretenen partikularistischen Strömungen
gegen den Entwurf nicht ganz ohne Einfluss gewesen sein. Viel¬
leicht hat auch der von dem erweiterten Geschäftsausschuss des
Deutschen Aerztevereinsbundes jüngst gefasste Beschluss, den Ent¬
wurf nur auf die im §. 1 Abs. 1 genannten Krankheiten, Cholera,
2. Im §. 1 ist die Bestimmung, dass jede Erkrankung an Darmtyphus,
Diphtherie, einschliesslich Krupp, Rückfallfieber, Ruhr, (Dysenterie)
und Scharlach zur Anzeige gebracht werden soll, ebenso in Fortfall gebracht
wie die im §. 3 vorgesehene Anzeige bei Erkrankungen an Wochenbettfieber.
3. Die im f. 4 getroffene Bestimmung, dass bei Erkrankungen an Cholera,
Pocken, Fleckfieber, Gelbfieber und Pest die Anzeige auch an den beamteten
Arzt zu erstatten sei, ist gestrichen.
4. Im §. 2 sind von den zur Anzeige verpflichten Personen die unter
Nr. 4 und 5 aufgeführten grossj&hrigen Familienmitglieder des Haushaltes oder
sonstigen Haushaltsgenossen gestrichen.
6. Im §. 12 heisst es jetzt statt „kranke und verdächtige“ Personen:
„Kranke, krankheits- oder ansteckungsverdächtige“ Personen können
einer Beobachtung unterworfen u. s. w.
6. Die Vorschriften bei Ausbreitung einer übertragbaren Augenkrank¬
heit (§. 21 des Entwurfs) sind gestrichen.
7. Im §. 24 ist von einem Verbote des Einlasses von Seeschiffen Ab¬
stand genommen und der Einlass derselben nur von der Erfüllung gesundheits-
polizeificher Vorschriften abhängig gemacht.
8. Entschädigungen sollen nur für Gegenstände gewährt werden, die durch
die polizeilich angeordnete und überwachte Desinfektion vernichtet oder so
geschädigt sind, dass sie in ihrer bisherigen Art nicht mehr ver¬
wendet werden können. Ausserdem erfolgt die Entschädigung nur auf
Antrag.
9. In den Strafvorschriften (§. 43 Abs. 3) ist »in Zusatz gemacht, dass
auch in den Fällen, wo bei wissentlicher Verletzung der betreffenden Vorschrif¬
ten ein Dritter von der Krankheit ergriffen ist, die Möglichkeit mildernder Um¬
stände zugelassen und die Strafe dann bis auf eine Woche Gefängniss erniedrigt
werden kann.
10
Dr. Rapmund.
Fleckfieber, Pocken, Gelbfieber und Pest zu beschränken, in die¬
sem Sinne mitgewirkt. Dass ein derartiger Beschluss seitens des
Geschäftsausschusses gefasst werden konnte, darüber muss man
sich allerdings um so mehr wundern, als dieser Beschluss mit dem
von dem Aerztetage im Jahre 1883 angenommenen Beschlüssen
über den Erlass eines Reichsseuchengesetzes in vollem Wider¬
spruch steht. Die Beweggründe zu jenem Beschlüsse scheinen
jedoch ziemlich durchsichtiger Natur zu sein: der Geschäftsaus¬
schuss hat einmal die Aerzte durch Ausdehnung der Anzeigepflicht
nicht zu sehr belasten und das Eingreifen des beamteten Arztes
bei den tagtäglich vorkoromenden ansteckenden Krankheiten
thunlichst vermeiden wollen, andererseits scheint er, wie aus
seiner ersten These hervorgeht, darüber verletzt gewesen zu
sein, dass die Reichsregierung ihn nicht vorher zur gutachtlichen
Aeusserung über den Entwurf aufgefordert hat. Ja, m. H., wen
soll denn die Reichsregierung bei derartigen Entwürfen vorher
gutachtlich hörenP Die Handelskammern, die Kommunalbehörden
u. s. w. werden z. B. durch die Vorschriften des vorliegenden
Gesetzes fast noch mehr als die Aerzte betroffen, von ihnen ist
aber ein derartiger Anspruch nicht erhoben. Ausserdem ist der
Entwurf des Gesetzes sofort nach seiner Vorlage an den Bundes-
rath öffentlich bekannt gegeben, so dass es Jedermann freistand,
sich zu demselben zu äussern, wie solches auch mit Recht der
Geschäftsausschuss des Aerztevereinsbuudes gethan hat.
Man hat weiterhin dem Gesetzentwürfe den Vorwurf der
Hast und übereilten Arbeit gemacht; ein Vorwurf, der meines
Erachtens völlig ungerechtfertigt ist, wenn man die Entstehungs¬
geschichte des Entwurfes etwas näher in’s Auge fasst. Darnach
ist derselbe auf Grund sehr eingehender Berathungen ausgearbeitet,
die bereits Ende September v. J. im Reichsgesundheitsamte unter
Theilnahme der ordentlichen und ausserordentlichen Mitglieder dieses
Amtes stattgefunden haben; es sind somit die hervorragendsten
Vertreter der Sanitätspolizei und Hygiene in Deutschland vorher
gehört worden, und ihr Gutachten ist massgebend gewesen für den
später im Reichsamt des Innern fertig gestellten Entwurf. Wie
man da von Hast und Uebereilung sprechen kann, ist mir unbe¬
greiflich, besonders wenn man bedenkt, dass das ganze Material
gleichsam schon vorbereitet lag und dass der Entwurf selbst nicht
etwas völlig Neues bringt, sondern die jetzt in den einzelnen
Bundesstaaten bestehenden, von einander abweichenden Vorschriften
eigentlich nur einheitlich zusammen fasst unter Beseiti¬
gung alles Veralteten und Ueberfliissigen.
M. H.! Würde der Entwurf in der jetzt dem Reichstage vor¬
gelegten Form Gesetz, so würden wir auf diesem Gebiete der Ge¬
setzgebung aus dem Regen in die Traufe kommen; denn von einem
Gesetzentwürfe betreffs einheitlicher Bekämpfung gemein¬
gefährlicher Krankheiten kann dann nicht mehr die Rede
sein, sondern nur von einem Ausnahmegesetze gegen die
Cholera. Zu den bisherigen zahlreichen gesetzlichen Bestimmun¬
gen würde noch ein Choleragesetz hinzukommen und dadurch die
Der Entwurf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 11
Handhabung derselben noch mehr als bisher erschwert
werden. M. H., ich habe hier eine Zusammenstellung der zur Zeit
in meinem Regierungsbezirke gültigen Vorschriften über das
sanitätspolizeiliche Verfahren bei ansteckenden Krankheiten nebst
allen gültigen einschlägigen Ministerialerlassen u. s. w., dasselbe
zählt nicht weniger als 176 in Kleinschrift gedruckte Oktavseiten!
Ich bemerke jedoch ausdrücklich, dass die Zusammenstellung noch
vor Ausbruch der vorjährigen Choleraepidemie gedruckt worden ist,
sonst wäre ihr Inhalt durch die unzähligen Choleraverfügungen
sicherlich um die Hälfte vermehrt worden! In den anderen
preussischen Regierungsbezirken wird es in dieser Hinsicht nicht
besser, sondern eher noch schlechter bestellt sein. Im Interesse
der öffentlichen Gesundheitspflege sowie vor allem im Interesse
einer gesicherten Durchführung der zur Bekämpfung der
Volksseuchen erforderlichen sanitätspolizeilichen Massregeln können
wir aber nicht genug betonen, dass diese einheitlich und ein¬
fach gehalten sind, sonst bleiben sie eben auf dem Papiere stehen.
Wir müssen daher verlangen, dass dem jetzt in Deutschland in
dieser Beziehung bestehenden Miss stände der Mannigfaltig¬
keit und Ungleichheit ein gründliches Ende bereitet,
d. h. ein Reichsgesetz erlassen wird, das sich nicht nur auf die¬
jenigen Seuchen erstreckt, die vom Auslande her eingeschleppt
werden können, sondern auch auf die gefährlichen einheimischen
ansteckenden Krankheiten. Der jetzige Zustand ist absolut unhalt¬
bar. Am meisten tritt das in den Grenzbezirken der einzelnen
Bundestaaten oder Regierungsbezirke zu Tage. Hier trägt die
Ungleichheit der Vorschriften in Bezug auf die Bekämpfung
ansteckender Krankheiten wesentlich dazu bei, dass die Bevölke¬
rung schliesslich das Vertrauen in Bezug auf die Nothwendigkeit
und Zweckmässigkeit der angeordneten Massregeln verliert, zum
Schaden der ganzen Sache.
M. H., gehen wir nunmehr auf die Besprechung des Entwurfs
näher ein, so dürfte gegen die getroffene Eintheilung desselben in
die einzelnen Abschnitte: Anzeigepflicht, Ermittelung der Krank¬
heit, Schutzmassregeln, Entschädigungen, allgemeine Vorschriften
und Strafvorschriften Nichts einzuwenden sein. Der Entwurf ent¬
spricht überhaupt, wie ich schon vorher bemerkt habe, in seiner
ursprünglichen Fassung im Allgemeinen nicht nur den in sanitäts¬
polizeilicher und hygienischer Hinsicht zu stellenden Anforderungen,
sondern auch den durch die Wissenschaft festgestellten Forschun¬
gen über die Entstehung und Ausbreitung ansteckender Krank¬
heiten, und hält hierbei in vorsichtiger Weise die Mitte zwischen
der bakteriologischen und epidemiologischen Forschung. Gleich¬
wohl ist eine Abänderung des Entwurfes nach verschiedenen
Richtungen hin erwünscht:
Zunächst muss ich mein Bedauern aussprechen, dass das
Viehseuchengesetz dem vorliegenden Gesetze in so umfangreichem
Maasse als Muster gedient hat. Wenn sich jenes Gesetz in seinem
dreizehnjährigen Bestehen bewährt hat, so gilt doch das, was für
die Bekämpfung der Viehseuchen angezeigt ist, nicht auch für die
12
Dr. Rapmund.
Bekämpfung der Menschenseuchen. Jedenfalls hätte es dem Ent¬
würfe mehr zum Vortheil gereicht, wenn bei seiner Bearbeitung
die zur Zeit in den einzelnen Bundesstaaten bestehenden ein¬
schlagenden Vorschriften ausschliesslich als Unterlage gedient
hätten und das Viehseuchengesetz ganz ausser Betracht geblieben
wäre. Der Entwurf hätte ausserdem meines Erachtens wesentlich
kürzer und einfacher gefasst werden können; insonderheit
kann ich es nicht für zweckmässig erachten, dass Vorschriften, die
sich späterhin leicht als abänderungsbedürtig erweisen können, in
das Gesetz aufgenommen werden, da dann jedes Mal eine Aenderung
desselben in Frage kommt. Alle derartigen Vorschriften, insbe¬
sondere die speziellen für die einzelnen Krankheiten, gehören in die
Ausführungsbestimmungen und nicht in das Gesetz. Endlich sind
einzelne Bestimmungen des Gesetzes zu weitgehend, andere sehr
wichtige Massregeln völlig unberücksichtigt geblieben.
M. H.! Die von mir als nothwendig erachteten Abänderungen
des Gesetzentwurfs habe ich in kurzen Leitsätzen (These II, 1—12)
zusammengestellt. Ich bemerke hierbei, dass die in Ihren Händen
befindlichen Leitsätze am gestrigen Tage einer Vorberathung durch
den Vorstand unter Zuziehung einer Anzahl anderer Vereinsmit¬
glieder unterzogen sind und hier mit geringen Aenderungen Zu¬
stimmung gefunden haben. Mit diesen Aenderungen lauten
die Thesen wie folgt:
I.
„Im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege ist eine ein¬
heitliche Regelung des Verfahrens betreffs Bekämpfung gemein¬
gefährlicher Krankheiten auf dem Wege der Reichsgesetzgebung
dringend geboten. Ein derartiges Gesetz erfüllt aber nur dann
seinen Zweck, wenn es sich nicht nur auf diejenigen Seuchen
erstreckt, die vom Auslande her eingeschleppt werden können,
sondern auch auf die gefährlicheren, in Deutschland heimischen
ansteckenden Krankheiten Anwendung findet.
n.
Der dem Bundesrathe vorgelegte und von dem Preussischen
Medizinalbeamtenvereine mit Freuden begrüsste Entwurf betreffend
die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten entspricht im All¬
gemeinen den in dieser Hinsicht zu stellenden Anforderungen; es
empfiehlt sich jedoch, denselben noch nach folgenden Gesichts¬
punkten einer Abänderung zu unterziehen:
1. Die Bestimmungen über die anzeigepflichtigen Krank¬
heiten (§§. 1 und 3 des Gesetzentwurfes) und über die
anzeigepflichtigen Personen (§§. 2 und 4 des Ge¬
setzentwurfes) sind in je einem Paragraphen zusammen¬
zufassen.
2. Die Anzeigepflicht ist auf den epidemischen Kopf¬
genickkrampf, sowie auf alle Todesfälle in Folge
einer anzeigepflichtigen Krankheit auszudehnen. Von der
Anzeige der Todesfälle ist jedoch in denjenigen Theilen
des Reichs zu entbinden, in denen durch die obliga-
Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 13
torische Leichenschau diese Anzeige an den beam¬
teten Arzt gewährleistet ist.
3. Die bei Erkrankungen an gemeingefährlichen Krankheiten
zu erstattenden Anzeigen sind nur an eine Behörde und
zwar an den beamteten Arzt zu richten.
4. Für grossjährige Familienmitglieder und sonstige Haus¬
genossen erscheint eine Verpflichtung zur Anzeige nicht
nothwendig.
5. Die Form der Meldekarten über Erkrankungen an an¬
steckenden Krankheiten (§. 5 des Gesetzentwurfes) ist
durch den Bundesrath zu bestimmen. Durch die Erstat¬
tung der Anzeige dürfen dem Absender keine Kosten
erwachsen.
6. Dem beamteten Arzte ist die Verpflichtung aufzuerlegen,
die Ortspolizeibehörde von dem Ausbruche oder dem
Verdachte des Auftretens einer ansteckenden Krankheit
„sofort“ in Kenntniss zu setzen.
7. Die im §. 7 des Gesetzentwurfes den Polizeibehörden ein¬
geräumte Befugniss, bei zweifelhaften Todesfällen eine
Oeffnung der Leiche anzuordnen, ist auf diejenigen
Fälle zu beschränken, in denen nach dem Gutachten des
beamteten Arztes nicht ohne die Leichenöffnung eine Ge¬
wissheit darüber zu erlangen ist, ob der Verstorbene an
einer der im §. 1 genannten gemeingefährlichen Krank¬
heiten gelitten hat oder nicht.
8. Es ist in dem Gesetze eine Bestimmung für den Fall vor¬
zusehen, dass Meinungsverschiedenheiten zwischen
dem behandelnden und dem beamteten Arzte über die
Natur der Krankheit oder zwischen der Ortspolizeibehörde
und dem beamteten Arzte über die anzuordnenden Schutz-
massregeln entstehen.
9. Etwaige Vorschriften über öffentliche Bekannt¬
machungen sowie über Benachrichtigungen benach¬
barter Behörden und des Kaiserlichen Gesundheitsamtes
(§§. 9 und 41 des Gesetzentwurfes) beim Ausbruch gemein¬
gefährlicher Krankheiten sind den Ausführungsbestimmun¬
gen vorzubehalten.
10. Die in dem Gesetzentwürfe vorgesehenen Schutzmass-
regeln (§§. 12—27) sind zum Theil zu weitgehend, besonders
in Bezug auf die Verkehrsbeschränkungen ansteckungs- oder
krankheitsverdächtiger Personen, theils gehen sie zu sehr
in’8 Einzelne und bringen Vorschriften, die in die Aus¬
führungsbestimmungen gehören; andererseits sind einige
wichtige Schutzmassregeln, z. B. Fürsorge für die nöthige
ärztliche Hülfe und das erforderliche Krankenpflegepersonal,
Belehrung der Bevölkerung durch geeignete Bekannt¬
machungen, Verbot des Aufenthaltswechsels kranker Per¬
sonen ohne zuvorige ortspolizeiliche Genehmigung u. s. w.
unberücksichtigt geblieben.
11. Die Schutzmassregeln bei bedrohlicher Ausbreitung einer
14
Dr. Rapmund.
übertragbaren Augenkrankheit (§. 21 des Gesetzent¬
wurfes) sind der Landesgesetzgebung zu überlassen.
12. Der Begriff „beamtete Aerzte“ (§. 35 des Gesetzent¬
wurfes) ist einwandsfreier zu fassen.
III.
Zur erfolgreichen Durchführung des Reichsseuchengesetzes
ist es nothwendig, dass die beamteten Aerzte durch gesetzlich
geregeltes pensionsfahiges Gehalt von der ärztlichen Praxis unab¬
hängig gestellt und ihre Rechte und Pflichten den Anforderungen
der öffentlichen Gesundheitspflege entsprechend erweitert werden.“
M. H.! Schon jetzt die einzelnen Abänderungsvorschläge
meinerseits eingehend zu erörtern, erscheint mir nicht zweckmässig.
Es dürfte sich vielmehr empfehlen, zunächst die Generaldiskussion
über den Gesetzentwurf, sowie über die beiden ersten Leitsätze
zu eröffnen, und sodann zur Besprechung der einzelnen Abschnitte
des Entwurfes überzugehen. Ich stelle dem Herrn Vorsitzenden
anheim, diesem Vorschläge gemäss zu verfahren.
Vorsitzender: Ich schliesse mich dem Vorschläge des Herrn
Referenten an und eröffne hiermit die Generaldiskussion über die
These I und den ersten Absatz der These II.
Diskussion;
H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Walliclis- Altona: M. H.! Ich bin im
Allgemeinen mit der zustimmenden Aeusserung des Herrn Referenten zu dem
Entwurf einverstanden und theile auch die freudige Genugtuung, die in dem
Satz I über das Vorgehen der Reichsregierung zur Bekämpfung der gemeinge¬
fährlichen Krankheiten ausgesprochen ist. Indessen bin ich genötigt, zu einigen
Bemerkungen, die der Herr Referent gemacht hat, etwas hinzuzufügen. Er hat auf
die Beschlüsse Bezug genommen, die von dem erweiterten Geschäftsausschuss des
Deutschen Aerztevereinsbundes gefasst worden sind, und ich bin vermuthlich das
einzige Mitglied dieser Versammlung, welches an den Berathungen, die zu diesen
Beschlüssen geführt haben, theilgenommen hat. Ich sage absichtlich: „an den
Berathungen theilgenommen hat, tf nicht durchaus an den Beschlüssen. Diese
Beschlüsse sind keineswegs einstimmig gefasst worden, sondern zum Thoil doch
nur mit einer geringen Majorität; z. B. gerade der wesentliche Beschluss, der
eben die Beschränkung dieses Gesetzes auf die erstgenannten Krankheiten des
§. 1 ausspricht, mit 15 gegen 11 Stimmen. Es waren übrigens zu dieser Sitzung
der Vertretung der deutschen Aerzte die Vorsitzenden der preussischen Aerzte-
kammern eingeladen und ausserdem die Vorstände der anderen deutschen Stan¬
desvertretungen und grösserer Vereine. Auch ist es nicht richtig, wenn der Re¬
ferent sagte: dass sich diese Versammlung dahin ausgesprochen habe, ein Gesetz
in der Richtung, wie dieser Entwurf es will, möge überhaupt nicht erlassen
werden, man möge die Bekämpfung der zweiten Krankheitsgruppe der Gesetz¬
gebung der Einzelstaaten überlassen. Das ist nicht geschehen; es ist allerdings
eine dahingehende Ansicht von einzelnen Mitgliedern geäussert worden, aber ein
Beschluss dahin ist nicht gefasst. Im Gegenteil, es war die ganz überwiegende
Anschauung, dass ein Reichsgesetz, das alle Seuchen umfasst, an sich wünschens¬
wert sei, aber man beklagte, dass dieser Entwurf nicht vorher den Standesver¬
tretungen vorgelegt wurden sei, und dass das ganze Vorgehen doch eine gewisse
Eile zeige, die in den Einzel bestImmungen auch in schädlicher Weise zum Aus¬
druck komme. Was diese Mängel betrifft, so hat der Referent ja auch eine
ganze Reihe von Ausstellungen an dem Gesetze gemacht, und man kann des¬
wegen wohl sagen, dass der Standpunkt immerhin ein zu rechtfertigender ist,
welcher ein so schleuniges Vorgehen in dieser Art der Gesetzgebung nicht für
nöthig hält, sondern es für ausreichend erachtet, wenn man sich auf die lins
augenblicklich besonders interessirende gefahrdrohende Krankheit, die Cholera,
beschränkt. Gewiss wünschen wir Medizinalbeamten ja von Herzen, dass etwas
Eingreifendes geschieht, aber ob es ein Jahr länger dauert oder nicht, das ist
Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 15
doch nicht so überaus wesentlich. Auch kann ich durchaus nicht dem beistim¬
men, dass etwa die Handelskammern in ähnlicher Weise an dieser Gesetzgebung
interessirt seien, wie die Vertreter des ärztlichen Standes. Wenn einmal eine
staatlich organisirte Vertretung der Aerzte geschaffen worden ist, dann ist es
doch gewiss begreiflich, dass sie auch den Wunsch hegt, über eine so wichtige
Frage der Gesetzgebung, wie diese ist, gehört zu werden. Das ist z. B. in
Baden auch geschehen. Der Badische Laiidesausschuss hat sich darüber geäussert.
Es ist in Württemberg geschehen; der dortige ärztliche Ausschuss hat sein
Votum darüber abgegeben. Ebenso das Laiidesinedizinalkollegium im Königreich
Sachsen. In Preussen ist es nicht geschehen, ohne dass es mir eint all r, deswegen
den Behörden, die diese Frage etwa au die Standesvertretungen zu richten
hätten, einen Vorwurf zu machen. Dafür war wohl nach den Verhältnissen,
nach der Organisation unserer Standesvertretung nicht die genügende Zeit vor¬
handen. Aber dass der Wunsch ausgesprochen wird, die ärztlichen Standesver¬
tretungen möchten über eine so wichtige Frage der Gesetzgebung, wie diese ist,
gehört werden, das scheint mir doch vollkommen in der Ordnung zu sein, und
ich verstehe nicht recht, wie der Herr Referent darüber Befremden oder Tadel
ausdrücken konnte.
Das wollte ich zur Generaldebatte sagen; auf etliche Einzelheiten möchte
ich nachher eingehen.
H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: Ich kann den Aeussernngcn
des Kollegen Wallichs gegenüber nur wiederholen, dass der Entwurf ja zeitig
genug veröffentlicht ist, um allen Acrztevereinen und Aerztekammern Gelegenheit
zu geben, Stellung zu demselben zu nehmen, wie dies auch thatsächlich vielfach
geschehen ist; auch von preussischen Aerztekammern, z. B. derjenigen der Pro¬
vinz Pommern. So lange aber eine gesetzliche Standesvertretung der deutschen
Aerzte nicht existirt, war die Reichsregierung nicht in der Lage, eine solche
vorher gutachtlich zu höreu.
H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: Es ist doch ein Unterschied,
ob die Aerztekammern, die nicht so leicht und in jedem Augenblick zu versam¬
meln sind, aus eigenem Antriebe sieh zur Sache äussern, oder ob sie dies auf
die Frage der Vorgesetzten Behörde thun.
Vorsitzender: Da sich Niemand mehr zum Worte meldet,
schliesse ich die Generaldiskussion und bringe zunächst These I
zur Abstimmung. Wer für die Annahme der These ist, bitte icli
die Hand zu erheben.
Die These ist darnach einstimmig angenommen.
Ich bringe nunmehr den ersten Absatz der These II in
gleicher Weise zur Abstimmung.
Auch diese These ist, soweit ich übersehen kann, einstimmig
a n g e n o m m e n.
Wir kommen jetzt zu den von dem Herrn Referenten ge¬
machten Abänderungsvorschlägen und damit zu den einzelnen Ab¬
schnitten des Gesetzentwurfs.
H. Reg. und Med.-Rath Dr. Rapmund: M. H.! Der eiste
Abschnitt des Gesetzentwurfs (§>?• 1—5) handelt von der Anzeige-
pf licht, der nothwendigsten Massregel für die Bekämpfung an¬
steckender Krankheiten; denn sie sichert nicht nur ein rechtzeitiges
Eingreifen der Sanitätspolizei unmittelbar nach dem Seuchenaus¬
bruch, sondern bietet auch den Behörden die erforderliche Grund¬
lage, um sich ein Urtheil über die Entstehungsbedingungen, der
Verbreitungsart und den Verlauf einer Epidemie, sowie über den
Erfolg der getroffenen Massregeln zu bilden.
Bei welchen Krankheiten soll nun eine Anzeige
erstattet werden? Der uns vorliegende Entwurf bezeichnet
in den §§. 1 und 3 jede Erkrankung an Cholera, Eieckfieber, Gelb-
16
Dr. fiapmund.
fieber, Pest, Pocken, Darmtyphus, Diphtherie, Rückfallfieber, Ruhr,
Scharlach und Wochenbettfieber als anzeigepflichtig.
Zunächst halte ich es für einen Fehler in der Fassung des
Gesetzes, dass die Bestimmungen der anzeigepflichtigen Krank¬
heiten nicht in einem, sondern in zwei verschiedenen Paragraphen
aufgenommen sind, denn dadurch bleibt sehr leicht der eine Theil
der Bestimmungen unbeachtet. Dasselbe gilt, wie gleich hier be¬
merkt sein möge, betreffs der Vorschriften über die anzeigepflich¬
tigen Personen (§. 2 und 4 des Gesetzentwurfs); auch hier würde
eine Zusammenfassung der Bestimmungen in einem Paragraphen
viel zweckmässiger sein.
Was speziell die anzeigepflichtigen Krankheiten
anbetrifft, so werden Sie aus der in Ihren Händen befindlichen,
von mir aufgestellten Uebersicht 1 ) über die in den einzelnen Bundes¬
staaten zur Zeit bestehenden einschlagenden Vorschriften ersehen,
dass der Entwurf in dieser Hinsicht nicht etwas wesentlich Neues
bringt, nur die in Deutschland gar nicht vorkommenden Krank¬
heiten Gelbfieber und Pest sind bisher in keinem deutschen
Bundesstaate anzeigepflichtig gewesen. Ich hatte daher vorge¬
schlagen, diese Krankheiten im Entwürfe überhaupt zu streichen;
bei der gestrigen Vorberathung wurde mir aber erwidert, dass die
Aufnahme derselben auf internationalen Abmachungen über gesund¬
heitspolizeiliche Kontrole des Seeschifffahrtsverkehrs und die Aus¬
stellung von Leichenpässen beruhe. In Folge dessen habe ich
mich veranlasst gesehen, jenen Vorschlag fallen zu lassen. Von
den übrigen im Entwurf genannten Krankheiten sind Cholera,
Pocken und Wochenbettfieber in allen deutschen Bundes¬
staaten anzeigepflichtig, desgleichen Flecktyphus, Darm¬
typhus, Rückfallfieber und Diphtherie mit Ausnahme
von Württemberg, Sachsen-Altenburg und Eisass-Lothringen,
während in Bayern und Oldenburg nur eine fakultative Anzeige¬
pflicht bei Diphtherie besteht. Auch bei Ruhr und Scharlach
ist in Preussen, Baden, Oldenburg eine Anzeige nur bei epidemi¬
schem Auftreten zu erstatten, dasselbe gilt betreffs des Scharlachs
in Bayern, Sachsen-Meiningen und Sachsen - Koburg; ich bemerke
jedoch, dass in vielen preussischen Regierungsbezirken auch bei
Scharlach und Ruhr durch Polizeiverordnung die obligatorische
Anzeigepflicht angeordnet ist. Betreffs der Ruhr möchte ich noch
erwähnen, dass diese in der Begründung des Entwurfes zu den in
Deutschland nicht heimischen Krankheiten gerechnet wird. Ich kann
mich dieser Ansicht nicht anschliessen; die Ruhr ist meines Erachtens
in Deutschland ebenso heimisch wie die Diphtherie; ich erinnere
nur an die im Jahre 1872 über ganz Nordwestdeutschland ausge¬
breitete, keineswegs von auswärts eingeschleppte Ruhrepidemie,
die merkwürdiger Weise in der Begründung des Entwurfs uner¬
wähnt geblieben ist, obwohl sie kolossale Verluste an Menschen¬
leben herbeigefiihrt hat.
Also, m. H., eine wesentliche Aenderung und insbesondere
eine grössere Belastung der Aerzte wird durch die Bestimmungen
*) Siehe Anlage.
Der Entwarf e. Gesetzes betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 17
des Gesetzentwurfes betreffs der anzeigepflichtigen Krankheiten
nicht herbeigeführt. Mit Recht hat der Entwurf übrigens von der
in verschiedenen Bundesstaaten vorgeschriebenen Anzeigepflicht bei
Masern abgesehen, da bei dem meist massenhaften Auftreten
dieser Krankheit eine derartige Vorschrift gar nicht durchführbar
sein würde, ganz abgesehen davon, dass auch ein sanitätspolizei¬
liches Eingreifen bei Masernepidemien sich nur selten als noth-
wendig erweist. Ebenso halte ich eine Aufnahme der Zoono-
sen unter die anzeigepflichtigen Krankheiten mit Rücksicht auf
ihr äusserst seltenes Vorkommen nicht für erforderlich. Dagegen
halte ich es nicht für richtig, dass in dem Entwürfe der
epidemische Kopfgenickkrampf unberücksichtigt geblieben
ist und zwar um so mehr, als diese Krankheit schon in den
meisten Bundesstaaten anzeigepflichtig ist und keineswegs so sel¬
ten aufzutreten pflegt, als dies in der Begründung des Entwurfs
angenommen wird. Die Genickstarre gehört ausserdem in Bezug
auf den Verlauf zu den gefährlichsten ansteckenden Krankheiten
und da die Diagnose nicht immer gleich beim ersten Erkrankungs¬
fall mit Sicherheit gestellt werden kann, so ist es erforderlich,
dass ebenso wie bei Cholera, Pocken u. s. w. die Anzeigepflicht
auch bei den der Genickstarre verdächtigen Erkrankungen vorge¬
schrieben wird. In gleicher Weise muss die Anzeigepflicht auf
jede des Wochenbettfiebers verdächtige Erkrankung ausge¬
dehnt werden. Der Entwurf schreibt auffallender Weise im §. 3
die Anzeigepflicht bei den des Wochenbettfiebers verdächtigen
Todesfällen, aber nicht bei den verdächtigen Erkrankungen vor;
es ist dies meines Erachtens ein grosser Mangel; denn gerade um
der Weiterverschleppung dieser Krankheit rechtzeitig entgegen¬
treten zu können, ist es für den beamteten Arzt erforderlich, auch
von den verdächtigen Erkrankungsfällen sobald als möglich Kennt-
niss zu erhalten. Die Fassung des §. 3 über das Wochenbettfieber
ist überhaupt keine glückliche; so sind diejenigen Fälle gänzlich
ausser Acht gelassen, in denen weder ein Arzt noch eine Heb¬
amme bei einer Wöchnerin zugegen ist und die besonders im
Osten der Monarchie gar nicht so selten sind. Für solche Fälle
muss aber doch auch eine Anzeigepflicht vorgesehen werden. Ferner
kann ich die Ausführungen der Begründung, wonach eine Mit¬
wirkung der Ortspolizeibehörde bei der Verhütung des Wochen¬
bettfiebers nicht in Frage komme, keineswegs theilen. Dem be¬
amteten Arzte als Aufsichtsbeamten der Hebammen muss zwar
stets hierbei die Hauptthätigkeit Zufällen, etwaige nothwendige
Recherchen über das Verhalten der Hebammen werden aber ohne
Mitwirkung der Ortspolizeibehörde kaum durchführbar sein, noch
viel weniger lässt sich aber die Hülfe der letzteren in denjenigen
Fällen entbehren, in denen Frauen nicht von Hebammen, sondern
von Hebammenfuscherinnen entbunden und später an Wochenbett¬
fieber erkrankt sind.
Im §. 1 des Entwurfs ist nun nicht nur eine Anzeigepflicht
bei Erkrankungen an ansteckenden Krankheiten, sondern auch eine
solche bei Todesfällen in Folge von Cholera, Fleckfieber, Pocken,
2
18
I)r. Rapmund.
Pest und Gelbfieber vorgeschrieben; dagegen eine solche bei Todes¬
fällen in Folge der übrigen gemeingefährlichen Krankheiten nicht
für nöthig erachtet. In der Begründung des Entwurfes heisst
es hierzu:
„Da die Diagnose eines Krankheitsfalles dieser Groppe oft erst durch den
tödtlichen Ausgang bestätigt wird, ist es ferner erforderlich, dass nicht nur von
jeder Erkrankung, sondern auch von jedem Todesfall Anzeige erstattet werde.
Die Todesanzeige bietet zugleich einen Ersatz für die etwa unterbliebene Er¬
krankungsanzeige. Dies ist um so wichtiger, als nach den bisherigen Erfah¬
rungen Erkrankungsanzeigen, sei es aus Unachtsamkeit, sei es wegen Unkennt¬
nis der Natur der Krankheit, voraussichtlich vielfach unterbleiben werden.
Endlich ist es für die wissenschaftliche Reurtheilung und praktische Behandlung
von Wichtigkeit, das Verhältnis der Sterbefälle zu der Zahl der Erkrankungen
kennen zu lernen. Bei den übrigen im §. 1 genannten Krankheiten erscheint
die Ausdehnung der Anzeigepflicht auf die Todesfälle durch sanitätspolizeiliche
Rücksichten nicht geboten, es genügt vielmehr die Anzeige der Erkrankungen.“
Sie werden mir zugeben, m. H., dass alles das, was hier
zur Begründung der Anzeigepflicht bei Todesfällen von Cholera
u. s. w. angeführt ist, in gleichem Masse auch auf die übrigen
Krankheiten passt; denn erst durch die Anzeige der Todesfälle
erhalten wir ein sicheres Urtheil über den Verlauf einer Epidemie,
ob die Seuche bösartig auftritt oder nicht. Aus dem Grunde halte
ich es auch für nothwendig, dass die Anzeigepflicht auf die Todes¬
fälle in Folge der übrigen im §. 1 des Gesetzes angeführten
Krankheiten ausgedehnt wird; eine grosse Belastung seitens der
anzeigepflichtigen Personen wird dadurch keineswegs herbeigeführt,
da die Zahl der Todesfälle im Vergleich zu derjenigen der Er¬
krankungsfälle doch nur eine unbedeutende ist. In den deutschen
Bundesstaaten, in denen eine obligatorische Leichenschau
besteht und dem beamteten Arzte dadurch die Anzeige der Todes¬
fälle gewährleistet ist, scheint allerdings eine Ausdehnung der
Anzeigepflicht nach dieser Richtung hin nicht erforderlich, es
würden sonst sehr häufig die Aerzte in die Lage kommen, doppelte
Todtenscheine auszustellen.
Dass alle Anzeigen über Erkrankungen und etwaige Todes¬
fälle nur dann ihren Zweck vollständig erfüllen, wenn sie sofort
erstattet werden, bedarf kaum der Erwähnung. Der Entwurf ver¬
langt mit Recht eine „unverzügliche“ Erstattung; zweck¬
mässiger dürfte es jedoch sein, noch die Worte „spätestens
aber innerhalb 24 Stunden“ hinzuzufügen und zwar um so
mehr, da in den Strafvorschriften (§. 44 Nr. 1) des Gesetzes diese
Fristbestimmung vorgesehen ist.
Ueber die Frage: an weiche Behörde die Anzeige zu
erstatten ist. hat bei der gestrigen Vorberathung eine sehr
lebhafte Debatte stattgefunden und sich die grosse Mehrheit der
Anwesenden dahin entschieden, dass die Anzeige nicht dem von
mir in Uebereinstimmung mit dem Gesetzentwürfe gemachten Vor¬
schläge gemäss der Ortspolizeibehörde, sondern dem beamteten
Arzte zu erstatten sei. Einstimmig war man dagegen der An¬
sicht, dass bei allen Krankheiten ohne Unterschied die Anzeige an
eine Behörde genüge und von einer doppelten Anzeige an den
beamteten Arzt und an die Ortspolizeibehörde selbst bei Cholera
Der Entwurf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 19
u. 8. w. Abstand zu nehmen sei, da man durch diese Mehrbe¬
lastung der anzeigepflichtigen Personen nur Gefahr laufe, dass dann
gar keine Anzeigen erstattet werden. In gleichem Sinne hat sich
bekanntlich der Aerztevereinsausschuss ausgesprochen und soviel
bisher über die von dem Bundesrathe gemachten Aenderungen des
Gesetzentwurfes in die Oeffentlichkeit gedrungen ist, hat auch
dieser die im §. 1 Abs. 1 des Gesetzes vorgesehene doppelte An¬
zeige gestrichen. Halten wir aber eine doppelte Anzeige selbst
bei Cholera u. s. w. für unnöthig, dann ist für uns die Frage von
um so grösserer Bedeutung, an wen diese Anzeige erstattet werden
soll? In der Begründung heisst es:
„Als diejenige Stelle, welcher die Anzeige zu erstatten ist, bezeichnet der
Entwurf die Ortspolizeibehörde. Hierfür war die Erwägung massgebend, das3
es sich zur Vermeidung jedes Zeitverlustes empfiehlt, die Meldungen an diejenige
Behörde zu richten, welche die nächsten Massnahmen gegen eine weitere Ver¬
breitung der Krankheit zu veranlassen hat. Auch ist Werth darauf zu legeu,
dass die Meldestelle dem Publikum möglichst leicht zugänglich sei, um die Er¬
füllung der Anzeigepilicht nicht zu erschweren.“
Demgegenüber wurde von der Mehrzahl der Kollegen in der
gestrigen Vorberathung der Standpunkt festgehalten, dass die Weiter¬
verbreitung ansteckender Krankheiten erfahrungsgemäss nur durch
das rascheste Eingreifen unmittelbar nach dem Seuchenausbruche
gehindert werde, und dies nur dadurch erreicht werden könne,
wenn der beamtete Arzt nicht erst auf dem meist lang dauernden
Umweg durch die Ortspolizeibehörde, sondern direkt so schleunig
wie möglich von dem Auftreten der Krankheiten in Kenntniss ge¬
setzt werde, da ihm die Feststellung der Krankheit wie die An¬
ordnung der erforderlichen Massregeln obliege. Selbstverständlich
müsste dann dem beamteten Arzte die Verpflichtung auferlegt
werden, die Ortspolizeibehörde sofort mit entsprechender Nach¬
richt zu versehen. M. H., aus der von mir aufgestellten Ueber-
sicht*) werden Sie ersehen, dass schon jetzt in verschiedenen Bun¬
desstaaten, z. B. in Sachsen, Hessen, Sachsen-Weimar u. 8. w. die
Anzeigen über Erkrankungen an ansteckenden Krankheiten nicht
der Ortspolizeibehörde, sondern dem beamteten Arzt erstattet werden;
es geschieht dies auch in einzelnen preussischen Regierungsbe¬
zirken, z. B. in Hannover und Schleswig - Holstein. Das Verfahren
hat sich, soweit mir bekannt geworden ist, in jeder Weise bewährt,
und sich insonderheit die Befürchtung nicht bewahrheitet, dass die
praktischen Aerzte in Folge dessen der Anzeigepflicht weniger
genügen werden, als wenn die Anzeige an die Ortspolizeibehörde
zu erstatten ist. Diese Befürchtung wird ausserdem künftighin
noch weniger in Betracht kommen, sobald die beamteten Aerzte
aus der Reihe der in der Praxis konkurrirenden Aerzte mehr oder
weniger verschwinden und dass müssen sie, wenn überhaupt das
Seuchengesetz nicht auf dem Papier stehen bleiben soll. Wird dem
beamteten Arzte zuerst die Anzeige erstattet, so wird ihm zwei¬
fellos dadurch bei der Bekämpfung der Volksseuchen nicht nur eine
erheblich grössere Thätigkeit, sondern auch eine erheblich grössere
*) Siehe Anlage.
2 *
20
Dr. RapmuncL
Verantwortung auferlegt; er ist dann gleichsam die Hauptperson,
die Ortspolizeibehörde kommt erst in zweiter Linie. Ob der
Reichstag und die Reichsregierung dem beamteten Arzte eine
derartige Stellung einräumen werden, dürfte allerdings zweifel¬
haft sein, so wünschen swerth es auch im Interesse einer gesicherten
Durchführung des Reichsseuchengesetzes ist. Das kann uns aber
meines Erachtens nicht abhalten, einen dementsprechenden Be¬
schluss zu fassen; ich selbst habe mich auf Grund der gestrigen
Vorberathung zu der Ansicht bekehrt, dass die Anzeigen an den
beamteten Arzt zu erstatten sind und glaube, dass auch die Mehr¬
zahl von Ihnen der gleichen Ansicht sein wird.
M. H., wir kommen nunmehr zu der Frage: Welche Per¬
sonen sollen zur Anzeige verpflichtet werden? Der
Entwurf legt mit Recht in erster Linie den Aerzten diese Ver¬
pflichtung auf; denn im Interesse der Sanitätspolizei muss daran
festgehalten werden, dass demjenigen, bei dem wir vermöge seiner
wissenschaftlichen Kenntnisse und seiner Erfahrungen mit Sicher¬
heit auf eine zuverlässige Diagnose rechnen können, auch zunächst
die Anzeigepflicht aufzuerlegen ist, und das ist der Arzt. In den
meisten deutschen Bundesstaaten sind daher die Aerzte entweder
allein oder vor allen Anderen zur Anzeige verpflichtet 1 ); auch in
Preussen, wo das Regulativ vom 8. August 1835 die Familien¬
häupter in erster Linie als anzeigepflichtig nennt, hat man in den
meisten Regierungsbezirken durch spätere Polizeiverordnungen
gleichfalls die Aerzte zunächst zur Anzeige verpflichtet. Der
Entwurf nennt dann in zweiter Linie „jede sonst mit der Behand¬
lung oder Pflege des Erkrankten beschäftigte Person“; darunter
sind ausser den Krankenpflegern nicht nur das niedere ärztliche
Personal, Wundärzte, Heilgehülfen u. s. w., sondern auch die
sogenannten Kurpfuscher verstanden. Der Aerztevereinsaus-
schuss hält, wie Ihnen bekannt sein wird, die Anzeigepflicht der
Kurpfuscher für nutzlos und glaubt, dass durch dieselbe ausserdem
die gemeinschädliche Aufhebung des Kurpfuschereiverbotes weiter
gefestigt werde. M. H., ich kann diese Ansicht nicht theilen.
So lange den Kurpfuschern durch die Gewerbeordnung das Recht
der Ausübung der Heilkunde eingeräumt ist, muss ihnen auch die
Anzeigepflicht auferlegt werden; denn die Sanitätspolizei muss nicht
nur von den ärztlich behandelten Erkrankungsfällen an anstecken¬
den Krankheiten, sondern von allen derartigen Erkrankungsfallen
Kenntniss erhalten, also auch von solchen, bei denen entweder
gar kein Arzt oder ein Kurpfuscher zu Rathe gezogen ist. Andern¬
falls würden alle diese Erkrankungen unangemeldet bleiben, ja
es würde sogar ihre Verheimlichung dadurch begünstigt werden.
Gerade bei den ansteckenden Krankheiten ist ausserdem die
Diagnose meist nicht sehr schwierig, so dass die Anzeigen der
Kurpfuscher in der Mehrzahl der Fälle zutreffend sein dürften
und daher keineswegs nutzlos sind. Auch die Befürchtung, dass
der Stand der Kurpfuscher durch die ihm auferlegte Anzeigepflicht
*) Siehe Anlage.
Der Entwurf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 21
gleichsam an Ansehen gewinnen werde, kann ich nicht theilen,
im Gegentheil, die betreffenden Personen werden diese Massregel
nicht als eine besondere Ehre und Begünstigung, sondern als eine
grosse Belästigung, als eine Kontrole und Beschränkung ihrer
Kurirfreiheit empfinden. In meinem Regierungsbezirke sind z. B.
die Kurpfuscher auch verpflichtet, sich vor Ausübung ihres Ge¬
werbes bei dem zuständigen Kreisphysikus anzumelden, damit
dieser einen genauen Ueberblick darüber erhält, wer in seinem
Bezirke Kurpfuscherei gewerbsmässig treibt, und in Folge dessen
in der Lage ist, diese Leute zu kontroliren. Die Anordnung hat
sich durchaus bewährt; von keinem Pfuscher ist dieselbe aber als
eine Massregel betrachtet worden, durch die sie gewissermassen
den Aerzten gleichgestellt würden; denn sonst würden sie jeden¬
falls der Auflage nicht erst nach wiederholter Bestrafung nach¬
gekommen sein.
Was die übrigen zur Anzeige verpflichteten Personen anbe¬
trifft, so können die im §. 2 unter 4 und 5 aufgeführten „zum
Haushalte gehörigen grossjährigen Familienmitglieder und sonstigen
Haushaltsgenossen“ getrichen werden; es genügt meines Erachtens
vollständig der Haushaltsvorstand oder dessen Stellvertreter, sowie
diejenigen Personen, in deren Wohnung oder Behausung der Er-
krankungs- oder Todesfall sich ereignet hat. Letztere werden
besonders bei Erkrankungen von alleinstehenden Personen z. B.
Chambregarnisten in Frage kommen. Dass es sich empfiehlt, im
§. 2 noch die Bestimmungen des §. 4 aufzunehmen, hatte ich bereits
früher erwähnt.
M. H.! Nach den von mir zu den §§. 1 und 2 des Gesetz¬
entwurfes gemachten, in den Leitsätzen unter Nr. 1 — 4 nieder¬
gelegten Abänderungsvorschlägen würden diese Paragraphen unge¬
fähr folgende Fassung erhalten:
§. 1. „Jede Erkrankung an
a. Cholera (asiatischer), Fleckfieber (Flecktyphus), Gelbfieber, Pest
(orientalischer Beulenpest), Pocken (Blattern), Wochenbettfieber,
Kopfgenickkrampt', Darmtyphus, Rückfallfieber, Dyphtherie (ein¬
schliesslich Krupp), Ruhr (Dysenterie) und Scharlach sowie
b. jede Erkrankung, die den Verdacht des Vorhandenseins von Cholera,
Fleckfieber, Gelbfieber, Pest, Pocken, Kopfgenickkrampf und Wochen¬
bettfieber erweckt und
c. jeder Todesfall in Folge einer der unter a genannten Krankheiten
ist dem für den Aufenthaltsort der Erkrankten oder dem Ste; beorte
zuständigen beamteten Arzte unverzüglich, spätestens aber innerhalb
24 Stunden, anzuzeigen.
In denjenigen Theilen des Reiches, in denen durch die obligatorische
Leichenschau die Anzeige der Todesfälle (Absatz c) an den beamteten
Arzt gewährleistet ist, ist von dieser Anzeige zu entbinden.
Die näheren Bestimmungen darüber, an wen bei Erkrankungen auf
Schiffen oder Flössen die Anzeige zu erstatten ist, werden vom Bundes-
ratbe erlassen.
Durch Beschluss des Bundesrathes können die Bestimmungen des
Gesetzes auch auf andere gemeingefährliche Krankheiten ausgedehnt
werden.
Landesrechtliche Bestimmungen, welche eine weitergehende Anzeige-
pflicht bezwecken, werden durch dieses Gesetz-nicht berührt.“
22
Dr. Rapmund.
§. 2. „Zur Anzeige sind verpflichtet:
1. der behandelnde Arzt,
2. jede sonst mit der Behandlung oder Pflege des Erkrankten be¬
schäftigte Person,
3. der Haushaltnngs- oder Anstaltsvorstand, Schiffer oder Flossftthrer
oder deren Vertreter,
4. derjenige, in dessen Wohnung oder Behausung der Erkrankungs¬
oder Todesfall sich ereignet hat.
Die Verpflichtung der unter 2 — 4 genannten Personen tritt nur
dann ein, wenn ein früher genannter Verpflichteter nicht vorhanden,
oder an der Erstattung der Anzeige verhindert ist.“
Die §§. 3 und 4 fallen fort, da sie durch §. 1 a Abs. 3 sowie durch §. 2
Nr. 3 erledigt sind.
M. H.! Sie werden finden, dass ich bei dieser Fassung im
§. 1 die im Entwürfe vorgesehene Bestimmung:
„Wechselt der Erkrankte den Aufenthaltsort, so ist dies unverzüg¬
lich bei der Ortspolizeibehörde des bisherigen und des neuen Aufent¬
haltsortes zur Anzeige zu bringen“
fortgelassen habe. Es ist dies absichtlich geschehen; denn im
sanitätspolizeilichen Interesse muss derartigen Kranken jeder
Aufenthaltswechsel prinzipiell verboten oder wenigstens nur
mit zuvoriger Genehmigung der zuständigen Ortspolizeibehörde
gestattet werden. Dadurch erledigt sich aber eine Anzeige an
diese von selbst; die Anzeige an die zuständige Behörde des neuen
Aufenthaltsortes ist aber bereits durch die Bestimmungen des §. 1
Abs. 1 gesichert, ganz abgesehen davon, dass in solchen Fällen
eine gegenseitige Benachrichtigung der betreffenden Behörden im
Verwaltungswege vorgeschrieben werden müsste.
Ich komme nun zu dem letzten Paragraphen des ersten Ab¬
schnittes und damit zu der Frage: In welcher Form soll die
Anzeige erstattet werden? Der Gesetzentwurf (§. 5) sagt
in dieser Hinsicht:
„Die Anzeige kann mündlich oder schriftlich erstattet werden. Die
Ortspolizeibehörden haben auf Verlangen Meldekarten für schriftliche
Anzeigen unentgeltlich zu verabfolgen. 4
In der Begründung heisst es dann weiter, „dass die Beför¬
derung der Meldekarten durch die Post als portopflichtige Dienst¬
sache die Einführung bestimmter Formulare voraussetze.“ Viel
nothwendiger ist aber meines Erachtens die Einführung und unent¬
geltliche Verabfolgung von Meldekarten, um. die Anzeige thunlichst
zu erleichtern und vor allem auch, um möglichst vollständige
Anzeigen zu erhalten und den Behörden etwaige Rückfragen zu
ersparen. Es sind ja bestimmte Fragen, deren Beantwortung die
Behörde bei jeder Anzeige von ansteckenden Krankheiten verlangen
muss, als: Vor- und Zuname, Alter und Geschlecht des Kranken,
Wohnort und Wohnung desselben, Namen der Krankheit, Tag der
Erkrankung oder des Todes, etwaige Entstehungsursache, ferner ob
schulpflichtige Kinder in dem Hausstande vorhanden und welche
Schulen sie besuchen, ob und welchem Krankenhause der Kranke über¬
wiesen ist, ob er von auswärts zugereist ist u. s. w. Am sichersten
wird die Beantwortung der erforderlichen Fragen dadurch erreicht,
wenn das Formular der .Meldekarten einheitlich für ganz Deutsch-
Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 23
fand durch den Bundesrath bestimmt wird und zwar empfiehlt sich der
Portoersparniss wegen die Postkartentorm. Die Durchführung
dieser Massregel lässt sich in der Weise am einfachsten bewirken,
dass den Aerzten die Karten gleich frankirt verabfolgt werden,
wie solches thatsächlich schon in verschiedenen deutschen Bundes¬
staaten und preussischen Regierungsbezirken der Fall ist. Dass
den Absendern durch Erstattung der Anzeige keine Kosten er¬
wachsen dürfen, ist eine berechtigte Forderung und wird auch in
der Begründung als solche anerkannt. Gleichwohl dürfte es ange¬
zeigt sein, diese Berechtigung im Gesetz durch einen entsprechen¬
den Zusatz festzulegen, damit jeder Zweifel darüber beseitigt ist.
Das sind die Gründe, die mich zu dem unter Nr. 5 aufgeführten
Abänderungsvorschläge veranlasst haben, demzufolge der §. 5 des
Gesetzes nachfolgenden Zusatz erhalten müsste:
„Das Formular der Meldekarten wird durch den Bundesrath be¬
stimmt. Durch die Erstattung der Anzeige dürfen dem Absender keine
Kosten erwachsen.“
Ich bitte den Herrn Vorsitzenden, die Diskussion über den
ersten Abschnitt des Gesetzentwurfes und damit über die von mir
unter Nr. 1—5 gemachten Abänderungsvorschläge zu eröffnen.
Vorsitzender: Ich eröffne hiermit dem Vorschläge des Herrn
Referenten gemäss die Diskussion über die §§. 1—5 des Gesetzent¬
wurfs, betreffend die Anzeigepflicht, sowie über die unter II,
Nr. 1—5 von dem Referenten aufgestellten Abänderungsvor¬
schläge.
Diskussion.
H. Kr.-Phys. Dr. Jacobson - (Salzwedel): M. H.! Die Physiker meines
Regierungsbezirks haben vor etwa acht Tagen gleichfalls den vorliegenden Ge¬
setzentwurf einer Besprechung unterzogen und sich hierbei ganz dem Referat
des Herrn Vortragenden entsprechend ausgesprochen. Auch wir sind der Ansicht
gewesen, dass es unthunlich ist, die anzumeldenden Krankheiten in mehr als
eine Gruppe zu bringen. Wenn der Entwurf so, wie er ist, Gesetz wird, so
haben wir hier nicht nur an und für sich schon mehrere Gruppen, sondern es
kommen noch diejenigen Krankheiten dazu, die nach der Landesgesetzgebung,
also in Preussen nach dem Regulativ vom 8. August 1835 und etwaigen Bezirks-
Polizeiverordnungen, meldepflichtig bleiben. Es käme dabei ein solcher Wirrwarr
heraus, dass thatsächlich kein Arzt wissen würde, was, an wen und wann er zu
melden hätte. Wir haben es deshalb für nöthig erachtet, uns in dem Sinne zu
äussern, wie der Herr Referent es gethan hat, nämlich die sämmtlichen melde¬
pflichtigen Krankheiten in eine Gruppe zu vereinigen. Wir sind ferner genau
ebenso wie der Herr Referent der Ansicht gewesen, dass es nöthig ist, nicht nur
Cholera und Pocken oder auch Gelbfieber und Beulenpest anznmelden, sondern
wir meinen, dass die sämmtlichen hier angegebenen Krankheiten als meldepflichtig
bezeichnet werden müssen. Ich erlaube mir auch, darauf aufmerksam zu machen,
dass die Mortalität bei einzelnen dieser anderen Krankheiten, besonders bei der
Diphtherie, doch eine nicht nur relativ, sondern auch absolut grössere ist, als
bei Cholera. Nur wenn die Cholera explosionsartig, mit einem Male auftritt,
bringt sie eine Mortalität, die kolossal ist. Ich kann das mit einigen Ziffern
belegen. Wir haben an Diphtherie durchschnittlich jährlich eine Mortalität von
180—190 auf 100000 Lebende. In den Jahren, in welchen die Cholera ständig
gewesen ist, also 1849—1859, hat die Mortalität der Cholera nur etwa 60 auf
100 000 Lebende betragen. Nur während derZeit, wo die Cholera ganz plötzlich
aulgetreten ist — und diese Zeit hat nie sehr lange gedauert — ist es bis zu
einer Mortalität von 250 — 255 auf 100 000 gekommen. Wir meinen also, dass
unter allen Umständen die Diphtherie z. B., die beständig, Jahr für Jahr, Opfer
fordert, eine ebenso grosse Gelahr für die Bevölkerung bildet, wie die Cholera,
24
Dr. Rapmund.
and dass sie vor allen Dingen in ebenso energischer Weise bekämpft werden
müsse. Dass hier eine allgemeine Regelung für das Reich nöthig ist, geht schon
daraas hervor, weil Niemand weiss, was jetzt Gesetz und Vorschrift ist. Selbst
dem Herrn Referenten ist es nicht möglich gewesen, überall das Richtige zu
treffen. Er sagte, die Meldung von Diphtherie wäre in Preussen obligatorisch.
Das ist keineswegs der Fall. In unserm Bezirk soll z. B. nur gemeldet werden,
wenn die Fälle bösartig oder zahlreich sind, so dass es dem Urtheil jedes ein¬
zelnen Arztes überlassen bleibt, ob eine Anzeige nöthig ist oder nicht, und wenn
Sie sich eine grössere Ortschaft denken, wo 3, 4 Aerzte aus verschiedenen Ge¬
genden hinkommen und jeder 2, 3 Fälle behandelt, dann möchte ich wissen, wer
von diesen Aerzten sich ein Urtheil darüber bilden kann, ob die Fälle zahlreich
oder bösartig sind.
Wir sind auch zu der Ansicht gekommen, welche der Herr Referent aus¬
gesprochen hat, dass die Meldepflicht nicht nur den Aerzten, sondern auch den
Kurpfuschern zugemuthet werden müsse. Ist man der Ansicht, wie wir es
zweifellos sein müssen, dass es bei der Bekämpfung ansteckender Krankheiten
in erster Reihe darauf ankommt, schnell den Kranken zu isoliren, muss man
weiter zugeben, wie ich statistisch nachweisen kann, dass die Bekämpfung z. B.
der Dyphtherie unmöglich geworden ist, sobald die Krankheit erst einmal in
einer Ortschaft um sich gegriffen hat, so wird man auch fordern müssen, dass
die Möglichkeit eines frühzeitigen sanitätspolizeilichen Eingreifens zuerst in
Betracht gezogen werde. Gehen der Anordnung von Schutzmassregeln erst lange
Berathungen, lange Schriftsätze voraus, so dauert es Monate lang, ehe sich über¬
haupt eine Wirkung von irgend einer Anordnung zeigt, während umgekehrt
das schleunige Eingreifen sich sofort bemerkbar und fühlbar macht. Nun wird
aber jeder, der auf dem Lande zu thun hat, es gar nicht selten erleben, dass die
ersten 3, 4, 5 Fälle von Kurpfuschern behandelt werden, dass diese Kranken
sterben, dass die Krankheit von einem Haus zum anderen verschleppt wird, und
dass erst, wenn die Sache eine grosse Ausdehnung gewonnen hat, endlich ein
Arzt geholt wird. Wir ‘meinen deshalb, entgegen der Anschauung, welche der
Geschäftsausschuss des Aerztevereins ausgesprochen hat: so lange den Kur¬
pfuschern nicht nur gestattet ist, Knochenbrüche und Verrenkungen zu behandeln,
sondern so lange es ihnen auch erlaubt ist, Cholera und Diphtherie zu behandeln,
so lange müssen diese Kurpfuscher auch verpflichtet sein, zu melden. Will man
den Kurpfuschern entgegentreten, so mag man das Kuriren durch gesetzliche
Bestimmungen verbieten, aber so lange sie die Berechtigung dazu haben, so
lange, müssen sie auch melden.
Wir haben uns ferner der Ansicht zugeneigt, das die Meldung in erster
Linie beim Medizinalbeamten erfolgen müsse, und zwar aus dem Grunde, den
ich schon äusserte: dass es doch vor Allem auf Schnelligkeit ankommt. Soll die
Meldung bei der Ortspolizeibehörde erfolgen, so vergeht einmal eine lange Zeit,
ehe sie in grösseren Distrikten an den Ortspolizeivorsteher kommt, und es ver¬
geht nachher wieder eine längere Zeit, ehe der beamtete Arzt benachrichtigt ist.
Hält man das Prinzip fest, dass ein schleuniges Eingreifen nöthig ist, so ist alles
das geboten, was in irgend einer Weise eine Beschleunigung des Eingreifens des
beamteten Arztes fördern kann. Wir meinen deshalb — was zweifellos der Herr
Referent auch nur übersehen hat — dass bei der Meldepflicht nicht nur der
schriftliche oder der mündliche Weg, sondern auch der telegraphische vorgesehen
werden muss. Wir meinen, dass es nöthig ist, alle im Gesetzentwurf erwähnten
ansteckenden Krankheiten innerhalb einer Zeit von höchstens 24 Stunden an den
Medizinalbeamten zu melden, ganz gleichgültig, ob auf mündlichem, schriftlichem
oder telegraphischem Wege; der Schwerpunkt ist eben darauf zu legen, dass
die Anzeige innerhalb 24 Stunden in die Hände der betreffenden Behörde, des
Medizinalbeamten, gelangt.
Kreis - Phys. Dr. Meyhoefer (Görlitz): M. H.! Ich möchte nur zu einem
Punkte eine kurze Bemerkung machen, das ist die Anzeigepflicht bei Kindbett¬
fieber. Ich bin nicht der Ansicht des Herrn Referenten, dass bei der Melde¬
pflicht für das Kindbettfieber die Polizeibehörden eine wesentliche Rolle zu
spielen haben, und zwar auf Grund der Erfahrungen, welche wir bei uns zu
Hause in Schlesien gemacht haben. Dort ist das Kindbettfieber nur beim be¬
amteten Arzt zu melden, und es haben sich bei uns irgendwelche Unzuträglich¬
keifen daraus nicht ergeben. Ich bin der Ausicht, dass die Polizeiverwaltung
Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 25
beim Kindbettfieber irgend welches aktuelle Interesse gar nicht hat, ganz im
Gegensatz za anderen Infektions-Krankheiten, bei welchen die sozialen Verhält¬
nisse der durch die Krankheit Bedrohten eine grosse Rolle in Bezog auf die
Gefährdung spielen. Das ist doch beim Kindbettfieber nicht der Fall, indem
dort nur vorwiegend lokale Ursachen der Uebertragung in Frage kommen. Es
werden also da die unteren Klassen und die besseren Stände gleichmässig ge¬
fährdet, und ich glaube, wir haben volle Veranlassung, die berechtigte Empfind¬
lichkeit der besseren Stände zu schonen, wie wir auch ein Interesse daran haben,
uns das Entgegenkommen der nichtbeamteten Kollegen nicht zu verscherzen.
Deshalb müssen wir Alles weglassen, was die Anzeigepflicht unnöthig unangenehm
macht. Ich weiss nicht, was die Polizeibehörde beim Kindbettfieber thun soll. Es
handelt sich hier um Schutzmassregeln, die der Sachverständige angeben muss,
und das ist der beamtete Arzt. Der hat der Hebamme zu sagen, was sie zu
thun und zu lassen hat. Das Erscheinen der Polizeiverwaltung in dem Hause,
in welchem ein Kindbettfieber aasgebrochen ist, ist daher nach meiner Ansicht
vollständig überflüssig. Ich habe auch bei uns nicht beobachtet, dass sich irgend¬
wie ein Gegensatz zwischen den beamteten und den nichtbeamteten Aerzten
herausgestellt hätte. Ich habe gefunden, dass die Kollegen, allerdings allmäh¬
lich erst, dahin gekommen sind, der Anzeigepflicht recht gut zu genügen, und
ich würde der Bestimmung im ursprünglichen Entwurf, wonach also das Kind-
bettfieber nur dem beamteten Arzt zu melden ist, entschieden den Vorzug geben.
H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: Das entspricht ja durchaus
meinem Vorschläge, nach dem die Anzeigen über ansteckende Krankheiten an den
beamteten Arzte gerichtet werden sollen. Ich differire mit dem Herrn Vorredner
daher nur in dem Punkte, dass meines Erachtens die Mitwirkung der Ortspoli¬
zeibehörde bei der Verhütung des Wochenbettfiebers nicht völlig zu entbehren
ist und da muss ich an dem vorher von mir vertretenen Standpunkte festhalten.
H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Wernich (Berlin): M. H. 1 Ich habe nur
ein Bedenken zu äussern, in Bezug auf die subsidiäre Anzeigepflicht in §.2. Es
handelt sich da 1) um Personen, die in’s Vertrauen zugezogen werden, — und
2) um Personen, die zufällig demselben Haushalte angehören. Es wird nun zum
Verdachtschöpfen eine so grosse Gruppe von Personen dort angeführt — neben
dem Haushaltungsvorstande die Familienmitglieder und mehrere andere Personen
—, dass es wirklich bloss um Verdacht auf eine Krankheit zu schöpfen, nicht
noch der Zufügung weiterer Personen bedarf. Es sind einmal die mit der
Pflege betrauten Vertrauenspersonen hier gemeint, und es sind die, wie es
heisst, mit der Behandlung neben dem Arzt noch betrauten Vertrauensper¬
sonen gemeint. In Bezug auf letztere Personen, die auch noch mit der Anzeige¬
pflicht betraut werden sollen, also auf diejenigen, welche auf Grund der
Gewerbeordnung Praxis treiben, möchte ich mir erlauben, Stellung zu
nehmen. Das ist ja vielfach schon an anderen dazu berufenen Stellen geschehen;
aber ich halte es doch für nöthig, dass man die Frage auch hier bei uns ganz
unumwunden und klar beleuchtet, gegenüber den Erfahrungen, die man über diese
Personen z. B. im Regierungsbezirk Minden gemacht hat. Von den Erfahrungen,
die dort gemacht worden sind, trifft bei uns hier keine einzige zu. Wir brauchen
nicht noch mehr Personen, die einen Verdacht nicht wissenschaftlich substanziiren
können. Die einzige Person, die im Staate zu dieser Leistung befähigt ist, ist
der Arzt. Was will es uns nützen, wenn noch mehr Vermuthungen ausge¬
sprochen werden — denn Sie werden doch Alle mit mir der Meinung sein, dass
der auf Grund der Gewerbeordnung zur Praxis zugelassene, nicht vorge¬
bildete Heilbeflissene lediglich eine Vermuthung aussprechen kann, eine
Vermuthung, die sich dem anscbliesst, was man populär im Augenblick über
eine sich verbreitende Seuche denkt. Diese Vermuthung wiegt nicht schwerer
als jede andere. Wir wollen etwas wissen, und dass dieses der einzige klar
liegende Weg ist, geht schon daraus hervor, dass man sich keine Vorstellung
darüber bilden kann, wie eine höhere Sanitätsbehörde oder ein Medizinalbeamter
oder eine Ortspolizeibehörde mit einem solchen „Behandelnden“ verfährt ? — Bei
uns hier in Berlin gehören diese Heilbeflissenen einzig und allein vor die Ge¬
werbebehörde, bei der sie sich anzumelden haben, und sie kommen erst
dann mit der Medizinalbehörde in Kontakt, wenn sie irgend welche Aus¬
schreitungen begangen haben, oder wenn ihnen ein Missgeschick passirt ist;
und dabei sollte man es belassen. Sie zu Fühlorganen unserer Wissenschaft zu
26
Dr. Rapmund.
machen, w&re m. E. ein sehr folgenschwerer Fehler. Ich möchte deshalb, wenn
es nachher zur Redaktion des §. 2 kommt, diesen so ansdrücken, dass (an erster
subsidiärer Stelle) nur gesagt wird: „die mit der Pflege der Kranken betrau¬
ten Personen“. — Das erfüllt vollständig, was man beabsichtigt und man
kommt nicht in die üble Lage, mit den Heilbeflissenen ohne Vorbildung paktiren
zu müssen.
H. Ober-Med.-Rath Kr.-Phys. Dr. Lesenberg (Rostock): M. H.! Da es sich
am einen deutschen Gesetzentwurf handelt, so bitte ich, auch mir als nichtpreus-
sischen Theilnehmer dieser hochgeehrten Versammlung zu gestatten, hierbei das
Wort zu nehmen. Bei uns in Mecklenburg bestehen Bestimmungen über die
Hebammen und das Hebammenwesen, über die Behandlung der Anzeigepflicht
u. s. w. beim Kindbettfieber, welche entschieden sehr erschwert werden würden,
wenn nach dem Vorschläge des Herrn Referenten der §. 3 mit dem §. 1 zu¬
sammengefasst werden würde.
Ich darf ganz kurz Ihnen eine Uebersicht über die Einrichtung dieses
Hebammenwesens geben. Das Land ist in eine grössere Anzahl von nicht sehr
grossen Hebammenaufsicbtsbezirken getheilt, und die Hebammen dieser Aufsichts¬
bezirke sind einzelnen Hebammenaufsichtsärzten unterstellt. Diese Aufsichts¬
ärzte sind keineswegs identisch mit den beamteten Aerzten. Wir haben in
Mecklenburg nur 12 Kreisphysikus, deren Zahl für die Besetzung der weit zahl¬
reicheren Hebammenaufsichtsarztstellen nicht ausreichen würde. Allerdings ist
von unserer Regierung vorgesehen, dass jedem Kreisphysikus ein Aufsich tsbezirk
übertragen wird, aber die viel grössere Anzahl der Hebammenaufsichtsärzte sind
eben nichtbeamtete Aerzte. Wenn es nun festgesetzt werden sollte, dass jede
Erkrankung an Kindbettfieber dem beamteten Arzte anzuzeigen ist, so würde
eine Schwierigkeit entstehen, eine Verzögerung des Verfahrens, die jetzt bei uns
nicht stattfindet, wo die Anzeige von Seiten der Hebamme allein, nicht von dem
behandelnden Arzte, an den Hebammenaufsichtsarzt erstattet wird, wo der Heb¬
ammenaufsichtsarzt das Recht hat, sofort Verfügungen zu treffen. Er hat das
Recht, der Hebamme die Praxis zu untersagen, bis eine Desinfektion derselben
vorgenommen worden ist, er hat die Anzeige an unsere beamtete Medizinal¬
behörde, an die Grossherzogliche Medizinalkommission, zu erstatten, die Desin¬
fektion der Hebamme etc. zu beantragen und damit ist dann vollständig Alles
geschehen, was für solchen Fall nöthig ist.
Schon seit Jahren besteht diese Hebammenordnung in unserem Lande
und sie hat sich vorzüglich bewährt. Es ist das Kindbettfieber bei uns ganz be¬
deutend herabgegangen. Um also zu verhüten, dass durch die von dem Herrn
Referenten vorgeschlagene Einrichtung diese Ordnung, die sich bei uns wohl
bewährt hat, gestört würde, möchte ich vorschlagen, das Kindbettficber in dem
besonderen §. 3 stehen zu lassen. Freilich muss ich hier nun auch mit Rück¬
sicht auf unsere Einrichtungen eine etwas andere Fassung dieses Paragraphen
beantragen, indem also nicht die Anzeigo nur von dem behandelnden Arzt,
sondern auch von der Hebamme geschehen kann. Es müsste also anstatt „in
Ermangelung eines solchen“ heissen „beziehentlich von der Hebamme zu ge¬
schehen hat“, und müsste ferner bestimmt werden, dass die Anzeige „an den
beamteten Arzt, beziehentlich den zuständigen Hebammenaufsichtsarzt“ zu machen
sein würde.
Ich glaubte, ira Interesse unserer Einrichtungen mit dieser Meinungs¬
äusserung nicht zurückhalten zu dürfen.
H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: M. H.! Zu meinem Bedauern
befinde ich mich in einem wichtigen Punkte mit dem Herrn Referenten nicht in
Uebereinstimmung, und zwar betreffs der zur Anzeige bestimmten Personen.
Nach den Erfahrungen, die ich in diesem Punkte gemacht habe, ist eigentlich
allein die Anzeige des Arztes von Werth. Ich halte die Anzeigepflicht aller
anderen Personen für ziemlich überflüssig und werthlos. Es besteht in meiner
Heimathprovinz eine Verordnung, die jedesmal beim Auftreten der Cholera wieder
in Kraft gesetzt wird, wonach auch die Haushaltungsvorstände verpflichtet sind,
Cholera oder choleraverdächtige Fälle anzuzeigen. Trotz der recht erheblichen
Zahl von Fällen von Cholera und von choleraverdächtigen Krankheiten, die im
letzten Jahre in meinem Beobachtungskreise vorgekommen sind, erinnere ich mich
kaum, dass von einem Haushaltungsvorstande eine Anzeige erstattet worden ist.
Und was nun noch die Hinzuziehung dieser anderen Personen unter 4, 5, 6 be-
Der Entwarf e.'Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 27
trifft, so sehe ich wirklich davon gar keinen Nutzen. Will man Aber den Arzt
hinansgehen, so würde ich es für vollkommen genügend halten, wenn man den
Hansh<nngsvor8tand mit bineinzieht, bezw. diejenigen Personen, die eine
analoge Stellung haben, also Institutsvorsteher, Schiffer und dergl. Ich bin aber
durchaus dagegen, dass man jede sonst mit der Behandlung oder Pflege des
Erkrankten beschäftigte Person in diese Rubrik aufnimmt. Wenn der erweiterte
Geschäftsausschuss des Aerztevereinsbundes sich fUr den Ausschluss dieser Per¬
sonen von der Anzeigepflicht ausgesprochen hat, so ist der Grund dafür nicht
der gewesen, dass man etwa glaubte, durch die Auferlegung dieser Pflicht das
Ansehen der Kurpfascher zu erhöhen. Davon ist gar keine Rede gewesen; son¬
dern der Grund war ein anderer. Wir Alle, die wir hier versammelt sind,
bedauern es, dass durch die Gewerbegesetzgebung von 1869 die ärztliche Praxis
freigegeben worden ist. Es ist das ein Schaden für das Gemeinwesen. Ich
spreche hier nicht von dem Schaden, den der ärztliche Stand dadurch erlitten
hat; wäre es zum öffentlichen Besten, dann würde man ja darüber hinwegsehen
können, da das Gemeinwohl natürlich vorgeht. Aber gerade für die Bekämpfung
der gemeingefährlichen Krankheiten ist diese Freigebung der Heilkunst ein ganz
besonderer Nachtheil. Es kommen dadurch, dass sich gewerbsmässig eine ganze
Menge von unfähigen und unwissenden Menschen mit der Behandlung und Heilung
von Krankheiten beschäftigt, viele ansteckende Krankheiten nicht zur Kenntniss,
die sonst durch das Hinzurufen des Arztes den Behörden bekannt geworden
wären.
Nun sind wir ja zwar nicht in der Lage, hier bei dieser Gelegenheit
Anträge auf Aenderung der Gesetzgebung zu stellen. Aber mir scheint doch,
dass wir Ursache haben, bei jeder Gelegenheit, die sich dafür bietet, dagegen
uns anszusprechen, dass durch gesetzliche Bestimmungen die gemeingefährliche
Kurpfuscherei wieder legalisirt, gewissermassen auf neue Basen gestellt, von
Neuem wieder in ein Gesetz aufgenommen wird. Ich halte den Schaden, der
daraus erwächst, wenn man die Kurpfuscherei herauslässt, für sehr gering. Es
kommt ja hinzu, dass, wenn sie einmal wegen versäumter Anzeige unter Anklage
gestellt werden, sie in der Regel von den richterlichen Behörden freigesprochen
werden, weil man von ihnen nicht verlangen kann, dass sie die nöthige Fähig¬
keit zur Erkenntniss dieser Krankheiten besitzen. Also man erreicht auch nadi
dieser Richtung nicht viel. Aber mir ist der prinzipielle Grund der wesentliche.
Ich will, so weit es an mir liegt, nicht die Hand dazu bieten, dass die Kur¬
pfuscherei von Neuem hier in einem Gesetze Erwähnung findet, während wir im
Uebrigen darauf hinarbeiten, dass diese nachtheilige Bestimmung der Gewerbe¬
ordnung einmal wieder beseitigt werde. Mit welcher Aussicht auf Erfolg, das
ist eine andere Frage.
Was ferner die Frage anbetrifft, wohin die Anzeige gerichtet werden soll,
so lege ich darauf zwar kein so hervorragendes Gewicht, halte es aber nach
Erfahrungen, die ich darüber gemacht habe, für zweckmässig, dass die Anzeige,
wenigstens in den grossen Städten — über die ländlichen Bezirke bin ich nicht
so orientirt — an den Medizinalbeamten gerichtet wird. Dann kommt sie an
die Stelle, die zuerst unterrichtet werden muss, wenn irgend Etwas geschehen
soll. Die Polizeibehörde kann mit der Anzeige gar nichts weiter machen, als
sie an den Medizinalbeamten weiter zu geben. Ich wüsste nicht, welche selbst¬
ständigen Maassregeln sie ergreifen könnte, während, wenn der Medizinalbeamte
die Anzeige über den Ausbruch von Pocken oder von einer choleraverdächtigen
Krankheit erhält, er sich sofort orientiren kann, um was es sich handelt und dann
der Behörde seine Vorschläge machen.
Das Bedenken, welches Herr Kollege Lesenberg eben in Betreff der
Mecklenburgischen Verhältnisse geäussert hat, glaube ich, lässt sich dadurch
beseitigen, dass man diejenigen Aerzte, die mit der Aufsicht über die Hebammen
betraut sind, als solche betrachtet oder bezeichnet, die amtliche Funktionen zu
erfüllen haben, und dass also die Anzeigen auch direkt an diese Aerzte in dem
betreffenden Distrikt gehen können.
Ich bin gestern bei der Vorberathung allerdings mit meinem Vorschläge
nicht durchgedrungen, aber ich weiss ja nicht, wie heute das Plenum darüber
denkt. Ich erneuere daher den Antrag, dass die Nr. 2 aus dem §. 2 heraus¬
gelassen wird.
H. Kreiswundarzt Dr. Peyser (Königsberg i. d. Neum.): M. H.! Ich möchte
im Gegensatz zu Herrn Med.-Rath Dr. Wernich und zu Herrn Geh. San.-Rath
28
Dr. Rapmund.
Dr. Wal lieh 8 dringend bitten, die Nr. 2 des §.2 beizubehalten. Es würde
viel zu weit führen, hier über die Kurpfuscherfrage zu verhandeln. Wir wollen,
dass ein Gesetz zu Stande kommt, das sichere Handhaben zur Unterdrückung
beginnender Seuchen bietet. Demgegenüber muss meiner Meinung nach jede
andere Rücksicht zurücktreten. Wir dürfen uns dem nicht verschliessen, dass es
Kurpfuscher von jeher gegeben hat, dass sie seit Aufhebung des Kurpfuscherei¬
verbots vielleicht in noch grösserer Zahl als frflfier vorhanden sind, und ich
fürchte, sie werden auch in alle Zukunft weiter bestehen. Es ist das eine That-
sache, über die sich hier weiter zu verbreiten wohl nicht der Ort und die Zeit
ist. Nun wollen wir doch nicht vergessen, dass der Gesetzentwurf nicht nur die
Krankheiten, sondern auch den Verdacht der Krankheiten angezeigt haben will,
nnd das ist doch das Mindeste, was uns der Pfuscher leistet. Er sagt: ich bin
der Meinung, hier besteht Diphtherie, oder hier besteht Cholera. Dann kommt
aber der beamtete Arzt, und er wird finden, ob der Verdacht begründet ist
oder nicht.
Die Sache ist auch praktisch von ganz ausserordentlicher Bedeutung;
denn die meisten schweren Seuchen kommen ja in den niederen Ständen vor, und
da treiben eben die Pfuscher ihr Gewerbe. Ich erinnere mich aus der Stadt, in
der ich jetzt praktizire, dass ein Fall von Flecktyphus nur dadurch bekannt wurde,
dass der Tod eingetreten war und die Sache Aufsehen machte, zumal es in einer
Herberge gewesen war. Hier war der Pfuscher dabei gewesen und hatte den
Fall nicht angezeigt.
Vergessen Sie auch Eins nicht: ich möchte sagen, die erziehliche oder
wenn Sie wollen, die abschreckende Wirkung, die auf Grund einer solchen gesetz¬
lichen Bestimmung auf diese Leute ausgeübt werden kann. Hier haben
Sie einmal die Gelegenheit, einen solchen Pfuscher in Strafe zu nehmen, wie
das mein Kollege Bräutigam in Königsberg thatsächlich gethan hat. Wenn
diese Leute mehrfach auf polizeilichem Wege zu 10 M. oder 20 M. Strafe ver-
urtheilt sind, dann, glaube ich, werden Sie sich ganz gehörig zusammennehmen,
und werden nicht leichtsinnig derartige Fälle vernachlässigen; sie werden sie
aus Furcht anzeigen. Stellen wir also diese ganz gewiss berechtigte wissen¬
schaftliche und sittliche Abscheu vor diesen Leuten zurück und lassen wir sie
im Gesetz.
Ich habe nun nicht recht verstanden, wie H. Med.-Rath Dr. Wern ich
den Passus geändert wissen will, ob er die Kurpfuscher gänzlich von der Anzeige¬
pflicht befreit oder ob er nur in Nr. 2 das Wort „Behandlung“ gestrichen wissen
will, so dass unter den Pflegern gewissermassen unter anderem Titel doch wieder
die eigentlichen Kurpfuscher zur Anzeige verpflichtet sein und eventuell bei
Unterlassung der Anzeige bestraft werden sollen. Im letzteren Falle würde dies
nur eine stilistische Aenderung sein, die man sich gefallen lassen könnte. That-
säcblich möchte ich aber die Bestimmung des Gesetzentwurfs stehen lassen und
in allen Ministerial- und Provinzialverfügungen — ich erinnere beispielsweise an
die Oberpräsidial-Verfügung für die Provinz Brandenburg, betreffend das Kind¬
bettfieber — ist in ganz derselben Weise vorgegangen worden, und gerade beim
Kindbettfieber — wir haben ja Hebammenpfuscherinnen genug — ist die Sache
so dringend wie nur irgend möglich.
H. Kr. - Phys. San.-Rath Dr. Philipp (Berlin): Der Herr Vorredner hat
mir schon Vieles von dem vorausgenommen, was ich sagen wollte. Ich kann
aber nicht umhin, hier noch auf die Aeusscrungen des Herrn Med. • Rath
Dr. Wernich und des Herrn Geh. San. - Raths Dr. Wal lieh s einzugehen.
Beide gehen von dem Grundsatz aus, dass eine Anzeige von Kurpfuschern nichts
nütze, weil der Kurpfuscher gar nicht im Stande sei, eine Krankheit richtig zu
erkennen. Dem muss ich ganz entschieden widersprechen. Wir haben eine
ganze Reihe von Gegenden nicht nur im weiteren Vaterlande, sondern auch in
der Nähe von Berlin, wo Kurpfuscher sitzen, die die ärztliche Praxis förmlich
monopolisirt haben. Ich habe in dem Kreise, in welchem ich Medizinalbeamter
bin, mehrere grosse Dörfer, wo eigentlich ein Arzt nie hinkommt und in denen
sehr häufig grössere und kleinere Epidemien, namentlich von Scharlach und
Diphtherie Vorkommen. Man kann doch nicht wohl darauf verzichten, solchen
Ortschaften die Segnungen des Reichsseuchengesetzes zu versagen, weil dort die
Krankenbehandlung durch einen approbirten Arzt nicht stattfindet, dies würde
aber mit NothWendigkeit eintreten, wenn die nothwendigen sanitären Massnahmen
Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 29
nur auf Grand von ärztlichen Anzeigen erfolgen könnten. Dass ein Kurpfuscher
eo ipso nicht im Stande sein sollte, einen Diphtherie- oder einen Scharlachfall,
oder anch eine andere nicht so leicht diagnostizirbare Krankheit zu erkennen,
möchte ich ganz bestimmt bestreiten. Ich habe darüber praktische Erfahrungen.
Ich bin aber auch nicht der Meinung, dass wir das Kurpfuscherthum stützen,
indem wir ihm dieselbe Anzeige - Verpflichtung auferlegen, wie den Aerzten,
sondern .fich bin Wer Meinung, dass wir es damit ganz energisch bekämpfen
können. Zweifellos ist der Kurpfuscher, wie jeder Andere nach dem Gesetz
berechtigt, die Heilkunde ausznüben. Daran werden wir Nichts ändern, und ich
glaube auch, dass bei der allgemeinen Strömung, die vorhanden ist, die Ansichten
und Hoffnungen, die sich bei den meisten Aerzten, auch bei hervorragenden
Mitgliedern des Aerztetages ausgebildet haben, dass es möglich sei, die Aerzte
aus der Gewerbeordnung herauszubringen, sich nicht verwirklichen werden. Ich
glaube und fürchte, wir werden in der Gewerbeordnung, in der wir einmal sind,
auch sitzen bleiben. Wenn aber nach der Gewerbeordnung neben dem Arzte
auch jeder Andere berechtigt ist, ärztliche Praxis auszuüben, so sehe ich gar
keinen Grund ein, der irgendwie dagegen sprechen sollte, dass man die dem
Arzte auferlegte Berafspflicht, ansteckende Krankheiten zu melden, dem Kur¬
pfuscher nicht ebenso auferlegt. Der Gesetzentwurf geht ja noch weiter und
verpflichtet eine ganze Reihe anderer Personen dazu. Warum sollen denn die¬
jenigen ausgenommen werden, die, ohne die wissenschaftliche Qualifikation dazu
nachgewiesen zu haben — sie mögen sie ja in manchen Fällen auch haben —
sich mit der Behandlung von Krankheiten gewerbsmässig befassen P Gerade
wenn der Kurpfuscher von der Verpflichtung, anzuzeigen, befreit wird, wird ihm
seine Thätigkeit erleichtert; denn bei seinen Kranken fallen dann alle polizei¬
lichen Recherchen und Massnahmen fort. Diese werden von dem betheiligten
Publikum, nicht bloss in Dörfern und kleineren Ortschaften, auch in den gröss¬
ten Städten, und von Gebildeten, wie Ungebildeten häufig als grosse Belästi¬
gungen empfunden und es wird als ein Eindringen in das Familienleben aufge¬
fasst, wenn über einen Erkrankungsfall Erhebungen angestellt werden. Kommt
nun gar ein Desinfektions-Wagen vorgefahren, so bricht häufig ein Entrüstungs¬
sturm aus. Weitere Kreise des Publikums werden es als eine Erleichterung
empfinden, wenn sie in Krankheitsfällen der polizeilichen Belästigung sich ent¬
ziehen können und dies können sie, wenn sie die Behandlung einem Nicht-Arzt
übergeben. Wir können doch nicht annehmen, dass das Publikum im Grossen
und Ganzen so weit aufgeklärt ist, dass es den Arzt vom Kurpfuscher unter¬
scheidet, dass es den bedeutenden Unterschied, der zwischen diesen beiden Per¬
sonen besteht, anerkennt, and dass es der Ueberzeugung ist, ärztliche Hülfe
könne nur vom Arzte geleistet werden. Inwieweit wir in dieser Beziehung noch
zurück sind, wissen wir ja Alle. Wir erleben, dass der Kurpfuscher nicht bloss
auf dem Dorfe, nicht bloss auf dem Lande zu einer bedeutenden Praxis gelangt,
wir erleben, dass solche Leute in die grösseren Städte hineinziehen, dass sich
ihre konsultative Praxis in unglaublicher Weise verbreitet; wir haben in letzter
Zeit erlebt, dass die Art und Weise, wie Kurpfuscher behandeln, von Aerzten
nachgeahmt wird, dass eine nicht kleine Zahl der letzteren sich sogar nicht
scheut, dies öffentlich bekannt zu machen. Ich bitte Sie, denken Sie doch an
den Pastor Kneipp und seine Jünger, denken Sie doch an das Treiben des
Herrn Kanitz hier in Berlin, der von einer Anzahl von Aerzten unterstützt
wird, der sogar im Verein mit praktischen Aerzten Diplome ertheilt, wonach
die und die Persönlichkeit als Naturarzt approbirt wird. Dem grossen Publikum
wird dadurch der Gedanke nahegelegt, es gebe nicht bloss eine sogenannte
wissenschaftliche Medizin, sondern neben derselben und vollständig gleichbe¬
rechtigt mit ihr, auf anderen wissenschaftlichen Grundlagen beruhende Heil¬
methode, die Naturheilkunde, die Homöopathie, die Wasserheilkunde u. s. w.
Ueber alle diese mannigfacho Behandlungsmethoden ausübenden Kurpfuscher
hinwegzusehen, dieselben als für die Seuchengesetzgebung irrelevant zu betrach¬
ten, scheint mir nicht gerechtfertigt und ebensowenig, von allen diesen Leuten
zu behaupten, dass sie mit allgemeinen ärztlichen Begriffen nicht umzugehen
verständen, dass sie nicht im Stande seien, Krankheiten zu erkennen. Wer auf
diesem Standpunkt steht, den halte ich für einen Theoretiker, der über den
idealen Begriff des Arztes, von dem er ausgeht, die Verhältnisse, wie sie sich
thatsächlich bieten, nicht beachtet. Dem Kurpfuscher die Verpflichtungen abzu¬
nehmen, die dem Arzte den Behörden gegenüber auferlegt sind, halte ich für
30
Br. Rapmund.
einen Fehler. Man wird dadurch nur erzielen, dass diese Leute einen noch
grosseren Zulauf bekommen als jetzt. Wer kann ihnen denn verbieten, auf ihre
8childer zu schreiben: „N. N., nicht approbirter Heilkünstler“ und darunter
„Keine Anzeigepflicht“, und so das Publikum von vorneherein darauf hinzuweisen,
dass, wenn es sich ihrer Hülfe bedient, es polizeilicher Belästigungen vollständig
überhoben ist. Ich halte es im Gegensatz zu Herrn Wern ich und zu Herrn
Wall ich8 für unumgänglich nOthig, dass denjenigen, die ärztliche Thätigkeit
ausüben, auch die Verpflichtung auferlegt wird, die ansteckenden Krankheiten
zu melden.
Es ist ja richtig, dass eine Reihe von Freisprechungen der Kurpfuscher
erfolgt sind, weil die Richter angenommen haben, es könne ihnen die Anzeige-
Pflicht nicht auferlegt werden, da sie ihrer ärztlichen Bildung nach nicht im
Stande seien, die Krankheiten richtig zu erkennen. Es ist aber nachher in mir
bekannten Fällen gegen diese Leute wegen Betrugs vorgegangen worden, der
darin gefunden wurde, dass sie unvermögend, Krankheiten zu erkennen, doch
dem Hülfesuchenden Vorreden, heilen zu können und es sind in diesem Sinne
auch Verurtheilungen erfolgt. Also auch den Grund, dass es gar nicht möglich
sei, die Kurpfuscher zu kontroliren und zutreffenden Falles zu bestrafen, kann
ich nicht für stichhaltig anerkennen. Ich bitte die Herren Kollegen, sich doch
dafür auszusprechen, dass, ebenso wie der Arzt, auch jeder Andere, der sich mit
der Behandlung von Kranken befasst, zur Anzeige der nach dem Gesetz zu
meldenden Krankheitsfälle verpflichtet sein soll.
H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Karsten (Waren in Mecklenburg): M. H.!
Ich muss um Entschuldigung bitten, wenn ich als nicht preussischer Medizinal¬
beamter mich zum Wort gemeldet habe. Ich möchte bezüglich der Nr. 4 noch
einmal auf unsere mecklenburgischen Verhältnisse exemplifiziren. Wir haben in
neuerer Zeit speziellere Vorschriften über die Anzeigepflicht für einige Krank¬
heiten bekommen. Unsere Anzeigevorschriften sind nicht so allgemein, wie sie
hier nach der Uebersicht zu sein scheinen, sie sind namentlich speziell für Diph¬
therie und für Thyphus neuerdings durch Ministerialverfügungen ergänzt worden,
die die Aerzte verpflichten, jeden Erkrankungsfall anzuzeigen und zwar ausser
bei der Ortsobrigkeit auch bei dem beamteten Arzte. Nach den Erfahrungen,
die wir über die günstige Wirkung, die diese Anzeigepflicht auf die erfolgreiche
Bekämpfung der Krankheiten hat, seit dieser Zeit gemacht haben, kann ich nur
dringend empfehlen, dass in das Gesetz hineinkommt, dass die Anzeige, ausser
bei der Ortsobrigkeit auch bei dem beamteten Arzte gemacht werde. Speziell
für unsere mecklenburgischen Verhältnisse, speziell für die ländlichen Verhältnisse,
halte ich es für dringend wünsebenswerth, dass die Anzeige möglichst beschleu¬
nigt an den beamteten Arzt gerichtet wird, da es allein auf diese Weise mög¬
lich ist, zur rechten Zeit wirklich energisch und mit Erfolg einzugreifen.
H. Kr.-Phys. Dr. Schlegtendal (Lennep): M. H.I Ueber die Nothwen-
digkeit der Anzeigepflicht dürfte ja gar kein Zweifel existiren, und ebensowenig
darüber, dass dieselbe auf das Allerprompteste und Exakteste durchgefübrt werden
muss. Der Herr Referent hat aber schon auf einen Punkt hingewiesen, der in
der Debatte bisher nicht zur Sprache gekommen ist; das ist der, dass die Exakt¬
heit der Anzeigepflicht Gefahr leidet, wenn nicht die praktischen Aerzte voll
und ganz bereit sind, auf die Ideen des Gesetzentwurfes einzugehen. Ebenso
gehört aber auch zur exakten Durchführung der Anzeigepflicht, dass die Stellung
der beamteten Aerzte radikal geändert wird; denn ich glaube nicht, dass wir in
nnserer jetzigen Stellung, wo wir auf alle möglichen anderen Sachen angewiesen
sind, im Stande sind, die an uns gelangten Anzeigen so schnell und prompt zu
besorgen, wie es wünschenswerth ist. Andererseits wird auch nach meiner
Ansicht die Handhabung der betreffenden Bestimmungen ganz wesentlich erleich¬
tert, wenn die praktischen Aerzte gar keine Sorge mehr zu haben brauchen,
dass wir beamteten Aerzte als konkurrirende Aerzte in der Praxis ihnen in den
Weg kommen. Deshalb möchte ich anheimgeben, dass wir schon vor den Reso¬
lutionen über die Anzeigepflicht eine dahingehende Resolution aufnehmen,
dass wir es für die Ausführung des Reichsseuchengesetzes als unerlässlich erachten,
dass unsere Stellung total geändert werde.
H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: Dem Herrn Vorredner erwidere
ich zunächst, dass ich es für unrichtig halten würde, die von ihm gewünschte
Der Entwurf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten, dl
Resolution an den Anfang der Abänderungsvorschläge zu setzen und nicht am
Schluss der Leitsätze, wie dies von mir geschehen ist; denn die Nothwendigkeit
einer Reform der Stellung der Medizinalbeamten wird durch das g a n z e Seuchen¬
gesetz und nicht nur durch einzelne Bestimmungen derselben bedingt.
Was die von den beiden mecklenburgischen Herren Kollegen Dr. Lesen¬
berg und Dr. Karsten auf Grund ihrer dortigen Einrichtungen gemachten
Vorschläge betreffs der Anzeige von Wochenbettfieber an den Hebammenauf¬
sichtsarzt und der doppelten Anzeige bei ansteckenden Krankheiten an die Orts¬
polizeibehörde und den Physikus anbetrifft, so will ich zugeben, dass diese Ein¬
richtungen ganz praktisch sein mögen, aber dementsprechende Bestimmungen in
ein Senchengesetz für ganz Deutschland aufzunehmen, ist meines Erachtens nicht
angängig. Bei einem Reichsgesetze muss doch nicht bloss auf mecklenburgische
Verhältnisse, sondern auch auf die Verhältnisse in den anderen deutschen Bundes¬
staaten Rücksicht genommen werden. Eine doppelte Anzeige bei allen an¬
steckenden Krankheiten ist aber nicht durchführbar, da sie die anzeigepflichtigen
Personen zu sehr belastet, und die Anzeigepflicht bei Wochenbettfieber auf die
Hebamme zu beschränken, würde nur zur Folge haben, dass in denjenigen nicht
seltenen Fällen, wo eine Hebamme nicht zugezogen ist, überhaupt keine Anzeige
erstattet wird, falls die betreffende Wöchnerin an Kindbettficber erkrankt. Es
müssen somit auch die Acrzte sowie die andern im §. 2 erwähnten Personen bei
Wochenbettfieber zur Anzeige verpflichtet werden.
H. Med.-Assessor Dr. Wehmer (Berlin): M. H.! Ich glaube, die Be¬
denken, die Herr Ober - Med. - Rath Dr. Lesen berg aus Rostock erhoben hat,
sind nicht sehr erheblich; denn das, was nnter „beamteten Aerzten“ zu ver¬
stehen ist, ist im §. 35 klargelegt. Da heisst es:
„Beamtete Aerzte im Sinne dieses Gesetzes sind Aerzte, welche vom
Staate angestellt sind oder deren Anstellung vom Staate bestätigt ist."
Ich glaube, die mecklenburgischen Hebammen - Aufsichtsärzte können ganz
gut unter diese Aerzte, welche vom Staate bestätigt sind, eingereiht werden.
Ausserdem wäre es andererseits wohl eine einfache Verwaltungsmassregel, die
betreffenden Herren als Beamte für diese bestimmten Funktionen zu erklären.
Zweitens habe ich aber noch etwas Anderes zu erwähnen: Wenn die An¬
zeigepflicht auf eine Behörde beschränkt werden soll, dann halte ich nicht den
Kreisphysikus, bezw. den beamteten Arzt, sondern die Ortspolizeibehörde für die
zweckmässigere Stelle. Einerseits glaube ich, dass es die praktischen Aerzte
vielleicht unangenehm berühren wird, wenn sie lediglich an den beamteten Arzt
die Anzeige erstatten sollen, und dass sie sich ihm gegenüber zurückgesetzt
fühlen werden. Zweitens habe ieh aber auch praktische Bedenken deshalb,
weil ich nicht glaube, dass der beamtete Arzt immer in der Lage sein wird,
wie es der 6. Abänderungsbeschluss wünscht, die Anzeige sofort weiter zu geben.
Unter „sofort“ weitergeben verstehe ich, um gleich Missverständnisse abzu¬
schneiden, dass er einfach auf die Anzeige schreibt „Urschriftlich zur Kenntniss-
nahme an die Ortspolizeibehörde weiter gesandt“. Ich glaube, dass der beamtete
Arzt nicht in der Lage ist, diese sofortige Weitergabe in allen Fällen zu be¬
wirken. In Städten wird es ja leicht möglich sein, da ist er anwesend und
kommt kaum nach ausserhalb; aber in kleinen Orten, wo der beamtete Arzt
einen grossen Bezirk hat, wo er vielleicht am Morgen um 9 Uhr wegfährt und
Abends um 10 Uhr wieder nach Hause kommt, kann er dieser Bestimmung gar
nicht nachkommen. Dagegen besteht die Ortspolizeibehörde doch aus einer Reihe
von Beamten und ist somit viel eher in der Lage, die ihr erstattete Anzeige
sofort dem beamteten Arzte weiter zu geben.
Vorsitzender: Wünscht noch Jemand das WortP Dann
schliesse ich die Generaldiskussion und eröffne über den ersten
Abänderungsvorschlag die Diskussion. Derselbe lautet:
„Die Bestimmungen über die anzeigepflichtigen Krank¬
heiten (§§. 1 und 3 des Gesetzentwurfes) und über die anzeige¬
pflichtigen Personen (§§. 2 und 4 des Gesetzentwurfes) sind in
je einem Paragraphen zusammenzufassen.“
Da sich Niemand zum Wort meldet, können wir zur Ab-
32
Dr. Rapmund.
Stimmung schreiten. Wer für diese These ist, bitte ich die Hand
zu erheben.'— Die These ist einstimmig angenommen.
Wir kommen jetzt zum zweiten Abänderungsvorschlag:
„Die Anzeigepflicht ist auf den epidemischen Kopfgenick¬
krampf, sowie anf alle Todesfälle in Folge einer anzeigepflich¬
tigen Krankheit anszndehnen. Von der Anzeige der Todesfälle ist
jedoch in denjenigen Theilen des Reichs za entbinden, in denen durch
die obligatorische Leichenschau diese Anzeige an den be¬
amteten Arzt gewährleistet ist.“
Wünscht Jemand das Wort hierzu?
H. Kr.-Phys. und San.-Rath Dr. Koppen (Beiligenstadt): Bezüglich der
hier erwähnten obligatorischen Leichenschau erlaube ich mir zu bemerken, dass
im Sinne dieser These doch wohl nur eine Leichenschau, wie sie in den
Städten stattfindet gerechnet, werden kann und nicht eine solche, wie sie z. B.
zur Zeit auf dem Lande im Regierungsbezirke Kassel besteht, da diese von
ungebildeten, den niedrigen Berufsklassen angehörenden Laien ausgeübt wird.
H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Philipp: Dem eben vorgebrachten Bedenken
ist schon bei der gestrigen Vor Versammlung dadurch Rücksicht getragen worden,
dass an Stelle des ursprünglichen Entwurfs des Herrn Referenten gesagt worden
ist, „in denen durch die obligatorische Leichenschau diese Anzeige an den be¬
amteten Arzt gewährleistet ist“. Damit ist direkt ausgesprochen, dass, wo die
Leichenschau dies nicht gewährleistet, die Anzeigepflicht weiter bestehen soll.
Die ärztliche Leichenschau ist nicht überall durchführbar. Wir haben beispiels¬
weise auch im Kreise Niederbarnim eine Leichenschau, die zum Theil durch
Laien ausgeübt wird, und auf dem Lande wird sich das nicht gut anders aus¬
führen lassen. Aus diesem Grande ist eben gesagt worden: es muss durch die
Leichenschau die Anzeigepflicht gewährleistet werden. —
Vorsitzender: Es hat sich Niemand mehr zum Wort ge¬
meldet. Ich bringe die betreffende These zur Abstimmung und
bitte, dass diejenigen, welche dafür sind, die Hand erheben.
Das ist die grosse Mehrheit; die These ist angenommen.
Wir gehen jetzt zur These 3 über:
„Die bei Erkrankungen an gemeingefährlichen Krankheiten zu er¬
stattenden Anzeigen sind nur an eine Behörde und zwar an den be¬
amteten Arzt zu richten.“
Die Diskussion ist eröffnet.
H. Kr.-Phys. Dr. Mewius (Helgoland): M. H.! Wenn ich auch anneh¬
men muss, dass die Stimmung der Versammlung im Allgemeinen für den jetzt
vom Referenten gemachten Vorschlag, also für die Anzeige an den beamteten
Arzt ist, so halte ich doch für zweckmässiger, wenn die Meldung an die Orts-
polizeibebörde geschieht Nach §. 2 des Entwurfes sind nicht nur die Aerzte,
sondern auch noch andere Personen anzeigepflichtig. Besonders in ländlichen
Kreisen wird es aber für diese Leute, die oft des Schreibens nicht kundig sind,
sehr viel mehr Schwierigkeiten machen, wenn sie eine schriftliche Anzeige an
den beamteten Arzt richten sollen, als wenn sie direkt zum Ortsvorstand gehen
und hier die Anzeige machen können. Diese praktische Rücksicht veranlasst
mich, gegen die jetzt vorgeschlagene Fassung der These 3 zu stimmen; denn
meines Erachtens ist es richtiger, dass die Anzeige der Ortspolizeibehörde erstattet
wird, wie dies im Gesetzentwurf vorgesehen ist und auch von dem Referenten
ursprünglich vorgeschlagen war.
H. Reg.- und Med. • Rath Dr. Rapmund: M. H. 1 Ich möchte Sie doch
bitten, dem gestern in der Vorberathung gefassten Beschluss, dass die Anzeigen
an den beamteten Arzt zu erstatten sind, Ihre Zustimmung zu geben. Es wird
dadurch zweifellos ein schnelleres Eingreifen der Sanitätspolizei, insbesondere
des beamteten Arztes erreicht, als wenn die Anzeigen erst durch die Hände der
Der Entwurf e. Gesetzes hetr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 33
Ortspolizeibehörde gehen. Aach das vom Herrn Med.-Assessor Dr. Weh me r
geäasserte Bedenken, dass der beamtete Arzt oft nicht in der Lage sein wird,
die Anzeigen sofort weiter zu befördern, theile ich nicht. Wird der vorliegende
Entwarf Gesetz, so muss die Stellung der beamteten Aerzte eine ganz andere
werden, sie müssen vor allem auch ein eigenes Geschäftsbureau erhalten, und
dann kann die Weiterversendnng der Anzeigen bei etwaiger Abwesenheit des
beamteten Arztes durch den Bureaaarbeiter ebenso besorgt werden, wie dies in
solchen Fällen auf dem Bureau der Polizeibehörde in gleicher Weise geschieht.
Die letztere wird ausserdem dadurch, dass die Anzeigen an den beamteten Arzt
gehen, entlastet, was derselben bei den vielen sonstigen ihr obliegenden Arbeiten
nur erwünscht sein kann.
Vorsitzender: Wünscht noch Jemand das Wort? Es ist
nicht der Fall. Wir können somit zur Abstimmung über These 3
schreiten. Ich bitte Ihre Zustimmung durch Aufheben der Hand
zu bezeugen.
Die These ist fast einstimmig angenommen.
Die folgende von dem Referenten aufgestellte These Nr. 4
lautet:
„Für grossjährige Familienmitglieder und sonstige Hausgenossen
erscheint eine Verpflichtung zur Anzeige nicht nothwendig.“
Dazu ist vom Geh. San.-Rath Dr. Wallichs der Antrag
gestellt, dass auch die im §. 2 des Gesetzentwurfes unter 2 auf¬
geführten „sonst mit der Behandlung der Erkrankten beschäftigten
Personen“, also die Kurpfuscher, unter den anzeigepflichtigen Per¬
sonen gestrichen werden sollen.
Es hat sich Niemand zu diesen Anträgen zum Wort gemeldet.
Ich bringe daher zunächst denjenigen des Kollegen Wallichs
zur Abstimmung. Wer für denselben ist, bitte ich die Hand zu
erheben.
Das ist entschieden die Minderheit; der Antrag ist ab ge¬
lehnt. Ich lasse nunmehr über die These 4 des Referenten in
gleicher Weise abstimmen.
Die These ist mit grosser Mehrheit angenommen.
M. H., die letzte von dem Referenten zu dem ersten Ab¬
schnitt des Gesetzentwurfes aufgestellte These (Nr. 5) lautet:
„Die Form der Meldekarten über Erkrankungen an ansteckenden
Krankheiten (§. 5 des Gesetzentwurfes) ist durch den Bandesrath za
bestimmen. Durch die Erstattung der Anzeige dürfen dem Absender
keine Kosten erwachsen.“
Ich eröffne die Diskussion. Es meldet sich Niemand zum
Wort, wir können somit zur Abstimmung übergehen. Die Zu¬
stimmenden bitte ich, die Hand zu erheben.
Soweit ich übersehen kann, ist die These einstimmig ange¬
nommen.
H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Rapmand: M. H.! Wir kom¬
men nunmehr zur Besprechung des zweiten Abschnittes des Ge¬
setzentwurfes (§§. 6 —10): die Ermittelung der Krank¬
heit betreffend. Die hier vorgesehenen Bestimmungen in
Bezug auf die Rechte und Pflichten des beamteten
Arztes bei der Ermittelung ansteckender Krankheiten können
wir nur mit Freuden begrüssen; denn es wird hierdurch dem
8
Dr. Rapmund.
34
Medizinalbeamten eine Stellung, insbesondere der Ortspolizeibehörde
gegenüber, eingeräumt, die er thatsächlich, wenigstens in unserem
engeren Vaterlande, bisher nicht in diesem Umfange gehabt hat.
Er braucht jetzt nicht erst auf die Requisition der Polizeibehörde
bezw. der Landräthe zu warten, um beim «Ausbruch einer Seuche
an Ort und Stelle Ermittelungen über die Art, den Stand und die
Ursache der Krankheit vorzunehmen, sondern hat diese Ermittelun¬
gen sofort ohne besonderen Auftrag anzustellen und bei Gefahr
.inj,Verzüge nach §. 10 des Gesetzentwurfes auch das Recht, die
zur Verhütung der Verbreitung der Krankheit zunächst erforder¬
lichen Massregeln anzuordnen. Wenn es in der Begründung.des
Gesetzes aber dann heisst, „dass, nachdem einmal der Seuchenaus-
brüch festgestellt ist, es der Regel nach einer amtsärztlichen
, Kontrole aller weiteren Krankheitsfälle nicht bedarf,“ und der
§. 6 des Gesetzentwurfs dementsprechend im Absatz 3 vorschreibt,
„dass nach der ersten Feststellung 1 der Krankheit von dem beam-
." teten, Arzte nur im Einverständnis mit der unteren
Verwaltungsbehörde Ermittelungen vorzunehmen sind“, so
wird die Thätigkeit des beamteten Arztes bei der Bekämpfung
der Seuchen durch diese Bestimmung wieder viel zu sehr ein¬
geschränkt. Ich meine, auch bei dem späteren Verlaufe einer
.Epidemie muss es vollständig döm pflichtgemässen Ermessen des
beamteten Arztes überlassen bleiben, ob er eine nochmalige Unter¬
suchung an Ort und Stelle für' nothwendig erachtet, und dies
nicht von dem Einverständnisse der unteren Verwaltungsbehörde
abhängig gemacht werden. Der beamtete Arzt soll nicht blos der
Ortspolizeibehörde die erforderlichen Schutzmassregeln angeben,
sondern er muss auch die Ausführung derselben überwachen und
kontrolireh, sonst geschieht eben, wie wir aus Erfahrung
. wissen, sehr häufig Nichts. Die Ortspolizeibehörde meldeteinfach,
dass die von dem beamteten Arzte vorgeschlagenen Anordnungen
durchgefuhrt sind und wenn dieser schliesslich, weil die Epidemie
trotzdem weiter um sich greift, sich von Neuem an Ort und Stelle
begiebt, findet er, dass die von ihm angeordneten Massregeln ent¬
weder garnicht oder nur unvollständig ausgeführt sind. Soviel
. Vertrauen darf mari dem beamteten Arzte doch wohl schenken,
dass er von einer derartigen, ihm im Gesetz zuertheilten Befugniss
nicht unnöthig Gebrauch machen wird; die dadurch aber etwa
entstehenden grösseren Kosten können nicht ins Gewicht fallen
gegenüber den durch ein solches Eingreifen des beamteten Arztes
bei der Bekämpfung der Volksseuchen zu erzielenden Erfolgen.
Im §. 6 des Gesetzentwurfes heisst es dann weiter, dass der
beamtete Arzt nach Vornahme der Erhebungen „der Polizeibehörde
eine Erklärung darüber abzugeben habe, ob der Ausbruch der
Krankkeit festgestellt oder der Verdacht des Ausbruchs begründet
. ist“. M. H.! Diese aus dem Viehseuchengesetz herübergenommene
Bestimmung ist meines Erachtens eine ebenso überflüssige wie
verfehlte. Soll der beamtete Arzt dei 1 Ortspolizeibehörd& etwa
in jedem Falle ein grosses Gutachten darüber abgeben, ob eine
ansteckende Krankheit besteht oder nicht? Das würde doch nur
Der Entwurf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 35
zu unnöthigen Schreibereien und Zeitverlust fuhren! Für die
. Ortspolizeibehörde kommt es vielmehr darauf an, zu erfahren, ob
und welche Schutzmassregeln zu ergreifen sind und dies ist in
dem betreffenden Paragraphen zum Ausdruck zu bringen. Ebenso
müsste in denselben eine Bestimmung aufgenommen werden, dass
der beamtete Arzt, an den nach dem vorher von uns gefassten
Beschlüsse die Anzeige über ansteckende Krankheiten erstattet
werden soll, verpflichtet sein muss, die Ortspolizeibehörde „sofort“
von dem Ausbruche oder dem Verdachte des Auftretens einer
ansteckenden Krankheit in Kenntniss zu setzen, wie dies von mir
in These Nr. 6 beantragt ist. Unter Berücksichtigung dieser
Gesichtspunkte würde dem Abs. 1 des §. 6 folgende Fassung zu
geben sein:
„Der beamtete Arzt muss, sobald er von dem Ausbruche oder dem
Verdachte des Auftretens einer ansteckenden Krankheit (§. 1) Kennt¬
niss erhält, die zuständige Ortspolizeibehörde benachrichtigen. Er hat
unverzüglich an Ort und Stelle Ermittelungen über die Art, den Stand
und die Ursache der Krankheit vorzunehmen und der Ortspolizeibehörde
die geeigneten Schutzmassregeln gegen die Weiterverbreitung in Vor¬
schlag zu bringen.“
Gegen den zweiten Absatz des §. 6 habe ich Nichts einzu¬
wenden; im dritten Absatz halte ich es, wie schon gesagt, für
wünschenswerth, dass die Worte „im Einverständniss mit der unteren
Verwaltungsbehörde“ gestrichen werden. Der letzte Absatz endlich:
„Bei Cholera, Fleckfieber, Gelbfieber, Pest und Pocken kann die
höhere Verwaltungsbehörde Ermittelungen über jeden einzelnen Krank¬
heitsfall anordnen“
gehört meines Erachtens als spezielle Vorschrift in die Ausführungs¬
bestimmungen und nicht in das Gesetz.
Was den §. 7 des Gesetzentwurfes betrifft, so ist es ja selbst¬
verständlich, dass dem beamteten Arzte der Zutritt zu dem Kranken
oder zur Leiche u. s. w. gestattet werden muss, um die zu den
Ermittelungen über die Krankheit erforderlichen Untersuchungen
vorzunehmen. Eine derartige Befugniss haben die beamteten Aerzte
auch jetzt schon gehabt und vorkommenden Falls ohne jeden Wider¬
spruch ausgeübt. Wenn daher besonders von ärztlicher Seite be¬
hauptet wird, dass dadurch den beamteten Aerzten grosse neue
Gerechtsame eingeräumt würden, so ist das durchaus falsch. Ebenso
kann ich die Ansicht nicht theilen, dass die praktischen Aerzte
durch das Eingreifen des beamteten Arztes gleichsam bevormundet
bezw. in eine untergeordnete Stellung versetzt würden. Die Thä-
tigkeit des letzteren hat sich nur auf die Ermittelung der Ent¬
stehungsursache der Krankheit, ihre Verbreitungsart u. s. w., sowie
auf die Anordnung von Massregeln gegen ihre Weiterverbreitung
zu erstrecken, also auf solche Momente, mit denen der behandelnde
Arzt absolut nichts zu thun hat. Jedes Einmischen des beamteten
Arztes in die Behandlung des betreffenden Kranken ist vollkommen
ausgeschlossen, und dürfte vorkommenden Falls seitens seiner Vor¬
gesetzten Behörde streng geahndet werden. Gerade in sanitäts¬
polizeilicher Hinsicht ist aber ein einheitliches Zusammenwirken des
beamteten und des behandelnden Arztes dringend geboten; die Er-
3*
36
Dr. Rapmund.
mittelung der Krankheit wird dadurch wesentlich erleichtert und
daher bestimmt der Gesetzentwurf im §. 7 mit Recht, „dass der
behandelnde Arzt den von dem beamteten Arzte vorzunehmenden
Untersuchungen beiwohnen darf.“ Man hätte im Gesetz vielleicht
auch noch hinzufugen können, „dass der behandelnde Arzt dem¬
entsprechend zu benachrichtigen ist“, denn das ist die nothwendige
Konsequenz jener Bestimmung; eine derartige Bestimmung bleibt
aber besser den Ausführungsbestimmungen überlassen.
M. EL! Nachdem im Gesetz einmal dem behandelnden Arzte
das Recht eingeräumt ist, den Ermittelungen beizuwohnen, so muss
auch der Fall vorgesehen werden, dass Meinungsverschieden¬
heiten zwischen ihm und dem beamteten Arzte entstehen. Bei der¬
artigen Meinungsverschiedenheiten kann es sich natürlich nur um
solche über die Natur der Krankheit und nicht über die von dem
beamteten Arzte als nothwendig befundenen sanitätspolizeilichen
Massregeln handeln; im Interesse der Betheiligten liegt es aber
meines Erachtens, dass für solche Fälle eine Bestimmung in das
Gesetz aufgenommen wird etwa in der Weise, dass der §. 7 des
Gesetzes den Zusatz erhält:
„Entstehen bei den angestellten Ermittelungen Meinungsverschieden¬
heiten zwischen dem beamteten und dem behandelnden Arzte ttber die
Natur der Krankheit, so ist sofort die Entscheidung der höheren Ver¬
waltungsbehörde anzurufen. Die Anordnung der erforderlichen Schutz-
massregeln darf dadurch keinen Aufschub erleiden.“
Im letzten Absatz des §. 7 wird schliesslich der Polizei¬
behörde das Recht eingeräumt, die Oeffnung der Leiche eines
Verstorbenen anzuordnen, falls der Verdacht vorliegt, dass dieser
an Cholera, Fleckfieber, Gelbfieber, Pest, Pocken, Darmtyphus oder
Rückfallfieber gelitten hat und der beamtete Arzt diese Massregel
zur Feststellung der Krankheit für erforderlich erklärt. M. H., die
hier vorgesehene Zwangssektion ist eine Massregel, deren
Durchführung jedenfalls bei der Bevölkerung auf den grössten
Widerstand stossen wird und die daher nur in den äussersten
Nothfallen zur Anwendung kommen sollte. Aus dem Grunde
habe ich auch in These Nr. 8 vorgeschlagen, dem betreffen¬
den Absatz eine Fassung zu geben, durch welche diejenigen
Fälle, in denen die Vornahme einer Zwangssektion zulässig ist,
noch bestimmter präzisirt werden, als dies bei der jetzigen Fassung
geschehen ist. Auch im Viehseuchengesetz ist eine ähnliche eng¬
begrenzte Fassung gewählt; um so mehr scheint mir diese im
vorliegenden Gesetze geboten, damit der Bevölkerung die Garantie
gegeben wird, dass nur ausnahmsweise zu der Massregel der
Zwangssektion geschritten werden darf.
M. H.! Die §§. 8 und 10 des Gesetzentwurfes, gegen die ich
an und für sich Nichts einzuwenden habe, gehörem ihrem Inhalte
nach meines Dafürhaltens nicht in den Abschnitt über „Ermitte¬
lung der Krankheit“, sondern in denjenigen „über Schutzmassregeln“,
und zwar in den ersten Paragraphen dieses Abschnittes. Ich
werde späterhin noch auf dieselben zurtickkommen.
Ebenso kann füglich der §. 9, betreffend die öffentlichen
Bekanntmachungen beim Ausbruch ansteckender Krankheiten,
Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 37
in dem Abschnitt über Ermittelungen fortfallen. Zunächst lässt
sich darüber streiten, ob es überhaupt zweckmässig ist, jeden ein¬
zelnen Erkrankungsfall an Pocken, Cholera u. s. w. sofort öffent¬
lich bekannt zu machen; jedenfalls kann für industrielle Städte
dadurch oft ein sehr empfindlicher Schaden in Bezug auf Verkehr
und Handel erwachsen, der in keinem Vergleich steht zu dem
Nutzen, den derartige Bekanntmachungen für die Beruhigung der
Bevölkerung u. s. w. haben. Verkehrt würde es allerdings sein,
die Erkrankungen zu verheimlichen und zu vertuschen, aber des¬
halb ist es doch nicht nöthig, nun jeden einzelnen Erkrankungsfall
gleich an die grosse Glocke zu schlagen. Meines Erachtens würde
es vollständig genügen, wenn diese öffentlichen Bekanntmachungen
auf die Fälle beschränkt werden, wo es sich um ein epidemie-
artiges Auftreten einer ansteckenden Krankheit handelt; liier
sind sie im allgemeinen öffentlichen Interesse unbedingt geboten.
Ausserdem halte ich es nicht für zweckmässig, derartige Be¬
stimmungen in das Gesetz selbst aufzunehmen, sie bleiben weit
besser den Ausführungsbestimmungen Vorbehalten, ebenso wie die
Vorschriften über Benachrichtigungen des Kaiserlichen
Gesundheitsamtes (§. 41 des Gesetzes) und der benach¬
barten Behörden. Auffallender Weise sind die Benachrichti¬
gungen der letzteren im Gesetze ganz unerwähnt geblieben, obwohl
sie zweifellos weit nothwendiger sind, als die Mittheilungen an die
Zentralbehörden. Ich würde daher folgende Fassung des §. 9
vorziehen:
„Ob and in welchem Umfange beim Aasbrache ansteckender Krank¬
heiten öffentliche Bekanntmachangen and Benachrichtigungen der
benachbarten Behörden oder des Kaiserlichen Gesundheitsamtes statt-
zufinden haben, wird durch die vom Bundesrathe zu erlassenden Aus-
führungsbestimmungen festgestellt.“
(Pause.)
Vorsitzender: Ich eröffne zunächst die Generaldiskussion
über den zweiten Abschnitt des Gesetzentwurfes betreffend die
Ermittelung der Krankheit.
Da sich Niemand zum Wort meldet, können wir gleich zur
Spezialdebatte über die einzelnen §§. 6—10 wie über die von dem
Herrn Referenten dazu gemachten Abänderungsvorschläge Nr. 6 bis
9 übergehen. These 6 lautet:
„Dem beamteten Arzte ist die Verpflichtung aufzuerlegen, die Orts-
pofizeibehörde von dem Ausbruche oder dem Verdachte des Auftretens
einer ansteckenden Krankheit „sofort“ in Kenntniss zu setzen.“
Wünscht Jemand das Wort hierzu? Es ist nicht der Fall;
wir schreiten somit zur Abstimmung und bitte ich diejenigen, die
für die Annahme der These sind, die Hand zu erheben.
Die These ist fast einstimmig angenommen. Wir kommen
nunmehr zu These 7:
„Die im §. 7 des Gesetzentwurfes den Polizeibehörden eingeräumte
Befugniss, bei zweifelhaften Todesfällen eine Oeffnung derLeiche
anzuordnen, ist auf diejenigen Fälle zu beschränken, in denen nach
dem Gutachten des beamteten Arztes nicht ohne die Leichenöffnung
eine Gewissheit darüber zu erlangen ist, ob der Verstorbene an einer
38
Dr. Rapmund.
der im §. 1 genannten gemeingefährlichen Krankheiten gelitten hat
oder nicht.“
Ich eröffne die Diskussion:
Diskussion:
i
H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Philipp: Ich beantrage diese These zu streichen.
Ich finde* dass der §. 7 des Gesetzes vollständig genügend ist. Die Bedenken,
die H. Med.-Rath Dr. Rapmund gegen die Fassung dieses Paragraphen vor¬
brachte, scheinen mir in Wirklichkeit zu weitgehende zu sein. Es handelt sich
hier zweifellos fast nur um diejenigen Fälle, wo Cholera in Frage kommen wird,
und das Bedenken, dass Medizinal beamte unnütz bei ihren Ermittelungen Sek¬
tionen machen werden, muss meiner Ansicht nach doch von der Hand gewiesen
werden. Ich habe z. B. in zwei Fällen, wo ich im Laufe des letzten Viertel¬
jahrs Gelegenheit hatte, solche Obduktionen wegen Verdachts von Wiederauf¬
treten der Cholera zu machen, ganz und gar nicht das gefunden, was der Herr
Referent sagte, nämlich dass das Publikum und die Betheiligten sich gegen
die Vornahme der Obduktionen sträubten. Ira Gegentheil waren sie sehr ein¬
verstanden und sehr froh, dass ich nach den Obduktionen sagen konnte, es liegt
keine Cholera vor. Ich glaube, wenn wir die von dem Herrn Referenten vor-
gcschlagene Verschärfung in der These annehmen, so werden wir in den Verdacht
kommen, dass wir bei unserer Thätigkeit nur darauf sehen, möglichst viel Ob¬
duktionen zu machen. Ich glaube, der §. 7 in der ursprünglichen Fassung des
Gesetzes trifft vollständig das Richtige und kann in dieser Form beibehalten
werden.
H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: Ich kann nur das, was ich
vorhin in dieser Hinsicht gesagt habe, aufrecht erhalten, glaube auch nicht, dass
wir durch Annahme dieser These uns gleichsam das Zeuguiss einer besonderen
Vorliebe für Sektionen ausstellen, wie dies der Herr Vorredner annimmt. Ich
muss auch auf Grund der von mir und anderen Kollegen gemachten Erfahrungen
behaupten, dass gerade die Bestimmung über die Zwangssektion im Publikum als
eine sehr schwere Belästigung angesehen wird und dass jedenfalls bisher den
beamteten Aerzten die Vornahme einer Sektion in sanitätspolizeilichem Interesse nur
ganz ausnahmsweise von den Angehörigen gestattet ist.
Vorsitzender: Es hat sich Niemand mehr zum Wort
gemeldet; wir schreiten daher in der bisherigen Weise zur
Abstimmung.
Die These ist mit grosser Mehrheit angenommen.
Ich eröffne die Diskussion über die folgende These:
„Es ist in dem Gesetze eine Bestimmung für den Fall vorzuschen,
dass Meinungsverschiedenheiten zwischen dem behandelnden
und dem beamteten Arzte über die Natur der Krankheit oder zwischen
der Ortspolizeibehörde und dem beamteten Arzte über die anzuordueu-
den Schutzmassregoln entstehen.“
Diskussion:
H. Kr.-Phys. Dr. Matthes-(Obornik): M. H.! Das Zusammenwirken
des behandelnden Arztes und des beamteten Arztes kann man sich doch nur in
der Weise denken, dass der behandelnde Arzt dem die Untersuchung führenden
beamteten Arzte über die Entstehung, den Verlauf u. s. w. einer Krankheit
Aufschluss giebt, damit sich dieser auf Grund dieser Mittheilungen und seiner
eigenen Beobachtungen ein Urtheil über die Krankheit bilden kann. Eine
Gegenüberstellung des Urtheils des behandelnden und des beamteten Arztes
kann meines Erachtens nicht in Frage kommen; denn für die anzuordnenden
Massregeln ist nur dasjenige des letzteren massgebeud. Ich meine deshalb, dass
eine Bestimmung über etwaige Meinungsverschiedenheiten gar nicht erforderlich
ist. Jedenfalls erscheint mir die Fassung im Entwurf, wo davon gar nicht die
Rede ist, viel besser.
H. Kr.-Phys. Dr. Jacobson: Ich möchte nur bemerken, dass der Fall im
Grossen und Ganzen besonders in ländlichen Bezirken wohl kaum je eintreten
wird. Der behandelnde Arzt wohnt unter Umständen 2, 3 Meilen nach der
einen, and der beamtete 2, 3 Meilen nach der anderen Seite von dem Kranken
entfernt. Wenn nun schlennigst gehandelt wärden soll, so ist an eine Betheili-,
gnng des behandelnden Arztes bei den anznstellenden Ermittelungen gar nicht
zu denken. Der Physikus resp. > der beamtete Arzt, der die Krankheit fest¬
stellen soll, wird, wenn er seiner Pflicht genügt, möglichst schnell an Ort und
Stelle eilen. Er kann allerdings den behandelnden Arzt telegraphisch benach¬
richtigen ; wer aber wird diesen für seine Beise entschädigen ? Er hat gar kein
Interesse, gegenwärtig zu sein und wird es auch gewöhnlich unterlassen, hinzu¬
kommen. — Schon deshalb werden Meinungsverschiedenheiten kaum je auftreten,'
und ich muss mich daher der Ansicht des Herrn Vorredners anschliessen, dass
es am besten ist, die Sache zu lassen.
H. Kreiswundarzt Dr. Peyser: Ich halte die vorgeschlagene Bestimmung
geradezu für gefährlich, sowohl in Bezug auf das Ansehen der Aerzte als in
Bezug auf die zu ergreifenden Massregeln. Stellen Sie sich den Physikus vor,
der mit dem nicht beamteten Arzte in Meinungsverschiedenheit gerätb, und nun
ruht die ganze Geschichte — so wenigstens ist doch die Fassung nur zu'ver¬
stehen — bis die höhere Instanz das ausgetragen hat (Widerspruch). Es
ist ja auch selbstverständlich, dass gegen jede behördliche Anordnung ein
Beschwerdeweg vorhanden ist. Di© Hauptsache ist: dass der Meinung des Phy¬
sikus gemäss zunächst zu verfahren ist, fühlt sich Jemand beschwert, so hat er
den geordneten Instanzenweg einzuschlagen. Das aber in das Gesetz oder auch
nur in die Ausführungsbestimmnngen einzufügen, halte ich nicht für nothwendig.
H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: M. H.!' Ich möchte Sie doch
bitten, der These Ihre Zustimmung zu geben, Wenn wir einmal, wie ieh schon
vorher bemerkt habe, dem behandelnden Arzte im Gesetz das Recht etnräumea,
der Ermittelung beizuwohnen, dann müssen wir auch unbedingt den Fall vor¬
sehen, dass Meinungsverschiedenheiten zu Tage treten; denn es ist doch nicht
ausgeschlossen, dass der behandelnde Arzt Uber die Natur der Krankheit ganz
anderer Ansicht sein kann, als der betreffende Medizinalbeamte. Das Urtheil
des letzteren für solche Fälle ein für alle Mal als unfehlbar zu erklären, geht
meines Erachtens zu weit. Dem behandelnden Arzte muss entschieden das Recht
zustehen, vorkommonden Falls an eine höhere Instanz zu appelliren. Ich sehe
auch nicht ein, dass dadurch die amtliche Stellung bezw. das amtliche Ansehen
der Medizinalbeamten geschädigt werden könnte. Beschwerden und Widerspruch
gegen ihre Entscheidungen muss sich jede Behörde gefallen lassen. Wird der
beamtete Arzt ausserdem aus der Reihe der konkurrirenden Aerzte verschwinden,
so werden etwaige Zerwürfnisse und Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm
und dem behandelnden Arzte zu den grössten Seltenheiten gehören.
H. Kr.-Phys. Dr. Schlegtendal: M. H.! Ich glaube, wenn Sie sich klar¬
machen, wie es in der Praxis nachher gehen wird, so werden Sie eine derartige
Bestimmung nicht in das Gesetz aufnehmen. Streiten sich der beamtete und
der behandelnde Arzt Uber die Natur der Krankheit, so wird der beamtete auf
seinem Votum bestehen bleiben, die Ortspolizeibehörde seinen Vorschlägen gemäss
handeln. Der behandelnde Arzt wird dann, je nachdem seine Bedenken mehr
oder weniger stark sein werden, sagen, ich werde die Entscheidung der Vorge¬
setzten Behörde anrufen, auch ohne dass dies im Gesetz besonders vorgesehen
ist. Ich glaube daher nicht, dass es nothwendig und wünschenswerth ist, eine
solche Bestimmung in das Gesetz hineinzunehmen. Das wird sich später in der
Praxis ziemlich leicht von selbst regoln. i
H. Kr.-Phys. Dr. Jacobson: M. H.! Ich möchte auch meinen, dass in
mancher Beziehung die ganze Frage der Erüiittelungen eine Verschlechterung
gegen unsere jetzigen Zustände bedeutet und durch die Einführung einer Mass-
regel, wie sie der Herr Referent vorgeschlagen hat, eine, noch weitere Ver¬
schlechterung der jetzigen Zustände herbeigeführt wird. Wenn heute der
beamtete Arzt beauftragt wird, an Ort und Stelle den Charakter einer Krank¬
heit festzustellen, so setzt das voraus, dass die Krankheit vorher polizeilich fest¬
gestellt ist. (Rufe: Nein!) Der Landrath muss unter der Liquidation bescheini¬
gen, dass die Krankheit bereits polizeilich festgestellt ist. (Rufe: „Aerztlich“.)
Vorsitzender: Ich will nur erwähuen, dass nach den bestehenden'Vor¬
schriften die ersten Fälle von der Polizeiverwaltung unter Zuziehung eines
40 Dr. Rapmund.
Arztes festgestellt sein müssen, ehe auf Staatskosten eine Entsendung des Physikus
erfolgen kann.
H. Kr.-Phys. Dr. Jacobson (fortfahrend): Nnn meine ich, m. H., die
polizeiliche Feststellung erfolgt in den allerseltensten Fällen, ja ich möchte fast
sagen, nie durch den beamteten Arzt; denn wenn der beamtete Arzt die polizei¬
liche Feststellung vornimmt, so ist es nicht mehr nöthig, dass er nachher noch
als Physikus hinreist. Nun ist der feststellende Arzt also ein Privatarzt, aber
bisher ist es doch keinem beamteten Arzte eingefallen, etwa denjenigen, der
polizeilich festgestellt hat, zu benachrichtigen und zu sagen: „Ich habe den
Auftrag, dort und dort hinzureisen, die Krankheit an Ort und Stelle näher fest¬
zustellen; sondern er reist hin und stellt fest. Durch eine Massregel, wie sie
der Herr Referent vorgeschlagen hat, würde die Feststellung durch den beam¬
teten Arzt, würde dasjenige, was der beamtete Arzt erfüllen soll, wesentlich
verlangsamt, wesentlich verschlechtert werden.
Noch in anderer Richtung bedeutet der Entwurf eine Verschlechterung,
wenn nicht das, was der Herr Referent zum Ausdruck gebracht hat, Qesetz
wird, nämlich die Anordnung der Schutzmassregeln, die nach dem gegenwärtigen
Entwurf den Händen des Medizinalbeamten resp. des beamteten Arztes entzogen
ist. Der beamtete Arzt hat nach dem Entwurf Nichts zu thun, als festzustellen,
ob die fragliche Krankheit vorhanden ist oder nicht. (Widerspruch.) Er ist
nicht mehr in der Lage, der Ortspolizeibehörde zu sagen, dagegen muss das und
das gethan werden, sondern die Anordnung der Schutzmassregeln erfolgt aus¬
schliesslich durch die Ortspolizeibehörde. (Widerspruch.) Nur in Nothfällen,
nur wenn Gefahr im Verzüge ist, darf der beamtete Arzt irgend etwas thun. Diese
Zustände sind schlechter als sie jetzt sind. Wenn jetzt der Medizinalbeamte
beauftragt wird, an Ort und Stelle die Ursachen einer Krankheit näher festzu¬
stellen, so erhält er — wenigstens wird dies mir gegenüber immer so gehalten
— auch den Auftrag, vorläufig sofort an Ort und Stelle die nöthigen Schutz¬
massregeln anzugeben, und es ist mir noch nie passirt, dass den Behörden — es
sind nicht die Ortspolizeibehörden, sondern die unteren Verwaltungsorgane, die
dies kontroliren — irgend eine Aenderung meiner Vorschläge nöthig erschien.
Wenn dagegen der Entwurf so, wie er dasteht, zum Gesetz erhoben wird, so
wäre es einfach eine Form, wenn der Medizinalbeamte hinreist, und käme dazu
noch der Vorschlag, den der Herr Referent gemacht hat, so käme zu dieser
Form noch die Möglichkeit eines unerquicklichen Zwistes und eines Streites
zwischen dem beamteten und dem behandelnden Arzte.
Vorsitzender: Es hat sich Niemand mehr zum Wort ge¬
meldet- Ich schliesse die Diskussion und bringe die These 8 zur
Abstimmung. Diejenigen, die für Annahme der These sind, bitte
ich die Hand zu erheben.
Das ist die Minderheit, die These ist abgelehnt.
Die folgende These lautet:
„Etwaige Vorschriften über öffentliche Bekanntmachungen
sowie über Benachrichtigungen benachbarter Behörden und des
Kaiserlichen Gesundheitsamtes (§§. 9 und 41 des Gesetzentwurfes) beim
Ausbruch gemeingefährlicher Krankheiten sind den Ausführungs-
bestimmungen vorzubehalten. a
Ich ertheile zunächst dem H. Referenten das Wort:
Diskussion:
H. Reg.- und Med.- Rath Dr. Rapmund: M. H.! Die These 9 ist zwar
in der gestrigen Vorberathung abgelehnt worden; ich hoffe aber trotzdem, dass
Sie derselben zustimmen werden. Ich habe schon mehrfach betont, dass alle
speziellen Vorschriften zweckmässiger in die AusfUhrungsbestimmungen und nicht
in das Gesetz selbst aufgenommen werden, ein Standpunkt, den auch Sie durch
einzelne der vorher gefassten Beschlüsse als richtig anerkannt haben. Im §. 9
des Gesetzentwurfes, auf den sich die These 9 bezieht, handelt es sich aber
lediglich um spezielle Vorschriften; aus diesem Grunde möchte ich diese daher
nicht in das Gesetz aufgenommen wissen und hoffe, dass Sie damit einverstanden
Der Entwurf e. Gesetzes bctr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 41
sein werden; Sie würden sich sonst mit dem bisher eingenommenen Standpunkte
in Widerspruch setzen.
H. Phys. San.-Rath Dr. Philipp: M. H.! In der gestrigen Vorversammlung
waren wir uns darüber schlüssig geworden, dass das, was sich in dem Leitsätze 9
vorfindet, doch eigentlich die Medizinal beamten sehr wenig angehe, und das es
Sache der Verwaltungsbehörde resp. des gesetzgebenden Körpers sein wird, die
hier in Frage kommenden Punkte richtig in dem Gesetze resp. den Ausführungs-
bestiminungen unterzubringen. Wir sind von der Meinung ausgegangen, dass
wir durch eine Debatte darüber, was in das Gesetz oder was in die Ausführangs-
bestimmungen gehört, nur unnütze Zeit verschwenden und haben daher die in
Frage stehende These abgelehnt. Ich schlage Ihnen vor, das gleichfalls zu thun.
H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: Ich bemerke, dass der Beschluss
mit 7 gegen 6 Stimmen gefasst ist, also nur mit einer Stimme Majorität. Uebri-
gens kann ich die vom Herrn Vorredner geäusserte Ansicht, dass wir uns hier
gleichsam nur über die medizinische Seite des Gesetzes auszusprechen haben,
nicht theilen. Wir sind eben als Medizinalbeamten nicht bloss Mediziner, sondern
auch Verwaltungsbeamte und als solche kann uns die Fassung eines Gesetzes
besonders mit Rücksicht auf seine spätere praktische Handhabung und Durch¬
führung nicht gleichgültig sein. Finden wir diese Bestimmungen unzweckmässig
oder nicht in das Gesetz gehörig, so würde es ein Fehler sein, dies nicht offen
zu äussem und eine Abänderung in Vorschlag zu bringen.
Vorsitzender: Ich schliesse die Diskussion und bringe die
These 9 zur Abstimmung.
Dieselbe ist mit grosser Mehrheit angenommen.
H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmnnd: M. H.! Was das
Kapitel „Schutzmassregeln“ (§§. 11—27 des Gesetzentwurfes)
anbetrilft, so halte ich es zunächst mit dem Herrn Kollegen
Jacobson für einen Mangel des Gesetzes, dass in demselben
keine Bestimmung vorgesehen ist, dass die Ortspolizeibehörde bei
Anordnung der Schutzmassregeln den Vorschlägen des beamteten
Arztes zu folgen hat. Es ist allerdings in der Begründung gesagt:
„Was die Art und Umfang der zu treffenden Anordnungen anlangt,
so wird die Polizeibehörde hierbei den Anleitungen des beamteten
Arztes zu folgen haben. Die Regelung dieser Beziehungen zwischen
dem begutachtenden Arzte und der ausführenden Behörde sollen
aber den Ausfülirungsbestimmungen überlassen bleiben.“ Hier bin
ich jedoch anderer Ansicht; eine so wichtige, das Verfahren
des Eingreifens bei der Bekämpfung ansteckender Krankheiten
regelnde Vorsclirift gehört in das Gesetz und nicht in die Aus¬
führungsbestimmungen.
Ich beantrage daher, dieser Ansicht durch folgende neue, vor
Nr. 10 zu setzende These Ausdruck zu geben:
„Die Ortspolizeibehörde hat bei Anwendung der er¬
forderlichen Schutzmassregeln den Vorschlägen und
Anleitungen des beamteten Arztes zu folgen.“
Dass dem beamteten Arzte auch das Recht zustehen und die
Pflicht obliegen muss, die Ausführung der von ihm in Vorschlag
gebrachten Hassregeln zu überwachen, habe ich bereits betont.
Andererseits muss natürlich auch der Ortspolizeibehörde das Recht
zustehen, schon vor Feststellung des Ausbruchs der Krankheit
oder des Verdachts dieses Ausbruchs geeignete Vorsichtsmass-
regeln vorläufig anzuordnen, ebenso wie dieses Recht dem beamteten
Arzt im §. 10 des Gesetzes eingeräumt ist.
42
Dr. Rapmund.
M. H.! Bei der Besprechung des vorhergehenden Abschnittes
habe ich bereits bemerkt, dass die dort unter den §§. 8 und 10
aufgeführten Bestimmungen unter den Abschnitt „Schutzmass¬
regeln“ gehören; dementsprechend würde der erste Paragraph dieses
Abschnittes (§. 11) unter Berücksichtigung des eben von mir ge¬
machten Zusatzantrages nachfolgende Fassung zu erhalten haben:
„Die Ausführung der beim Ausbruch ansteckender Krankheiten er¬
forderlichen Schutzmassregeln fällt der Ortspolizeibehörde zu, die hier*
bei den Vorschlägen und Anleitungen des beamteten Arztes zu
folgen hat
Bei Gefahr im Verzüge kann der beamtete Arzt schon vor dem Ein¬
schreiten der Ortspolizeibehörde die zur Verhütung der Verbreitung
der Krankheit zunächst erforderlichen Massregeln anordnen. In solchen
Fällen hat der Vorsteher der Ortschaft den Anordnungen des beamte¬
ten Arztes Folge zu leisten. Von den getroffenen Anordnungen hat der
beamtete Arzte der Ortspolizeibehörde sofort Mittheilung zu machen.
Die Anfechtung der von der Ortspolizeibehördo oder dem beamteten
Arzte getroffenen Anordnungen hat keine aufschiebende Wirkung.“
Die in den §§. 12—27 des Gesetzentwurfes vorgesehenen
Schutzmassregeln verfolgen lediglich den Zweck, eine Weiter¬
verbreitung des Ansteckungsstoffes nach dem Ausbruch an¬
steckender Krankheiten zu verhindern. Die betreffenden Be¬
stimmungen bringen gegenüber den bisher in den einzelnen
deutschen Bundesstaaten in dieser Hinsicht bestehenden Vorschrif¬
ten im Allgemeinen nichts Neues; gehen aber doch nach mancher
Richtung hin zu weit, während sie andererseits einzelne wichtige
Schützmassregeln zur Bekämpfung ansteckender Krankheiten un¬
berücksichtigt lassen.
Zu den zu weit gehenden Bestimmungen muss vor
allem gerechnet werden die im §. 14 vorgesehene zwangsweise
Ueberführung krankheits- oder sogar ansteckungsverdächtiger Per¬
sonen in ein Krankenhaus oder in einen anderen geeigneten Unter¬
kunftsraum, falls ihre Absonderung nicht möglich ist. Ich halte
eine derartige Vorschrift ebensowenig für geboten und gerecht¬
fertigt wie die Anordnung von Verkehrsbeschränkungen für das
berufsmässige Pflegepersonal (s. letzten Absatz des §. 14). Hat
man bei Aerzten, Desinfektoren u. s. w. mit Recht von einer derartigen
Beschränkung Abstand genommen und vorausgesetzt, dass diese,
ehe sie wieder in den Verkehr mit dem Publikum treten, sich ge¬
hörig desinfiziren, so liegt meines Erachtens kein Grund vor, dem
Pflegepersonal gegenüber in dieser Hinsicht anders zu verfahren.
Auch von der Anordnung einer Desinfektion für Reisegepäck und
Handelswaaren kann ich mir nichts versprechen. Desgleichen hat
die im vorigen Jahre an allen mittleren und grösseren Eisenbahn¬
stationen eingerichtete gesundheitspolizeiliche Kontrole der an-
kommenden Eisenbahnreisenden gezeigt, dass sie völlig überflüssig
und nutzlos ist. Ueberhaupt ist der Nutzen aller Absperrungsmass-
regeln gegen den Personen- und Warenverkehr erfährungsgemäss
in Bezug auf die Bekämpfung der Volksseuchen ein höchst zweifelhaf¬
ter, die dadurch enstehenden Schädigungen der allgemeinen wirt¬
schaftlichen Interessen aber eine sehr schwere. Jedenfalls ist eine
der wichtigsten Massregel die rechtzeitige und vollständige Ab-
Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicherKrankheiten. 43
Sonderung des Kranken selbst; und dass im Gesetze der
Polzeibehörde das Recht eingeräumt wird, den Kranken, falls seine
Absonderung nicht möglich ist, in ein Krankenhaus zwangsweise
überzuftihren, damit kann man sich nur einverstanden erklären.
Dass eine derartige Ueberführung nicht ohne Noth stattfinden wird,
dafür bürgt die Bestimmung, dass ihre Nothwendigkeit durch den
beamteten Arzt erklärt sein muss. Ich würde jedoch statt „Ueber¬
führung“ in ein Krankenhaus den Ausdruck „Unterbringung“
vorziehen.
Andererseits halte ich es für einen grossen Mangel des
Gesetzentwurfes, dass, wie ich schon vorher beim ersten Abschnitt
erwähnt habe, dem Kranken nicht jeder Aufenthaltswechsel
ohne zuvorige polizeiliche Genehmigung verboten ist; und zwar
müsste eine solche Erlaubniss nicht nur bei einem Wechsel des
Aufenthaltsortes, sondern auch bei einem solchen der Wohnung
erforderlich sein, abgesehen von den Fällen, wo es sich um die
unmittelbare Ueberführung eines Kranken in die zunächst gelegene
Krankenanstalt handelt. Ferner vermisse ich unter den Schutz-
massregeln Vorschriften über die Fürsorge für die nöthige
ärztliche Hülfe und das erforderliche Krankenpflege¬
personal, über die Beschaffung von Isolirräumen und
Desinfektionsapparaten, Bereitstellung von Desin¬
fektionsmitteln und Anstellung von) Desinfektoren;
auch die Belehrung der Bevölkerung durch geeignete
Bekanntmachung ist eine bei der Bekämpfung der Volksseuchen
nicht zu unterschätzende Massregel. Desgleichen sind bei der Ver¬
hütung der Weiterverbreitung ansteckender Krankheiten durch die
Schulen (§. 16 des Entwurfes) nicht die Kiuderbewahranstalten,
Spielschulen und Kindergärten zu vergessen.
Sie sehen, m. H., ich habe auch bei diesem Abschnitte eine
Reihe Ausstellungen zu machen und habe diesen in These 10 Aus¬
druck gegeben. Mir sind die in den einzelnen §§. angeführten
Schutzmassregeln auch zum Tlieil viel zu speziell gehalten. In
der Begründung des Gesetzentwurfes wird mit Recht gesagt:
„Es würde auch gegen die Grundsätze der Gesundheitspolizei streiten,
wenn alle vorzusehenden Schutzmassregeln durch Gesetz festgestellt würden;
denn es ist unerlässlich, dieselben mit den wechselnden Anschauungen der Wissen¬
schaft beständig in Einklang zu halten und zu diesem Behuf auch in Einzel¬
heiten rasch einer Umgestaltung unterwerfen zu können. Demgemäss sind iu
dem Entwurf nur die für die erfolgreiche Bekämpfung leicht übertragbarer
Volkskrankheiten überhaupt in Betracht kommenden Massnahmen aufgeführt und
in Anlehnung an sie den Behörden die nöthigen Vollmachten und Zwangsbefug¬
nisse beigelegt. Die Art, wie die grundsätzlichen Massnahmen sowohl den ein¬
zelnen Krankheiten gegenüber, als auch unter den verschiedenen Lebens- und
Verkehrsverhältnissen zur Anwendung gelangen sollen, ist dagegen der Haupt¬
sache nach der Beschlussfassung des Bundesraths Vorbehalten, unter gewissen
Voraussetzungen auch, soweit es zweckmässig erschien, dem Ermessen der Lan¬
desregierungen überlassen/
Die hier ausgesprochenen Grundsätze sind aber im Gesetze
nicht befolgt, sonst hätte man jedenfalls den betreffenden Abschnitt
viel kürzer und einfacher gefasst. Eine derartige Fassung ist
auch um so erwünschter, da man dann nicht später gezwungen
44
Dr. Rapmund.
wird, den Fortschritten und wechselnden Anschauungen der Wis-
schaft entsprechend, jedesmal eine Aenderung der gesetzlichen Be¬
stimmungen vornehmen zu müssen. Meines Dafürhaltens hätten
die §§. 12—27, abgesehen von §. 23, recht gut in einen Para¬
graphen, wie folgt, zusammengefasst werden können:
„Als Schutzmassregeln zur Verhütung ansteckender Krankheiten können
angeordnet werden:
a) Warnung und Belehrung der Bevölkerung durch gemeinverständliche
Bekanntmachungen;
b) Meldepflicht für zureisende Personen aus verseuchten Gegenden, Be¬
obachtung krankheitsverdächtiger Personen;
c) Absonderung kranker Personen, Unterbringung derselben in einem
Krankenhause oder sonstigen geeigneten Räume, Beschaffung der¬
artiger Isolirräume;
d) Bezeichnung, Absonderung, Sperrung oder Räumung verseuchter Woh¬
nungen und Gebäude;
e) Fürsorge für die nöthige ärztliche Hülfe, Krankenpflege u. s. w.;
f) Vorsichtsmassregeln in Bezug auf den Transport von Kranken, gänz¬
liches Verbot eines Aufenthaltswechsels ohne zuvorige polizeiliche
Genehmigung;
g) Beschränkung der Benutzung gewisser, der Verseuchung förderlichen
Einrichtungen (wie Brunnen, Wasserleitungen u. s. w.);
h) Verhütung von Menschenansammlungen, Verbot von Märkten, Messen
ü. s. w.;
i) Vorschriften zur Verhütung ansteckender Krankheiten durch die
Schulen, Kindergärten u. s. w.;
k) Verschärfte Ueberwachung des Verkehrs mit Nahrungs- und Genuss¬
mitteln;
l) Beschränkungen des Gewerbebetriebs und des Waarenverkehrs;
m) Gesundheitspolizeiliche Aufsicht und Beschränkungen des See-, Bin-
nenschifffahrts- und Flössereiverkehrs;
n) Vorschriften über die Desinfektion, Bereitstellung von Desinfektions¬
apparaten, Desinfektionsmitteln, Bestellung von Desinfektoren;
o) Vorsichtsmassregcln über die Aufbewahrung, Einsargung, Beförderung
und Bestattung der Leichen solcher Personen, die an einer ansteckenden
Krankheit gestorben sind, Beschaffung von Leichenhallen.
Die näheren Vorschriften über die bei den einzelnen Krank¬
heiten zu ergreifenden Schutzmassregeln werden durch die von dem
Bundesrathe zu erlassenden Ausführungsbestimmungen festgesetzt.“
M. H.! Betreffs der von dem Bundesrathe zu treffenden
Ausführungsbestimmungen möchte ich nur noch bemerken, dass
sie nicht nur den sanitätspolizeilichen Anforderungen und den
Fortschritten der Wissenschaft entsprechen, sondern auch leicht
zu handhaben und praktisch ausführbar sein müssen, sonst bleiben
sie eben auf dem Papiere stehen. Dies gilt besonders betreffs der
Desinfektionsvorschriften; auch sollte man nicht Desinfektionsmittel,
wie rohe Karbolsäure und Chlorkalk empfehlen, die durch ihren
unangenehmen, schwer zu beseitigenden Geruch das ganze Des¬
infektionsverfahren beim Publikum in Misskredit bringen und den
an und für sich schon vorhandenen Widerstand gegen dasselbe
noch steigern.
M. H.! Die im §. 21 des Gesetzentwurfs vorgesehenen
Schutzmassregeln bei bedrohlicher Ausbreitung einer übertragbaren
Augenkrankheit werden meines Dafürhaltens besser der Landes¬
gesetzgebung überlassen. Soviel über die vom Bundesrathe
Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 46
beschlossenen Abänderungen des Gesetzentwurfes bekannt geworden
ist, hat dieser gleichfalls die Bestimmung gestrichen. Ich habe
Ihnen in These 11 denselben Vorschlag gemacht.
Vorsitzender: Ich eröffne über den dritten Abschnitt
„Schutzmassregeln“ und gleichzeitig über die von dem Referenten
aufgestellten Thesen Nr. 10 und 11 die Diskussion, dieselben
lauten:
10. „Die in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Schutzmassregeln
(§§. 12—27) sind zum Theil zu weitgehend, besonders in Bezug auf
die Ycrkehrsbescbränkungen ansteckungs- oder krankheitsverdächtiger
Personen, theils gehen sie zu sehr in’s Einzelne und bringen Vor¬
schriften, die in die Ausführungsbestimmungen gehören; andererseits
sind einige wichtige Schutzmassregeln, z. B. Fürsorge für die nöthige
ärztliche Hülfe und das erforderliche Krankenpflegepersonal, Belehrung
der Bevölkerung durch geeignete Bekanntmachungen, Verbot des Auf¬
enthaltswechsels kranker Personen ohne znvorige ortspolizeiliche Geneh¬
migung u. s. w. unberücksichtigt geblieben.“
11. „Die Schutzmassregeln bei bedrohlicher Ausbreitung einer übertrag¬
baren Augenkrankheit (§. 21 des Gesetzentwurfes) sind der
Landesgesetzgebung zu überlassen.“
Diskussion:
H. Kreiswundarzt Dr. Peyser: Ich beantrage in der These 11 die Worte
„sind zum Theil“ bis „theils“ zu streichen. Der erste Absatz der These würde
also dann lauten: „Die in dem Gesetzentwürfe vorgesehenen Schutzmassregeln
gehen zu sehr in’s Einzelne“ u. s. w. Ich will damit nicht sagen, dass ich die
Kritik, die der Herr Referent an den vorgeschlagenen „Schutzmassregeln“ geübt
hat, durchaus verwerfe, — ganz und gar nicht. Man kann über die verschiedenen
Punkte verschiedener Meinung sein. Ich halte es nur unter den schlechten
Auspizien, unter denen der Gesetzentwurf an den Reichstag kommen wird, für
bedenklich, dass wir, ohne die einzelnen Punkte unserer Kritik anzugeben, diese
Worte hier aufnehmen. Sie wissen, wie die Angelegenheit steht, wie man von
Süddeutschland unter der Führung Pettenkofers gegen unsere norddeutschen
Anschauungen vorgeht, und es ist die grosse Gefahr, dass diese Worte so aus¬
gelegt werden können, als ob wir uns diesen Anschauungen anschliessen. Die
Pettenkoier’sehen Anschauungen haben bewirkt, dass die Massregeln gegen
die Cholera, wie sie auf Grund der Koch’ sehen Anschauungen in Scene gesetzt
werden, beim Publikum diskreditirt worden sind. Ich möchte uns vor dem Ver¬
dacht bewahren, als ob wir auch nur annähernd diesen Anschauungen uns an¬
schlössen.
Im Uebrigen stimme ich prinzipiell damit überein, dass die speziellen
Vorschriften über Schutzmassregeln in die Ausführungsbestimmungen gehören,
schon um deswillen, weil die wissenschaftlichen Anschauungen ja wechseln und
man nicht immer dementsprechend das Gesetz ändern kann.
H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: Wenn Herr Kollege Peyser
der Ansicht ist, was ich aus seinen Worten eigentlich entnehmen muss, dass die
Schutzmassregeln zu weitgehend sind (Herr Peyser: Ja!) so weiss ich nicht,
warum wir das nicht ganz offen sagen wollen. Steht man z. B. auf dem Stand¬
punkt, dass die Vorschriften über die Verkehrsbeschränkungen ansteckungs- und
krankheitsverdächtiger Personen zu weitgehend sind, dann würde es doch völlig
ungerechtfertigt sein, mit seiner Ansicht in dieser Beziehung zurückzuhalten.
So viel sich aus den Zeitungsnachrichten über die Beschlüsse des Bundesraths
entnehmen lässt, hat dieser bereits die hier in Betracht kommenden Bestimmungen
etwas abgeschwächt; ich sehe daher gar nicht ein, was uns abhalten soll, einen
ähnlichen Beschluss zu fassen.
H. Reg.- und Med.- Rath Dr. Roth (Cöslin): Wir sind verpflichtet, uns
an die im §. 19 des Entwurfs gegebenen Vorschriften zu halten, wo von der
Desinfektion von Gegenständen und Räumen die Rede ist, von denen anzunehmen
ist, dass sie mit dem Krankheitsstoff behaftet sind. Ich möchte hier ein sehr
wichtiges Desiderat erwähnt wissen, das sind die krankhaften Absonderungen
i
46
Dr. Rapmnnd.
und Abgänge. Es ist das das Allerwichtigste, was zu desinfizieren ist. In
Bezug auf die Desinfektion dieser Absonderungen und Abgänge vom Beginn der
Erkrankung an wird ja der Medizinalbeamte in der Regel zu spät kommen, und
es würde sehr erwünscht sein, wenn sich da ein Modus finden liesse, der die prakti¬
schen Aerzte darauf hinweist, nach gegebenen amtlichen Anweisungen die Desinfek¬
tion dieser krankhaften Absonderungen und Abgänge anzuordnen resp. einzuleiten.
In dem Regulativ von 1835 war im §. 17 dem praktischen Arzte sogar eine
Ueberwachung der sanitätspolizeilichen Massnahmen anfgegeben. Wenn wir eine
solche Ueberwachung, die wohl nur ausnahmsweise stattgefunden hat, nicht für
wünschenswerth erachten, möchte ich doch den Herrn Referenten bitten, in seiner
These Nr. 10 einen Zusatz dahin aufzunehmen, dass der behandelnde Arzt für
die Desinfektion der krankhaften Absonderungen und Abgänge mit den darüber
zu erlassenden Anordnungen Sorge zu tragen hat.
H. Kreiswundarzt Dr. Peyser: Ich möchte mich nur mit dem Herrn
Referenten ganz kurz auseinandersetzen. Wenn derselbe einzelne Schutzmass-
regeln für zu weitgehend erachtet, so hätten diese genau in der These aufge¬
nommen und der betreffende Absatz derselben präziser als jetzt gefasst werden
müssen. Die Pettenkofer’sche Schule verwirft z. B. auch die Desinfektion bei
Cholera ganz und gar; eine Ansicht, der sicherlich Niemand von uns zustimmen
wird. Von den Verkehrsbeschränkungen ist man ja an und für sich schon ziem¬
lich zurückgekommen und stimme ich dem Herrn Referenten bei, wenn er die
im Gesetzentwurf gebotenen Bestimmungen über die Verkehrsbeschränkungen
krankheits- und ansteckungsverdächtiger Personen als zu weitgehend bezeichnet.
H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: M. H.! Die Aufnahme einer
Bestimmung über die Desinfektion der Abgänge in das Gesetz halte ich nicht für
zweckmässig. Ausserdem würde dieselbe gar nicht in Einklang stehen mit unseren
früheren Beschlüssen, wonach die Anordnung der sanitätspolizeilichen Massregeln
lediglich dem beamteten Arte obliegen soll. Ich verspreche mir ferner von einer
solchen Bestimmung gar nicht viel, da sie von den praktischen Aerzten ebenso¬
wenig beachtet werden wird, wie die im Regulativ von 1835 gegebene Vorschrift,
wonach sie verbunden sind, darüber zu wachen, dass, falls die von ihnen behan¬
delten Kranken in ihrer Wohnung verbleiben, die sanitätspolizeilichen Vor¬
schriften genau befolgt werden.
Was ferner die Bedenken des Herrn Kollegen Dr. Peyser gegen die Fassung
der These 10 betrifft, so dürften dieselben vielleicht dadurch beseitigt werden,
dass wir im Eingang der These nur die Worte „sind zum Theil zu weitgehend,
besonders“ streichen nud der These folgende Fassung geben: „Die in dem Gesetz¬
entwürfe vorgesehenen Schutzmassregeln sind in Bezug auf die Verkehrsbeschrän¬
kungen ansteckungs- oder krankheitsverdächtiger Personen zu weitgehend, auch
gehen sie zu sehr“ u. s. w.
H. Kreiswundarzt Dr. Peyser: Mit dieser Fassung erkläre ich mich ein¬
verstanden.
H. Reg. - und Med.- Rath Dr. Roth: Ich will davon abstrahiren, ob die
Aerzte nach bestimmten Anweisungen die Desinfektion der krankhaften Absonde¬
rungen anordnen oder anheim geben sollen, aber ich wünsche, dass die Desin¬
fektion der krankhaften Absonderungen und Abgänge hier erwähnt wird, da in
dem, §. 19 nur von Gegenständen und Räumen die Rede ist, „von denen
anzunehmen ist, dass sie mit dem Krankheitsstoff behaftet sind.“
H. Kr.-Phys. und San.-Rath Dr. Wiedner (Cottbus): Ich halte den
Zusatz für ganz überflüssig. Wenn im Gesetzentwurf von der Desinfektion von
„Gegenständen“ die Rede ist, so sind darunter auch die krankhaften Absonde¬
rungen zu verstehen, da diese jedenfalls unter den Begriff „Gegenstand“ fallen.
Vorsitzender: Wünscht Jemand noch das Wort? Es ist
nicht der Fall. Dann würde zunächst über den Antrag des
H. Reg.- und Med.-Raths Dr. Roth abzustimmen sein, wonach
zur These 10 ein besonderer Zusatz betreffs der Desinfektion der
krankhaften Absonderungen gemacht werden soll. Diejenigen Kol¬
legen, die für diesen Antrag sind, bitte ich die Hand zu erheben
Der Entwurf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 47
Das ist die Minderheit, der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über These 10: Die¬
selbe würde also jetzt lauten wie folgt:
„Die in dem Gesetzentwürfe angegebenen Schutzmassregeln (§§. 12
bis 27) sind in Bezug auf die Verkehrsbeschränkungen ansteekrmgs-
oder krankheitsverdächtiger Personen zu weitgehend, auch gehen sie
. zu sehr in’s Einzelne und bringen Vorschriften, die in die Ausführungs¬
bestimmungen gehören; ausserdem sind einige wichtige Schutzmass¬
regeln, z. B. Fürsorge für die nöthige ärztliche Hülfe und das erfor¬
derliche Krankenpflegepersoual, Belehrung der Bevölkerung durch ge-
geeignete Bekanntmachungen, Verbot des Aufeuthaltswechsels kranker
Personen ohne zuvorige ortspolizeiliche Genehmigung u. s. w. unberück¬
sichtigt geblieben.“
Wer für diese Fassung der These 10 ist, bitte ich die Hand
zu erheben.
Das ist die grosse Mehrheit; die These ist angenommen.
Ich schreite, da sich Niemand zum Wort gemeldet hat, gleich
zur Abstimmung von These 11 in der bisherigen Weise.
Die These 11 ist fast einstimmig angenommen. ^
Reg.- u. Med.-Rath Dr. Räpmnnd: M. H.! Gestatten Sie mir
noch einige Worte zum vierten Abschnitt „Entschädigungen“
(§§. 28—33 des Gesetzentwurfes). In dem Entwürfe heisst es: „dass
für den durch polizeilich angeordnete Desinfektionen verursachten
Schaden voller Ersatz geleistet werde, entspricht nicht nur einer For¬
derung der Billigkeit, sondern ist auch insofern von einer erheblichen
Bedeutung, als die sichere Aussicht auf Entschädigung für die
Betroffenen den Anreiz, infizirte oder infektionsverdächtige Gegen-
enstäude der Desinfektion zu entziehen, abschwächen, mithin der
Gefahr, dass infizirte Gegenstände ungereinigt in denVerkehr kommen
und den Krankheitsstoff weiter verbreiten, entgegenwirken wird“.
Diesem Grundsätze kann man nur in jeder Weise beistimmen;
bedenkt man jedoch, dass nach den Ausführungen nicht nur unter
„Gegenstände“ jede bewegliche oder unbewegliche Sache zu
verstehen ist, insbesondere auch Beschädigungen an Wohnungen
und sonstigen Räumen, so wird man zugeben müssen, dass die aus
B i 11 i g k e 1 18 gründen und behufs grössere Sicherheit der Des¬
infektionsausführung äusserst erwünschte Entscheidung den
Gemeinden sehr kostspielig werden kann. Ausserdem werden
auch durch die im Gesetz vorgesehenen Bestimmungen etwaige
Streitigkeiten Zwischen der Ortspolizeibehörde und den betreffen¬
den Besitzern nicht aufhören, besonders wenn es sich um die Ent¬
scheidung der Frage handelt, ob ein Unmittelbarer oder
mittelbarer Schaden vorliegt. Der Gesetzentwurf hat sich hier
wiederum das Viehseuchengesetz zum Muster genommen; aber in
diesem Gesetze handelt es sich um Entschädigungen, die für ge-
tödtete Thiere u. s. w. gewährt werden müssen, also um Dinge,
die. bei dem vorliegenden Gesetze gar nicht in Frage kommen.
Af. H. ?i wir sind bis jetzt bei der Bekämpfung der ansteckenden
Krankheiten ohne 1 besondere' gesetzliche Bestimmungen über die
Entschädigungspflicht ausgekommen und haben es den geschädig-
48
Dr. Rapmund.
ten Personen überlassen, vorkommenden Falls Anträge auf Schaden¬
ersatz zu stellen und bei Ablehnung dieser Anträge seitens der
Ortspolizeibehörde den Klage weg zu beschreiten. Dies Verfahren
hat sich durchaus bewährt und hat insbesondere die Gemeinden
vor unbilligen Forderungen geschützt; das wird jedoch künftighin
authören, die Anforderungen auf Entschädigungen werden in’s
Unendliche wachsen, jeder wird die Gelegenheit benutzen, für ein
altes, unbrauchbares Stück Möbel ein möglichst grosses Stück
Geld noch herauszuschlagen, weil es angeblich durch die Desin¬
fektion völlig ruinirt ist. Andererseits wird auch vielleicht die
Polizeibehörde flotter mit der Vernichtung infizirter Gegenstände
zu Werke gehen, als es unbedingt nothwendig ist. Wir sehen es
ja bei der Un fallgesetzgebung, wie sehr das Publikum Nei¬
gung hat, aus derartigen Bestimmungen die grössten Vortheile
für sich herauszuschlagen. Jetzt gelingt es keinem Arzte mehr,
einen Knochenbruch u. s. w. wieder völlig zu heilen, so bald der
Verletzte Anspruch auf eine Rente machen kann; ebenso würde
künftighin keine Desinfektion mehr möglich sein, ohne dass der
Besitzer einen Anspruch auf Entschädigung erhebt. Und die
Streitigkeiten, m. H., werden sich derartig häufen, dass in grösse¬
ren Städten sehr bald die Nothwendigkeit der Einsetzung eines
besonderen Schiedsgerichts für Desinfektions-Beschädi¬
gungen erforderlich sein wird. Ich kann daher nur empfehlen,
es bei dem jetzigen Verfahren zu belassen; muss der Betreffende
erst vor Gericht seine Entschädigung begründen und durchfechten,
dann wird er sich hüten, mit unbilligen Forderungen zu kommen.
Allerdings halte ich die in den meisten Reglements der Desin¬
fektionsanstalten vorgesehene Vorschrift, wonach diese Anstalten
es ausdrücklich ablehnen, für etwaigen Schaden aufzukommen, für
völlig ungerechtfertigt; denn wenn ich seitens der Ortspolizei¬
behörde gezwungen werde, meine Sachen in der von ihr eingerich¬
teten Anstalt desinfiziren zu lassen, dann hat sie auch dafür Sorge
zu tragen, dass ich diese wieder unbeschädigt zurückerhalte und
nicht das Recht, mir durch eine derartige Bestimmung den Rechts¬
weg gleichsam von vornherein abzusclmeiden.
Bei Besprechung dieses Abschnittes möchte ich noch einen
Punkt berühren: Die seitens des Geschäfts-Ausschusses des
Aerztevereinsbundes geforderte Entschädigung für die
Hinterbliebenen der Aerzte, Amtsärzte, Geistlichen, Kranken¬
pfleger und Polizeibeamten, die im Aufträge der zuständigen Be¬
hörde mit Personen, die an übertragbaren Krankheiten leiden, in
Berührung kommen, dabei selbst erkranken und in Folge der
Krankheit sterben. Ein gleicher Beschluss ist seiner Zeit von
dem Aerztetage bei der Berathung des Seuchengesetzes im Jahre
1883 gefasst worden und man wird nicht leugnen können, dass
auch für diesen Beschluss gewisse Billigkeitsgründe sprechen.
Aber, m. H., bedenken Sie, zu welchen Konsequenzen ein solcher
Beschluss führt; es kommen doch nicht bloss die obengenannten
Berufsklassen mit solchen Kranken im behördlichen Aufträge in
Berührung, sondern z. B. auch Richter, Gerichtssekretäre, Notare
Der Entwurf e. Gesetzes betr. <1. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 49
u. s. w. und vor allem die Desinfektoren, die merkwürdiger
Weise in jenem Beschlüsse ganz vergessen sind, obwohl sie meines
Erachtens am meisten gefährdet sind. Wie schwer wird es ferner
sein, in derartigen Fällen den Nachweis zu bringen, dass der Arzt
sich gerade bei einer im amtlichen Aufträge ausgeübten Berufs¬
tätigkeit augesteckt hat und nicht bei anderer Gelegenheit? Zur
Begründung des Beschlusses wird darauf hingewiesen, dass in
anderen Staaten, z. B. in Oesterreich, eine solche Entschädigung
gewährt werde. So viel mir bekannt, wird sie dort jedoch nur
dann gewährt, wenn Aerzte im amtlichen Aufträge nach Seuchen¬
gebieten geschickt werden. Das geschieht aber bei uns in gleicher
Weise; denn durch Kabinetsordre vom 10. November 1831 ist be¬
stimmt: „dass auf Wittwen und Kinder von Aerzten und Chirur¬
gen, die bei den Cholera - Lazarethen sich haben anstellen lassen
und an dieser Krankheit verstorben sind, dieselben Pensions-
Grundsätze angewendet werden sollen, die im Jahre 1814 für
Wittwen und Weisen solcher Aerzte und Chirurgen festgesetzt
worden sind, die in den Militärlazarethen thätig waren und an
Typhus durch Ansteckung starben.“ M. H., Sie sehen daraus,
dass, falls Aerzte ausserhalb ihres Wohnorts im amtlichen
Aufträge beim Ausbruch von Seuchen verwandt werden und der Seuche
zum Opfer fallen sollten, auch für ihre Hinterbliebenen vom Staate
bisher gesorgt ist; ich halte daher die Aufnahme einer besonde¬
ren Bestimmung in das Gesetz, wie sie vom Geschäftsausschusse
des Aerztevereinsbundes vorgeschlagen ist, nicht für erforderlich
und zwar um so weniger, als es ausserdem jedem Arzte bei einer
derartigen Verwendung freisteht, sich vorher kontraktlich eine
etwaige Entschädigung zu sichern, was für ihn jedenfalls noch
vortheilhafter sein würde.
M. H.! Ich habe zu dem Abschnitt „Entschädigungen“ keinen
besonderen Abänderungsvorschlag gestellt, sondern nur meine Be¬
denken äussern wollen. Wir können es meines Erachtens ruhig
den Juristen des Reichstages überlassen, gerade bei diesem Ab¬
schnitte die richtige Fassung der einzelnen Paragraphen festzu¬
stellen.
Vorsitzender: Wünscht Jemand das Wort zu dem eben
vom Referenten besprochenen Abschnitt des Gesetzentwurfes? Es
ist nicht der Fall; wir können somit zu den letzten Abschnitten
des Gesetzentwurfes übergehen.
H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapniund: M. H.! Ich
komme jetzt zu dein vorletzten Abschnitte, zu den „Allge¬
meinen Vorschriften“. Jeder Hygieniker, der den §. 34,
den einzigen Paragraphen, der von prophylaktisch-hygie¬
nischen Massregeln handelt, gelesen hat, wird gewiss zu¬
nächst seine helle Freude über die hier vorgesehenen Bestim¬
mungen gehabt haben. Er wird schon im Geiste so manchen Plan
entworfen haben, um die Beseitigung aller hygienischen Missstände
in seinem Kreise mit aller Kraft anzustreben und gleichsam ein
wahres hygienisches Eldorado zu schaffen. Ja, m. H., wenn wir
4
50
Dr. Rapmund.
uns aber die Fassung des §. 34 näher ansehen, so ist diese so
unbestimmt, dass ich befürchte, es wird auf Grund dieses Para¬
graphen künftighin kaum mehr als früher erreicht und auch ferner¬
hin weiter mit Wasser gekocht werden. Die Besserung hygie¬
nische]* Verhältnisse ist hauptsächlich von der Thätigkeit des
zuständigen Medizinalbeamten, von dem Interesse der Bevölkerung
für die öffentliche Gesundheitspflege und vor allem von dem Nervus
rerum, dem Geldpunkte, abhängig. An und für sich stehen die
Gemeinden den hygienischen Verbesserungen gar nicht so feind¬
lich gegenüber, wie dies meist angenommen wird; sie sind nur
häufig nicht in der Lage, dieselben finanziell durchzuführen.
Gleichwohl bin ich durchaus dafür, dass die Bestimmung im
Gesetze bestehen bleibt; denn sie kann jedenfalls nicht schaden,
sondern nur nützen; sie hätte sogar noch etwas weiter ausgedehnt
werden sollen und nicht nur die Trinkwasserfrage und die Beseiti¬
gung der Abfallstoffe, sondern vor allem auch die Wohnungs-
frage berücksichtigen sollen. Für Preussen bringt die Bestimmung
übrigens nichts Neues; denn schon jetzt können auf Grund des
Landrechts (II. Theil, 17. Titel, §. 10) in Verbindung des Polizei¬
gesetzes vom 11. März 1850 die Gemeinden angehalten werden,
die nöthigen Anstalten nicht nur zur Erhaltung der öffentlichen
Ruhe, Sicherheit und Ordnung, sondern auch zur Abwendung der
dem Publikum oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden
Gefahren für Leben und Gesundheit zu treffen.
Was nun weiter die im §. 35 des Gesetzentwurfes getroffene
Bestimmung betreffs der „beamteten Aerzte“ anlangt, so ist
diese wiederum dem Viehseuchengesetze entnommen. Ich kann ihre
Fassung nicht als glücklich und vor allem nicht als einwandsfrei
bezeichnen; denn danach würden auch Krankenhausärzte, Pro¬
fessoren der Medizin u. s. w. „als vom Staate angestellt oder vom
Staate bestätigt“ unter den Begriff „beamtete Aerzte“ fallen,
während der Gesetzgeber doch nur die vom Staate als „Sanitäts¬
beamte“ angestellten Aerzte unter „beamtete Aerzte“ hat ver¬
standen wissen wollen. Um hierüber keinen Zweifel aufkommen
zu lassen, würde es sich empfehlen, dem §. 35 etwa folgende
Fassung zu geben:
„Beamtete Aerzte im Sinne dieses Gesetzes sind Aerzte, die vom
Staate als „Sanitätsb eamte“ für einen bestimmten Bezirk ange¬
stellt oder deren Anstellung als solche vom Staate bestätigt ist.“
Der letztere Zusatz erscheint für den Fall erforderlich, wo
die Sanitätspolizei in grösseren Städten den Gemeinden übertragen
ist und in Folge dessen die Sanitätsbeamten von diesen angestellt
werden.
Dass es zur erfolgreichen Durchführung des Reichsseuchen¬
gesetzes nothwendig ist, dass die beamteten Aerzte speziell in
Preussen durch ein gesetzlich geregeltes pensionsfähiges Gehalt
von der ärztlichen Praxis unabhängig gestellt und ihre Rechte
und Pflichten den Anforderungen der öffentlichen Gesundheitspflege
entsprechend erweitert werden, darüber brauche ich wohl kein
Wort zu verlieren, da ohne eine derartige Reform der Stellung
Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 51
der beamteten Aerzte die meisten Bestimmungen des Gesetzes auf
dem Papiere stehen bleiben würden. Bei Gelegenheit des vierten
auf der diesjährigen Tagesordnung stehenden Vortrages wird dieser
Gegenstand ja eingehend erörtert werden; ich kann daher wohl
jetzt von einer weiteren Besprechung desselben Abstand nehmen.
Gegen die §§. 36 u. 37 ist ebensowenig etwas einzuwenden, wie
gegen den §. 38; die hier vorgesehenen Bestimmungen entsprechen
den verfassungsmässigen Beziehungen zwischen dem Reiche und
den Bundesstaaten, sowie den jetzt bereits in dieser Hinsicht be¬
stehenden Vorschriften. Dasselbe gilt im Allgemeinen betreffs des
§. 39; jedoch erscheinen mir die am Schluss dieses Paragraphen
getroffenen Ausnahmebestimmungen in Bezug auf die im Dienste befind¬
lichen oder aus dienstlicher Veranlassung vorübergehend ausserhalb
ihres Wohnsitzes sich aufhaltenden Beamten und Arbeiter der
Eisenbahn-, Post- und Telegraphen-Verwaltung als zu weitgehend.
Wenn thatsächlich auch während der vorjährigen Epidemie mehr¬
fach ungerechtfertigte ortspolizeiliche Massregeln gegen die
Beamten und Arbeiter jener Verkehrsanstalten vorgekommen
sind, so ist es einem derartigen, auch in anderer Weise zu
begegnenden Unfuge gegenüber doch noch nicht genügend be¬
gründet, jene Beamten völlig der Einwirkung der Ortspolizei¬
behörde zu entziehen, da thatsächlich Fälle Vorkommen können,
wo ein solches Eingreifen der letzteren erforderlich ist und wo
nicht erst auf dasjenige der betreffenden Eisenbahn-, Post- u. s. w.
Verwaltung gewartet werden kann.
Im §. 40 halte ich den zweiten Absatz für unnöthig. Ein
Eingreifen des Reichskanzlers oder eines Reichskommissars kann,
wenn es sich um die wirksame Bekämpfung einer über mehrere
Bundesstaaten sich verbreitenden Seuche handelt, nicht blos bei
Cholera, Pocken u. s. w., sondern auch bei anderen gemeingefähr¬
lichen ansteckenden Krankheiten erforderlich sein. Um ein solches
Eingreifen aber rechtlich zu begründen, dazu genügt vollständig
die im ersten Absatz gegebene Bestimmung, eventuell müsste der
zweite Absatz entsprechend abgeändert werden.
Der §.41 gehört nicht in das Gesetz, sondern in die Aus¬
führungsbestimmungen; wie dies bereits früher von mir ausgeführt
ist. Ich bemerke übrigens, dass es meines Erachtens genügt,
wenn das Reichsgesundheitsamt ebenso wie das Ministerium nicht
auf direktem Wege, sondern durch, die Bezirksinstanz die be¬
treffenden Nachrichten erhält. Man soll die Unterbehörden nicht
all zu sehr mit allen möglichen zu erstattenden Anzeigen belasten,
dadurch bleiben andere, wichtigere Sachen liegen; ausserdem kann
doch von einem Eingreifen der Zentralinstanzen in Einzelfällen
nicht die Rede sein, so dass eine sofortige unmittelbare Be¬
nachrichtigung gar nicht erforderlich ist.
Der Einrichtung eines Reichsgesundheitsraths (§. 42
des Gesetzentwurfs) können wir nur sympathisch gegenüber stehen,
wenn dieselbe auch streng genommen nicht in den Rahmen des
Gesetzes fällt. Die Begründung sagt dazu:
4*
52
Dr. Rapraund.
„Wenn die Reichsverwalttrag den auf dem Gebiete des Gesundheitswesens
vermöge des neuen Gesetzes ihr erwachsenden Aufgaben gerecht werden soll,
so wird sie der Mitwirkung einer aus hervorragenden wissenschaftlichen Autori¬
täten und aus den erfahrensten Beamten der Landes-Medizinalverwaltungen
zusammengesetzten, also die Wissenschaft und die Praxis in deren sichersten
Ergebnissen vertretenden Versammlung nicht entrathen können. Das Kaiserliche
Gesundheitsamt wird in seiner jetzigen Organisation der Reichsverwaltung diese
Unterstützung nur in unvollkommenem Masse zu gewähren vermögen. Die Art
seiner Aufgaben und die beschränkte Zahl seiner ordentlichen Mitglieder bringen
es mit sich, dass ihm nicht immer auf den hier in Betracht kommenden wissen¬
schaftlichen Gebieten die ersten Kräfte zu Gebote stehen können. — — Die
Schöpfung eines dauernden und nicht auf engere Aufgaben beschränkten Organs,
welches vermöge seiner Zusammensetzung den Behörden, der ärztlichen Welt und
dem Publikum gegenüber volle Autorität besitzt, welches mit der Verwaltung
unausgesetzt Fühlung und für deren Bedürfnisse volles Verständniss hat, welches
den Widerstreit der wissenschaftlichen Meinungen und praktischen Vorschläge
in seinen, durch zusammenhängende Erfahrungen getragenen Beschlüssen löst
und welches im Bedarfsfälle jederzeit angerufen werden kann, ist der Weg, um
dem Bedürfniss der Reicbsverwaltung entgegen zu kommen.-Für die
Reichsverwaltung ist es um so wichtiger, sich auf die Autorität einer hoch ange¬
sehenen Vertretung von Wissenschaft und Praxis stützen zu können, als sie
unter Umständen in die Lage kommen wird, zwischen den abweichenden An¬
schauungen der Landes - Medizinalbehörden den Ausgleich herbeiftihren zu müssen.
Für die Bevölkerung liegt in einem solchen Organ, das nicht einseitig zusammen¬
gesetzt sein kann, dass dem Einflüsse einzelner Verwaltungsstellen entzogen ist
und etwaigen überspannten Anforderungen der Wissenschaft wie der Verwaltung
gleich unabhängig gegenübersteht, die beste, aber auch die nothwendigste Gewähr
dafür, dass auf Grund des neuen Gesetzes nur angemessene Pflichten ihr auf¬
erlegt werden sollen. Je weniger es möglich ist, diese Pflichten in allen Einzel¬
heiten und für alle Verhältnisse durch das Gesetz selbst festzulegen, um so mehr
ist es geboten, ein Organ zu besitzen, welches vermöge seiner Autorität für den
ganzen Umfang des Reichs die Durchführung des Gesetzes in gleichmässige und
vorsichtige Bahnen weisen hilft. Man darf sich nicht verhehlen, dass in Seuchen¬
zeiten auf Grund des neuen Gesetzes an den einzelnen wie auch an die Gemeinden
Anforderungen gestellt werden können, welche von den Betheiligten nicht immer
als eine bequeme Last empfunden und gern getragen werden. Ihre Nothwendig-
keit muss durch eine über alle Einwendung erhabene Autorität gedeckt sein.“
Der Reiclisgesundheitsrath soll mit dem Kaiserlichen Gesund¬
heitsamte in enge organische Verbindung gebracht werden; die
bisherigen ausserordentlichen Mitglieder des letzteren wie die stän¬
dige Kommission für Bearbeitung des deutschen Arzneibuches sollen
in ihm aufgehen. Als Mitglieder sind die ersten Fachgelehrten
aus den verschiedenen, in das Gesundheitswesen einschlagenden
Zweigen der Wissenschaft, hervorragende Mitglieder der in Be¬
tracht kommenden Gebiete der Technik (Bauwesen, chemische In¬
dustrie, Nahrungsmittelindustrie) und höhere Verwaltungsbeamte
in Aussicht genommen, damit die Interessen der Bundesstaaten
sowie alle Verwaltungszweige und Lebenskreise ihre Berücksich¬
tigung finden. Der Reichsgesundheitsrath wird somit in hygienischen
wie sanitätspolizeilichen Fragen künftighin gleichsam die oberste
technische Medizinalbehörde in Deutschland bilden, der gegenüber
die bisher in den einzelnen Bundesstaaten bestehenden ähnlichen
Institutionen, wie die Wissenschaftliche Deputation für das Medi¬
zinalwesen in Preimsen, der Obermedizinalausschuss in Bayern
u. s. w. an Einfluss bei Entscheidung derartiger Fragen verlieren
werden. Im Interesse einer gleichmässigen Regelung und Durch¬
führung der Massregeln bei Bekämpfung ansteckender Krankheiten
Der Entwarf e. Gesetzes betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher'Krankhciten. 53
ist dies aber durchaus geboten, ebenso wie es auf anderen Ge¬
bieten des öffentlichen Gesundheitswesens erwünscht ist, dass thun-
lichst nach einheitlichen Grundsätzen verfahren wird. M. H.! Es
wird Ihnen bekannt sein, dass gerade gegen die Einrichtung eines
Reichsgesundheitsrathes von den verschiedensten Seiten Bedenken
erhoben sind, angeblich auch von den Ausschüssen des Bundes¬
raths für Handel und Gewerbe, sowie für Justizwesen, weil dadurch
ein zu grosser Eingriff in die Kompetenzen der Einzelstaaten be¬
fürchtet wird. Glücklicher Weise hat sich das Plenum des Bundes¬
raths diesen Bedenken nicht angeschlossen und wollen wir hoffen,
dass der Reichstag zu einem gleichen Beschlüsse kommt.
Zum Schluss nur noch einige Worte über die Straf Vor¬
schriften des Gesetzentwurfes. Für dieselben sind diejenigen des
§. 327 des Strafgesetzbuchs und des Viehseuchengesetzes massgebend
gewesen. Mit Recht sind die Bestrafungen gegen wissentliche
Verletzung des Gesetzes ziemlich hoch genommen, jedoch mildernde
Umstände für zulässig erklärt. Letzteres ist insbesondere für Aerzte,
Hebammen u. s. w. wichtig; denn unter §. 43 Nr. 2 würde auch fallen,
wenn diese bei der Behandlung eines Kranken benutzte und infizirte
Instrumente ohne vorherige Desinfektion zu gleichen Zwecken weiter
verwenden würden. Zu hoch ist meines Erachtens die Strafe von
10—150 Mark im §. 44 für Unterlassung einer Anzeige gegriffen;
wenigstens sehe ich keinen Grund ein, warum bei dieser Verletzung
des Gesetzes gleich eine so hohe Mindeststrafe festgesetzt ist,
während dies z. B. bei den Zuwiderhandlungen gegen die von der
Polizeibehörde oder dem beamteten Arzte getroffenen Anordnungen
nicht der Fall ist. Ich würde es daher für richtig halten, wenn
auf die Unterlassung der Anzeige nicht die im §. 44, sondern die
im §. 45 vorgesehene Strafbestimmung (Geldstrafe bis zu 150 Mark)
Anwendung finden würde.
M. H.! Ich schliesse mein Referat mit dem Wunsche, dass
der vorliegende Gesetzentwurf noch in dieser Reichstagssession zur
Verabschiedung gelangen und bei der demnächstigen Berathung
und Beschlussfassung des Reichstages unsern heutigen Beschlüssen
in Bezug auf Abänderung des Gesetzes thunlichst Rechnung ge¬
tragen werden möge.
(Lebhafter Beifall.)
Vorsitzender: M. H.! Ich eröffne die Diskussion über
die beiden letzten Abschnitte des Gesetzentwurfs.
Es meldet sich Niemand zum Wort; ich bringe somit zunächst
die These Nr. 12:
„Der Begriff „beamteter Aerzte“ (§. 3ö des Gesetzentwurfes) ist ein¬
wandsfreier zo fassen.“
zur Abstimmung. Die Zustimmenden bitte ich die Hand zu erheben.
Die These ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die letzte These
(III):
„Zur erfolgreichen Durchführung des Reichsseuchengesetzes ist es
nothwendig, dasB die beamteten Aerzte durch gesetzlich geregeltes
54
Dr. Fielitz.
pensionsfähiges Gehalt von der ärztlichen Praxis unabhängig gestellt
nnd ihre Rechte und Pflichten den Anforderangen der öffentlichen
Gesundheitspflege erweitert werden.“
Wer für die Annahme dieser These ist, den bitte ich, die
Hand zu erheben.
Die These ist, soweit ich übersehen kann, gleichfalls ein¬
stimmig angenommen.
M. H.! Wir werden uns nunmehr darüber schlüssig zu machen
haben, iu welcher Weise wir vorzugehen gedenken, damit die heute
von uns gefassten Beschlüsse auch bei der demnächstigen Be¬
ratung des Seuchengesetzes im Reichstage die entsprechende Be¬
rücksichtigung finden.
Reg.- u. Med.-Rath Dr. Rapmund: Ich schlage vor, dass
der Vorstand ermächtigt wird, den Druck der heutigen Verhand¬
lungen thunlichst zu beschleunigen und je ein Exemplar derselben
sämmtlichen Mitgliedern des Bundesraths und des Reichstages zur
Kenntnissnahme zu übersenden.
Vorsitzender: Ich frage, ob die Versammlung mit diesem
Vorschläge einverstanden ist.
(Allgemeine Zustimmung.)
M. H.! Ich schliesse damit die Beratung über den Entwurf
des Reichsseuchengesetzes und spreche gleichzeitig dem Herrn Re¬
ferenten für seinen anregenden, den Gegenstand erschöpfenden
Vortrag unsern verbindlichsten Dank aus.
IT. Die gegenwärtige Stellung der Medizinal-
beamten.
H. Kreis-Phys. Dr. Fielitz (Halle a. S.): M. H.! Als im
vorigen Jahre die Diskussion über die Stellung der Medizinal¬
beamten auf der Tagesordnung stand, wurde sie allgemein als
dringlich bezeichnet. Schon das Interesse unserer Vereinigung
fordert gebieterisch, dass wir uns mit dieser Materie beschäftigen.
Nachdem wir am 29. September 1888 den ersten Sitzungs¬
tag unseres Vereins mit Berathung der Statuten eröffnet und in
deren erstem Paragraphen als Zweck der Vereinigung u. A. den
hinstellten: „den gemeinsamen berechtigten Interessen der Medi¬
zinalbeamten entsprechende Berücksichtigung zu verschaffen“, da
glaubten wohl alle Anwesenden an eine baldige Reform unseres
schlecht situirten Standes und die Wogen der Begeisterung gingen
hoch. Die Begeisterung ist verschwunden, Enttäuschung hat sich
der meisten Mitglieder bemächtigt und der Glaube an eine frucht¬
bringende Thätigkeit des Vereins nach dieser Richtung hin war
so ziemlich erloschen. Leider entsprach dem auch der verhältniss-
mässig geringe Besuch der letzten Jahresversammlung. Während
1883 die Versammlung von 45 °/o der Mitglieder besucht war,
erschienen 1891 nur 13 %! Manches bittere Urtheil konnte man
Die gegenwärtige Stellung dor Medizinalbeamten.
55
hören und keinesfalls darf es überraschen, dass nur wenige Me¬
dizinalbeamte in der Lage sind, selbst den interessantesten Ver¬
handlungen beizuwohnen; werden diese doch durch grosse Kosten
erkauft, die in keinem Verhältnisse stehen zu dem Einkommen,
welches unsere amtliche Stellung bietet. So manche andere Ver¬
einigung gebildeter Leute hatte unterdessen durch einmüthiges
Vorgehen die Lebensstellung ihrer Mitglieder in sozialer und finan¬
zieller Beziehung verbessert — für uns hatten die ersten 10 Ver¬
einsjahre das Gegentheil gebracht; denn unsere Aufwendungen an
geistiger, körperlicher und finanzieller Kraft für das Amt waren
unverhältnissmässig gewachsen.
Schon einmal hat der Verein sehr gründlich berathen, wie
unserer Stellung aufzuhelfen sei und das Resultat dieser Be¬
rathungen am 17. September 1886 in 6 Thesen niedergelegt, welche
Ihnen vielleicht noch im Gedächtniss sind. Dieselben sprachen
zunächst aus, dass die jetzige Stellung des preussischen Physikus
den Anforderungen der öffentlichen Gesundheitspflege nicht mehr
genüge, präzisirten in II und III die bezüglich einer Aenderung
gehegten Wünsche, forderten dann in IV die Ueberlassung des
Impfgeschäfts, in V eine Dienstinstruktion und in VI eine ange¬
messene Honorirung.
Diese Thesen verloren sich allerdings etwas in Einzelheiten,
aber sie sprachen in exakter Weise alle unsere Wünsche aus,
deren Erfüllung nicht nur unserem, sondern vor allem dem allge¬
meinen Wohle zu Gute kommen sollten.
Leider ist es bei den Beschlüssen geblieben! Schon die Art
der Verwendung resp. Unterbreitung an hoher Stelle wurde sehr
verschieden beurtheilt und schon damals waren viele Theilnehmer
der Ansicht, dass die Ueberlassung weiterer Schritte an eine
Kommission gleichbedeutend sei mit Reponiren. Wir haben auch
vom Herrn Schriftführer in der nächsten Hauptversammlung nur
erfahren, „dass mit Rücksicht auf eine kurz vorher erlassene
Min.-Verfügung, betreffend Kollektiveingaben von Beamten, von
jeder derartigen Eingabe, sowie von einer etwaigen Petition an
die gesetzgebenden Körper und sonstigem agitatorischen Vorgehen
abgesehen werden musste; dass deshalb die Verhandlungen, ebenso
wie früher, den höchst entscheidenden Persönlichkeiten zur Kennt¬
nisnahme überreicht worden seien“.
Nachdem wir nun 6 Jahre auf den Erfolg unserer Be¬
mühungen gehofft hatten, wäre es in voriger Herbstversammlung
sehr zeitgemäss gewesen, das Thema wieder aufzunehmen.
Sollen wir es aber heute erörtern, obgleich sich seit wenigen
Monaten ein offenbarer Umschwung in den betreffenden Verhält¬
nissen vollzogen hat?
„Wieder einmal bewährte sich das drohende Gorgonenhaupt
der asiatischen Seuche als mächtigster Förderer der öffentlichen
Gesundheitspflege“, — so leitet Finkelnburg seine Kritik des
Entwurfes zum sogen. Seuchengesetz ein. Die Cholera hat in
Wahrheit alle Kreise aus ihrer Ruhe aufgeschreckt, die Cholera
hat aber auch, wie der Herr Minister im Abgeordnetenhause selbst
66
Dr. Fielitz.
erklärte, wieder gezeigt, „dass für die abwehrenden Massnahmeb,
zu denen wir verpflichtet waren, unsere Organe nicht voll aus¬
reichten“.
Wenn somit an höchster Stelle anerkannt ist, dass die Stellung
der Medizinalbeamten einer dringlichen Reform bedarf, so möchte
die heutige Besprechung um so weniger angebracht erscheinen,
als auch die politische Presse aller Parteien auf die schweren
Mängel unserer Organisation hinweist.
Und doch dürfte gerade der jetzige Moment der geeignetste
sein, innerhalb unseres Vereins eingehend die Verhältnisse
zu beleuchten, damit unter den Medizinalbeamten selbst möglichste
Klarheit und Einigkeit erzielt werde. Denn, m. H., auch unter
uns gehen leider die Ansichten zum Theil noch weit auseinander,
weniger freilich bezüglich der Erkenntniss unserer schiefen
Stellung, als der Art und Weise einer zu erstrebenden Besserung.
Auch bleiben einige Punkte hervorzuheben, die weder im
Abgeordnetenhause noch in der Tagespresse genügende Würdigung
finden können, die sich vielmehr nur für die Diskussion im Ver¬
eine eignen.
Aus solchen Rücksichten glaubte der Vorstand gerade jetzt
an dem vorjährigen Thema festhalten zu sollen.
Unter allen Umständen kann ich mich bei der heutigen
Situation kurz fassen und brauche nur zu berühren, was täglich
auf die unzulängliche Stellung der Medizinalbeamten, speziell der
Kreisphysiker, hinweist, um dann in Umrissen anzudeuten, wie wir
uns eine Aenderung ungefähr ausmalen.
Die ge richte ärztliche Seite unseres Amtes will ich ganz
übergehen, denn hier wäre eine Reform nur in unserem Interesse
nöthig, da die jetzige Bezahlung mancher Geschäfte geradezu
schlecht ist. Ich brauche mich auch nicht über die Frage aus¬
zulassen, ob es nicht zweckmässiger erscheint, gerichtliche Medizin
und Sanitätspolizei vollständig zu trennen — das sind Dinge, die
sich von selbst erledigen, sobald der Staat wirklich an eine Re¬
form des Medizinalwesens herangeht, überdies nicht dringlich sind,
wie uns die Einrichtungen anderer deutscher Staaten beweisen.
Dass die Medizinalbeamten den heutigen Anforderungen der
öffentlichen Gesundheitspflege nicht genügen können,
ist dem grossen Publikum leider erst seit dem Choleraausbruch
klar geworden.
Wenn es hinreichte, dass der Sanitätsbeamte eine ausge¬
brochene Epidemie konstatirt und Rathschläge ertheilt, die in 100
Fällen 99 mal nichts fruchten, weil sie nicht zur Ausführung
kommen, dann könnten wir mit den heutigen Physikern noch lange
wirthschaften. Wenn wir aber unsere Aufgabe ernst nehmen und
sagen: das allgemeine Wohl fordert eine Verhütung von Krank¬
heiten, so stecken wir die Grenzen unserer Thätigkeit sehr weit;
denn, m. BL, es handelt sich bei den Aufgaben der Ge¬
sundheitspolizei nicht allein darum, Infektionskrank¬
heiten zu bekämpfen, sondern die Volksgesundheit
überhaupt zu fördern.
Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten.
57
Die grossen Umwälzungen, welche die Bakteriologie hervor¬
gebracht hat, lassen diese für den Laien nicht nur, sondern auch
für manchen Arzt im Mittelpunkt jeder sanitären Massnahme
stehen und gerade das letzte Jahr hat die Meinung bestärkt, dass
der Medizinalbeamte lediglich deshalb nicht genüge, weil er die
Bakteriologie nicht in dem Masse beherrscht und beherrschen
kann, wie der Bakteriologe von Fach. Ueberhaupt sehen wir als
Aufgabe des Medizinalbeamten hinstellen seine Thätigkeit im Dienste
der Gesundheitspolizei nicht der Gesundheitspflege.
Sehi* richtig sprach sich der um den Aerztestand hochver¬
diente Abgeordnete Dr. Graf in der Sitzung des Abgeordneten¬
hauses vom 5. März aus, als er vor dem vielfach im Publikum
verbreiteten Irrthum warnte, als seien Bakteriologie und
Hygiene identisch. Denselben Irrthum betonen Wasserfuhr,
Finkelnburg u. A. in ihren Besprechungen des Gesetzentwurfes
betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten.
Wäre diese Ansicht richtig, dann hätte der Medizinalbeamte
im Grossen und Ganzen nur thätig zu sein, sobald eine schwere
Seuche das Land heimsucht und das ist Gott sei Dank nur ein
Ausnahmezustand, gewissermassen der Krieg, dem ein langer
Frieden folgt. Wie aber der Soldat gerade den Frieden benutzt,
um sich auf den Krieg vorzubereiten, und wie ein starkes Heer
am besten den Krieg verhütet, so soll und muss auch der Medizinal¬
beamte, wenn keine Epidemien herrschen, rüstig arbeiten, um
Volksseuchen möglichst fern zu halten.
Dazu gehört vor allen Dingen eine genaue Kenntniss aller
einschlägigen Verhältnisse des Bezirks. Der Sanitätsbeamte soll
also ein fortgesetztes Studium seines Kreises treiben: er soll die
Witterungs-, Boden- und besonders die Wasserverhältnisse beob¬
achten, soll die Lebensbedingungen der Bewohner gründlich kennen,
Wohn-, Arbeits- und Erholungsstätten unter Kontrole haben und
alle Einrichtungen im Auge behalten, welche Staat oder Gemeinde
zum Schutze menschlicher Gesundheit getroffen hat. Vor allem
muss aber der Beamte, um diesen Anforderungen genügen zu
können, die Fortschritte der öffentlichen Gesundheitspflege genau
verfolgen. Er muss also auch befähigt und im Stande sein, bak¬
teriologische und hygienische Untersuchungen anzustellen.
Ich brauche weiteres eigentlich nicht anzuführen. Jeder von
uns muss sich sagen, dass zu solchen Leistungen eine angestrengte
Thätigkeit gehört, welche der Medizinalbeamte jetzt nicht ent¬
falten kann.
Die Gründe dafür sind mit drei dürren Worten gegeben:
es fehlt Stellung, Zeit und Geld.
Wenn ich unsere heutige Stellung bemängele, so geschieht
es in demselben Sinne wie bei den Verhandlungen des Jahres 1886.
Ich lege deshalb weniger Werth auf das Palliativ einer Rang¬
erhöhung, wie sie im Abgeordnetenhause und auch in unserer Zeit¬
schrift befürwortet ist, sondern auf eine unabhängige Stellung.
Unsere sämmtlichen Einrichtungen berücksichtigen das nicht:
Von selbstständigem Vorgehen keine Spur und, angewiesen
58
Dr. Fielitz.
auf Requisition der unteren Polizeibehörden, hat der jetzige Kreis-
physikus kaum die Aehnlichkeit mit einem Beamten. Das ist ja
verschieden in verschiedenen Kreisen je nach den Persönlichkeiten,
welche sich gegenttberstehen, aber es handelt sich immer um
grosse Ausnahmen.
Wir wollen heute nicht die schwarzen Malereien früherer
Verhandlungen wiederholen, wir wissen auch ohne dies, dass die
Stellung der Medizinalbeamten eine mindestens zweifelhafte ist.
Wir sind Beamte, welche niemals genau angeben können, was
wir thun müssen und thun dürfen. Man kann kurz sagen: es
fehlt uns die Unabhängigkeit und doch müsste gerade der Gesund¬
heitsbeamte frei werden von allen Rücksichten, die nicht einzig
und allein vom Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege geboten
sind; so müsste er stehen, dass sein Verhältniss zu Polizei- und
anderen Behörden, zu Aerzten und Kreiseingesessenen fest normirt
und nicht abhängig ist von seinen event. persönlichen resp. ge¬
selligen Anlagen. Nur dann könnte er sich mit Hingabe seinem
Amte widmen.
Wenn somit schon aus Rücksicht auf eine feste Stellung die
nebenamtliche Thätigkeit als Physikus aufhören soll, so muss
das noch weit mehr deshalb geschehen, weil der jetzige Be¬
amte gar nicht die Zeit hat, den Verpflichtungen des Amtes
in idealer Weise nachzukommen.
Vergegenwärtigen wir uns, wie viele Tage und Stunden wir
schon jetzt dem Amte geopfert haben. Der praktische Arzt benutzt
seine freie Zeit lediglich zur Weiterbildung im Interesse seines
Berufes und erwartet dabei auch klingenden Nutzen. Die Medi¬
zinalbeamten haben besonders in den letzten Jahren mit Eifer und
Fleiss lernen müssen, um den überaus schnellen Fortschritten in
der Bakteriologie und Hygiene zu folgen, um sich das Unentbehr¬
lichste anzueignen. Wir haben uns nicht gescheut, wochenlang
unserm ärztlichen Berufe fern zu bleiben, um die erforderlichen
Kenntnisse zu erlangen. Alle diese Zeit legen wir nutzbringend
an nicht sowohl für uns resp. unsere Familie, sondern für das
Gemeinwohl, denn damit dürfen wir uns nicht zufrieden geben,
dass Lernen und Wissen Selbstzweck ist. Wir haben Verpflich¬
tungen nicht allein gegen den Staat, sondern auch gegen unsere
Kinder. Und aus diesem Grunde ist das Opfer gross zu nennen,
welches wir an Zeit schon jetzt dem Nebenamtebringen. Woher
sollten wir aber Müsse gewinnen, wenn wir in wirklich nutz¬
bringender Weise als Gesundheitsbeamte thätig sein wollten? Um
sich hier ein Bild zu machen, braucht man nur die Instruktion
für die sächsischen Bezirksärzte durchzulesen; da wird man nicht
im Zweifel sein, dass zur Ausfüllung solcher Stellung ganz
andere Zeit gehört, als sie einem beschäftigten Praktiker zu
Gebote steht.
Viele von uns haben staatliche Kurse in der Bakteriologie
durchgemacht, ein kleinerer Theil auch bereits die neu eingeführten
hygienischen Fortbildungsübungen. Jeder meiner Kollegen war
sich klar in diesen Kursen, dass eine Verwerthung des Gelernten
Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten.
59
zunächst unmöglich sein würde, weil der heutige Kreis -Medizinal-
Beamte nicht Zeit zu solchen Untersuchungen hat.
Eng verbunden mit dem Zeitmangel ist das Fehlen eines
genügenden Amteinkommens.
Es dürfte nicht überflüssig erscheinen, bei dieser Gelegenheit
eine Vertheilung unseres Gehaltes auf die einzelnen amtlichen
Leistungen vorzunehmen.
Als der Physikus noch 200 Thlr. bezog, befand er sich in
einer besseren Lage, denn er konnte das Gehalt ungefähr als
Entschädigung für die Zeit betrachten, welche seinem Haupt¬
erwerb als Arzt verloren ging. Die Gelegenheit zu solchen Zeit¬
opfern war überaus selten, wie wir aus den alten Physikatsakten
ersehen. Dazu kam noch der Umstand, dass die Bezahlung
etwaiger Reisen oder gerichtsärztlicher Geschäfte verhältnissmässig
besser war als heute, wenn wir den Geldwerth berücksichtigen.
Seit 1872 haben wir 900 Mark Gehalt, also dem Werthe des
Geldes entsprechend etwa ebensoviel als früher, aber die Geschäfte
haben sich nicht verdoppelt, sondern verdrei- und vierfacht. Und
wie selten passirt es, dass ein Termin nicht mit der ärztlichen
Sprechstunde kollidirt. Besonders die Landphysiker wissen, wie
unangenehm es ist, in aller Frühe zu einer Sektion reisen zu
müssen, um bei der Rückkehr allerlei Verdriesslichkeit und Ein¬
busse zu finden.
Ich brauche nicht auf die Bezahlung der meisten gerichts¬
ärztlichen Geschäfte zu verweisen. Ist es genügend, wenn man
für einen dreistündigen Tennin, welcher die Sprechstunde absor-
birte, 6 Mark empfängt, wenn Obduktionsberichte der schwierigsten
Art, die mitunter gleichkommen wissenschaftlichen Arbeiten und
den Beamten tagelang zwingen, Literatur zu studiren, schliesslich
mit 18 Mark honorirt werden? Sollen wir für alle solche Dinge
Zuschläge aus den 900 Mark Gehalt berechnen? Sollen wir davon
Entschädigung für Bureauutensilien, für die viele Schreiberei, für
Bücher, Zeitschriften, Vereine, für Instrumente, Apparate, Chemi¬
kalien u. s. w. u. s. w. rechnen?
Es ist durchaus nötliig, dass auch dieser wunde Punkt
unserer Existenz besprochen wird und ich erinnere hierbei an den
Vergleich, auf welchen Falk vor zwei Jahren hinwies: dass bei
anderen Beamten die Reisekosten nur zur Entschädigung des Auf¬
wandes, bei uns aber zugleich als Ersatz für den Verlust dienen
sollen, den wir an andern Einnahmen haben.
Es ist eine falsche Scham, den Geldpunkt in scheinbar vor¬
nehmer Weise zu ignoriren! Welche Opfer haben uns die wissen¬
schaftlichen Fortschritte der letzten Jahre auferlegt! Die freudig
begrüssten Kurse haben uns schwere Kosten verursacht, wie ja
vorauszusehen war. Betonte doch Philipp schon bei der Ver¬
sammlung des Jahres 1884, als Nötzel über Fortbildungskurse
sprach, „dass die Medizinalbeamten nicht in der Lage seien, diese
Kurse eher mitzumachen, als bis sie fest besoldet wären. Auch
die Militärärzte hätten diese Kurse erst bekommen, als sie dem
60
Dr. Fielitz.
Offizierkorps an Besoldung gleichgestellt wären und nicht mehr
auf Privatpraxis zu reflektiren brauchten“.
Wer zwei solcher Kurse mitgemacht hat und sich angemessen
mit Instrumenten etc. ausstattete, kann dafür ruhig das Gehalt
zweier Jahre in Anrechnung bringen.
Der Arzt als solcher ist nicht zu diesen enormen Ausgaben
gezwungen, wohl aber der Medizinalbeamte, der seine Stellung
ausfüllen möchte und stets hoffte, das Gelernte einst im Dienste
des Staates verwerthen zu können. Ohne solche Erwägungen
hätten vielleicht wenige Physiker ihre Ausbildung vervollständigt
und diese wenigen, denen Zeit und Geld als „Naturanlagen“ zu
Gebote stehen, können nicht massgebend sein. Denn wie man aus
Rücksicht auf die allgemeine Moral verlangen muss, dass auch der
reiche Arzt nicht umsonst praktizirt, ebenso wird man fordern,
dass nicht als Beispiele die wenigen Medizinalbeamten hingestellt
werden, welche freiwillige Opfer zu bringen in der Lage sind.
Sonst könnte die Ansicht aufkommen, dass zur erfolgreichen Ver¬
waltung eines Physikats Vermögen gehört.
Wie soll ferner der Medizinalbeamte seinen Kreis kennen
lernen? Wie steht es mit den jetzigen Informationen aller Art
bei „gelegentlicher Anwesenheit“? Welcher Physikus kann z. B.
gelegentlich einer Sektion, die ihn event. einen ganzen Tag der
Praxis entzieht, noch sanitäre Uebelstände erforschen? Wo soll
er, wie der Min.-Erlass vom 4. Juni 1880 sehr richtig fordert,
als Vorbereitung zu Berichten „Erfahrungen sammeln und sichten,
Vergleichungsmomente gewinnen und sich der Ziele bewusst werden,
auf deren Erreichung er vorzugsweise seine Anstrengungen zu
richten hat“?
Müssen wir da nicht frei bekennen, dass wir nicht einmal
den Anforderungen genügen konnten, welche seither an uns ge¬
stellt wurden? Wenn es trotzdem in der Noth der Zeit geschah
— und dem Herrn Minister gebührt unser wärmster
Dank, dies vor der Volksvertretung anerkannt zu
haben! — so geschah es mit persönlichen Opfern, welche der
preussische Physikus trotz seiner Übeln Position, wenn es darauf
ankommt, ebenso willig bringt wie jeder andere Beamte.
Aber Niemand wird hieraus folgern wollen, dass es so bleiben
kann wie bisher. Auch die Erscheinung darf nicht täuschen, dass
fortwährend genügender Andrang zu Physikatsstellen ist. Den
meisten von uns ist diese Thatsache erklärlich, zumal denjenigen
Kollegen, welche ländliche Verhältnisse gründlich kennen.
Freilich thut die sichere, wenn auch kleine Einnahme aus
dem Physikat etwas, auch wollen wir nicht in Abrede stellen,
dass, in kleineren Orten wenigstens, in den Augen des Publikums
der beamtete Arzt eine besondere Stellung einnimmt und dass
manche junge Aerzte denken, durch das Physikatsexamen ihre
Praxis zu verbessern. Aber alles das trifft nur zu mit gewissen
Einschränkungen, zumal dann, wenn der Arzt am Orte seiner
ursprünglichen Thätigkeit Physikus wird. Lässt er sich dagegen
versetzen, um ein Physikat zn erlangen, so sind die Verhältnisse
Die gegenwärtige Stellung der Mediziualbeamtön.
61
meistens recht ungünstig, wenigstens auf Jahre hinaus; denn
gewöhnlich ist die Praxis des Vorgängers bereits in anderen Händen,
ehe die Stelle neu besetzt wird. Und es ist nicht jedes Medizinal¬
beamten Sache, mit Hinweis auf seine amtliche Stellung von Be¬
hörden Nebeneinnahmen zu erbitten.
Auch dieser Punkt wurde bei den letzten Verhandlungen des
Abgeordnetenhauses berührt und da scheint doch eine Erklärung
für den steten Vorrath an Physikern ganz übersehen zu werden:
es giebt eine grosse Zahl junger Aerzte, die gleich nach dem
Staatsexamen gezwungen waren, in das drückende Erwerbsleben
zu gehen. Unter diesen, m H., giebt es genug, die auch trotz
mangelnder Finanzen fleissig sich weiter bilden und lediglich des¬
halb das Physikatsexamen machen, weil es ein Examen ist, welches
nicht jeder Arzt absolvirt und die sich dann auch mit Recht freuen,
wenigstens das erreicht zu haben, was sie nach ihren wirtschaft¬
lichen Verhältnissen erreichen konnten.
Ich glaubte diesen Umstand erwähnen zu sollen, um nicht
die Meinung zu lassen, als würde das Physikatsexamen lediglich
aus Sucht nach grösserem Einkommen oder Ansehen abgelegt.
Hierzu kommt, dass seit mindestens 15 Jahren jeder Physi-
katskandidat hoffte, das goldene Zeitalter für die Medizinalbeamten
anbrechen zu sehen.
Sollten wir jetzt nun wirklich vor der Erfüllung dieser Hoff¬
nung stehen, so müssen wir uns fragen: Wie weit erstrecken
sich unsere WünscheP Welche Forderungen unserer¬
seits sind berechtigt und welche sind durchführbar?
Es ist in letzter Zeit über die Verbesserung unserer Stellung
so viel geschrieben, dass man heute Neues nicht bringen kann.
Einmüthig anerkannt wird von allen Seiten, dass unsere
Thätigkeit nicht mehr nebenamtlich bleiben darf, dass wir
wirkliche Staatsbeamte werden müssen.
Es ist sehr zu beklagen, dass geradezu eine Scheu besteht,
den Medizinalbeamten eine gewisse Selbstständigkeit einzuräumen.
Wir können uns nicht verhehlen, dass es unter uns Heisssporne
giebt, die event. geneigt wären, über erreichbare Ziele hinaus-
zuschiessen, wenn sie mit nöthiger Vollmacht ausgestattet wären.
Dagegen lässt sich aber erwidern, dass solche Vollmacht auch die
eigene Verantwortlichkeit involvirt und dass zu eifrige Beamte
leicht zu bessern sind, sobald sie von Oberbehörden rektifizirt
werden. Warum sollten übrigens gerade beamtete Aerzte ihre
Stellung missbrauchen, nachdem wir doch gesehen haben, dass z. B.
Gewerberäthe sich in den Grenzen ihrer Befugnisse halten? Auch
würde eine Dienstanweisung gemeinsame Direktive geben, wie wir
das in andern Staaten zum allgemeinen Wohle sehen, ohne dass
Klagen laut wurden. Ueberdies hat der Ausnahmezustand bei der
Cholera am schlagendsten bewiesen, dass der Medizinalbeamte
auch weitergehende Vollmachten zu beurtheilen versteht.
Es wurde schon vorher betont, dass die Aufgaben der Ge¬
sundheitspflege den Medizinalbeamten ganz in Anspruch nehmen
62
Br. Fieütz.
und dass wir zur Zeit viel zu sehr durch allerlei Rücksichten
gebunden sind.
Wir brauchen Mittelglieder, welche die Errungenschaften
unserer Zeit dem Lande nutzbar machen, und das können nur die
Kreis - Sanitätsbeamten sein, die so zugleich im Dienste der Wissen¬
schaft stehen, indem sie gewissennassen die Experimente im Kleinen
beobachten und manches Dunkel aufklären können. Denken wir
nur an das Auftreten und die Verbreitung epidemischer Krank¬
heiten, an die Bevorzugung einzelner Orte und Landstriche. Ohne
unabhängige Beamtenstellung vermag der Physikus nicht in einem
Menschenalter seinen Kreis so kennen zu lernen, wie es die Ge¬
sundheitspflege fordert.
Und gerade in den jüngsten Tagen wird allseitig betont,
dass eine Reform nach dieser Seite Noth thut. Ein Seuchen¬
gesetz — und nehme es auch den bescheidensten Um¬
fang an — kann nicht wirksam sein ohne Beamte. Und
zwar gehören zu seiner Durchführung Beamte mit
selbstverantwortlicher Stellung.
Wer die ländlichen Verhältnisse kennt, weiss genau, dass es
unmöglich ist, sanitäre Massnahmen den unteren Polizeibehörden
zu überlassen; — das hiesse auf ihre Wirksamkeit verzichten.
Gerade hierüber müsste uns die Cholerazeit belehrt haben.
Aber wie wir heute gestellt sind, können wir nicht ohne die
schwersten persönlichen Opfer unsere Pflicht erfüllen und man
muss Finkelnburg beistimmen, welcher sich im Centrallblatt
für allgemeine Gesundheitspflege folgendermassen ausspricht:
„Es ist nicht za leagnen, dass die bisherige Ausbildongsweise and be¬
sonders &ach die äussere Lebensstellung der beamteten Aerzte es denselben an¬
möglich macht, ihre Zeit and Kräfte den Aufgaben der öffentlichen Gesundheits¬
pflege in solcher Weise zazuwenden, dass sie Überall für die heutigen Ansprüche
der letzteren als zuverlässige Organe gelten könnten. War dies schon ehedem
fühlbar, so ist es seit der hohen Bedeutung, welche die eine besondere Schulung
erfordernden und stets zeitraubenden bakteriologischen Untersuchungen für die
hygienische Praxis gewonnen haben, noch in weit erhöhterem Masse der Fall.
Will man daher den öffentlichen Gesundheitsschutz in Deutschland wirksam
reformiren, so beginne man damit, die Ausbildung und Anstellung kompetenter,
mit ausreichendem Gehalt versehener und dadurch von aller ärztlichen Privat¬
praxis ablösbarer ärztlicher Gesundheitsbeamten obligatorisch zu machen. Schon
im Jahre 1876 hat die wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in
Preussen diese Einrichtung als dringend noth wendig nachgewiesen. So lange
dieser Forderung nicht entsprochen wird, bleiben alle hygie¬
nischen Reichs- und Landesgesetze mehr oder weniger todte
Buchstaben und können unter Umständen durch einschneidende
Vollmachten mangelhaft berathener Unterbehörden sogar mehr
Nachtheil und Verwirrung als Nutzen stiften.“
Sind wir erst Beamte, dann kann und wird der Staat auch
von uns verlangen, dass wir nur das Interesse unseres Amtes
wahren. Lassen Sie mich hierbei eines Umstandes erwähnen, den
die Cholera - Erfahrungen nahe legen.
In seiner Existenz als praktischer Arzt wird der Medizinal¬
beamte während einer solchen Epidemie schwer geschädigt. Ich
habe z. B., während die Cholera in meinem Kreise herrschte, vier
Wochen lang gar nicht praktiziren können, erlebte aber auch
Die gegenwärtige Stellung der Hedizinalbeamten.
63
gleich in den ersten Tagen eine Reihe Abbestellungen und, was
am schlimmsten ist, eine Anzahl ängstlicher Familien bleibt
dauernd weg, wenn sie sehen, dass ihr Arzt immer zuerst mit
ansteckenden Krankheiten zu thun hat.
Auch der Gedanke ist nicht beruhigend für den heutigen
Physikus: „was wird aus Deiner Familie, wenn Du ein Opfer
Deiner amtlichen Thätigkeit wirst?“
Ich brauche nicht zu bemerken, dass keiner von uns durch
solche Reflexionen sich abhalten lässt, seine Pflicht in vollem
Masse zu erfüllen, aber diese Dinge dienen als Beweis, dass
uns nur eine Beamtenstellung mit Pensionsberechtigung u. s. w.
helfen kann.
Wenn wir solche Stellung wünschen, dann vertreten wir,
wie schon gesagt, weniger unser eigenes, als das Interesse des
Staates und wird uns, wie wir aus den wohlwollenden Aeusse-
rungen des Herrn Ministers schliessen dürfen, diese Stellung bald
zu Theil, dann erledigen sich alle Nebenfragen ganz von selbst.
Hierhin rechne ich vor Allem unser Verhältniss
zu den praktischen Aerzten.
Leider ist dasselbe seit Jahren getrübt und ich muss ge¬
stehen zum grössten Theil durch unsere eigene Schuld, nachdem
die Aerzte sahen, dass wir unsere Einnahmen unter Berufung auf
unser Amt resp. unser nicht angemessenes Gehalt zu verbessern
bestrebt waren. Erfahrene Medizinalbeamte sind der Meinung,
dass wir mit allen Nebeneinnahmen dem Gemeinwohle eher
schaden als nützen, weil sie unsere Zeit absorbiren. In erster
Linie kommen wir aber in eine schiefe Stellung zu den prakti¬
schen Aerzten oder sind wir vielmehr schon gekommen, wie uns
die Vorbereitungen zu den Aerztekammerwahlen und andere Ver¬
handlungen gezeigt haben.
Besonders nachtheilig war in dieser Beziehung die Diskussion
im Jahre 1886 über die öffentlichen Impfungen. Noch weniger
sind Nebeneinnahmen aus bahnärztlichen und anderen Stellungen
geeignet, uns in der amtlichen Thätigkeit zu fördern.
Es ist überhaupt ein eigen Ding mit allen solchen Neben¬
einnahmen. Das wird sich aus der Zusammenstellung zeigen,
welche der Herr Minjgter angeordnet hat. Da sollen Physiker mit
6—10000 Mark Einnahmen figuriren und zwar mit Einnahmen,
welche ihnen sozusagen nebenamtlich zufliessen. Wenn man hier¬
aus aber folgern wollte, das betreffende Physikat bringe für alle
Zukunft 10000 Mark, so würde man sich schwer täuschen; denn
die Einnahmen hängen durchweg nicht am Amte, sondern an der
Person und bei Neubesetzungen fängt jeder wieder von vorne an.
Und wie verschieden liegen die Verhältnisse in den einzelnen
Bezirken! Der eine Physikus impft den halben Kreis, der andere
hat überhaupt keinen Impfbezirk. Zu Bahnarztstellen nimmt man
wohl den Medizinalbeamten, wenn er sich rechtzeitig meldet.
Aber wie soll in der grossen Stadt der Beamte wissen, dass eine
der vielen Bahnarztstellen frei wird? In Halle z. B. bin ich der
einzige Medizinalbeamte, welcher eine kleine Bahnarztstelle hat
64
Br. Fielitz.
und zwar wurde mir dieselbe direkt von einem befreundeten
Kollegen übergeben, der sie nicht mehr haben wollte — alles
andere ist in den Händen der praktischen Aerzte und vererbt sich
von Bekannten zu Bekannten. Aehnlich geht es mit den meisten
Nebeneinnahmen und ich halte das für einen Segen, sobald wir
wirklich als Gesundheitsbeamte angestellt werden. Eigentlich
sollte man als Nebeneinnahmen doch nur Gebühren aus sanitäts¬
polizeilichen oder höchstens gerichtsärztlichen Geschäften rechnen.
Diese werden uns von den praktischen Aerzten gewiss gegönnt.
In der Deutschen Med. Wochenschrift behauptet Dr. Goltz,
die Regierung sei in den letzten Jahren bemüht gewesen, die
Stellung der beamteten Aerzte gegenüber der der nicht be¬
amteten, „mehr moralisch als pekuniär zu heben“ und führt hier¬
bei an: die Nothwendigkeit amtsärztlicher Atteste bei Aufnahme
Geisteskranker in Irrenanstalten und bei Ausstellung von Leichen¬
pässen. „Dadurch werde auch das Publikum verleitet, das Urtheil
des beamteten Arztes höher zu stellen, als das des nicht beamteten
und dadurch leide der ganze ärztliche Stand Einbusse an seinem
Ansehen.“
Diese Befürchtung ist nicht zu theilen, auch liegen sehr
gewichtige Gründe vor, dass der Staat für gewisse Zwecke amts¬
ärztliche Atteste fordert, die — nebenbei gesagt — von einer
ganzen Anzahl praktischer Aerzte nicht oder höchst ungerne aus¬
gestellt werden und ich bin fest überzeugt, dass auch im Attest¬
wesen kein Zankapfel mehr gefunden wird, sobald wir als selbst¬
ständige Beamte aus der unleugbar scharfen Konkurrenz mit den
nicht beamteten Aerzten ausscheiden.
Dass wir heute nicht darüber zu debattiren brauchen, ob uns
später das Betreiben ärztlicher Praxis gestattet werden soll oder
nicht, erscheint mir deshalb klar, weil auch diese Frage sich
einst von selbst regeln wird. Sind wir Beamte mit angemessener
Beschäftigung, dann beschränkt sich die Praxis unter allen Um¬
ständen und die Zeit wird nicht ferne sein, wo die Mehrzahl der
Gesundheitsbeamte gar nicht mehr in der Lage ist, ärztliche
Praxis auszuüben, wie sich das genau so bei den Reg.-Med.-Räthen
ohne staatliches Verbot gemacht hat.
Gut ist es jedenfalls, ja sogar nothwendig, dass die Medizinal¬
beamten Aerzte mit möglichst praktischer Erfahrung sind, auf der
andern Seite wird es später nicht mehr Vorkommen, dass es junge
Physiker giebt, welche erst 4 — 5 Jahre Arzt waren.
Kurz das sind Dinge, welche durch die Macht der Verhält¬
nisse besser geordnet werden, als durch lange Erwägungen und
Beschlüsse.
Unter allen Umständen haben aber die praktischen Aerzte das
grösste Interesse daran, die Medizinalbeamten so situirt zu sehen,
dass diese ärztliche Thätigkeit höchstens als Nebenbeschäftigung
betrachten. Ist solche Stellung erreicht, dann wird sich auch der
Sturm legen, den nicht ganz mit Unrecht der Seuchengesetzent¬
wurf unter den Aerzten entfesselt hat-
Zwar bringt der Entwurf insofern nichts Neues, als auch
Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten.
65
seither schon der beamtete Arzt berufen war, unter Umständen
den Ausbruch einer Epidemie zu konstatiren. Aber dadurch
wird der Arzt gewissermassen unter den Sanitätsbeamten gestellt,
dass ihn dieser vernehmen kann und dass es dem Laien gegen¬
über stets den Eindruck machen wird, als übe der Medizinalbeamte
eine Kontrole des Arztes aus. Weniger fühlbar ist das in grossen,
als in kleinen Städten. Denken wir uns den Physikus mit 1 oder
2 Kollegen. Nur die Kranken des Physikus werden nicht kon-
trolirt, während diejenigen der anderen Aerzte vom beamteten
Kollegen besucht werden, sobald es sich um eine der Anzeigepflicht
unterliegende Krankheit handelt. Soll da nicht der ungebildete
Mann auf den Gedanken kommen, dass dem einfachen Arzte
gewisse Kenntnisse abgehen? Wir müssen gestehen, dass hier¬
durch die Aerzte in eine üble Lage kommen und dürfen uns nicht
wundern, wenn bei allen Erörterungen des Entwurfs dieses Miss¬
verhältnis obenan steht.
Durchaus zutreffend hat das Graf in seiner Rede am 5. März
geschildert. Er folgert gerade hieraus die Dringlichkeit der
Medizinalreform, zumal ohne die freudige Mitwirkung der Aerzte
ein Seuchengesetz nie zur vollen Geltung kommen könne.
Ist die Reform durchgeführt, dann wird auch das Seuchen¬
gesetz Segen bringen, dann wird auch die Klage des ärztlichen
Standes verstummen. Auch brauchen dann die Aerzte nicht so
grossen Werth darauf zu legen, dass die Medizinalbeamten nicht
ohne sie die Kranken besuchen sollen. Das ist ein heikler Punkt,
der sich unter heutigen Verhältnissen nicht zu Aller Zufriedenheit
erledigen lässt. Ich halte es für angemessen, wenn der Physikus
den behandelnden Arzt von seinem Kommen benachrichtigt, soweit
es irgend thunlich ist. Nicht thunlich ist es z. B. mitunter
bei herrschender Cholera, wo jeder Augenblick kostbar bleibt.
Gesetzlich aber eine Bestimmung in dieser Beziehung zu treffen,
ist einfach schon der Kosten wegen unmöglich. Denn würde
gefordert, dass der behandelnde Arzt auf die Anmeldung des
Medizinalbeamten sich ebenfalls einstellte, so wü. le er auch Be¬
zahlung verlangen. Ausserdem fragt es sich doch recht sehr, ob
der Arzt stets geneigt wäre, auf eine Berufung des Physikus
rechtzeitig zu erscheinen.
Noch unberechtigter ist die Forderung, welch Goltz auf¬
stellt, wenn er eine Konstatirung ansteckender Kran! leiten durch
Amtsärzte für unnöthig hält und meint, die Medi. malbeamten
könnten sich auf die Feststellung des behandelnden Vrztes ver¬
lassen. Er verlangt, dass die Aerzte mit allen Mitteln dahin
streben, dass für das neue Gesetz eine Fassung gefunden wird,
aus der klar hervorgeht, dass der beamtete Arzt nicht berechtigt
ist, Kranke nicht beamteter Aerzte zur Feststellung der Diagnose
zu besuchen.
Dieser Kritiker übersieht vollständig, dass die Bestätigung
der ärztlichen Diagnose durch den Medizinalbeamten nicht der
Zweck des sanitätspolizeilichen Einschreitens ist, sondern nur den
Ausgangspunkt bildet für die nöthigen Massnahmen. Wenn
5
66
Dr. Fielitz.
solche vom Sanitätsbeamten in wirksamer Weise angeordnet
werden sollen, kann es nur für den bestimmten Fall geschehen
und selbstverständlich muss diesen Fall der beamtete Arzt auch
gesehen haben. Sonst könnte statt eines Seuchengesetzes eine
gedruckte Anweisung an die Polizeibehörden gegeben werden, wie
sie sich bei jeder ärztlichen Anzeige zu verhalten hätten. So
einfach spielt sich die Bekämpfung der Seuchen nicht ab.
Das Publikum und auch der jetzt so vielfach ins Treffen
geführte „ängstliche Kranke“ wird sich durchaus nicht mehr über
den Besuch des Medizinalbeamten alteriren, wenn dieser die ent¬
sprechende staatliche Stellung einnimmt und dem gewöhnlichen
Manne nicht mehr einfach als „ein andrer Doktor“ erscheint.
Wir sehen, Alles drängt in der Jetztzeit dazu, dem Medizinal¬
beamten eine gesicherte Existenz zu geben. Wir sehen aber auch
aus den kurzen Ausführungen, dass sich alle Unterfragen von
selbst erledigen werden und dürfen deshalb im vollen Vertrauen
auf die Zusicheruugen des Herrn Ministers hoffen, dass auch das
letzte Hinderniss zu einer gedeihlichen Reform — der Geld¬
mangel — sobald als möglich beseitigt wird.
Die letzte Nummer unsrer Zeitschrift bringt einen Artikel
aus den „Berl. neuesten Nachrichten“, welcher gewissermassen
einen Besoldungsplan aufstellt. Derselbe ist offenbar von einem
Sachverständigen verfasst und bringt im Grossen und Ganzen das,
was unsern Anschauungen entspricht. Indessen meine ich, dass
hier nicht der Ort ist, über die event. Höhe unsres Einkommens
und die Flüssigmachung der erforderlichen Mittel zu debattiren.
Aus dem Gesagten ergiebt sich von selbst, dass eine einfache
„Gehaltszulage“ nichts nützen kann, sondern nur die Einreihung
der Kreisphysiker unter die pensionsberechtigten Staatsbeamten.
Ich stelle deshalb der Versammlung anheim zu beschliessen,
der Vorstand des Vereins möge dem Herrn
Minister unsern Dank aussprechen für die den
Medizinalbeamten gezollten Worte der Aner¬
kennung und Sr. Exzellenz die einmüthige An¬
sicht des Vereins gehorsamst unterbreiten, dass
eine erspriessliche Thätigkeit der Kreisphysi¬
ker auf dem Gebiete der öffentlichen Gesund¬
heitspflege dauernd nur möglich ist, wenn sie
zu pensionsberechtigten Staatsbeamten mit
ausreichendem Gehalte und genügender Kom¬
petenz gemacht werden.
(Lebhafter Beifall.)
Vorsitzender: Ich eröffne die Diskussion.
H. Bez. - Phys. San. - Rath Dr. Litthauer (Berlin): Ich möchte blos die
Bitte an den Herrn Vortragenden richten, in die vorgeschlagene These auch die
Bemerkung einzuflechten, dass die Verbesserung der Stellung der Mediziual-
beamten sowohl im Interesse der gesammten Bevölkerung, als im Interesse der
privatärztlichen Kreise gelegen ist.
H. Kr.-Phys. Dr. Fielitz: Ich hatte gerade gemeint, dass die von mir
vorgeschlagene kurze Form genügte, weil daraus hervorgeht, dass eine gedeih¬
liche Thätigkeit der Kreisphysiker nur bei Aenderung ihrer Stellung möglich ist.
Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten.
67
H. Kr.-Phys. Dr. Jacobson: leb meine, wir können dem Vorschläge, den
der Herr Referent gemacht hat, ohne Weiteres zustimmen, und wir werden auch
den Ausführungen desselben kaum etwas Sonderliches hinzuzufügen haben, ln
der That drängt Alles dahin, dass der Physikus nur unter solchen Umständen
seinem Amte voll und ganz obliegen kann, wenn er von der Ausübung der
ärztlichen Praxis gänzlich unabhängig ist. Ich habe aber meine Bedenken
darüber — und ich möchte vorweg betonen, dass ich das nicht zur Diskussion
stellen will — ob die Annahme des Antrages von besonderem Erfolg begleitet
sein wird. Ich meine, wenn wir auf irgend welchen Erfolg rechnen wollen, so
giebt es nur ein Mittel, und das ist, dass jeder Einzelne von uns mit seinem
Landtagsabgeordneten möglichst oft Rücksprache nimmt und ihn so lange bearbeitet,
bis er von ihm endlich eine zusagende Antwort erhält. Ich bin der Ansicht,
nur dann, wenn von Seiten der Landesvertretung aus die Sache immer wieder
angerührt wird, wird auch von Seiten der Regierung, der ich natürlich
alles Wohlwollen gegen uns zutraue, ernstlich der Qeldfrage so nahe getreten
werden, dass eine Veränderung unserer Stellung in dem Sinne, wie wir es
wünschen, erfolgen wird.
H. Elr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: Das ist ja ganz schön, aber
ich glaube, es ist zur Genüge geschehen. Von Seiten des Landtages steht gar
nichts im Wege, denn dieser hat sich seit Jahrzehnten bereit erklärt, die Mittel
zu bewilligen. Das Hinderniss liegt lediglich in der Regierung, in dem Finanz¬
minister. Seit einer Reihe von Jahren ist alljährlich im Landtage die Sache zur
Sprache gebracht worden; sie fand allseitig Entgegenkommen und wurde mit
Wohlwollen begrüsst. Insbesondere haben sich die Abgeordneten Dr. Graf,
der Landrath von Schwarzkopf, Regierungspräsident von Pilgrim,
Dr. Langerhans und Andere der Angelegenheit warm angenommen und nie¬
mals ist die Forderung, dass für die Medizinalbeamten eine andere Stellung
geschaffen werden muss, einem Widerspruch begegnet. Also von solchem neuen
Angriff kann man sich nicht besonders viel versprechen. Es ist vielleicht
wünschenswerth, dass er alle Jahre wieder erfolgt, aber, wie gesagt, die Abge¬
ordneten widerstreben nicht, die Schwierigkeit liegt lediglich an der Staats¬
behörde. Unser Medizinalminister hat sich nun in der letzten Verhandlung
ziemlich stark engagirt, aber auch er sagt: das Hinderniss liegt in den finanziellen
Verhältnissen. Wenn man dieses beseitigt, dann ist uns geholfen.
Vorsitzender: Ich kann doch diesen Ausführungen nicht ganz beitreten.
Ich habe häufig Herren in meinem Bezirke gefragt, ob sie der Praxis entsagen
wollten, und da haben sie mir eigentlich Alle, wenngleich mehr oder weniger
verklausulirt erklärt: — es sind mehrere von den Herren zugegen — nein, wir
möchten die Praxis nicht entbehren. Sie stehen sich auch im Allgemeinen, Gott
sei Dank, in meinem Bezirke recht gut, insbesondere im Verhältniss zu den
Regierungsmedizinalräthen; denn das aus ihrer gesammten Berufsthätigkeit
ihnen entstehende Einkommen geht im Allgemeinen über dasjenige der Regie¬
rungsmedizinal - Räthe hinaus. Wenn wir also einmal die Verhältnisse der
Medizinalbeamten ordentlich reformiren wollen, müssen wir nicht nur von den
Kreismedizinalbeamten reden, sondern auch die Regiernngsmedizinalbeamten in
Betracht ziehen (Zustimmung) und prüfen, ob die amtlichen Einkünfte derselben
zu ihrer Arbeitslast in angemessenem Verhältnisse stehen. Es ist kaum noch
scherzweise gesprochen, wenn ich sage, dass ich an einer Glutaeitis chronica
leide vom ewigen Sitzen. Ich habe in den letztsn 7,8 Monaten, und zwar nicht
etwa allein aus Anlass der Choleragefahr, so viel gesessen und von Morgens
früh bis Abends spät gearbeitet, Gutachten und allerhand Verwaltungssachen,—
dabei leider auch viel kleinen kalkulatorischen Kram, der eigentlich uusereinem
gar nicht zukommen sollte (sehr richtig) —, dass ich nicht Zeit gehabt habe,
eine Stunde spazieren zu gehen, und es mir wegen Mangel an Zeit oft schwierig
geworden ist, meine nothwendigsten häuslichen Geschäfte zu besorgen. Sie
werden mir zugestehen, das sind üble Verhältnisse!
Es ist hier bei Gelegenheit des Seuchengcsetzes davon gesprochen worden,
dass, falls die Medizinalbeamten mit den praktischen Aerzten in Konflikt
kommen, eine weitere Instanz angerufen werden soll; da wird natürlich auch
wieder der Regierungsmedizinalrath eintreten sollen. Man setzt voraus: der
muss es besser verstehen. Das ist ja sehr schätzbar; indessen in welcher Weise
soll er dazu kommen, es besser zu verstehen? Entweder er muss tüchtig iu
5*
68
Dr. Fielitz.
der Praxis geblieben sein, oder er muss doch wenigstens die Möglichkeit gehabt
haben und fortdauernd haben, in der Literatur Allem, was auf seinem Gebiete
passirt, gründlich zu folgen. Aber bei dem arbeitsvollen Leben, das wir Medizinal-
räthe zu führen haben, sind wir kaum noch im Stande, die Zeitung zu lesen.
Ich weiss nicht, ob die Arbeitslast der Regierungsmedizinalräthe überall eine
so grosse ist, aber annähernd wird sie wahrscheinlich auch anderwärts so sein,
wenngleich ich wohl einen Bezirk habe, in welchem am meisten zu thun ist.
Wir müssen entlastet werden, und zwar hauptsächlich von der widerwärtigen
Kalkulaturarbeit, damit wir für wissenschaftliches Leben genügende Zeit be¬
halten. Es wäre den Regierungsmedizinalräthen also verhältnissmässig leicht zu
helfen. Ich wenigstens verlange gar nicht einmal mehr Gehalt, obgleich es in
der Ordnung wäre, dass man unsere Gehälter denen der anderen Regierungs¬
beamten vollständig gleich setzte. Ich bin einer der ältesten Regierungsmedi¬
zinalräthe und gewissermassen zufällig auch dahin gekommen, dass ich schon
seit längerer Zeit das höchste Gehalt beziehe. Dieses ereignete sich dadurch,
dass bei der Einrichtung der Regierungsmedizinalrath - Stellen in der Provinz
Hannover im Jahre 1885 die Zahl der höher dotirten Stellen vermehrt wurde.
Früher gab es in Preussen nur 2 Stellen mit höchstem Gehalt, seit dem glaube
ich, giebt es 4 oder 5. Ich beziehe 6000 Mark Gehalt. Sie werden zugeben,
dass das nicht gerade übermässig ist. (Sehr richtig!) Nun möchte ich einmal
fragen: auf ein wie hohes Gehalt machen Sie für den Kreisphysikus Anspruch?
Es ist so häufig davon gesprochen worden, dass er selbstständig gestellt werden
so 11, aber niemals hat einer von den Herren gesagt, wie viel er haben muss.
Das muss man doch auch wissen: wieviel gehört zu einer Wirtschaftsführung
in den Verhältnissen, in denen in der Regel der Kreisphysiker leben will; wie
viel muss er haben? (zum Vortragenden:) Sagen Sie es gefälligst einmal nach
Ihrer Schätzung!
H. Kr.-Phys. Dr. Fielitz: Ja, m. H., unser Herr Vorsitzender hat mich
offenbar ziemlich missverstanden. Ich habe absolut nicht eine Lanze dafür
brechen wollen, dass wir ohne Aenderung unser Stellung mehr Geld erhalten
sollen; denn ich setze voraus, dass die Meisten unter uns in der Lage sind, auch
ohne Erhöhung des Physikatsgehalts leben zu können. Ich selber bin in der
Lage gewesen, die grösste Zeit meines Lebens sehr grosse Praxis zu besitzen
und weiss das recht wohl zu schätzen, und da würde es mir auch heute schwer
werden, die Praxis etwa aufzugeben. Aber, m. H., wenn wir uns einmal jetzt
fragen: was fordert das Interesse der Gesundheitspflege, dann kommen doch
diese Bedenken erst in zweiter Linie. Ich wünsche von Herzen den Regierungs¬
medizinalräthen grösseres Gehalt und auch recht viel Zeit; aber davon zu reden,
ist jetzt unmöglich angebracht. Auch darüber können wir unmöglich debattiren,
wieviel wir verlangen. Mir wird es wenigstens nicht einfallen, zu sagen: ich ver¬
lange allermindestens zu Anfang 1000 Thaler und zum Schluss 2000 Tlialer.
Wenn in irgend einer Zeitung ein Plan über das den Physikern zu gewährende
Gehalt gestellt wird, so wird Niemand etwas dagegen haben, hier aber brauchen
wir uns darüber nicht den Kopf zu zerbrechen; das wissen die Herren in der
Regierung viel besser als wir. Sie brauchen auch nur nach dem Nachbarstaat
Hessen zu gehen (Zuruf: Sachsen) — oder nach Sachsen und zu sagen: zeigt
uns eueren Besoldungsplan. Der Physikus hat ja auch noch Nebeneinnahmen;
also deswegen genügt es ja vollständig, wenn er ein mittleres Gehalt hat. Nur
muss er so gestellt werden, dass er nicht in allererster Linie gezwungen ist,
auf Praxis zu sehen und dadurch in Konflikt mit seinem Gewissen gebracht zu
werden. Das ist die Hauptsache. Wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben. Auch
wenn wirkein Seuchengesetz bekommen, müssen wir doch sagen: wir werden
viel zu gering bezahlt für das, was wij* leisten müssen. (Zu¬
stimmung.)
Vorsitzender: Damit bin auch ich immer einverstanden gewesen und ich
habe es immer hervorgehoben, dass der Physikus oder der Kreismediziualbeamte
ein höheres Gehalt bekommen müsse. Das unterliegt keinem Zweifel und ist
auch noch von Niemand bestritten worden. Aber jetzt ist die Frage, ob die
Medizinalbeamten überhaupt von der Praxis losgemacht werden sollen, und es
geht die Strömung allgemein dahin: sie sollen gar keine Praxis mehr treiben.
Das halte ich für ausserordentlich bedenklich. Der Medizinalbeamte kann nicht
in späterem Alter in das Amt hineintreten, er muss ziemlich früh hineinkommen,
Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten.
69
und ob da die Erfahrungen und Kenntnisse, welche er aus der ärztlichen Praxis
mitbringt, so fest sitzen, dass sie genügend für die ganze übrige Lebenszeit
dnrchhalten, bezweifle ich. Ich will darüber hinweggehen, dass mit dem gänz¬
lichen Heraustreten aus der ärztlichen Praxis auch jene Eigenthümlichkeit des
Wesens verloren geht, welche dem Arzte als solchen vortheilhaft steht und Ver¬
trauen erwirkt; aber das scheint mir doch sehr wichtig und ausser Zweifel zu
sein, dass damit eine grosse Zahl von Gegenständen der Vergessenheit anheimfällt
und dem Gedächtnisse entzogen bleibt, welche dem vollgcbildeteu Arzte nicht
fehlen sollte. Ich erwähne nur beispielsweise die Menge von neuen Arznei¬
mitteln, Giften u. s. w., mit denen der Medizinalbeamte gelegentlich gutachtend
zu thnn bekommen kann. Ja, wer nicht in der Praxis stehend Veranlassung
hat, sich hin und wieder mit diesen Sachen zu beschäftigen, bekümmert sich
nicht darum und wirft schon gewohnheitsmässig die betreffenden Anzeigen in
den Papierkorb. So giebt es auf dem Gebiete der ärztlichen Technik Mancherlei,
was kaum beachtenswerth erscheint, den praktizirenden Arzt jedoch interessirt,
und dieser findet darin zahlreiche Handhaben, welche ihn fast unwillkürlich
dahin bringen, mit den Fortschritten der Wissenschaft mitzugehen. Ich halte
es deshalb für nöthig, dass dem Physikus auch die Praxis nicht untersagt wird
(Znruf: Das verlangt auch Keiner). Ja, in der neuen Zeit geht die Strömung dahin.
Dann wundere ich mich immer wieder darüber, dass es heisst, der Physikus
hat eine so unselbstständige Stellung, er hängt so sehr ab von den oberen Be¬
amten, von dem Landrath u. s. w. Ja, das ist ganz gewiss nur Sache der
Herren selbst. Soweit ich es kenne, besteht in meinem Bezirk ein solches Ver¬
hältnis nicht. Da ist man in dienstlichen Angelegenheiten im Allgemeinen
äusserst entgegenkommend und wird auch in gesellschaftlicher Beziehung Jedem
die gebührende Stellung gern eingeräumt. Wohl Niemandem ist es bisher beige¬
kommen, das amtliche Verhältniss so aufzufassen, als ob der Physikus sich Ein¬
nahmen vom Landrath erbitten sollte, oder als ob der Landrath Einnahmen, die
er disponibel hätte, dem Physikus zuwenden sollte. Eine solche Auffassung hat,
wie ich meine, bei uns niemals gewaltet; die Physiker sind in dieser Beziehung
vollständig freie Leute und haben deshalb auch wohl weniger das Bedürfnis,
dass ihre Stellung geändert werde, als dass ihre in mannigfacher Beziehung nicht
mehr einwandsfreien Gehaltsverhältnisse anderweitig geregelt werden.
H. Kr.-Phys. Dr. Fielitz: Ich habe eigentlich gerade das, was der Herr
Vorsitzende sagte, in meinen Ausführungen zu widerlegen gesucht, und ich
müsste noch einmal von vorne anfangen, wenn ich darauf erwidern wollte.
Es bleibt mir nur übrig, auf etwas hinzuweisen, was der Geh. Bath Dr.
Kanzow doch ausser Acht lässt. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass in den Be¬
zirken, wo ein gutes Verhältniss zwischen Landrath und Physikus existirt, es lediglich
auf die Persönlichkeiten ankommt, die sich gegenüberstehen. Das wissen wir Phy¬
siker alle. Ich speziell habe einen vorzüglichen Landrath und stehe mich vortrefflich
mit ihm. Aber das ist doch kein gesetzliches Abkommen. Wenn der Physikus erst
immer seine persönliche Liebenswürdigkeit mit in die Wagschale werfen muss,
wo bleibt denn da seine selbstständige Stellung ? Was heisst überhaupt jetzt eine
selbstständige Stellung? Die giebt es für den Physikus in keiner Weise! Er
ist ja nicht einmal berechtigt, in eine fremde Wohnung zu gehen; es kann ihn
Jeder hinauswerfen, wenn er hinkommt, ohne dass der Landrath es angeordnet
hat. Die einzelnen Physiker reden sich ein, sie haben ein Recht; abor wenn sie
hinkommen, so werden sie einfach an die Luft gesetzt. Sie haben in den Woh¬
nungen gar nichts zu thun; nur dann, wenn sie von der Polizei hingeschickt
werden.
Dann möchte ich noch auf eins znrückkommen: dass es in Rücksicht auf
das eventuelle Seuchengesetz, auch wenn es sich nur auf die Cholera beschränken
sollte, nicht genügen wird, die Physiker besser zu bezahlen, sondern sie vor
allen Dingen so zu bezahlen, dass sie wirklich aus der scharfen Konkurrenz mit
den praktischen Aerzten Ausscheiden. Wenn das nicht geschieht, werden wir
noch die unliebsamsten Sachen mit den Aerzten erleben; und dass wir ohne die
praktischen Aerzte bei allen Sanitätsmassnahmen nicht Auskommen können, muss
jeder erfahrene Mcdizinalbeamte sagen. Denn er ist in letzter Linie absolut
daranf angewiesen, sich das Vertrauen der Aerzte im Bezirk zu erhalten; ohne
das kann er nicht genügend Auskommen. Ich glaube aber nicht, dass unter uns
diese Ansicht so sehr besteht, und dass es auch unter uns für nothwendig
70
Dr. Fielitz.
gehalten wird, ohne Weiteres dem Physikus die Praxis ganz abzunehmen Ich
glaube auch nicht, dass dies von Regierungskreisen beabsichtigt wird. Aber
sollte das selbst beabsichtigt werden und später ein spezielles Verbot kommen:
der Sanitätsbeamte darf nicht mehr Praxis troiben, so wird dieser noch immer
in einer anderen Position sein, als der Medizinalrath. Denn wir haben ja ver¬
möge solcher Gesetze, wie sie jetzt gemacht werden sollen: des Seuchengesetzes,
ebenso wie bisher vermöge des Regulativs vom Jahre 1835, immer wieder Ge¬
legenheit, fortgesetzt Kranke zu untersuchen und zu beobachten, wir kommen
doch niemals so aus der Praxis heraus, wie die Regierungsmedizinalräthe; nur
dass wir dann natürlich nicht in der Lage sind, mit allen möglichen Medika¬
menten den Leuten beizuspringen. Und das wollen wir auch gar nicht, sondern
wir sollen nur eine Diagnose stellen und die sanitätspolizeiliche Seite vertreten.
Also, m. H., ich möchte Sie bitten, heute nicht wieder in der Weise zu
schliessen, wie das früher geschehen ist. Der von mir vorgeschlagene Antrag
ist eine einfache, ganz unschuldige Danksagung an den Herrn Minister; in der
wir gleichzeitig seinen Ausführungen im Abgeordnetenhause zustimmen. Hierzu
sind wir aber als Medizinalbeamte mindestens ebenso verpflichtet, wie die Herren
im Abgeordnetenhause und andere Leute, denen die Angelegenheit ferner als
uns liegt. M. H., wenn wir erklären, „dass auf dem Gebiete der öffentlichen
Gesundheitspflege eine erspriessliche Thätigkeit der Kreisphysiker dauernd nur
möglich ist, wenn sie zu pensionsberechtigten Staatsbeamten mit ausreichendem
Gehalte und genügender Kompetenz gemacht werden,“ so stellen wir uns damit
auf denselben Standpunkt, auf dem der Herr Minister steht. Früher, im Jahre 1886,
gab es noch eine ganze Reihe unter uns, die sich mit Hand und Fuss dagegen
wehrten, dass Aenderungen in Bezug auf unsere Stellung vorgenommen werden
sollten, weil sie damals noch nicht so überzeugt waren, dass es nöthig war.
Man dachte, es wäre auch bei den kleinen Verhältnissen möglich, dass man bei
grosser Praxis das — verzeihen Sie den Ausdruck — „lumpige“ Physikat neben¬
her mitmachen könnte; aber wer die Sache ernst nehmen will, wird zugeben
müssen, dass dies absolut unmöglich ist.
H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: M. H.! Die Frage, ob
die Praxis ganz aufzugeben sei, steht ja augenblicklich nicht zur Entscheidung.
Allerdings bin ich der Meinung, dass, wenn die Medizinalbeamten ihre Pflicht
ganz erfüllen sollen, wenn sie der Gesundheitspflege wirksam dienen und einen
so grossen Wirkungskreis versehen sollen, wie er dann dafür nöthig ist, sie ihre
ganze Zeit und Kraft dafür brauchen müssen. Zweifelhaft kann man sicher
nicht darüber sein, dass eine irgendwie ausgedehnte Praxis den Physikus seinen
Aufgaben als Sanitätsbeamter entzieht oder ihm die Erfüllung dieser Aufgaben
in hohem Grade erschwert. Ich selber habe seit Kurzem meine Privatpraxis
ganz aufgegeben, weil ich zu viel zu thun habe. Ich bin aber — diese Art der
Beschäftigung ist bisher noch nicht berührt worden — noch Arzt an einer
Siechen- und Irrenpflegeanstalt, und bleibe dadurch also noch in Berührung mit
Kranken und mit der Praxis. Es ist diese Art der Thätigkeit übrigens eine
solche, die den Medizinalbeamten recht häufig zugängig ist.
Die Frage der Höhe des Gehaltes ist allerdings eine schwierige. Man muss
aber dabei stets in Erwägung ziehen, dass dem Physikus, wie schon erörtert ist,
auch Nebeneinnahmen aus der gerichtlichen Thätigkeit, aus dem Impfwesen, sofern
er Impfarzt ist, n. s. w. erwachsen. Jedenfalls lassen sich auch die Schwierig¬
keiten der Gehaltsfrage überwinden. Ich glaube, dass der Antrag des Herrn
Referenten in keiner Weise zu weit geht, und dass wir ihm alle mit voller
Uebcrzeugung zustimmen können.
Vorsitzender: Es hat sich Niemand mehr zum Wort ge¬
meldet. Ich schliesse hiermit die Diskussion und bringe den vom
Herrn Eeferenten gestellten Antrag zur Abstimmung. Wer für
denselben ist, den bitte ich die Hand zu erheben.
Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Dem Kollegen Fielitz gestatte ich mir,unsern verbindlich¬
sten Dank für seinen vortrefflichen Vortrag auszusprechen.
Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten.
71
Schluss der Sitzung: Nachmittags 3 Uhr. Einen grossen
Theil der anwesenden Mitglieder vereinigte sodann um 4 Uhr
Nachmittags ein Festmahl im Englischen Hause zu frohbewegtem
Zusammensein.
Den Schluss des Tages bildete Abends 9 Uhr die übliche
gesellige Vereinigung bei Sedlmayr (Friedrichstrasse Nr. 172.)
Zweiter Sitzungstag.
Dienstag, den 11. April, Yormittags 9 1 /* TTlir,
im Sitzungssaale des Langenbeck-Hauses (Ziegelstrasse).
I. Zur Lehre von der Arsenvergiftung.
H. gerichtl. Stadtphysikus u. Privatdozent Dr. Strassmann
(Berlin): M. H.l Wenn ich zum Gegenstand meines heutigen
Vortrages eine Reihe von Untersuchungen gewählt habe, die sich
im Wesentlichen mit der chemischen Seite der Arsen Vergiftung
beschäftigen, so bedarf dies wohl keiner besonderen Rechtfertigung
gegenüber dem Einwande, dass dieser Theil der Lehre von den
Vergiftungen nicht dem Gerichtsarzt, sondern dem gerichtlichen
Chemiker zusteht. In unserem Kreise wird die richterlicherseits
freilich nicht immer genügend anerkannte Thatsache keinem Zweifel
begegnen, dass der Chemiker nur für die eigentliche Analyse der
ihm übergebenen Theil e kompetent ist, dass aber die Würdigung
seiner analytischen Ergebnisse, die jedesmal zu fällende Ent¬
scheidung, ob seine positiven resp. negativen Befunde eine Ver¬
giftung beweisen bezw. ausschliessen, eine Aufgabe ist, die nur von
uns gelöst werden kann, weil ihre Erledigung physiologische und
toxikologische Kenntnisse voraussetzt, die nicht der Chemiker,
wohl aber der Mediziner sich erwirbt.
Noch von einem zweiten Gesichtspunkte aus indess wird von
uns die Kenntniss der bei Vergiftungen in Betracht kommenden
chemischen Verhältnisse verlangt. Wir haben ja dem Chemiker
das Material für seine Untersuchungen zu liefern, und die richtige
Auswahl der bei der Sektion hierzu zurückgestellten Leichentheile
kann entscheidend sein für den Erfolg der chemischen Prüfung.
Freilich wird man sagen, dass unser Regulativ in dieser Beziehung
ganz bestimmte Vorschriften giebt, die unser willkürliches Handeln
beschränken. Indess soll diese Beschränkung doch jedenfalls nur
so verstanden werden, dass wir verhindert sind, weniger, aber
nicht verhindert sind, mehr zu thun als das Regulativ vorschreibt.
Im Interesse der Sache werden wir deshalb beispielsweise in
Zar Lehre von der Arsenvergiftung.
73
vielen Fällen den Dünndarminhalt, nicht nur bei wenig gefülltem
Magen, wie es das Regulativ will, sondern auch sonst, nnd ebenso
den Dickdarminhalt zur Untersuchung bestimmen, da wir wissen,
dass bei der Vergiftung durch Phosphor der Inhalt des Mastdarms
häufig noch Theile der Substanz enthält, während dieselben bereits
aus den oberen Abschnitten des Verdauungsapparates verschwunden
sind, da ferner neuere Untersuchungen aus Schmiedeberg’s
Laboratorium gezeigt haben, dass bei der Vergiftung durch
Morphium, auch wenn dieselbe subkutan erfolgt ist, die Aus¬
scheidung des Giftes grossentheils durch den Darm stattfindet.
Die Beobachtung, dass Strychnin mitunter ausschliesslich nur noch
in der Leber aufgefunden wird, wird uns veranlassen, nicht nur
Stücke, wie es heisst, dieses Organes, sondern auch beträchtliche
Stücke desselben zurückzustellen u. s. w.
Von beiden Gesichtspunkten aus, in Bezug auf die Beur¬
teilung des analytischen Befundes, wie in Bezug auf die Auswahl
der zu untersuchenden Organe scheinen mir die in Folgendem zu
besprechenden Versuche von einer gewissen Bedeutung um so
mehr, als sie sich in der Hauptsache auf diejenige Vergiftung
beziehen, welche zwar nicht mehr beim Selbstmord, wohl aber bei
den eigentlichen kriminellen Giftmorden immer noch in erster
Reihe steht.
Diese Versuche gelten im Wesentlichen der Frage, ob oder
vielmehr inwieweit im Magen befindliche Gifte an der Leiche
durch Diffussion in weitere Organe einzudringen und somit eine
während des Lebens stattgehabte Resorption des Giftes vorzu¬
täuschen vermögen. Ich sage inwieweit, denn dass überhaupt
Diffusionsvorgänge an der Leiche stattfinden, lehrt uns ja das Bei¬
spiel der Galle und des Blutes bei unseren Sektionen täglich.
Ich sehe hierbei ab von den eigentlichen Aetzgiften; bei diesen,
also besonders bei den Mineralsäuren mit den Laugen, ist es ja
bekannt, dass sie auch ohne Perforation durch die krankhaft ver¬
änderte Magenwand hindurch difiiindiren können. Seltener sieht
man das Gleiche bei organischen Säuren wie der Oxalsäure.
Meines Wissens den ersten Fall, in dem eine solche Diffusion bei
der Karbolvergiftung beobachtet worden ist, hat mir ein glück¬
licher Zufall gestern zur Sektiou gebracht. Ich habe mir deshalb
gestattet, Ihnen die Organe dieses Falles, die Sie vielleicht auch
sonst interessiren dürften, mitzubringen; Sie sehen hier eine Aetz-
wirkung nicht nur an der äusseren Haut und dem Verdauungs-
traktus, sondern auch durch den nicht zertrümmerten Magen hin¬
durch an der linken Hälfte des Zwerchfells, der Unterfiäche der
linken Lunge, des linken Leberlappens und dem oberen Pol
der linken Niere, sowie der Milz. Alles andere war frei.
Was die nicht eigentlich ätzenden Substanzen anbetrifft, so
erscheint die Frage, ob der chemische Nachweis derselben in den
sogenannten zweiten Wegen eine Resorption derselben beweist oder
ob dies nicht der Fall und ob auch an der Leiche die Verthei-
lung des Giftes auf die verschiedenen Organe sich zu ändern
vermag, in mehrfacher Hinsicht von praktischer Bedeutuug.
74
Dr. Strassmann.
Torsellini, der, wie wir später sehen werden, hauptsächlich
diese Frage verfolgt hat, macht besonders auf die Möglichkeit
aufmerksam, dass zum Zwecke der Konservirung oder auch aus
böser Absicht, um einen Unschuldigen zu verderben, einer Leiche
Grift in den Magen eingebracht werden könnte. Würde ein der¬
artiger Gedanke auftreten, so würde man nach den bisherigen
Anschauungen bei einem Nachweis des Giftes in Leber, Nieren u. s.
w. ihn zurückweisen — und eine thatsächlich während des Lebens
erfolgte Vergiftung annehmen — seiner Meinung nach, um dies
gleich zu bemerken, mit Unrecht, da auch die Diffusion an der
Leiche ein solches Ergebniss zu Stande bringen kann.
Wäre nun selbst ein derartiger Fall bisher noch nie vor¬
gekommen, so würde uns dies nicht hindern dürfen, die Frage in’s
Auge zu fassen. Erleben wir es doch so häufig, dass uns unsere
Thätigkeit in den Gerichtssälen ganz unerwartet vor Fragen stellt,
die in dieser Weise noch nie aufgeworfen sind, und zu deren
Beantwortung dann erst die Grundlage zu schaffen zu spät ist.
Thatsächlich aber sind, wie wir noch sehen werden, von Reese
und Pr es cot solche Beobachtungen bereits gemacht worden.
In zweiter Reihe aber haben wir daran zu denken, dass ja
die Vertheilung des Giftes im Körper und zwar speziell bei der
Vergiftung durch arsenige Säure, also durch eine nur langsam zur
Lösung und Resorption gelangte Substanz uns Schlüsse ziehen
lässt auf die seit der Einführung bis zum Tode vergangene Zeit,
uns eventuell die wichtige Frage beantworten lässt, wann die
Vergiftung stattgefunden hat. Ich erinnere nur an die schönen
Untersuchungen, die Ernst Ludwig, die Brouardel und
Pouchet, Scolosonbow u. A. m. hierüber angestellt haben,
indem sie Thiere verschieden lange Zeit nach der Einverleibung
der arsenigen Säure tödteten und die Menge derselben in den
einzelnen Organen feststellten. Es ist klar, dass eine Wanderung
des Giftes an der Leiche die Verwerthung dieser Befunde einzu¬
schränken oder gar völlig aufzuheben vermag.
In dritter Reihe kommen hier diejenigen Fälle in Betracht, in
denen Vergiftung kombinirt mit einer anderen Tödtungsart auf ein
Individuum eingewirkt hat und nun zu entscheiden ist, was eigent¬
lich den Tod herbeigeführt hat, eine Frage, die dann von besonderer
Wichtigkeit ist, wenn die verschiedenen gewaltsamen Einwirkungen
von verschiedenen Personen ausgeübt worden sind. Solche Dinge
sind bereits vorgekommen. Vor Jahren hat sich hier in Berlin der
Fall zugetragen, dass ein Mädchen mit ihrem Geliebten zusammen
zu sterben beschloss; sie trank zuerst Oxalsäure; da ihr der Tod
aber zu lange zu kommen zögerte, bat sie ihn, ihr den Hals abzu¬
schneiden, was er auch that. Er selbst vermochte sich nach ihrem
Tode nicht das Leben zu nehmen und kam unter Anklage. Es
war zu entscheiden, woran das Mädchen gestorben war, war das
Gift die Todesursache, welches sie selbst genommen hatte, so war
der Angeklagte schuld- und straffrei. Begreiflicher Weise ist es
in solchen Fällen von Wichtigkeit festzustellen, ob eine Resorption
Zar Lehre von der Arsenvergiftang.
75
des Giftes mehr oder weniger vollständig eingetreten ist oder
fehlt; wenn auch die eigentliche Entscheidung, ob der Tod der
Vergiftung zur Last zu legen, auf Grund der Krankengeschichte
gefällt werden muss.
Thatsächlich ist denn auch schon zweimal bei derartiger
Gelegenheit vor Gericht die Frage aufgeworfen worden, ob das
Gift, speziell die arsenige Säure, an der Leiche in andere Organe
zu wandern vermag. Beide Fälle sind unmittelbar nach einander,
noch dazu in derselben Provinz beobachtet und im gleichen Jahr¬
gang der Casper’schen Vierteljahrschrift (Bd. XXII 1862) mit-
getheilt worden, der eine von Dorien in Lyck, der andere von
Walther in Labiau. In jenem, streng genommen nicht ganz
hierhergehörigen stand zur Frage, ob der Tod durch Arsenver¬
giftung oder durch Apoplexie, in diesem, ob er durch Arsenver-
giftung oder durch Ertränken erfolgt war; beide Mal wurde die
Beweiskraft des Arsennachweises, der in Leber und Milz, im
ersten Falle auch in Herz und Hirn gelungen war, damit ange¬
griffen, dass auf die Möglichkeit des Uebergangs in die Nachbar¬
organe an der Leiche auf exosmotischem Wege hingewiesen wurde.
Die Sachverständigen nahmen diesem Einwurf gegenüber eine
verschiedene Stellung ein; im ersten Falle erklärten 3 von ihnen,
dass der Arsenik auch am todten Körper durch Zersetzung in die
dem Magen nahe liegenden Organe übergeführt werden könne,
aber nicht in die entfernteren, wie Herz und Gehirn; der vierte
dagegen gab auch diese Möglichkeit zu, während der Vertreter
des Medizinalkollegiums bemerkte, dass ihm die Ansicht: „der
Arsenik könnte sich durch den Zersetzungsprozess auch nach dem
Tode durch den Körper verbreiten, ganz neu wäre und sich gewiss
in keiner Weise begründen lasse“.
Walther versuchte den gemachten Einwand durch Thier¬
versuche zu entkräften. Auf Grund seiner an 4 Kaninchen ange-
stellten Experimente kommt er zu dem Ergebniss, dass, so lange
die Leichen frisch sind, ein derartiger Uebergang nicht stattfindet,
wohl aber, so bald die Verwesung begonnen hat.
Schon vor Walther’s Versuchen finden sich in der Litteratur
über unser Thema einzelne Notizen bei Orfila 1 ) und Taylor 2 )
und eine Arbeit von Moltedo, Ageno und Granara, die mir
indess nicht zugänglich war. Nach ihm hat Reese in Philadelphia
dasselbe wieder aufgenommen und in zwei Mittheilungen 1879 *)
und 1890 4 ) über seine Versuche berichtet. Bei todten Thieren,
denen er arsenige Säuren, Antimon oder Sublimat in den Magen
gebracht hatte, fand er diese Körper 3—7 Wochen später in den
verschiedenen Organen der Brust- und Bauchhöhle, zunächst in den
dem Magen benachbarten, später auch in ferneren. Er giebt an,
dass Miller und Vaughan Arsen unter ähnlichen Verhältnissen
») Lehrbuch III. Bd. S. 322.
*) Medical jurisprudence. S. 157.
*) Schmidt’s Jahrbücher 1879.
4 ) Medical news 1890 11. Janaar.
76
Dr. Strassmarm.
auch im Gehirn und Rückenmark nachweisen konnten. Die gleichen
Versuche Miller’s mit Strychnin ergaben eine postmortale
Imbibition derselben in Leber, Urin und Rückenmark, nicht in das
Gehirn. Reese macht ganz besonders darauf aufmerksam, weil
derartiges in einzelnen der Vereinigten Staaten schon mehrfach
vorgekommen zu sein scheint, dass wenn einer Leiche arsen-
resp. sublimathaltige Konservirungsflüssigkeit inji-
cirt worden ist, die Entdeckung des vorausgegan¬
genen Giftmordes durch die gleichen Körper für die
Chemie ebenso unmöglich gemacht wird, wie etwa
durch die Leichenverbrennung. Er verlangt daher eine
öffentliche Kontrole und amtliche Genehmigung etwa beabsichtigter
Einbalsamirungen.
Einen ähnlichen Fall beobachtete Pr es cot 1883 in Nantes 1 ).
Bei einer 105 Tage nach dem Tode exhumirten Leiche suchte der
des Giftmordes angeschuldigte Ehemann die Bedeutung des Arsen¬
nachweises in verschiedenen Organen der Bauchhöhle damit zu
entkräften, dass er angab, unmittelbar nach dem Tode behufs
besserer Erhaltung der Leiche derselben 1 Theelöffel arseniger
Säure in Wasser gelöst in Magen und Mastdarm geschüttet zu
haben. Prescot’s daraufhin angestellte Leichenversuche ergaben,
dass nach 25 Tagen in den Magen eingeführter Arsenik in Hirn,
Leber und Lungen nachweisbar war.
Die ausgedehntesten Untersuchungen über Leichendiffusion
hat Dante Torsellini in Siena 1889 veröffentlicht*). Er
experimentirte an Fröschen, die er nach dem Tode mit den Beinen
in eine Lösung von Ferrocyankalium bängte und bei denen, wie
die Blaufärbung mit Eisenchlorid ergab, in wenigen Tagen der
ganze Körper mit der Lösung des gelben Blutlaugensalzes durch¬
tränkt war; ferner an einzelnen herausgenommenen Organen und
endlich an den Leichen von Kaninchen und Hunden, denen Arsenik
in den Magen gebracht wurde. Hierbei fand er Arsen im Gehirn,
frühestens nach 6—7 Tagen, in der Leber etwas früher, erheblich
früher in Lungen und Herz. Ihm zur Folge tritt also die Diffusion
an der Leiche bedeutend schneller ein, als es die Arbeiten früherer
Untersuchungen erwarten liessen, nur für die ersten Tage nach
dem Tode hält er eine Unterscheidung zwischen Einführung des
Giftes am Lebenden und am Todten für möglich auf Grund des
Freibleibens von Leber und Gehirn im letzteren Falle.
Die auffallende Abweichung dieser Torsellini’schen An¬
gaben von dem sowohl, was früher Untersucher gefunden, als
auch von dem, was man a priori erwarten würde, veranlasste mich
bei der Wichtigkeit des Gegenstandes eine wiederholte Prüfung
desselben vorzunehmen. Ich habe die betreffenden Versuche ver¬
eint mit Herrn Dr. Alfred Kirstein ausgeführt, und werden
wir nach erfolgtem Abschluss derselben sie gemeinsam an an-
') Gaz. inedicale de Nantes 1883.
'*) Riforma med. Napoli 1889 Nr. 145—150.
Zur Lehre von der Arsenvergiftung.
77
derer Stelle ausführlich veröffentlichen. Hier, m. H., möchte ich
Ihnen nur in Kürze die Ergebnisse mittheilen, die wir bisher
erhalten.
Ich übergehe dabei die Versuche, die wir nach Torsellini’s
Vorbild mit Ferrocyankalilösung bei Fröschen angestellt haben,
weil sie für die praktische Seite unserer Frage werthlos sind.
Unsere eigentlichen Beobachtungen über Diffusion an der
Leiche sind angestellt an den Kadavern von Kindern und von
Hunden, denen wir und zwar bei letzteren z. Th. sehr kurze Zeit
nach dem Tode arsenige Säure oder Lösungen von Kali arsenicosum,
Gentianaviolett in Pulver oder Lösung, Ferrocyankalilösung in
den Magen brachten, zumeist mittelst der Schlundsonde von der
eröflheten Speiseröhre aus.
Als das Gesammtergebniss aller unserer Versuche können
wir festhalten, dass an der Leiche eine Diffusion des Mageninhaltes
stattfindet, die durchaus stetig, ausschliesslich per continuitatem
vor sich geht, ganz in der gleichen Weise, wie bei dem demon-
strirten Karbolfall. Ein sprungweises Vorrücken, einen Transport
etwa durch die Blutgefässe haben wir nie beobachtet. Dass vom
Magen aus Arsen an der Leiche in das Gehirn eindringen kanu
ohne vorhergehende und stärkere Durchtränkung der Brust und
Halseingeweide, halten wir für ausgeschlossen.
Die Schnelligkeit der Diffusion ist zunächst abhängig von
der Menge der aufgenommenen Flüssigkeiten; je praller gespannt
der Magen durch dieselben ist, desto stärker zeigen sich begreif¬
licher Weise die DiflfusionsVorgänge. Ebenso gelingt der Nach¬
weis der fremden Substanz in den Organen natürlich desto besser,
je konzentrirter die Flüssigkeiten, je grösser ceteris paribus die
Menge der eingeführten Substanz selbst ist.
Im Uebrigen ergaben sich auch zwischen den einzelnen Sub¬
stanzen bemerkenswerthe Unterschiede. Sehr langsam wirkt das
Gentianaviolett vor; erst nach etwa 2—3 Wochen fanden wir die
ersten Spuren durch diesen Körper bewirkter Färbung an den
unmittelbar dem Magen anliegenden Theilen, am oberen Pol der
linken Niere und an der Leberkapsel, entsprechend der Konvexität
des linken Lappens.
Sehr bedeutend schneller erfolgen die Diffusionsvorgänge bei
Anwendung einer Lösung von gelbem Blutlaugensalz. Hier ergab
sich durchschnittlich schon um den zweiten Tag herum Reaktion
an der Leberkapsel links unten, um den vierten solche des Zwerch¬
fells links unten und des oberen Pols der linken Niere, um den
siebenten Tag des Zwerchfells auch oben und stärkere Durchträn¬
kung der linken Niere; in der zweiten Woche gaben die unteren
Abschnitte der linken Lunge und die benachbarten Theile des Herz¬
beutels Reaktion; erst nach der zweiten Woche zeigte auch die
rechte Lunge und die rechte Niere bei Eisenchloridzusatz Blau¬
färbung. Stets aber beschränkte sich dieselbe bei der rechten
Niere auf die Kapsel, während die linke bereits zur gleichen Zeit,
ja schon vor dieser Zeit völlig durchtränkt war. Ebenso ergab
78
Dr. Straasmann.
die Leber stets eine von links nach rechts hin allmählich ab¬
nehmende Durchtränkung.
Diese aus anatomischen Gründen ganz natürliche Bevor¬
zugung der linken Niere können wir als ein typisches Symptom
der Leichenimbibition vom Magen aus gegenüber der während des
Lebens erfolgten Vergiftung, bei der beide Nieren annähernd
gleiches Verhalten zeigen, betrachten. Sie zeigte sich, wie wir
sahen, bei beiden geprüften Substanzen und zeigt sich auch in
gleicher Weise bei den Arsenpräparaten. Diese stehen in zeitlicher
Hinsicht etwa in der Mitte zwischen Gentianaviolett und Ferro-
cyankali. Wir fanden dreimal nach 12, 14 und 16 Tagen deut¬
liche bis starke Arsenmengen in der linken Niere, nicht in der
rechten; ein Mal nach 21 Tagen Arsen in Leber und Lunge, nicht
im Gehirn; in mehreren anderen Fällen, in denen nur geringere
Mengen zur Verwendung gekommen waren, nach 12—30 Tagen
kein Arsen ausserhalb des Magens.
Wir können hiernach aus unseren bisherigen Arsenversuchen
in Verbindung mit den analogen Versuchen mittelst anderer Sub¬
stanzen Folgendes schliessen. Eine Wanderung, wenn wir so
sagen dürfen, der arsenigen Säure an der Leiche findet, wie dies
auch schon früher Autoren festgestellt haben, unter günstigen
Umständen thatsächlich statt und kann das Gift durch eine solche
bereits vor Ablauf der zweiten Woche des Leichenalters ausser¬
halb des Magens in dessen unmittelbarer Nähe nachgewiesen
werden.
Neu dagegen ist der von uns erhobene Befund des ver¬
schiedenen Verhaltens beider Nieren, und wir glauben allerdings
hier eine Thatsache entdeckt zu haben, die geeignet ist, in
vielen Fällen uns eine Entscheidung der schwierigen Frage
zu ermöglichen, ob Vergiftung oder bloss Gifteinfuhr nach dem
Tode vorliegt. Ich möchte das gewonnene Resultat dahin for-
muliren:
Steht zur Frage, ob eine Vergiftung speziell mit
Arsenik stattgefunden hat oder ob die giftigen Sub¬
stanzen erst nach dem Tode in den Magen eingeführt
worden sind, so kann die chemische Untersuchung
eventuell eine Entscheidung hierüber geben, wenn
die linke und rechte Nie re ge sondert untersucht werden.
Starker Giftgehalt des linken Organs bei Fehlen oder
nur spurweisem Vorhandensein rechts bestätigt die
Annahme der postmortalen Einführung, gleichmässige
Vertheilung widerlegt dieselbe, wenigstens für die
ersten Wochen nach dem Tode. Ich schlage demnach
vor, in allen Fällen, in denen bei der Obduktion be¬
reits die Möglichkeit der postmortalen Gifteinfuhr
erwogen wird, jede der Nieren gesondert zur Unter¬
suchung zu bestimmen.
Allerdings wird es nicht stets möglich sein, dieses Zeichen
zu benutzen. Abgesehen von Ungleichheit der Nieren durch krank-
Zu Lehre von der Areenvergiftung.
79
hafte Veränderungen und Missbildungen haben wir neben den
typischen Fällen vereinzelt, sowohl bei den Versuchen mit gelbem
Blutlaugensalz als mit Arsenik, atypische gefunden, in denen, wäh¬
rend Leber und Lungen sehr durchtränkt waren, beide Nieren
noch frei waren. Vielleicht schützte hier eine ungewöhnlich dicke
Fettkapsel die Nieren vor der Imbibition. In solchen Fällen würde
also unser Zeichen zwar nicht täuschen, aber versagen. Doch ist
wohl trotzdem auch dann eine Entscheidung möglich. Sehr deut¬
lich war nämlich, wie sonst, so auch in diesen Fällen die von links
nach rechts hin an Stärke abnehmende Imbibition der Leber mit
Ferrocyankali. Und auch in dem betreffenden Arsenversuch war
der quantitativ allerdings nicht bestimmte Gehalt links anschei¬
nend bedeutend stärker. Somit wird in zweiter Reihe eine ge¬
sonderte Untersuchung der linken und rechten Leberabschnitte,
wobei sich jedenfalls die vorherige Entfernung der Gallenblase
empfiehlt, den Befund in den Nieren unterstützen und eventuell
ergänzen können.
In dritter Reihe endlich wird die Untersuchung des Gehirns
zu verwerthen sein. Bisher haben wir niemals innerhalb einer
Zeit von etwa 4 Wochen ein Vordringen von Arsen oder Ferro¬
cyankali bis in dieses gesehen. Die Behauptung Torsellini’s,
dass in einem Falle schon mit 7 Tagen As. im Gehirn nachweis¬
bar gewesen sein soll, vermögen wir nach unseren zahlreichen
widersprechenden Resultaten nicht in Einklang zu bringen und
meinen wir, dass ein positiver Befund im Gehirn für die während
des Lebens erfolgte Vergiftung in’s Gewicht fallt.
Ich denke, m. H., Sie werden den Eindruck gewonnen haben,
dass an das eben besprochene Thema sich noch eine Reihe von
Fragen anschliessen, die der Lösung harren, — ich hebe nur die
erwähnten Einbalsamirungen heraus — und dass uns die Lehre von
der Diffusion an der Leiche ein umfangreiches, nicht so leicht zu
erschöpfendes Arbeitsgebiet eröffnet, in dem jede Theilnahme und
Unterstützung auch durch gelegentliche Beobachtungen dankbar
zu begrüssen sein wird. Dieser Gesichtspunkt war für mich be¬
stimmend, als ich es vornahm, dieser hochverehrten Versammlung
Mittheilung zu machen von den eben berichteten Arbeiten und er
mag es entschuldigen, dass ich Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch
genommen habe für einen Gegenstand, der abseits liegt von den
Fragen, welche gegenwärtig unseren Stand bewegen.
(Lebhafter Beifall.)
Vorsitzender: Wünscht Jemand zu dem Vortrage das Wort
zu ergreifen? Es ist nicht der Fall. — Im Namen des Vereins
spreche ich dem Herrn Dr. Strassmann unseren herzlichsten
Dank für seinen interessanten Vortrag aus.
80
Dr. Leppmann.
II. Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene.
H. Irren- und Strafanstaltsarzt Dr. Leppmann (Moabit):
Sehr geehrte Herren! Zu einer bedeutsamen Erscheinung unserer
nach Umgestaltung ringenden Zeit gehören die Bestrebungen, die
Wirksamkeit der strafenden Gerechtigkeit in neue Formen zu
kleiden, in welchen an die Stelle der bis in’s Kleinste ausgeklügel¬
ten Abgeltung der Schutz der menschlichen Gesellschaft vor Rechts¬
bruch und Rechtsbrechern als wesentlichster Grundsatz der Straf¬
rechtspflege mehr in den Vordergrund treten soll, als bisher.
Sie, m. H., sind wohl den Arbeiten auf diesem Gebiete,
welche hauptsächlich aus der internationalen kriminalistischen Ver¬
einigung hervorgehen, so weit gefolgt, dass Sie sich der Ueber-
zeugung nicht verschliessen werden, eins der wesentlichsten Be¬
dürfnisse der nächsten Zukunft werde namentlich in unserem
Vaterlande eine gesetzliche Regelung und Ausgestaltung des Straf¬
vollzugs sein müssen.
Deshalb dürfte es wünschenswerth sein, dass wir Aerzte uns
gegenwärtig schlüssig darüber werden, welches Maass und welche
Art von Berücksichtigung wir für diejenigen zu fordern haben,
die unbestritten einen wesentlichen Theil der Bevölkerung von
Zwangsanstalten bilden und welche wir als unsere besonderen
Schützlinge betrachten müssen: das sind die Geisteskranken und
die mit wesentlichen geistigen Mängeln Behafteten. Ihre Menge
beträgt selbst bei vorsichtiger Schätzung jeweils wohl 5 Prozent
der Gesammtinsassen von Straf-, Gefangenen- und Korrektions¬
anstalten.
Eine gesetzlich umgrenzte Fürsorge fUr dieselben besitzen
wir in Deutschland nicht; denn der §. 487 der St.-P.-0.,welcher
manchmal von Sachwaltern, zuweilen auch von Gerichtsbehörden
herangezogen wird: „Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist
aufzuschieben, wenn der Verurtheilte in Geisteskrankheit verfällt“
bezieht sich nur auf solche Geistesstörungen, deren Beginn bezw.
Erkennung zwischen rechtskräftige Verurtheilung und Antritt der
Strafe fällt.
Die so gekennzeichnete Kategorie wird aber sehr gering sein
gegenüber der Zahl derjenigen, deren geistige Störungen entweder
erst im Laufe der Freiheitsentziehung entstehen oder deren seeli¬
sche Unzulänglichkeiten erst in dem streng geregelten, geistige
und körperliche Zusammenraffung erfordernden Leben einer Zwangs¬
anstalt zum Ausdruck kommen.
Was mit diesen geschehen soll, darüber gehen in ärztlichen
Kreisen die Ansichten noch sehr auseinander, namentlich giebt es
noch viele Irrenärzte, welche die geisteskranken Strafgefangenen
als eine besondere Art von Kranken behandelt wissen wollen,
welche ihre Bescholtenheit und ihre Wesenseigenthümlichkeiten für
so bedeutsam erachten, dass sie Spezialanstalten für Sträflinge
fordern.
Dann wieder weichen die Anschauungen darin von einander
ab, ob diese Spezialanstalten selbstständig sein oder Straf- oder
Die Fttraorge für geisteskranke Strafgefangene.
81
Irrenanstaltsadnexe bilden sollen, ob die Unterbringung in solchen
Irrenabtheilungen für Strafgefangene über die gesetzliche Straf¬
dauer hinaus dauern soll oder nicht, ob dahin auch die durch Vor¬
bestrafungen gebrandmarkten, bei Entstehung oder Erkennung der
geistigen Erkrankung aber freien Personen verbracht werden sollen.
Die preussische Regierung hat sich, seitdem sie dieser
Frage durch Verordnungen näher trat, auf den Standpunkt gestellt,
dass der Geisteskranke im Strafvollzüge mit demselben Maasse zu
messen Bei, wie jeder andere Kranke. Es soll ihm zweckent¬
sprechende Behandlung zu Theil werden, es soll auf seine Minder-
werthigkeit bei den disziplinären Anforderungen Rücksicht ge¬
nommen werden und ein Aufhören der Strafe soll nur dann erfolgen,
wenn der Zustand des Kranken die Erfüllung des Strafzwecks
völlig und dauernd unmöglich macht.
Da aber zur zweckentsprechenden Behandlung von Geistes¬
kranken der Apparat einer Irrenanstalt nothwendig ist, sollten die
frisch Erkrankenden, wie dies schon in der ältesten Dienstanweisung
für die königlich preussischen Strafanstalten, dem sogenannten
Rawitscher Reglement vom 4. November 1835, ausgedrückt ist,
in öffentliche Irrenheilanstalten verbracht werden. Vom Jahre
1858 ab wurde das diesbezügliche Verfahren durch Ministerial-
Verfügungen genauer umgrenzt. Die Zeit der Kur wurde, wie
dies neuerdings auch gesetzlich im §. 485 der R.-St.-P.-O. bei
jeder Verbringung in eine von der Strafanstalt getrennte Kranken¬
anstalt gefordert wird, auf die Strafe angerechnet und erst wenn
die Unheilbarkeit sicher feststand und durch den Abschluss des zu
diesem Zwecke beantragten Entmündigungsverfahrens bekräftigt
war, erfolgte die Entlassung aus der Strafe, und die weitere Für¬
sorge für den Entlassenen regelte sich durch Massnahmen der
Sicherheitspolizei oder der Armenpflege. Seit 1886 fiel auch die
Nothwendigkeit der Entmündigung, deren Einleitung bekanntlich
nicht von der voraussichtlichen Unheilbarkeit abhängig ist, fort.
Es genügte zum Entscheid der Oberbehörde ein irrenärztliches
Gutachten, welches die Unheilbarkeit bescheinigte.
So war eine möglichst praktische Abgrenzung zwischen Ver¬
brechen und Geistesstörung im Strafvollzüge getroffen. Wenn die
königliche Staatsregierung nun seit dem 1. März 1888 als Adnex
an die Strafanstalt Moabit hierselbst eine besondere Irrenabtheilung
für Strafgefangene geschaffen hat, so ist damit keineswegs ein
Wechsel in den bisher geltenden Anschauungen, im Gegentheil
nur eine folgerichtige Weiterführung dieser Grundsätze verbunden
gewesen.
Erstens nämlich verzögerte sich die Unterbringung der
frischen, voraussichtlich heilbaren Fälle in unliebsamer Weise da¬
durch, dass sich in manchen Landestheilen die Organe der öffent¬
lichen Irrenpflege mit ihren je nach Provinz- oder Landesarmen¬
verband verschiedenartigen Aufnahmebedingungen möglichst lange
gegen die Uebernahme solcher angeblich besonders störender Ele¬
mente sträubten und weil sie ihre Verantwortlichkeit durch die
Formel, dass sie sich nicht verpflichten könnten, besondere
6
82 Dr. Leppmann.
Sicherheitsvorkehrungen für die Aufgenommenen zu treffen, ein¬
schränkten.
Zweitens aber waren die Strafvollzugsoberbehörden nicht
immer mit dem irrenärztlichen Entscheid über die voraussichtlich
unheilbaren Geistesgestörten zufrieden. Sie meinten, dass bei der
Verschiedenart der Anschauung über die Werthigkeit geistiger
Verkehrtheiten Personen aus dem Strafvollzüge ausgeschieden
würden, bei denen eine Weiterverbüssung der Strafe mit Berück¬
sichtigung ihrer geistigen Defekte noch möglich gewesen wäre.
Dann aber regte sich in den Behörden immer aufs Neue der Ver¬
dacht, als ob jede Erleichterung der Ueberführung in öffentliche
' Irrenanstalten ein besonderes Anziehungsmittel zur Vortäuschung
von Geistesstörung für Fluchtverdächtige bilden könnte und des¬
halb zögerten die Zwangsanstaltsvorstände mit ihren Anträgen
wiederum zum Nachtheil der frischen Fälle. In Folge dessen hat
das königliche Ministerium des Innern für die seinem Ressort
unterstellten Straf- und Gefangenen - Anstalten durch die Schaffung
der Moabiter Irrenabtheilung den Versuch gemacht, die möglichst
schnelle Fürsorge für heilbare und die endgültige Ausmittelung des
strafvollzugsunfähig machenden Grades unheilbarer Störungen im
Rahmen des Strafvollzuges selbst zu übernehmen.
Gegenwärtig, wo die Anstalt auf ein fünfjähriges Bestehen
zurückblickt, lässt sich wohl auch bei strenger Abwägung die
Behauptung rechtfertigen, dass sie in ihrer Wirksamkeit einen
endgültigen Beweis ihrer Daseinsberechtigung geliefert hat.
Sie hat in erster Reihe dazu geführt, Heil- und Besserungs¬
fähige möglichst rasch in zweckentsprechende Fürsorge zu bringen,
so dass wir unter 235 Aufnahmen 15 Proz. Heilungen und Besse¬
rungen trotz des wenig günstigen Krankenmaterials aufweisen
können. Wie es nämlich nicht anders zu erwarten war, befanden
sich unter den Aufgenommenen zunächst nur wenige, bei denen
eine Heilung oder Besserung von vornherein erhofft werden konnte;
es waren vielmehr meist Entartete, bei denen die ausgebildete
seelische Störung nur der Ausdruck einer langsamen Zunahme
angeborener oder im Laufe eines wechselvollen Lebens vor langer
Zeit erworbener krankhafter Eigenthümlichkeiten war. Suchten
sich doch die Straf- und Gefangen-Anstalten der vier resp. sechs
Provinzen, welche nach und nach zu Aufnahmeanträgen zugelassen
wurden, in erster Reihe von den Elementen zu entlasten, welche
ihnen bereits Jahre lang beschwerlich waren, welche aber zur
Ueberführung in eine öffentliche Irrenanstalt behufs Feststellung
der Strafvollzugsunfähigkeit zu empfehlen sie sich nicht ent-
schliessen konnten. Dieses Verhältniss wird sich mit der Zeit
entschieden bessern, denn es kommen im Strafvollzüge, wie die
Erfahrung jeden Arzt, der mit ihm praktisch in Berührung kommt,
lehrt, eine erhebliche Menge prognostisch günstiger Störungen bei
einem für den sozialen Organismus noch werthvollen Menschen¬
material vor, d. i. bei den Gelegenheitsverbrechern, bei Meineidigen,
Brandstiftern, Beleidigern, in Schlägereien Verwickelten und Aehn-
lichen, welche unter der Wucht der Bestrafung gewöhnlich bald
Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene.
83
nach Antritt der Strafe zusammenbrechen. Es handelt sich bei
diesen, abgesehen von akuten, halluzinatorischen und maniakali-
schen Erkrankungen, hauptsächlich um melancholische Formen,
welche rasch in Stupor übergehen; auch die sonst seltene Form
des plötzlichen Stumpfwerdens ohne ängstlichen Affekt, der akute
primäre Blödsinn, gehört dazu.
Diese akut erkrankten Gelegenheitsverbrecher namentlich
gilt es schnell aus dem Strafvollzüge herauszunehmen, damit sie
nicht durch Selbstbeschädigungen enden, oder beim Herumvege-
tiren in Anstaltslazarethen rettungslos verblöden.
Aber auch für die von vornherein Unheilbaren erfüllt die
Abtheilung ein Bedürfhiss. Sie sorgt dafür, dass der Strafvollzug
nicht überflüssig lange mit Elementen überlastet bleibt, welche
kein Objekt mehr für ihn sind und durch die Unwirksamkeit dis¬
ziplinären und ermahnenden Einschreitens bei Behörden und Straf¬
vollzugsbeamten nur falsche Anschauungen über das in Zwangs¬
anstalten nothwendige Mass der Züchtigungsmittel entstehen lassen.
Letztere Behauptung wird man besonders bestätigt sehen, wenn
man die nicht sehr hohe Zahl der pro Jahr statistisch festgestell¬
ten Prügelstrafen, welche als Zuchtmittel bei den männlichen
Zuchthausgefangenen noch gestattet sind, mit der Häufigkeit ihrer
Anwendung bei Leuten vergleicht, welche relativ kurze Zeit darauf
in Irrenanstalten als wirklich krank eingeliefert werden, Fälle,
wie sie Sander und Richter beschrieben haben.
Andererseits dürfte auch die Abtheilung der öffentlichen
Irrenfürsorge Vortheil bringen. Abgesehen davon, dass bei dem
täglich steigenden Bedürfniss die Eröffnung jeder neuen Irrenheil¬
stätte die bestehenden entlastet, nützt unsere Abtheilung der all¬
gemeinen Irrenpflege dadurch, dass sie die Unheilbaren zeitig genug
aus dem geordneten Strafvollzüge ausschaltet und zweckentsprechend
behandelt. So verhindert sie, dass dieselben nicht durch diszipli¬
näre Experimente störrisch, reizbar gefährlich gemacht werden und
in Folge dessen bei endlicher Ueberweisung an die öffentlichen
Anstalten die Ausnahmestellung, welche man ihnen zuweist, wirk¬
lich verdienen.
Endlich beruhigt die Behandlung in unserer Abtheilung auch
manchen im wissenschaftlichen Sinne Unheilbaren wie z. B. reiz¬
bare Schwachsinnige, Querulanten, Paranoiker, die sich unter den
Langzeitigen und Lebenslänglichen mit besonderer Häufigkeit finden,
so weit, dass Leute, welche Sonst den öffentlichen Anstalten zur
Last gefallen wären, als geistige Halbinvaliden durch die An¬
staltsbeobachtung genau in der Art und dem Grade ihrer geistigen
Defekte gekennzeichnet, in dem Strafvollzüge verbleiben können.
Deshalb würde ich, da ich die mir heut gewordene Aufgabe
darin sehe, unsere Wünsche in besondere Thesen zu formuliren,
als erste derselben hinstellen:
I. Für grössere Staaten, d. h. für solche mit
entsprechend zahlreicher Z wangsanstaltsbe-
völkerung und verwickelter Gliederung der
öffentlichen Irrenfürsorge, empfiehlt sich die
6*
84
Dr. Leppmann.
Schaffung besonderer Beobachtungs- resp. Heil¬
anstalten für geisteskranke Strafgefangene.
Es wird Ihnen vielleicht aufgefallen sein, dass ich zur Be¬
gründung meines Vorschlages die Aufdeckung der Simulation mit
keinem Worte herangezogen habe; darin hat nämlich die Anstalt
nur das auf’s Neue bewiesen, worüber man sich in ärztlichen
Kreisen wohl klar ist, dass die zielbewusste Vortäuschung von
Geistesstörung über längere Zeit etwas seltenes und auch ohne
besondere Irrenanstalts - Beobachtung im Strafvollzüge kaum durch¬
führbares ist, und dass ein kurzes Zuwarten genügt, um etwaige
Augenblickslaunen, den wilden Mann zu spielen, klar zu stellen.
Unter allen unseren Aufnahmen war kein einziger Simulant,
höchstens einige solche, welche krankhafte Eigenthümlichkeiten,
wie dies ja bekannt ist, durch Uebertreibung vergrösserten. Bei
Untersuchungsgefangenen sind wohl Simulationsversuche etwas
häufiger, aber nach meinen gerichtsärztlichen Erfahrungen handelt
es sich auch bei diesen mehr darum, Ereignisse aus dem Vorleben
so aufzubauschen und umzumodeln, dass sie zu falschen Schlüssen
leiten können, als um wirkliche Verstellung.
Eine solche Beobachtungsabtheilung für geisteskranke Ver¬
brecher wird am besten wie die unserige ein Adnex bei einer
grösseren Strafanstalt bilden. Es verbilligt dies ihre Verwaltung,
und die Strafanstalt lässt sich als Rekonvaleszenten - Aufenthalt
für Geheilte und Gebesserte benützen, welche später eventuell
wieder in die Anstalten zurückkehren, von denen sie eingeliefert
sind. Wie solche Abtheilungen zweckentsprechend einzurichten
sind, darüber erlaube ich mir noch einiges zu sagen, wenn ich die
Ehre haben werde, die Herren heute durch die Anstalt zu führen.
Ueber die wissenschaftlichen Ergebnisse der ersten 5 Jahre werde
ich mich an anderer Stelle äussern.
Was soll nun aber mit den geisteskranken Strafgefangenen
geschehen, welche wegen Strafendes oder Unheilbarkeit aus dem
Strafvollzüge entlassen werden?
In Bezug auf diese schliesse ich mich denjenigen Fachge¬
nossen an, welche keine getrennte Unterbringung derselben in
Spezialanstalten oder besonderen Irrenanstaltsabtheilungen fordern.
Mit dieser Anschauung vereinigt sich die Errichtung besonders
gesicherter Abtheilungen in Irrenanstalten, wie Sie diese z. B. in
Dalldorf sehen, sehr wohl. Dorthin sollen diejenigen, welche die
Eigenart ihrer Krankheitsäusserung/ gefährlich macht, aber ohne
Rücksicht auf ihre Kriminalität, gebracht werden; unbillig ist es,
einen Kranken, weil er bescholten ist, mit besonderem Maasse zu
messen. Auch die besondere Gefährlichkeit unserer Kranken
kann ich nicht anerkennen. Wir haben Harmlose und Erregte,
wie in jeder anderen Anstalt, und der Grad ihrer Unbequemlich¬
keit deckt sich nicht mit dem Vorleben, im Gegentheil, friedfertige
GelegenheitsVerbrecher werden die undisziplinarsten Halluzinanten,
verschlagene und berüchtigte Gewohnheitsverbrecher werden
durch die Krankheit harmlos und unschädlich. Das Letztere
trifft nicht etwa blos für Paralytiker oder einfach Verblödete
Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. 85
zu, nein auch für viele der unter unseren Kranken so häufigen
Paranoiker.
Ich lasse Ihnen hier das Bild eines typischen derartigen Falles
zirkuliren, das einen der beriichtigsten Ein- und Ausbrecher dar¬
stellt. Jetzt ist er in seinem wahnhaft umgestalteten Persönlich¬
keitsbewusstsein ein Burggraf und die Anstalt sein Eigenthum;
der Hund, den er auf dem Arm hat, ist sein Kind, dessen Bellen
er versteht. Er ist in der komischen Grandezza seiner Rolle einer
der friedfertigsten, hiilfreichsten und zutraulichsten Bewohner un¬
serer Abtheilung gewesen.
Auch ist es für manche Erkrankungsformen, wie sie in
Zwangsanstalten häufig Vorkommen, geradezu geboten, dass ihnen
alle Abtheilungen einer grossen Anstalt offen stehen. Wer wüsste
z. B. nicht, dass ein chronischer Halluzinant sich am besten durch
öfteren Ortswechsel innerhalb derselben Anstalt ruhig halten lässt.
Deshalb möchte ich als zweite These aufstellen:
II. Für geisteskranke Strafgefangene, welche
aus dem Strafvollzüge ausscheiden, sind be¬
sondere Anstalten oder Anstaltsabtheilungen
weder erforderlich noch wünschenswerth.
Damit dürfen aber unsere Wünsche betreffs der Fürsorge
für geisteskranke Häftlinge nicht erschöpft sein. Es treten dazu
noch einige dringend nothwendige Massregeln, welche die Häufig¬
keit des Vorkommens der Geistesstörung and den ungünstigen
Verlauf der in Zwangsanstalten eingetretenen oder sichtbar ge¬
wordenen verhindern sollen.
Zu diesen prophylaktischen Massnahmen gehört vor
allem eine
lila, grössere und zweckentsprechendere
Rücksichtnahme auf die geistige Unzulänglich¬
keit in der Strafrechtspflege.
Hierbei halte ich alle Forderungen nach Umgestaltung unserer
auf die Zurechnungsfähigkeit bezüglichen Gesetzes-Bestimmungen
bei der heutigen Zeitströmung, welche mit laienhafter Oberfläch¬
lichkeit an den Grundfesten wissenschaftlicher Wahrheiten rüttelt,
für verfrüht, nein, ich fusse nur auf der Thatsache, dass dem be¬
stehenden Gesetze in dieser Beziehung nicht Genüge geschieht.
Wer die Literatur der letzten Jahrzehnte kennt und wer wie der
Medizinalbeamte oft Stunden und Tage lang als Hörer oder Experte
Strafverhandlungen beizuwohnen gezwungen ist, der wird zu der
Meinung gelangen, dass so mancher verurtheilt wird, bei dem
nach dem Wortlaut des §.51 des R.-St.-G. eine strafbare Hand¬
lung als nicht vorhanden angesehen werden müsste.
Diese Thatsachen müssen wir der Oeffentlichkeit, wo wir
können, und namentlich den Männern, welche durch Beruf und
bürgerliches Ehrenamt zum Richten ausersehen sind, klar zu
machen suchen. Wir kämpfen dabei einen Krieg nach zwei Fron¬
ten, denn zugleich wird es nothwendig sein, zu beweisen, dass
wir in unserer Sachverständigenthätigkeit streng in der uns ge¬
setzten Schranke bleiben, technische Aufklärungen zur Anwendung
86
Dr. Leppm&nn.
bestimmter Gesetzesstellen zu geben, und dass wir nicht etwa die
Barre als den Ort betrachten, wo wir unbewiesene Theorien über
Willensfreiheit in die Praxis umsetzen wollen. Gerade wir deut¬
schen Psychiater und forensischen Aerzte können der Oeffentlich-
keit jeder Zeit beweisen, dass wir keine eingeschworenen Lom-
broso-Jünger sind, dass für uns das Verbrechen keine pathologische,
sondern eine soziale Erscheinung ist und dass wir nur wünschen,
dass neben den äusseren und allgemeinen auch seine individuellen
und inneren Ursachen genügend berücksichtigt werden.
Wir können in der Ausübung unserer Sachverständigenthätig-
keit zwar nicht viel, aber doch einiges dazu beitragen, dass der¬
gleichen Irrthümer in der Urtheilsfällung sich mindern.
Zunächst nämlich halte ich es für wünschenswerth, die Art
unserer Verrichtungen so aufzufassen, dass wir nicht nur eine
klinische Schilderung etwaiger Störungen abgeben, sondern unsere
positive Meinung darüber aussprechen, ob dieselben derart umfang¬
reich sind, dass sie den Sinn des §.51 erfüllen oder nicht. Ich
weiss, dass es eine Reihe namhafter Fachgenossen giebt, welche
den diesbezüglichen Entscheid dem Richtenden allein überlassen
wollen, aber ich halte es für folgerichtig, dass wir in unserer
Eigenschaft als technische Berather der Erkennenden die Ergeb¬
nisse unserer Erfahrung auf eine bestimmte, aus der Fassung einer
Gesetzesstelle sich ergebenden Frage zuspitzeu, ebenso wie der
Bausachverständige nicht einen Augenblick daran zweifelt, er müsse
gutachtlich entscheiden nicht nur ob ein Bau überhaupt sachwidrig
sei, sondern ob er bestimmten §§. einer Bauordnung widerspreche.
Der erkennende Richter ist ja nach dem geltenden Grundsätze der
freien Beweiswürdigung dadurch nicht in seinem Urtheil gebunden,
indessen die Erfahrung lehrt, und deshalb halte ich diese Forde¬
rung für besonders erwägenswerth, dass eine blosse klinische
Schilderung häufig zum Nachtheil des Angeklagten ausfällt, indem
Leute verurtheilt werden, welche die positive Bezeugung der Un¬
zurechnungsfähigkeit seitens des Sachverständigen vor Strafe be¬
wahrt hätte.
Ferner giebt mir unser Material für unsere Wirksamkeit in
foro noch folgende Lehre:
Wenn ich aus demselben die Fälle herausgreife, deren Geistes¬
krankheit sicher oder höchstwahrscheinlich über die Strafthat
zurückreicht, so sind einige darunter, und diese sind für die nach¬
trägliche Urtheilsänderung die hoffnungslosesten, bei denen der
Einwurf der Geistesstörung zwar erhoben, aber vom Sachverstän¬
digen seihst nicht anerkannt wurde. Pie Ursachen dieses nicht
völligen Eindringens in ein krankhaftes Seelenleben liegen dann
meist darin, dass der Sachverständige sich vom ersuchenden Richter,
wenn ich so sagen darf, überrumpeln liess. Der Einwand der
Geistesstörung geschieht bei schweren Vergehen oder bei Ver¬
brechen meist schon im Vorverfahren. Der Untersuchungsrichter,
welcher durch seinen persönlichen Verkehr mit dem Beschuldigten
ein eigenes, man kann vielleicht sagen souveraines Urtheil über
dessen Seelenleben sich gebildet hat, der es ausserdem täglich
I
Die Fttrsorge für geisteskranke Strafgefangene.
87
erlebt, dass der Einwurf aus §.51, die ultima ratio jedes Schwind¬
lers, in frivolster Weise erhoben wird, sieht, wenn er selbst keine
Zweifel hat, die Untersuchung des Geisteszustandes mehr als
Formsache an, beauftragt kurzer Hand damit den Medizinalbearaten
und ladet ihn mit geringer Frist zur mündlichen Berichterstattung.
Daher kommt es, dass der Gutachter häufig das einzig Mass¬
gebende, das Vorleben des Untersuchten, nicht genügend oder nicht
objektiv genug kennen lernt. Denn wo es sich nicht um That-
sachen, sondern um Anschauungen handelt, finden sich in den Akten
oft Meinungen, auf deren Gestaltung der Umstand, dass es sich
um einen bereits Beschuldigten handelt, wesentlich ungünstig ge¬
wirkt hat. Namentlich die Konstruktionen nicht klarliegender
Thatmotive sind oft so kühne und schwankende Aufthürmungen,
dass man in solchen Fällen den bekannten Spruch etwas umformen
und behaupten könnte: Quod non est in mundo est in actis.
Der Antrag des Sachverständigen, den Angeklagten laut §.81
der R.-St.-P.-O. in eine öffentliche Irrenanstalt zu bringen, führt
in solchen Fällen auch nicht zum Ziel, da sich der Angeschuldigte
selbst nicht selten entrüstet dagegen sträubt. Daher soll der Sach¬
verständige, selbst wenn es ihm fast überflüssig erscheint, auf
einer genauen Kenntniss des Vorlebens bestehen, er soll, wie ich
mir bereits an anderer Stelle 1 ) auszuführen erlaubte, womöglich
verlangen, dass die von ihm zu solchen Ermittelungen vorge-
scblagenen Personen in seinem Beisein an Gerichtsstelle ver¬
nommen werden.
Eine weitere Reihe von vorbeugenden Massnahmen betrifft
IHb. einzelne, zunächst auf dem Wege der
Verordnung einzuführende Strafvollzugsein¬
richtungen, welche den Ausbruch von Störungen
während der Freiheitsentziehung verhindern
und diemöglichst zeitige Erkennung vorhande¬
ner bewirken sollen.
Sehen wir uns die Lebens- und man kann manchmal auch
sagen Leidensgeschichte unserer Kranken an, so finden wir bei
vielen eine Mitursache der Geistesstörung darin, dass auf geistige
Defekte, welche dieselben in die Strafe brachten, keine Rücksicht
genommen wurde und die bei solchen Minderwertigen unausbleib¬
lichen Verstösse gegen die Hausordnung mit voller Strenge diszi¬
plinarisch geahndet wurden, ganz im Gegensatz zu körperlichen
Krankheiten, welche stets bei Abgrenzung des Arbeitspensums
und anderer Anforderungen auf das Genaueste in Betracht kommen.
Trotzdem die Ausmittelung einzelner zweifelhafter Fälle von
Geistesstörung durch Einrichtung unserer Abtheilung erleichtert
wird, sehen wir ferner, dass die Geisteskrankheit in einzelnen
Strafanstalten immer noch überlange verkannt und durch allerhand
Ausprobungsversuche ungünstig beeinflusst wird.
Dem ist in erster Reihe dadurch abzuhelfen, dass bei der
Auswahl von Strafanstaltsärzten diejenigen bevorzugt werden,
*) Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin. 3. F., III. Bd., H. 1.
88
Dr. Leppmann.
welche die Geistesstörung durch Anstaltsthätigkeit kennen gelernt,
oder solche, die durch das Physikatsexamen die Bekanntschaft mit
den Grundlehren der Psychiatrie bewiesen haben. Ferner muss
die Stellung des Anstaltsarztes in Rechten und Pflichten eine
umfassendere werden.
Namentlich muss die Feststellung des körperlichen und
geistigen Befundes eines Verurtheilten bei seiner Einlieferung
eine viel genauere sein als bisher. Wünschenswerth ist zu¬
nächst bei allen zu Zuchthaus oder längerer Gefangnissstrafe
Verurtheilten die Aufnahme und Notirung eines gegliederten
ärztlichen Befundes: 1. von anthropologischen Merkmalen am
Körper, 2. von Residuen früherer Krankheiten, namentlich von
Rhachitis, Skrophulose und Syphilis, 3. des allgemeinen Ernäh-
rungs- und Kräftigungszustaudes, 4. etwaiger krankhafter
Veränderungen einzelner Organe, 5. des seelischen Eindrucks
nach längerer eingehender Unterhaltung mit Trennung des
Ergebnisses nach Intelligenz, Stimmung und sittlichem Zustande.
Ausserdem muss diese ärztliche Untersuchung durch Massnahmen
der Verwaltung unterstützt werden, welche eine genaue Ausmitte¬
lung der Persönlichkeit in Bezug auf Abstammung und soziales
gesundheitliches Vorleben ermöglichen. Darüber enthalten die
meisten Personalakten gar nichts, ja leider sind sie jetzt sogar
dürftiger als sie vor Jahrzehnten waren, und doch hat man erst,
wenn alles dies aktenmässig klar liegt, ein Individuum vor sich,
an welchem man streng, aber gerecht eine Strafe vollziehen, dessen
disziplinäre Leistungsfähigkeit man abwägen, das man unter die
Macht der strafenden Gerechtigkeit beugen kann, ohne es zu zer¬
trümmern, das man eventuell auch in der Strafe erziehen und
bessern kann. Dass ein solcher individualisirender Strafvollzug
nicht gleichbedeutend ist mit Weichheit oder übermässiger Nach¬
sicht gegen den Rechtsbrecher, das haben die Vorkämpfer dieser
Reform, das hat namentlich Kr oh ne gezeigt.
Wird eine so gekannte Person in ihrem Wesen auffallend,
dann steht man nicht vor einem Räthsel, dann findet man den
Faden, ob Krankheit oder Böswilligkeit, schnell.
Wenn ich vorhin von Notirung anthropologischer Eigentüm¬
lichkeiten sprach, so möchte ich, um Missverständnisse zu ver¬
meiden, ausführen, dass ich keineswegs den Werth derselben über¬
schätzen will, aber wenn auch eine schiefe Stirn oder angewachsene
Ohrläppchen nichts beweisen, so gewinnen doch solche Entartungs¬
zeichen, wenn sie in Fülle und sehr deutlich auftreten, einen Werth,
um einzelne Personen unserer Aufmerksamkeit zu empfehlen.
In der Hauptanstalt der Königl. Strafanstalt Moabit wird die
Erkundigung über das Vorleben nach einem von Herrn Geh. Rath
Dr. Kr ohne entworfenen Schema seit Jahren geübt, worüber ich
des Näheren neulich in der Vierteljahrsschrift für öffentliche Ge¬
sundheitspflege *) erörterte. Wie dadurch in Verbindung mit der
ärztlichen Untersuchung der Mensch gekennzeichnet wird, wie sie
zum Strafvollzug nothwendig ist, davon folgende Beispiele:
>) XXV. Bd., 1 H., Januar 1893.
Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene.
89
Hier sind zwei Photographien von Leuten, welche bei der
Einlieferung behaupteten, an epileptischen Krämpfen zu leiden.
Sie logen beide nicht und doch welche Unterschiede in der Straf¬
vollzugs - Qualität.
Der eine zeigte einen auffallend grossen, eckigen Kopf, von
57 cm Umfang mit niedriger Stirn, ungleich lange Ohren mit
angewachsenen Läppchen, kleine tiefliegende Augen, Schwachsich¬
tigkeit, mehrere mit den Knochen verwachsene Narben am Schädel
und sehr defekte Zähne. Die Anamnese ergiebt, dass der so Ge¬
schilderte aussereheliches Kind eines in Trunksucht verkommenen
Vaters ist, dass er spät laufen und sprechen lernte, in der Jugend
an Drüsen litt und in der Schule schwer lernte.
Er ist 29 Jahre alt, nicht vorbestraft und wird wegen Noth-
zucht eingeliefert.
Bei der Unterhaltung erweist er sich als stumpfsinniger
Kaliban, der nur seinen Namen schreiben kann und 9 X 7 = 17
rechnet.
Er wird sofort als nur bedingt strafvollzugsfähig bezeichnet,
die Zellenhaft, welche beim Vollsinnigen nicht die seelischen
Nachtheile hat, die ihr manche zuschreiben, wird nur als bedingt
statthaft erklärt, er erhält Invalidenarbeit. Nur so war es zu
bewirken, dass er seine zweijährige Strafe wirklich aushielt.
Der andere, ebenfalls Epileptiker, aber nicht belastet, ohne
Entartungszeichen, geistig und körperlich normal entwickelt, zum
rückfälligen Dieb und Brandstifter unter der Ungunst äusserer
Verhältnisse geworden, wird trotz seiner Epilepsie als völlig straf¬
vollzugsfähig erkannt, hat ca. 6 Jahre Zellenhaft ohne Schaden
ausgehalten; trotz schwerer Arbeit als Korkreisser, trotz seiner
Bewaffnung mit einem schwertartigen Messer ist nie etwas Auf¬
fallendes vorgekommen.
Die weiteren Bilder sind Typen, wie sich körperliche Ent¬
artungszeichen oder belastende Momente mit ausgeprägtem Schwach¬
sinn oder mit aussergewohnlichem und auffallend frühem Verfall
in’s Verbrechen decken. Die näheren Mittheilungen sind auf den
Kartons der Photographien.
Schliesslich folgen noch je zwei Bilder in Vorder- und Seiten¬
ansicht von zwei geisteskrank auf die Irrenabtheilung Eingeliefer¬
ten. Der eine, ein 25jähriger Mensch, galt als einer der gefähr¬
lichsten Verbrecher. Namentlich war er berüchtigt durch seine
Fluchtversuche. Auffallend hätte es eigentlich werden müssen,
dass er sich wegen einer Brandstiftung, die er begangen, selbst
anzeigte, dass er dann wiederholt mit Aufbietung enormer Kräfte
aus der Haft entfloh, um jeweils wieder freiwillig in dieselbe
zurückzukehren. In der Strafanstalt hatte er viele Disziplinar¬
strafen erhalten und war schliesslich durch ängstliche Unruhe und
Halluzination aufgefallen.
Den Mann hätte man schon Jahre lang eher, wenn ich einen
trivialen Ausdruck brauchen soll, nicht für voll nehmen und dort¬
hin bringen sollen, wo hin er gehört, nämlich in die Irrenanstalt,
wenn man seine körperliche Qualität berücksichtigt hätte.
90
Dr. Leppmann.
Sie sehen hier im Bilde seinen vogelkopfähnlichen, auffallend
langen und schmalen Schädel von 51,5 cm Umfang, 19,0 cm lang,
14,3 cm breit, nach links über hängend, mit fliehender Stirn und
kleinen Blinzaugen. Dazu kommen: ein langes, schmales Gesicht
mit grosser Nase und auffallend starken Kiefern, ungleiche, auf¬
fallend grosse Spitzohren (7,2; 7,5 cm) mit fast völlig angewachse¬
nen Läppchen und nicht umgekremptem Bande, schräge Schultern,
linksseitige Skoliose, Kartoffelbauch, Plattflisse, stark durchgedrückte
Kniee, grosse linksseitige Varicocele. Und die Anamnese ergiebt:
Bildungsunfähigkeit trotz ordentlicher Eltern und Schule, sofortigen
Verfall in’s Verbrechen bei dem Versuche, sozial selbstständig zu
werden.
Der andere mit einem Kopfumfang von 59 cm, deutlicher
hydrocephaler Schädelbildung und Zeichen der Rhachitis am übrigen
Skelett, wird vom 18. bis 22. Lebensjahre 13 Mal wegen Betteins
und Landstreichens bestraft, ermordet in der Korrektionsanstalt
den Lehrer, welcher ihn angeblich beim Singen chikanirt und zeigt
in der Strafanstalt jene Mischung von Schwachsinn und kindischen,
phantastischen Grössen-und Beeinträchtigungs- Wahnideen, welche
das Bild originärer Verrücktheit ausmacht.
So weit die Beispiele. Kehren wir zum Thema zurück, so
ist Folgendes ferner zu fordern:
Der Arzt muss sinngemäss nach dieser ersten Ausmittelung
von den Schicksalen der Gefangenen unterrichtet bleiben. Er muss
möglichst häufig an den Konferenzen der Beamten Theil nehmen.
Er muss in einem gewissen Turnus die Leute sehen, er muss bei
gewissen Vorkommnissen, wie z. B. bei schweren oder gehäuften
Disziplinarstrafen, benachrichtigt und gutachtlich gehört werden,
wie dies bei Dunkelarrest im Reglement für die preussischen Justiz¬
gefängnisse bestimmt ist.
Schon jetzt könnte ich eine Reihe verwendbarer Einzelvor¬
kommnisse aufzählen, welche sich als erste Erscheinungen heran¬
nahender Seelenstörung in den Akten der bei uns Aufgenommenen
oft wiederholen, so z. B. planlose Fluchtversuche, weglaufen und
sich verstecken beim Spazierengehen, plötzliche Arbeitsverweige¬
rung mit Zertrümmerung der Arbeitsgeräthe, lautes Mitsprechen
beim Gottesdienst und Aehnliches, welche nur der Arzt sachver¬
ständig deuten kann.
Diese Pflichten werden und sollen den Arzt nicht der allge¬
meinen Praxis entziehen. Er soll mit deren lehrreichen Ergeb¬
nissen in steter Berührung bleiben. Aber er soll, und das muss
in unser Programm gehören, für das, was er thut, so honorirt
werden, dass er, abgesehen von dem hohen menschlichen und
wissenschaftlichen Interesse, das ihm diese Art von Thätigkeit
lieb machen wird, auch seine aufgewandte Zeit bezahlt erhält.
Nimmt man an, dass er täglich 2—3 Stunden der Anstalt widmen
muss, so darf er nicht mit nur 1000 Mark d. h. mit l 1 /* Mark
pro Stunde abgelohnt werden.
Viel lässt auch noch die augenblickliche Aufbewahrung
geistig Zweifelhafter in einzelnen Anstalten zu wünschen übrig.
Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. 81
Eine Irrenzelle muss im Lazarethe und nicht unterirdisch oder
abgelegen sein; überflüssiges Isoliren und Zwangsmittel lassen sich
vermeiden, wenn man Menschenkräfte, welche man ja zur Dis¬
position hat, richtig verwerthet.
Zu einer dritten Gruppe vorbeugender Massregeln würde
ich eine
; IIIc. grössere und passendere Berücksichti¬
gung des Irrsinns in der öffentlichen Armen¬
fürsorge
rechnen. Sendet man heutzutage einen von Geistesstörung ge¬
besserten oder Beruhigten aus der Anstaltspflege in die Heimath
mit der aufklärenden Anweisung, der Betreffende bedürfe der
dauernden Unterstützung, weil er bei Aufsuchung und Auswertung
von Arbeitsgelegenheit weit hinter dem Durchschnittsmasse zurück¬
stehe, so kann man in den meisten Fällen versichert sein, dass
die Organe der Armenpflege solchen Aufforderungen mit lächeln¬
der Nichtachtung begegnen. Sie können ja nicht begreifen, dass
Jemand minderwertig zu körperlicher Arbeit und dabei gross
und stark sein kann.
Noch schlimmer geht es unsern Strafentlassenen Geistes¬
schwachen, bei denen jede Forderung einer Hülfe nach ihrem
Vorleben als eine besondere Anmassung angesehen wird. Trotzdem
werden dieselben mit den wesentlichsten geistigen Defekten von
vielen Irrenanstaltsleitern leichten Herzens in die Welt geschickt
und so sehen wir Personen, welche wir durch die am Strafende
oft mühsam durchgefuhrte UeberWeisung in Irrenanstalten für sich
und ihre Mitmenschen dauernd unschädlich gemacht glaubten, rath-
und zwecklos im Leben wieder auftauchen und die Armee der
Gewohnheitsverbrecher, von denen ein einzelner sicher mehr
Schaden bringt, als seine Anstaltsdetention kosten würde, ver¬
mehren. Freilich hat dabei der eine Land- oder Kommunal-
Armenverband, aus dessen Anstalt die Entlassung geschah, den
Vortheil, dass der zur sozialen Selbstständigkeit Unfähige solange
herumvagirt, bis er in einem anderen Landestheile aufgegriffen
wird und seine Unterstützungsverflichtung sich dann häufig so
weit verändert hat, dass sie anderen anheimfällt.
Aehnliche Entlastungsversuche sehen wir gegenüber denen,
welche noch vor Ablauf einer langzeitigen Strafe als voraussicht¬
lich unheilbar der öffentlichen Anstalts-Fürsorge überwiesen werden.
Sie, m. H., können versichert sein, dass eine Strafvollzugsaus¬
setzung wegen Geistesstörung nur dann geschieht, wenn wir wirk¬
lich erheblich Entartete, d. h. weitgehend Verblödete, oder Jahre
und Jahrzehnte lang Verrückte oder Epileptiker mit gehäuften
Anfällen und häufigen Verworrenheiten oder sicher organisch Ge¬
hirnleidende vor uns haben. Trotzdem erleben wir z. B. Folgendes:
Ein von uns aus entlassener, sehr reizbarer, wiederholt
aggressiver halluzinatorisch Verrückter, dessen Sinnestäuschungen
sich in den Akten bis 1873 zurückverfolgen lassen, wird, nachdem
er einige Wochen in der Anstalt einer wohlthätigen Stiftung ver-
92
Dr. Leppmann.
pflegt ist, als gebessert und strafvollzugsfähig der Behörde zur
Verfügung gestellt.
Aehnlich geschieht es an derselben Stelle mit einem Kriegs¬
invaliden, der einen Schuss in’s Auge und die Schädelbasis erhalten
hat und in der Strafanstalt ebenso wie später in einer Provinzial¬
irrenanstalt dauernd, d. h. jeweils Monate lang, halluzinatorisch
verworren gewesen war und deutliche Erscheinungen von Hirndruck
geboten hatte. Dieser wird, nachdem sich zeitweilig sein Bewusst¬
sein aufgehellt hatte, zurückgesandt, weil er genesen sei und
überhaupt „zum grössten Theil simulirt habe“. Derselbe befindet
sich jetzt bereits über ein halbes Jahr auf unserer Abtheilung.
Er ist wieder völlig verworren, er sieht auf dem erhaltenen Auge
fast gar nichts, er hört schwer, seine Pupille reagirt nicht, kurz,
er ist, was er war, organisch hirnleidend und unheilbar.
Bei einem dritten Falle handelt es sich um einen unheilbaren
Querulanten, den ich Ihnen hier im Bilde zeige, einen erblich
belasteten, von Jugend aut verkehrten Menschen, einen phantasti¬
schen Lügner und Selbstbetrüger, der vollständig systematische
querulatorische Wahnideen hat, der die Behörden im Komplott
gegen sich, der in Bezug auf seine Eechtssicherheit eine
Ausnahmestellung in der menschlichen Gesellschaft einzunehmen
glaubt. Dieser wurde, nachdem er aus dem Strafvollzüge, in
welchem er sich als undisziplinarbar erwiesen hatte, ausgeschaltet
war, nach ca. 3 Wochen von der Irrenanstalt der Heimathsstadt
als genesen zurückgesandt.
Bei solchen Vorkommnissen muss man sich freilich fragen,
ob das Mass der Verantwortlichkeit für die massgebenden Organe
der öffentlichen Armenpflege nicht gesetzgeberisch erhöht oder die
Entlassungsfähigkeit selbst einer revisorischen Kontrole unterstellt
werden müsste.
Bei der Irrenfürsorge ausserhalb der Anstalten kann uns nur
eins helfen, d. i. eine Art Patronatssystem, wie es z. B. die Irren¬
anstalts-Verwaltung der Stadt Berlin über ihre aus der Anstalt
entlassenen Pfleglinge oder der schlesische Hülfsverein für Geistes¬
kranke mit den Mitteln ausübt, welche ihm von der Provinzial-
Behörde zukommen. Da wird die geistige Invalidität als Unter¬
stützungsgrund anerkannt, da wird dem Unterstützten mit der
Gewährung von Geldmitteln zu gleicher Zeit eine Art freiwilliger
Vormund zur Seite gestellt, welcher sein Wesen versteht und an
den er sich mit der Hülflosigkeit eines geistig Unselbstständigen
anklammert. Aus eigenster Erfahrung möchte ich meinen, dass
diese Thätigkeit, wenn sie allgemein eingeführt wird, zu den
schönsten Ehrenpflichten gerade des Arztes gehören müsste.
Fragen wir uns schliesslich, welche von den verschiedenen
(IHd) Gesetzesprojekten, die heutzutage in der Oeffentlichkeit
auftauchen, als eventuelle Vorbeugungsmassregeln unser besonderes
Interesse haben, so ist dies in erster Reihe die weitere Ausge¬
staltung der vorläufigen Entlassung. Dass das Strafubel
je nach der Individualität verschieden auf die Person wirkt, ist
eine von allen praktischen Kriminalisten anerkannte Thatsache.
Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene.
93
Er oh ne sagt mit Hecht, für den einen sind ein Jahr Strafe der
Tod, ein anderer gedeiht bei zehn Jahren ganz gut weiter. Die¬
jenigen, welche unter der Wirkung der Strafe körperlich oder noch
vielmehr geistig übermässig gebeugt werden, sind meist keine Un¬
verbesserlichen. Wie häufig sehen wir dann, wie Jemand mit der
kommenden Krankheit seines Gemüths- oder Verstandeslebens ringt,
wie ihm nur eins Rettung bringen kann, d. i. baldige Freiheit, und
wir haben kein Mittel, sie ihm zu gewähren. Die vorläufige Ent¬
lassung, welche nach §. 23 des Str.-G.-B. nach Ablauf von ®/ 4 der
Strafzeit erfolgen kann, ist durch bestimmte Voraussetzungen, wie
gute Führung, Geständigkeit etc. umgrenzt, welche man gerade
bei den seelisch Impressionibelen nicht immer findet. Die Be¬
gnadigung kann stets nur eine ausnahmsweise Massregel sein.
Aber eine Erweiterung der Befugniss der vorläufigen Entlassung
würde solche Ungleichheiten in der Strafwirkung aufheben und
die Bedingung der Rückkehr in die Strafe bei nicht guter Führung
würde als besonderes Corrigens gegen Rückfalle über manchem
unserer Schmerzenskinder, z. B. über den gutmüthigen charakter¬
schwachen Gelegenheitstrinker schweben. Wir müssen dabei be¬
tonen, dass es sich bei dieser Massregel um keine Aufhebung,
sondern nur um eine andere Gestaltung der Strafe handelt.
Sodann müssen wir mit den Bestrebungen der internationalen
kriminalistischen Vereinigung betreffs des Hinaufrückens der
Strafmündigkeit der Jugendlichen und des Eintretens
von Erziehung an Stelle der Strafe sympathisiren. Staat¬
liche Erziehungsanstalten für rechtsbrecherische und verwahrloste
Jugendliche können die besten Fundstätten werden, wo man jugend¬
liche normale Geistesentwickelung von angeborenem Schwachsinn
oder angeborener Verkehrtheit trennt, von wo man die einen in’s
Leben sendet, die anderen der öffentlichen Irren-, Epileptiker- und
Idiotenfürsorge überweist. Dadurch würde eine starke Wurzel
des Gewohnheitsverbrechens im Keime ausgerodet werden und
namentlich der grossen Menge der professionirten Bettler und Vaga¬
bunden würden die besten Hülfstruppen entzogen sein.
Zum Schluss könnte man sich noch fragen, ob nicht für be¬
stimmte Altersklassen z. B. für Jugend- und Greisenalter oder für
bestimmte Verbrechensarten die jedesmalige sachverstän¬
dige Untersuchung des Seelenzustandes im Vorver¬
fahren zu fordern sei.
Obgleich ich nicht glaube, dass durch derartige Massregeln,
wie manche Juristen fürchten, der strafenden Gerechtigkeit das
Schwert aus der Hand gewunden und das Rechtsbewusstsein im
Volke erschüttert werden würde, halte ich die Massregel doch für
verfrüht. Erst wenn wir Jahre und Jahrzehnte lang den Rechts¬
brecher anthropologisch und soziologisch studirt haben werden,
können wir solche Forderungen begründen. So z. B. würden die
meisten Aerzte gewiss in erster Reihe bei solchen Wünschen an
den Sittlichkeitsverbrecher denken. Schon die wenigen Jahre,
welche ich sammele und sichte, haben mir, wenigstens an unserem
94
Dr. Leppmann.
Materiale, gezeigt, dass in demselben weniger Pathologisches steckt,
wie z. B. im Brandstifter.
Bescheiden wir uns also in unseren Forderungen und lassen
wir vorläufig als ein Streit- und Leitwort für unsere Zukunfts¬
arbeit das Lombroso’sche Motto gelten:
„Melius cognoscere corpus humanum, quam corpus juris.“
(Lebhafter Beifall.)
Diskussion:
H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: M. H.! Ich möchte doch
nicht, dass dieser sehr gehaltvolle und anregende Vortrag, den uns der Herr
Kollege eben gehalten hat, hier ganz ohne jeden Nachklang bleibt. Man muss
in hohem Grade wönschen, dass ähnliche Einrichtungen, wie sie jetzt in Moabit
getroffen sind, auch an anderen Strafanstalten ins Leben treten. Wir Alle, die
wir in ausgedehnterem Masse mit Strafsachen, mit geisteskranken Verbrechern
zu thun haben, empfinden lebhaft die schweren Schäden, die Bich hierbei geltend
machen. Sicherlich werden ja die vielen Uebelstände, die der Herr Vortragende
gerügt hat, noch in langer Zeit nicht beseitigt, und die Wünsche, die er aus¬
gesprochen hat, und die man fast alle theilen kann, in langer Zeit noch nicht
erfüllt werden. Leider wird auf unsere Stimme bei diesen Dingen nicht sehr
viel gehört, nicht einmal in den Fragen, für welche wir doch vorzugsweise
Sachverständige sind, in zweifellos hygienischen oder sanitären Angelegenheiten,
und noch viel weniger in diesen, die von den Juristen als lediglich ihnen bei¬
kommend betrachtet werden.
Ich möchte noch ein paar Worte über die Ratbschläge sagen, die der
Herr Vortragende an die Sachverständigen gerichtet hat, also z. B, dass sie sich
über die Frage der Zurechnungsfähigkeit thunlichst immer bestimmt aussprechen
möchten. Ich bin darin seiner Ansicht, dass der Sachverständige sich gemäss
§. 51 8t.-G.-B. über die Willensbeschränkungen äussern soll. Es ist ja, wie er
schon ausgeführt hat, eine bestrittene Frage; und ich selber habe einmal wegen
eines Gutachtens, das ich in dieser Form abgegeben hatte, entweder vom
Provinzialmedizinalkollegium oder von der wissenschaftlichen Deputation eine
Rüge erhalten, weil die Schlussfolgerung nicht Sache des ärztlichen Sachver¬
ständigen sei. Ich habe mich aber doch nicht abhalten lassen, das auch ferner
zu thun, und bin namentlich dazu veranlasst worden, weil diese Frage von dem
Richter wohl stets an mich gestellt worden ist, und dieser niemals zufrieden ist,
wenn ich ihm nur das Krankheitsbild darlege; er will auch mein Urtheil hören.
Gebunden ist er ja nicht daran. Man erlebt da mitunter Merkwürdiges. Ich
erinnere mich z. B. eines Falles, in dem ich in Hamburg vor dem Schwurgericht
einen unzweifelhaft geisteskranken Verbrecher zu begutachten hatte, der auch
schon in einer Strafanstalt beobachtet war und von dem Strafanstaltsdirektor
ebenfalls für unzweifelhaft geisteskrank gehalten ward. Trotzdem ward die
bezügliche Frage von dem Schwurgericht verneint, der Geisteskranke zum Tode
verurtheilt und enthauptet. Wir sind solchen Vorkommnissen gegenüber machtlos.
Wie oft kommt es vor, dass die Frage der geistigen Störuug, der Zurechnungs¬
fähigkeit gar nicht erhoben wird, wenn in dem Vorleben des Angcschuldigten
auch noch so viel Anlass dazu geboten, wenn er z. B., wie mir gerade ein Fall
vorliegt, schon in mehreren Irrenanstalten gewesen ist. Zwischen dem Sachver¬
ständigen und dem Staatsanwalt herrscht nicht selten ein kleiner Krieg, indem
dieser anscheinend der Anschauung ist, als ob der Medizinalbeamte in nicht
gerechtfertigter Weise die Absicht hätte, ihm die Beute streitig zu machen.
Endlich halte ich die Beobachtung der Simulanten doch nicht für eine so
selten vorkommende und gleichgültige Sache. Ich habe in meiner gerichtsärzt¬
lichen Praxis eine Reihe von Fällen erlebt, dass von Gefangenen Geisteskrank¬
heit in einer sehr hartnäckigen und nicht immer leicht zu erkennenden Weise
simulirt wurde. In einer Irrenanstalt wurde die Simulation festgestellt. Dazu
würde die Einrichtung solcher Stationen, wie sie hier ins Leben gerufen worden
sind, sich auch anderswo nützlich erweisen.
H. Kr.-Phys. Dr. Coester - (Goldberg): Dadurch, dass nicht immer
Geisteskranke den Medizinalbeamten zur Beurtbeilung überwiesen werden, kom¬
men vor Gericht manchmal ganz wunderbare Zustände vor. Ich hatte z. B.
Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene.
95
nachfolgenden Fall zn beurtheilen. Ein Kaufmann hatte im Rausch beleidigende
Aeusserungen gegen eine Staatsanstalt gethan und war deshalb angeklagt worden.
Sein Hausarzt gab vor der Strafkammer ein sachverständiges Gutachten dahin
ab, dass der Betreffende nicht im Stande gewesen wäre, die Folgen seiner Hand¬
lung zu überlegen, weil er erblich belastet sei. Er wurde in Folge dessen
frei gesprochen, und die Staatsanwaltschaft stellte konsequenterweise den Antrag,
ihn zu entmündigen. Ich musste den Mann untersuchen und konnte bloss kon-
statiren, dass er ein Säufer war, dass er aber nach meiner Ueberzeugung voll¬
ständig im Stande war, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen, und dass
er also auch straffähig war. Nach diesem meinem Urtheil wurde der Mann nicht
einer Irrenanstalt übergeben und nicht entmündigt. Er läuft noch gegenwärtig
unbestraft umher mit der Möglichkeit, jederzeit wiederum irgend eine Strafthat
ungeahndet zu begehen; also gewissennassen als ein Mensch, der im Augenblick
alles Mögliche unternehmen und thnn kann, ohne dass ihm vom Richter irgend
eine Strafe zudiktirt wird. Ich möchte deshalb der Ansicht sein, dass auch
bereits in der Voruntersuchung, wenn der Einwand von Seiten des Beklagten
gemacht wird, dass er geisteskrank sei, nicht nur der Hausarzt, sondern auch
ein Sachverständiger, der mit der Beurtheilnng von Geisteskranken vertraut ist,
mit der Untersuchung solcher Kranken betraut wird, damit nicht derartige ganz
wunderbare Zustände öfter wiederkehren.
H. Dr. Leppmann: M. H.! Herrn Wallichs zunächst möchte ich
erwiedern, dass man bei der Vortäuschung von Geistesstörung bei Rechtsbrechern
mehrere Gruppen trennen muss.
Erstens nämlich gehört dazu das sehr häufige Bestreben Angeklagter,
Vorkommnisse aus ihrem Vorleben durch geschickte Darstellung oder durch
gefärbte Aussagen ihnen Nahestehender zu fingiren oder so aufzubauschen, dass
sie daraus günstige Folgerungen für ihre geistige Unfreiheit zur Zeit der That
sich zu schaffen suchen.
Zweitens gebe ich auch zu, dass bei Untersuchungsgefangenen zu diesem
Bestreben, Ereignisse aus dem Vorleben umzuformen, sich nicht selten die positive
Vortäuschung von Stumpfsinn, Aengstlichkeit epileptischen Zuständen, ja auch
von Wahnideen gesellt und dass diese Simulation mit einer gewissen Hartnäckig¬
keit betrieben, und, weil der Untersuchungsgefangene den Ernst der Freiheits¬
strafe noch nicht voll empfinden kann.
Drittens lehrt mich die Erfahrung, dass Strafgefangene, namentlich
jüngere, kurz nach ihrer Einlieferung aus einer Art verzweifeltem Muthwillen
heraus bisweilen eine kurze Gastrolle auf dem Gebiete der Simulation von Seeion¬
störung geben, ihre Geräthe zertrümmen, heulen, Krämpfe simuliren etc. Diese
sind leicht mit einer Douche zu kuriren, ja selbst wenn man sie sich selbst
überlässt, hören sie schon nach Stunden und Tagen auf, den wilden Mann weiter
darzustellen, da es sich eben nur um eine Augenblickslaune handelt. Die ziel¬
bewusste Vortäuschung aber einer Seelenstörung über Wochen und Monate
hinaus, dass Standhalten etwaiger Ausprobungen und disziplinären Massregeln
gegenüber ist sehr selten und ich muss nochmals betonen, dass unter den
aul die Irrenabtheilung Eingclieferten, bei denen ja ein mindestens wochen¬
langes Auffallendwerden in Rede und Handlung und eine schriftliche Be¬
gutachtung durch den Gefängnissarzt der Anfnahme vorausgegangen war, kein
einziger Simulant sich befand.
Was ferner die Bemerkung des Herrn Kollegen Coester betreffs der
Schwierigkeiten in dem nach einem Strafverfahren angestrengten Entmündigungs¬
verfahren anbetrifft, so machen wir hier in der Gressstadt die gleiche Erfahrung
sehr häufig. Die Geistesstörungen der Trinker sind entweder so transitorisch,
oder blassen bei Verbringung in eine Anstalt und Entziehung des Giftes so rasch
ab, dass ohne eine Erweiterung der Gesetzgebung, die für solche Charakter¬
schwächlinge nothwendige jahrelange Entziehung der bürgerlichen Selbstständig¬
keit nicht durchzuführen ist.
Auch auf die Armenpflege möchte ich noch eiumal zurückkommen, weil
ich eins vorhin nicht scharf genug betont habe. Wir sehen, dass in Folge des
Verkennens der geistigen Unzulänglichkeit die Leute förmlich wieder ins Ver¬
brechen gejagt werden.
Darf ich Ihnen dies an einem Beispiel erläutern. Ein alter Zuchthäusler,
erheblich schwachsinnig und deshalb reizbar, kommt in Folge eines Tobanlälls
96
Dr. Leppm&nn: Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene.
zu nns auf die Irrenstation. Er wird allmählich ruhiger, kann in die Strafanstalt
zurückkehren und benimmt sich dort willig und flcissig. Da aber seine geistige
Invalidität verbunden mit einer gewissen körperlichen Dekrepidität deutlich bleibt,
schickt ihn die Strafanstaltsdirektion am Strafende an seine Heimathsbehörde
mit dem Anheimgeben, man möge ihn doch in ein Armenhaus aufnehmen oder
unterstützen. Die Strafanstaltsdirektion habe die Ueberzeugung, dass er nicht
träge sei, er könne sich aber wegen seiner Schwachköpfigkeit nicht weiter helfen.
Nach einigen Tagen kam ein Brief des Entlassenen, man habe ihm gesagt, man
denke nicht daran, ihm etwas zu geben. Was blieb ihm übrig, er wurde sofort Va¬
gabund. Dann kam noch ein Brief, er habe auf einem Dorfe vorübergehend Arbeit
gefunden, bald kam ein dritter, er könnte sich nicht mehr helfen, er müsste
wieder stehlen. Das hat er dann auch gethan. Jetzt sitzt er wieder für viele
Jahre im Zuchthaus und kommt wahrscheinlich in der nächsten Zeit wieder auf
die Irrenstation.
Vorsitzender: Es hat sich Niemand mehr zum Wort ge¬
meldet ; auch ist eine Abstimmung über die vom Herrn Referenten
gemachten Vorschläge weder von diesem noch von einem der
anderen Herren gewünscht. Ich schliesse daher die Diskussion
und spreche dem Herrn Dr. Leppmann unseren Dank aus für
seinen vortrefflichen Vortrag.
III. Zur staatlichen Beaufsichtigung des
Irreuweseus.
H. Kr.-Phys. Dr. Meyhöfer (Görlitz): M. H.! Der bekannte
vorjährige Aufruf in der Kreuzzeitung, welcher in hohem Grade
die Presse, mehr noch die politische als die fachwissenschaftliche,
in Bewegung setzte und die öffentliche Meinung in nicht zu ver¬
kennender Weise erregte, veranlasst« unsern Vorstand, mich schon
für das verflossene Jahr mit dem Referat über die wichtige Frage
der staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens zu betrauen. Da
nun diese Frage seither in den verschiedensten Variationen be¬
sprochen worden ist, zu einem Theile derselben auch ärztliche
Körperschaften sich haben vernehmen lassen, so konnte es fraglich
erscheinen, ob für unsere diesjährige Versammlung das Thema
noch ein genügendes aktuelles Interesse haben dürfte. Um so
grösser musste aber dieser Zweifel werden, als in der Sitzung des
Abgeordnetenhauses vom 10. v. Mts. auf eine diesbezügliche Inter¬
pellation der Herr Ministerial - Direktor Dr. Bartsch die Er¬
klärung abgab, dass die Erledigung der Angelegenheit bereits in
Angriff genommen sei und ihrer baldigen Erledigung entgegengehe.
Als im vorigen Jahre ein bekannter Fall das öffentliche Interesse
weiter Kreise in Anspruch genommen, habe der damalige Herr
Minister auf seinen Rath der Wissenschaftlichen Deputation die
Frage zur Begutachtung überwiesen, ob die gegenwärtig bestehen¬
den Vorschriften für ausreichend zu erachten seien, um eine Sicher¬
heit dafür zu geben, dass ein Nichtkranker nicht wider seinen
Willen in eine Irrenanstalt aufgenommen oder in derselben detinirt
werden können. „Die Wissenschaftliche Deputation“, sagte der
Herr Ministerial - Direktor „hat aber aus eigenem Antriebe die
Dr. Meyhöfer: Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irreuwesens.
97
Frage erweitert, nicht blos die Frage der Aufnahme eines Kranken
in eine Irrenanstalt in den Kreis ihrer Begutachtung gezogen, sie
hat vielmehr das ganze Material gutachtlich erörtert. Wir haben
uns in den Gesetzgebungen Frankreichs, Belgiens, der Schweiz,
Norwegens und anderer Kulturstaaten umgesehen, um zu prüfen,
ob die dort bestehenden gesetzlichen und administrativen Vor¬
schriften etwa Material enthalten, welches auch für uns verwerth-
bar wäre. So haben wir im vorigen Jahre in monatelanger, ernster
Arbeit und in wiederholten Lesungen ein umfangreiches Gutachten
über die gesammte Frage des Irrenwesens fertig gestellt, welches
demnächst auch weiteren Kreisen durch den Druck zugänglich
gemacht werden wird.“ — Weiter führte der Herr Ministerial¬
direktor aus: „Dieses Gutachten der Wissenschaftlichen Deputation
ist dem Herrn Medizinal-Minister unterbreitet worden, und der¬
selbe hat sich im Wesentlichen mit dem Gutachten und den darin
entwickelten Grundsätzen einverstanden erklärt; er ist sodann mit
denjenigen Herren Ressortchefs, die bei dieser Angelegenheit in
gleicher Weise betheiligt sind, nämlich mit den Herren Ministem
des Innern und der Justiz, in Verhandlungen getreten, und auch
diese haben im Grossen und Ganzen das, was die Wissenschaft¬
liche Deputation unterbreitet hat, als zutreffend anerkannt. Da
nun aber die Angelegenheit bei ihrer grossen Schwierigkeit noch
einer eingehenden Durchberathung bedarf, so haben die Herren
Ressortminister kommissarische Berathungen in Aussicht genommen,
und diese finden gegenwärtig statt.“
Ich bin nun ganz in Uebereinstimmung mit unserem Vor¬
stande der Ansicht, dass diese von dem Ministertische gegebene
Erklärung für uns keinen Grund abgeben könne, uns der Be¬
sprechung des Gegenstandes zu enthalten. So lange die Vorschläge
der Wissenschaftlichen Deputation noch im Stadium der Berathung
sich befinden, ist es für uns noch nicht zu spät, unsere An¬
sichten kund zu thun und etwaige Wünsche den hohen Behörden
zu unterbreiten. Gerade wir Medizinalbeamten sind bei der
Sache in erheblichem Maasse interessirt und vom Standpunkte
der Medizinalbeamten aus ist dieselbe bisher noch kaum erörtert
worden.
M. H., die Hauptpunkte bei der Frage der staatlichen Be¬
aufsichtigung des Irrenwesens betreffen die Aufnahme von Geistes¬
kranken in Irrenanstalten und ihre Entlassung, die Beaufsichtigung
der Anstalten, Ertheilung von Konzessionen zur Errichtung neuer
Irrenanstalten und das Entmündigungsverfahren.
Letzteren Punkt, das Entmündigungsverfahren, beabsichtige
ich nicht in den Kreis unserer heutigen Besprechung zu ziehen,
da wir uns hierüber bereits mehrfach in unseren Versammlungen
unterhalten haben. In den Jahren 1885, 1887 und 1889 haben
wir hierüber die Herren Falk, Mittenzweig, Siemens,
Wallichs u. A. ausführlich gehört, und seit jener Zeit hat sich
nichts ereignet, was Veranlassung geben könnte, die Frage von
Neuem anzuregen. Erst wenn der Entwurf des zu erwartenden
neuen deutschen Zivil-Gesetzbuches fertig gestellt sein wird,
7
98
Dr. Meyhöfer.
dürfte sich vielleicht wieder eine Gelegenheit bieten, auf die Sache
zurückzukommen. —
In Preussen haben wir eine Gesetzgebung für das Irren¬
wesen noch nicht. Aufnahmewesen und Ueberwachung der An¬
stalten werden durch Ministerialverordnungen, Konzessionirung von
Privatanstalten durch Bestimmungen der Gewerbeordnung für
das Deutsche Reich, Entmündigung durch die Zivilprozessordnung,
Unterbringung von der Geisteskrankheit verdächtigen Angeklagten
in öffentlichen Irrenanstalten durch die Strafprozessordnung, die
Begriffe endlich über Blödsinn und Wahnsinn werden durch das
allgemeine Landrecht geregelt.
Es wäre wohl wünschenswerth, dass Alles, was sich auf das
öffentliche Irrenwesen bezieht, in einem für das Deutsche Reich
gütigen Irrengesetz zusammengefasst werden möchte, indessen sind
die Aussichten hierfür sehr gering, da das Reich eine verfassungs¬
mässige Kompetenz, auf die Bundesstaaten in Verwaltungsange¬
legenheiten einzuwirken, nicht besitzt. Daher wird einstweüen
nichts anderes übrig bleiben, als dass die einzelnen Bundesregie¬
rungen für sich die Sache durch eigene Bestimmungen reguliren.
Allerdings dürfte man sich auch nach dem etwaigen Erlass
eines noch so sorgfältig ausgearbeiteten Irrengesetzes der Hoff¬
nung nicht hingeben, dass die Anschuldigungen betreffend unge¬
rechtfertigte Unterbringung in Irrenanstalten dann gänzlich auf¬
hören werden. Dies lehren die Verhältnisse in Frankreich, England
und anderen Ländern, welche sich einer Irrengesetzgebung erfreuen,
und in welchen trotzdem solche Anschuldigungen ebenso erhoben
werden wie bei uns. —
Diese Anschuldigungen sind es, welche die neueste Bewegung
in Betreff der Ueberwachung des öffentlichen Irrenwesens so leb¬
haft und in einem gewissen Sinne populär haben werden lassen.
Der Umstand, dass die Anregung der neuesten Phase dieser Be¬
wegung in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 16. März v. J.
ein unverkennbar politisch-tendenziöses Gepräge mit konfessionellem
Hintergründe zeigte, darf von einer objektiven und ruhigen Erörte¬
rung der Frage uns nicht abhalten.
Der bekannte Aufruf in der Kreuzzeitung vom 9. Juli v. J.
geht von der Voraussetzung aus, dass „eine Anzahl Fälle in den
letzten Jahren an’s Tageslicht gekommen seien, in welchen Leute,
die nach der Auffassung weiter Kreise durchaus bei Verstände
waren, für geisteskrank erklärt oder gar in’s Irrenhaus gesperrt
worden seien“, und kommt zu dem Schlüsse, dass „die unschätz¬
baren Güter des Verstandes, der Rechtsfähigkeit und der Freiheit,
eines wirksameren Schutzes bedürfen, als das freie Ermessen des
Richters und das Gutachten der von ihm oder von der Polizei¬
behörde beauftragten Sachverständigen“.
Die Prüfung der sämmtlichen Fälle von angeblich wider¬
rechtlicher Freiheitsberaubung durch zwangsweise Unterbringung
in Irrenanstalten ist selbstverständlich unmöglich. Soweit es aber
die Literatur, welche in erster Reihe von angeblich falsch beur-
theilt gewesenen Personen selber herrührt, gestattet, dieselben zu
Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens.
99
studiren, hat sich noch kein einziger als sicher konstatirt erkennen
lassen. Im Gegentheil geht aus allen den ungeheuerlichen Elabo¬
raten solcher schriftstellernden, angeblich vergewaltigt gewesenen
Personen ihre offenbare Geisteskrankheit zweifellos hervor.
Es muss aber zugegeben werden, dass, da es sich um Kranke
handelt und in dem Erkennen einer Krankheit ein diagnostischer
Irrthum möglich ist, wohl einmal ein Nichtgeisteskranker zu Un¬
recht eingeliefert werden kann, und solche Fälle sind zweifellos
dagewesen. Sache der Anstalt wird es aber dann sein, die irr-
thümliche Diagnose zu rektifiziren, und dies wird in recht kurzer
Zeit geschehen können und müssen. Zu längerer, widerrechtlicher
Intemirung giebt es zweifellos, wie schon La ehr auf der Jahres¬
versammlung des Vereins der deutschen Irrenärzte im Jahre 1887
sehr richtig ausführte, wohl keinen ungeeigneteren Ort als die
Irrenanstalt. Bei dem heutigen so gesteigerten Verkehrsleben,
welches auch die Anstalten betrifft, ist es undenkbar, dass ein
widerrechtlich eingesperrter Mensch nicht Mittel finden sollte, mit
der Aussenwelt zu verkehren und seine Freiheit wieder zu er¬
langen. —
Auf das zur Zeit bei uns übliche Verfahren, welches zwischen
öffentlichen und privaten Anstalten unterscheidet, brauche ich als
allgemein bekannt hier nicht weiter einzugehen. Aus naheliegen¬
den Gründen richten sich die Angriffe betreffs widerrechtlicher
Freiheitsberaubung nur gegen die Privatanstalten, und nehme ich
in Nachstehendem daher vorwiegend auf diese Bezug.
In durchaus zweckmässiger Weise trägt das Aufnahme¬
verfahren dem Umstande Rechnung, dass jede Irrenanstalt —
abgesehen von den reinen Pflegeanstalten — zunächst eine Heil¬
anstalt ist, und dass im Interesse der Heilbarkeit der Kranken
die Aufnahme nicht unnöthig erschwert zu werden braucht, sondern
in kürzester Frist erfolgen kann. Das für Privatanstalten erfor¬
derliche Physikatsattest kann nach auf hausärztlichem Zeugnisse
erfolgter Aufnahme von dem für die Anstalt zuständigen Physikus
nachträglich ausgestellt werden. Eine jede Erschwerung der Auf¬
nahme, wie diejenigen es wünschen, welche in völlig einseitiger
Auffassung des Wesens der Irrenanstalten in diesen in erster
Linie Detinirungsanstalten erblicken, müsste im Sinne der Hu¬
manität sehr bedauert werden. Es beruht auf völliger Verken¬
nung der Verhältnisse, wenn es in dem mehrfach erwähnten
Aufruf heisst, dass „hierbei nicht juristische und medizinische,
sondern lediglich die praktischen Gesichtspunkte der erwiesenen
Hülfslosigkeit oder Gemeingefähiiichkeit ausschlaggebend sein
dürfen“. —
Nach dieser Auffassung würde die Bedeutung der Irrenan¬
stalten vorzugsweise darin liegen, dass sie einerseits Asyle für
die Hülflosen, andererseits Internirungsgelegenheiten für die Ge¬
meingefährlichen wären. In dieser schiefen Auffassung liegt eine
grosse Gefahr, sowohl für die Geisteskranken selbst, als auch für
die wissenschaftliche Forschung, die Psychiatrie, sie bedeutet einen
Rückschritt heute, wo gerade vor 100 Jahren, um mit den Worten
7*
100
Dr. Meyhöfer.
eines Schriftstellers 1 ) zu reden, Pinel die Ketten der Irren brach
und sie zur Würde von Kranken erhob.
Nach dieser Richtung hat die Erklärung des Herrn Ministerial-
'Direktors im Abgeordnetenhause am 10. v. Mts. beruhigend gewirkt,
welche folgendermassen lautete: „Zunächst die Aufnahmefrage.
Die Wissenschaftliche Deputation steht im Allgemeinen auf dem
Standpunkt, dass in diesem Punkte die bestehenden Vorschriften
vielleicht zu verschärfen wären. Aber, m. H., es ist dabei doch
nicht zu vergessen, dass eine solche Verschärfung mit grosser
Vorsicht gehandhabt werden müsste, denn es kommen doch auch
nicht selten Fälle vor, in denen die Erschwerung der Aufnahme
eines so unglücklichen Kranken in eine Irrenanstalt unter Um¬
ständen eine grosse Härte ist, — für ihn und seine Angehörigen.
Man wird also suchen müssen, die richtige Mitte zu finden, und
wie das zu geschehen hat, das unterliegt noch weiterer Erwägung.“
An einer anderen Stelle seiner Ausführungen erklärt der
Herr Ministerial-Direktor, nachdem er die zur Zeit bestehenden
Vorschriften erläutert hat: „Die Staatsverwaltung ist auch in der
That nicht in der Lage, eine andere Garantie zu bieten, als das
Gutachten eines beamteten Arztes gewährt.“
Diese Erklärung, m. H., ist eine sehr erfreuliche, wir dürfen
in ihr eine Antwort erblicken auf die Forderung des Keuzzeitungs-
Aufrufes, dass die Entscheidung „über jede Internirung in eine
Irrenanstalt, bei der es sich nicht um einen plötzlich in gefahr¬
drohender Weise hervortretenden Ausbruch von Geistesstörung
handelt, in die Hand einer Kommission unabhängiger Männer ge¬
legt werden solle, die das Vertrauen ihrer Mitbürger geniessen.“
Dieses Verlangen nach einer Kommission unabhängiger, das
Vertrauen ihrer Mitbürger geniessender Männer ist schon seitens
mehrerer Aerztekammern beleuchtet und zurückgewiesen worden.
Dasselbe zeigt in der That, wie Mendel treffend sagt, eine durch
Sachkenntniss nicht getrübte Subjektivität, und beruht auf einer
völligen Unkenntniss des Wesens der Geisteskrankheiten und des
Verhaltens der Geisteskranken. Eine solche Kommission würde
oft zu wunderlichen Ergebnissen gelangen. Wir Physiker kennen
wohl Alle aus der Erfahrung nicht wenige Fälle, in welchen der
explorirende Richter nach völlig resultatlosem Examen die Führung
des Gespräches dem Sachverständigen überlassen und dann erst
nach kurzer Zeit über die Wahnvorstellungen des Provokaten
sich belehren lassen muss. Wie mancher gebildete Verrückte
wird einer von Sachkenntniss unbeeinflussten Laienkommission als
ein völlig gesunder, scharfdenkender und geistreicher Mann
erscheinen.
Würde man die Entscheidung, ob ein Mensch geisteskrank
ist und der Aufnahme in eine Irrenheilanstalt bedarf, einer solchen
Kommission überlassen, welche nur „die praktischen Erwägungen“
als entscheidend anerkennen sollte, so würde man einen Zustand
') Hermann Reuss: „Der Rechtsschutz der Geisteskranken“, Leipzig.
18N8. R o s s be rg ’ sehe Buchhandlung. S. 10.
Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens.
101
sanktioniren, der den schlimmsten Missbräuchen und den ärgsten
Willkürmassregeln Thor und Thür öffnete.
Wenn ich demnach für eine Verschärfung der Aufnahme¬
bedingungen nicht eintreten kann, so habe ich mich im Gegentheil
tragen müssen, ob nicht etwa insofern eine Erleichterung eintreten
könne, als von der Beibringung eines Physikatsattestes Abstand
genommen werden dürfe. M. H., ich betrachte die Rolle, welche
der Physikus hierbei zu spielen hat, rein sachlich; ich habe nur
die Sicherheit vor Augen, welche durch seine Mitwirkung den
Betheiligten geboten werden solle, lasse aber das Moment, welches
in der Aufbesserung seiner Stellung dabei gefunden werden könnte,
völlig ausser Augen. Und da muss ich doch sagen, dass in der
jetzt geforderten Mitwirkung des Physikus nicht selten eine erheb¬
liche Härte erblickt werden muss. Wenn die Verhältnisse überall
so liegen möchten, wie an meinem Wohnort, wo durch meine der
am Platze befindlichen Anstalt abgestatteten Besuche den Kran¬
ken keine nennenswerthe Kosten erwachsen, dann Hesse sich gegen
die Bestimmung nichts Erhebliches einwenden. Es giebt aber
eine ganze Reihe von Anstalten, die fern von dem Sitze des
Physikus gelegen sind, und bei diesen verursachen die von dem¬
selben zu machenden Besuche den Kranken doch recht erhebliche
Unkosten. — Ich meine nun, unseren nicht beamteten Kollegen
dürfe wohl das Zutrauen geschenkt werden, dass sie ein zuver¬
lässiges Gutachten über die Nothwendigkeit der Unterbringung
eines Geisteskranken abgeben werden, und ich halte den §. 239
des R.-Str.-G. für ausreichend, um jeden Aussteller eines solchen
Attestes der Bedeutsamkeit seines Handelns sich bewusst bleiben
zu lassen.
Hierzu ist aber die Durchführung einer sorgfältigen Beauf¬
sichtigung erforderlich. Die Allgemeinheit hat gegenüber einer
so tief in das Leben des Einzelnen und der Familie einschneiden¬
den Massregel, wie die Unterbringung eines Kranken in eine
Irrenanstalt, unbedingt das Recht, eine strenge Beaufsichtigung
des Irrenwesens vom Staate zu verlangen. Ferner besteht zwischen
einer Heilanstalt für allgemein Kranke und einer Irrenanstalt
immer der grosse Unterschied, dass in die eine die Kranken frei¬
willig, in die andere oft oder meist unfreiwillig gehen.
Bis jetzt war die Beaufsichtigung der Privat - Irrenanstalten
eine sehr milde. Die ganze Sache lief darauf hinaus, dass in
einem Halbjahr der Regierungs-Medizinal-Rath, in dem andern
der Physikus die vorgeschriebene Revision abhielt. Hierin ist
eine Aenderung erforderlich, insbesondere mit Rücksicht auf die
zahlreichen Anstalten, welche in den Händen von Nichtärzten sich
befiuden. Gegen eine derartige schärfere Ueberwachung sträuben
sich auch keineswegs die ihrer Aufgabe gewachsenen Psychiater,
welche Anstaltsleiter sind, im Gegentheil, sie wünschen eine solche,
weil sie mit Recht in ihr den besten Schutz für sich gegen unge¬
rechtfertigte Anschuldigungen erblicken.
Völlig unberechtigt ist die jetzt vielfach im Interesse der
Sicherstellung der persönlichen Freiheit erhobene Forderung, dass
102
Dr. Meyhöfer.
die Aufnahme eines Geisteskranken nur nach voraufgegangener
Entmündigung desselben erfolgen solle. Abgesehen von der damit
verbundenen Verzögerung der Aufnahmen, den sehr erheblichen
Kosten, den Unzuträglichkeiten bei eingetretener Wiedergenesung,
würde das Verfahren gegen viele Kranke eine Grausamkeit
bedeuten und den unglücklichen Zustand derselben arg verschlimmern.
Man denke nur an einen Melancholiker, welcher in der Vorstellung
lebt, eine schwere Schuld auf sich genommen zu haben; welche
Seelenqualen würde es diesem bereiten, wenn er zum Zwecke der
Entmündigung einem gerichtlichen Verfahren unterworfen werden
sollte.
Was nun die Beaufsichtigung der Irrenanstalten anbetrifft,
so äusserte sich hierzu der Herr Ministerial - Direktor folgen-
dermassen: „Wir sind mit dem Herrn Vorredner der Auffas¬
sung, dass die Kraft eines einzelnen Beamten nicht genügt, um
eine hinreichende Aufsicht zu üben; wir sind der Meinung, dass
eine Kommission, die wir salva redactione Besuchskommission
genannt haben, einzusetzen sein wird für bestimmte Bezirke,
bestehend aus einem hervorragenden Kenner der Psychiatrie, etwa
dem Direktor einer Irrenanstalt, aus einem höheren Verwaltungs¬
beamten und aus sonst geeigneten, auch von dem Herrn Vorredner
gekennzeichneten Elementen. Diese Besuchskommission würde
die Irrenanstalten, die ihr bezirksweise unterstellt sind, nicht
blos nach der Seite der sanitären Einrichtungen zu untersuchen
haben, sondern namentlich auch nach der Seite der Kranken¬
geschichte jedes einzelnen Patienten; sie würde berufen sein,
deren Beschwerden und diejenigen ihrer Angehörigen entgegen zu
nehmen, und so würde die Kommission ein reiches und ergiebiges
Feld der Thätigkeit haben.“
Die Einsetzung derartiger Besuchskommissionen, wie sie in
manchen Ländern schon vorhanden sind, kann nur als ein durch¬
aus zweckmässiges Vorhaben bezeichnet werden. Es wird aber
bei der Zusammensetzung derselben mit grosser Sorgfalt vorge¬
gangen werden müssen, wenn man etwa den Wünschen des von
dem Herrn Ministerial-Direktor erwähnten Vorredners Rechnung
tragen will, welche dahin gingen, dass bei der Kommission „nicht
blos Aerzte, auch nicht blos Juristen sein sollen, sondern auch
Männer aus anderen Ständen, die nicht nach Fachkenntnissen ur-
theilen, auch nicht durch medizinische Gutachten beeinflusst sind,
sondern auf den Augenschein sehen“. —
M. H., wir wollen nicht hoffen, dass die Staatsregierung
diesen Wünschen gar zu weit entgegenkommen möge. Fachkennt¬
nisse sind doch in keiner Spezialität ein Hinderniss für die richtige
Beurtheilung einer in dieselbe gehörigen Sache, und eine Spezialität,
und zwar eine sehr schwierige, ist und bleibt die Lehre von den
Geisteskrankheiten innerhalb des Rahmens der allgemeinen medi¬
zinischen Wissenschaft. Welches Unheil würde eine Kommission
anrichten, welche Missgriffe würde sie begehen können, wenn in
ihr das Laienelement die Oberhand hätte, und sie wirklich die
Irrenanstalten namentlich auch nach der Seite der Krankengeschichte
Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens.
103
jedes einzelnen Patienten untersuchen und die Beschwerden des¬
selben entgegennehmen solle! Würden die Kommissionen gar noch
das Recht der Initiative erhalten und ihnen gesund scheinende
Kranke womöglich sofort entlassen dürfen, dann würde die ganze
Existenzfähigkeit der Anstalten in Frage gestellt werden können.
Ich meine also, dass das Laienelement in der Kommission zurück¬
treten müsse, da die Sachkenntnis der Aerzte kein Grund sein
könne, sie als minder geeignet erscheinen zu lassen wie die Laien.
Sehr zweckmässig aber ist es, wenn ein Verwaltungsbeamter,
vielleicht auch ein Techniker, in der Besuchskommission enthalten
ist, denn gerade nach der verwaltungs- und bautechnischen Seite
werden diese für den eigentlichen Revisor, den sachverständigen
Psychiater, ein schätzenswerther Beistand sein. Dieser Psychiater
wird aber zweckmässiger Weise ein solcher sein müssen, welcher
eine Anstalt wirklich selbstständig geleitet hat oder noch leitet;
denn nur er wird im Stande sein, in sachgemässer Weise
eine gründliche Revision des komplizirten Getriebes einer Irren¬
anstalt so vorzunehmen, dass ihm etwaige Mängel nicht ent¬
gehen.
Eine solche Kommission kann sehr segensreich wirken. Nicht
sowohl sehe ich den Hauptnutzen derselben darin, dass sie Fällen
von ungerechtfertigter Einsperrung nachspüre, also eine vor¬
wiegend polizeiliche Aufgabe erfülle, als vielmehr darin, dass sie
dem Anstaltsinhaber gegenüber berathend, belehrend und anspor¬
nend zur Seite stehe, damit dieser seine sämmtlichen Einrichtungen
dauernd gleichmässig auf der Höhe der Zeit zu halten bestrebt
bleibe. Nach aussen hin werden sie ja gleichzeitig ängstlichen
Gemüthern, welche durch das Gespenst der widerrechtlichen Frei¬
heitsberaubung gequält werden, zur Beruhigung gereichen. Darauf,
dass in diesen Kommissionen nur Direktoren öffentlicher An¬
stalten mitwirken, braucht wohl kaum ein Gewicht gelegt zu
werden. Tüchtige Leiter von Privatanstalten weiden sich als
Revisoren ebensogut eignen.
Für erforderlich halte ich es, dass der zuständige Kreis-
Physikus das geborene Mitglied der Kommission ist. Er muss in
erster Linie Gelegenheit haben, die Anstalten seines Bezirkes
genau kennen zu lernen, denn seiner Mitwirkung wird die auf¬
sichtsführende Behörde nicht entrathen können. Finden sich
Mängel bei einer Revision, dann wird er gerade derjenige sein,
welcher darüber zu wachen, sich davon zu überzeugen hat, dass
dieselbe so schleunig wie möglich beseitigt werden. — Er wird
im Gegensatz zu den periodischen Revisionen der Kommissionen
die fortlaufende Aufsicht über die Privatanstalten zu führen haben.
Wenn in dieser Weise die Aufsicht umgestaltet wird, dann
sehe ich keine Nothwendigkeit ein, auf der Herbeischaffung eines
Physikatsattestes, um auf diesen Punkt zurückzukommen, zu
bestehen. Die Diagnose der Krankheit und Nothwendigkeit der
Aufnahme kann ruhig der Hausarzt bescheinigen, oft gewiss besser
als der nur einmal hinzugezogene Physikus; an letzteren muss
die Meldung nebst ärztlichem Attest gelangen, und er hat auf
104
Dr. Meyhöfer.
Grund dersselben zu prüfen, ob eine sofortige Untersuchung von
ihm noch vorzunehmen sei. —
Dass auch eine ausschliesslich vom Kranken selbst zum
Zwecke der Erlangung von Genesung gewünschte Aufnahme erfol¬
gen könne und müsse, halte ich für selbstverständlich.
Hierdurch würde in diesem Punkte die Stellung des Physikus
zu der einer Behörde erhoben werden, und es könnte damit noch
etwas beseitigt werden, was ich als einen Uebelstand bezeichnen
möchte: Die Aufnahme von Geisteskranken muss in vielen
Fällen so diskret vor sich gehen, dass die weitere Umgebung
derselben davon nichts erfahrt. Zwar sind die Zeiten vorbei, in
welchen der Ausbruch von Geisteskrankheit als ein Ereigniss
angesehen wurde, welches nicht blos den Ruf des Kranken, sondern
das Ansehen der Familie desselben zu schädigen geeignet wäre,
indessen können viele Personen nur schwer die wirthschaftlichen
Nachtheile ertragen, welche ihnen nach Genesung von Geistes¬
krankheit aus dem Umstande erwachsen, dass ihre Krankheit dem
Publikum nicht verborgen bleiben konnte. Es muss heute nun
die Anzeige von der erfolgten Aufnahme ausser an den zuständigen
Staatsanwalt, welcher ja zuerst berufen ist, die Interessen des
Erkrankten zu vertreten, noch an die Polizeibehörde seines Heimaths-
ortes und desjenigen Ortes gelangen, in welchem die Anstalt
gelegen ist. Ich habe niemals einsehen können, was diese polizei¬
lichen Meldungen bezwecken sollen; aus langjähriger Erfahrung
weiss ich, dass dadurch nur das Schreibwerk vennehrt und
höchstens bewirkt wird, dass die Thatsache der erfolgten Auf¬
nahme eine unerwünschte Publizität erhält. Am meisten gilt dies
natürlich von der Anzeige bei der Polizeibehörde des Heimaths-
ortes des Kranken. Eine Zentralstelle muss selbstverständlich von
der Aufnahme der Kranken in einer Anstalt fortlaufend Kenntniss
erhalten, dies könnte aber sehr wohl das Bureau des zuständigen
Kreispliysikus sein. Bei der Polizeibehörde brauchten nur die
Formalitäten erfüllt zu werden, welche für jeden seinen Aufent¬
halt wechselnden Staatsbürger durch die Bestimmungen des Melde¬
wesens festgelegt worden sind. —
Die Beaufsichtigung der öffentlichen Anstalten wird aus
naheliegenden Gründen eine einfachere sein können. Sie ist aber
nicht überflüssig, und würde das Fehlen einer jeden Ueberwachung
auch ohne Analogon auf dem Gebiete unseres ganzen Verwaltungs¬
wesens sein. Allerdings werden hier die Revisionen seltener
stattfinden können wie bei den Privatanstalten, aber auch bei ihnen
werden die Besuchskommissionen ein genügend grosses Feld für
die Entwickelung einer anregenden und fördernden Thätigkeit finden.
Was nun die Entlassung von Geisteskranken anbe¬
trifft, so Hessen sich wohl kaum Vorschläge machen, wie die per¬
sönliche Freiheit, soweit dies mit dem Zustande der Kranken sich
verträgt, noch mehr gewährleistet werden sollte, als dies zur Zeit
der Fall ist. Aus Privatanstalten können die Angehörigen jeden
Augenblick den Kranken nach Hause holen. Daran,dass in öffent¬
lichen Anstalten ein Mensch widerrechtlich festgehalten werden
Zar staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens.
105
sollte, können ernsthaft nur solche denken, die von dem Organis¬
mus derartiger Anstalten, von der Ueberfullung derselben, unter
welcher ihre Leiter schwer zu seufzen haben, keine Vorstellung
besitzen.
Zu den weiteren Sorgen der staatlichen Beaufsichtigung
gehört die Konzessionirung neuer Privatanstalten. —
Nach §. 30 der Gewerbeordnung erhält Jeder, der die genügende
Gewähr für Zuverlässigkeit bietet, eine Konzession zur Errichtung
einer Irrenanstalt. Sache der behördlichen Vorprüfung bleibt nur
die bautechnische Beschaffenheit der in Aussicht genommenen
Räumlichkeiten. Ueber die ärztliche Besorgung von Kranken in
Privat-Irrenanstalten ist für Preussen nur in dem Ministerial-Er¬
lass vom 19. Januar 1883 gesagt, dass in Krankenanstalten, welche
heilbare Irre aufnehmen, mindestens ein Arzt wohnen müsse.
Der Einrichtung von Privat-Irrenanstalten dürfen ungerecht¬
fertigte Schwierigkeiten nicht in den Weg gelegt werden, zunächst
schon deshalb nicht, weil die öffentlichen Anstalten den Anforde¬
rungen bei Weitem nicht genügen. Im Jahre 1891 beherbergten
in Deutschland 114 Privatanstalten 12 983 Kranke, wodurch das
Bedürfhiss für diese Anstalten schlagend nachgewiesen ist. Ausser¬
dem aber geschieht die Aufnahme eines Geisteskranken in die
Provinzial-Anstalten sehr langsam, viel langsamer als es im
Interesse der Kranken und seiner Umgebung wünschenswerth ist,
so dass aus diesem Grunde allein schon die Privat-Anstalten von
den halbwegs zahlungsfähigen Familien bevorzugt werden müssen.
Bei 30 dem Landkreise Görlitz angehörigen, aus den letzten Jahren
von mir herausgegriffenen Geisteskranken dauerte es von dem
Zeitpunkte der physikatsärztlichen Untersuchung (bei uns in
Schlesien ist bei Unterbringung von Kranken in Provinzial-Irren-
Anstalten die Untersuchung durch den Physikus erforderlich) im
Durchschnitt 30 Tage bis zur Einlieferung. Ich habe aber auch
Fälle erlebt, wo die Aufnahme erst nach vielen Monaten erfolgte.
Selbst in dringlichen Fällen muss der Instanzenzug bei uns
eingehalten werden. Auf eine diesbezügliche Anfrage erging unter
dem 7. Juli 1888 von dem Landeshauptmann von Schlesien aus
Breslau der Bescheid, „dass die Kreisphysiker nicht ermächtigt
seien, die Gemeindevorstände zur umgehenden Ueberführung von
Geisteskranken, für deren Leben eine unmittelbare Ge¬
fahr zu befürchten sei, in eine Provinzial-Irrenanstalt zu
veranlassen, dass vielmehr jede Aufnahme von der Zentralstelle
aus angeordnet werden müsse.“
Trotz zweifellos anzuerkennendem Bediirfniss ist es aber doch
die Frage, ob das jetzt übliche Verfahren der Konzessionsertheilung
das richtige sei, ob nicht vielmehr strengere Anforderungen an
den Nachsuchenden zu stellen sein dürften als dies bisher geschah.
Sie kennen Alle die an den Herrn Reichskanzler unter dem
29. September v. J. eingereichte Petition des Steglitzer Haus- und
Grundbesitzervereins, in welcher die Nachtheile hervorgehoben
werden, welche durch eine übermässige Vermehrung der Privat-
Irrenanstalten der Anwohnerschaft und dem ganzen betreffenden
106
Dr. Meyhöfer.
Orte erwachsen sollen. Ich halte diese Petition für nicht unbe¬
gründet, bin aber nicht der Ansicht, dass diese rein volkswirth-
scha ft liehe Frage in unsere heutige Besprechung hineingehört.
Wohl aber glaube ich, dass die Interessen der Kranken eine Aen-
derung bezw. Verschärfung der bisherigen Bestimmungen wünschens¬
wert machen dürften.
Ich halte es für bedenklich, dass der §. 80 der Gewerbe¬
ordnung die Irren - Anstalten mit den übrigen Krankenanstalten
zusammenwirft, da die Geisteskranken, wie ja schon durch die
ganze neuere Bewegung bewiesen wird, eine grössere Berück¬
sichtigung, einen intensiveren Schutz erheischen als die anderen
Kranken. Dies wird ja auch in Bezug auf die Konzessionirung
durch die Ministerial-Verfügung anerkannt, welche verlangt, dass
in Anstalten, welche heilbare Geisteskranke aufnehmen, mindestens
ein Arzt wohnen solle.
Diese letztere Bedingung halte ich für erweiterungsbedtirftig,
ich meine, dass dieselbe fiir alle Privat-Irren-Anstalten, auch für
solche, welche nur Unheilbare aufnehmen, also für die Pflege¬
anstalten gelten sollte. Der Begriff der Heilbarkeit bei Geistes¬
krankheiten ist ein schwankender, dehnbarer, der eine Psychiater
ist eher geneigt, denselben aufzustellen als der andere. Spät¬
heilungen kommen doch gegen alle Voraussicht nicht so gar selten
vor, so bei der akuten halluzinatorischen Verrücktheit, dem Er¬
schöpfungsstupor, ja selbst bei der Paralyse. Jedenfalls bedürfen
auch Pfleglinge fortgesetzter ärztlicher Ueberwachung. Diese ist
aber nicht gewährleistet, wenn die Anstalt in dem Besitz eines
nicht ärztlichen Geschäftsmannes, einer Arztwittwe u. s. w. sich
befindet, und der berathende und behandelnde Arzt nur in locke¬
rem Zusammenhänge mit der Anstalt steht. Ich habe meine Er¬
fahrungen in diesem Punkte, da ich mehrere Jahre ein solcher
Anstaltsarzt an einem Pensionate fiir unheilbare weibliche Geistes¬
kranke gewesen bin, welche in dem Besitze der Wittwe eines
Kollegen sich befand. Es war mir schlechterdings unmöglich, eine
fortlaufende Ueberwachung zu führen, und erst nach Eingehen der
sogen. Anstalt, als diejenigen redeten, welche vorher geschwiegen
hatten, erfuhr ich, dass die wenigen Kranken keineswegs so be¬
handelt und verpflegt worden waren, wie dies vom Standpunkte
der Menschlichkeit hätte gefordert werden müssen.
Ich bin der Ansicht, dass es zweckmässig wäre, zu ver¬
langen, dass der Konzessionsnachsuchende ein Arzt sein oder einen
Anstaltsarzt präsentiren müsse, welcher allein die Verantwortlich¬
keit zu tragen und ausschliesslich mit der Aufsichtsbehörde zu
verkehren hätte. Eine Schwierigkeit, die Bestimmung der Gewerbe¬
ordnung durch eine diesbezügliche Novelle zu ergänzen, kann ich
nicht anerkennen; hat es doch beispielsweise keine Schwierigkeiten
gemacht, die schrankenlose Gewerbefreiheit auf anderen Gebieten
durch Novellen zum Gesetz, welche den Befähigungsnachweis ein¬
führten, einzuengen.
Wenn ich nun schliesslich das Ihnen Vorgetragene zusammen¬
fassen soll, so glaube ich dies kurz dahin thun zu können:
Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens.
107
1. Eine sorgfältige Ueberwachung der Irrenanstalten ist er¬
forderlich; mit derselben darf aber nicht eine Erschwerung der
Aufnahme eines Geisteskranken verbunden sein, da die möglichst
schleunige Unterbringung desselben im Sinne der Heilbarkeit ge¬
boten ist.
2. Die durch die Königliche Staatsregierung angekündigte
Einsetzung von Besuchskommissionen ist als eine höchst zweck¬
entsprechende Massregel zu begrüssen. Sie wird geeignet sein,
das im Publikum verbreitete Misstrauen bezüglich der Möglichkeit
einer ungerechtfertigten Freiheitsberaubung zu beseitigen und auf
den Betrieb, sowie die Einrichtungen der Anstalten, sowohl der
privaten als auch der öffentlichen, forderlich einzuwirken.
3. Diesen Besuchskommissionen soll der zuständige Physikus
eo ipso als Mitglied angehören, er soll — abgesehen von den
periodischen Revisionen — die fortlaufende Ueberwachung der
Privat - Irrenanstalten ausüben.
4. Bei Aufnahme eines Geisteskranken in letztere muss die
Anzeige, ausser an die Königliche Staatsanwaltschaft des Heimaths-
bezirkes des Kranken, gleichzeitig an den für die Anstalt zu¬
ständigen Physikus erstattet werden, an letzteren unter Einreichung
des zur Aufnahme erforderlichen ärztlichen Attestes. Die Bei¬
bringung eines Physikatsattestes ist nicht unbedingt erforderlich.
5. An die Polizeibehörden haben Anzeigen lediglich nach
Massgabe des allgemein gültigen Meldewesens zu erfolgen.
6. Die Gewerbeordnung ist bezüglich des Verfahrens bei Er¬
richtung neuer Privat - Irrenanstalten durch eine Novelle dahin zu
ergänzen, dass der Konzessionsnachsucher ein Arzt sein oder einen
Anstaltsarzt präsentiren muss, welcher allein die Verantwortlich¬
keit zu tragen und ausschliesslich mit der Aufsichtsbehörde zu
verkehren hat.
(Lebhafter Beifall.)
Diskussion.
H. Kr.-Wundarzt Dr. Peyser: Ich möchte mich nur gegen einen Punkt
in den Ausführungen des Herrn Vorredners wenden, und das ist der, dass die
Bestimmung, es solle die Aufnahme eines Geisteskranken in eine Privat-Irren-
Anstalt nur auf Grund eines Physikatsattestes erfolgen, aufgehoben werden soll.
Hiergegen muss ich mich entschieden erklären. Der Herr Kollege hat uns ja
ein lebhaftes Bild der Kämpfe entworfen, die im preussischen Abgeordnetenhause
stattgefunden haben, und die uns zeigen, wie man bestrebt ist, gegen die Wissen¬
schaft der Psychiatrie als solche vorzugehen, wie man das Laienurtheil über das
des Fachmanns stellt. Gewiss sind wir darin einverstanden, dass eine Er¬
schwerung der Aufnahme in diesen Anstalten nicht erfolgen solle, aber gegenüber
Bestrebungen, wie sie der Referent geschildert, die einzige Massregel aufheben,
die heute noch, wenn ich so sagen soll, als eine Art Kautele besteht, halte ich
nicht für woklgethan. Das hiesse nur Wasser auf die Mühle gerade jener
Herren liefern. Ich bin aber auch zur Sache selbst nicht der Meinung, dass
psychiatrische Kenntnisse im Allgemeinen im ärztlichen Stande so verbreitet
sind, um eine Garantie zu bieten, dass die Aufnahme immer in der richtigen
Weise geschieht. Ist eine schnelle Aufnahme nüthig, nun, so kann sie ja auch
heute schon vorläufig ohne Physikatsattest erfolgen, nur dass der zuständige
Physikus nachträglich dasselbe auszustellen hat. Also eine Gefahr für den
Kranken liegt ganz gewiss nicht vor. Dagegen läge die Gefahr vor, dass die
Privat-Irrenanstalten unter Umständen die ihr zugewiesenen Kranken als nicht
geisteskrank zurückweisen müssten. Man erlebt ja in der Privatpraxis auf
108
Dr. Meyhöfer.
diesem Gebiete die allereigenthümlichsten Dinge, und ich glaube, gerade die
Psychiatrie ist ein Fach, das von den meisten Kollegen nicht so kultivirt wird,
wie es geschehen müsste. Damit will ich nicht sagen, dass wir Medizinal¬
beamte etwa ein Recht hätten, ans nun als besondere Psychiater anfzuspielen.
Bei Weitem nicht 1 Ich glaube, eine solche Illusion muss gegenüber dem Vor¬
trage, den wir von Herrn Kollegen Leppmann heute gehört haben, ver¬
schwinden. Aber man verlangt doch von uns im Physikatsexamen, dass wir
uns wenigstens mit den Elementen der Psychiatrie beschäftigt haben, dass uns
die Grundbegriffe derselben klar geworden sind, und das ist doch schon etwas.
Ich bin früher weiter gegangen. Ich habe im Brandenburgischen Provinzial¬
landtage, als damals die Irrenpflege geregelt wurde und aus der Initiative der
Staatsregierung ein Reglement für die Landesirrenanstalt vorgelegt wurde, mit
der Regierung zusammen dafür gewirkt, dass zur Aufnahme in die Landes¬
irrenanstalten auch ein Physikatsattest nöthig sei. Das wurde seitens der Land¬
tagsabgeordneten als ein Streben aufgefasst, die materielle Lage der Physici
zu verbessern. Nichts lag mir ferner. Es sollte aber eine gewisse Garantie
geboten werden, dass in sachverständiger Weise die Fälle von Geisteskrankheit
festgestellt und den zuständigen Anstalten zugewiesen würden. Ich wundere
mich, dass so ungeheuerliche Fälle von Verschleppung Vorkommen sollten, wie
sie der Kollege uns aus Schlesien gemeldet hat. Das ist bei uns in Brandenburg
vollkommen unmöglich. Der Geschäftsgang ist klar vorgezeichnet: Der Arzt
füllt einen Fragebogen aus, wie er für die Aufnahme in die Provinzial-Anstalten
allgemein gültig ist. Dieser Fragebogen geht durch die Polizeibehörde an den
Landesdirektor, der dann bestimmt, in welche der Landes - Irrenanstalten der
Kranke aufzunehmen ist. Dass da einige Wochen vergehen, ist ja gar keine
Frage. Auf der anderen Seite aber haben wir das Recht, gemeingefährliche
Irre ohne Weiteres in die nächstgelegene Irrenanstalt überzuführen und das
nöthige Attest nachzuliefern. Freilich würden wir, wenn wir in der Psychiatrie
nicht sicher sind, uns der Gefahr aussetzen, dass der Direktor unsere Diagnose
nicht für richtig hält und den Kranken zurückweist. Wie also solche Fälle, wie
der Herr Referent erwähnt hat, Vorkommen können, verstehe ich nicht.
Der Physikus ist für diese Dinge zuständig, denn abgesehen von den
psychiatrischen Kenntnissen geht den praktischen Aerzten auch oft die Kennt-
niss der gesetzlichen Verhältnisse, überhaupt des Geschäftsganges ab, sie wissen
oft gar nicht, wie sie es zu machen haben, um sich eines solchen Irren zu ent¬
ledigen. Das kommt sehr häufig vor und bewirkt gerade Verzögerungen. Bei
dem Physikus passirt das so leicht nicht.
Was nun die Kosten betrifft, die nach Ansicht des Referenten aus der
Zuziehung des Physikus namentlich auf dem Lande oft erwachsen, so können
wir ja hier nach den vorliegenden Bestimmungen nur von den Privat-Anstalten
sprechen. Wer aber einen Kranken in eine Privat - Irrenanstalt bringen will,
besitzt wohl immer genug, um auch den Physikus zu bezahlen, und wenn wir
einmal, wie ich wünsche, dahin kommen, dass für die öffentlichen Irrenanstalten
auch wieder der Physikus in sein Recht eingesetzt würde, dann ist ja der Orts¬
armenverband vorhanden, der eventuell für die Kosten einzutreten hat. Ich
glaube, die Zeit ist nicht dazu angethan, um diese geringe Kautele bei der Auf¬
nahme zurückzuweiscn, und vor allen Dingen nicht dazu angethan, um die
Stellung des Physikus noch mehr herabzudrücken. (Beifall.)
H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Philipp: Der Herr Referent hat vorhin
davon gesprochen, dass das jetzige Verfahren bei der Konzessionirung der Irren¬
anstalten ein zu leichtes sei, dass eine Anzahl von Personen die Konzession
bekommen, ohne dass sie irgend welche Garantie dafür bieten, dass sie mit
Geisteskranken umzugehen und eine Anstalt zweckentsprechend zu leiten ver¬
stehen, und ich kann dem Gesagten nur vollständig beistimmen. Ich möchte
ausserdem noch auf etwas Anderes hinweisen, was mit diesem Konzessionirungs-
wesen in Verbindung steht, nämlich auf das Verfahren bei Entziehung der
Konzession. Hier müssen jedenfalls Mittel gefunden werden, um in besonderen
Fällen eine solche nothwendige Massregel möglichst schleunig durchführen
zu können.
Ich bin zu dieser Bemerkung veranlasst durch einen Spezialfall, der sich
innerhalb meines Wirkungsgebietes ereignet hat. Vor einigen Jahren machte
eine frühere Oberwärterin eine kleine Privat-Irrenanstalt auf. In Folge von
Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens.
109
Unerfahrenheit in geschäftlichen Dingen hatte sie das Grundstück dazu so theuer
bezahlt, dass sie von vornherein bankerott war. Ihre ganze Wirksamkeit als
Anstaltsleiterin war daher eine Kette von traurigsten geschäftlichen Verpflich¬
tungen. Diese Darae ist nun also seit Jahren vollständig zahlungsunfähig;
Zwangsvollstreckungen haben bei ihr häufig stattgefunden, das Grundstück hat
mehrmals zur Subhastation gestanden. Sie hat 17 Pfleglinge, welche ihr von
der Stadt Berlin überwiesen sind. Seit dem September vorigen Jahres sind
jedoch die städtischen Pensionsgelder für diese Pfleglinge gerichtlich gepfändet,
und es findet sich also der interessante Fall vor, dass die Stadt Berlin die für
die Verpflegung ihrer Kranken zu zahlenden Gelder an deu Gerichtsvollzieher
zahlen muss. Ich habe im vorigen Jahre bereits darüber berichtet, und es ist
ja auch in Aussicht genommen, das Konzessionsentziehungsverfahren einzuleiten.
Es werden aber von der betreffenden Besitzerin der Irrenanstalt immer neue
Ausflüchte gemacht, — die unglückliche Frau lügt nämlich in der unglaublichsten
Weise — und bis jetzt ist ein Resultat noch immer nicht erzielt worden. Die
Anstalt wird voraussichtlich erst eingehen, wenn durch die Belegung der neuen
städtischen Irrenanstalt bei Lichtenberg es möglich sein wird, die Kranken aus
der Privat-Irrenanstalt herauszunehmen. Ob die 17 Pfleglinge bis dahin ver¬
hungert sein werden, weiss ich nicht. Thatsächlich sind die Verhältnisse aber
so, dass nur unter den grössten Schwierigkeiten die nöthigen Lebensmittel für
die Kranken beschafft werden können; von einer entsprechenden Wartung und
Pflege ist keine Rede.
Vorsitzender: Ich werde mir erlauben müssen zu dieser Sache das Wort
zu nehmen, da ich mit derselben auch zu thun gehabt habe. Es ist thatsächlich
richtig, was Herr Philipp dargelegt hat, dass es mit den finanziellen Verhält¬
nissen der Frau, welche die betr. Irrenanstalt bis jetzt führte, schlecht ge¬
standen hat und wohl auch noch steht. Die Frau hat jedoch immer noch so
viel beschafft, dass die Anstalt in angemessener Weise hat bestehen können.
Ernste Bedenken hinsichtlich der Leitung derselben entstanden indessen dadurch,
dass binnen kurzer Zeit mehrere Entweichungen von Pfleglingen vorkamen.
Diese Pfleglinge (3) hatten keineswegs das Bedürfnis, überhaupt einer Irren¬
anstalt zu entfliehen, sondern sie begaben sich geraden Weges nach der Berliner
Anstalt zu Dalldorf, weil sie derselben ursprünglich angehörten und daselbst
besser aufgehoben zu sein meinten. Der Anstaltsbesitzerin wurde für den Fall,
dass noch irgend eine Ungehörigkeit vorkäme, das Verfahren auf Entziehung
der Konzession angedroht. Die Veranlassung zur Einleitung desselben trat bald
ein. Die Anstaltsbesitzerin zeigte darauf an, dass sie die Anstalt an eine
andere Frau abzugeben beabsichtige, welche sich auch bereits bei dem Bezirks¬
ausschüsse um die Konzession beworben habe. Die Entscheidung des Bezirks¬
ausschusses blieb demnach abzuwarten. Nachdem diese vor wenigen Tagen
abschlägig erfolgt ist, ist sofort die Klage auf Entziehung der Konzession gegen
die Inhaberin der Anstalt eingegeben, also in dieser Angelegenheit weder etwas
versäumt, noch ungebührlich verzögert worden.
H. gerichtl. Stadtphysikus und Sanitätsrath Dr. Mittenzweig (Berlin):
M. H.! Es würde Sie Wunder nehmen, wenn ich heute gar nicht das Wort
ergriffe; denn das in Rede stehende Thema ist für mich, besonders seitdem ich
selbst Leiter einer Privat-Irrenanstalt bin, von grosser Bedeutung. Gleichwohl
möchte ich heute hier nicht ausführlicher darüber sprechen, weil ich auf die
einzelnen Fälle, die mir vorgekommen sind und mich selbst mit betroffen haben,
spezieller eingehen und dadurch auch andere Herren, und zwar Psychiater von
Rang in Mitleidenschaft ziehen müsste, die hier nicht zugegen sind und daher
meine Angaben nicht kontroliren können. Ich muss ausserdem um so mehr
davon abseheu, heute auf die betreffende Frage einzugehen, da die beiden Ge¬
sellschaften für Psychiatrie — die Deutsche Gesellschaft, an deren Spitze Herr
Prof. Lähr steht und die Berliner Gesellschaft, an deren Spitze Herr Professor
J o 11 y steht —, demnächst gemeinschaftlich über dieselbe sehr ausführlich dis-
butiren und beschliessen werden. Auch habe ich leider den Vortrag des Herrn
Kollegen Meyhöfer nicht anhören können, da ich eben erst aus einer Schwur¬
gerichtssitzung komme.
Vorsitzender: Wünscht noch Jemand das Wort zu nehmen?
Es ist nicht der Fall; ich schliesse damit die Diskussion. Eine
110
Schlusswort des Herrn Ministerialdirektors Dr. Bartsch.
Abstimmung über die von dem Referenten gemachten Vorschläge
ist weder von diesem noch von anderer Seite gemacht.
Im Namen der Versammlung gestatte ich mir, dem Kollegen
Meyhöfer für seinen interessanten Vortrag unsern verbindlichsten
Dank auszusprechen.
M. H.! Es wird jetzt angezeigt sein, die übliche Pause
eintreten zu lassen. Vor Eintritt derselben wünscht jedoch H.
Ministerialdirektor Dr. Bartsch, der auch heute wieder unsere
Versammlung mit seinem Besuche beehrt hat, an diese einige
Worte zu richten:
Herr Ministerialdirektor Dr. Bartsch: Meine Herren!
Durch anderweitige Amtsgeschäfte in Anspruch genommen, muss
ich diesen Saal und diese Versammlung zu meinem Bedauern
vor Schluss Ihrer Berathungen verlassen. Ich kann es aber
nicht thun, ohne Ihnen im Namen des Herrn Ministers Dank
und Anerkennung auszusprechen für die ruhige, ernste, sach-
gemässe Art, mit welcher Sie unter der bewährten Leitung Ihres
Herrn Vorsitzenden die Gegenstände Ihrer Tagesordnung behan¬
delt haben.
Unter diesen Gegenständen sind einzelne von hervorragender
Bedeutung: Dazu rechne ich vor Allem das gestern von Ihnen
erörterte sogenannte Reichsseuchengesetz, dessen weiteres Schicksal
nunmehr in den Händen des gegenwärtig wieder zusammentreten¬
den Reichstages ruht. Möchten doch die auf diesem Gebiete etwa
noch bestehenden Meinungsverschiedenheiten sich ausgleichen und
möchte das für die fernere sanitäre Entwickelung in unserem
Vaterlande so wichtige Gesetz recht bald praktisches Recht werden!
Nicht minder wichtig ist die ebenfalls gestern von Ihnen behandelte
Stellung der Medizinalbeamten und die damit zusammenhängende
Weiterführung der Medizinalreform überhaupt. Voraussichtlich
wird das Reichsseuchengesetz hierauf von entscheidender Ein¬
wirkung sein; denn es wird die Stellung der Medizinalbeamten,
ihre Zuständigkeit, ihren Wirkungskreis wesentlich verändern.
Der Herr Minister hat es daher für gerathen erachtet, seine weitere
Beschlussfassung über die Medizinalreform bis zum Inkrafttreten
des Gesetzes zu vertagen. Inzwischen ist der Herr Mini¬
ster fortgesetzt darauf bedacht, die Stellung insbe¬
sondere der Herren Physiker zu verbessern, und der
Herr Minister wird, wie ich erklären darf, nicht eher
ruhen, als bis diese Frage einem gedeihlichen Ab¬
schlüsse entgegengeführt ist. Auch das, was heute hier
verhandelt worden ist, hat mein lebhaftes Interesse erregt und
ich darf Namens des Herrn Ministers versichern, dass die gege¬
benen Anregungen nicht unberücksichtigt bleiben werden.
So stehen Sie denn nun, meine Herren, am Schlüsse Ihrer
Verhandlungen und kehren heim, jeder zu seinem Berufe, jeder,
wie man hoffen darf, gefördert und bereichert durch mancherlei
nützliche Eindrücke und Erfahrungen. Möchten wir uns doch Alle
Wiedersehen bei der XI. Hauptversammlung Ihres Vereins! Mit
Bericht der Kassenrevisoren and Vorstandswahl.
111
diesem Wunsche verabschiede ich mich von Ihnen und sage Ihnen
Allen bestens Lebewohl! —
(Lebhafter Beifall.)
Vorsitzender: Ich erlaube mir, im Namen des Vereins dem
Herrn Ministerialdirektor unsern verbindlichsten Dank auszu¬
sprechen für das grosse Interesse, das er unserem Vereine und
unseren Verhandlungen entgegenbringt. Ich bitte die Mitglieder,
ihr Einverständniss durch Erheben von den Sitzen zu bekunden.
(Geschieht.)
(Hierauf Pause.)
IV. Bericht der Kassenrevisoren nnd Vorstandswahl.
Vorsitzender: M. H. Nach dem Bericht der Kassen¬
revisoren sind Kassenbücher und Kasse als richtig befunden
worden und beantrage ich, dem Kassen- und Schriftführer nun¬
mehr Decharge zu ertheilen.
(Zustimmung.)
Was nun die Vorstandswahl anbetrifft, so bitte ich, von
meiner Wiederwahl Abstand zu nehmen. Es ist mir wegen Ueber-
lastung mit amtlichen Geschäften unmöglich, den Verpflichtungen
zu genügen, denen ich mich als Vorsitzender nicht entziehen darf.
Ich habe es schon seit langer Zeit beklagt, zu wenig für die
Zwecke des Vereins thun zu können, und kann es nur der ausser¬
ordentlichen Thätigkeit der anderen Herren Vorstandsmitglieder
danken, dass ich mich selbst in nur bescheidener Weise an den
Verwaltungsgeschäften des Vereins habe zu betheiligen brauchen.
Den sämmtlichen Herrn Mitgliedern bin ich für die grosse Nachsicht,
welche sie mir stets haben zu Theil werden lassen, zu warmem
Danke verpflichtet.
Wünscht sonst noch Jemand vor der Vorstands wähl das
Wort zu nehmen?
H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: M. H. ! Auch ich bin mit
der Absicht hierher gekommen, Sie zu bitten, mich nicht wieder in den Vorstand
za wählen. Einestheils bin ich mit Arbeiten überlastet, and anderntheils empfinde
ich schwer die Mängel meines Gehörs, die es mir sehr mühsam machen, den
Verhandlungen zu folgen. Sie würden mir also einen Dienst erweisen, wenn Sie
mich von dem Ehrenamte eines Vorstandsmitgliedes entlasten. Ich habe überdies
in solcher Eigenschaft nicht sehr viel gethan; das Meiste ist ja von Herrn
Kollegen Rapmund und von den Berliner Herren Kollegen geleistet worden.
Endlich glaube ich, es hat etwas für sich, wenn Sie einmal jüngere Kräfte in
den Vorstand hineinnehmen. —
Die Art der Vorstandswahl ist die, dass Sie 5 Namen auf den Zettel
schreiben. Der Vorsitzende wird nicht von Ihnen gewählt, sondern nach dem
Statut vertheilt der Vorstand die Geschäfte unter sich.
H. Pol.-Stadtphys. San.-Rath Dr. Schulz (Berlin): M. H.! Auch ich
danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir seit 10 Jahren geschenkt haben,
und bitte, mich nicht wieder zu wählen. Ich habe so viel zu thun, dass ich
eigentlich gar nichts für den Verein leisten kann.
H. gerichtl. Stadtphys. und San.-Rath Dr. Mittenzweig: M. H.l Ich
danke für das Vertrauen, dass sie mir bisher geschenkt haben und bitte im
112
Bericht der Kassenrevisoren und Vorstands wähl.
Gegensatz zu meinen Herren Vorrednern nicht darum, dass Sie mich nicht
wieder wählen. (Lebhafter Beifall.) Ich stelle Ihnen meine Wiederwahl voll¬
ständig anheim. Gleichwohl will ich Ihnen Gründe angeben, die dafür sprechen,
dass meine Wiederwahl nicht vortheilhaft für das Wohl unserer Versammlung
ist. (Widerspruch.) Sie wissen, ich bin ausschliesslich Gerichtsphysikus und
habe mit der Sanitätspolizei und Hygiene nichts zu thun. Die Sanitätspolizei
und Hygiene liegt vollständig in den Händen der Kreis- und Bezirksphysici,
und deshalb ist es erklärlich, wenn ich ein geringeres Interesse an den hier
gepflogenen, überwiegend sanitätspolizeilichen Verhandlungen als an gerichts¬
ärztlichen Verhandlungen habe. Ich würde Ihr ferneres Vertrauen hoch schätzen
und eine etwaige Wiederwahl annehmen, aber i<h glaube, es giebt in unserem
Kreise eine grosse Menge Persönlichkeiten, die an meinem Platze entschieden
besser ständen, als ich es thue. Ich bitte Sie, dies erwägen zu wollen.
H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Wiedner: M. H.! Ich bitte dringend, von
der Wiederwahl des Herrn Geh. Raths Wallichs nicht Abstand zu nehmen.
Er ist Vorstandsmitglied des Deutschen Aerztevereinsbundes und es ist durchaus
wüusehenswerth und vielfach zweckmässig, dass wir durch ihn gleichsam mit
jeuem eine gewisse Fühlung behalten. Ich möchte daher auch an Herrn
Wallichs die Bitte richten, seinen ausgesprochenen Wunsch zurückzuziehen.
H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: Das ist ja auch das Motiv,
was mich hält, aber es wäre mir erwüuscht, wenn Sie einen Anderen wählen
wollten.
Es wird nunmehr zur Wahl durch Stimmzettel ge¬
schritten. Das Ergebniss derselben ist, dass die bisherigen Vor¬
standsmitglieder Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund (Minden),
gerichtl. Stadtphys. San.-Rath Dr. Mitten zweig (Berlin),
Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs und ausserdem noch
Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Philipp und Reg.- und Med.-Rath
Dr. Wern ich (Berlin) gewählt wurden. Von den Gewählten wird
die Wahl dankend angenommen.
Betreffs der Geschäftsvertheilung ist der neugewählte Vor¬
stand, wie gleich hier erwähnt sein möge, dahin übereingekommen,
dass Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund das Amt des Vor¬
sitzenden übernimmt und gleichzeitige wenigstens vorläufig, die
Geschäfte des Schriftführers beibehält.
H. Kr.-Phys. Geh San.-Rath Dr. Wallichs: M. H.! Wir
sehen zum letzten Male heute an diesem Ehrensitze des Vereins
(auf den Platz des Vorsitzenden deutend) unseren allverehrten
Präsidenten (die Anwesenden erheben sich), der 10 Jahre hindurch
diese Stellung mit Umsicht und namentlich auch mit grosser
Liebenswürdigkeit ausgefüllt hat. Wir bedauern es sicherlich Alle,
dass er glaubt, von diesem Amte scheiden zu müssen, wenn wir
auch anerkennen, dass gewiss nur dringende Gründe ihn dazu
veranlassen. Wir möchten ihn aber doch nicht gern in unserem
Kreise entbehren und möchte ich Ihnen daher vorschlagen, dass
wir ihm einen weniger mühsamen, aber würdigen Platz in unserer
Mitte oder vielmehr an unserer Spitze anbieten. Dementsprechend
beantrage ich in Uebereinstimmung mit den anderen Vorstands¬
mitgliedern, unseren bisherigen Vorsitzenden, Herrn Geh. Med.-
Rath Dr. Kanzow, zum Ehrenvorsitzenden des Vereins der preussi-
schen Medizinalbeamten zu ernennen.
(Lebhafter Beifall und allgemeine Zustimmung.)
l)r. Petri: Demonstration eines Cholera-Fastens.
113
Es ist über eine derartige Ernennung zwar keine Bestimmung
in unserem Statut vorhanden; aber dasselbe widerspricht auch
einem solchen Vorschläge nicht. Ich darf wohl überzeugt sein,
denn ich sehe das ja auch aus Ihrer lebhaften Zustimmung, dass
Sie Alle mit meinem Anträge einverstanden sind. Ich bitte somit
Herrn Geh. Rath Kanzow in Zukunft den Ehrenvorsitz ein¬
zunehmen.
Vorsitzender: M. H.! Ich habe das Vertrauen, welches
mir von dem Vereine und insbesondere von dem Vorstande ent¬
gegen gebracht wurde, immer sehr hoch gehalten und weiss es
in gleichem Masse zu schätzen, dass Herr Wallichs Gelegenheit
genommen hat, mir ein so würdiges Andenken im Verein zu sichern.
Ich erkenne die Ehre, welche mir dadurch zu Theil wird, mit
vollem Danke an und kann versichern, dass mein Interesse dem
Vereine und seinen Verhandlungen auch fernerhin zugewendet und
lebhaft erhalten bleiben wird. Wenn Sie mich für die Folge —
auch unbetheiligt an der Leitung der Vereinsgeschäfte — gern
in Ihrer Mitte sehen wollen, so wird mir das ein reicher Lohn
für die geringen Dienste sein, welche ich Ihnen habe leisten können.
T. Demonstration eines Cholera-Kastens.
H. Regierungsrath Dr. Petri, Mitglied des Kaiserlichen
Gesundheitsamtes (Berlin): M. H.! Die Veranlassung dazu, dass
ich Ihre Aufmerksamkeit einige Augenblicke in Anspruch nehme,
ist der mir von befreundeter Seite aus Ihren Kreisen geäusserte
Wunsch, Ihnen einen neuerdings von mir zusammengestellten
„Cholera-Kasten“ vorzufuhren.
Der Kasten verdankt seine Entstehung den Kursen, welche
ich zufolge Erlass des Herrn Reichskanzlers gegenwärtig einer Anzahl
ausserpreussischer Medizinalbeamten undAerztenin der Bakteriologie
und Epidemiologie der Cholera ertheile. Bei diesen Unterrichts¬
kursen war das Bedttrfniss hervorgetreten, alle zur bakteriellen
Diagnose der Cholera benüthigten Gegenstände in kompendiöser
Form und transportabler Umhüllung bei einander zu haben. Der
diesem Bedürfhiss, wie ich glaube, entsprechende „Cholera-Kasten“
hat bei den Herrn Kollegen der nicht preussischen Bundesstaaten
Anklang gefunden, und ich habe mich bereit erklärt, gelegentlich
unserer Jahresversammlung auch den preussischen Herrn Medizinal¬
beamten den Kasten zu demonstriren.
Um Missverständnissen vorzubeugen erwähne ich, dass der
Zweck der vorerwähnten, meiner Leitung anvertrauten Kurse nicht
etwa die Neuzüchtung von Bakteriologen ist. Es werden viel¬
mehr zu den Cholerakursen im Gesundheitsamte nur solche Herren
einberufen, welche in der bakteriologischen Technik einige Uebung
haben und zudem im Besitze eines Bakterienmikroskopes sind.
Der Schwerpunkt meiner Kurse liegt auf der epidemiologischen
Seite. Es gilt, die Erfahrungen vornehmlich der jüngsten Epidemie
8
114
Dr. Petri.
zur Bekämpfung der Seuche auch durch den Unterricht zu ver-
werthen. Ich bin dabei von der Auffassung ausgegangen, dass es
im Interesse der Seuchebekämpfung wünschens werth ist, wenn an
möglichst vielen Orten Deutschlands solche Aerzte vorhanden sind,
die für die Ermittelung der ersten Fälle an die bakterio¬
logische Diagnose sich herantrauen. Dabei warne ich ganz im
Einklang mit der Ihnen bekannten preussischen Verfügung vor
dem Anstellen fruchtloser, die Schnelligkeit erster Ermittelungen
schädigender Versuche, und rathe denjenigen, welche sich technisch
ihrer Aufgabe gewachsen fühlen, nichtsdestoweniger die aus¬
schliessliche Eigenverantwortung zu vermeiden, und stets die
Hälfte des Untersuchungsmateriales (Dejektionen, Darmschlingen)
sofort an eine autoritative Stelle in Begleitung aller erforderlichen
Notizen abzusenden-
Im diesem Sinne soll der „Cholera-Kasten“ die ersten
Ermittelungen, sowie auch gelegentliche spätere Untersuchungen
unterstützen. Der ziemlich reichlich bemessene Inhalt des Kastens
macht wenigstens für die bakteriologische Choleradiagnose ein be¬
sonderes Laboratorium entbehrlich. Ja, Sie können mit dem In¬
ventar des Kastens selbst einige weitere biologische Arbeiten, die
für die Ermittelung der Cholera von Werth sind, ausführen.
Der Inhalt des Kastens ist in dem Verzeichniss mitgetlieilt,
das ich Ihnen hiermit in mehreren Exemplaren zur Verfügung stelle *).
*) In dem Cholerakasten ist enthalten:
1. 1 Brustschrank.
2. 1 Heisslnftsterilisimngskasten auf Vierfass.
3. 1 Wasserbad mit Einsatzdrahtkorb auf Dreifass.
4 . 1 Gestell mit Teller und Vorrichtung zum Trocknen der Deckgläschen
(Klatsch-Präparate) nach Alb. Maassen.
5. 2 Spirituslampen. 1 Oellampe.
6. 1 Reagirglassgestell.
7. 1 Eisentasche zum Sterilisiren von Pipetten.
8. 1 Eolzblock mit 5 verschieden geformten Platindrähten und Oesen.
9. 24 Petri’sche Doppelschalen.
10. 100 Deckgläschen.
11. 50 Objektträger.
12. 10 Objektträger mit einer Vertiefung.
13. 2 Deckglaspincetten.
14. 1 glatte Stahlpincette.
15. 1 Scheere.
16. 2 Präparirnadeln.
17. 1 Messcylinder für 100 cc. und 1 desgl. für 10 cc.
18. 1 Holzblock mit 3 Farbflaschen.
19. 1 grosse Glasschale mit Deckplatte.
20. 5 Wasserpipetten 1 cc. in Vioo getheilt.
21. 30 Pipettröhren and Glasstäbe.
22. 2 Glastrichter.
28. 1 Präparatenkarton.
24. 46 Röhrchen mit sterilisirter Nährgelatinc.
25. 22 Röhrchen mit sterilisirtem Nähr-Agar.
26. 10 Röhrchen mit sterilisirter Bouillon.
27. 10 Röhrchen mit sterilisirter Peptonlösung.
28. 10 leere Reagensröhrchen.
29. 2 Gläschen mit rothem und blauem Lakmuspapier.
30. 1 Karton mit Filtrir-Pack-Schreibpapier und Etiquetten.
Demonstration eines Cholera - Kastens.
115
Zwei Hauptstücke bilden ein mit Filz umkleideter Brut¬
schrank und ein Apparat zur trockenen Sterilisation von Schälchen
und Glasapparaten. Für den Transport sind in beiden Apparaten
Gegenstände untergebracht. Im Sterilisationskasten 24 Petri’sehe
Schalen für das Gelatine-Plattenverfahren, eine Eisenbüchse mit
Glasröhrchen und Pipetten und eine Flasche mit destillirtem Wasser
zur Anfertigung von Färbelösungen. Im Brutkasten haben die
Röhrchen mit Gelatine, Agar, Bouillon und Peptonlösung (für die
Choleraroth-Reaktion) Platz gefunden. Neben dem Sterili¬
sator sind ein Wasserbadgefäss nebst Drahtkörbchen zum Ein¬
stellen der Gelatineröhrchen, ein Dreifuss sowie eine grosse Glas¬
schale mit Deckel zur Aufnahme von Eis behufs Abkühlung der
frisch gefertigten Plattenserien untergebracht. In einem besonderen
Einsätze und an passende Stellen sonst noch vertheilt finden Sie
die zur Anfertigung der Farblösungen, zur Anstellung der Indol¬
reaktionen (rothe und blaue) und für Desinfektionszwecke nöthigen
Chemikalien.
In besonderen Fächern des Kastens sind Transportgefässe
zur Versendung von Proben des Untersuchungsmateriales unter¬
gebracht. Ich habe für diesen Zweck eigene — anderwärts längst
als praktisch gewürdigte — Gefässe ausgesucht. Es sind die alt¬
bekannten, weithalsigen Gläschen, die in vierkantigen Holzklötzchen
absolut sicher untergebracht sind und Ihnen als Versandgefässe
für Medikamente längst bekannt sind. Kleinere dienen für Dejek-
tionen, grössere zur Versendung von Darmschlingen. Die Gläser
31. 1 Karton mit Federhalter, Bleistift, Blaustift, Fettstift znm Schreiben anf
Glas, Federmesser.
32. 3 Glasflaschen mit Farbstoffen gefallt (Fuchsin, Methylenblau nnd Gentiana-
violet).
33. 8 Glasflaschen, gefüllt mit Anilin, conc. Carbolsänre, conc. Schwefelsäure,
Amylalkohol, conc. Natronlauge, kohlensaur. Natron, Essigsäure, Nitro-
prussidnatrium.
34. 1 Flasche mit Spiritus.
35. 1 Flasche Immersionsöl.
36. 2 Fläschchen mit Sublimatpastillen.
37. 2 leere Glasflaschen.
38. 1 Büchse Vaselin.
39. 2 kleine Tuschpinsel.
40. 1 kleiner Hornlöffel, 1 Blechlöflfel.
41. 12 Holzbüchsen in Blechhüllen mit Glasgefässen zum Versenden von Proben
(per Post).
42. 2 Holzbücbsen in Blechhüllen mit Glasgetässen zum Versenden von DarmstUcken.
43. 3 Blechbecher.
44. 1 kleiner Hammer.
45. 1 Packet kleiner Nägel.
46. 1 Nagelbürste.
47. 1 Stück Siegellack und 1 Packet Bindfaden.
48. 2 Handtücher.
49. 1 Schachtel Streichhölzer.
50. 1 Flasche mit Tinte.
51. Watte.
52. 1 Thermometer.
53. 1 Obduktionsbesteck, enthaltend 1 grosses Scalpell, 2 kleine Scalpelle, 1 gew.
Scheere, 1 Darmscheere, 2 anatom. Pincetten, 3 krumme Nadeln.
8*
116
Df. Gris&r.
sind in den Holzklötzchen sicher vor Zertrümmerung geschützt.
Man kann die Klötzchen noch in eine Blechumhüllung stecken und
letztere zulöthen. Ich habe vor Kurzem eine Reinkultur von
Cholera aus Newyork in solcher Verpackung und in ganz tadel¬
losem Zustand erhalten.
Der Kasten soll auf Reisen und an Orten, die kein Labora¬
torium aufweisen, die Anstellung der bakteriologischen Cholera-
Diagnose ermöglichen helfen. Er wird von Dr. Robert Müncke
in Berlin zum Preis von 200 Mark geliefert.
VI. Ueber Unfall und Bruchschaden.
H. Kr.-Phys. Dr. Grisar (Trier): M. H.! Einer Einladung
unseres geeinten Vereins Vorstandes Folge leistend gestatte ich mir,
ihre Zeit und Aufmerksamkeit für meine nachfolgenden Aus¬
führungen in Anspruch zu nehmen. Wenn auch die Begutachtung
von Unfall und Bruchschaden nicht ausschliesslich den Medizinal¬
beamten zusteht, so hat doch die plötzliche Entstehung von Brüchen
in Folge von äusseren Gewalteinwirkungen so viele Berührungs¬
punkte mit der gerichtlichen Medizin, dass eine kritische Würdi¬
gung und Diskussion dieser noch so viel umstrittenen Frage in
einer Versammlung von Fachgenossen, welche wohl alle mehr oder
weniger Gelegenheit hatten, diesbezügliche Erfahrungen zu machen,
wesentlich zur Klarstellung beitragen kann. Im Gegensatz zu
andern Fragen, welche die Schaffung der sozialpolitischen Gesetz¬
gebung der letzten zehn Jahre in den Vordergrund des wissen¬
schaftlichen Interesses gedrängt hat, ist die Frage nach dem
thatsächlichen Zusammenhang zwischen Unfall oder, wie wir zu¬
nächst sagen wollen, zwischen einer plötzlichen Gewalteinwirkung
und Bruchbildung eine recht alte. Wie in so vielen Streitfragen
unserer Wissenschaft, welche der Möglichkeit der Lösung durch
das Experiment entbehren, stehen sich die Autoren noch immer in
unvermitteltem Gegensatz gegenüber. In der Fachliteratur wurde
durch Vorführen von Zitaten und Schlagwörtern namhafter Chirurgen,
ohne deren wissenschaftlichen Standpunkt zu präzisiren, die Ver¬
wirrung nur noch gesteigert. Die wissenschaftliche Deputation
für das Medizinalwesen, der wir so manches klärende Urtheil ver¬
danken, hat noch keine Gelegenheit gehabt, gutachtlich zu der
Frage Stellung zu nehmen. So war denn die Verlegenheit des
Praktikers oft recht gross, indem mit Vorführung der sich wider¬
sprechenden Aeusserungen der Fachchirurgen dem Richter eine
verwerthbare Grundlage für sein Urtheil nicht zu bieten war.
Versuchen wir es nun, m. H., auf Grund einer sachgemäßen
Prüfung zu einem objektiven Urtheil zu kommen. Ein reifliches
Studium der Frage hat mir die Ueberzeugung beigebracht, dass
es nicht allzuschwer ist, für den praktischen Zweck eine feste
Basis zu finden.
Die Lösung unserer Aufgabe macht es zur Nothwendigkeit,
Ueber Unfall und Bruchschaden.
117
uns mit der Unfallgesetzgebung bekannt zu machen und die dies¬
bezüglichen Entscheidungen des Reichs Versicherungsamtes, der
obersten Instanz in Unfallangelegenheiten, kennen zu lernen. Wie
es ja für den Gerichtsarzt unzweifelhaft erforderlich ist, die
interessirenden gesetzlichen Bestimmungen und die dazu ergangenen
Deklarationen zu keimen, um dem Richter eine brauchbare Unter¬
lage zu bieten, so ist auch für den begutachtenden Arzt in Unfall¬
sachen die Kenntniss der Auslegungen des Reichsversicherungs¬
amtes im Interesse einer gleichmässigen Beurtheilung von Wichtigkeit.
Ja noch mehr! die ganze Diskussion über Unfall und Bruchschaden
wird nur dann zu einer befriedigenden Lösung zu führen sein,
wenn wir über die Auffassung der Materie von Seiten des Reichs¬
versicherungsamtes orientirt sind.
Der Rechtsunsicherheit, welche bei Geltendmachung von Ent¬
schädigungsansprüchen für Unfall-Verletzte früher bestand, und
welche so vielen Anlass zur Unzufriedenheit grosser Bevölkerungs¬
kreise gab, ist durch Erlass der Unfallversicherungsgesetze, jener
herrlichen Schöpfung unseres grossen, in Gott ruhenden Kaisers,
entgegengetreten. Dem Unfallversicherungsgesetze vom 6. Juli
1884 als Grundlage folgten in den Jahren 1885, 1886 und 1887
eine Reihe anderer Gesetze, welche alle den Zweck hatten, die
Unfallentschädigungen für solche Berufszweige zu regeln, bei
denen das Bedürfniss am dringendsten war. Diese Gesetzgebung
bot durch das schrittweise Vorgehen die beste Gewähr, den ein¬
zelnen Berufszweigen gerecht zu werden, ohne in schablonen¬
hafte Formen zu verfallen, die ihren Werth im praktischen Leben
nur zu leicht hätten gefährden können.
Durch die Unfallversicherungsgesetzgebung ist Ersatz jeden
Schadens gewährleistet, welcher durch Körperverletzung in Folge eines
bei dem Betriebe erlittenen Unfalls an Leib und Leben entsteht und
zwar nicht nur bei Fällen von Betriebsgefahren, sondern auch für
die Folgen aller bei dem Betrieb sich ereignenden Unfälle l ). In
weiser Umsicht bleibt entgegen der früheren Gesetzgebung, wo
die zivilrechtliche Frage des Verschuldens eine schwierige Klippe
bildete, ein Verschulden des Betriebsunternehmers oder eines
Betriebsbeamten ausser Betracht, ja sogar ohne Rücksicht auf
grobes Verschulden und Leichtsinn des Verletzten wird Schaden¬
ersatz gewährt, und nur der eigene Vorsatz des Verletzten schliesst
die Entschädigung aus.
Wir hätten uns nun zunächst mit dem rechtlichen Begriff
eines Unfalls im Betrieb oder eines Betriebsunfalles bekannt
zu machen. Gewiss ist dies ja eine Rechtsfrage und im Allge¬
meinen soll sich der begutachtende Arzt um solche nicht kümmern,
allein, wenn sich — wie wir sehen werden — unsere Erörterung
dahin zuspitzt: „ist ein Bruch ein Unfall oder eine Krankheit,“
so müssen wir wohl oder übel diesem rechtlichen Begriffe
nahe treten.
*) Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes; Nr. 290, Jahrg. 1886
S. 250/51.
118
Dr. Grisar.
Woedtke, dem wir einen der besten Kommentare der Unfall-
gesetzgebung verdanken, bezeichnet als Unfall jedes Ereigniss,
durch welches einem Menschen eine Verletzung widerfahrt, womit
er zugleich sagen will, dass kein Unfall vorliegt, weun sich der
Betreffende die Verletzung absichtlich zugezogen hat. So kurz
diese Definition ist, was ja bei Rechtsfragen sein Gutes haben
mag, so können wir sie nicht acceptiren. In richtiger Würdigung
der Schwierigkeit der Materie hat es der Gesetzgeber vermieden,
näher zu bezeichnen, was er alles unter dem Begriff Betriebs¬
unfall subsummiren will. Er hat die Beurtheilung lediglich als
eine konkrete Rechtsfrage hingestellt, und das Reichsversicherungs¬
amt hat in seiner nunmehr sich auf einen Zeitraum von acht
Jahren erstreckenden Judikatur Gelegenheit genommen, zu erklären,
ob und inwieweit bei Körperverletzungen und Gesundheitsbeschä¬
digungen ein Unfall im Betrieb in Betracht kommt. Die Angabe
von Merkmalen, durch welche sich Unfälle als Betriebsunfälle im
Sinne des §. 1 des Unfallversicherungsgesetzes kennzeichnen, ob
insbesondere Brüche, welche in Folge gewerblicher Arbeiten auf-
treten, als Betriebsunfälle anzusehen sind, hat das Reichs versicherungs¬
amt ganz richtig abgelehnt, weil die Frage nicht allgemein beant¬
wortet werden könne, vielmehr eine Entscheidung nur nach Massgabe
der in den einzelnen konkreten Fällen obwaltenden Umstände
getroffen werden könne.
Die uns bei der Bruchfrage interessirenden Erkenntnisse des
Reichsversicherungsamtes hat Kollege Langerhans in Nr. 13
und 14 des Jahrgangs 1891 der Zeitschrift für Medizinalbeamte
zusammengestellt und in der Beilage derselben Zeitschrift vorigen und
diesen Jahres sind weitere Entscheidungen mitgetheilt.
Hiernach muss einerseits ein Unfall im gesetzlichen Sinne
vorliegen; anderseits muss der Bruch ein zeitlich bestimmtes, in
plötzlicher Entwickelung sich vollziehendes Ereigniss darstellen.
Der Unfall darf nicht lediglich zeitlich und örtlich, sondern er muss
auch ursächlich mit einem versicherungspflichtigen Betriebe in
Zusammenhang stehen und zwar dergestalt, dass der Bruchaustritt
im Anschluss an eine schwere körperliche Anstrengung erfolgt,
welche zugleich über den Rahmen der gewöhnlichen Betriebsarbeit
hinausgeht. Namentlich letzteres Moment wird bei Bewilligung
einer Unfallsrente in den letztergangenen Entscheidungen betont,
und der Mangel derselben war mehrfach Anlass zur Abweisung
von Entschädigungsansprüchen.
Aus der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes hebe
ich nun noch Folgendes als für uns von Interesse hervor:
Es ist nicht erforderlich, dass die beim Unfall erlittene Ver¬
letzung die alleinige Ursache der Erwerbsunfähigkeit resp. Be¬
schränkung ist, sondern es genügt, wenn sie nur eine von mehreren
dazu mitwirkenden Ursachen ist und als solche in’s Gewicht fällt 1 ).
Ja, der Anspruch bleibt auch dann bestehen, wenn durch ein
schon vorhandenes Leiden die Folgen der Verletzung sich ver-
’) Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes: Nr. 323, Jahrg. 1887.
S. 133 und Nr. 063, Jahrg. 1888, S. 289.
Ueber Unfall und Brachsebaden.
119
schlimmert haben und den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit be¬
schleunigt haben.
Der Wohlthaten des Unfallversicherungsgesetzes werden aber
alle die Gesundheitsbeschädigungen nicht theilhaftig, welche sich
allmählich bei einem Gewerbetriebe vollziehen, wie chronische
Vergiftungen, Lähmungen, chronische Organerkrankungen, Schwer¬
hörigkeit in Folge fortgesetzter Detonationen, rheumatische Affek¬
tionen durch Zugluft, Abnutzung der Körperkräfte, und speziell auch
die sich allmählich ausbildenden Leistenbrüche *), die bei natürlich
erweiterter Bruchpforte schon im Anschluss an die geringeren An¬
strengungen des täglichen Lebens auszutreten geneigt sind; sie
qualifiziren sich als Gewerbekrankheiten. Das wesentliche Kriterium
eines Betriebsunfalles im Gegensatz zu den sog. Gewerbekrank¬
heiten liegt in der Möglichkeit, den Eintritt der eine Minderung
der Erwerbsunfähigkeit in sich schliessenden Störung der Unver¬
sehrtheit des Körpers nach einem gewissen zeitlich nachweisbaren
Ereigniss zu bestimmen, welche Möglichkeit bei jenem vorliegen
muss, bei diesem aber fehlt 2 ). Endlich ist noch als wichtig
hervor zu heben die in mehreren Erkenntnissen 8 ) getroffene Be¬
stimmung, dass, um Täuschungen möglichst zu vermeiden, der ur¬
sächliche Zusammenhang zwischen der konstatirten Verletzung
und dem Betriebe von dem Verletzten nachzuweisen ist, namentlich
wird dies bezüglich der Leistenbrüche in der einen Entscheidung
(Nr. 468) verlangt.
Diese Ansicht des Beichsversicherungsamtes, dass durch einen
Betriebsunfall ein Bruch plötzlich entstehen könne, wird nun, wie
eingangs angedeutet, nicht allseitig getheilt, und unsere Sache wird
es nunmehr sein, zu prüfen, ob diese Entscheidungen wissen¬
schaftlich begründet sind, oder ob sich — wie Roser meint —
das Reichsversicherungsamt von alterthümlichen und von der
Wissenschaft längst widerlegten Vorstellungen allzusehr leiten liess.
Unter einem Unterleibsbruch — um diese nämlich handelt es
sich für uns allein — versteht man das Hervortreten eines Ein¬
geweides aus dem Bereiche der Unterleibshöhle durch eine er¬
weiterte natürliche oder eine abnorme Oeffnung der Bauchwand
und zwar so, dass das betreffende Organ mit einem vollständigen
oder unvollständigen Ueberzug des Bauchfells versehen ist. Als
wesentlich kommen bei einem Unterleibsbruch in Betracht:
1. Die Bruchpforte, d. h. die Stelle der Bauch wand, durch
welche das austretende Eingeweide nach Verdrängung anderer Ge¬
bilde seinen Weg nimmt.
2. Die den Bruchsack bildende Ausstülpung des Bauchfells.
3. Das austretende Eingeweide.
4. Die äusseren Bruchhüllen.
Die Unterleibshöhle stellt einen von Knochen und Weich-
theilen umschlossenen Hohlraum dar, welcher nicht allseitig gleich
*) Entscheidungen des Beichsversicherungsamtes; Nr. 557, Jahrg. 1888,
S 287
*) Desgleichen Nr. 468; Jahrg. 1888, S. 84 and 85.
*) Desgleichen Nr. 202; Jahrg. 1886, S. 288 u. Nr. 468, Jahrg. 1888, 8. 85.
120
Dr. Grisar.
festen Abschluss bietet. An den Stellen nun, wo die knöchernen
und muskulösen Organe die Hülle bilden, kommen Brüche nicht
zu Stande, so lange letztere nicht gelähmt, gerissen oder durch
fibröses Narbengewebe ersetzt sind, sondern nur an den Parthien,
wo sich in den Muskeln zum Durchtritt von Gefässen und andern
Organen bestimmte, mit Fasergewebe verschlossene Lücken befinden.
Eine Vorstülpung des Bauchfells, mag sie nun als Hemmungs¬
bildung angeboren sein, oder mag sie durch eine der später zu
besprechenden Ursachen entstanden sein, wird nach allgemeinem
Sprachgebrauche nur dann als Bruch bezeichnet, wenn ein Ein¬
geweidetheil in diese Versttilpung dauernd eingetreten ist und sei
es als „vollkommener Bruch“ eine über das Niveau der Bauch¬
decken hervortretende Geschwulst bildet oder als „unvollkommener
Bruch“ im Bereiche der Bauchdecken liegen bleibt. Dieser all¬
gemeinen Anschauung giebt Busch 1 ) Ausdruck, indem er sagt:
„Individuen mit weiten Bruchaperturen, in welche das Bauchfell hin¬
eingedrängt wird, haben noch keinen Bruch, sondern, wie die Alten es
nannten, eine Dispositio hernialis, indem bei ihnen ein Eingeweide
nicht dauernd vorgelagert ist, sondern bei einer jeden Bauchpresse
nur gegen diese Aperturen andrängt und zurückweicht.“ Auf diese
althergebrachte Begriffsbestimmung hinzuweisen, ist aus dem Grunde
nothwendig, da ein neuerer Autor den Vorschlag gemacht, den
Bruchsack ohne Weiteres als Bruch zu bezeichnen und mit dieser
selbstgewählten Definition zu wesentlich anderen Resultaten be¬
züglich des Zusammenhangs von Unfall und Bruchschaden kommt,
wie sie nach meinen Deduktionen sich ergeben werden.
Ist nun die Bruchbildung unter allen Umständen ein sich all¬
mählich vollziehender Vorgang, oder liegt auch die Möglichkeit
vor, dass sich unter besonderen Umständen ein Bruch in Folge von
äusseren Gewalteinwirkungen plötzlich bilden kann? Mit andern
Worten: ist ein Bruch nur stets als eine Krankheit aufzufassen,
die sich allmählich im Gewerbebetrieb vollzieht, oder kann einem
Bruche unter Umständen die Bedeutung eines Betriebsunfalls im
gesetzlichen Sinne vindizirt werden? Hatte diese Frage früher
mehr ein theoretisch-wissenschaftliches Interesse, so wurde sie mit
dem Aufblühen der gerichtlichen Medizin schon brennender und
spielt heute eine grosse Rolle, wo ihr mit dem Erlasse des Haft¬
pflichtgesetzes und der Unfallversicherungsgesetze eine hohe Dignität
verliehen ist.
In meisterhafter Form hat Wernher im 14. Bande dea
Archivs für klinische Chirurgie die Geschichte und Theorie des
Mechanismus der Bruchbildung behandelt, und ich würde
einen Fehler begehen, wenn ich seinen Ausführungen nicht folgen
wollte.
Wenn wir von den ältesten Anschauungen abstrahiren, die
ohne anatomische Kenntnisse aufgestellt wurden, und von denen
nur die hippokratische Idee ein gewisses Interesse für uns hat,
nach welcher Brüche durch Schlag oder Aufspringen eines Menschen
*) Lehrbuch der Chirurgie; 11 Bd,, 2. Abth., 1. Hälfte, S. 93.
Uebcr Uufall and Bruchschaden.
121
auf den Leib eines andern, bei magern Menschen wohl auch durch
übermässigen Gebrauch von Brechmitteln oder durch Anstrengungen
entstehen können, so haben sich im Laufe der Zeit die drei folgenden
Vorstellungen über die Bruchentstehung gebildet:
1. Die Bruchbildung ist die Folge eines traumatischen Aktes;
die Eingeweide werden durch rein mechanische Kräfte, den Druck
der Bauchpresse, gegen schwächere Punkte des Unterleibes ge¬
drängt, dehnen diese aus, indem sie das Bauchfell vor sich hertreiben.
2. Der Druck der Bauchpresse würde die Eingeweide nicht
vor sich herzutreiben vermögen, wenn sie nicht durch Fehler ihrer
Befestigungsmittel und ihrer Lagerung vorbereitet wären. Dass
irgend ein schwacher Punkt an der Bauchwand vorhanden ist,
bestimmt nicht die Entstehung der Hernie, sondern nur die Stelle,
an welcher sie hervortritt.
3. Die Ausstülpung des Peritoneums zu einem Bruchsack ist
das Primäre und Bestimmende. Der Druck der Eingeweide ist
nach den Gesetzen der Hydrostatik unvermögend, diese Ausstülpung
zu bewirken. Sie ist entweder kongenital oder entsteht — nicht
durch Druck von innen — sondern durch Zug von Aussen. Die
Eingeweide folgen nun in den leer gewordenen Baum oder dehnen
die einmal gewonnene Ausstülpung weiter aus.
In diesen bis zu Anfang unseres Jahrhundertes aufgestellten
Theorien werden Sie Anschauungen wieder erkennen, wie sie von
späteren Autoren aufgestellt wurden, und welche man sich als
deren eigene Ideen anzusehen gewöhnt hatte, bis Wernher ihr
höheres Alter feststellte. Namentlich die Bruchtheorien der viel
zitirten Kingdon und Böser haben eine unverkennbare Aelin-
lichkeit mit der zweiten resp. dritten Theorie. Dass keine dieser
Vorstellungen den Kern der Sache trifft, zeigt Wernher in über¬
zeugender Weise. Mag die eine oder andere Gelegenheits¬
ursache in’s Gewicht fallen oder als begünstigender Faktor eine
Bolle spielen, alle einzelnen Fälle zu erklären ist jede einzelne
Theorie unzulänglich. Ein so komplizirter Vorgang wie die Bil¬
dung eines Bruches, der nicht nach einheitlichen Gesetzen erfolgt,
ist auch nicht einheitlich zu erklären.
Der Mechanismus der Bruchbildung gestaltet sich nun, wenn
wir zunächst von den angeborenen Brüchen und den sogenannten
Fettbrüchen absehen, nach den später anzuführenden Autoren
folgendermassen:
Durch den Druck der Bauchpresse erfährt das Bauchfell an
einer nicht durch Muskeln unterstützten Stelle — also den beider¬
seitigen äussem und innern Leistengrübchen, dem Schenkelring
und dem Nabelring — eine gewisse Vorstülpung. Diese kann
nicht plötzlich mit einem Male in grössererWeise und als dauernder
Zustand herbeigeführt werden, denn das Bauchfell ist zwar eine
sehr elastische und in der Nähe der Bruchpforten mit den Bauch¬
wendungen sehr lax verbundene Membran, aber zu einer dauernden
Ausstülpung in Folge einer einmaligen stärkeren Bauchspresse
kommt es nicht. Experiment und Erfahrung sprechen entschieden
hiergegen, und alle neueren Autoren treten für die einzig mögliche
122
Dr. Grisar.
allmähliche Bildung des Bruchsackes wenigstens in den. Anfangs¬
stadien ein. Roser hat sich bemüht, in seiner Schrift: „Wie ent¬
stehen Brüche? Ist ein Unterleibsbruch als Unfall zu betrachten?“
die diesbezüglichen Aeusserungen zusammenzustellen und ihre
Wiedergabe ist an dieser Stelle um so weniger nothwendig, als
wir vollkommen die Ansicht theilen, dass eine grössere Bauchfell¬
ausstülpung sich nicht plötzlich bilden könne. Seinen weiteren
Schlüssen, dass mit jener Bauchfellausstülpung oder dem Bruch¬
sack, wie Roser dies Divertikal schon nennt, der Bruch fertig
gebildet sei, werde ich später entgegenzutreten haben. Was also
ein einmaliges Trauma nicht zu Wege bringt, bewirkt die häufige
Wiederholung derselben Schädlichkeit. So lange sich Bauchpresse
und der Gegendruck des durch die Fascien an den Bruchpforten
geschützten Bauchfells das Gleichgewicht halten, geht die Wirkung
der Bauchpresse vorüber. Wenn sich dieser Vorgang zu häufig
wiederholt, namentlich aber wenn der intraabdominale Druck eine
solche Steigerung erfährt, dass der Elastizitätskoeffizient der ver-
schliessenden Bindegewebsstraten überschritten wird, oder diese
gar stellenweise einreissen, so kehren diese nicht zu ihrem früheren
Spannungszustand zurück, und die Folge ist, dass sie in einem ge¬
wissen überdehnten Zustande verharren. Die Widerstandsfähigkeit
ist hiermit alterirt, jedem neu einwirkenden Druck von der Bauch¬
höhle aus vermögen sie weniger Widerstand entgegenzusetzen, der
Druck der Bauchpresse lokalisirt sich an diesen Stellen mit ge¬
schwächter Resistenz. Bekannt ist, dass viele Personen, bei welchen
später ein Bruch entsteht, an der Stelle des Impulses bei jedem
Stoss eine schmerzhafte Empfindung gehabt haben, das Symptom der
allmählichen Zerreissung und Verschiebung des Peritoneums. Finden
keine besondere Schädlichkeiten statt, so kann die allmähliche
Bildung eines Bruches in der bekannten Weise ihren Gang nehmen.
Kommt aber eine stärkere Aktion der Bauchpresse beim Heben,
Pressen, Sturz u. dergl. zu Stande, so kann nach den später an¬
zuführenden Autoren der Rest der sich entgegenstellenden fibrösen
Fasern der Fascien plötzlich zerreissen und das Bauchfelldivertikel,
die Bruchanlage, als Bruch mit seinen sämmtlichen Attributen in
Erscheinung treten. Aehnlich liegen die Verhältnisse bei unvoll¬
ständig verschlossenem Processus vaginalis. Auch hier kann durch
eine stärkere Bauchpressenaktion ein Eingeweide plötzlich nach
gewaltsamer Dehnung der Bruchpforte in jenen offen gebliebenen
Bauchfellfortsatz getrieben werden, ein leicht verständlicher, wenn
auch seltenerer Vorgang im Vergleich mit der allmählichen Deh¬
nung der Bruchpforte und Ausfüllung des angeborenen Bruch¬
sackes.
Der Vollständigkeit halber und weil diese Arten der Bruch¬
bildung bei Unfällen diagnostisch zu berücksichtigen sind, seien
die seltenen Schenkel- und Nabelbrüche durch Fettklümpchen, sowie
die Bruchbildung bei verspätetem Herabsteigen eines Testikels,
wobei eine Bauchfellfalte als Ausstülpung mitgezerrt wird und
Eingeweide in diesen Trichter nachgedrängt werden, erwähnt.
Dass nun besondere Verhältnisse obwalten müssen, wenn das
Uober Uufall und Bruchschaden.
123
Gleichgewicht von Druck und Gegendruck gestört wird, liegt auf
der Hand, es wäre sonst unerklärlich, warum nicht alle Menschen,
welche sich grossem Anstrengungen aussetzen, Brüche acquiriren,
oder warum unter denselben Verhältnissen bei dem Einen ein
Leistenbruch, bei dem Andern ein Schenkelbruch, bei dem Dritten
ein Nabelbruch zu Stande kommt. Diese Hülfsursachen nach allen
Richtungen in’s gehörige Licht gestellt zu haben, ist ein weiteres
Verdienst Wernher’s.
Er macht auf die angeborene Weite der Bruchpforten als
prädisponirend zur Bruchbildung aufmerksam. Er betont die Be¬
deutung der schon von Malgaigne hervorgehobenen Figuratiou
des Unterleibs nach schwächenden Krankheiten, bei welcher der
der Leib in den oberen Parthien flach eingezogen ist, während die
unteren Theile weit ausgedehnt sind und schlaff herunterhängen,
wobei die bindegewebigen Theile durch den Druck der auf ihnen
lastenden Dünndarmmassen eine grössere Ausdehnung erfahren.
Er weist ferner auf die Wichtigkeit einer normalen Weite und
Neigung des Beckens hin, indem nur bei richtigem Körperbau
und Körperhaltung eine Kompensation des Drucks der Bauch¬
presse und des Gegendrucks der Bauchdecken eintreten kann.
Endlich fuhrt er uns als die Bruchbildung begünstigend einer¬
seits schnelle Abmagerung, anderseits Fettansammlung an; erstere
weil Schwund des Fettes das Zellgewebe schlaff und das Bauch¬
fell in der Umgebung der Bruchpforte leicht beweglich macht,
letztere weil durch Fettanhäufung im subserösen Gewebe das Peri-
teneum leichter beweglich wird, die ebenfalls mit Fett angefüllten
Bruchpforten erweitert, Netz und Mesenterium schwerer werden,
tiefer herunterhängen und einen starkem Druck ausüben.
Zu erwähnen ist dann noch eine Reihe anderweitiger Er¬
krankungen, welche zur Bruchbildung disponiren, insofern sie mit
starkem und häufiger wiederkehrenden Anstrengungen der Bauch¬
presse verbunden sind wie: habituelle Verstopfung, chronische
Leiden der Blase und Harnröhre, chronische Leiden der Nasen-
und Rachenorgane, überhaupt der Athmungswerkzeuge.
Bekanntlich liegen nun bei den Brüchen meist mehrere Hülfs¬
ursachen vor, und Wernher kommt zu dem Schluss, dem auch wir
uns anscliliessen: Wo ein vollkommen normaler Zustand und Accord
in Bezug auf die Grundbedingungen besteht, werden keine Brüche
entstehen, und dieselben erst Vorkommen, wo sich ein Missverhältnis
in Bezug auf dieselben ausgebilldet hat. Den ganzen Mechanismus der
Bruchbildung aus einem Punkte erklären zu wollen, ist unstatthaft.
Die Schwäche einer Bruchpforte, das Offenstehen des Peritonal¬
fortsatzes, ein präformirter Bruchsack erklären für sich allein
noch nicht das Entstehen einer Hernie; es muss immerhin noch
die treibende Kraft hinzukommen, welche die Eingeweide bewegt,
aus ihrer normalen Lage zu treten, und ihre Befestigungsmittel
müssen diese Bewegung gestatten.
Dass diese individuellen Anlagen und Dispositionen, ja ein
vorgebildeter oder angeborener Bruchsack für die Zubilligung einer
Entschädigung irrelevant sind, hat das Reichsversicherungsamt
124
Dr. Grisar.
entschieden 1 ); fiir die gerichtsärztliche Würdigung fallen sie aber
zweifellos in’s Gewicht und sind besonders zu betonen. Den Stand¬
punkt, den das Reichsversicherungsamt hiermit einnimmt, können wir
vom wissenschaftlichen wie praktischen Standpunkte nur unbedingt
als richtig anerkennen. Die Schwierigkeiten für den Begutachter
wären sonst endlos, und der humane Zweck der Unfallgesetz¬
gebung bei Bruchschäden geradezu illusorisch. Er ist die Konse¬
quenz des an anderer Stelle ausgesprochenen Grundsatzes, dass
der Anspruch auf Entschädigung auch dann bestehen bleibt, wenn
durch ein schon vorhandenes Leiden die Folgen der Verletzung
sich verschlimmert haben.
Es erübrigt nun den Beweis zu führen, dass das plötzliche
Eintreten eines Eingeweides in ein Bauchfelldivertikel, den mehr
oder weniger präformirten Bruchsack, möglich ist in der Weise,
dass der Bruch in seiner ganzen charakteristischen Erscheinungs¬
weise im Anschluss an eine plötzliche Gewalteinwirkung zu Tage
tritt. Dass dies Ereigniss ein gewöhnliches oder überhaupt nur
häufiges ist, wollen wir gewiss nicht behaupten; wir halten aus¬
drücklich an der allmählichen Entstehungsweise durch öfters wieder¬
kehrende Erhöhung des intraabdominalen Druckes als der häufigsten
Bruchbildungsweise fest. Für kritische Untersuchungen reichen
nun die an Zahl meist unzulänglichen Beobachtungen der einzelnen
Aerzte nicht aus, und wir müssen uns die Aeusserungen von
Autoritäten heranziehen.
Verzeihen Sie, wenn ich Sie an dieser Stelle mit langen
Zitaten belästigen muss. Zur Stütze meiner Auffassung bin ich
dazu gezwungen, da Roser und neuerdings Blasius fast die
8ämmtlichen von mir zu zitirenden Autoren für ihre gegenteilige
Ansicht in’s Feld führen.
Malaigne (nach W e r n h e'r S. 91) nimmt an, dass die erste
Verschiebung des Peritoneums zur Bildung des Bruchsacks sehr
allmählich und kaum bemerklich für den Kranken vor sich geht.
Vorerst bildet sich nur eine grubenförmige, halbkugelige Vertiefung,
welche noch nicht die Kraft hat, sich zwischen die Gewebe hin¬
einzuschieben, wie später, wenn sie eine konische Gestalt ange¬
nommen hat. Diese muldenförmigen Vertiefungen (hernies en pointe)
bilden vielleicht noch keinen sichtbaren Vorsprung, sie haben die
äussere Bruchpforte noch nicht überwunden und werden von den
Kranken selten wahrgenommen, lassen sich aber an dem Impuls
erkennen, welchen sie der Fingerspitze beim Husten u. s. w. mit¬
theilen. Solche kleinen Brüche können, wenn sie einmal
das Bauchfell bis zu einem gewissen Grade verschoben
haben, unter irgend einer Anstrengung ganz plötzlich
mit Geräusch und Schmerzen sich beträglich vergrös-
sern und aus den äusseren Pforten zu einer sehr sicht¬
baren Geschwulst hervortreten.
Emmert 2 ) bemerkt: Gestützt auf einzelne bestimmte Er¬
fahrungen müssen wir sagen, dass bei vorhandenen Bruchdis-
') Entscheidungen des Reichsrersicherungsamtcs Nr. 458; Jahrg. 1888, S. 70.
*) Emmert: Unterleibsbrfiche. 1857.
TTeber Unfall und Brnchschaden.
125
Positionen die Möglichkeit der plötzlichen Entstehung
einer kleinen Hernie nach einer vehementen Gewalt¬
einwirkung nicht ganz geleugnet werden kann, und
dass noch häufiger letztere den ersten Anlass zu einer Bruchent¬
wickelung zu geben im Stande ist.
Busch 1 ) schreibt:
„Wir müssen deswegen sagen, dass Offenbleiben des Processus vaginalis
oder widernatürliche Weite des Leistcnkanals und des Schenkelringes, Knptur
einer Fascie, kurz alle Momente, welche an irgend einer Stelle der Bauch wand
eine weitere Oeffnnng schaffen, prädisponirende Ursachen für die Entstehung
eines Bruches sind, während die nächste Ver&nlas sung gemeiniglich
eine starke Bauchpresse ist. Mag diese nun bei Gelegenheit von schweren
Arbeiten, besonders Heben, einer starken Hnstenanstrengung, wie beim Keuch¬
husten oder einem Drucke auf den Leib ausgeübt werden, so wird dadurch das
Eingeweide hervorgepresst.“
Weiterhin sagt Busch S. 94:
„Man ist sogar soweit gegangen in der medicina forensis den Satz auf-
zustellen, dass nach einer Misshandlang keine Hernia entstehen könne, abgesehen
von den seltenen Fällen, in welchen Verletzungen des Bauchfells und der Bauch¬
muskeln Vorgelegen hätten. Freilich muss, wenn durch einen Tritt oder durch
Knieen auf dem Leibe ein Bruch hervorgedrängt wird, eine Ausstülpung des
Bauchfells vorhanden gewesen sein. Solche kleine Bauchfelltrichter findet man
aber in vielen Leichen leer, ohne dass je ein wirklicher Bruch vorhanden gewesen
wäre, und ohne jene Einwirkung der Gewalt würde möglicher Weise die Aus¬
stülpung auch immer leer geblieben sein, während jene Misshandlung das Ein¬
geweide mit solcher Gewalt hineintreibt, dass es einen Bruch bildete.
Bardeleben 2 ) präzisirt seine Ansicht über die plötzliche
Bruchbildung folgendermassen:
„Sehr selten und wahrscheinlich immer nur bei Individuen, welche zur
Entwickelung eines Bruches entschieden prädisponirt sind, entsteht in Folge
einer übermässigen Anstrengung oder einer gewaltigen Er¬
schütterung des Unterleibes plötzlich eine Hernie mit einem dem
Kranken wahrnehmbaren auch wohl schmerzhaften Ruck. Die allmähliche Ent¬
stehung der Hernien ist die Regel.“
Englisch, der im Uebrigen in der stärkeren Anwendung
der Bauchpresse oder dem vermehrten Druck von Aussen nur
etwas zufälliges sieht, äussert sich dahin 3 )
„Wir können daher in Betreff der Bruchbildnng sagen, dass dieselbe durch
Einlagerung von einem Eingeweide in eine schon vorgebildete Ausstülpung des
Bauchfells unter vermehrtem Druck auf das Eingeweide erfolgt.“
Schmidt 4 ) referirt die Aeusserungen Streubel’s wie folgt:
„Wenn Jemand Klage darüber führt, dass ihm durch Misshandlungen
oder Gewalttätigkeiten eines Anderen ein Bruchschaden zugefügt worden sei,
so sind drei Möglichkeiten denkbar. Entweder Patient ist früher mit einem
eine Geschwulst bildenden Bruche behaftet gewesen, ohne es zu wissen oder
zuzugeben; oder derKrankehatte seitlängerer oderkürzerer Zeit
eine ungefüllte, von aussen nicht bemerkbare Bauchfellaus-
stülpung (leeren Bruchsack), in welche sich durch die ge¬
dachte Gewalt Dünndarm, Netz und dergl. vorlagerten, oder
endlich es fand eine Zerreissung statt, welche den Eingeweiden gestattete, unter
die allgemeinen Bedeckungen zu treten. Dieser letztgenannte Vorgang ist nicht
leicht ohne anderweite Zufälle denkbar und wird sich aus Schmerzhaftigkeit der
') Lehrbuch der Chirurgie; II. Bd., 2 Abth., 1. Hälfte, S. 93.
*) Lehrbuch der Chirurgie- und Operationslehre; B. HL, S. 731, 5. Ausg.
*) Eulen bürg’s Realencyklopädie, 1. Aufl., B. II, S. 528.
4 ) P i t h a und B i 11 r o t h ’ s Handbuch der allgemeinen und speziellen
Chirurgie; 3. B., 2 Abth., 2. Lief., S. 54.
126
Dr. Grisar.
nächsten Umgebungen and Sagillationen an der betreffenden Stelle mit Wahr¬
scheinlichkeit erkennen lassen. Bezüglich der beiden ersten Fälle findet man
allerdings sehr häufig, dass Brnchkranke von ihrem Uebel keine Kenntniss haben,
und es als Folge irgend welcher plötzlicher Gewalt betrachten, während doch
die bei weitem grösste Mehrzahl der Brüche allmählich entsteht. Da aber die
Möglichkeit eines vorgebildeten Brachsacks im speziellen Fall nicht weggeleugnet
werden kann, so muss das Gutachten des untersuchenden Arztes dahin lauten:
es sei wahrscheinlich, dass der Verletzte sich über die Entstehung seines Bruches
täusche, cs sei aber auch möglich, dass er durch die Gewaltthätigkeit insofern
eine Verschlimmerung seines Zustandes erlitten habe, als Därme oder Netz in
einem leeren Brucksack sich vorlagerten, und er dadurch einer ganzen Reihe von
Gefahren mehr ausgesetzt sei als bisher.“
Hueter 1 ) fasst seine Ansicht dahin zusammen:
„Als ein Punkt von allgemeinem Interesse sei hier noch hervorgehoben,
dass bei der Bildung der Hernien selbst auch Gelegenheitsursachen mitwirken.
Es kann eine Anlage eines Bruchsackes längst vorbereitet sein, ohne dass ein
Bruch sich entwickelt, bis endlich eine Gelegenheitsursache ein¬
wirkt, und zwar ist die wichtige Gelegenheitsursache eine
plötzliche Vermehrung des intraabdominalen Drucks. Die Be¬
dingungen zu einer solchen sind beispielsweise gegeben durch
das Heben schwerer Lasten, durch Schreien, durch Husten, Erbrechen,
durch starke Anwendung der Baachpresse bei erschwertem Stuhlgang, durch
Quetschungen, welche auf die Bauchhöhle einwirkten.“
König 8 ) kömmt zu dem Resultate:
„Die plötzliche traumatische Entstehung eines Bruches ist nach dem
Vorstehenden undenkbar, wohl aber ist es denkbar, dass in einen
präformirten Bruchsack bei einer zu plötzlichen Gewaltein¬
wirkung Intestina gedrängt werden.“
Tillmann 8 ) sagt:
„Die plötzliche Entstehung der echten Hernien beruht nach meiner An¬
sicht meist auf Täuschung. Der Brachsack ist in der Regel bereits vorhanden,
aber leer oder der zur Zeit des Trauma schon ausgebildete Brucn war so gering,
dass er nicht bemerkt wurde. Zuweilen gelangen die Brucheinge-
weideaach plötzlich unter der Einwirkung einer Gelegenheits¬
ursache in den schon früher gebildeten BruchBack.“
E. von Hoffmann 4 ) führt aus:
„Die gerichtsärztliche Beurtheilnng solcher Fälle hat zunächst von dem
von sämmtlichen Chirurgen der Neuzeit anerkannten Grundsatz auszugehen, dass
bei einem normal gebauten Individuum eine Hernie nicht plötzlich entstehen
könne, ausgenommen es wären Rupturen der betreffenden Stelle der Bauchwand
durch die Verletzung entstanden, sondern dass sich eine solche nur dort zu
bilden vermöge, wo bereits ein Bruchsack durch angeborene Anlage oder durch
später erfolgte allmähliche Entstehung vorgebildet sei, in welchem Falle
allerdings das Heben schwerer Lasten, Fusstritte gegen den
Unterleib u. s. w. das Austreten einer Darmschlinge in die
bereits vorhandene Bauchfellausstülpung veranlassen können.“
Casper-Liman 6 ) schreibt:
„Die Erfahrung lehrt in der That, dass eine gewaltsame Erweiterung des
Bauchringes mit Vorfall auf mechanische traumatische Weise weit weniger
häufig ist, als oft angenommen wird, womit nicht die Möglichkeiteinerder¬
artigen Wirkung bei Tritt, Stoss, Hinabstossen und dergL in
Abrede gestellt sein soll, aber—und auch Roser hält dafür —nur bei sol¬
chen Individuen, bei welchen schon vorher eine Anlage zum Bruch vorhanden war.“
Einen etwas anderen Standpunkt nimmt Kingdon ein, der
*) Hueter: Lehrbuch der Chirurgie; 1882, IL B., S. 517.
*) König: Lehrbuch der speziellen Chirurgie; II. B., S. 142.
*) Lehrbuch der speziellen Chirurgie; 1. Aufl, 1891, S. 710.
*) Lehrbuch der gerichtlichen Medizin; 1887, S. 487.
6 ) Handbuch der gerichtlichen Medizin; 7. Aufl., I. B., S. 841.
Ueber Unfall and Bruchschaden.
127
die Theorien Benevoli’s, Morgagni’s und Richter’s sich
zu eigen machend, den Satz vertritt: „Ein Bruch ist eine Krankheit
und nicht ein Unfall, ein pathologischer Vorgang und nicht bloss
eine mechanische Verletzung!“ Nach ihm bestimmt nicht die
Schwäche und Weite der Bruchpforten die Entstehung des Bruches
überhaupt, sondern nur die Spezies derselben. Der Zustand des
Peritoneums sei für die Entstehung von Hernien wichtiger als der
der fribrösen Fasern der Pforten. Auf mangelhafter Beschaffenheit
des Peritoneums beruhe die erbliche Disposition. Erschlaffung des
Mesenteriums, wodurch die Eingeweide über irgend einem Ringe
lasten, den sie durch ihre Schwere oder die beständige Perkussion
au8deknen, ist die vorbereitende, pathologische Ursache; sind diese
vorhanden, so bringen Muskelanstrengungen das Vortreten
der Eingeweide zu Stande, wenn — wie er sich ausdrückt
— die Eingeweide in den Griff der treibenden Gewalt
kommen. Gerade letzteres betont Kingdon als nächste Ursache
der Brüche, und wenn wir ihm auch nicht in der Verallgemeinerung
seiner Bruchtheorie beitreten können, so acceptiren wir das
Postulat, dass eine Muskelaktion als Ursache nothwendig ist, um
bei der pathologischen Anlage die Eingeweide in eine Peritoneal-
ausstülpuDg hineinzutreiben. Sein Standpunkt bietet daher in
Bezug auf das Schlussresultat keine Abweichung von dem unsrigen,
und das vielfach geübte Zitiren seines angeführten Ausspruchs,
um das Gegentheil von der Anschauung des Reichsversicherungs¬
amtes und des Reichsgerichts darzuthun, ist widersinnig.
Endlich dürfen wir diese Untersuchung nicht abschliessen,
ohne zu der Auffassung Roser’s, des um die Bruchfrage so hoch¬
verdienten Marburger Chirurgen, Stellung zu nehmen. Sein Stand¬
punkt ist auf Grund seiner letzten Publikationen der folgende:
Die beutelförmige Ausstülpung des Bauchfells, der Bruchsack, ist
bei der Bildung der Brüche das Primäre, welchem das Vortreten
der Eingeweide nachfolgt. Der Bruchsack selbst ist aber entweder
angeboren, oder er ist die Folge von lokaler Erschlaffung der
Bauchwand, wobei sich das Bauchfell ausdehnt und vorwölbt, oder
er ist von einer extraperitonealen Geschwulst, einer Fettgeschwulst
abzuleiten, welche in dem subserösen Gewebe entstanden ist, von
dort gegen die Haut sich vordrängt und das Bauchfell nach sich
zieht. Die letzte Entstehungsweise ist namentlich bei Schenkel¬
brüchen als die gewöhnlichste, wenn nicht als die einzig vor¬
kommende zu betrachten. Dagegen sind die äusseren Leisten¬
brüche meistens angeboren, die Nabelbrüche der Kinder meist
durch blosse Ausdehnung entstanden. Kein erworbener Bruchsack
kann plötzlich entstehen.
Im Grunde genommen enthalten diese Anschauungen — aus¬
genommen die von Roser vertretene eigenthümliche Bildungs¬
weise des Bruchsackes — kaum etwas unserer Auffassung wider-
streitendes bis auf den Eintritt der Eingeweidetheile in die
präformirte Bauchfellausstülpung, welche Roser und seine Nach¬
folger als etwas Nebensächliches, von selbst Gegebenes hinstellen,
während hierin nach der von uns im Sinne des Reichsversicherungs-
128
t)r. Örisar.
amtes vertretenen Ansicht der Schwerpunkt der ganzen Bruchbildung
liegt. Im Uebrigen mildert Roser in These 4 seiner vorzitirten
Schrift seine Ansicht und giebt wenn auch als Ausnahmefall zu:
„Das Eindringen eines Eingeweides in einen schon vorhandenen Bruch-
sack ist nur ausnahmsweise durch Anstrengung veranlasst, und
in einem solchen Ausnahmefalle wäre demnach der Bruch als
ein bei der Arbeit entstandener Unfall aufzufassen, als ein
Unfall aber, welcher sich nur ereignen konnte, weil schon vor¬
her ein Bruchsack vorhanden war.“
Er sagt somit im Wesentlichen in dieser These dasselbe,
was wir in Uebereinstimmung mit den Erkenntnissen des Reichs¬
versicherungsamtes als wissenschaftlich begründet zu beweisen
suchten, nur pflichten wir ihm nicht bezüglich der Häufigkeit bei,
indem die plötzliche Bruchbildung in Folge von äussern Gewalt¬
einwirkungen, wenn auch selten ist, so doch immerhin nicht zu
den Ausnahmefällen gehört.
Nach diesen Auseinandersetzungen präzisiren wir unsern
Standpunkt dahin:
Wir sehen in einer Bauchfellausstülpung an einer der be¬
kannten Bruchpforten, welche sich beim Pressen und Drängen füllt
und sich dem zufühlenden Finger bemerklich macht, um beim Nach¬
lassen der Bauchpresse wieder zu verschwinden, nicht bereits einen
Bruch, sondern nur die Bruchanlage, weil sie den damit Behafteten
so wenig belästigt, dass der Zustand oft nicht einmal zum Bewusst¬
sein kommt, jedenfalls ihn keinen Gefahren, speziell nicht der der
Einklemmung, aussetzt, und ihn auch nur so weit in der Arbeits¬
und Erwerbsfähigkeit beschränkt, als er vielleicht zur Verhütung
der Bruchbilduug veranlasst ist, ein Bruchband zu tragen. Sind
aber die fibrösen Bindegewebsbündel und Fascien, welche dem
Vortreten der Bauchfellausstülpung vor die Leibeshöhle Widerstand
leisteten, gerissen oder durch Ueberdehnung erschlafft, und bleibt
jene auch mit Nachlass der Bauchpresse in gefülltem Zustande
ausserhalb der Bruchpforten, so ist der pathologische Zustand
gegeben, welchen wir als Bruch bezeichnen, welcher den Be¬
treffenden der Gefahr der Einklemmung aussetzt, ihn zwingt ein
gutes Bruchband zu tragen und darauf zu achten, dass dasselbe
den Bruch dauernd zurückhält und sich der Beschränkung bei der
körperlichen Arbeit und deren Auswahl stets eingedenk zu bleiben,
ihn somit in der Ausnutzung der Arbeitsgelegenheit und der An¬
wendung der vollen Arbeitskraft und Hingebung an die gewählte
Arbeit hindert. Kommt nun ein Bruch in der ausgeführten Weise
plötzlich zu Stande in ursächlichem Zusammenhang mit einer
schweren über den Rahmen der gewöhnlichen Betriebsarbeit hin¬
ausgehenden körperlichen Anstrengung, so liegt ein Unfall im
Betrieb vor und Entschädigungsansprüche sind begründet. Hin¬
gegen sind alle die Brüche, welche sich allmählich durch eine
Kette kleinerer und grösserer Anstrengungen entwickeln, als Ge¬
werbekrankheiten zu qualifiziren, die der Wohlthaten der Unfall¬
gesetzgebung nicht theilhaftig werden können.
Seltene Einmüthigkeit herrscht unter den Autoren in der
Anerkennung der Thatsache, dass sich in Folge einer plötzlich
Ueber Unfall und Bruchschaden.
129
verstärkten Bauchpressenaktion eine Einklemmung eines
schon bestehenden Bruches ausbilden könne. Mag dies Er¬
eigniss sich nun vollzogen haben, weil kein Bruchband getragen
wurde, weil das Bruchband plötzlich brach, oder weil es sich wegen
schlechten Sitzes verschob, alle diese Umstände würden einen
Entschädigungsanspruch nicht ausschliessen, da Fahrlässigkeit
eben kein Gegengrund ist zur Gewährung einer Unfallsrente. Für
gewöhnlich, d. h., wenn solche Brüche durch Taxis oder blutige
Operation zurückgebracht sind, unterliegen sie nicht den Be¬
stimmungen der Unfallgesetze, weil die durch den operativen Ein¬
griff gesetzten Störungen meist innerhalb weniger Wochen aus¬
geglichen sind, sich kaum je bis nach der 13. Woche hinziehen
dürften, und der Zustand nach der Operation kaum schlimmer sein
dürfte wie vor derselben. Nur bei Todesfällen im Gefolge von
eingeklemmten Brüchen dürfte das Gesetz in Kraft treten, indem
es sich um eine Rente für die Hinterbliebenen handelt.
Ich komme zum letzten Abschnitte meiner Erörterung, zur
sachverständigen Untersuchung und Begutachtung eines
angeblich in Folge eines Unfalls eingetretenen Bruchschadens.
Die Stellung des Sachverständigen ist hierbei eine recht schwierige,
sind doch die Fälle, wo mit absoluter Sicherheit ein Ja oder Nein
ausgesprochen werden kann, selten, und das Reichsversicherungs¬
amt verlangt darum auch in richtiger Würdigung dieser Thatsache
nur eine, dem vollen zwingenden Nachweis sich möglichst nähernde
Häufung von Wahrscheinlichkeitsumständen. Wie stets, wo der
Arzt als Begutachter auftritt, hat er sich der grössten Unpartei¬
lichkeit zu befleissigen; Rücksichten auf den Geschädigten müssen
ebenso zurücktreten, wie solche auf die Belastung der Unfallkassen.
Noch weniger dürfen Erwägungen, wie die, dass durch Bewilligung
von Unfallrenten an Bruchgeschädigte der Unmoralität Vorschub
geleistet werde, die Richtschnur des Verhaltens geben. Der be¬
gutachtende Arzt sei eben unbedingt objektiv, und wo ihm Kunst
und Erfahrung keine Anhaltspunkte zuverlässiger Art bieten,
scheue er sich nicht, ein non liquet unter Begründung seines
Votums auszusprechen,' jedenfalls steht es ihm nicht wie dem
Richter zu, sich in dubiis pro reo, also hier für den angeblich
Geschädigten zu erklären.
Die Fälle nun, wo deutliche Veränderungen an den Bruch¬
pforten in Form von Sugillationen, Oedem, Druckempfindlichkeit
vorhanden sind, bereiten der Begutachtung keine Schwierigkeiten.
Sie gehören aber bekanntlich zu den selteneren Fällen. In der
Regel wird sich der Begutachter vor Bruchschäden sehen mit
mehr oder weniger negativen Symptomen bezüglich der plötzlichen
Entstehung. Zunächst wird auf die Anamnese zu rekurriren sein,
und dies um so mehr, als das Reichsversicherungsamt in seinen
Entscheidungen 1 ) ausdrücklich von dem Verletzten den Nachweis
des ursächlichen Zusammenhangs, sowie Anhaltspunkte zur An-
*) Vergl. Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes; Nr. 202, 1886,
S. 288, Nr. 268, Jahrg. 1888, S. 85 und Nr. 1091, Jahrg. 1892.
9
130
Dr. Grisar.
nähme, dass der Bruch vor dem Unfälle nicht bestanden hat, ver¬
langt. Wie berechtigt hierbei ein recht weitgehender Skepticismus
ist, wo Wahrheitsliebe und Gewinnsucht in die Schranken treten,
weiss jeder Arzt, der in Unfallsachen begutachtend aufzutreten
hatte. Noch mehr wie bei gerichtlichen Untersuchungen hat sich
der Scharfsinn des Begutachters mit der Dreistigkeit und Pfiffig¬
keit des angeblich Geschädigten zu messen, und um nicht irre
geführt zu werden, wird man wohl thun, sich auf die Aeusserungen
des Exploranden allein nicht zu verlassen, sondern auf die akten-
und zeugenmässige Darstellung zurückzugehen, womöglich auch
frühere Untersuchungsbefunde bei der Rekrutenaushebung fest¬
stellen zu lassen. Stets hat man sich vor Augen zu halten, dass
das plötzliche Entstehen eines Bruches ein seltener Vorgang ist
im Vergleich mit der allmählichen Bruchbildungsweise, dass letz¬
tere die Regel und ersteres die Ausnahme bildet. An die Fest¬
stellung des Unfalls hat sich die Erhebung von Erblichkeitsver¬
hältnissen und prädisponirenden Körperzuständen krankhafter Art
oder nachtheiliger Beschäftigungen anzuschliessen.
Bei der objektiven Untersuchung ist wie bei jeder klinischen
Untersuchung das ganze Subjekt zu berücksichtigen. Der Explorand
ist vollständig entkleidet und zwar sowohl stehend wie liegend zu unter¬
suchen. Nach Feststellung der Generalia ist die nächste Aufmerk¬
samkeit dem etwaigen Vorhandensein von Krankheitszuständen zuzu¬
wenden, welche erfährungsgemäss zur Bruchbildung disponiren: chro¬
nische Katarrhe der Rachengebilde und der Athmungswerkzeuge,
Leiden der Harnorgane, wie Steinbildung, Strikturen der Harnröhre
und Phimose, stärkere Beckenneigung, Rekonvalescenz von schwäch¬
enden Krankheiten, rasche Abmagerung oder ungewöhnliche Fett¬
zunahme. Weiterhin wird festzustellen sein, ob thatsächlich ein
Bruch vorhanden ist, und ob nicht eine Verwechselung mit anderen
krankhaften Gebilden vorliegt, wie Hydrocele, Varicocele, Senkungs-
abscess, vergrösserte und entzündete Lymphdrüsen, Entzündung
oder Blutung in einem leeren Bruchsack, Entzündung des Hodens
und seiner Scheidenhaut u. s. w.
Ist thatsächlich ein Bruch konstatirt, so kommt in Frage, ob
nach Lage des ganzen Befundes die Umstände für ein zeitliches Zu¬
sammentreffen der Bruchbildung mit dem Unfall sprechen, oder ob
der Bruch nicht älteren Datums ist, aber übersehen wurde, und ob
gar etwa absichtliche Täuschung vorliegt. Hatte der angeblich Ge¬
schädigte weiter gearbeitet und nicht alsbald ärztliche Hülfe nach
dem Unfall zugezogen, so würde ich für meinen Theil mich einem Ent¬
schädigungsantrag gegenüber ablehnend verhalten; die psychische
und physische Allgemeinaffektion bei dem plötzlichen Zustandekommen
eines Bruches ist jedenfalls derartig, dass sie auch andere Menschen,
wie Kassenmitglieder, welche die grössten Anforderungen an uns
Aerzte zu stellen gewohnt sind, zum Arzte treiben. Durch eine solche
Verschleppung der ärztlichen Untersuchung ist der Nachweis des
ursächlichen Zusammenhanges verdunkelt und den eigenen An¬
gaben über den Unfall und dessen Folgen kein Gewicht beizulegen.
Ein plötzlich entstandener Bruch ist meistens — (die vaginalen
Ueber Unfall and Bruchschaden.
131
Hernien bilden eine Ausnahme) — nur von geringer Dimension. Sind
auch die Fascien an den Bruchpforten gerissen, so leisten die äusseren
Bruchhüllen immer noch einen gewissen Widerstand, auch ver¬
hindert das Peritoneum, das als Bruchsack vorgestülpt ist, ein
bedeutenderes Vortreten der Eingeweide. Wenn also ein grösserer
Bruch gefunden wird, so ist der kausale Zusammenhang mit einem
Unfall streng kritisch zu prüfen, auch im Auge zu behalten, ob
es sich um die plötzliche Vergrösserung eines schon bestehenden
Bruches handelt. Ob dies einen Grund zur Gewährung einer Un¬
fallsrente abgiebt, ist nur nach den konkreten Umständen zu
beurtheilen. Weiterhin sind Hautveränderungen über der Bruch¬
pforte als Folge des Pelottendrucks eines Bruchbandes, etwaige
Operationsnarben, die Weite der Bruchpforte und die Länge des
Bruchkanals zu berücksichtigen. Bei einiger Weite der Bruch¬
pforte ist die plötzliche Bruchbildung aus leicht ersichtlichen
Gründen sehr zweifelhaft; bei älteren Brüchen hat sich der lange
Bruchkanal in eine ringförmige Pforte umgewandelt; letzterer Be¬
fund würde also gegen eine plötzliche Entstehung des Bruches
sprechen; dasselbe ist der Fall bei derber Beschaffenheit des
Bruchsackes und Verwachsung des Hodens mit dem Bruche. End¬
lich ist noch auf das Vorhandensein eines Bruches auf der andern
Körperseite zu achten, da bekanntlich bei disponirten Individuen
nur zu häufig und bald der Bruchbildung auf einer Seite die auf
der anderen folgt.
Wie die Frage, welche ich nun eingehend diskutirt habe,
streitig ist, so hat sich auch ein Autor, Dr. Blasius, gegen die
Gewährung einer Rente überhaupt erhoben. Die Unfalls¬
rente wird vom Reichsversicherungsamt auf 10 bis 12 1 /* %
bei einseitigen und auf 15 °/o bei doppelseitigen Brüchen be¬
messen und nur in ganz vereinzelten Fällen werden nach Lage
der besonderen Umstände höhere Sätze zugebilligt. Das Reichs¬
versicherungsamt geht in seinen Entscheidungen 1 ) von der Er¬
wägung aus: dass erstens der Arbeiter in Folge des Unfalls
genöthigt sei, überhaupt ein gutes Bruchband zu tragen; zweitens
darauf zu achten, dass dasselbe den Bruch dauernd zurückhält;
drittens — und das ist die Hauptsache — dieser Beschränkung
bei der körperlichen Arbeit und deren Auswahl stets eingedenk
zu bleiben. Der Arbeiter ist mithin durch den Bruch in der Aus¬
nutzung der Arbeitsgelegenheit und in der vollen Arbeitskraft und
Hingebung an die gewählte Arbeit behindert.
Ich meine jeder Arzt sollte diesen Grundsätzen beipflichten,
und präziser können die Folgen nicht geschildert werden. Einen
merkwürdigen Standpunkt nimmt Blasius ein. Nach ihm ist das
Tragen eines Bruchbandes wie das Tragen einer Brille eine Ge¬
wohnheitssache und soll sicherlich nicht erwerbsbeeinträchtigt
machen, so lange der Bruch zurückgebracht und zurückgehalten
werden kann. Weiter versteigt sich Blasius zu dem Satze: „Ist
das Bestehen eines Bruches einmal erkannt, so ist der mit dem
*) Entscheidungen des Reichsversicheruugsamtes; Jahrg. 1888, S. 36.
Ü*
182
Dr. Grisar.
Bruche behaftete Mensch oder Arbeiter besser daran als früher.
Er wird zum Tragen eines Bruchbandes aufgefordert; trägt er es,
so wird er von nun an vor der Möglichkeit einer Einklemmung
des Bruchinhaltes geschützt sein, der er vorher jeden Augen¬
blick ausgesetzt war.“ Nun, m. H., ich glaube dass derjenige,
welcher solche Behauptungen aufstellt, nicht ernst zu nehmen
ist und schenke mir die Widerlegung. Ich führe nur eine
Aeusserung von Roser an, dessen Auffassung Blasius sonst
beitritt: „Man darf den Schaden, welchen ein Bruch macht
oder machen kann, nicht allzugering anschlagen, wie schon von
manchen Aerzten geschehen ist. Es ist zuzugeben, dass viele
Bruchkranke sich wenig um ihren Bruch kümmern, dass sie keine
Beschwerden davon fühlen, und dass sie sich vielleicht nur darüber
beklagen, wenn sie jedes Jahr ein neues Bruchband anschaffen
müssen. Aber nicht alle Brüche können so gleichgültig angenommen
werden. Die Fälle wo kein Bruchband recht halten will, sind
nicht zu leugnen. Ebenso kann man nicht leugnen, dass starke
Anstrengungen einem Bruchkranken Gefahr bringen können, dass
man also z. B. das schwere Heben von einem Bruchkranken nicht
verlangen kann. Deshalb wird ja zu manchen Berufsarten z. B. zum
Militär- oder Eisenbahndienst, ein Bruchkranker nicht genommen.“
Ich habe noch andere Bedenken kurz in Betracht zu ziehen.
Von militärärztlicher Seite wurde, wie Kaufmann betont, die Heil¬
barkeit eines Bruches hervorgehoben. Es soll bei Soldaten, welche
im Dienste plötzlich einen Bruch acquirirten, durch 14tägige Bett¬
lage vollkommene Heilung des Bruches beobachtet worden sein,
die auch noch später zu konstatiren war. Diese Erfahrungen
werden ja gewiss zu neuen Versuchen auffordern. Allein es ist
immerhin zu bedenken, dass der in Unfallsachen zugezogene Arzt
den Bruch nicht wie der Militärarzt sofort nach dem Entstehen
sieht, sondern erst nach einer gewissen Zeit, wo auf eine den
Verschluss der Bruchpforte bildende Vernarbung kaum mehr zu
rechnen ist.
Weiterhin wurde die Radikaloperation in Betracht gezogen.
Hierbei ist jedoch zu beachten, dass Niemand gezwungen werden
kann, sich einer unter Umständen tödtlichen Operation zu unter¬
werfen. Die Operation hat zwar nach Wood unter 200 Fällen
nur dreimal einen tödtlichen Ausgang gehabt; nach Anderegg
beträgt die Mortalität 3,6 °/ 0 , nach Leisrink 7,4°/ 0 , aber be¬
achten wir immer, dass diese günstigen Erfolge nur allein bei
Anwendung aller Vorsichtsmassregeln der Klinik erlangt wurden,
und dass die Misserfolge in der Hand der praktischen Aerzte,
welche nicht in der Lage sind, unter den günstigen Bedingungen
der Klinik zu operiren, doch beträglich grösser sind. Eine all¬
gemeine Empfehlung ist also nicht am Platze und ganz besonders
nicht, wenn man in Erwägung zieht, dass die gewonnenen Resultate
nach der Statistik von Anderegg nur in 61 °/ 0 von dauerndem
Erfolg sind.
Die Zubilligung der Rente für Unfall-Bruch-Verletzte ist also
vom ärztlichen und menschlichen Standpunkt durchaus gerechtfertigt.
Ueber Unfall und Bruchschaden.
133
Ich schliesse meine Erörterung mit der Besprechung der
Häufigkeit der Brüche in Folge von Betriebsunfällen. Ich
hatte bereits Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass die plötzliche
Entstehung eines Bruches nicht zu den Häufigkeiten gehört. Die
Befürchtungen, welche Roser und Blasius bezüglich der be¬
denklichen finanziellen Tragweite der Auffassung des Reichsver¬
sicherungsamtes äussern, treffen somit nicht zu nach der gleich
mitzutheilenden Statistik. Roser äussert sich dahin: „Wenn es
einem Arbeiter gelingt, sich durch die unwahre Behauptung, dass
er bei der Arbeit einen Bruch bekommen habe, eine lebenslängliche
Rente zu verschaffen, dann wird dies Beispiel leicht verführend
auf die anderen Arbeiter einwirken, und so kann es kommen, dass
das Unfallgesetz in manchen Kreisen geradezu einen demorali-
sirenden Einfluss gewinnt.“ Mit letzterer Ansicht hat Roser nur
zu sehr rech , aber die Bruchbildung nach Unfällen ist hieran nicht
in höherem Grade betheiligt, wie es andere, in ihrer Entstehungs¬
weise leichter zu beurtheilende Verletzungen sind. Die Aus¬
legungen des Reichsversicherungsamtes sind so vorsichtig abge¬
fasst, dass es doch schwer fällt, sich eine unrechtmässige Rente
zu erwerben durch Simulation eines plötzlich in Folge Betriebs¬
unfalls entstandenen Bruches. Um zu einem Urtheil über die
Häufigkeit von Entschädigungsansprüchen wegen Bruchschäden
nach Betriebsunfällen zu kommen, habe ich mich an den Direktor
des Reichsversicherungsamtes um Mittheilung der Bruchstatistik
gewandt. Meinem Ersuchen ist in bereitwilligster Weise statt¬
gegeben worden, soweit das Material vorlag, nämlich nur für das
Jahr 1892, und bin ich in der Lage, Ihnen die folgenden An¬
gaben machen zu können:
Unter den im Laufe des Jahres 1892 gefällten Rekurs¬
entscheidungen befanden sich 201, in denen Gegenstand des
Streites, ob in Folge des Unfalls ein Bruchschaden entstanden ist
oder nicht.
Diese 201 Sachen vertheilten sich auf die untenstehenden
Abtheilungen:
a. das Schiedsgericht nahm einen Bruch an, ebenso das
Reichs - Versicherungsamt in 17 Fällen;
b. das Schiedsgericht nahm einen Bruch an, das Reichs-
Versicherungsamt aber nicht in 40 Fällen und zwar: ohne
Beweiserhebung in 39, auf Grund erhobenen Beweises
in 1 Fall;
c. das Schiedsgericht nahm keinen Bruch an, wohl aber das
Reichs-Versicherungsamt in 16 Fällen und zwar: auf
Grund erhobenen Beweises in 10, ohne Beweiserhebung
in 6 Fällen;
d. das Schiedsgericht nahm keinen Bruch an und ebenso das
Reichs - Versicherungsamt in 128 Fällen.
Auf die einzelnen Berufsgenossenschaften vertheilten sich die
Bruchfälle folgendermassen:
134
Dr. Grisar: Ueber Unfall und Bruchschaden,
I. Gewerbliche.
a.
b.
c.
d.
Knappschafts- Berufsgenossenschaft
♦
■±
1
6
16
Steinbruchs- „
2
1
1
2
Feinmechanik- „
—
1
—
—
Süddeutsche Eisen- und Stahl- „
—
—
—
4
Südwestdeutsche Eisen- „
—
—
—
1
Rheinisch-Westf. Hütten- und
Walzwerks- „
1
4
1
11
Rheinisch-Westf. Maschinenbau- „
—
—
—
2
Sächs.-Thür. Eisen- und Stahl- „
—
—
—
3
Nordöstliche Eisen- nnd Stahl- „
—
i
2
1
Schlesische Eisen- und Stahl- „
—
2
—
1
Nordwestl. Eisen- und Stahl- „
—
—
—
2
Süddeutsche Edel-u.Unedelmetall- „
1
—
—
1
Glas- „
—
1
—
2
Ziegelei- „
—
1
—
2
Chemische Industrie- „
1
—
1
3
Gas- und Wasserwerke- „
—
1
—
1
Norddeutsche Textil- „
—
1
—
4
Süddeutsche Textil- „
—
1
1
—
Textil- von Elsass-Lothringen „
—
—
—
2
Papiermacher- n
—
1
—
4
Lederindustrie- „
1
—
—
1
Norddeutsche Holz- „
—
—
1
5
Stidwestdeutsche Holz- „
—
1
—
—
Nahrungsmittel-Industrie- „
—
2
—
4
Zucker- „
2
2
—
2
Brennerei- „
—
1
—
—
Brauerei- und Mälzerei- „
—
—
—
3
Nordöstliche Baugewerks- „
—
—
—
1
Schlesisch-Posensche Baugewerks- „
—
—
—
1
Hannoversche Baugewerks- v
1
1
—
1
Magdeburgische Baugewerks- „
—
—
1
2
Sächsische Baugewerks- „
1
—
—
2
Hessen-Nassauische Baugewerks- „
1
2
1
6
Rheinisch-Westfäl. Baugewerks- „
—
—
—
1
Südwestliche Baugewerks- „
—
—
—
3
Strassenbahn- „
1
3
—
3
Spedition-, Speicherei- u. Kellerei- „
—
—
—
4
Fuhrwerks- „
—
1
—
2
See-
—
1
—
—
Tiefbau- „
—
5
1
7
Zusammen:
1 16
1 35
1 16
110
II. Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften:
In Ostpreussen.
_
_
_
3
„ Brandenburg.
—
1
—
—
„ Posen.
—
—
—
1
„ Schlesien.
—
—
—
3
„ Westfalen.
—
—
1
n Rheinprovinz.
—
1
—
1
„ Weimar.
—
1
1
v Reuas j. L.
—
—
—
1
Zusammen: |
—
3
—
11
Diskussionsgegenstände. 135
m. Staatliche Ausffihrungsbehörden:
a.
b.
c.
d.
Königliche Intendantur IV. Armee-Korps
—
—
2
XT
» y> AA * n 7)
—
—
—
1
n w XVII. „ v
—
—
—
1
„ Eisenbahndirektion zn Altona
—
—
—
1
„ „ „ Berlin
1
2
—
—
* * „ Breslau
—
—
—
1
, * „ Hannover
—
—
—
1
Zusammen:
i
2
—
7
Gesammt-Summe: |
17
40
16
128
(Lebhafter Beifall.)
Vorsitzender: Ich eröffne die Diskussion. Wünscht Jemand
das Wort zu ergreifen? Es ist nicht der Fall. Dann gestatte ich
mir im Namen der Versammlung Herrn Kollegen Grisar für
seinen interessanten Vortrag den verbindlichsten Dank auszusprechen.
VI. Disknssionsgegenstände.
a. Amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte. (Antrag der
Medizinalbeamten in Berlin.)
H. Bezirksphys. San.-Rath Dr. Kollm (Berlin): M. H.! Das
Kollegium der Berliner Bezirks - Physiker hat bei dem Vorstande
unseres Vereins den Antrag gestellt, dass derselbe durch schrift¬
liche Eingabe an Se. Excellenz den Herrn Kultusminister eine
auch für die anderen Ressorts gültige Entscheidung desselben
darüber herbeiführe, dass die Medizinalbeamten nicht verpflichtet
seien, die ihnen von den verschiedenen Behörden im Interesse des
Dienstes aufgetragenen ausführlichen Gutachten über den Gesund¬
heitszustand Kaiserlicher oder Königlicher Beamter ohne Entgeld
abzugeben.
Wir wurden zu diesem Anträge durch den Umstand veran¬
lasst, dass in neuester Zeit von einzelnen Behörden derartige
Gutachten zur Zahlung angewiesen werden, während von den
meisten anderen jede Bezahlung unter Hinweis auf die Ministerial-
Erlasse vom 16. Februar 1844 und 8. Juli 1879 verweigert wird.
Naturgemäss werden in Berlin, wo sich der Sitz so sehr
vieler Behörden befindet, eine viel grössere Anzahl derartiger
Atteste von den Medizinalbeamten erfordert, als in der Provinz.
Wir haben aber diese Angelegenheit nicht als eine lokale aufge¬
fasst, sondern glaubten, dass es im Interesse aller Medizinal-
Beamten liege, wenn durch eine prinzipielle Entscheidung Sr.
Excellenz des Herrn Ministers auch in den anderen Ressorts eine
gleichmässige Behandlung einträte. Deshalb wandten wir uns mit
unserem Anträge, gestützt auf den Beschluss der IX. Hauptver¬
sammlung, dass Taxfragen von allgemeinem Interesse durch den
Verein bis in die letzte Instanz zur Entscheidung durchgeführt
186
Diskussionsgegenst&nde.
werden sollen, an den Vorstand desselben. Dieser hat sich mit
unserem Anträge einverstanden erklärt und ihn der gegenwärtigen
Hauptversammlung zur Diskussion und eventuellen Beschluss¬
fassung unterbreitet.
Zur Begründung unseres Antrages erscheint es nothwendig,
diejenigen Bestimmungen, welche eine so verschiedene Auslegung
bei den einzelnen Behörden ermöglicht haben, hier durchzugehen.
Das über unsere Taxe entscheidende Gesetz vom 9. März
1872 mit den Ergänzungen vom 17. September 1876 und 2. Fe¬
bruar 1881 sagt im §. 3, Absatz 6: „Die Medizinalbeamten erhalten
für jedes andere (nicht Obduktionsbericht) mit wissenschaftlichen
Gründen unterstützte, nicht bereits im Termin zu Protokoll gege¬
bene Gutachten, es mag dasselbe den körperlichen oder geistigen
Zustand einer Person oder Sache betreffen, 6—24 Mark“; und in
Absatz 7: „Für die Ausstellung eines Befundscheines ohne nähere
gutachtliche Ausführung 3 Mark.“
Danach wäre die uns interessirende Frage einfach zu ent¬
scheiden, wenn nicht im Eingänge des §. 3 sich die Bestimmung
fände, dass die Medizinalbeamten diese Sätze für alle von den
Gerichten oder anderen Behörden ihnen aufgetragenen Geschäfte
zu liquidiren berechtigt sind, so weit sie nicht durch be¬
stehende, besondere Bestimmungen zur unentgelt¬
lichen Dienstleistung verpflichtet sind.
Eine derartige Verpflichtung zur unentgeltlichen Dienst¬
leistung besteht nun aber für alle diejenigen Physiker, welche
nicht vor dem 16. Februar 1844 angestellt sind, und da solche
gegenwärtig wohl kaum mehr vorhanden sein dürften, für alle jetzt
im Amte befindlichen.
Der dahin lautende Cirkular-Erlass des Herrn Kultusministers
vom 16. Februar 1844 ist für uns so wichtig, dass ich ihn hier
wörtlich geben muss. Es heisst darin:
„Das Königl. Staatsministerium hat beschlossen, dass die künftig anzu¬
stellenden Kreis-Medizinal-Beamten bei der Einführung in ihr Amt zur unent¬
geltlichen Bewirkung der von den Staatsbehörden im Interesse des Dienstes
ihnen aufgetragenen Untersuchungen des Gesundheitszustandes Königlicher
Beamter, sowie zur unentgeltlichen Ausstellung der Befundsatteste aus¬
drücklich verpflichtet werden sollen. Den jetzt im Amte befindlichen Kreis-
Medizinal-Beamten können die taxmässigen Gebühren für dergleichen Unter¬
suchungen und Atteste, wie bisher geschehen, so auch ferner auf ihr Verlangen
bewilligt werden. Indem ich die Königliche. Regierung von diesem Beschlüsse
in Kenntniss setze, veranlasse ich dieselbe die Anordnung zu treffen, dass die
von jetzt an neu angestellten Kreis-Medizinal-Beamten bei Gelegenheit ihrer
Vereidigung zu Protokoll verpflichtet werden, die von den Staatsbehörden ihnen
im Interesse des Dienstes aufgetragenen Untersuchungen der erwähnten Art,
sowie die Ausstellung der Befundatteste unentgeltlich zu bewirken.“
Diese Verpflichtung wurde durch Min.-Erlass vom 16. Feb.
1844 auch auf marschuufähig gewordene Soldaten, und durch
Min.-Verf. vom 27. Februar 1872 auf die Reichspostbeamten aus¬
gedehnt. Auch die Gensdarmen gehören mit in diese Kategorie
von Beamten. Durch Min.-Erlass vom 8. Juli 1874 wurde dann,
nach Erlass des Gesetzes vom 9. März 1872 über die den Med.-
Beamten zustehenden Gebühren, bestimmt, dass in Gemässheit des
Diskuasionsgegenstände.
137
§. 3 dieses Gesetzes diese Verpflichtung der Medizinal-Beamten
nicht aufgehoben ist.
Von diesen Bestimmungen haben die Behörden den aus¬
gedehntesten Gebrauch gemacht. Es bildete sich dabei als fest¬
stehende Regel der Grundsatz aus, dass auch alle von den Be¬
hörden im Interesse des Dienstes erforderten ausführlichen
Gutachten von den Medizinal-Beamten unentgeltlich verlangt
wurden. Die von den Medizinal - Beamten dagegen erhobenen
Einwendungen wurden stets zurückgewiesen, und auch von Seiten
der Königlichen Regierungen wurden bei den diesbezüglichen,
ihnen zur Festsetzung vorgelegten Liquidationen, unter Hinweis
auf den Min.-Erlass vom 16. Februar 1844, die Kosten für aus¬
führliche Gutachten abgesetzt. Ich selbst kann aus eigener Er¬
fahrung ein derartiges Verhalten der Königl. Regierung zu Liegnitz
anführen. Ein mir vom Kollegen Klingelhöferin Frankfurt a. M.
mitgetheilter Fall bestätigt dies. Derselbe schreibt, dass erst
ganz kürzlich ein von der Königl. Eisenbahndirektion von ihm
eingefordertes ausführliches Gutachten über den Gesundheitszustand
eines Beamten nicht bezahlt wurde, weil die Königl. Regierung,
der die Liquidation zur Feststellung übergeben war, die Kosten
abgesetzt hatte unter Berufung auf die von dem Kollegen Klingel-
höfer bei seiner Anstellung eingegangene schriftliche Verpflichtung,
derartige Gutachten ohne Entgelt abzugeben. Sollte diese Ver¬
pflichtung ihm thatsächlich auferlegt worden sein, so verstösst
dieses Verfahren offenbar direkt gegen die Vorschriften des Min.-
Erlasses vom 16. Februar 1844. Bei diesen bis heute mit wenigen
Ausnahmen beibehaltenen Gepflogenheiten der Behörden entsteht
die Frage, ob nicht doch ein Rechtsgrund dafür vorhanden sei,
indem in dem Min.-Erlass vom 16. Februar 1844 unter dem Aus¬
druck „Befundattest“ ein „ausführliches Gutachten“ gemeint werde.
Dem widerspricht aber der Umstand, dass in der damals noch
geltenden Taxe vom 21. Juni 1815 in Position 20 von Gesund¬
heitsscheinen, und in Position 21 von einem geschriebenen, mit
wissenschaftlichen Gründen unterstützten Consilium oder Gutachten
die Rede ist. Diese beiden werden ausdrücklich von einander
unterschieden. Ausserdem besagt dann noch der Min.-Erlass vom
12. April 1860, dass die Bezeichnung in Pos. 20 „Ausfertigung
eines Gesundheits- oder Krankheitsscheines“ dem Wortlaute gemäss
nur auf solche Bescheinigungen zu beziehen ist, wodurch einfach
und ohne weitere Motive die Thatsache, dass die be¬
treffende Person krank, resp. gesund ist, festgestellt
wird. Lautet die Requisition auf Erstattung eines Gutachtens,
so ist als festgestellt zu erachten, dass der Behörde nicht durch
Ausstellung eines blossen Befundscheines genügt ist.
In gleicher Weise spricht sich auch ein Min.-Erlass vom
10. Februar 1863 aus.
Hiernach kann es wohl nicht zweifelhaft sein, dass, sobald
die Requisition auf Ausstellung eines ausführlichen Gutachtens
lautet, wenn ausserdem dem Medizinal - Beamten zum Zwecke der
Ausstellung eines solchen die Akten übersandt werden, derselbe
138
DiskuflsionsgegenstÄnde.
Anspruch auf die im Gesetze vom 11. März 1872 §. 3, Abs. 6 ihm
zustehenden Gebühren hat.
Von diesen Gesichtspunkten ausgehend hat Herr Kollege
Gleitsmann in Wiesbaden im Oktober 1891 bei Gelegenheit
eines von einer Königl. Eisenbahndirektion von ihm erforderten
Gutachtens über den Gesundheitszustand eines Königl. Beamten,
das nicht honorirt wurde, Beschwerde bei Sr. Excellenz dem Herrn
Minister für öffentliche Arbeiten eingereicht. Diese Beschwerde
hatte den gewünschten Erfolg. Der Herr Minister erkannte die
Berechtigung der Liquidation an. In dankenswerter Weise hat
Herr Kollege Gleitsmann diesen Entscheid veröffentlicht. Unter
Berufung auf denselben haben auch andere Kollegen die von ihnen
abgegebenen derartigen Gutachten — ich selbst drei — bezahlt
erhalten. In gleichem Sinne, wie der Herr Minister für öffentliche
Arbeiten, haben seitdem noch in gegebenen Fällen der Herr Finanz¬
minister, wie die Kollegen Westrum in Geestemünde und Baer
in Berlin berichten, der Herr Justizminister, wie die Kollegen
Henning in Schlawe und Wa 11 ichs in Altona angeben, und der
Herr Landwirthschaftsminister nach einer Mittheilung des Kollegen
Frey er in Stettin entschieden. Von dem Herrn Minister des
Innern liegen Entscheide noch nicht vor, da wohl die meist mit
3 Mark, zum Tlieil garnicht honorirten Gutachten über den Ge¬
sundheitszustand von Gensdarmen nicht dazu zu rechnen sind.
Man kann nicht annehmen, dass diese Entscheidungen der
anderen Herren Minister ohne vorherige Rückfrage bei dem Herrn
Kultusminister erfolgt sind, und darf es wohl als sicher gelten,
dass derselbe sich mit den anderen Herren Ressortchefs im Ein¬
vernehmen befindet. Trotzdem werden von den meisten Behörden
nach wie vor derartige Gutachten von den Medizinal-Beamten
unentgeltlich abverlangt. Wenn einmal dafür eine Bezahlung
erfolgt, so haben die Medizinal - Beamten in jedem Falle sich diese
erst zu erkämpfen.
Man kann nun die Frage aufwerfen, ob die einzelnen Be¬
hörden überhaupt ausführliche Gutachten nöthig haben. In den
meisten Fällen wird es sich um die Pensionirung unmittelbarer
Staatsbeamten handeln, und darüber bestimmt das Gesetz vom
27. März 1872. In §. 20 heisst es: „Zum Erweise der Dienst-
unfahigkeit eines seine Versetzung in den Ruhestand nachsuchenden
Beamten ist die Erklärung der demselben unmittelbar Vorgesetzten
Dienstbehörde erforderlich, dass sie nach pflichtgemässem Ermessen
den Beamten für unfähig halte, seine Amtspflichten ferner zu
erfüllen. Inwieweit andere Beweismittel zu erfordern, oder der
Erklärung der unmittelbar Vorgesetzten Behörde entgegen für
ausreichend zu erachten sind, hängt von dem Ermessen der über
die Versetzung in den Ruhestand entscheidenden Behörde ab.“
Meissner (Handbuch für Verwaltungsbeamte S. 355) führt hierzu
an, dass bei Berathung dieses Gesetzentwurfes im Abgeordneten¬
hause ausdrücklich der Antrag, dass zur Pensionirung nur ein
Physikats - Attest erforderlich sei, zurückgewiesen wurde. Sofern
die unmittelbar Vorgesetzte Dienstbehörde den Beamten selbst als
Diskuasionsgegenetände.
139
dienstunfähig erkennt, ist ein solches nicht nöthig. Wird es
erfordert, so hat es nach Form und Inhalt dem Min.-Erlasse des
Herrn Kultusministers vom 20. Januar 1853 zu genügen. Diese
letztere Bestimmung bezieht sich auf die Form und den Inhalt
ausführlicher motivirter Gutachten der Medizinal - Beamten. Es ist
wohl möglich, dass die Behörden, wenn sie diese Gutachten nicht
mehr wie bisher unentgeltlich erhalten sollten, davon Abstand
nehmen, oder die Kosten den betreffenden Beamten auferlegen
werden. Interessante derartige Beispiele liegen bereits vor von
den Kollegen Meyhöfer in Görlitz und Heidelberg in Reichen¬
bach. In beiden Fällen begnügte sich die Behörde auf die Vor¬
stellung der Kollegen, dass sie nur Befund - Atteste kostenfrei
abzugeben verpflichtet seien, mit letzteren. In einem gleichen Falle
des Kollegen Wiedner in Cottbus hat das Ober-Landesgericht
dem betreffenden zu pensionirenden Beamten die Kosten auferlegt.
Wie gross die Zahl der in einem Jahre von den Medizinal¬
beamten abgegebenen unentgeltlichen Gutachten ist, habe ich ver¬
sucht, durch eine Umfrage bei den 546 Physikern festzustellen.
Da die Kreiswundärzte wohl nur selten in die Lage kommen, der¬
artige Atteste auszustellen, habe ich meine Anfrage nicht auf sie
ausgedehnt. Aus den mir bisher eingegangenen 250 Antworten
habe ich Folgendes entnehmen können:
Im Jahre 1892 sind von diesen 250 Physikern 638 derartige
ausführliche Gutachten unentgeltlich abgegeben worden. Rechnet
man jedes Attest durchschnittlich zu 9 Mark, so ergiebt dies eine
Summe von 5742 M., die uns für die geleistete Arbeit nicht ge¬
zahlt worden sind. Man wird nicht weit von der Wirklichkeit
abweichen, wenn man diese Summe mindestens verdoppelt, da weit
über die Hälfte der Physiker mit ihren Berichten noch aussteht.
Ueber die Zahl dieser Atteste, welche von den Behörden
honorirt worden sind, läst sich ein sicheres Bild aus den einge¬
gangenen Antworten nicht gewinnen. Es sind im Ganzen ange¬
geben 167 derartige bezahlte Atteste. Der grösste Theil ist aber
von den Untersuchten selbst bezahlt, und ein grosser Bruchtheil
betrifft Atteste für Gensdarmen, die mit 3 Mark honorirt sind, ob¬
gleich auch nipht an allen Orten. Es bleibt daher nur eine ver¬
schwindend kleine Zahl von Attesten übrig, die von den Behörden
bezahlt sind.
Nach allem diesem glaube ich, dass wir Alle ein grosses
Interesse daran haben müssen, dass die bisherigen unrichtigen
Auslegungen der bestehenden Bestimmungen ein Ende nehmen,
und dass es sich daher wohl lohnt, eine prinzipielle Entscheidung
des Herrn Ministers herbeizuführen. Wir müssen gemeinsam da¬
gegen ankämpfen, dass uns von dein Wenigen, worauf wir einen
rechtlichen Anspruch erheben können, noch Dieses und Jenes vor¬
enthalten wird.
Ich empfehle Ihnen daher unseren Antrag zur Annahme mit
der Bitte, dass der Vorstand beauftragt wird, eine besondere
schriftliche Eingabe an den Herrn Minister zu machen, damit der¬
selbe nicht das Schicksal unserer bisherigen Resolutionen theile.
140
DisknssionsgegenBt&nde.
Diskussion.
H. gerichtl. Stadtphysikus, San.-Rath Dr. Mittenzweig: Ich bin sehr
einverstanden mit dem Vorschläge; bitte jedoch den Antrag bestimmt zn for-
mnliren und zur Abstimmung zu bringen.
H. Bez.-Phys., San.-Rath Dr. Kollm: Der Antrag geht dahin, dass der
Vorstand eine schriftliche Eingabe an Se. Excellenz den Herrn Kultusminister
richte, um eine auch fttr die anderen Ressorts gültige Entscheidung darüber
herbeizuführen, ob die Medizinalbeamten verpflichtet sind, die ihnen von den
verschiedenen Behörden im Interesse des Dienstes anfgetragenen ausführlichen
Gutachten über den Gesundheitszustand Kaiserlicher oder Königlicher Beamten
ohne Entgelt abzugeben.
H. Kr.-Phys. Dr Meyhöfer: Ich möchte bitten, den Antrag so zn fassen,
dass der H. Minister ersucht wird, eine Entscheidung dahin zn fassen, dass wir
nicht znr unentgeltlichen Abgabe derartiger Gutachten verpflichtet sind.
H. Bez.-Phys., San.-Rath Dr. Kollm: Damit bin ich einverstanden.
Vorsitzender: Es hat sich Niemand mehr zum Wort ge¬
meldet. Wir schreiten nunmehr zur Abstimmung über den von
dem Herrn Referenten gestellten Antrag. Derselbe lautet mit der
vom Kollegen Meyhöfer gewünschten Modifikation wie folgt:
„Der Vorstand des Preussischen Medizinalbeamtenvereins
wird beauftragt, an Se. Excellenz den Herrn Kultus¬
minister eine schriftliche Eingabe zu richten mit der Bitte,
eine Entscheidung dahin treffen zu wollen, dass die Medi¬
zinalbeamten nicht verpflichtet sind, die ihnen von Staats¬
behörden im Interesse des Dienstes aufgetragene Aus¬
stellung von Gutachten über den Gesundheitszustand
Kaiserlicher oder Königlicher Beamten unentgeltlich zu
bewirken.“
Diejenigen Herren, die für diesen Antrag stimmen, bitte ich
die Hand zu erheben.
Der Antrag ist einstimmig angenommen.
b. Die Gebühren für die Untersuchungen von Personen
in der Wohnung der Medizinalbeamten oder für Akten¬
studium behufs Abgabe eines mündlichen Gutachtens im
Termin.
H. Bez.-Phys., San.-Rath Dr. Kollm: Im Anschluss an
unseren Antrag hat Herr Regierungsrath Dr. Rapmund eine
andere nicht minder wichtige Taxfrage zur Diskussion gestellt.
Dieselbe betrifft die Untersuchungen von Personen in der
Wohnung des Medizinalbeamten behufs Abgabe eines münd¬
lichen Gutachtens im Termine.
Bei Erlass des Gesetzes vom 9. März 1872 war, wie Herr
Reg.-Rath Dr. Rapmund in Nr. 20 Jahrgang 1892 der Zeit¬
schrift für Medizinalbeamte treffend ausführt, von mündlichen
Gutachten vor Gericht nicht die Rede, es wurden von den Medi¬
zinalbeamten stets schriftliche Gutachten erfordert. Bei diesen
wurden für etwaige Untersuchungen in der Wohnung des Sach¬
verständigen zum Zwecke des Gutachtens besondere Gebühren
nicht berechnet, «ondern bei Bemessung der Gebühr für das Gut-
Diskussionsgegenstände.
141
achten mit in Anrechnung gebracht, und danach je nach der
Schwierigkeit des Geschäftes die höheren oder geringeren Sätze
gewährt. Wurden zur genaueren sachgemässen Ermittelung Vor¬
besuche erforderlich, so bestimmte der §. 6 des Gesetzes dafür
eine Gebühr von je 3 Mark. Bei Einführung des mündlichen
Gerichtsverfahrens kam es dann häufiger vor, dass dem Medizinal¬
beamten die zu untersuchenden Personen vom Gericht in seine
Wohnung gesandt wurden, damit derselbe sich für sein im Termine
abzugebendes Gutachten über deren körperlichen oder geistigen
Zustand durch eine vorherige Untersuchung informire. Von den
meisten Gerichten wurde eine Bezahlung dafür abgelehnt, da be¬
sondere Bestimmungen für diesen Fall im Gesetze vom 9. März
1872 nicht vorgesehen waren. Es wurden dadurch die Gebühren
für einen Vorbesuch gespart, oder Zeit im Termine selbst gewonnen.
Auf eine Beschwerde des Kreisphysikus Dr. Beermann in
Duisburg gegen das Ober - Landesgericht zu Hamm in einem gleichen
Falle entschied das Reichsgericht durch Beschluss vom 19. April 1888,
dass dem Kollegen die Gebühr für einen Vorbesuch zu zahlen sei.
Es führte dabei aus, dass nach den in §. 378 der Zivilprozess¬
ordnung ausgesprochenen allgemeinen Grundsätzen, sowie auch nach
den Vorschriften des Gesetzes vom 9. März 1872 der Medizinal¬
beamte für die auf Verlangen des Gerichts in seiner Behausung
empfangenen Vorbesuche und die damit verknüpfte Zeitversäumniss
entschädigt werden müsse. — Einen durchaus anderen Standpunkt
nimmt dagegen der Justiz-Ministerial-Erlass vom 13. Juli 1892
ein, der in Folge eines Monitums der Oberrechnungskammer, das
bei Gelegenheit einer im gleichen Falle dem Kollegen Lewin zu
Berlin auf seine Liquidation gezahlten Gebühr erhoben war, den
Justizbehörden zur Nachachtung gegeben wurde. Der Herr Minister
vertritt darin die Ansicht, dass nach dem Wortlaute des Gesetzes
vom 9. März 1872 als Vorbesuche im Sinne des Gesetzes nur die¬
jenigen gelten können, welche ausserhalb der Behausung des Sach¬
verständigen gemacht werden. Die in seiner Wohnung vorgenom¬
menen Untersuchungen seien durch die Termins - Gebühr gedeckt.
Ein Anspruch auf besondere Vergütung dafür sei auch nicht durch
die Gebührenordnung für Sachverständige und Zeugen vom 8. Juni
1878 zu begründen.
Ueber die Richtigkeit dieser Ausführungen können wir selbst¬
verständlich kein Urtheil uns anmassen. Der Herr Minister hat
aber am Schlüsse seines Erlasses die ihm unterstellten Behörden
angewiesen, etwa über diese Frage auf dem Beschwerdewege er¬
gehende Entscheidungen der Oberlandesgerichte oder des Reichs¬
gerichts ihm abschriftlich einzureichen. Es scheint daraus hervor¬
zugehen, dass er gegentheilige Entscheidungen der betreffenden
Gerichte, die nach eigenem Ermessen zu erkennen haben, nicht
ausgeschlossen hält. Es liegen in der That auch bereits zwei ganz
entgegengesetzte Entscheidungen von Landgerichten vor. Die eine
auf eine Beschwerde des Kollegen Henning in Schlawe von dem
Landgericht in Stolpe stellt sich genau in den Entscheidungsgründen
auf den Standpunkt des Herrn Ministers, die andere auf eine Be-
142
Diskussionsgegeustände.
sch werde des Kollegen Marx in Mühlheim a. d. Ruhr von dem
Landgerichte in Duisburg gefällte Entscheidung entspricht dem
Beschlüsse des Reichsgerichts. Eine ganze Anzahl von Gerichten,
die anfänglich die von den Kollegen eingereichten Liquidationen
zur Zahlung angewiesen hatten, verfügten nach Bekanntwerden
des Justizministerial-Erlasses die Rückerstattung der gezahlten
Gebühren. Eine Ausnahme machten die Amtsgerichte in Mühl¬
heim a. d. Ruhr und in Sagau, welche anstandslos den Kollegen
Marx bezw. Lieb er t die Gebühren bewilligten. Aus einer Mit¬
theilung des Kollegen Marx in Fulda geht hervor, dass ihm seit
dem Justizministerial-Erlass vom 13. Juli 1892 von den Gerichten
auch geisteskranke zu entmündigende Personen, darunter solche, die
widerspenstig und gefährlich sind, in seine Behausung zur Vor¬
untersuchung geschickt werden, während früher ausnahmslos Vor¬
besuche in der Wohnung der zu Entmündigenden gefordert wurden.
Ein derartiges Verfahren dürfte schwerlich zu rechtfertigen sein,
da dem Sachverständigen doch kaum zugemuthet werden kann,
Personen, die für ihn und seine Umgebung unter Umständen von
der grössten Gefahr sein können, in seine Wohnung aufzunehmen.
Abgesehen davon dürfte eine Untersuchung eines Geisteskranken,
der aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen ist, oft genug
entweder ganz unmöglich sein, oder ein ganz falsches Resultat
ergeben.
Was 8oll nun Angesichts dieser Thatsachen geschehen P
Prinzipiell müsste man sich wohl dahin auszusprechen haben, dass
die Lücke in dem Gesetze vom 9. März 1872, die doch zweifellos
vorhanden ist, durch eine nachträgliche Deklaration der gesetz¬
gebenden Faktoren ausgefüllt werde. Dieselbe hätte auch darauf
Rücksicht zu nehmen, dass eine Gebühr für das Aktenstudium im
Hause zum Zwecke eines mündlichen Gutachtens im Termin aus¬
gesetzt werde. Eine dahin zielende Petition an das Abgeordneten¬
haus könnte sicher von dem Verein eingebracht werden, da die
höchsten Instanzen bereits mehrfach angerufen worden sind. Schon
die Billigkeit erfordert es, dass dem Sachverständigen für eine
unter Umständen recht zeitraubende Thätigkeit, zu der mitunter
schwierig zu handhabende, oft auch spezialärztliche Instrumente
erforderlich sind, die häufig auch gar nicht ausserhalb der für
eine spezialistische Untersuchung besonders eingerichteten Wohnung
des Sachverständigen vorzunehmen möglich ist, eine besondere
Gebühr gezahlt wird. Diesen Erwägungen dürften sich die gesetz¬
gebenden Faktoren gewiss auch nicht verschliessen. — Bis aber
eine derartige gesetzliche Regelung eingetreten ist, möchte es
geboten sein in jedem einzelnen Falle den Beschwerdeweg zu
beschreiten, wie es ja schon von einer Reihe von Kollegen geschehen
ist. Eine ganze Anzahl von Kollegen hat überdies jede Unter¬
suchung in ihrer Behausung zurückgewiesen. Ich selbst habe in
meiner früheren Stellung vor etwa 7 Jahren, nachdem meine Be¬
schwerde von dem Landgerichte zu Glogau erfolglos geblieben war,
jede Untersuchung in meiner Wohnung fortan stets mit Erfolg
abgelehnt.
Diskussionagegenstände.
143
Dass die Zahl derartiger Untersuchungen eine recht grosse
ist, geht aus folgender Zusammenstellung hervor, die ich auf
Grund einer Umfrage bei den Herren Kollegen geben kann: Im
Jahre 1892 sind von den 250 Kollegen, die meine Umfrage beant¬
wortet haben, 290 derartige Untersuchungen in ihrer Behausung
unentgeltlich vorgenommen worden. Dies macht zu 8 Mark
gerechnet 870 Mark im Jahre. Da aber mehr als die Hälfte der
Kollegen mit ihren Antworten noch aussteht, so dürfte sich sicher
eine Summe von 1700 Mark ergeben, die jährlich unserer Ein¬
nahme entzogen ist.
Ich fasse nun mein Endurtheil dahin zusammen:
1. Dass es wünschenswerth erscheint, dass der Vorstand
des Vereins eine Petition an das Abgeordnetenhaus richte
dahin gehend, dass die vorhandene Lücke in dem Gesetze
vom 9. März 1872 ausgefüllt werde.
2. Dass bis zur weiteren gesetzlichen Regelung in jedem
einzelnen Falle der Beschwerdeweg bis zur letzten Instanz
beschritten werde.
Diskussion.
H. Kr.-Phys., Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: M. H.! Mir ist es garnicht
zweifelhaft, obgleich es etwas kühn klingt, dass der betreffende Erlass des
Justizministers vom 13. Juli v. J. im Widerspruch mit dem Wortlaut des Ge¬
setzes vom 9. Mai 1872 steht. Wenn da im §. 3 gesagt ist, dass der Medizinal¬
beamte Anspruch habe auf Bezahlung für alle Verrichtungen, so weit nicht
besondere Bestimmungen zu unentgeltlicher Dienstleistung verpflichten, so haben
wir auch Anspruch auf Vergütung für diejenigen Verrichtungen, die im §. 3
nicht ausdrücklich aufgeführt sind, und so ist es auch bisher von den Gerichten
gehalten worden. Für Aktenlesen und Untersuchungen in der Wohnung sind
mir meine Liquidationen stets bezahlt worden. In Anwendung kommt dann die
Verordnung über Gebühren der Zeugen und Sachverständigen vom 30. Juli 1878.
Es kann doch in der That nicht verlangt werden, dass wir Geschäfte wie die
fraglichen, als Untersuchung von Geisteskranken in unserer Wohnung, oder wie
in meinem Fall: Feststellung des Stadiums der Gravidität, oder das Lesen dicker
Akten, gratis besorgen sollen, weil diese nicht im §. 3 des Gesetzes vom 9. März
1872 verzeichnet sind. Erschöpfend kann eine solche Aufzählung doch nie sein.
Ein Recht auf Vergütung giebt uns aber die allgemeine Bestimmung.
Nun meinte Kollege Ko lim, wir sollten den Beschwerdeweg einschlagen.
Darüber bin ich zweifelhaft. Sollte nicht zunächst der Weg der gerichtlichen
Klage zu versuchen sein? Es ist allerdings ein Uebelstand, dass man mit diesen
kleinen Beträgen wohl nicht weiter kommen kann, als höchstens an die zweite
Instanz, dass man also kein Urtheil eines Oberlandesgerichts, geschweige des
Reichsgerichts erzielen kann. In prinzipiellen Fragen soll dies allerdings unter
Umständen möglich sein; aber ob das hier zutrifft, weiss ich nicht. Auf alle
Fälle haben wir jedoch Ursache, gegen diese, wie wir meinen, ungerechte Ent¬
ziehung von uns zukommenden Gebühren alle möglichen Schritte zu thun.
H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Wiedner: M. H.! Ich kann Ihnen das von
Herrn Kollegen Wallichs Gesagte illustriren. Es ist mir folgender Fall vor¬
gekommen. Ein Spezialkollege, Augenarzt, wurde vom Gerichte beauftragt, ein
Gutachten über einen Augenkranken abzugeben. Bei dieser besonderen
spezialistischen Untersuchung war es ganz zweifellos, dass der Kranke zu ihm
vorher ins Haus kommen musste. Für diese Untersuchung liquidirte der
betreffende Kollege die Gebühr für einen Vorbesuch, die früher in ähnlichen
Fällen anstandslos bezahlt worden war. In dem vorliegenden Falle wurde die
Zahlung aber abgelehnt. Der Kollege klagte darauf beim Landgericht, und das
Landgericht entschied zu seinen Gunsten. Gegen diese Entscheidung des Land¬
gerichts wurde jedoch vom Staatsanwalt Widerspruch erhoben, so dass die Sache
144
Dläkussionsgegenstände.
an das Kammergericht kam and dieses wies unter Aufhebung der Entscheidung
des Landgerichts den Anspruch auf eine Gebühr als ungerechtfertigt zurück.
Hiergegen erhob nunmehr der Kollege Widerspruch beim Reichsgericht. Dies
hat jedoch die Klage aus formellen Gründen zurück gewiesen, ohne in der Sache
selbst eine Entscheidung zu treffen. Der Fall ist vor noch nicht einem halben
Jahre vorgekommen. Es scheint mir also durchaus nötliig zu sein, dass in der
Frage Klarheit geschaffen wird. Es kommen z. B. Fälle vor, wo die Untersuchun¬
gen, die man in seiner Wohnung anstellcn muss, zeitraubender Natur sind. Mir
sind wenigstens einzelne Fälle gegenwärtig, wo die Voruntersuchung zur Vor¬
bereitung des Gutachtens eine Stunde und länger gedauert hat. (Zuruf: Bei
Geisteskranken!). Untersuchungen von Geisteskranken in meiner Wohnung habe
ich nicht angestellt, das habe ich einfach abgelehnt.
H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Philipp: M. H.! Ich verspreche mir von
einer Petition an das Abgeordnetenhaus gar Nichts, denn eine solche Petition
wird im besten Falle dem Justizminister als Material überwiesen, und dann
bleibt es beim Alten. Wir können gegen das jetzt beliebte Verfahren aber Eins
thun, nämlich solche Requisitionen ablehnen. Wieweit die Gerichte in ihren
Anforderungen gehen, darüber möchte ich noch mit zwei Worten berichten: Es
ist mir neulich von einem hiesigen Gericht die Aufforderung zugegangen, einen
Kranken in Dalldorf zu untersuchen — wofür mir Reisekosten und Tagegelder
zusteben —, aber der Kostenersparniss halber gelegentlich. Ich habe dies
natürlich nicht gethan und meine Liquidation dann anstandslos bezahlt erhalten.
Ich erkläre jetzt in allen Fällen, wo mir Aufforderungen zugehen, Unter¬
suchungen in meiner Wohnung vorzunehmen, ein Gutachten aber erst im
Termin abzugeben, dass ich mich nicht für verpflichtet halte, dies ohne Ent¬
schädigung zu thun. Es kann uns meiner Ueberzeugung nach nicht zugemuthet
werden, für solche Zwecke ein Zimmer unserer Wohnungen herzugeben. Ich
glaube, dass wir uns, wenn wir übereinstimmend so verfahren, am besten helfen.
H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallicbs: Ich möchte zu dem, was ich
schon gesagt habe, noch hinzufügen, dass, nachdem mir diese erste Sache abge¬
lehnt war, ich auch dem Gericht mitgetheilt habe, ich würde niemals wieder
eine Untersuchung in meiner Wohnung vornehmen.
Was die weitere Behandlung der Angelegenheit anbetriftt, so schlage ich
vor, die weiteren Schritte in dieser Hinsicht dem Vorstande zu überlassen.
H. Kr.-Phys. Dr. Philipp: Die Kollegen vom Landgericht I — ich bin
beim Landgericht II — machen es, soviel mir bekannt, ebenso, sie lehnen ab.
H. Bez.-Phys. San.-Rath Dr. Kollm: Dieses Verfahren der Ablehnung
habe ich schon vor 7 Jahren mit Erfolg ausgeübt. Ich habe aber nicht gewusst,
wieweit ich berechtigt gewesen war, dies hier als Schlusssatz anzuführen, da
wir im Allgemeinen doch den Requisitionen der Behörden Folge zu leisten haben
und habe eben erwartet, dass sich die Herren Kollegen darüber äussern würden.
Dass eine letztinstanzliche neuere Entscheidung Uber die in Rede stehende Frage
vorliegt, habe ich nicht gewusst. Das würde die Sache ja natürlich sehr ändern;
denn von einer weiteren Beschwerde unsererseits würde niemals mehr ein Erfolg
zu erwarten sein, wenn das Reichsgericht bereits entschieden hätte, dass der¬
artige Liquidationen abzulehnen wären'). Im Uebrigen glaube ich aber doch,
dass eine gesetzliche Regelung der Sache wünschcnswerth ist; da die Fassung
des §. 3 in dem Gesetze vom 9. März 1872 jedenfalls unklar ist und es zweifel¬
haft lässt, ob uns in derartigen Fällen Gebühren nach dem Wortlaute des Ge¬
setzes zustehen. In diesem Sinne schliesse ich mich dem vom Kollegen Wallichs
gemachten Vorschläge: „dem Vorstande die weiteren Schritte zu überlassen“ an.
H. Bez.-Phys. San.-Rath Dr. Becker (Berlin): Ich möchte blos die Frage
anregen, ob man berechtigt ist, solche Untersuchungen abzulehnen. Uns Physikern
in Berlin werden z. B. die zu untersuchenden Leute durch den Schutzmann
vorgeführt.
H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Philipp: Darüber liegt ja, so viel ich weiss,
noch keine Entscheidung vor, aber es wäre interessant, wenn man die Sache
') Eine derartige Entscheidung des Reichsgerichts liegt nicht vor; sondern
im Gegentheil, das Reichsgericht hat vor Kurzem zu Gunsten der Medizinal-
bcamten entschieden. Anmerkung des Schriftführers.
Diakussionsgegens tänd e.
145
auf die Spitze triebe. Jedenfalls habe ich dabei noch keine Schwierigkeiten
gehabt, und jetzt, nachdem ich mich mit dem betreffenden Untersuchungsrichter
und mit dem requirirenden Amtsrichter darüber ausgesprochen habe, kommt es
überhaupt nicht mehr vor, dass mir die Zumuthung gestellt wird, in der Woh¬
nung zu untersuchen. Ein Gerichtsbeschluss, der ausspricht: Die Kreisphysiker
sind verpflichtet, gerichtsärztliche Geschälte in ihren Wohnungen ohne Ent¬
schädigung vorzunehmen, ist bis jetzt, soviel mir bekannt, nicht ergangen; sobald
ein solcher vorliegt, können wir weiter dagegen remonstriren.
H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Koppen: Meine Gerichte nehmen mir gegen¬
über den Standpunkt ein: Was nicht in dem Gesetz vom 9. März 1872 erwähnt
ist, existirt nicht für uns, das bezahlen wir nicht, und daraufhin habe ich den
Gerichten gegenüber denselben Standpunkt eingenommen und habe erklärt, ich
thue auch Nichts in meiner Wohnung; denn ich bin auch nicht verpflichtet, als
Gerichtsarzt etwas unentgeltlich zu thun.
Vorsitzender: Es hat sich Niemand mehr zum Wort gemeldet.
Ich schliesse damit die Diskussion und spreche zunächst dem
Kollegen Kollm unsern Dank für sein anregendes und erschöpfendes
Referat aus.
Wir kommen dann zur Abstimmung über den vom Kollegen
Wallichs gestellten und vom Referenten acceptirten Antrag:
„dass demVorstande die weiteren Schritte in der An¬
gelegenheit überlassen bleiben sollen.“
Ich frage, ob die Herren Kollegen mit diesem Anträge ein¬
verstanden sind.
(Allgemeine Zustimmung.)
Der von den Medizinal - Beamten des Reg.-Bez. Minden in
Anregung gebrachte und auf die heutige Tagesordnung gestellte
Diskussionsgegenstand, betreffend die Hufeland’schen Stiftungen,
kann heute nicht mehr zur Berathung gelangen, da der Referent,
unser verehrter Schriftführer, leider erkrankt und bereits heute
Vormittag wieder abgereist ist.
Ich schliesse somit die diesjährige Versammlung mit dem
Wunsche auf ein hohes Wiedersehen im nächsten Jahre.
Schluss der Sitzung: 2 1 l i Uhr Nachmittags. Unter Führung
des Herrn Dr. Leppmann fand sodann Nachmittags 3 Uhr
die Besichtigung der Königl. Strafanstalt zu Moabit und
der damit verbundenen Beobachtungsanstalt für geistes¬
kranke Verbrecher statt. Ueber 40 Theilnehmer versammelten
sich zunächst im Konferenzzimmer der Anstalt, wo ihnen Herr
Strafanstaltsdirektor Zilligus in kurzen Zügen die Ziele des
Strafvollzuges in der Einzelhaft, die baulichen Einrichtungen, das
Leben der Sträflinge und den Arbeitsbetrieb zum Theil an der Hand
von Abbildungen erläuterte.
Dann wurden durch Beamte der Strafanstalt die Anwesenden
in kleineren Gruppen durch die Hauptanstalt (uen Berlinern unter
dem Namen Zellengefängniss bekannt) geführt, bis man sich wieder
im Arbeitssaal der in unmittelbarer Nachbarschaft befindlichen
Irrenstation vereinigte. Dort zeigte Herr Dr. Leppmann im
Anschluss an seinen Vortrag die Messapparate und Aufnahmeformu-
10
146
Diskussionsgegenst&nde.
lare, sowie aus dem Krankenmaterial der Abtheilung eine Reihe
typischer Fälle, welche hauptsächlich die verschiedenartige Aetio-
logie der im Strafvollzüge bemerklich werdenden Seelenstörungen
beweisen sollten. Es waren dies:
I. Melancholischer Gelegenheitsverbrecher, durch die Wucht
der Bestrafung akut zusammengebrochen.
II. Chronisch verrückter Mörder, 30 Jahre in Haft. Haupt¬
grund der Erkrankung: die lange hoffnungslose Freiheitsentziehung.
III. Luetischer Paralytiker, alter Zuhälter. Krankheitsein¬
tritt nur zufällig mit dem Strafvollzüge zusamraenfallend.
IV. Halluzinatorisch verworrener Tobsüchtiger mit Erschei¬
nungen von Hirndruck, wahrscheinlich in Folge von Hirnabszess
durch Kriegsverletzung im Jahre 1870. Strafthat (Todschlag) 1885.
Manifeste Geistesstörung 1889.
V. Angeboren Schwachsinniger, von Kind an Vagant, wegen
wiederholter Desertion bestraft. In der Haft Erregungszustände
mit Sinnestäuschungen.
VI. Chronisch Verrückter, wegen Mordversuch verurtheilt, mit
Wahrscheinlichkeit durch paranoische Ideen zur That veranlasst.
Nach dieser Demonstration fand ein Rundgang durch die Ab¬
theilung statt.
—- fr -
Anlage zu dem Vorträge des Reg.- u. Med.-Raths Dr. Rapmund,
betreffendsten Entwurf des Reichsseuchengesetzes.
Uebersicht
der in den
einzelnen deutschen Bundesstaaten
zur Zeit bestehenden Vorschriften
über die
Anzeigepilicht
bei
ansteckenden Krankheiten.
148
1. Ansteckende Krankheiten, bei denen die Anzeigepflicht
Staat.
i.
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Beim Ausbruch einer gefährlichen und ansteckenden
des zuständigen Bezirksarztes die Verpflichtung
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8. „ Mecklenburg-
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anzuzeigen; auch etwaige
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Strelitz
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Die Aerzte sind verpflichtet,
auch etwaige Todesfälle
10. „ Oldenburg
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11. Herzogth. Braun-
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13. „ Sachsen-
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fakultat.
(nur
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faU)
149
obligatorisch oder fakultativ vorgeschrieben ist:
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bei Krätze
u. Syphili*.
Regulativ v. 8. Aug. 1835
(§8.25, 36,41,44, 69,84,
107, 117 u. 122);
bei Diptherie, Wochen¬
bettfieber, epidera. Kopf-
geniekkrampf uud Trichi-
nosis ist die Anzeige durch
(Polizei-Verord. vorgeschr
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77
77
77
77
fakultativ
(bei grosser Ver¬
breitung und
Heftigkeit.)
fakulta¬
tiv
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Influenza
Königliche Verordnung
vom 22. Juli 1891,
§. 1, Abs. 1 uud 2.
(siehe
Bemer¬
kung)
—
—
—
—
—
—
V« rordn. vom 19. Januar
1886 u. vom 9. Mai 1890.
Bei Wochenbetttieber
besteht Anzeigepflicht nur
f. Hebammen (Instruktion
vom 22. Juni 1892, §. 25.)
von den
anzuzeigen.
obli¬
gato¬
risch
—
—
—
—
—
Min.-Verfügungen vom
3. Febr. 1872, vom 29. Ok¬
tober 1883 u. vom 9. Sep¬
tember 1892.
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—
—
fakultativ
(bei epidemi¬
schem Auftreten)
—
—
Verordn, vom 9. Juni 1880,
30. Dezember 1881 und
18. Juli 1884.
77
77
obliga¬
torisch
bei
Toll-
wuth
—
—
—
—
—
Medizinalordnung vom 25.
Juni 1861, Polizei-Regle¬
ment vom 27. April 1880
u. Verordn, v. 9.Aug. 1892.
Die Anzeigepflicht b. Diph¬
therie, Scharlach,Wochen¬
bettfieber ist d. Polizei¬
verordnungen i. d. einzel¬
nen Kreisämtern geregelt.
Krankheit ist der Bezirksdirektor ermächtigt, auf Antrag
aller praktizirenden Aerzte zur Anzeige bestimmter
Strafe anzuordnen.
Verordnung vom
22. Februar 1876.
verpflichtet, das Ausbrechen einer ansteckenden Krankheit
Todesfälle in Folge der unter 1 — 8 imd 11 genannten
heiten.
Mediz.-Ordn.v.18. Februar
1830 u.Verordn.v. 13. März
1888; sowie v. 21. Juli, 25.
Aug. 1886 u. 21. Sept. 1892.
das Ausbrechen einer
in Folge der unter 1-
ansteckenden Krankheit anzuzeigen; 1
-8 und 11 genannten Krankheiten.
Mediz.-Verordn.v. lB.Feb.
1830 u. Verordnung vom
13. März 1888.
epidemischem Aufttreten)
—
—
—
Verordnung vom
11. September 1873.
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Kose
Mediz.-Ges v.25.0kt. 1865
(§. 34) Min. -Erl. v.17.April
1889, Pol.-Str.-Ges.-B. v.
22./31. Dez. 1870, §. 8, Nr.l.
77
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7»
—
fakul¬
tativ
—
—
—
Verordnung vom 9. Nov.
1836, Art. 4 u. Verfügung
vom 21. Dezbr. 1888.
7?
—
—
—
obligato¬
risch
(aber nur
beim 1.
Erkran-
kgsfall.)
—
—
—
Verordnung vom
27. Februar 1882.
150
1. Ansteckende Krankheiten, bei denen die Anzeigepflicht
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Asiatische
Cholera.
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1
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Rflckfallfieber. p>
Diphtherie und 1
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14. Herzogth. Sachsen-
Altenburg
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Obligatorische Anzeigepflicht kann beim
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geordnet werden.
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Obligatorische Anzeige beim epidemischen
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19. „ Reuss ältere
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20. „ Renss jüngere
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21. „ Schaumburg-
Lippe
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fl
ff
22. „ Lippe
n
fi
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ff
23. Freie^Stadt Lübeck
ff
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fl
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ff
ff
ff
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24. „ Bremen
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—
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—
25. „ Hamburg
»
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ff
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26. Reichsland Eisass-
Lothringen
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Bei Epidemien ansteckender Krank
des Bezirks durch
1B1
obligatorisch oder fakultativ vorgeschrieben ist:
9.
10.
li.
12.
13.
14.
15.
16.
Wochenbett¬
fieber.
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Gesetzliche
Bestimmungen und
Bemerkungen.
obliga¬
torisch
(s. Be¬
mer¬
kung)
—
—
—
—
—
—
Verordnungen vom 1. Juli
1878 und 23. Juli 1884.
Bei Wochenbettfleber An¬
zeigepflicht für Heb¬
ammen (Verordnung v m
30. März 1889).
obli¬
gato¬
risch
obli¬
gato¬
risch
obli¬
gato¬
risch
obli¬
gato¬
risch
obli¬
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risch
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Verordnung vom
15. Oktober 1882.
1t
1t
*
—
obliga¬
torisch
(aber nur
beim 1.
Erkran¬
kungs¬
fall)
—
—
—
Verordnung vom
6. Juni 1890.
obli¬
gato¬
risch
—
—
n
—
—
Verordnung vom
20. November 1882.
Auftreten aller epidemischen und
Krankheiten.
—
—
—
Verordnungen vom
11. April 1832 u. 22. Mal
1835.
obli¬
gato¬
risch
—
—
—
obli-
gato-
risch
—
—
—
Verordnung vom
16. Dezember^l884.
1t
obli¬
gato¬
risch
obli¬
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risch
1t
obli¬
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risch
obli¬
gato¬
risch
obligato¬
risch
(bei brandi-
gerLungen-
entzundg.)
Verordnung vom
31. März 1892.
1t
n
—
1t
1t
n
obligato¬
risch
(bei
Krätze)
Polizeiverordnungen
vom 11. Oktober 1887,
24. Februar 1888 und
18. Juni 1889.
1t
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obli-
’gato-
risch
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Polizeiverordnung
vom 5. Juli 1888.
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—
—
—
Verordnung vom
24. Oktober 1891.
1t
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—
Medizinal verordnun g
vom 2. August 1878,
§. 42.
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—
—
—
obli¬
gato¬
risch
obli¬
gato¬
risch
—
—
Medizinalordnung vom
9. Februar 1818 u. Be¬
kanntmachung vom
8. Juni 1888.
heiten kann die Anzeigepilicht auf sämmtliche Aerzte
Polizeiverordnong ausgedehnt werden.
Obligatorische Anzeige¬
pflicht für fc Hebammen bei
Wochenbettfieber (Heb¬
ammenordnung vom
24. Mai 1889.)
152
2. Zur Anzeige sind verpflichtet:
1. nur die Aerzte: in Sachsen, Baden, Mecklenburg - Stre-
litz, Mecklenburg - Schwerin, Sachsen - Weimar,
Oldenburg, Sachsen-Altenburg, Bremen, Hamburg,
Eisass - Lothringen;
2. Aerzte, Wundärzte und Bader (alle Medizinalpersonen):
in Bayern und Waldeck;
3. Aerzte und jede den Kranken behandelnde Person (alle
die Heilkunde ausübende Personen): in Hessen;
4. Aerzte und Angehörige oder Pfleger der Kranken:
in Württemberg;
5. Aerzte und Haushaltungsvorstände oder deren Ver¬
treter: in Anhalt, Schaumburg-Lippe und Lübeck;
6. Aerzte, Wundärzte, alle sich gewerbsmässig mit Aus¬
übung der Heilkunde beschäftigende Personen,
Haushaltungsvorstände u. s. w.: in Reuss ältere
und jüng. Linie;
7. Familienhäupter, Haus- und Gastwirthe und alle Medi¬
zinalpersonen: in Preussen (in den meisten Re¬
gierungsbezirken sind übrigens die Aerzte durch
Polizeiverordnung in erster Linie zur Anzeige
verpflichtet, in vielen auch die sich sonst mit der
Ausübung der Heilkunde beschäftigenden Personen)
und Sachsen - Meiningen;
&. Familienhäupter. Haus-, Gastwirthe, (Angehörige, Haus¬
genossen) Aerzte und andere sich mit der Aus¬
übung der Heilkunde beschäftigende (den Kranken
behandelnde) Personen: in Braunschweig, Sachsen-
Koburg-Gotha, Lippe-Detmold, Schwarzburg-Son-
dershausen und Schwarzburg-Rudolstadt.
163
B. Die Anzeigen sind zu erstatten:
1. an die Ortspolizeibehörde (Bezirks-Verwaltungsamt,
Gemeindevorstand u. s. w.): in Preussen, Bayern,
Württemberg, Baden, Sachsen-Weimar, Olden¬
burg, Braunschweig, Sachsen - Meiningen, Sachsen-
Koburg, Sachsen-Altenburg, Anhalt, Schwarzburg-
Rudolstadt, Schwarzburg - Sondershausen, Waldeck,
Lippe - Schaumburg, Lippe - Detmold und Reuss
ältere Linie;
2. an die Ortspolizeibehörde und den Physikus: in
Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz;
3. an das Medizinal amt: Bremen, Hamburg und Lübeck;
4. an den Bezirksarzt, das Kreisgesundheitsamt (Kreisarzt):
in Sachsen, Hessen, Sachsen-Weimar und Reuss
jüngere Linie.
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Mitglieder" V erzeiehniss
des
Preussisehen Medizinalbeamten''Vereins.*)
(Abgeschlossen am 1. April 1893.)
Provinz Ostpreussen.
1. Dr. Beeck, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäte-Rath in Preuss.-Holland.
2. - Berthold, Kreis-Physikus in Sensburg.
3. - Blumenthal, Kreis-Physikus in Insterburg.
4. - Bredschneider, Kreis-Physikus in Angerburg.
5. - Dubois, Kreis-Physikus in Johannisburg.
6. - Eberhardt, Kreis-Physikus in Allenstein.
7. - Forstreuter, Kreis-Physikus in Heinrichswalde.
8. - Hassenstein, Kreis-Wundarzt in Prostken.
9. - Hennemeyer, Kreis-Physikus in Orteisburg.
10. - Herrendörfer, Kreis-Physikus in Ragnit.
*11. - Israel, Kreis-Physikus in Medenau.
12. - Klamroth, Kreis-Physikus in Osterode.
13. - Leistner, Kreis-Wundarzt in Eydtkuhnen.
14. - Liedtke, Kreis-Physikus in Goldap.
15. - Liepkau, Direktor des Kgl. Impfinstituts u. San.-Rath in Königsberg.
16. - N a t h, Regierungs- und Medizinal-Rath in Königsberg i. Pr.
17. - Passauer, Regierungs- und Geh. Medizinal-Rath in Gumbinnen.
18. - Rohn, Kreis-Physikus in Mohrungen.
19. - Sabarth, Kreis-Physikus in Lötzen.
20. - Salomon, Kreis-Physikus in Darkehmen.
21. - Schiller, Kreis-Physikus in Wehlau.
22. • Schultz, Kreiswundarzt in Coadjuthen.
23. - Stielau, Kreis-Wundarzt in Preuss.-Holland.
24. - Surminski, Kreis-Physikus in Lyck.
25. - Wilde, Kreis-Wundarzt in Osterode.
26. - Wolffberg, Kreis-Physikus in Tilsit.
27. - Wollermann, Kreisphysikus in Heiligenbeil.
Provinz Westpreussen.
28. Dr. Ab egg, Geh. Sanitäts-Rath und Medizinal-Rath in Danzig.
29. - Arbeit, Kreiswundarzt in Marienburg.
30. - Barnick, Reg.- und Med .-Rath in Marien werder.
31. - Bohm, Kreis-Physikus in Marienwerder.
32. - Bremer, Kreis-Physikus in Berent.
*) Die Namen der Theilnehnier an der diesjährigen X. Hauptversamm¬
lung sind mit einem * versehen.
Mitgliederverzeichniss.
155
33. Dr.
34. -
35. -
36. -
37. -
38. -
39. -
40. -
41. -
42. -
43. -
44. -
•45. -
46. -
47. -
48. -
49. -
50. -
51. -
52. -
63. Dr.
•54. -
•55. -
66 . -
57. -
58. -
•59. -
•60. -
•61. -
*62. -
*63. -
*64. -
*65. -
66 . -
*67. -
* 68 . -
*69. -
♦70. -
71. -
*72. -
73. -
*74. -
75. -
*76. -
*77. -
*78. -
Deutsch, Kreis-Physikus in Elbing.
Freymuth, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Danzig.
Hasse, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Flatow.
Heise, Kreis-Physikus in Briesen.
Heynacher, Kreis-Physikus in Graudenz.
Hop mann, Kreiswundarzt in Czersk.
Kämpfe, Kreis-Physikus in Karthaus.
Matz, Kreis-Wundarzt in Deutsch-Krone.
Meissner, Kreis-Physikus in Strassburg i. West-Preussen.
Moritz, Kreis-Physikus in Schlochau.
Müller, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Könitz.
Poschmann, Kreis-Wundarzt in Flatow.
Priester, Kreis-Physikus in Tuchei.
von Roszycki, Kreis-Wundarzt in Thom.
Roth er, Kreis-Physikus in Putzig.
Wendt, Kreis-Physikus in Preuss.-Stargard.
Wilczewski, Kreis-Physikus a. D. und Geh. San.-Rath in Marienburg.
Wodtke, Kreis-Physikus in Thorn.
Wolff, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Loebau.
Wollermann, Kreis-Wundarzt in Baldenburg.
Berlin.
Adamkiewicz, Kreis-Physikusa. D. und Geh. San.-Rath in Rawitsch.
Baer, Bezirks-Physikus und Geheimer Sanitäts-Rath.
Becker, Bezirks-Physikus und Sanitäts-Rath.
Döring, Bezirks-Physikus.
Falk, Kreis-Physikus und Professor.
von Foller, Bezirks-Physikus und Sanitäts-Rath.
Granier, Bezirks-Physikus und Sanitätsrath.
Dr. Kollm, Bezirks-Physikus und Sanitätsrath.
Leppmann, Irrenanstalts- und Gefängnissarzt.
Lewin, Bezirks-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath.
Litthauer, Bezirks-Physikus und Sanitätsrath.
Meng er, Medizinalassessor.
Mitten zweig, Stadt-Physikus und Sanitäts-Rath.
Ohlmüller, Regierungsrath und Mitglied des Kaiserlichen Gesund¬
heitsamtes.
Petr i, Regierungsrath und Mitglied des Kaiserlichen Gesundheitsamtes.
Philipp, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath.
Pistor, Geh. Medizinal-Rath.
Rahts, Regierungs-Rath und Mitglied des Reichsgesundheitsamts.
Röckl, Regierungs-Rath und Mitglied des Reichsgesundheitsamts.
Schulz, Stadt-Physikus, San.-Rath und Direktor des Kgl. Impfinstituts.
Seil, Geh. Regierungs-Rath, Professor und Mitglied des Reichsgesund¬
heitsamtes.
Strassmann, Gerichtlicher Stadtphysikus.
Struck, Geh. Ober-Regierungs-Rath.
Stüler, Kreiswundarzt a. D. in Berlin.
Wehmer, Medizinal-Assessor bei dem Polizei-Präsidium in Berlin.
Wernich, Reg.- und Medizinalrath.
156
Mitgliederverzeichniss.
Provinz Brandenburg.
79 Dr. Berendes, Kreis-Physikus in Friedeberg.
*80. - Beyer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Lübben.
*81. - Bräutigam, Kreis-Physikus in Königsberg i. d. Neumark.
82. - Buchholtz, Kreis-Wundarzt in Wittstock.
83. - Davidsohn, Kreis-Physikus in Spremberg.
*84. - Elten, Kreis-Physikus in Angermünde.
85. - Friedrich, Kreis-Physikus in Landsberg a. W.
86. - Giese, Kreiswundarzt in Prenzlau.
*87. - Grossmann, Kreis-Physikus in Freienwalde a. 0.
88. - Günther, Kreis-Wundarzt in Luckenwalde.
89. - Günther, Kreiswundarzt in Bobersberg a. Bober.
*90. - Guericke, Kreis-Wundarzt und Sanitäts-Rath in Straussberg.
*91. - Gutkind, Kreis-Wundarzt und Sanitäts-Rath in Mittenwalde.
92. - Hannstein, Kreis-Physikus in Perleberg.
93. - Heise, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Rathenow.
94. - Jaenicke, Kreis-Physikus in Templin.
*95. - Itzerott, Kreiswundarzt in Werder (a. d. Havel).
*96. - Kanzow, Regierungs- und Geh. Medizinal-Rath in Potsdam.
*97. - Klein, Kreis-Physikus in Belzig.
98. - K reüssier, Kreis-Physikus und Geheimer Sanitäts-Rath in Brandenburg.
99. - Kuh nt, Kreis-Physikus in Beeskow.
100. - Liersch, Kreis-Physikus und Geheimer Sanitäts-Rath in Kottbus.
101. - Lindow, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Prenzlau.
102. - Ortmann, Kreis-Wundarzt in Alt-Ruppin.
103. - Passauer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Potsdam.
*104. - Peyser, Kreiswundarzt in Königsberg i. d. Neum.
*105. - Pfleger, Kreis-Wundarzt in Plötzensee bei Berlin.
106. - Prawitz, Kreis-Physikus in Kyritz.
107. - Rätzell, Kreis-Physikus in Arnswalde.
108. - Reinecke, Kreis-Physikus in Nauen.
109. - Sander, Medizinal-Rath und Direktor der städtischen Irrenanstalt in
Dalldorf.
*110. - Schartow, Kreis-Wundarzt in Potsdam.
111. - Schulz, Kreis-Physikus in Spandau.
112. Schumann, Kreis-Wundarzt in Beeskow.
113. Dr. Siehe, Kreis-Physikus in Kalau.
*114. - Struntz, Kreis-Physikus in Jüterbogk.
115. - Telke, Kreis-Physikus in Züllichau.
116. - Tietze, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Frankfurt a. 0.
*117. - Weissenborn, Kreis-Physikus in Zielenzig.
*118. - Wiedemann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Neu-Ruppin
*119. - Wiedner, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Kottbus.
*120. - Wolff, Kreiswundarzt in Joachimsthal.
Provinz Pommern.
*121. Dr. Alexander, Kreis-Physikus in Belgard.
122. - B e u m e r, Kreis-Physikus und Professor in Greifswald.
123. - Bittner, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Stargard.
124. - Caspar, Kreis-Physikus in Greifenberg.
125. - Dieterich, Kreis-Physikus in Demmin.
Mitgliederverzeichniss.
157
126. Dr. Dyrenfnrth, Kreis-Physikus in Biitow.
127. - Frey er, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Naugard.
*128. - Frey er, Kreis-Physikus in Stettin.
129. - Friedländer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Lauenbnrg.
130. - Hanow, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Ueckermünde.
131. - Heidenhain, Kreis-Wundarzt in Köslin.
132. - v. Haselberg, Regierungs- und Medizinal-Rath in Stralsund.
133. - Henning, Kreis-Physikus in Schlawe.
*134. - Katerbau, Regierungs- und Medizinal-Rath in Stettin.
135. - Kortum, Kreis-Wundarzt in Swinemünde.
136. - Kraft, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Rummelsburg.
137. - Krau, Kreis-Physikus in Greifenhagen.
138. - Kramer, Kreis-Physikus in Pyritz.
139. - Lehr am, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Köslin.
140. - Lemke, Kreis-Physikus in Grimmen.
141. - Liedke, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Neustettin.
142. - Mau, Kreis-Physikus in Schievelbein.
143. - Pogge, Kreis-Physikus in Stralsund.
*144. - Prochn ow, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Labes.
*145. - Raabe, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Kolberg.
*146. - Roth, Regierungs- und Medizinal-Rath in Köslin.
147. - Schäfer, Kreis-Physikus in Bublitz.
148. - Schlütter, Kreis-Wundarzt in Pyritz.
149. - Schulze-Barnim, Kreis-Physikus und Medizinalassessor in Stettin.
150. - Siemens, Direktor der Provinzial-Irrenanstalt und Medizinal-Rath in
Lauenburg.
151. - Spiegel, Kreis-Wundarzt in Bublitz.
152. - Voigt, Kreis-Physikus in Kammin.
Provinz Posen.
153. Dr. Ascher, Kreiswundarzt in Bomst.
154. - Brinkmann, Kreis-Physikus in Neutomiscliel.
155. - Brüggemann, Kreis-Physikus in Bromberg.
156. - Chrzescinski, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Kolmar.
157. - Cohn, Kreis-Physikus in Jarotschin.
158. - Dembczack, Kreis-Physikus in Schroda.
159. - Doepner, Kreis-Physikus in Meseritz.
160. - Ebhardt, Kreisphysikus in Witkowo.
*161. - Erdner, Kreis-Physikus in Schwerin a. d. Warthe.
*162. - G6rönne, Regierungs- und Medizinal-Rath in Posen.
*163. - Glogowski, Kreiswundarzt in Kempen.
164. - Haberling, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Bromberg
*165. - Hirschberg, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Posen.
166. - Hirschfeld, Kreis-Physikus in Gostyn.
167. - Holz, Kreis-Physikus in Mogilno.
168. - Kleinert, Kreis-Physikus in Koschmin.
169. - Kunau, Kreis-Physikus und Medizinal-Rath in Posen.
170. - Kutzner, Kreis-Wundarzt in Kriewen.
171. - Landsberg, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Ostrowo.
172. - Lehmann, Kreis-Physikus in Znin.
173. - Lissner, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Kosten.
M i tgl iede rverzeichniss.
158
*174. Dr. Matthäi», Krei^-FLy-Jkus in Ob^mick-
170. - Meinhof. Kr*-i*-Phy-ikuf? und Sanitäts-Rath in Fleischen.
* J 70, - M i c h e 1 h o h n, K rei*-Pby*ikus in Wreechen.
177. - 31 Oller, Kreis-Phy-ikus in CzamikaiL
178. - Pape, Kreis-Physikus in AdelnatL
170. - Pauli ui, Kreis-Fhybiktis in SchmiegeL
180. - Powidzki, Kreis-Physikus und Sanität«-Rath in Schrimm.
181. - K u b e n k o h n , Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Graetz.
382. - Schäfer, Kreis-Wundarzt in Schneidernühl.
180. - Scheider, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Sainter.
184. - SchleuHsner, Kreis-Physikus in Pta witsch.
180. - Schmidt, Kreis-Phy.-ikus in Inowrazlaw.
180. - Schröder, Kreis-Physikus in Wöllstein.
187. - Si edaingrotzky, Regierung*- und Medizinalrath in Bromberg.
188. - Sikornki, Kreis-Physikus in Schildberg.
180. - Wiese, Kreis-Physikus in Filehne.
100. - Wilke, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Gnesen.
101. - Wunderlich, Kreis-Physikus uud Sanitäts-Rath in Krotoschin.
Provinz Schlesien.
102. I)r. Adelt, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Bunzlau.
100. - Adler, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Brieg.
104. - Al hc her, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Leobscliütz.
105. - Ban ick, Kreis-Wundarzt in Lublinitz.
100. - Blei sch, Kreis-Physikus in Kosel.
107. - Braun, Kreis-Physikus in Bolkenhayn.
108. - Broll, Kreis-Physikus in Pless.
100. - Chlurasky, Kreis-Physikus in Woklau.
*200. - Co enter, Kreis-Physikus in Goldberg.
201. - Com nick, Kreis-Physikus in Striegau.
202. - Deichmüller, Kreis-Physikus in Äluskau.
200. - Dybowski, Kreis-Physikus in Nimptsch.
204. - Erb kam, Kreis-Physikus in Grünberg.
205. - Färber, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Kattowitz.
200. - Felsmann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Neisse.
207. - Finger, Kreis-Physikus in Münsterberg.
208. - Friedländer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Lublinitz.
200. - Fritsch, Geh. Medizinal-Rath und Professor in Breslau.
*210. - Glatzel, Kreis-Physikus und San.-Rath in Beuthen.
211. - Gottschalk, Kreis-Physikus in Rosenberg i. Ob.-Schl.
212. - Gottwald, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Frankenstein.
210. - Grätzer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Gross-Strehlitz.
*214. - Haupt mann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Gleiwitz.
215. - Hauschild t, Kreis-Physikus in Steinau a./O.
210. - Heidelberg, Kreis-Physikus in Reichenbach.
217. - Herr mann, Kreis-Physikus in Hirschberg.
21S. - 11 off mann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Waldenburg.
210. - Jacobi, Polizei- u. Stadtphysikus u. Sanitätsrath in Breslau.
220. - Klose, Kreis-Physikus in tippeln.
221, - Köhler, Kreis-Physikus uml Sanitäts-Rath in Landeshut,
Mitgliederverzeichnis».
159
222. Dr. Kornfeld, Kreis-Physikus nnd Sanitäts-Rath in Grottkau.
223. - Krause, Kreis-Physikus in Neustadt L Ob.-Schl.
224. - la Roche, Kreis-Physikus in Jauer.
*225. - Leder, Kreis-Wundarzt in Lauban.
226. - Lesser, Stadt-Physikus und Professor in Breslau.
227. - Lichtwitz, Kreis-Physikus in Ohlau.
228. - Liebert, Kreis-Physikus in Sagan.
229. - Ludwig, Kreis-Physikus in Habelschwerdt.
230. - Lustig, Kreis-Wundarzt in Liegnitz.
*231. - Meyhöfer, Kreis-Physikus in Görlitz.
232. - Nesemann, Bezirks-Physikus in Breslau.
233. - Neumann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Glogau.
234. - Ost mann, Kreis-Physikus nnd Sanitäts-Rath in Rybnik.
235. - Otto, Kreis-Physikus in Neurode.
236. - Philipp, Regierungs- und Geh. Medizinalrath in Liegnitz.
237. - Reimer, Kreis-Physikus in Militsch.
238. - Reinkober, Kreis-Physikus in Trebnitz.
239. - Rot her, Kreis-Physikus in Falkenberg.
240. - Schmiedel, Bezirks-Physikus in Breslau.
241. - Schwahn, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Breslau.
*242. - Schmidtmann, Regierungs- und Medizinal-Rath in Oppeln.
243. - Sonntag, Kreis-Wundarzt in Triebei (Kreis Sohrau.
244. - Stadthagen, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Liegnitz.
245. - Staffhorst, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Oels.
246. - Thienel, Kreis-Wundarzt in Gross-Strehlitz.
247. - Tracinski, Kreis-Physikus in Zabrze.
248. - Wagner, Kreis-Wundarzt in Lipine.
249. - Wolf, Kreis-Physikus in Freystadt i. Niederschlesien.
250. • Wolff, Kreis-Physikus in Schönau a. d. Katzbach.
251. - Wolff, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Sprottau.
Provinz Sachsen.
*252. Dr. Bartsch, Kreis-Physikus in Neuhaldensleben.
*253. - Boehm, Kreis-Physikus und Medizinal-Rath in Magdeburg.
*254. - Busolt, Kreis-Physikus in Delitzsch.
255. - Claes, Kreis-Wundarzt in Mühlhausen i. Thüringen.
256. - Deutschbein, Kreis-Physikus u. Sanitäts-Rath in Herzberg a. Elster.
257. - Dietrich, Kreis-Physikus in Liebenwerda.
*258. - Fielitz, Kreis-Physikus in Halle a. S.
259. - Frantz, Kreis-Wundarzt in Genthin.
260. - Geissler, Kreis-Wundarzt in Schildau.
261. - Gettwart, Kreis-Physikus in Torgau.
262. Giese, Kreis-Wundarzt in Osterburg.
263. Dr. Gleitsmann, Kreis-Physikus in Naumburg a. S.
*264. - Gutsmuths, Kreis-Physikus in Genthin.
*265. - Hähler, Kreis-Physikus in Nordhausen.
266. - v. Hake, Kreis-Wundarzt in Wittenberg.
267. - Hauch, Kreis-Physikus in Eisleben.
268. - Heike, Kreis-Physikus in Wernigerode.
269. - Helm, Kreis-Wundarzt in Tangermünde.
160
Mitgliederverzeichniss.
270. Dr. Herms, Kreis-Physikus in Burg b. Magdeburg.
*271. - Hoffmann, Kreis-Wundarzt in Halle a. S.
272. - Holthoff, Kreis-Wundarzt in Wollmirstedt.
273. - Holzbausen, Kreiswundarzt in Alsleben a. S.
*274. - Jacobson, Kreis-Physikus in Salzwedel.
275. - J a n e r t, Kreis-Physikus in Seehausen.
276. - Kant, Kreis-Physikus in Aschersleben.
*277. - Koppen, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Heiligenstadt.
278. - Kuntz, Kreis-Physikus in Wanzleben.
279. - Meye, Kreis-Physikus in Mansfeld.
*280. - Oebbecke, Kreis-Wundarzt in Bitterfeld.
*281. - Penkert, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Merseburg.
282. - Peters, Regierung- und Medizinal-Rath in Magdeburg.
283. - P i p p o w, Regierungs- und Medizinal-Rath in Erfurt.
284. - Pietsch, Kreis-Physikus in Wollmirstedt.
285. - Plan ge, Kreis-Physikus in Ziegenrück.
286. Prast, Kreis-Wundarzt in Mühlberg a. E.
*287. Dr. Probst, Kreis-Physikus u. Sanitätsrath in Gardelegen.
288. - Räuber, Kreis-Physikus in Nordhausen.
289. - Reip, Kreis-Physikus a. D. in Arendsee i. d. Altmark.
290. - Richter, Geh. Medizinal-Rath in Erfurt.
*291. - Ri sei, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Halle a. S.
292. - Schade, Kreis Physikus und Sanitäts-Rath in Weissensee.
293. - Schaffranek, Kreis-Physikus in Zeitz.
294. - Schilling, Kreis-Physikus in Querfurt
295. - Schmiele, Kreis-Wundarzt in Weissenfels.
296. - Schneider, Kreis-Physikus in Schleusingen.
297. - Schröder, Kreis-Physikus in Weissenfels.
298. - Seyferth, Kreis-Physikus in Langensalza.
*299. - Strassner, Kreis-Physikus in Halberstadt.
300. - Strübe, Kreis-Wundarzt in Halle a. S.
301. - Unger, Kreis-Wundarzt in Nordhausen.
302. - Wachs, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Wittenberg.
303. - Wehr, Kreis-Physikus in Worbis.
304. - Weinreich, Kreis-Wundarzt in Heiligenstadt.
305. - Werner, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Sangerhausen.
306. - Wiegand, Kreiswundarzt in Mausfeld.
307. - Z e p 1 e r, Kreiswundarzt in Gefell.
308. - Ziehe, Kreiswundarzt in Quedlinburg.
*309. - Zimmermann, Kreis-Physikus in Schönebeck a. Elbe.
Provinz Schleswig - Holstein.
310. Dr. Asmussen, Kreis-Physikus in Rendsburg.
311. - Bockendahl, Regierungs- und Geh. Medizinal-Rath in Kiel.
312. - Deneke, Kreis-Physikus in Flensburg.
313. - Goos, Kreis-Physikus in Ploen.
314. - Halling, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Glücksstadt.
315. - Hansen, Kreis-Physikus in Gramm.
316. - Hasselmann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Hadersleben.
317. - Horn, Kreis-Physikus in Tondem.
318. - Hunnius, Kreis-Physikus in Wandsbeck.
Mitgliederverzeichniss.
161
619. Dr. Joens, Kreis-Physikus and Sanitäts-Rath in Kiel.
*620. - N a u c k, Kreis-Physikus in Bredtstedt.
321. - Reimann, Kreis-Physikus in Neumünster.
322. - Schow, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Neustadt in Holstein.
*323. - Schroedcr, Kreis-Physikus in Oldenburg.
*32+. - Wallichs, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Altona.
Provinz Hannover.
325. Dr. Adiek es, Kreis-Physikus in Hannover.
326. - Alten, Regierungs- und Medizinal-Rath in Lüneburg.
327. - And ree, Kreis-Physikus in Neuhaus a. Oste.
328. - Becker, Regierungs- und Medizinal-Rath in Hannover.
329. - Bitter, Regierungs- und Medizinal-Rath in Osnabrück.
330. - Bohde, Regierungs- und Medizinal-Rath in Stade.
331. - Büttner, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Osterholz.
332. - Dempwolff, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Harburg a. d. Elbe.
333. - Dütschke, Kreis-Physikus in Aurich.
334. - Eichhorst, Kreis-Wundarzt in Ottersberg.
335. - Engelmann, Kreis-Physikus in Achim.
336. - Flatten, Kreis-Physikus in Wilhelmshaven.
337. - Friedrich, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Hameln.
338. - Gaehde, Kreis-Physikus in Blumenthal.
339. - Guertler, Kreis-Physikus und Medizinalrath in Hannover.
3+0. - Halle, Kreis-Physikus in Burgdorf bei Hannover.
3+1. - Halle, Kreis-Physikus in Ebstorf.
342. - Heilmann, Kreis-Physikus in Melle.
343. - Herwig, Kreis-Physikns in Lehe.
344. - Herya, Kreis-Physikus in Otterndorf.
3+5. - Hildebrandt, Kreisphysikus und Sanitätsrath in Osnabrück.
3+6. - Holling, Kreis-Physikus in Soegel.
347. - Hüpeden, Geh. Medizinal-Rath in Hannover.
3+8. - Huntemueller, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Hoya.
349. - Juckes, Kreis-Wundarzt in Hannover.
350. - Jung, Kieis-Physikus und Sanitätsrath in Weener.
351. - Kessler, Kreis-Wundarzt und Sanitätsrath in Salzgitter.
352. - Kirchhoff, Kreis-Physikus und Geh. Sanitätsrath in Leer.
353. - Kremling, Kreis-Physikus und Geh. Sanitätsrath in Walsrode.
354. - Kühn, Kreis-Physikus in Uslar.
355. - Langenbeck, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Gifhorn.
*356. - Langerhans, Kreis-Physikus in Hankensbüttel.
*357. - Lern me r, Kreis-Physikus in Alfeld a. L.
358. - Lohstoeter, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Lüneburg.
359. - Men de, Kreisphysikus und Sanitätsrath in Einheck.
360. • Meyer, Kreisphysikus in Dannenberg.
361. - v. Münchow, Kreis-Physikus in Bleckede.
362. - N öller, Kreis-Physikus in Buxtehude.
*363. - Picht, Kreis-Physikus in Nienburg a. W.
364. - Richter, Kreis-Physikus in Peine.
365. - Riehn, Kreis-Physikus in Klausthal i. Harz.
366. - Ritter, Kreis-Physikns und Sanitätsrath in Bremervörde.
11
102
Mitgliederverzeichniss.
307. Dr. Rohrs, Kreis-Physikns und Sanitätsrath in Rotenburg.
308. - Rosenbach, Kreis-Physikns und Sanitätsrath in Hildesheim.
309. - R tl n g e r, Kreis-Phvsikus in Springe.
370. - Rüge, Kreis-Physikns und Sanitätsrath in Linden bei Hannover.
371. - Rump, Kreis-Physikus in Osnabrück.
372. - Ru sack, Kreis-Physikus in Stade.
373. - de Rnyter, Kreis-Physikus und Geh. Sanitätsrath in Qnakenbrfuk.
374. - Schirtneyer, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Osnabrück.
375. - Sch mal f nss, Stadt-Physikns» Mediz.-Assessor n. San.-Rath in Hannover.
370. - Schulte, Kreis-Physikus in Hannov. Münden.
*377. - Seemann, Kreis-Physikus in Northeim.
378. - Steinbach, Kreis-Physikus in Lüchow.
379. - Steinebach, Kreis-Physikus in Bassum.
380. - Stoltenkamp, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Bentheim.
381. - Strecker, Kreis-Phvsikus und Sanitäts-Rath in Ihiderstadt.
382. - Tergast, Kreis-Physikus in Emden.
383. - Th ölen, Kreis-Physikus in Papenburg.
384. - Tübben, Kreis-Physikus in Meppen.
385. - Vogel, Kreisphysikus und Sanitätsrath in Freiburg a. d. E.
380. - Wen gier, Kreis-Physikus in Göttingen.
387. - West rum, Kreis-Physikus in Geestemünde.
388. - Wiechers, Kreis-Physikus in Gronau.
389. - Wolffhügel, Professor in Göttingen.
Provinz Westfalen.
390. Dr. Bange, Kreis-Wundarzt in Niedermarsberg.
391. - Bartscher, Kreis-Wundarzt und Sanitäts-Rath in Lichtenau.
392. - Beckhaus, Kreis-Physikus und Geh. Sanitätsrath in Bielefeld.
393. - Benthaus, Kreis-Wundarzt in Neuhaus.
394. - Bockeloh, Kreis-Physikus in Lüdinghausen.
395. Borndrueck, Kreis-Wundarzt in Ferndorf bei Siegen.
390. Cr. Bremme, Kreis-Physikus in Soest.
397. - Brümmer, Medizinalassessor in Münster i. W.
398. - Claus, Kreis-Physikus in Warburg.
399. - Cordes, Kreiswundarzt in Dorsten.
490. - Eckervogt, Kreis-Wundarzt in Bocholt.
401. - Georg, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Paderborn.
402. - Graeve, Kreis-Physikus in Hattingen a. d. Ruhr.
403. - Graffun der, Kreis-Physikus a. D. und Geh .San.-Rath in Lübbecke.
404. - Gruchot, Kreisphysikus und Sanitäts-Rath in Hamm.
405. - Guder, Kreis-Physikus in Laasphe.
400. - Hagemann, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Dortmund.
407. - Helming, Kreis-Physikus in Ahaus.
408. - Hellraann, Kreis-Wundarzt in Wickede a. Ruhr.
409. - Hillebrecht, Kreis-Wundarzt in Vlotho.
410. - Hölker, Regierungs- und Medizinal-Rath in Münster.
411. - Klostermann, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Bochum.
412. - Kluge, Kreis-Physikus in Höxter.
413. - Kranefuss, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Halle i. W.
414. - Krummacher, Kreis-Physikus in Tecklenburg.
Mitgliedcrverzeichuiss.
163
415. Dr. Le mm er, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Schwelm.
416. - Lim per Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Gelsenkirchcn.
417. - Lindemann, Kreis-Wundarzt in Gelsenkirchcn.
413. - Michels, Kreis-Wundarzt in Ilerbede.
41!). - Moors Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Hagen i. W.
420. - Müller, Kreis-Pliysikus und Geh. Sanitäts-Rath in Minden i. W.
421. - Mansch, Kreis-Phyikus und Sanitäts-Rath in Bucholt.
422. - Overkamp, Kreis-Phyikus in Warendorf.
423. - Pless, Kreis-Phyikus in Brilon.
*424. - Rapmund, Regierungs- und Medizinal-Kath in Minden i. W.
*125. - Redecker, Kreis-Wundarzt in Bochum.
426. - Rheinen, Kreis-Pliysikus in Herford.
427. - Rüper, Kreis-Pliysikus in Arnsberg.
423. - Rose, Kreis-Wundarzt in Menden b. Iserbdin.
42!). - Schlüter, Kreis-Pliysikus in Gütersloh.
430. - Schmitz, Kreis-Pliysikus in Ochtrup.
431. - Schulte, Kreis-Pliysikus in Hürde.
432. - Schulte, Kreis-Pliysikus in Lippstadt.
433. - Spanken, Kreis-Pliysikus in Meschede.
434. - Sudhoelter, Kreis-Wundarzt in Versmold.
435. - Tenholt, Regierungs- und Medizinal-Rath in Arnsberg.
436. - Terstesse, Kreis-Pliysikus und Sanitäts-Rath in Büren i. W.
437. Zumwinkel, Kreiswundarzt in Gütersloh.
Provinz Hessen-Nassau.
438. I)r. Beinhauer, Kreis-Physikus in Höchst a. M.
439. - Brill, Kreis-Wundarzt in Esckwege.
440. - Dreising, Kreis-Physikus inlliinfeld.
441. - Ebertz, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Diez.
442. - Fa her, Kreis-Physikus lind Sanitätsrath in Rotenburg a. d. Fulda.
443. - Fey, Kreis-Wundarzt in Kassel.
444. - Giessler, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Kassel.
445. - Gleitsmann, Kreis-Physikus in Wiesbaden.
446. - Grand komme, Stadt-Physikus und Sanitätsrath zu Frankfurt a. M.
447. - Hommerich, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Selters.
448. - Kind, Kreis-Wundarzt in Fulda.
449. - Kloss, Kreiswuudarzt in Biedenkopf.
450. - Krause, Geh. Medizinal-Rath in Kassel.
451. - Lehnebach, Kreis-Physikus a. D. in Schmalkalden.
452. - Lissard, Kreis-Wundarzt in Frankenberg.
453. - Marx, Kreis-Physikus in Fulda.
454. - Menke, Kreis-Physikus u. Sanitäts-Rath in Weil bürg a. L.
455. - Mumm, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Gelnhausen.
456. - Oberstadt, Kreis-Physikus in Langensehwalbach.
*457. - Pfeiffer, Regierungs- und Medizinal-Rath in Wiesbaden.
458. - Pütt, Kreis-Physikus in Hofgeismar.
459. - Roth, Kreis-Physikus in Marienberg (Westerwald).
460. - Schauss, Kreis-Physikus in Usingen.
461. - Schotten, Medizinalassessor in Kassel.
462. - Seligmann, Kreis-Wundarzt in Hanau,
11*
104
Mitgliedcrvcrzeichniss.
463.
Dr.
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*497.
498.
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500.
501.
502.
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504.
505.
506.
507.
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508.
-
509,
-
Sippe 1, Kreis-Wundarzt in Sooden a. d. Werra.
Spiegelthal, Kreis-Physikus in Kassel,
von Tessmar, Kreis-Physikus in Limburg.
Vietor, Kreis-Physikus in Hersfeld.
Weiss, Regierungs- und Geh. Medizinal-Rath in Kassel.
Woltemas, Kreiswundarzt in Gelnhausen.
Rheinprovinz and Hohenzollern.
A Ibers, Kreis-Physikus und Sanitäts-Ruth in Essen a. d. Ruhr.
Albert, Kreis-Physikus in Meisenheim.
Arens, Kreis-Physikus in Erkelenz.
Aronstein, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Eckenhagen.
Rachem, Kreiswundarzt in Zülpich.
Bauer, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Moers a. Rh.
Baum, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Aachen.
Beer mann, Kreis-Physikus in Duisburg.
Blokusewski, Kreis-Physikus in Daun.
Brand, Kreis-Physikus und Sauitätsrath in Geldern.
Carp, Kreis-Physikus in Wesel.
Eickhoff, Oberamts-Physikus iu Hcchingeu (Hohenzollern).
Esch-Waltrup, Kreis-Physikus in Köln.
Grisar, Kreis-Physikus in Trier,
van Gulik, Kreis-Physikus in Kleve.
Hartcop, Kreiswundarzt in Barmen.
Hccking, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath iu Saarburg.
Hcnsgen, Krreis-Wundarzt in Bergneustadt.
Herbst, Kreis-Physikus in Wipperfürth.
Hofacker, Kreiswundarzt in Düsseldorf.
Hoech st, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Wetzlar.
Kimpen, Kreis-Physikus in Neunkirchen.
Ko hl mann, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Remagen.
Kramer, Kreis-Wundarzt in St. Johann.
Kribben, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Aachen.
Leuffen, gerichtlicher Stadtphysikus und Sanitätsrath in Kölu.
Lorentz, Kreis-Physikus in Gummersbach.
Mainzer, Kreis-Wundarzt in Illingen.
Marx, Kreis-Physikus in Mühlheim a. Ruhr.
von Massenbach, Regierungs- und Geh. Mcdizinalrath in Koblenz.
Meder, Kreis-Physikus u. Sanitätsrath in Alteukirchen (Westerwald).
Michelsen, Regierungs- und Medizinal-Rath in Düsseldorf.
Möllmann, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Simmern.
Nauss, Kreis-Wundarzt in Altenkirchen.
Nels, Kreis-Physikus und Geh. Sanitätsrath in Bitburg.
Noethlichs, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Ileiusberg.
Nünninghoff, Kreis-Wundarzt in Orsoy a. Rh.
Racine, Kreis-Wundarzt in Essen a. d. Ruhr.
Rade mach er, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Montjoie.
Roeder, Kreis-Physikus in Kelberg (Kreis Adenau).
Rheinstadler, Kreiswundarzt in Dillingcn.
Mitgliederverzeichuiss.
165
510. Dr. Schlecht, Kreis-Physikus in Euskirchen.
*511. - Schlcchtendal, Kreis-Physikus in Lennep.
*512. - Schmidt, Regierungs- und Medizinal-Rath in Sigmnriugeu.
518. - Schmitz, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Malmedy.
514. - Schrakamp, Kreisphysikus in Kempen.
515. - Schruff, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Neuss.
516. - Schuberth, Kreis-Physiku in Saarbrücken.
517. - Schubmehl, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in St. Wendel.
518. - Schulz, Kreis-Physikus, Medizinalassessor und Geh. Sauitätsrath in
Koblenz.
519. - Schwartz, Regierungs- und Geh. Medizinal-Rath in Trier.
520. - Schwienhorst, Kreis-Wundarzt in Süchteln.
521. - Strauss, Kreis-Physikus und Geh. Sanitätsrath in llarmen.
522. - Thiele, Kreis-Physikus in Kochern.
528. - Thomas, Kreis-Physikus in Rheinbach.
524. - Tillessen Kreis-Physikus in Saarlouis.
525. - Ungar, Medizinalrath, Kreisphysikus und Professor in Bonn.
526. - Vansclow, Polizei-Stadt-Physikns, Sanitätsrath und Direktor des
Künigl. Impfinstituts in Köln.
527. - Wal bäum, Kreis-Wundarzt in Gerolstein.
528. - Wellenstein, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Urft, Kr. Schleiden.
529. - Weskamp, Kreis-Physikus in Düren.
580. - We x , Kreis-Wundarzt in Montjoie.
581. - Wiesemcs, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Solingen.
582. - Wolff, Kreis-Wundarzt in Elberfeld.
533. - Zimmermann, Kreis-Physikus und Geh. Sauitätsrath in Düsseldorf.
Eisass - Lothringen und andere deutsche Bandesstaaten.
*534. Dr. Curtzc, Kreis-Physikus in Ballenstedt.
535. - Gaffky, Professor der Hygiene in Giessen.
536. - Picard, Kreisarzt und Sanitätsrath in Gebweilcr.
ß. Jalirg.
Zeitschrift
für
1S93.
MEDIZINALBEAMTE
Heransgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rath u.gerichÜ.Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Med uinalrath in Minden.
und
Dr. WILH. SANDER
Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer's mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitxelle 46 Pf. nimmt die Verlagshandlang and Bad. Mosse
entgegen.
No. 9.
Erscheint am 1. and 15. Jeden Monats.
Preis J&hrlloh 10 Mark.
1 .
Mai.
Leichenbefund bei Erfrierungetod.
Von Dr. Keferstein, geprüft pro pbysikatu, prakt. Arzt in Gransee.
In meiner Studie über den Erfrierungstod, die ich in der
Allgemeinen Medizinischen Central-Zeitung Anfangs dieses Jahres
veröffentlicht habe, machte ich schon Andeutung, dass der äussere
Leichenbefund bei Erfrierungstod ein besonderes Merkzeichen auf¬
weise, was sonst nirgends wieder vorkommt.
Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit in meiner
Praxis einen Todesfall durch Erfrieren zu beobachten; ich war
damals Landarzt in einem kleinen Marktflecken der Niederlausitz.
Der Fall war kurz folgender:
Ende Februar 1888 fand man auf freiem Felde die Leiche
eines Tagelöhners, der anscheinend erfroren war. Der Mann hatte
sich am Sonntag Nachmittag, am Montag früh wurde er gefunden,
in Schnaps betrunken, hatte dann am Abend von dem Vorwerk,
wo er den Sonntag über gewesen war, nach Hause gehen wollen.
Er hatte dazu einen einsamen Fusspfad benutzt quer über das
Feld, war vom Pfade abgewichen, erst noch in ein Mühlenfliess
geraten, was dort vorbeifloss, wie das zerwühlte Ufer bewies, und
dann in seiner Trunkenheit auf freiem Felde hingefallen und dort
erfroren; wir hatten in dieser Nacht Wind und 12° Kälte Röaumur
gehabt.
Was die Stellung der Leiche anbetraf, so lag der Mann auf
der linken Seite halb auf dem Gesicht, beide Anne batte er nach
oben ausgestreckt, im Ellenbogengelenk wenig gebeugt, die Hände
geballt, an den Oberkörper waren die Beine etwas herangezogen,
kurz, es war eine Stellung, in die ein Betrunkener hintaumelt
und liegen bleibt. Die Leiche war nur dünn bekleidet mit dem
gewöhnlichen Arbeitsanzug und hart gefroren, äussere Verletzungs¬
spuren zeigten sich nirgends, doch fanden sich die Beinkleider bis
202
Dr. Kefersteiu.
zu den Knieen herauf steif von Eis, sie waren durch den Fall in’s
Mühlenflie8s durchnässt gewesen.
Auffallend war an der Leiche, dass die rechte Backe schön
hellroth verfärbt war, wohl gemerkt: er lag dabei auf der linken
Seite; auf der Brust fand sich dort, wo das Hemd etwas klaffte,
ein über handgrosser hellrother Fleck, eben solche Flecke an den
Unterschenkeln.
Eine Sektion wurde damals von der Staatsanwaltschaft nicht
angeordnet, da der Mann offenbar durch eigene Schuld erfroren war.
Durch diese Beobachtung angeregt, habe ich mich bemüht,
die in der Literatur vorliegenden Angaben über den Erfrierungstod
zusammenzustellen und zu ergänzen.
Der erste, der uns über Erfrierungstod Mittheilung macht, ist
Krajewski. 1 ) Seine experimentellen Studien, die er an Kanin¬
chen machte, interessiren uns hier nicht, dagegen das, was er vom
Befund an menschlichen Leichen sagt. Auch nach dem Aufthauen
der Leichen Erfrorener soll nach ihm die Todtenstarre bedeutend
sein. Weiter sollen die Gliedmassen und besonders die hervor¬
ragenden Theile, also Arme, Beine, Ohren und Nase, sehr brüchig
sein, so dass sie beim Transport der Leiche leicht abbrechen
können. Diese Angabe wird bei allen Autoren immer wiederholt,
doch kann es unmöglich Jemand beobachtet haben; denn nach
meiner Erfahrung ist dieselbe sicher nicht wahr; bei dem Tage¬
löhner, dessen Erfrierungstodt ich beschrieben, habe ich versucht,
ein Ohr abzubrechen, es liess sich schwer biegen und man merkte
den Widerstand der einzelnen Eiskrystalle, abgebrochen ist es
aber nicht. So lässt man z. B. Wild im Winter sehr häufig durch
und durch gefrieren und hantirt dann ganz und gar nicht vorsich¬
tig damit, doch wird ein Abbrechen von Gliedmassen hier niemals
Vorkommen. Eine andere auch nur von Krajewski gemachte
Beobachtung ist das Auseinanderweichen der Kronen- und der
Pfeilnath des Schädels, so dass man ein Wackeln der Seitenwand¬
beine fühlen kann. Nun ist es wahr, dass ein Gefäss mit Wasser,
welches bis auf den Boden friert, platzt, weil Wasser zu Eis ge¬
froren einen grösseren Raum einnimmt, und ist die Möglichkeit
nicht ausgeschlossen, dass bei dem wasserreichen Gehirn nicht
auch einmal etwas Aehnliches Vorkommen könnte, doch gehören
schon sehr bedeutende Kältegrade dazu, wenn das menschliche
Gehirn durch und durch zu einem Eisklumpen gefrieren sollte,
das Wackeln der Seitenwandbeine, das man durch die Schädel¬
haut durchfühlen soll, würde dann doch auch erst nach dem voll¬
kommenen Auttauen der Leiche zu fühlen sein; denn von vorn¬
herein sind dann doch auch die Seitenwandbeine festgefroren. Ich
glaube daher, dass Krajewski mehr kombinirt als eigene Beob¬
achtung an Leichen Erforener gemacht hat.
Samson Himmelstiern veröffentlicht in den Rigaer Bei¬
trägen (III, 2. Seite 1—83) Mittheilungen aus dem praktischen
*) Ueber den Erfrierungstod und über die Wirkung grosser Kälte auf
Mensch und Thier überhaupt. Ein Referat über diese Abhandlung findet sich in
H e n k e ’ s Zeitschrift für Staatsarzneikunde 1861. II.
Leichenbefund bei Erfrierungstod.
203
Wirkungskreise 1847—1851; hierbei bespricht er auch den Er¬
frierungstod und erwähnt hier, dass die Augenbulbi kollabirt sind,
nur an Leichen von ganz neuem Datum sind sie noch einiger-
massen resistent. Dann sind bisweilen auch, wie dieser Autor
hinzusetzt, die Bindehäute injizirt. Auch Dieb erg 1 ) giebt an,
dass die Augäpfel eingefallen wären und die Cornea weich.
Dieselbe Bemerkung macht Zschokke:*) „Die Augäpfel
sind in ihre Höhlen zurückgesunken von ihren Lidern nicht ganz
bedeckt, die Bindehäute sind nicht geröthet.“ Mit all diesen An¬
gaben kann man aber nichts rechtes anfangen, da sie für den
Erfrierungstod als solche nicht charakteristisch sind. Zunächst
wird uns bei der Besichtigung der Leiche auch das Steifgefroren¬
sein derselben auffallen, deshalb ist nicht bewiesen, dass gerade
ein Erfrierungstod vorliegt; denn auch jede andere Leiche, welche
länger einer stärkeren Kälte ausgesetzt war, wird dasselbe Bild
darbieten. Die Zeichen der Verwesung werden hier auch fehlen,
da die Kälte konservirt, es müsste denn gerade zwischendurch
Thauwetter eingetreten sein, wo dann die Leiche aufthauen und
verwesen konnte und dann bei wieder eingetretener Kälte von
Neuem steif frieren.
Erst Ogston erwähnt zuerst an Leichen Erfrorener hell-
rothe Flecke auf den nicht abhängenden Körpertheilen, wie ich
sie auch beobachtet habe. Ogston 3 ) spricht von hellrothen
Flecken auf der Vorderfläche der Extremitäten; ebenso in seinen
späteren Veröffentlichungen 4 ) von diffusen roten Flecken der
Haut an einigen nicht abhängigen Theilen. Dieberg 5 ) nennt
diese Erscheinung Froströthe, und fände sich dieselbe bald heller
bald dunkler an Gesicht, Händen und Füssen. In der dritten
Schrift Ogston’8 über den Erfrierungstod 6 ) führt er fast bei jedem
einzelnen Fall ausgebreitete Flecke von mehr oder weniger hoch-
rother Farbe auf verschiedenen nicht abhängigen Theilen der
Leiche an. Blumenstock sagt in Maschka’s Handbuch der
gerichtlichen Medizin: 7 ) „Auffallend war auf den ersten Blick an
der Leiche des Erfrorenen, dass die ganze Vorderseite des Körpers,
besonders die hervorragenden Gegenden schön hellrothe Todten-
flecke darboten, während die Rückenseite keine Flecke zeigte.“
Dieberg erwähnt auch, dass sich auf dem Oberschenkel eines
Erfrorenen eine geröthete Körperstelle fand, die genau einem
Loche im Beinkleide entsprach. Diese rothen Flecke werden
immer mit den Todtenflecken zusammengeworfen, mit denen sie
doch gar nichts zu thun haben, hier handelt es sich um eine
Röthung der am meisten der Kälte ausgesetzten Hautstellen, und
sind das gerade die an der Leiche nach oben liegenden Theile
*) Hundert gerichtliche Sektionen. Vierteljahrsachrift für gerichtliche
Medizin 1864, 25. Band.
*) Zeitschrift für Staatsarzneikunde 1853. I., Seite 7.
*) Schmidt’s Jahrbücher, Band 90, Seite 23.
4 ) Schmidt’s Jahrbücher, Band 109, Seite 840.
8 ) Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin, Band 26, Seite 304.
®) Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin. Neue Folge, I.. Seite 149
5 ) Band L Seite 782.
204
Dr. Kcferstein.
des Körpers oder wie wir sie bisher genannt haben, die nicht
abhängigen Theile, während sich die Todtenflecken an den nach
unten liegenden Theilen des Körpers, also an den abhängigen Theilen
bilden als Senkungen des Blutes nach dem physikalischen Gesetz
der Schwere. Die hellrothe Farbe dieser Frostflecke wird irr-
thümlicher Weise von dem grösseren Sauerstoffgebalt des Blutes
herkommend angegeben, während doch schon Rollet die richtige
Erklärung giebt; ich habe sie freilich bisher nirgends erwähnt
gefunden, und so hat sie die Beachtung nicht gefunden, die sie
verdient. In dem Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der
Wissenschaft heisst es nämlich im 46. Bande, zweite Abtheilung,
Seite 75 folgendermassen:
„Ich muss am Schlüsse dieses Abschnittes noch eine Beobachtung am
Menschen besonders erwähnen. Zufällig ereignete es sich, dass die Leiche eines
in einem Keller erfrorenen Arbeiters zur sanitätspolizeilicheu Obduktion kam.
Ich erhielt Blut aus dem Herzen dieser Leiche. Dasselbe hatte keine wesent¬
liche Veränderungen erlitten, und ich verwerthete es zu vielen Versuchen. Da¬
gegen war in den Gefässen der Haut stellenweise lackfarbeähnlich durchsichtiges
Blut enthalten, und die mikroskopische Untersuchung ergab an diesem Blute
dieselben Veränderungen, wie wir sie an den in der Frostinischung erfrorenen
Blutkörperchen wahrnahmen. An diesen Stellen hatte aber die Haut ein eigen¬
tümlich hellrothes Aussehen, welches daher rührte, dass aus den Gefässen das
im Serum aufgelöste Blutroth in das umgebende Gewebe diffundirt war.“
Und Seite 96, Anmerkung, heisst es dann weiter:
„Als ich an der Haut des eben erwähnten im heurigen Winter erfrorenen
Arbeiters die merkwürdige fleckweise Röthe sah, kam mir das Bild einer vom
Blitz getroffenen Person in Erinnerung. An der Brust derselben bemerkte man
eine umschriebene, unregelmässig strahlige, Fortsätze nach verschiedenen Rich¬
tungen hin aussendende rothe Zeichnung. Kurz, die Aehnlichkeit des eigenthüm-
lich gezeichneten hellrothen stehenden Fleckes mit den Flecken auf der Haut des
Erfrorenen und die bei den letzteren als ursächliches Moment aufgefundeue
Diflussion des Blutroths führten mich dazu zu untersuchen, ob das Blut an und
für sich durch den Entladungsschlag vielleicht eine ähnliche Veränderung erleide,
wie durch das Frieren oder nicht.
Das Resultat war: Durch kräftige Entladungsschläge wird das Blut dem
äusseren Aussehen nach in derselben Weise verändert wie durch das Frieren,
d. h. es hellt sich auf und nimmt während des Elektrisirens eine lackfarben¬
ähnliche Beschaffenheit an.“
So ist doch der Beweis erbracht, dass die hellrothen Flecken,
die an den Leichen Erfrorener zu bemerken sind, durch lackfar-
benes Blut entstehen, sowohl durch die mikroskopische Untersuchung
Roll et’s als auch durch die sich als wahr herausstellende Kom¬
bination, dass der elektrische Entladungsstrom das Blut ebenso
verändern müsse, wie das Frieren und Wiederaufthauen.
Die rothen Flecken bei Erfrierungstod bilden sich nun da¬
durch, dass an den der Kälte am meisten ausgesetzten Theilen,
es sind das die nicht abhängigen Theile, das Blut in den Blut¬
gefässen theilweise zu Eis erstarrt. So lange der Kreislauf aber
noch besteht, wird dieses Eis durch das zirkulirende warme Blut
wieder aufgethaut und so ein Theil des Blutes lackfarben; aus
den Gefässen diffundirt dann das im Serum aufgelöste Blutroth in
das umgebende Gewebe und bringt so die rothen Stellen auf der
Haut hervor. Es sind also diese rothen Flecke ein Zeichen, dass
Blutzirkulation noch bestand, dass also das Individuum lebend der
Kälte ausgesetzt war.
Leichenbefund bei Erfricruogstod.
205
Findet man also an der Leiche eines muthmasslich Erfrore¬
nen hellrothe Flecke auf der Haut und kann man nachweisen,
dass diese Flecke an den nicht abhängigen Körpertheilen ent¬
standen sind, also keine Todtenflecke sind, so ist der Erweis ge¬
bracht, dass Erfrierungstod vorliegt.
Was nun den inneren Leichenbefund bei Erfrierungstod
betrifft, so ist Lesser beizupflichten, 1 ) dass es hier wesentliche
und essentielle Merkmale nicht giebt, die den Erfrierungstod von
anderen Todesarten unterscheiden. Dieb erg behauptet zwar es
gäbe solche und stellt er in seiner Veröffentlichung, „Beiträge zur
Lehre vom Tode durch Erfrieren“*) die Zeichen des Erstickungs¬
todes den Merkmalen des Erfrierungstodes gegenüber: Die flüssige
Beschaffenheit des Blutes bei Erstickungstod, die dunkele Farbe
des Blutes, die strotzende Anfüllung der grossen venösen Gefässe
und des rechten Herzens, die Lungenhyperämie, sowie die Hyper¬
ämie der übrigen Organe, ferner auch die punktförmigen Blutungen
in den serösen Häuten der Brust und Bauchhöhle und in den
Schleimhäuten sei beim Erstickungstode charakteristisch, dagegen
sei beim Erfrierungstod fast kein einziges von diesen Zeichen zu
treffen. Die flüssige Beschaffenheit des Blutes beim Tode durch
Erfrieren sei nie in dem Grade wie beim Tode durch Ersticken;
denn bei Erfrorenen fanden sich auch lockere Gerinsel im Blut.
Eine so dunkele Blutfarbe wie bei Erstickten komme bei Erfrore¬
nen nicht vor, nie so dunkele Nüancirung. Der strotzenden An¬
füllung der grossen Gefässe und des rechten Herzens stände bei
Erfrorenen eine Ueberfüllung des ganzen Herzens gegenüber.
Lungenhyperämie sei bei Erfrorenen nur, wenn Trunkenheit hin¬
zukäme zu konstatiren, ebenso nur in diesem Falle Hyperämie des
Gehirns und seiner Hüllen; die Ekchymosen fehlten bei den Er¬
frorenen ganz. Also sei bei Erfrorenen das ultimum vivens die
Lunge, das Herz das primum moriens.
Dieb erg hat stets zuerst die Gefässe des Herzens unter¬
bunden, dann das Herz herausgenommen und gewogen, und haben
seine Wägungen fast immer eine beträchtliche Füllung des ganzen
Herzens mit Blut ergeben. Betrachten wir aber seine sonstigen
Angaben, so kommt alles, was er als Zeichen der Erstickung an-
giebt, zwar bei diesem Tode vor, es ist aber nicht absolut charak¬
teristisch; denn es kann auch jedes von diesen Zeichen fehlen,
und doch Erstickung vorliegen, und anderersits auch das eine oder
das andere Merkmal vorhanden sein, und doch keine Erstickung
8tattgefunden haben. In seiner früheren Veröffentlichung 3 ) hatte
er angegeben als Zeichen, die beweisen, dass der lebende Körper
der Kälte ausgesetzt war:
„Hyperämie innerer Organe. Das Herz ist in allen seinen
Theilen mit dunklem, flüssigem Blut erfüllt; wo es konstatirt wurde,
dass die Leute angetrunken waren, war das Herz weniger gefüllt.
*) Vierteljnhrsschrift für gerichtliche Medizin 1880, Seite 222, Anmerknng.
*) Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin. Neue Folge, Band 88,
Seite 1.
s ) Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin, 25. Band, Seite 363.
206
Dr. Keferstein.
In einzelnen Fällen waren die Nieren, in andern die Leber oder
beide sehr blutreich. Der Blutgehalt der Milz war wechselnd.
Das Gehirn in keinem Falle auffallend blutreich. Ebenso auch
nicht die Lungen. Die Lungen zeigten öfter an den Rändern
grosse, zinnoberrothe Flecke. Eine Uebertiülung der Harnblase
mit Urin war stets vorhanden. Die hellrothe Farbe des Blutes
ausserhalb des Herzens erwies sich als zweifelhaft. Der Magen
war nicht immer leer.“
Diese Merkmale des Erfrierungstodes sind aber vollkommen
streitig; nicht einmal die Ueberfiillung des Herzens mit Blut
ist ganz sicher. Samson - Himmelstiern 1 ) hat sie nicht
überall gefunden, und Blosfeld*) giebt an, dass sie bei Neuge¬
borenen nicht zu bemerken wäre, sonst überall. Auch Blumen¬
stock 8 ) sagt, dass die Blutüberfüllung des Herzens bei Neuge¬
borenen nach seinen Erfahrungen nicht vorhanden wäre. Er setzt
noch hinzu: und scheint sie auch bei Erwachsenen nicht zur Regel
zu gehören. Ogston verzeichnet bei fünf Fällen von Erfrierungs-
tod bei Kindern zwei, wo die Herzüberfullung nicht vorhanden;
wechselnd ist nach seinen Aufzeichnungen die Hyperämie des Ge¬
hirns und seiner Hüllen. An einer anderen Stelle giebt er einen
Blutmangel der übrigen Organe mit Ausnahme des Herzens an,
dagegen eine auffallend hellrothe Farbe des Blutes. Blosfeld
giebt diese hellrothe Farbe ausserhalb des Herzens zu und
Himmelstiern hat auch das nicht immer gefunden. Was nun
die Nüancirung der Blutfarbe betrifft, so würde diese sich danach
richten, wie lange Zeit und wie intensiv die Kälte auf die be¬
treffende Leiche eingewirkt hat; denn da jede Sektion doch erst
nach dem Aufthauen der Leiche erfolgen kann, so würden wir auch
hier zum Theil Blut vor uns haben, das dem Frieren und Wieder-
aufthauen ausgesetzt war. Interessant wäre es gewesen, wenn
die zinnoberrothen Flecke, die Dieb erg öfter an den Rändern
der Lungen bei Erfrorenen gefunden hat, mikroskopisch untersucht
worden wären, man hätte dann wohl auch hier lackfarbenes Blut
gefunden. Martini*) behauptet, dass die Hyperämie des Gehirns
und der Lungen sich erst nach dem Aufthauen bei den Erfrorenen
einstellte. Die mit Urin überfüllte Blase, die auch von Samson-
Himmelstiern 5 ) erwähnt, wird man bei jeder Leiche finden,
sobald der Verstorbene in den letzten Stunden keinen Urin gelassen
hat. Ebenso wenig ist die Leere des Magens irgend ein Beweis.
Zum Schluss habe ich die in der Literatur veröffentlichten
Sektionsbefunde bei Erfrierungstod zusammengestellt. Fremmert 6 )
giebt als Sektionsprotokoll folgende Daten bei einem Erfrorenen:
Knochen des Schädels blass. Pia sehr ödematös, leicht ablösbar,
an den Furchen verdickt. Hirnsubstanz fest, die Schnittfläche
glänzend. Lungen sehr hyperämisch.
*) Schmidt’a Jahrbücher 1855, Seite 90.
*) Henke’s Zeitschrift für Staatsarzneiknnde 1860. III. Seite 147.
s ) Maschka’a Handbuch, Seite 789, Band I.
*) Deutsche Klinik 1852 Nr. 11.
®) Schmidt’s Jahrbücher 1855, Seite 90.
*) Langenbeck’s Archiv 1880, Seite 11, Anmerkung.
Leichenbefund bei Erfrierungstod.
207
Bei Sonnenburg findet man folgendes Sektionsprotokoll der
Leiche eines Knaben, der in Folge von Kälteeinwirkung an Teta¬
nus verstorben war: Schädel: Die Gefässe der Pia sind stark
injizirt, namentlich die Venen, deren Inhalt dünnflüssig ist. An
Klein- und Grosshirn ist grosser Blutreichthum der Substanz zu
bemerken. Rückenmark: Bei Eröffnung des Rückenmarkkanals
entleert sich ziemlich viel Blut. Im Sack der Dura eine grössere
Menge Flüssigkeit. Die Dura zeigt sich aber durchaus nicht be¬
sonders blutreich, auch die Pia bietet nichts abnormes dar. Das
Rückenmark ist im Brusttheil ziemlich weich; die graue Substanz
ist etwas blutreich, sonst bietet das Rückenmark auf dem Quer¬
schnitt durchaus nichts besonderes. Die Lungen sind hyper-
ämisch, besonders aber die Nieren ausserordentlich blutreich. Die
Milz und die Leber gross und mit Blut gefüllt. Blumen¬
stock 1 ) giebt als inneren Befund in einem Obduktionsprotokoll
an: Intermeningeales Extravasat am Scheitel beider Hemisphären,
die weiche Hirnhaut milchig getrübt und sehr stark injizirt, die
Medullarsubstanz des Hirns schön rosenroth gefärbt, an der Schädel¬
basis viel flüssiges, hellrothes Blut, Kehlkopf und Luftröhre leer,
ihre Schleimhaut hellroth. Bei Druck auf die Lungen steigt etwas
Schaum in die Luftröhre. Auf die Durchschnittsfläche der Lungen
ergiesst sich viel hellrothes Blut. In der linken Herzkammer
flüssiges aber dunkles, in der rechten mehr geronnenes Blut.
Hyperämie der Leber und Nieren zu bemerken. Die Harnblase
ist stark gefüllt. Das der Schädel- und Brusthöhle entnommene
Blut ist nach beendeter Sektion flüssig und hellroth und sehr all¬
mählich kirschroth. Kohlenoxyd- und Blausäurevergiftung waren
hierbei sicher ausgeschlossen.
Nach diesen in der Literatur veröffentlichten Sektionsproto¬
kollen, die eigentlich recht dürftig sind, hat sich ein charakte¬
ristischer innerer Befund bei Erfrierungstod nicht ergeben. Die
wechselnde hellrothe Farbe des Blutes richtet sich nach den Kälte¬
graden, denen die Leiche ausgesetzt war, hellrothes Blut wird
man dort immer finden, wo durch Frieren und Wiederaufthauen
ein Lackfarbig werden sich eingestellt hat. Es ist also nur
ein Zeichen für Erfrierungstod massgebend und zwar
ist es das äussere Zeichen: hellrothe Flecke auf nicht
abhängigen Körpertheilen.
Nur aus der Summe aller Leichenbefunde, sagt Caspar 2 ),
und der gleichzeitigen Kombination aller den Tod begleitenden
Umstände wie durch Herstellung des negativen Beweises, der Ab¬
wesenheit jeder andern, wenigstens gewaltsamen Todesart, wird
es dem Gerichtsarzt möglich werden, wenn auch nur mit mehr
oder weniger Wahrscheinlichkeit sein Gutachten auf statt- oder
nicht stattgefundenen Erfrierungstod abzugeben! Er wird es frei¬
lich desto eher können, sobald ihm die Möglichkeit gegeben ist,
an der frischen noch gefrorenen Leiche am Fundort die äussere
Besichtigung vorzunehmen.
*) Maschka'a Handbach der gerichtlichen Medizin.
*) Handbuch der gerichtlichen Medizin.
208
Dr. Keferstein: Leichenbefund lei Erfrierungstod.
Was die Nebenumstände betrifft, so ist die Kälte zu be¬
rücksichtigen, die zur Zeit geherrscht hat, und die Länge der
Zeit, während welcher die Kälte auf den Betreffenden eingewirkt
hat. Es ist bei Erwachsenen unter gleichen Verhältnissen ein
höherer Kältegrad zum Erfrierungstod nothwendig als bei Kindern
oder Neugeborenen. Ferner ist der körperliche Zustand, wie auch
Trunkenheit des Individuums, seine Bekleidung und der Umstand
zu bedenken, ob der Verstorbene schon weither gelaufen und so
durch den anstrengenden Marsch ermüdet war. Auch ist hier
eine Verletzung von Wichtigkeit, da sie die Quelle der Erschöpfung
gewesen sein kann, ohne dass die Verletzung an sich lebensge¬
fährlich war. Auch die Lage der Leiche und der Ort, wo die
Leiche gefunden, ist beachtenswerth, ob an dieser Stelle das In¬
dividuum so lange liegen bleiben konnte, ohne bemerkt zu werden.
Bei Erwachsenen wird wohl immer zufälliges Verunglücken anzu¬
nehmen sein, doch ist auch ein Fall veröffentlicht, wo ein Selbst¬
mord durch Erfrieren vorlag. Witlacil 1 ) erzählt von einem
Greis, der, um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen, sich
des Abends, nachdem er eine Flasche Branntwein getrunken hatte,
in den Schnee seines Gartens legte. Am nächsten Morgen wurde
er erfroren dort gefunden. Schon Tage vorher hatte der betreffende
geäussert, er würde sich das Leben nehmen.
Bei Neugeborenen und kleinen Kindern kann eher darüber
Zweifel sein, ob Zufall oder Absicht vorliegt. Durch Zufall kann
bei heimlicher Geburt in sehr kalten Räumen, wenn die Mutter
gleich nach der Entbindung in Ohnmacht oder anderweitig in Be¬
wusstlosigkeit verfiel, das nackte Kind, das eben den warmen
mütterlichen Schooss verlassen hatte, auf den kalten Boden liegen
bleibt, durch Erfrieren seinen Tod finden. (Caspar-Liman,
gerichtliche Medizin.) An Absicht kann man dagegen denken,
wenn man die in Lappen gehüllte Leiche unter dem Schnee
an einem einsamen Ort vorfindet. Doch beweist das Auffinden an
einem einsamen Ort noch nicht viel; denn da der Erdboden fest¬
gefroren ist, ist kaum eine andere Möglichkeit zum Verbergen der
Leiche gegeben, als dieselbe im Schnee zu verstecken. Mag das
Kind auch auf natürlichem Wege gestorben sein, und die Mutter
nur die Absicht gehabt haben, sich der Leiche zu entledigen. In
Russland pflegt man dieses Verhalten auch an Leichen Erwachsener
zu üben, dass man dieselben bei plötzlichen Todesfällen, um allen
langwierigen polizeilichen Nachforschungen zu entgehen, auf einem
Schlitten aus der Stadt in’s freie Feld hinausbringt und sie dort
in den Schnee wirft 8 )
Da bei den meisten Fällen von Erfrierungstod jede fremde
Schuld ausgeschlossen ist, kommen dieselben nicht zur gerichtlichen
Sektion, und ist daher eine gerichtsärztliche Statistik über die
Häufigkeit des Erfrierungstodes in Deutschland nicht möglich.
*) Wiener medizinische Wochenschrift 1857, Nr. 26.
*) Dieberg: Vierteljahrsschrift fUr gerichtl. Medizin, Band 25, Seite 309.
Dr. Mittenzweig: Zur Blutuntersuchung nach Katayama.
209
Zur Blutuntereuchung nach Katayama.
Ton Dr. Mittenzweig.
Die Untersuchungen von Blut auf seinen Gehalt an Kohlen¬
oxyd geben nach den gebräuchlichen Methoden der Spektralanalyse,
der Natronprobe und der Probe mit Palladiniumchlorür in einzelnen
Fällen von geringem Kohlenoxydgehalt kein sicheres Ergebniss.
Aus diesem Grunde hat sich die gerichtliche Medizin stets bestrebt,
neue Untersuchungsweisen zu erfinden, welche auch in solchen
schwierigen Fällen zu unanfechtbaren Resultaten führen. Wenn
dieses Ziel bisher auch noch nicht völlig erreicht ist, so leisten
doch die neueren Methoden nicht selten etwas recht Befriedigendes
und erscheint es mir als eine Pflicht der Praktiker, mit ihren Er¬
fahrungen in dieser Hinsicht nicht zurückzuhalten.
In nachstehendem Falle, der meinem Kollegen Long Vor¬
gelegen hat, ist dieser mit der Methode nach Katayama zu einem
positiven Gutachten gelangt, während ihm die gleichfalls ange¬
wandte Spektralanalyse und Natronprobe negative Resultate ergeben
hatten. Das betreffende Gutachten lautet: '
Am 22. Dezember fand die gerichtliche Obduktion der Leiche
des P. statt. Da der Verdacht vorlag, dass bei seinem Tode
Kohlenoxyd im Spiele gewesen sein dürfte, so wurde Blut bei der
Sektion in einem reinen Glasgefass zum Zwecke der chemischen
Untersuchung dem Obduzenten vom Richter übergeben. Dasselbe
war zum Theil mässig geronnen und hatte keine auffallende hell-
rothe, sondern eine dunkel kirschrothe Farbe.
Es wurden folgende Untersuchungen damit vorgenommen:
I. Ein Kubikzentimeter des Blutes wurde mit destillirtem
kaltem Wasser verdünnt, filtrirt und in Flaschen mit parallel
geschliffenen Wänden mit dem Spektral - Mikroskop in Schichten
von 1 Zentimeter Dicke untersucht. Im Farbenspectrum kamen
im Bereiche von Gelb und an der Grenze von Grün dunkle Streifen
zum Vorschein, von denen der Letztere der Breitere war.
Auf Zusatz von Schwefelammonium, welches auf seine Fähig¬
keit, den Sauerstoff auszuscheiden, an frischem Thierblute vorher
geprüft und als reduktionsfahig erkannt worden war, verschwanden
diese Bandstreifen, und in dem Raume zwischen ihnen kam ein
neuer Streiten zum Vorschein, welcher viel breiter war, als jeder
der verschwundenen Streifen.
II. Demnächst wurden 5 Tropfen des zu begutachtenden
Blutes nach dem Umrühren mit 10 Kubikzentimeter kalten destillir-
ten Wassers in einem Glaszylinder verdünnt, ohne sie zu schütteln.
Hierzu wurden sieben Tropfen Schwefelammonium und endlich
soviel Tropfen Essigsäure-Hydrat von 30°/ 0 hinzugethan, dass die
sehr behutsam gemischten Stoffe blaues Lakmuspapier schwach
rötheten.
Es fiel Schwefel von grauweisser Farbe aus, und
die Flüssigkeit hatte im Filtrat eineblassrotheFarbe. Etwas
Trübung blieb vorhanden.
210
Ans 4a» Beichetag*: Din 1. taflmg des Gnaefcaeatwurfes
m. EiptdMcb wujde ehemisch reine Natronlauge von 1,3
spezifischem Gewicht in einer weissen Porzellanschale dem Blute
zugesetzt.
Die sich bildende geronnene Masse blieb wohl eine Weile in
dünner Schicht hellroth, wurde jedoch allmählich fast ganz grau¬
bräunlich.
Mehrfach wiederholte Proben ergaben jedesmal dasselbe
Resultat.
Die sub II nach Katayama ausgeführte Untersuchung wurde
endlich unter Zuhilfenahme des Spektral-Mikroskops fortgesetzt.
Im Farbenspectrum sah man drei dunkle Streifen. Der
Streifen nahe dem Roth war der schmälste, jedoch der deutlichste^
die anderen beiden befanden sich nach dem Grün zu.
Es hatte also nur die Methode sub II nach Katayama einen
sicheren Beweis für den Gehalt des Blutes an Kohlenoxyd ergeben.
Denn wäre kein Kohlenoxyd im Blute gewesen, so hätte sich
unter Zusatz von gelbem Schwefelammonium und Essigsäure ein
schmutzig-graugrüner Farbenton eingestellt, und im Farbenspectrum
hätten sich nicht 3, sondern 2 Streifen gezeigt.
Wenn nun auch die Spektralanalyse nach I und die Natron¬
probe nach DI negative oder zweifelhafte Resultate ergeben haben,
so hat doch die Probe II nach Katayama mit Sicherheit das Vor¬
handensein von Kohlenoxyd in dem Blute nachweisen lassen.
Aus dem,Reichstage: Die erste Lesung des Gesetzentwurfes
betreffend die Bekämpfung ansteckender Krankheiten.
Am 21. und 22. v. M. hat die erste Lesung des Reichs¬
seuchengesetzes im Reichstage stattgefunden. Von allen Parteien
wilrde die NothWendigkeit des Erlasses eines derartigen Gesetzes
im Allgemeinen anerkannt, die Mehrzahl der Redner erklärte sich
auch mit der durch den Bundesrath vorgenommenen Einschränkung
des Gesetzentwurfes 1 ) auf Cholera, Pocken, Fleckfieber, Pest und
gelbes Fieber einverstanden, einzelne Redner hätten sogar lieber
gesehen, wenn das Gesetz nur auf die Cholera beschränkt geblieben
*) Die hauptsächlichsten Aenderungen, welche der Entwurf durch Beschluss
des Bundesr&thes erfahren hat, sind folgende:
1. An Stelle des Wortes „Ortspolizeibehörde“ ist überall „Polizeibehörde
gesetzt.
2. Im §. 1 ist die Bestimmung, dass jede Erkrankung an Darmtyphus,
Diphtherie, einschliesslich Krupp, Rückfallfieber, Ruhr, (Dysenterie)
und Scharlach zur Anzeige gebracht werden soll, ebenso in Fortfall gebracht
wie die im §. 3 vorgesehene Anzeige bei Erkrankungen an Wochenbettfieber.
3. Die im §.4 getroffene Bestimmung, dass bei Erkrankungen an Cholera,
Pocken, Fleckfieber, Gelbfieber und Pest die Anzeige auch an den beamteten
Arzt zu erstatten sei, ist gestrichen.
4. Im §. 2 sind von den zur Anzeige verpflichten Personen die nnter
Nr. 4 und 5 aufgeführten grossjährigen Familienmitglieder des Hausbaltes oder
sonstigen Haushaltsgenossen gestrichen.
6. Im §. 12 heisst es jetzt statt „kranke und verdächtige“ Personen:
betreffend die Bekämpfung gemdngefÄhriichdr Krtakheffcfen. 211
wäre, von verschiedenen Rednern wurde dagegen eine Ausdehnung
desselben auch auf die übrigen in Deutschland heimischen anstecken¬
den Krankheiten für nothwendig erachtet. Von konservativer Seite
wurde ebenso wie von Seiten des Zentrums dem Bedenken Aus¬
druck gegeben, dass durch das Gesetz dem Reiche neue Kompe¬
tenzen auf Kosten der Einzelstaaten gegeben würden, während
von anderer Seite die dem Reiche im Gesetze eingeräumten Be¬
fugnisse als nicht weit genug gehend bezeichnet wurden und in¬
sonderheit die Errichtung eines Reichsgesundheitsrathes mit Freuden
begrüsst wurde. Auch die Frage der Anzeigepflicht der Kur¬
pfuscher wurde lebhaft erörtert und zwar von der Mehrzahl der
Redner im Sinne des Gesetzentwurfes.
Die in dem Gesetze vorgesehenen Schutzmassregeln wurdeh
von mehreren Rednern besonders in Bezug auf die vorgesehe¬
nen Beschränkungen des Verkehrs, auf die zwangsweise Unter-
briugungvon kranken und verdächtigen Personen in Krankenhäusern,
auf die Bekanntmachungen der einzelnen Erkrankungsfälle u. s. w.
als zuweit gehend erklärt; desgleichen machten sich gegen die
den beamteten Aerzten im Gesetz gegebenen Befugnisse Bedenken
geltend, die jedoch von anderer Seite als völlig ungerechtfertigt
widerlegt wurden. Fast einstimmig war man aber der Ansicht, dass,
wenn die Bestimmungen des Gesetzes nicht auf dem Papier stehen
bleiben sollten, die Stellung der beamteten Aerzte in den meisten
deutschen Bundesstaaten einer gründlichen Reform unterzogen
werden müsste.
Die Einzelheiten der Berathung ergeben sich aus dem nach¬
stehenden Berichte; erwähnt sei nur noch, dass von einigen
Rednern auch die Frage der Begräbnissplätze, der Feuerbestat¬
tung und der obligatorischen Leichenschau gestreift wurde.
Abg. von Holleuffer (deutseb-kons.): Das Gesetz ist ein Gelegen¬
heitsgesetz, hervorgerufen durch die vorjährige Choleraepidemie. Es wäre daher
weit richtiger gewesen, sich auf diese Krankheit zu beschränken, da man dann
besser in der Lage gewesen wäre, präzisere Vorschriften zu geben. Auch poli¬
tische Gründe sprechen für eine derartige Einschränkung, denn nicht jeder Reichs¬
tagsabgeordnete sei geneigt, die Kompetenz des Reiches auf Kosten der Einzel¬
staaten zu verstärken. Betreffs der Anzeigepflicht ist Redner der Ansicht,
dass dieselbe in erster Linie dem Haushaltungsvorstande und erst in zweiter
„Kranke, krankheits- oder ansteckungsverdächtige“ Personen können
einer Beobachtung unterworfen u. s. w.
6. Die Vorschriften bei Ausbreitung einer übertragbaren Augenkrank¬
heit (§. 21 des Entwurfs) sind gestrichen.
7. Im §. 24 ist von einem Verbote des Einlasses von Seeschiffen Ab¬
stand genommen und der Einlass derselben nur von der Erfüllung gesundheits-
polizeiUcher Vorschriften abhängig gemacht.
8. Entschädigungen sollen nur für Gegenstände gewährt werden, die durch
die polizeilich angeordnete und überwachte Desinfektion vernichtet oder so
geschädigt sind, dass sie in ihrer bisherigen Art nicht mehr ver¬
wendet werden können. Ausserdem erfolgt die Entschädigung nur auf
Antrag.
9. ln den Strafvorschriften (§. 43 Abs. 3) ist ein Zusatz gemacht, dass
such in den Fällen, wo bei wissentlicher Verletzung der betreffenden Vorschrif¬
ten ein Dritter von der Krankheit ergriffen ist, die Möglichkeit mildernder Um¬
stände zugelassen und die Strafe dann bis auf eine Woche Gefängniss erniedrigt
werden kann.
212
Ans dem Reichstage: Die 1. Lesung des Gesetzentwurfes
Linie dem Arzte oder den Krankenpflegern anfzneriegen sei; die Knrpfnscher
sind nach seiner Ansicht aber ebenso wie die Aerzte anzeigepflichtig za machen.
Die in dem Gesetzentwürfe dem beamteten Arzte eingeränmten Befugnisse be¬
zeichnet Redner als zu weitgehend und als Misstrauensvotum gegen den prak¬
tischen Arzt; ein Eingreifen des beamteten Arztes sollte nur in den Erkran¬
kungsfällen zulässig sein, in denen ein Arzt überhaupt nicht zugezogen sei
Auch die Bestimmung, dass schon bei jedem einzelnen Krankheitsfalle eine
öffentliche Bekanntmachung stattfinden solle, sei zn weitgehend. Redner bedauert
zum Schluss noch, dass in dem Gesetze keine Bestimmung über die Anlegung von
Begräbnissplätzen vorhanden sei und glaubt, dass die jetzt bestehenden Mängel
in Bezug auf die Abwehr ansteckender Krankheiten hauptsächlich auf das Fehlen
eines einheitlichen deutschen Medizinalwesens zurückzuführen seien.
Staatssekretär des Innern Dr. v. Boetticher: Ein Reichsseuchengesetz
erfülle nur dann seinen Zweck, wenn es auf irgend welche zur Zeit noch nicht
ausgetragene wissenschaftliche Streitfragen gar keine Rücksicht nehme, son¬
dern so eingerichtet sei, dass durch die in dem Gesetze vorgesehenen Massregeln
unter allen Umständen ein Erfolg sichergestellt würde, gleichgültig, ob man sich
auf vonPettenkofer’s lokalistischen, oder Koch’s kontagionistischenStand¬
punkt stellte. Der von dem Vorredner vertretenen Ansicht, dass man sich auf
die Cholera hätte beschränken solle, stehe die vielfach in der Presse zu Tage
getretene Ansicht gegenüber, dass das Gesetz noch viel zu eng gefasst sei. Nach
seiner Ansicht liege das Richtige in der Mitte; jedenfalls müsse aber ein Reichs¬
gesetz zur Abwehr ansteckender Krankheiten alle diejenigen Krankheiten treffen,
die wirklich eine Gefahr für weitere Kreise des Volkes in sich schliessen. Im
Herbst vorigen Jahres sei der Regierung von allen Seiten der Vorwurf gemacht,
dass man für das liebe Vieh wohl den Weg der Reichsgesetzgebung beschritten
habe, aber nicht für die Menschen. Jetzt sei man in dieser Hinsicht wieder
abgestumpfter und empfinde vornehmlich die Unbequemlichkeiten, die ein der¬
artiges Gesetz, das sich seinem Inhalte nach stets als Polizeigesetz charakte-
risire, nothwendiger Weise mit sich bringe. Die Kardinalfrage sei die, ob die
Bekämpfung der ansteckenden Krankheiten auch ferner der Landesgesetzgebung
überlassen oder ob das Reich auf diesem Gebiete der Gesetzgebung eingreifen
solle. Redner hofft, dass der Reichstag in letzterem Sinne entscheiden werde.
Wenn von dem Vorredner behauptet sei, dass die in dem Gesetze vorge¬
sehenen Beschränkungen zu weitgehende seien, so kann dem gegenüber nur
erwidert werden, dass keine derartige Vorschrift aufgenommen sei, die nicht
bereits in irgend einem deutschen Bundesstaate bestehe. Die Anzeigepflicht in
erster Linie dem Haushaltnngsvorstande aufzuerlegen, sei unzweckmässig, da es
vor allem darauf ankomme, von einem Sachverständigen besonders über die
ersten Erkrankungsfälle eine Anzeige zu erhalten. Selbstverständlich müsse dem
Arzte die Erfüllung der Anzeigepflicht durch Aushändigung von Postkarten, die
er nur auszufüllen brauche, thunlichst erleichtert werden. Die Kurpfuscher von
der Anzeigepflicht zu entbinden, würde von diesen als ein privilegium favorabile
betrachtet werden; ausserdem würden dann eine Anzahl Erkrankungsfälle nicht
zur Anzeige gelangen.
Dass den beamteten Aerzten den nichtbeamteten gegenüber im Gesetze eine
bevorzugte Stellung eingeräumt sei, kann Redner nicht zugeben. Eine Bekannt¬
machung der Krankheitsfälle solle nur dann eintreten, wenn ein sogenannter
Seuchenherd festgestellt sei. Eine Bestimmung über die Begräbnissfrage gehöre
endlich ebensowenig in den Rahmen des Gesetzes wie eine solche über eine ein¬
heitliche Gestaltung des Medizinalwesens; das Reich würde bei Regelung dieser
Fragen in die Kompetenz der Einzelstaaten eingreifen, wozu gar keine Veran¬
lassung vorliege.
Abg. Dr. Endemann (nationallib.): Die grossen Erwartungen, die man
auf den vorliegenden Gesetzentwurf gesetzt habe, seien leider nur im bescheide¬
nen Maasse erfüllt. Eine richtige Seuchengesetzgebung habe vor allem präventiv
zu wirken und ausserdem dafür zu sorgen, dass die Sanitätspolizei in sichere
Hände gelegt werde. Bedauerlich sei es, dass die Reichsregierung nicht vorher
die praktischen Aerzte gehört habe, und dass den Ausführungen über den Ge¬
setzentwurf nicht die bei der Berathung desselben von den medizinischen Sach¬
verständigen abgegebenen Gutachten beigefügt seien. Zu bedauern sei es ferner,
dass in dem Gesetzentwurf nicht auch die hauptsächlichsten einheimischen an¬
steckenden Krankheiten berücksichtigt seien. Vor allem sei es aber zur Durch-
betreffend die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten.
213
fflhrang dea Gesetzes nöthig, dass speziell in Prenssen die beamteten Aerzte eine
andere, unabhängigere Stellung erhalten mit ausgiebigem Gehalte und ent¬
sprechenden Vollmachten.
Staatssekretär von Boetticher weist den Vorwurf, dass die Aerzte
nicht gehört seien, als ungerechtfertigt zurück; denn zur Vorberathung des Ent¬
wurfes seien sämmtliche ärztlichen ausserordentlichen Mitglieder des Kaiserlichen
Gesundheitsamts als Sachverständige zugezogen worden. Besondere schriftliche
Gutachten seien von diesen Sachverständigen allerdings nicht eingefordert und
könnten daher aueh nicht vorgelegt werden. Redner bittet dann nochmals, den
Gedanken einer Reichsmedizinalreform bei Berathung des vorliegenden Gesetzes
fallen zu lassen, da die Verabschiedung des Gesetzes dadurch nur erschwert würde.
Abg. Graf zu Stollberg-Wernigerode (deutsch-konserv.) ist der
Ansicht, dass es, wenn man sich auf einen prinzipiellen Standpunkt stelle, rich¬
tiger sei, nicht nur die Cholera, sondern alle anderen ansteckenden Krankheiten
in das Gesetz aufzunehmen; unter den obwaltenden Verhältnissen scheine es aber
praktischer zu sein, sich auf die Cholera zu beschränken, da dann der Wider¬
stand gegen das Gesetz auch ein weit geringerer sein würde. Redner berührt
dann die Frage der Anlage von Begräbnissplätzen und bezeichnet die gesetzliche
Regelung derselben als ein dringendes Bedürfniss besonders auf dem Lande.
Der Ansicht des Vorredners in Bezug auf die Nothwendigkeit von Präventiv-
massregeln stimme er vollständig bei.
Abg. Fritzen (Centrum) kann dem Vorredner nicht darin beistimmen,
dass die Frage der Kirchhöfe von Reichswegen geregelt werde, sondern ist der
Ansicht, dass dies der Landesgesetzgebung zu überlassen sei. Auch dem
Wunsche, von Reichswegen eine grosse Medizinalreform eintreten zu lassen,
kann er sich nicht anschliessen, da ein solches Verfahren einen Eingriff in die
Rechte der Einzelstaaten bedeuten würde, der ohne zwingende Gründe weder
nothwendig noch rathsam sei. Die dem Bundesrathe im §. 1 des Gesetzes
gegebene Blankovollmacht., die Bestimmungen des Gesetzes auch auf andere
ansteckende Krankheiten auszudehnen, geht nach Ansicht des Redners zu weit;
auch vermisse er eine Bestimmung hei Meinungsverschiedenheiten zwischen dem
beamteten und dem behandelnden Arzte. Ebenso hält er verschiedene Schutz-
massregeln für zu weit gehend, speziell die zwangsweise Ueberführung von
Kranken und Verdächtigen in ein Krankenhaus; eine solche Massregel dürfe
nach seiner Ansicht nur mit Genehmigung des Kranken selbst und seiner Familie
zulässig sein.
Abg. Dr. Virchow (deutschfreis.) hält es zwar für wünschenswerth,
wenn in den Kreis des Gesetzes auch einzelne einheimische ansteckende Krank¬
heiten wie Scharlach und Diphtherie hineingezogen würden, glaubt aber, dass es
zweckmässig sei, sich zunächst auf die wichtigsten pandemischen Krankheiten zu
beschränken, um das Zustandekommen des Gesetzes nicht zu gefährden. Der
Hauptmangel in der Bekämpfung der Seuchen bestehe darin, dass das Reich
keine Exekutivgewalt habe, es müsse daher in der Kommission versucht werden,
den neuen Reichsgesundheitsrath mit einer grösseren Exekutivgewalt auszu¬
statten, als dies im Entwürfe vorgesehen sei. Mit Rücksicht darauf, dass es
kein sichereres Mittel zur Zerstörung der Ansteckungsstoffe gebe, als die Hitze,
müsse auch die Einführung der Feuerbestattung, wenigstens die fakul¬
tative, als Schutzmassregel gegen die Weiterverbreitung ansteckender Krank¬
heiten in ernste Erwägung gezogen werden. Zum Schluss geht Redner noch
näher auf die Stellung der Medizinalbeamten ein und fordert, dass
diese besser gestellt werden, damit sie sich in ganz anderer Weise als bisher
den Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege widmen können und überall,
ohne Rücksicht auf Privatinteressen, eingreifen, wo es im öffentlichen sanitären
Interesse nothwendig erscheint.
Abg. Frh. von Unruhe-Bomst (Reichspartei) ist der Ansicht, dass,
wenn überhaupt das Reich die Regelung des Verfahrens bei Bekämpfung der
ansteckenden Krankheiten in die Hand nehmen wolle, das Gesetz dann sich nicht
nur auf die Cholera, sondern auch auf diejenigen Volksseuchen zu erstrecken
habe, die alljährlich, wie Darmtyphus und Diphtherie, viele Opfer forderten.
Zum Mindesten hätte man bei diesen Krankheiten die Anzeigepflicht vorschreiben
sollen. Dass diese in erster Linie den Aerzten auferlegt sei, sei durchaus ge¬
rechtfertigt und auch gar nicht schwer durchführbar, wenn den Aerzten, wie
dies bereits in seinem Kreise geschehe, Meldekarten mit Freimarken unentgelt-
214
Ans dem Reichstage: Die 1. Lesung des Gesetzentwurfes
Kch rar Verfügung gestellt würden. Dagegen sei es nicht nothwendig, auch
das Pflegepersonal zur Anzeige zu verpflichten. Redner hofft, dass durch
die reichsgesetzliche Regelung der Frage den Polizeibehörden die Möglichkeit
genommen wurde, durch allerhand unnöthige unvernünftige Schutzmassregeln
die Bevölkerung zu belästigen und den Verkehr zu schädigen, wie dies im Vor¬
jahre vielfach geschehen sei. Das Hauptgewicht lege er auf den §. 32 und die
Anordnung allgemeiner gesundheitlicher Massregeln; denn in Bezug auf Wasser¬
versorgung, Beseitigung der Abfallstoffe u. s. w. sei sowohl auf dem Lande, als
in den Städten noch vieles nachzuholen. Ganz besonders freudig begrüsse er
den Gedanken der Einführung eines Reichsgesundheitsratbes und die Bestimmung,
dass derselbe nicht blos aus Medizinal- und Verwaltungsbeamten, sondern auch
ans anderen, auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege praktisch er¬
fahrenen und bewährten Männern bestehen soll.
Abg. Dr. Rzepnikowski (Pole): Eine sacligemässe Anzeige ist nur
von dem Arzte zu erwarten und daher nur diesem die Anzeigepflicht aufraer-
legen. Die in dem Gesetze vorgesehenen Absperrnngsmassregeln gehen viel ra
weit; besonders mit Rücksicht darauf, dass ein grosser Erfolg von denselben
doch nicht zu erwarten sei. Ausserdem können sie leicht durch übergrossen
Eifer nnd Unverständnis der Polizeiorgane zu bedenklichen Missgriffen Ver¬
anlassung geben. Redner ist ferner der Ansicht, dass den praktischen Aerzten
im Gesetze eine untergeordnete Stellung den beamteten Aerzten gegenüber
ragewiesen werde, wodurch das bei dem Kampf gegen ansteckende Krankheiten
unbedingt nothwendige harmonische ärztliche Zusammenwirken beeinträch¬
tigt werde.
Abg. Wurm (Sozialdemokrat): Ein Einschreiten von Reichswegen gegen
die auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege in einzelnen Gemeinden
nnd Staaten bestehende Misswirtschaft sei dringend geboten; in dem Gesetze
sei aber von einem kräftigen Eingreifen der Behörden nichts zu spüren. In den
Vorschriften sei stets nur von einem „kann“, aber niemals von einem „soll“
nnd „muss“ die Rede; auch der Reichsgesundheitsrath sei eine reine Dekorations-
flgur. Der Erlass allgemeiner Vorschriften gegen ansteckende Krankheiten sei
dringend nothwendig, aber nicht nur gegen die im Gesetz erwähnten Krank¬
heiten, sondern auch gegen die übrigen hauptsächlich das Volkswohl bedrohenden
endemischen Krankheiten. Auch nehme der Gesetzentwurf auf die Ursachen der
Krankheiten, auf die Beseitigung der sozialen Missstände zu wenig Rücksicht.
Die Vorlage arbeite mit zwei Klassen von Aerzten, den behandelnden und den
beamteten, von denen die ersteren durch die letzteren bevormundet würden,
richtiger wäre es, sämmtliche Aerzte zu Staatsbeamten zu machen. Desgleichen
fehlten in dem Gesetze Bestimmungen, durch die den Angehörigen von Aerzten
eine Entschädigung gesichert würde, falls diese bei Epidemien durch Anstecknng
ihr Leben einbüssten; diese Bestimmungen seien aber nicht nur auf die Aerzte,
sondern auch auf Desinfektoren n. s. w. anszudebnen.
Die zwangsweise Fortschaffung der Kranken aus ihrer Wohnung sei nicht
gerechtfertigt, man solle lieber die Gesunden aus der Wohnung entfernen nnd
vor allem in epidemiefreien Zeiten für gesunde Wohnungen Sorge tragen.
Gerade die vorjährige Cholera-Epidemie in Hambnrg habe gezeigt, wie wenig
in Bezug auf die Beseitigung sanitärer Missstände in grösseren Städten geschehe.
Vor 20 Jahren habe dort bereits das Medizinalkollegium erklärt, dass Ais
Leitungswasser zum Trinken nicht mehr unbedenklich sei, trotzdem sei erst im
Jahre 1890 mit einer Verbesserung der Wasserleitung begonnen. Das Gesetz
müsse dem Reiche die nothwendigen Machtmittel nnd Exekutive geben, um die
für erforderlich erachteten sanitären Massnahmen durchzuführen, sonst bliebe
alles beim Alten, ebenso wie es bisher nicht gelungen sei, den Widerstand der
Einzelregierungen gegen die Einführung der Leichenverbrennnng zu beseitigen.
Vor allem sei aber durch Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung, durch Besse¬
rung der Lebens- und Wohnungsverhältnisse der Arbeiter den Volkssenchen der
Boden zu nehmen; denn gerade die Arbeiterquartiere mit ihrer körperlich nnd
gesundheitlich geschwächten Bevölkerung würden von den ansteckenden Krank¬
heiten am meisten heimgesucht.
Hamburgischer Bevollmächtigter zum Bundesrath Senator Dr. Bnrchard
weist die Vorwürfe des Vorredners in Bezug a*f die schlechten Wohnnngs- und
Wasserverhältnisse in Hamburg als völlig ungerechtfertigt zurück. Er grabt
allerdings zu, dass, wenn die Sandfiltration im Vorjahre bereits vollendet ge-
betreffend die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 215
wesen wäre, die Cholera nicht eine solche Ausbreitung in Hamburg genommen
haben würde; betreffs der Verzögerung der Wasserleitung treffe aber der Stadt
Hamburg keine Schuld. In Bezug auf die Verbesserung der Wohnungsverhält¬
nisse sei bereits eine neue Baupolizeiordnung und insonderheit schärfere Mass-
regeln in Bezug auf die zulässige Bebftuung, auf die rücksichtslose Ausbeutung
des Grund und Bodens in Aussicht genommen. Man müsse jedoch immer in Er¬
wägung ziehen, dass sehr viele sanitäre Missstände in den Wohnungen auf deren
gesundheitswidrige Benutzung zurückzuführen seien. Zum Schluss spricht Redner
noch der Reichsregierung und den Organen derselben für ihre bereitwillige Un¬
terstützung während der Choleraepidemie den herzlichsten Dank aus, ebenso wie
allen denjenigen im In- und Auslande, die durch hochherzige reiche Gaben ihre
Opferwilligkeit zur Linderung der durch die Cholera über Hamburg gekommenen
Noth bethätigt haben.
Abg. Dr. Langerhans (deutschfreis.): Das mit grosser Sauberkeit und
Korrektheit ausgearbeitete Gesetz werde von ihm mit Sympathie begrüsst, schon
mit Rücksicht darauf, dass durch dasselbe der Weg zu einer einheitlichen Medi¬
zinalreform in den einzelnen Staaten geebnet und insonderheit eine bessere Stel¬
lung der viel zu schlecht bezahlten beamteten Aerzte herbeigeführt würde. Auch
die Einrichtung eines Reichsgesundheitsraths sei sehr zweckmässig, nur müsse
dessen Kompetenz näher präzisirt und erweitert werden. Die Ausdehnung der
Anzeigepflicht auf die Kurpfuscher, Krankenpfleger u. s. w. halte er für einen
Fehler; neben den Aerzten sollten nur die Haushaltungsvorstände anzeigepflichtig
gemacht werden. Dringend wünschenswerth, auch mit Rücksicht auf die Abwehr
der Volksseuchen, sei die Einführung einer obligatorischen Leichenschau.
Die Ansicht, dass der Arzt durch die Vorschriften des Gesetzes in seiner
Stellung und in seinem Ansehen dem beamteten Arzte gegenüber beeinträchtigt
würde, kann Redner nicht theilen. Auch die Aufnahme von Scharlach, Typhus,
Diphtherie u. s. w. in das Gesetz hält er nicht für nöthig, da diese Krankheiten
nur lokale Bedeutung hätten und ihre Bekämpfung den Einzelstaaten überlassen
bleiben könnte. Ebenso erscheinen ihm die im Gesetz vorgesehenon Ausnahme¬
bestimmungen für die Eisenbahnbeamten nicht begründet.
Staatssekretär Dr. v. Bötticher widerlegt zunächst die von dem Vor¬
redner gemachte Einwendung betreffs der Exemption der Eisenbahnbeamten, die
durch die im Vorjahre gemachten Erfahrungen sich als unbedingt nothwendig
herausgestellt habe. Ob die Kompetenz des Reichsgesundheitsrathes noch näher
präzisirt und erweitert werden müsse, darüber zu verhandeln, würden die Kom¬
missionsverhandlungen hinreichend Gelegenheit geben. Redner betont dann noch
besonders, dass die äussere Stellung und Wirksamkeit der Aerzte durch diesen
Gesetzentwurf ebensowenig geändert oder herabgewürdigt werde, wie durch
die Krankenkassengesetzgebung. Die Ursachen der Klagen der Aerzte lägen in
ganz anderen Umständen, und zwar besonders in dem Umstand, dass der Zu¬
drang der Aerzte zu den grossen Städten ein ganz enormer sei. Auch die Be¬
fürchtung, dass der behandelnde Arzt dem beamteten Arzt gegenüber zurück-
gesetzt werde, sei völlig ungerechtfertigt; desgleichen könnten Streitigkeiten
zwischen dem behandelnden und beamteten Arzte nicht Vorkommen, da der letz¬
tere mit der Behandlung des Kranken gar nichts zu thun, sondern nur diejenigen
Massregeln anzuordnen habe, die zur Verhinderung einer weiteren Ausbreitung
der Seuche erforderlich seien. Dem mehrfach laut gewordenen Wunsche einer
Reichsmedizinalreform gegenüber könne nur wiederholt werden, dass das Reich
keine organisatorischen Einrichtungen zu treffen habe, die viel besser und sach¬
kundiger innerhalb der einzelnen Bundesstaaten getroffen werden könnten.
Abg. Dr. Höffel (Reichspartei) bedauert, dass der Gesetzentwurf sich
nur auf nicht in Deutschland heimische ansteckende Krankheiten beschränke
und dass man der Kompetenz der Einzelstaaten soviel als möglich überlassen habe;
denn das Bedürfnis einer für das ganze Reich einheitlichen Epidemiepolizei
mache sich immer mehr geltend. In dem Gesetze sei ferner der polizeiliche
Wejf zur Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten zu scharf, derjenige zur
hygienischen Verhütung derselben zu wenig berücksichtigt. Behufs der Anzeige¬
pflicht brächte der Entwurf nichts Neues gegenüber den in den meisten deut¬
schen Bundesstaaten bestehenden Vorschriften; zu bedauern sei, dass nicht auch
die reichsgesetzlicbc Regelung einer allgemeinen obligatorischen Leichenschau
vorgesehen sei. Der Vorwurf, dass durch die Stellung, welche die Vorlage den
beamteten Aerzten zuweise, dem behandelnden Arzte ein Misstrauensvotum
216 Aus d. Reichstage: Die 1. Lesung des Gesetzentwurfes betr. d. Bekämpfung etc»
gegeben werde, sei völlig ungerechtfertigt. Statt der Einrichtung einer neuen
Körperschaft, des Reichsgesundheitsrathes, hätte man besser das Gesundheitsamt
mit grösserer initiativer und exekutiver Macht ausstatten sollen.
Abg. Molkenbuhr (Sozialdemokrat): Das Reich habe die Pflicht, für
die Gesundheit der Einwohner zu sorgen; in dem vorliegenden Gesetze sei aber
z. B. die Wohnungsfrage gar nicht berührt. Nicht nur in Hamburg, sondern
auch in anderen Städten seien die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter sehr
schlechte und einer Abhülfe dringend bedürftig. Eine solche Abhülfe sei aber
nicht durch die Landesgesetzgebung, sondern nur auf reichsgesetzlichem Wege
zu erreichen. Auch die Stellung der Medizinalbeamten sei keine derartige, dass
man von diesen Beamten ein energisches Eingreifen erwarten könne, da die¬
selben in erster Linie darauf angewiesen seien, als Aerzte ihr Brod zu ver¬
dienen und in Folge dessen keine Zeit hätten, ihre Aufmerksamkeit der allge¬
meinen Gesundheitspflege zu widmen. Hier sei eine Reform unbedingt erforder¬
lich. Vor allem sei durch ein Reicbsgesetz festzusetzen, wieviel Räume für
jeden Bewohner in einem zu vermiethenden Raum vorhanden sein müssen, dass
überall für gesundes Trinkwasser und möglichste Reinlichkeit zu sorgen sei
und dass alle diese gesundheitlichen Massnahmen durch unabhängige Sach¬
verständige überwacht werden müssen.
Hamburgischer Bevollmächtigter zum Buudesrath, Senator Dr. Burchard
erwidert hierauf, dass Senat und Bürgerschaft der Stadt Hamburg vollständig
eins seien in dem Bestreben, denjenigen Mängeln, die sich im vorigen Jahre her¬
ausgestellt hätten, ein Ende zu machen.
Abg. Schräder (deutschfreis.) erkennt an, dass auf dem Gebiete der
öffentlichen Gesundheitspflege viele Unterlassungssünden begangen seien, beson¬
ders in Bezug auf die Wohnungsfrage. Er begrüsse daher das Gesetz als ersten
Anfang einer ernsten Inangriffnahme gesundheitlicher Massregeln, und wenn auch
bei dieser Gelegenheit die Frage der Medizinalreform nicht erledigt werden könne,
so sei es doch äusserst wünsehenswerth, dass diese demnächst von Reichswegen
in die Hand genommen würde. Jedenfalls sei das Reich dazu nach §. 4 der
Reichsverfassung völlig berechtigt. Eine Erweiterung der Aufsicht des Reiches
über das Medizinalwesen sei ebenso nöthig, wie die Fürsorge dafür, dass die
Medizinaleinrichtungen in den einzelnen Bundesstaaten den gesundheitlichen An¬
forderungen entsprechen und dass für jeden Bezirk von einer gewissen Grösse
ein ärztlicher Sachverständiger als Sanitätsbeamter angestellt werde. Unbegreif¬
lich seien die Beschwerden der Aerzte über das Gesetz wie über die sozialpoli¬
tische Gesetzgebung. Durch die letztere sei die Thätigkcit der Aerzte und ihr
Einkommen erheblich vermehrt; allerdings sei durch diese Gesetze eine unwürdige
Konkurrenz hervorgerufen, durch die sich der ärztliche Stand sehr geschadet habe.
Ob es richtig sei, neben dem Reichsgesundheitsamte noch eine zweite tech¬
nische Behörde, den Reichsgesundheitsrath, einzurichten, wurde vom Redner
bezweifelt; seiner Ansicht nach würde es zweckmässiger sein, die Kompetenzen
des Reichsgesundheitsamtes zu erweitern, als diese Behörde jetzt gleichsam in
einer Versenkung verschwinden zu lassen.
Staatssekretär Dr. von Bötticher widerlegt die Bedenken des Vorred¬
ners gegen den Reichsgesundheitsrath, durch den das Reichsgesundheitsamt weder
degradirt noch eliminirt werde. Der Gesundheitsrath würde vom Reichskanzler
ebenso abhängig, wie alle anderen Behörden sein; ihm als technische Behörde
Exekutivgewalt beizulegen, sei nicht empfehlenswerth.
Der Gesetzentwurf wurde schliesslich an eine Kommission
von 21 Mitgliedern überwiesen. Vorsitzender dieser Kommission
ist Graf von Hompesch, Stellvertreter desselben Dr. Langer-
hans, als Schriftführer fungiren Dr. Endemann und von
Holleufer.
Es möge hier noch bemerkt werden, dass die Verhandlungen
des Preussischen Medizinalbeamtenvereins über das Reichsseuchen¬
gesetz dem Beschlüsse der Generalversammlung gemäss sämmt-
Uchen Mitgliedern des Bundesrathes und des Reichstages zuge¬
stellt sind.
Kleinere Mittheilungen und Referate aas Zeitschriften.
217
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
A. Gerichtliche Medizin.
In das Berliner Leichenschanhaus eingelieferte Leichen pro Ok¬
tober, November, Dezember 1892 und Jannar, Februar, März 1893.
Monat
Zur Morgue 1
Männer 1
Frauen
Kinder
Neugeborene 1
5
O
Beerdigt f
| Erstochen ||
Erhängt |
Ertrunken ||
Erschossen ||
Vergiftet ||
durch Kohlen¬
dunst gestorb.
Erfroren ||
Verletzungen II
ohne Erseht essen] |
Unbekannte
Todesart
Innere
Krankheiten
Erstickt |
Verbrannt ||
Erdrosselt ||
| Summa ||
Oktob.
53
Bo;
9
7
2
4
17
_
12
—
9
3
2
_
_
6
5
11
4
i
_
53
Novbr.
57
37
8
8
4
—
19
i
14
1
3
2
—
—
7
6
16
7
—
—
57
Dezbr.
68
41
16
9
2
4
32
—
12
4
5
6
i
—
9
11
17
3
—
—
68
Jan.
75
44
13
15
3
2
34
—
9
3
3
7
i
4
6
17
17
5
8
—
75
Febr.
62
35
12
13
2
5
19
—
10
4
2
5
—
—
13
7
19
1
—
i
62
März
71
49
9
9
4
9
25
i
20
8
4
5
—
—
4
8
16
4
1
—
71
Die Bedeutung der Thymushypertrophie bei forensischen Sek¬
tionen. Von Dr. C. Seydel, ausserordentl. Professor und Pol.-Stadtphysikus.
Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin; III. Folge, V. Bd., 1. Heft 1893.
Ebenso wie man zur Zeit Uber die physiologische Funktion der normalen
Thymus noch im Unklaren ist, gehen die Meinungen Uber den ursächlichen Zu¬
sammenhang des Organs mit Respirationsstörnngen und daraus resultirenden
plötzlichen Todesfällen auseinander. Indessen ist nicht zu verkennen, dass man
von dem negirenden Standpunkte Friedleben’s, der einen Einfluss der Thymus
auf gefahrdrohende Ersticknngsanfälle Überhaupt leugnete, abgekommen ist und
dass man nach neueren Beobachtungen der Ansicht zuneigt, dass eine hyper¬
plastische Thymus sehr wohl Respiration und Zirkulation beeinflussen könne.
In den letzten Jahren haben u. A. Soltmann und Pott dem Gegenstände
ihre Aufmerksamkeit zugewandt; sie haben die sehr häufig tödtlich endigenden
Fälle von Laryngospasmns zusammengcstellt, bei denen Anomalien der Thymus¬
drüse beobachtet wurden. Verfasser führt einen von ihm beobachteten Fall aus
der forensischen Praxis an, bei welchem der Tod an Erstickung eines */t Jahr
alten Kindes durch die Obduktion konstatirt wurde, wobei aber sich nichts
ergeben hatte, woraus geschlossen werden konnte, dass diese Todesart gewalt¬
sam herbeigeftihrt worden wäre. Die Thymus war auffallend gross, 5 cm breit,
8 cm lang, 3*/* cm an der dicksten Stelle, so dass die Möglichkeit zugegeben
werden muss, dass der Tod durch Thyraushyperplasie erfolgt ist. Man wird
daher gut thun, bei Sektionen von plötzlich verstorbenen Kindern, bei welchen
die Sektion Erstickung ohne nachweisbare Schuld eines Dritten ergiebt, auf Ver¬
änderungen der Thymus zu achten, ganz besonders aber bei Kindern die nach¬
weislich an Respirationsstörungen und Laryngospasmus gelitten hatten.
Dr. Israel-Medcnau (Ostpr.).
Bedeutung der Zeichen für wiederholte Geburt. Von Kr.-Phys.
Dr. Schilling. Ebendaselbst.
Die bekannten Zeichen, welche bei der Diagnose der stattgehabten Geburt
charakteristisch erscheinen, sind theils dauernd, theils vorübergehend; sie lassen
sich ohne Zweifel bei der Konstatirung der ersten Geburt verwenden. Schwie¬
riger wird jedoch die Frage bei einer wiederholten Geburt. Die Beant¬
wortung der richterlichen Frage, ob eine verdächtige Person vor längerer oder
kürzerer Zeit geboren, lässt sich dann häufig nur mit Wahrscheinlichkeit beant¬
worten. Da die Kriterien bei der wiederholten Schwangerschaft sich niemals so
vollständig und deutlich ausprägen, wie bei der ersten, so wird man in zweifel¬
haften Fällen nicht allein den Zustand der Genitalien, Bauchdecken und des
Wochenflusses in Erwägung ziehen, sondern auch ganz besonders auf die Mammae
achten, deren Milchgehalt noch immer als das wichtigste Zeichen gilt. Dass
man auch beim Vorhandensein dieses Zeichens in der Beurtheilung des Falles
vorsichtig sein muss, lehrt die Erfahrung, da es auch Mädchen giebt, deren
218
Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften.
Brüste permanent Milch prodoziren, ohne dass eine Geburt vorausgegangen wäre.
Sehr lehrreich ist in dieser Hinsicht die Beobachtnng des Verfassers: Eine ver-
heirathete Frau war als des Kindesmordes verdächtig von ihm untersucht, und
da die Brüste reichlichen Milchgehalt zeigten, auch andere Symptome vorhanden
waren, die Frau als verdächtig in Untersuchungshaft eingeliefert worden. Dort
konnte nun Sch. durch seine Beobachtung, die fast 5 Monate umfasste, konsta-
tiren, dass die Milchdrüsen der Frau zweifellos beständig sezernirten, während
der Menstruation war ein stärkeres Turgesziren und stärkere Füllung der Brüste,
zwischen den Menses eine geringe Abnahme der Sekretion zu bemerken. Es
kommt also, wie Li man sagt, nicht nur bei Jungfern und Wittwen, die lange
nicht geboren haben, sondern auch bei verheiratheten Frauen, ohne dass sie
geboren haben, eine dauernde Milchsekretion vor. Ders.
Trauma und Infektion in ihrer beiderseitigen aetiologischen Be¬
deutung für die Meningitis in forensischer Beziehung. Von Dr. Arnstein.
Separat-Abdruck aus der Vierteljahrsschrift f. gcrichtl. Medizin u. öffentl. San.-
Wesen; 3. Folge, IV, 2.
Bei der Besprechung der Entzündung der Hirnhäute in gerichtlich - medi¬
zinischer Beziehung hat man es vorzugsweise mit den Entzündungen der weichen
Hirnhäute zu thun, da diejenigen der harten Hirnhaut forensisch von unterge¬
ordneter, sekundärer Bedeutung ist. Anatomisch lässt sich die traumatische
Meningitis mit Sicherheit nur von der tuberkulösen unterscheiden. Alle übrigen
eitrigen, spontanen Gehirnhautentzündungen bieten sowohl was die Natur und
die Menge des Exsudats, als auch die Verbreitung betrifft, kaum bemerkenswerthe
charakteristischen Unterschiede gegenüber der traumatischen Meningitis dar.
Vielleicht könnte man als Zeichen der letzten den Befund ansehen, dass der
Eiterungsprozess nicht in der ganzen Ausdehnung gleich stark ausgeprägt erscheint,
sondern immer an einer oder mehreren Stellen stärker ausgebildet ist und zwar
an denjenigen Punkten, von welchen der ProzesB seinen Ausgang genommen hat.
Findet man eine Entzündung der Pia vor, so hat man zur Beurtheilung, ob sie
eine traumatische ist, auf Läsionen der Schädelknochen, der benachbarten Weich-
theile und Schleimhäute zu achten. Der Befuud jeder auch noch so geringen
Kontinnitätstrennung ist wichtig, da durch sie die Möglichkeit des Luftzutritts
und des Eindringens der Infektionsträger gegeben ist. Es kommen hierfür in
Betracht: 1) perforirende Hiebwunden des Schädels, 2) Basisfrakturen, die durch
die Kommunikation der Fissuren mit Luft führenden Höhlen zu Eingangspforten
für die Infektionserreger werden, 3) isolirte Kontinuitätstrennungen der weichen
Schädeldecken. Auch hierdurch ist dem Eindringen der Entzündungserreger durch
die zahlreichen Blut- und Lymphbahnen, Santorinischen Emissarien Gelegenheit
geboten. Dagegen ist ein etwaiger kausaler Zusammenhang zwischen Meningitis
und Laesionen benachbarter Schleimhäute mit grosser Vorsicht aufzunehmen,
weil sich die meist winzigen Verletzungen nicht oder sehr schwer eruiren lassen,
und es sich nicht mit Sicherheit nachweisen lässt, dass die Entzündung wirklich
von ihnen den Ausgang genommen hat. Ebenso ist der Zusammenhang einer
Vorgefundenen Meningitis mit erschütternden Gewalteiuwirkungen, die den Schädel
mit grösserer oder geringerer Intensität ohne erkennbare Laesion treffen äusserst
fraglich. Eine Commotio cerebri allein kann nicht die Ursache einer Meningitis
sein, die Entstehung einer Meningitis ist nur dann möglich, wenn gleichzeitig
eine äussere oder innere Verletzung gesetzt worden ist. Bei geringfügigen
Misshandlungen aber hat man ganz besonders jedes Mal darauf zu achten, ob die
Meningitis nicht eine zufällige zeitliche Aufeinanderfolge der Misshandlung ist,
ob nicht vielmehr im Gehörorgan, in den Nebenhöhlen der Nase (Stirn-Keübein-
höhlen, Siebbcinlabyrinth) eine Eiterung, also ein ätiologisches Moment für die
Meningitis zu finden ist. Es resultirt demnach in solchen Fällen für den Gerichts¬
arzt die unabweisbare Verpflichtung, die oben genannten Höhlen auf das Genaueste
zu untersuchen. Ders.
B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Ueber eine die Nachweisung von Cholera-Vibrionen im Wasser
erleichternde Untersuchungsmethode. Von Dr. Poniklo. (Wiener Klin.
Wochenschrift; 1893, Nr. 14.)
Um auch spärliche Cholerabakterien im Wasser nachzuweisen, empfiehlt
Kleinere Mittheilungen und Beferate aus Zeitschriften. 219
Verfasser die von ihm erprobte Methode der Züchtung der Bakterien in mit dem
zu untersuchenden Wasser verdünnter Bouillon.
Ein Liter des verdächtigen Wassers wird in sterilem Kolben mit 10°/ o
steriler Bouillon der Art versetzt, dass die oberste Schicht der Mischung im
Halse des Kolbens sich befindet, wodurch die Berührungsfläche derselben mit der
Luft möglichst verkleinert wird. Nach 24stündigem Belassen im Thermostaten
wird alsdann das an der Oberfläche sich bildende Häutchen mittelst des Platten*
Verfahrens untersucht. In dieser Weise gelang auch bei weitfortgesetzter Verdün¬
nung des Cholerabakterien enthaltenden Wassers der Nachweis derselben leicht
(die so gewonnenen Kulturen zeigten die Choleraroth- Reaktion weit deutlicher
als die direkt aus Dejektionen gezüchteten Kulturen).
Ein ähnliches Verfahren wendet Löffler an (cfr. Deutsche med. Wochen¬
schrift Nr. 11, p. 263). Dr. Flatten-Wilhelmshaven.
Die Dauer der Verwesung in Gräbern lässt sich nach einem Berichte
von Brouardel and Du Mesnil (Annales d’hygiCne publique et de mCdicine
legale 1892, p. 29) wesentlich beschleunigen durch eine sachgemässe Drainirong
der Kirchhöfe. Dieses Urtheil stützt sich auf Versuche, welche in einem Gräber¬
terrain eines Friedhofes ausgeführt wurden, dessen Erdreich zumeist aus Thon
bestand und im Sommer nur in einer Tiefe bis zu 1,60 m, im Winter bis zu
0,6 m Tiefe trocken war. Die Mehrzahl der Leichen, welche ausgegraben
wurden standen im Grundwasser.
Etwa ein Jahr nach der Drainirung wurden die ersten dort beerdigten
Leichen exhumirt. Obschon dieselben nicht ganz ein Jahr unter der Erde ge¬
legen batten, waren sie ganz erheblich weiter in.der Verwesung fortgeschritten
als eine Leiche, welche in dem nicht drainirten Theile des Kirchhofes schon fünf
Jahre gelegen hatte. Ihre Organe waren grösstentheils kolliquirt, die Leichen
theilweise skelettirt, während die Leiche aus nicht drainirtem Boden völlig er¬
halten und Adipocirebildung eingegangen war. Die Vorgefundenen Unterschiede
zeigen sich in den von den Verfassern beigefügten Photographien in auffal¬
lender Deutlichkeit. Die gleichen Unterschiede konstatirten Verfasser an den
Kadavern von Hammeln, welche ebendort eingegraben waren. Ders.
Die Methoden der Fleischkonservirung. Von Stabsarzt Dr. Plagge
und Unterarzt Dr. Trapp. Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Militär-
Sanitätswesens. Berlin 1893. 130 S.
Seitdem Appeat im Jahre 1809 „die Kunst, alle thierischen und pflanz¬
lichen Nahrungsmittel mehrere Jahre geniessbar zu erhalten“ gelehrt hatte und
zwar durch Einkochen in Glasgefässen mit luftdichtem Verschluss, ist die Zahl
der Konservirungsmethoden fortwährend gestiegen; so sind allein in Deutschland
nnd drei anderen Hauptstaaten mehr denn 600 verschiedene Verfahren bei den
betreffenden Patentämtern angemeldet. Die Verfasser haben 664 Methoden über¬
sichtlich zusammengestellt und auf Grund besonderer in dem Laboratorium des
Friedrich Wilhelms-Institut angestellter Experimente und umfangreicher Lite¬
raturstudien einer kritischen Besprechung unterzogen. Sie kommen zu dem Er¬
gebnis, dass ein wesentlicher Fortschritt gegen frühere Zeiten — Räuchern
kannte man vor vielen Jahrhunderten und Pökeln schon zu Homer’s Zeiten —
nur für Büchsenkonserven erzielt ist, da diese den Anfordernngen, die man an
ein gutes Dauerpräparat stellen muss, ziemlich nahe kommen; alle übrigen Kon-
servirungsverfahren leiden an mehr oder minder erheblichen Mängeln, da weder
die Wasserentziehung noch die Abkühlung mit Eis, noch der Luftabschluss und
ebensowenig die Anwendung antiseptischer Mittel ein gebrauchsfähiges, d. h. in
dem Nährwerth, der Schmackhaftigkeit nnd dem Anschaffungspreis ein dem
frischen Fleisch annähernd gleichwertiges Produkt liefern.
Wer sich für das wichtige Problem der Fleischkonservirung interessirt,
wird in der mit vielem Fleiss zusammengestellten Arbeit hinreichende Belehrung
finden. Dr. Schubert-Saarbrücken.
Ueber die gesundheitlichen Nachtheile des Bewohnens feuchter
Wohnungen nnd deren Verhütung vom sanitätspolizeilichen Standpunkte.
Von Dr. Ascher, Kreiswundarzt in Bomst. Deutsche Vierteljahrsschrift für
öffentliche Gesundheitspflege, Bd. XXV, Heft 2, April 1893.
220 Kleinere Mittheilungen nnd Referate aus Zeitschriften.
Die Feuchtigkeit der Wohnungen ist ein ausserordentlich gesundheits¬
schädliches Moment, wenn auch kaum je direkte Krankheits-Ursache. Sie beein¬
trächtigt durch Verlegung der Poren der Wände mit Wasser die Ventilation
und entzieht unserem Körper Wärme, namentlich einseitig — Zug —. Wie
wichtig ersteres ist, geht aus Pettenkofer’s Beobachtungen hervor, der fest¬
gestellt hatte, dass trockene Wände einen Wohnranm völlig genügend ventiliren
können. Die Feuchtigkeit, namentlich die der Zwischendecken, des Fehlbodens,
begtlnstigt die Entwickelung von Mikroorganismen, so dass schon die Abhängig¬
keit von Erkrankungen von ganz bestimmten Ecken eines Zimmers nachgewiesen
werden konnte. Namentlich begünstigt die Feuchtigkeit die Entwickelung sapro-
phitischer Parasiten. Lehrreich ist ein Fall von Ungefug, der im Auswurf
von Kranken Sporen von Merulius lacrymans (Hausschwainm) nachwies.
Die grösste Feuchtigkeitsmenge kommt beim Neubau in das Haus; wird
die Wohnung vor völliger Austrocknung bezogen, so wird sie, da das Wasser
der Athmung und der häuslichen Verrichtungen durch die kalten und nassen
Wände nicht genügend abziehen kann, noch feuchter. Darum soll die Erlaubnis
zum Beziehen nicht eher gegeben worden, als bis sämmtliche Räume trocken sind.
Von grosser Wichtigkeit ist das Baumaterial, da die Wände durch ihre
Poren die Wohnungen ventiliren müssen. Am geeignetsten ist Ziegelstein mit
Mörtelverbindung, ungeeignet Kalkstein, Bruchstein, falls nicht eine hinreichende
Menge des porösen Mörtels die Ventilation besorgt. Wird nnporöses Material
genommen, so muss für künstliche Ventilation gesorgt werden, da sonst der
beim Bewohnen entwickelte Wasserdampf nicht abziehen kann und sich an den
Wänden niederseblägt.
Ein besonderer Schutz der Wände ist an der Wetterseite nöthig, derselbe
muss wasser- aber nicht luftdicht sein, am besten Ziegelsteine mit dachschuppen¬
förmig gestellten Schieferplatten oder Isolirmauern mit Ausfüllung durch Kiesel-
guhr oder reinen Sand, letzteres wegen der Gefahr der Hellhörigkeit.
Der innere wie der äussere Anstrich dürfen die Ventilation nicht auf-
heben. — Damit der Fehlboden nicht zu viel Feuchtigkeit erhält, muss der
Fussboden möglichst wasserdicht sein (Parkett, gefirnisste Dielen), in Küchen,
Baderäumen etc. Asphalt. Der Fussboden des Erdgeschosses muss 0,6 m über
dem Strassenniveau liegen, um nicht vom Strassenwasser befeuchtet zu werden.
Zar Füllung der Fehlböden darf nur unverdächtiges reines, trockenes Material
genommen werden.
Wo das Dach luftdicht ist, muss für künstliche Ventilation gesorgt werden
durch Dachreiter etc. Wichtig ist ferner die Ableitung des Tag-Wassers, so
dass es nicht wieder in das Haus gelangen kann, ebenso wichtig die Kontrole
über etwa vorhandene Küchenausgüsse. Die Zimmer dürfen nicht zu dicht be¬
legt sein, Schlafzimmer müssen im Winter zur Erhöhung der Ventilation
wenigstens etwas geheizt werden.
Am schwersten sind die Kellerräume trocken zu halten, da sie Wasser
von oben, unten und den Seiten erhalten und die Ventilation durch die Seiten-
wände nicht genügend stattfindet. Man hat daher, wo es irgend geht, Wohn-
keller ganz weggelassen. Auch zur Aufbewahrung von Vorräthcn kann man
geeignetere, ebenso billige Räume oberhalb des Erdbodens herstellen.
Um die Fecuhtigkeit von unten abzuhalten, muss der Keller 0,5 m über
dem höchsten Grundwasserstand liegen; sollte dies nicht möglich sein, so kann
man durch Drainage und eventuellen Anschluss an eine Kanalisationsanlage den
Stand des Grundwassers tiefer legen. Nothwcndig ist bei allen Häusern, auch
bei kellerlosen eine wasserdichte Gründung des Hauses, da der im Boden liegende
Theil eines Hauses das Wasser wie ein Docht in die oberen Theile saugt. —
Gegen die seitliche Feuchtigkeit schützt man Wohnkeller durch Isolirmauern,
welche auch für Ventilation sorgen, Vorrathskeller durch eine wasserdichte
Schicht an der Anssenseite des Fundamentes.
Ist einmal ein Haus feucht, so kann es nur sehr schwer trocken gemacht
und durch Isolirwände trocken gehalten werden. Oft bleibt nichts übrig, als
ein solches Haus einzureissen.
Es genügt aber nicht gute Häuser zu bauen, man muss sie auch verständig
benutzen; und darum sollten im Anschluss am die „Sanitäts - Kommissionen“
Spezial - Kommissionen — Wohnungsämter — gebildet werden, welche die
Wohnungen regelmässig kontroliren, dabei Miether wie Wirthe auf Schädlich-
Besprechungen. 221
keiten aufmerksam machen, eventuell mit Hülfe der Polizei deren Beseitigung
bewirken müssten.
Ein Reiehsbaugesetz wäre sehr zu wünschen, scheint aber noch in weiter
Feme zu liegen. Autoreferat.
Besprechungea
Dr. Ignatz Mair : Gerichtlich-medizinische Kasuistik der
Kunstfehler. Eine Sammlung der in der deutschen Literatur
veröffentlichten Fälle ärztlicher Unglücke und von Aerzten mit
Uebertretung ihrer Berufspflichten begangenen fahrlässigen
Tödtungen und Körperverletzungen. II. Abtheilung. Verlag
von Louis Heuser.
Die U. Abtheilung der Sammlung behandelt Antiseptik und Narkose.
Es gehört gewiss zu den schwierigen Aufgaben des begutachtenden Arztes zu ent¬
scheiden, wie weit bei Körperverletzungen die ärztliche Behandlung durch Nicht¬
anwendung der sog. antiseptischen Heilmethode an dem ungünstigen Verlaufe
der Wunden verantwortlich zu machen sei. Die Zeit dürfte wohl gekommen
sein, dass die Anklage eines Arztes wegen Versäumnisses einer gewissen Art
von Antiseptik, einer bestimmten Methode derselben, von dem Forum ver¬
schwindet; Uber die Prinzipien der sog. antiseptischen Methode und die Noth-
wendigkeit ihrer Anwendung wird der Arzt klar sein müssen und bei Unter¬
lassung derselben ist er eventuell verantwortlich zu machen. Einige Fälle Uber
medizinische Fahrlässigkeiten in der Wundbehandlung ergänzen die Ausführungen
des Verfassers.
In dem Abschnitte Uber Narkose werden die Wirkungen der Anaesthetika,
besonders des Chloroforms, die direkten und indirekten Todesursachen bei An¬
wendung derselben ausführlich geschildert. Es ist für den begutachtenden Arzt
eine grosse Erleichterung, der Anklage gegenüber die Qrenzen der Verantwort¬
lichkeit genau begründet zu finden.
_ Dr. Rump- Osnabaück.
Dr. theol. et phil. H. L Strack, Prof, der Theol. an der Universität
Berlin; Der Blutaberglaube in der Menschheit, Blut¬
morde und Blutritus. München 1892. C. H. Beck’sche
Verlagsbuchhandlung. 155 Seiten.
Es ist in der ärztlichen Welt im Allgemeinen nur wenig Brauch, sich
mit der Literatur der anderen Fakultäten zu beschäftigen; das verbietet sich
fast von selbst durch die anstrengende praktische Thätigkeit des Arztes und
durch die nur schwer zu bewältigende neue medizinische Literatur. Doch ist das
vorliegende, als wissenschaftliche Streitschrift geschriebene Buch, welches inner¬
halb zweier Jahre seine vierte Auflage erlebt, lür den Arzt, besonders für den
beamteten Arzt in unserer Zeit, welche künstlich Religionsgegensätze zu schaffen
sucht, nicht nur interessant, sondern seine Kenntniss durchaus erforderlich. Es
ist gleichsam ein Nachtrag zu den Handbüchern der gerichtlichen Medizin, da
es eine Summe geschichtlicher Thatsachen enthält, welche den Mord aus Aber¬
glauben, speziell den Blutmord betreffen. Wenn wir nach der stetig wachsen¬
den Kenntniss der eigenthümlichen physiologischen Funktionen des Blutes und
nach unseren heutigen Erfahrungen über Blutserumtherapie gewiss gern den
Satz unterschreiben, dass das Blut „ein ganz besonderer Saft“ ist, so werden
wir doch nimmermehr zugestehen, dass es bei sinnloser Anwendung übernatür¬
liche Kräfte zu wecken vermag, wie nach der Schilderung des Verfassers der
Blutaberglaube es annimmt.
Nachdem Verfasser in den ersten Kapiteln (1—IX) nachgewiesen hat,
wie bei den geschichtlichen Völkern dem Blute stets eine grosse Bedeutung an¬
gewiesen worden ist, besonders zur Bekräftigung des gegebenen Wortes und zu
ücilungszwecken, geht er näher ein (Kapitel X—XIII) auf den Blutaberglauben
222
Tagesüachrichten.
bei Verbrechern (Diebskerzen u. s. w.), auf „Blutmorde“, auf den Aberglauben
bei Wahnsinnigen, Verbrechen aus religiösem Wahnsinn und Menschenopfer
(„Blutritus“). Der zweite Theil (Kapitel XIV—XX) beschäftigt sich streng
sachlich mit der „Blutbeschuldigung“ des jüdischen Ritus und weist ihre völlige
Haltlosigkeit in überzeugender Weise nach.
So bietet das Büchlein des Wissenswerthen und des Anregenden die Fülle,
und seine Lektüre ist wohl geeignet, endlich mittelalterliche Vorurtheile aus der
Welt zu schaffen, wie wir sie in den Ritualmordprozessen des letzten Jahrzehnts
leider auch auf ärztlicher Seite noch vertreten fanden.
Kr.-Phys. Dr.C a s p a r - Greifenberg.
Tagesnachrichten.
Auf die von dem Vereine der Königsberger Apothekenbesitzer
an Seine Majestät den Kaiser abgesandte Bittschrift ist seitens des Herrn
Medizinal-Ministers (gez.: Bosse) nachfolgende Antwort ertheilt worden:
Berlin, den 15. März 1893.
„Seine Majestät der Kaiser und König haben die von Ew. Wohlgeboren
im Aufträge des Vereins der Königsberger Apothekenbesitzer an AUerhöchstdie-
selben unter dem 10. Dezember 1892 gerichtete lmmediatvorstellung, betreffend
die Neugestaltung der Apothekengesetzgebung, an mich zur Prüfung und Be¬
scheidung abgegeben zu lassen geruht.
Nach eingehender Prüfung der einzelnen Punkte der Vorstellung erwidere
ich Ew. Wohlgeboren zur gefälligen Mittheilung an Ihre Auftraggeber folgendes:
Eine Neugestaltung der Apothekengesetzgebung für Preussen
ist nicht in Aussicht genommen, eine reichsgesetzliche Regelung aber seit meh¬
reren Jahren vorbereitet und z. Z. soweit vorgeschritten, dass ein Abschluss in
nicht zu ferner Zukunft zu erhoffen ist.
Was die Schädigung der Interessen der Apotheker betrifft, so beklage
auch ich, dass Arzneien und Arzneimittel gegen die bestehenden gesetzlichen
Bestimmungen aus Drogenhandlungen abgegeben werden und kann nur
anheimstellen, etwaige Fälle der Art zur Kenntniss der zuständigen Behörden
zu bringen. Die Angabe aber, dass eine Beaufsichtigung der Drogenhandlungen
durch geeignete Sachverständige (Apotheker) mangele, entspricht nicht den That-
sachen; denn einerseits werden sämmtliche Drogenhandlungen durch die Kreis¬
physiker und zwar vielfach unter Mitwirkung von Apothekern revidirt, anderer¬
seits aber unterliegen jene Verkaufsstätten, wie die Apotheken, einer im Laufe
von drei Jahren wiederkehrenden amtlichen Besichtigung durch den Regierungs¬
und Medizinalrath in Gemeinschaft mit dem pharmazeutischen Revisions¬
kommissarins.
Die Anlage neuer Apotheken wird bis zur reichsgesetzlichen Rege¬
lung des Apothekerwesens nach den bestehenden preussischen Bestimmungen
erfolgen müssen, dass dabei Härten gegen die Besitzenden thunlichst vermieden
werden, dafür bürgt die Umsicht der zuständigen Behörden; übersehen darf
hierbei freilich nicht werden, dass in erster Linie das Bedürfniss der Bevölkerung
in Betracht kommt, wie dies bereits in dem Erlasse meines Herrn Amtsvorgängers
vom 25. September 1866 (Min.-Bl. f. d. inn. Verw. S. 194) ausgesprochen iBt.
Dem Anträge auf Errichtung einer Standesvertretung für die
Apotheker näher zu treten, vermag ich z. Z. nicht für rathsam zu erachten.
Den Wünschen des Apothekerstandes glaube ich schon dadurch entgegen gekom¬
men zu sein, dass ich im Dezember v. J. eine Konferenz zur Berathnng Über
die Einrichtung und den Betrieb von Apotheken, sowie über Apothekenrevisionen
unter Zuziehung von einem Apothekenbesitzer für je 2 Provinzen habe abhalten
lassen. In ähnlicher Weise gedenke ich auch künftig den Wünschen der Bethei¬
ligten thunlichst Rechnung zu tragen.
Anlangend endlich die Beaufsichtigung der Apotheken durch
Aerzte und den sonstigen Inhalt der Vorstellung, so mache ich darauf auf¬
merksam, dass die beaufsichtigenden Aerzte Beamte sind, welche in ihr Amt
nur auf Grund des Bestehens einer staatlichen Prüfung gelangen; dieser sach¬
verständigen Aufsicht kann der Staat nicht entrathen, zumal dieselbe sich bisher
Tagesnacbrichteii.
2‘i3
derart bewährt bat, dass die preussischen Apotheken, wie ich gern anerkonne,
sich eines Rufes erfreuen, welcher demjenigen der Apotkeken anderer Länder
keineswegs nachsteht“
Wie nicht anders zn erwarten war, hat der Kultusminister eine Erweite¬
rung der Disziplinarbefngniss der preussischen Aerztekammern unter der
von den Aerztekammern geforderten Voraussetzung, dass ihnen auch in Bezug
auf die beamteten Aerzte und die Militärärzte betreffs ihrer privatärztlichen
Thätigkeit in irgend einer Weise eine disziplinäre Befugniss eingeräumt würde,
abgelehnt. In dem betreffenden, an sämmtliche Herren Oberpräsidenten gerich¬
teten Erlasse vom 10. April heisst es, dass den nach dieser Richtung hin von
sämmtlichen Aerztekammern ausgesprochenen Wünschen in keiner Weise
nachgegeben werden könne und dass es der weiteren Erwägung der Aerzte¬
kammern überlassen bleiben müsse, ob dieselben unter diesen Umständen auf
eine im Interesse des ärztlichen Standes und der Medizinalverwaltung wünschens¬
werten weitere Entwickelung der durch die Verordnung vom 25. Mai 1887
erteilten Disziplinarbefngniss überhaupt verzichten wollen oder ob sie diese
Weiterentwickelung auch ohne jene Voraussetzung für erspriesslich erachten.
Die Königlichen Oberpräsidenten werden daher ersucht, die Aerztekammern
nochmals zu einer Aeusserung aufzufordern und über das Ergebniss derselben
demnächst zu berichten.
Die gesundheitspolizeiliche Ueberwachung des Stromgebietes der
Weichsel ist unter dem 24. April durch den Staatskommissar für dieses Fluss¬
gebiet, H. Oberpräsidenten v. Gossler mit Genehmigung des Herrn Ministers
für die Ueberwachungsbezirke I (Schilno) und II (Brahmilnde) angeordnet und
eine neue Anweisung unter dem 1. April d. J. erlassen.
Die internationale Sanitätskonferenz in Dresden hat ihre Berathung
am 15. April beendigt und eine Konvention vereinbart, der sofort von den
vertretenen 18 europäischen Staaten 10 (Deutschland, Oesterreich - Ungarn,
Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Montenegro, Niederlande, Russland,
und die Schweiz') beigetreten sind. Die Konvention soll vorläufig fünf Jahre
in Geltung bleiben und dann, wenn sie nicht gekündigt wird, sich von fünf zu
fünf Jahren erneuern. Die Vereinbarung bezieht sich lediglich auf die allge¬
meine Regelung der internationalen Sanitätsmassregeln gegen die Cholera zu
Land und Wasser. Die Beschlüsse sind in acht der Konvention als erster Adnex
beigefügten Abschnitten zusammengefasst. Der erste Abschnitt handelt von
der Art und dem Umfange der gegenseitigen Benachrichtigungen. Es
ist auf sofortige Mittheilung eines nach klinischen Grundsätzen konstatirten
Choleraheerdes im diplomatischen, bezw. im telegraphischen Wege, sowie die
weitere, mindestens wöchentliche Mittheilung amtlicher Nachrichten über alle
für die internationale Sanitätspflege und den internationalen Verkehr belang¬
reichen Momente — Stand der Epidemie, prophylaktische Massregeln, Verkehrs¬
einschränkungen sowohl in Bezug auf Personen- als Waarenverkehr — Bedacht
genommen.
Der zweite Abschnitt befasst sich mit den Bestimmungen, wann ein
Gebiet cholerainfizirt und wieder cholerarein anzusehen sei, wann und wie lange
Beschränkungen des Verkehrs aus und nach diesem Gebiete gerechtfertigt er¬
scheinen. In dieser Beziehung wird der Termin der Konstatirung des Cholera¬
heerdes einerseits, sowie jener des Ablaufs eines cholerafreien fünftägigen Zeit¬
raums nach dem letzten Cholerafalle bei vollendeter Desinfektion zum Massstabe
genommen.
Im dritten Abschnitt werden die Verkehrsbeschränkungeu
begrenzt; Waaren, die das infizirte Gebiet fünf Tage vor dem Auftritte der
Epidemie verlassen haben, sind freizulassen. Als Waaren, deren Einfuhr aus
Infektionsgebieten verboten werden kann, werden im vierten Abschnitt lediglich
*) Inzwischen hat auch England seinen Beitritt erklärt.
Tagesnachrichtefl.
221
getragene Leibwäsche and Kleidungsstücke, benutztes Bettzeug, sofern diese
Gegenstände nicht Reise- oder Uebersiedelungseffekten bilden, Lampen und Zeug¬
abfälle bezeichnet. Auch die Art der Desinfektion, die für die ebengenannten
Objekte oder Bestandteile von Reise- und Uebersiedelungseffekten obligatorisch
ist, wird in diesem Abschnitte abgehandelt.
Im fünften Abschnitt wird die Landquarantäne als unzulässig, die
Ueberwachnng der Reisenden durch das Zugbegleitungspersonal, die ärztliche
Revision an der Grenze, die fünftägige Beobachtung am Aufenthaltsorte der
Reisenden und die Anwendung verschärfter Ueberwachungs- und Desinfektions¬
massnahmen hinsichtlich der im fluktuirenden oder Massenverkehr einlaufenden
Personen als zulässig erklärt.
Im sechsten Abschnitt werden Vereinbarungen der Grenzstaaten
über die für den Grenzverkehr erforderlichen Sanitätsmassnahmen, im sieben¬
ten Abschnitt die Ueberwachnng des FlussschifffahrtsVerkehrs im
Sinne der im Vorjahre von der deutschen Reichsregierung erlassenen Regulative
empfohlen.
Der achte Abschnitt ist den auf die Seeschifffahrt anzuwendenden
Sanitätsmassregeln gewidmet. Es wird zunächst der Unterschied zwischen
infizirten, verdächtigen und unschädlichen Schiffen statuirt. Als infizirte sollen
solche angesehen werden, die bei ihrer Ankunft oder während der letzten sieben
Reisetage Cholerafälle an Bord gehabt haben. Bei ihnen hat eine Ausschiffung
und Isolirung der Kranken, sowie eine einen fünftägigen Zeitraum nicht über¬
schreitende Beobachtung der übrigen Personen stattzufinden, ausserdem eine
Desinfektion der schmutzigen Wäsche und ähnlicher Gegenstände. Verdächtige
Schiffe sind solche, die während der Ueberfahrt zwar Cholerafälle gehabt haben,
bei denen die letzteren aber mehr als sieben Tage zurückliegen. Bei diesen
Schiffen hat eine ärztliche Besichtigung und Desinfektion der betreffenden
Wäsche zu erfolgen; ausserdem können Besatzung und Passagiere während eines
fünftägigen Zeitraums einer Ueberwachung unterzogen worden. Die unschäd¬
lichen Schiffe sollen in der Regel sofort zum freien Verkehr zugelassen werden.
Die Behörde des Ankunftshafens kann jedoch die Desinfektion und andere Mass-
regeln anordnen und Passagiere und Mannschaften einer sanitätspolizeilichen
Ueberwachung unterwerfen. Letztere darf aber einen fünftägigen Zeitraum
von dem Tage der Abfahrt des Schiffes von dem verseuchten Hafen nicht über¬
steigen. Für Schiffe, welche der Küstenschifffahrt dienen, können schärfere
Massregeln vorgeschrieben werden.
In einem zweiten Adnexe sind dann noch die von der Konferenz gefassten
Beschlüsse über die künftige Handhabung der nothwendigen Sanitätsmass¬
regeln im Sulinaarme der Donau niedergelegt.
Cholera. In Galizien sind im Bezirk Borszezow vom 13.—26. April
17 Erkrankungen mit 10 Todesfällen vorgekommen und zwar in den am Zbrucz
gelegenen Ortschaften Kudrynce (8 mit 6 Todesfällen), Podfilipie (1) Stobadka
Turyleika (4 mit 2 Todesfällen), Cygany und Nowosiolka (je 1 Erkrankung und
1 Todesfall), Losiacz und Zawale (je eine Erkrankung).
In Frankreich hat die Cholera im Arrondissement LOrient (Departe¬
ment Morbihan) Ende März und Anfang April eine grössere Ausbreitung
genommen. Vom 10. März bis 9. April sind daselbst in 25 Ortschaften 476 Er¬
krankungen mit 178 Todesfällen vorgekommen, davon 188 in der Zeit vom
31. März bis 9. April. Die Zahl der Erkrankungen in der Stadt Lorient selbst
betrug während jenes Zeitraums 85 mit 32 Todesfällen. Auch in den Orten
Vannes sowie in Quimper (Bretagne) sollen Erkrankungen an Cholera vorge¬
kommen sein. Nach den letzten Zeitungsnachrichten scheint jedoch die Zahl der
Erkrankungen in dem verseuchten Arrondissement wesentlich abzunehmen. Gleich¬
wohl sind durch Erlasse des Reichskanzlers vom 13. und 26. v. M. besondere
Vorsichtsmassregeln gegen Schiffsherkünfte aus Lorient angeordnet.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- n. Med.-Rath i. Minden i. W.
J. C. 0. Brunn, Rnchdruckerei, Minden.
6. Jahrg.
Zeitschrift
fiir
1893.
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
Sun.-Rathu.gerichtl.Stautphysikus in Berlin, Rq;.- und Medi/inalrath in Minden
und
Dr. WILH. SANDER
Meili /inalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitzeile 46 Pf. nimmt die Verlagshandlung und Rud. Mosse
entgegen.
No. 10.
Eraeheint am 1. und 15. Jeden Monats«
Preis Jährlich 10 Mark.
15. Mai.
Ueber Querulantenwahnsinn.
Von Dr. Mittenzweig.
Der Begriff des Querulantenwahnes spielt in Laienkreisen
eine so zweifelhafte Rolle, dass man sogar öffentlich behauptet
hat, er diene der Polizei und dem Gerichte als Handhabe, um
unbequeme, geistesgesunde Persönlichkeiten in die Irrenhäuser zu
schaffen oder wenigstens mundtodt zu machen. Wo der Straf¬
paragraph der Allgemeinen Gerichtsordnung nicht ausreiche, um
den Querulanten zu überführen oder zur Ruhe zu bringen, da
müsse die Psychiatrie eintreten, um den unbequemen und gemein¬
gefährlichen Nörgeler ausser Gefecht zu setzen. Die Darstellungen,
welche die Psychiatrie von dem Querulantenwahn gäbe, sei eine
geschraubte und erinnere an die Aufstellung des Begriffes vom
moralischen Irresein, welcher von dem Reichsgerichte endgültig
verworfen sei. Letzteres gelte namentlich von der psychologischen
Begründung des Krankheitszustandes, nach welcher er auf mangel¬
haftem sittlichem Gefühl, insbesondere auf mangelhaftem Rechts¬
gefühl beruhen solle.
Diesen Angriffen gegenüber verharrt die Psychiatrie bei ihrer
Ansicht, dass der Querulantenwahnsinn eine wohl bekannte und
definirte Geisteskrankheit, die Paranoia querulans, ist. Die
Psychiatrie hat diese Ansicht meist nur in medizinisch-wissen¬
schaftlichen Kreisen geltend zu machen — wir Gerichtsärzte haben
einen schwereren Standpunkt inne. Wir haben die Aufgabe, diese
Ansicht im konkreten Falle dem Gerichtshöfe und den Behörden
gegenüber zu vertheidigen und diese davon zu überzeugen. Wir
müssen die Wege anfsuchen, auf denen uns dies am bequemsten
und sichersten gelingt und wem es vergönnt war, solche Wege
des Oefteren zu wandeln, dem erwächst damit die Pflicht, seinen
220
Dr. Mittenzweig.
Kollegen, welche seltener damit befasst werden, seine Erfahrungen
und Betrachtungen zugänglich zu machen.
Aus diesem Gesichtspunkte lasse ich das Ergebniss, welches
mir meine Erfahrungen in den letzten Jahren gebracht haben, in
Nachstehendem folgen mit der Bitte um Nachsicht, wenn ich dem
Einen nichts Neues, dem Anderen nichts Annehmbares zu bieten
scheine.
Die Allgemeine Gerichtsordnung, deren einschlägige Para¬
graphen nach einem neueren Erkenntniss des Reichsgerichts auch
heute noch zu Recht bestehen, versteht unter Querulanten solche Per¬
sonen, welche die Gerichte und Behörden mit Eingaben und Beschwer¬
den belästigen und trotz ordnungsmässiger Bedeutung in dieser Weise
tortfahren zu queruliren.
Solche Personen handeln anfänglich nach ihrem angeborenen
Charakter, dessen Grundzüge in Empfindlichkeit, Rechthaberei und
Nörgelei bestehen, ohne dass sich von vornherein das Vorhandensein
eines ausgesprochenen Wahnsinnes erkennen und feststellen lässt.
Wir haben es in solchen Fällen mit der Frage nach dem ver¬
brecherischen oder krankhaften Querulantencharakter zu thun.
Ich theile wohl mit Vielen die Anschauung, dass nicht jeder
Querulant ein geisteskranker Mensch ist und dass nicht jeder queru-
lirende Charakter als geisteskranker Zustand aufzufassen ist.
Finden wir bei einer Person, welche querulirt, keine Wahnideen,
so können wir den Geisteszustand, der sich in seinem Charakter und
seinen Neigungen, namentlich aber in seinen querulirenden Hand¬
lungen ausspricht, nur dann als Krankheit ansprechen, wenn wir
die Charakterbeschaffenheit auf eine erbliche Veranlagung zurück¬
führen können, wenn wir den Nachweis zu führen vermögen, dass
der Querulant einer Familie angehört, in welcher Geisteskrank¬
heiten bereits vorhanden oder vorhanden gewesen sind nach dem
Grundsätze, dass die erbliche Geisteskrankheit nicht stets als
Geisteskrankheit derselben Art, sondern auch in anderer Form,
oder als Nervenkrankheit, oder als originärer krankhafter Charakter
in Erscheinung treten kann.
In solchen Fällen stempelt der Nachweis der erblichen Geistes¬
krankheit den Querulantencharakter als einen ererbten krankhaften
Geisteszustand in ähnlicher Weise wie der anscheinend ver¬
brecherische Charakter beim gleichzeitigen Bestehen deutlicher
Heredität von Geisteskrankheit als moralisches Irresein wissen¬
schaftlich und forensisch aufzufassen ist.
In anderen Fällen, meist solchen mit vorgeschrittenem und
bereits länger andauerndem Querulantenwesen, haben wir ausser
oder neben der krankhaften Veranlagung unser Augenmerk auf das
Vorhandensein von Wahnideen, insonderheit von Verfolgungswahn-
ideen, zu richten.
Die Erfahrung lehrt, dass ein grosser Theil der Querulanten
schliesslich von Verfolgungsideen beherrscht wird.
Der Nachweis dieser Wahnideen ist nicht immer, leicht und
ihr krankhafter Charakter wird nicht selten dadurch ver¬
schleiert, dass sich die Ideen an Vorkommnisse anknüpfen, bei
Ueber Querulantenwahnsmn.
227
denen der Querulant in Wirklichkeit, nicht nur in seiner Ein¬
bildung und seinem Wahne beeinträchtigt ist. Und demnach wird
sich der krankhafte Charakter dieser Ideen darlegen lassen, wenn
man neben seiner Entstehung auch seine Kraft und Macht ins
Auge fasst, mit welcher er die anderen Vorstellungen des Queru¬
lanten beherrscht sowie die Ausdehnung, welche der Kreis der
Verfolgungen und Verfolger bald in dem Wahne des Kranken
erlangt.
Die Rechthaberei des Kranken wächst bald zu einer Lei¬
denschaft an, die dem Querulanten jede Besonnenheit und Ver¬
nunft raubt und nur den einen Gesichtspunkt gelten lässt: Erkennst
Du meine (wahnhafte) Anschauung als richtig an, so bist Du mein
Freund — thust Du dies nicht, so bist Du mein Feind. Den ver¬
meintlichen Feind aber verfolgt der Querulant mit leidenschaft¬
lichem Hass und mit allen — gerechten wie ungerechten —
Mitteln; denn auch für die Unterscheidung der letzteren verliert
er zunehmend jedes Urtheil. Wir sehen dann den ausgesprochenen
Verfolgungswahnsinnigen, den „verfolgten Verfolger.“
Den Uebergang von dem strafbaren Querulanten ohne
ausgesprochene Heredität zu diesem ausgesprochenen Wahnsinne
bildet ein Stadium der Krankheit, welches ich gelegentlich mit dem
Ausdruck des „beginnenden Querulanten Wahnsinnes“ bezeichnet habe.
In diesem Stadium bildet der Querulant weniger eine
Schwierigkeit für den wissenschaftlichen Psychiater als für den
Gerichtsarzt, der den psychologischen Einfluss des beginnenden
Wahnes begrenzen und die rechtlichen Folgen in seinem Gutachten
abmessen soll. Dies ist ja auch in anderen Fällen eine heikle
Aufgabe des beamteten Arztes. Fast nirgends aber tritt ihre
Schwierigkeit so zu Tage, wie beim Querulanten dieses Stadiums.
Ist der Betreffende noch fähig, sein Amt zu verwalten?
Ist er in diesem Zustande strafbar?
Ist er verhandlungsfahig?
Ist er reif zur Entmündigung oder nicht?
Die Beantwortung dieser Fragen ist meist schwieriger und
verantwortungsreicher als diejenige, ob der Querulant geisteskrank
oder geistesgesund ist. Denn hier kommen wir in das viel
bestrittene Gebiet der Frage: Ist der Geisteskranke und Geistes¬
schwache damit eo ipso unfähig zur Verhandlung, zur Bestrafung,
zur Mündigkeit?
Bei Gelegenheit der Besprechung nachstehender Gutachten
werde ich auf diese Frage noch näher eingehen.
1 . Fall. Gutachten über den Geisteszustand der Frau G.
Nach dem Inhalt der Akten und nach meinen eigenen
Wahrnehmungen halte ich die Frau G. gegenwärtig für geistes¬
krank und ebenso bin ich der Ansicht, dass sie bereits im Jahre
18 .. geisteskrank gewesen ist.
Ihre Geisteskrankheit hat die Form der Paranoia querulans,
einer scharf gekennzeichneten Form des Verfolgungswahnsinnes,
228
Dr. Mittenzweig.
welche man in Frankreich mit dem bezeichnenden Namen „der ver¬
folgten Verfolger“ belegt hat.
Die Krankheit entwickelt sich meistens bei Personen mit
originärer Charakteranomalie, und bleibt das krankhafte Wesen
dieses Zustandes dem Auge des nicht psychiatrisch gebildeten
Arztes leicht verborgen, weil sich die Krankheit unmerklich aus
der Persönlichkeit des Kranken durch Steigerung einzelner Charak¬
tereigenschaften bilden kann und weil andererseits das Krankhafte
und Irre der Verfolgungsideen schwerer zu erkennen ist als bei
anderen Formen der Paranoia, wo sowohl der Inhalt der Delirien,
wie ihre Entstehungsweise auf den ersten Blick das krankhafte
Wesen verrathen. Ein Delirium, in welchem sich Jemand fiir
„Gott“ oder „den Kaiser“, „den Pabst“ hält, wird leicht als
krankhaft erkannt; ebenso ein Delirium, in welchem sich jemand
als fortwährend „elektrisirt“ bezeichnet. Diese Urtheilsdelirien
erkennt selbst der Laie sofort an ihrem Inhalt. Ebenso wird ein
Delirium leicht als krankhaft erkannt und anerkannt, wenn es
aus offenbaren Sinnestäuschungen hervorgegangen ist. Ungleich
schwieriger ist diese Erkenntniss bei den Urtheilsdelirien der
querulirenden Kranken, und doch lässt sich auch hier der Nach¬
weis erbringen, dass sie auf krankem Boden und in krankhafter
Weise erwachsen sind.
Die vorstehende Abschweifung auf theoretisches Gebiet glaube
ich machen zu müssen im Hinblick auf die Auslassung der König¬
lichen Staatsanwaltschaft, welche dahin geht, „dass erfahrungs-
gemäss manche Aerzte nur allzu leicht geneigt seien, aus dem
Vorhandensein irgend eines ethischen Defektes einen Schluss auf
Geisteskrankheit zu machen, welcher in verhängnissvoller Weise
in die bürgerliche Freiheit und in die Rechte des Staates einzu¬
greifen geeignet ist,“ und im Hinblick auf den Umstand, dass
auch der Querulanten-Wahnsinn auf einen ethischen Defekt zu¬
rückgeführt wird und zurückzuführen ist.
Ganz abgesehen von der Frage der Beurtheilung eines ethischen
Defektes vor Gericht, handelt es sich, um dies gleich vorweg zu
nehmen, im vorliegenden Falle nicht um den Nachweis eines
ethischen Defektes, sondern um den Nachweis einer wissenschaft¬
lich festgestellten und festumschriebenen Form einer ausge¬
sprochenen und anerkannten Geisteskrankheit.
Um dies nachzuweisen, bedarf es in erster Linie der that-
sächlichen Feststellung, dass die Angeklagte queru-
lirt hat.
Frau G. hat das Gericht nicht nur mit ihren Klagen und
Einwänden belästigt und die einzelnen Richter, ganze Gerichts¬
höfe und die Sachverständigen abgelehnt und verfolgt, sondern
dies auch in einer Weise gethan, welche sie in hohem Grade und
in vielen Fällen von Neuem mit dem Strafgesetz in Konflikt zu
bringen geeignet war. Sie hat es an Beleidigungen, Verleumdungen
und Strafanträgen nicht fehlen lassen.
Die Reihe ihrer hierher zu rechnenden Handlungen begann
mit dem Briefe an Frau M. vom 7. März 18 . . und der Erklärung
Ueber Querulantenwahnsinn.
229
und Verwahrung vom 27. März desselben Jahres, und bildet
gleichsam eine Fortsetzung der Handlungen ihres Ehemannes,
wegen deren derselbe bereits für geisteskrank, speziell für „an
Querulanten-Wahn leidend“ erklärt worden ist.
Die Briefe und Eingaben an sich bewegen sich bereits auf
querulirendem Gebiete, indem sie die höchste Justizbehörde durch
Drohungen zu einem Schritte nöthigen wollen, welcher das ver¬
meintliche Recht der Angeklagten oder vielmehr des Ehemannes
derselben durchsetzen sollte.
Frau G. hat sich dadurch eine Klage wegen Nöthigung zu¬
gezogen und in der Folge deren Gang auf jede Weise zu hinter¬
treiben versucht. Sie hat sich hierbei des Rathes und der Beihülfe
ihres Ehemannes in dem Grade bedient, dass es unmöglich ist,
die Gedanken, Absichten, Pläne und Handlungen der beiden Ehe¬
gatten von einander zu scheiden. Die Eingabe vom 19. Mai 18 ..
bekundet dies schon vor der Eröffnung des Hauptverfahrens.
Dieselbe ist von beiden Ehegatten unterzeichnet und enthält die
Beweise der Gemeinschaftlichkeit in ihren Plänen und Handlungen.
Auf den 10. Juni 18.. wurde Frau G. zur Hauptverhand¬
lung geladen. Ihr Ehemann reichte indess ein Attest des Medi-
zinalrathes Dr. R. ein, wonach sie ihrer Gesundheit wegen nicht
im Termin erscheinen könnte. Das Attest wurde für unzureichend
erachtet, und neuer Termin auf den 17. Juni angesetzt. Frau G.,
welche in ihrer Wohnung, von wo sie vorgeführt werden sollte,
nicht angetroffen wurde, erschien gleichwohl im Termin und wurde
verurtheüt.
Gegen dieses Urtheil legte Frau G. Revision ein, und fast
gleichzeitig reichte ihr Ehemann dem Staatsministerium ein Ge¬
such um Einstellung des gegen ihn schwebenden Entmündigungs-
Verfahrens ein, indem er sich zu jeder billigen Erklärung bereit
erklärte und sich verpflichtete, in keiner Form auf die Sachen
zurückzukommen, um nur für sich zu leben. Das Gesuch blieb
erfolglos.
Das Urtheil wurde vom Reichsgericht aufgehoben, und neuer
Tennin auf den 16. Dezember 18 .. angesetzt. Unter dem 7. De¬
zember bat Frau G. um Aufhebung des Termins aus Rücksicht
auf ihre Kinder, die der Pflege bedürften und auf ihren eigenen
Gesundheitszustand. Dem Anträge wurde nicht stattgegeben. Bei
Aufruf der Sache erschien Herr G. und erklärte, dass seine auf
dem Gerichtskorridor anwesende Frau einen plötzlichen Ohnmachts¬
anfall bekommen habe und deshalb nicht im Stande sei, zu ver¬
handeln. Da ich, der Endesunterzeichnete zufällig im Gerichts¬
gebäude anwesend war, so erhielt ich den Auftrag, die p. G. zu
untersuchen. Bei meinem Eintritt in das Wartezimmer, wo Frau
G. auf einer Bank lag, rief mir Herr G. zu, dass seine Frau
epileptisch sei und soeben einen Anfall bekommen habe. Beim
Versuche, die Augenlider der Frau G. zu öffnen, stöhnte dieselbe
und kniff blinzelnd die Lider zu, so dass eine Untersuchung der
Pupillen unmöglich wurde. Frau G. war bleich, ihre Haut war
kühl, sie würgte und brachte dabei Schleim und Wasser heraus.
230
Dr. Mltteraweig.
Ihr Ehemann flösste ihr fortwährend kaltes Wasser ein. Das
Ganze bildete eine erregte Szene.
Ich theilte dem Gerichte mit, dass ich nicht unterscheiden
könnte, wie viel Wahrheit, wie viel Simulation an dem Benehmen
der Frau G. sei, rieth aber von der weiteren Verhandlung ab.
Die Verhandlung wurde vertagt auf den 30. Dezember 18..
Beim Beginn des Termins erklärte Herr G., dass seine Ehe¬
frau am selben Morgen bereits einen Krankheitsanfall gehabt habe.
Gleichwohl trat das Gericht in die Verhandlung ein. So oft ein
Antrag des Ehemannes abgelehnt wurde, reagirte Frau G. mit
irgend einer Krankheitserscheinung. Trotzdem unterhielt sich
Frau G. lebhaft mit ihrem Manne, sobald der Gerichtshof sich zur
Berathung zurückzog. Sie bat wiederholt um Vertagung, sprach
dabei aber in langer, wohl berechneter Rede. Schliesslich
musste Herr G. das Verhandlungszimmer verlassen. Frau G.
lehnte meine ärztliche Hülfe ab. Als die Vertagung von Frau
G. nicht durchgesetzt wurde, stürzte oder warf sie sich (nach
meiner Auffassung) zu Boden und verursachte eine stürmische
Szene, welche ich an anderem Orte des Näheren beschrieben habe.
Die Verhandlung wurde unmöglich und abgebrochen.
Unter dem 2. Januar 18 .. gelangte ein Schreiben der Frau G.
an die Strafkammer folgenden Inhaltes:
„Pie im Termin vom 30. Dezember p. a. erhobene Frage, ob meine schrift¬
lichen Ablehnungsgründe für die Akten bestimmt seien, möchte ich mit dem Hin¬
weise ausser Zweifel stellen, dass ev. die Ablehnung unverständlich und nicht zu
bcurtheilen wäre, mache auch ausdrücklich auf den Schlusspassus des Aktenstückes
aufmerksam.
lieber den Sachverständigen M., der ein eidesstattliches Zeugniss über
meine Yerhandlungsfähigkeit abgab, ohne sich im Geringsten in irgend einer
Weise über meinon Gesundheitszustand zu informiren, dagegen mich in unquali-
fizirbarer Weise verdächtigte, ist Beschwerde resp. Strafantrag gestellt. Herr
M. hat im Termin am 16. Dezember p. a., 12 Uhr, am Ende eines um ca. 9 1 /* Uhr
begonnenen Krankheitsanfalles, mich gesehen, und verleugnet jetzt, ohne den
Schatten eines Grundes oder Beweises, sein damaliges Gutachten nebst den be¬
gründenden objektiven Thatsachen. Wie das augenscheinlich aus der Luft
gegriffene Dementi resp. neue Gutachten vom Gericht ohne Weiteres angenommen
werden konnte, gegenüber kaum abzuweisenden Eindrücken und ernsten Betheu¬
erungen, sowie dem Zeugnisse des Med.-Raths Dr. R., dessen neuerliche Zuzie¬
hung ich cv. beantragt hatte, — bldbt offene Frage. Nur als Pendant hierzu
erklärlich ist die Ablehnung meines Ehemannes als Rechtsbeistand, und seine
Ausweisung, weil er, absolut nothwendiger Weise, mit Wort und Stimme für
mich eintrat. Rechtsausführungen etc. hat er, in Respektirung einer noch so
unnatürlichen Position, derart zu unterdrücken gewusst, dass selbst die flagran¬
teste Rechtsverletzung, Ausschliessung der Oeffeutlichkeit auf staatsanwaltlichen
Wink, ohne meine Befragung, ihn nicht aufzuregen vermochte. Nur persönliche
Bemängelungen und thatsächliche Unrichtigkeiten sind von ihm zurückgewiesen
worden. Bezüglich der Entmündigung ist auch zu den Akten zu konstatiren,
dass nicht ein gerichtliches Urtheil, sondern der hinter unserem Rücken, aller¬
dings unter auffallendster Betheiligung des Ministers und seiner Organe zu
Stande gekommene Beschluss eines nicht etatsmässigen Gerichts - Assessors vor¬
liegt, dass zunächst gegen die Sachverständigen Dr. M. und Dr. F. Disziplinar-
Strafanträge gestellt sind, und dass der Vormund meines Mannes mit dringlichsten
Anträgen und Verwahrungen bei dem Herrn Justiz-Minister und den Gerichten
hervorgetreten ist, nachdem er bereits vorher im Verein mit hohen Beamten
Offizieren, Geistlichen etc. an den Herrn Minister eindringlichste Vorstellungen,
gerichtet.
Ueber Quernlantenwahnsinn.
231
Dass bei Alledem die Anfechtungsklage gegen den Staatsanwalt den
unglaublichsten Schwierigkeiten und Abnormitäten begegnet, ist hier gleichfalls
zu erwähnen. Es ist ferner hinzuweisen auf beiliegende Drucksache, einen in
Tausenden von Exemplaren verbreiteten, von juristischer Seite inspirirten Zei¬
tungsartikel, wo der sittliche und amtliche Charakter des Herrn Ministers
öffentlich in denkbar stärkster Weise angegriffen ist, ohne dass ein (direkt pro-
vocirtes) Einschreiten stattgefunden hätte.
Wenn Ehre, Pflicht und Gewissen im Munde Preussischer Justizbeamten
nicht als lerer Schall gelten soll, so habe ich zu erwarten, dass das Verfahren
gegen mich eingestellt werde, bis alle diese Verhältnisse gebührend klar
gestellt sind.
Es wird sich dann zeigen, dass nicht Nöthignng zu einer Amtshandlung,
sondern Abwehr von Verbrechen resp. eines unverschuldeten Nothstandes zur
Rettung aus Lebensgefahr in meinem Falle vorliegt.“
Abgesehen vom Inhalt verräth der Umstand, dass auch diese
Eingabe, wie so viele andere, von der Hand des Herrn G. geschrie¬
ben und von seiner Ehefrau unterschrieben ist, dass das Ehe¬
paar von ebendenselben Vorstellungen der Beeinträchtigung und
Verfolgung erfüllt ist, von ebendenselben Absichten geleitet
wird und eben dieselben Wege der Verfolgung einschlägt.
Inzwischen war auf den 20. Januar neuer Verhandlungs¬
termin anberaumt. Die Angeklagte sandte in Folge dessen ein
neues Zeugniss der Herren Dr. E. und Dr. R. ein, wonach sich
Frau G. zur Zeit noch in einem Zustande so hochgradiger Gereizt¬
heit und nervöser Erregtheit befände, dass ihre Vernehmungsfahig-
keit dadurch einstweilen als ausgeschlossen erachtet würde und
wonach ihr ein Wechsel des Aufenthaltes von mindestens zwei¬
monatlicher Dauer gerathen war. Frau G. erschien im Termin
nicht. Die Sachverständigen erklärten, dass sie ohne Untersuchung
der Angeklagten ein Gutachten über ihren Zustand nicht abgeben
könnten, dass es zu diesem Behufe sogar nothwendig sei, die
Angeklagte auf sechs Wochen in einer Krankenanstalt beobachten
zu lassen, und das Gericht beschloss die Verhaftung der Angeklagten
und ihre Vorführung. Letztere wurde unmöglich. Die Sachver¬
ständigen erklärten nunmehr auf Befragen, das sie nach den
Mittheilungen des Staatsanwalts an der Zurechnungsfähigkeit der
Angeklagten zweifelten und beantragten behufs Feststellung ihres
Gemüthszustandes ihre Unterbringung in eine öffentliche Anstalt.
Die Kammer behielt sich die Entscheidung vor und setzte
neuen Termin an.
Vorher erhob Frau G. Beschwerde gegen den Haftbefehl
unter Berufung auf die Gutachten der Dr. R. und Dr. E., indem
sie hervorhob, dass sie „schon seit der Jugend an krampfartigen
Zuständen und allgemeiner Kränklichkeit leide".
Am 22. Januar wurde sie verhaftet.
Nach dem Berichte des Kriminalkommissars hatte sich Frau
G. am 20. Januar wie eine Rasende benommen. Bei der Ver¬
haftung am 22. Januar benahm sie sich ruhiger, wie vermuthet
wird, weil ihr Ehemann abwesend war.
Die Beschwerde gegen den Haftbeschluss wurde vom Kammer¬
gericht zurückgewiesen.
Im Termin vom 6. Februar wurde Frau G. verurtheilt und
282
Dr. Mittenzweig.
nach dem Termine aus der Haft entlassen. In ihrer Revisions¬
schrift vom 1. April sagt Frau G. über ihren Krankheitszustand:
„Seit meiner Jugend leide ich an krampfartigen und neuralgischen Zu¬
ständen und unter deren Einfluss an periodischer Reizbarkeit und Aufregung,
wodurch zumal bei hinzukommenden Gemüths-Erregungen ich schon oft zu über¬
schnellen, impulsiven Handlungen fortgerissen worden bin. Den Brief an die
Frau M. habe ich geschrieben unter dem unmittelbaren Eindruck erschüt¬
ternder Mittheilungen, wie sie in einem zu den Akten gegebenen Bericht nieder¬
gelegt sind. Selbst davon überwältigend, (P) hatte ich für meinen seit Jahren
von einer rücksichtslosen Uebermacht gehetzten Ehemann das Aensserste zu
befürchten, an etwaige Folgen, Gesetzesverletzungen habe ich nicht gedacht, am
wenigsten daran, dass der Brief dem Minister vorgelegt werden könnte, wie er
auch thatsächlich durch Wochen ohne Folgen geblieben ist. Ich hoffte eher,
dem Hause des Ministers einen Dienst zu leisten und ein Verbrechen abzu¬
wehren etc.“
Das Urtheil wurde vom Reichsgericht aufgehoben. Auf den
27. Mai war neuer Tennin anberaumt. Der Vertheidiger zeigte
unter dem 26. Mai dem Gerichte an, dass er den Dr. E. geladen,
um ein Gutachten darüber zu erstatten, dass die Angeklagte sich
in einem Gemüthszustande und Anschauungskreise befinde, welcher
von demjenigen ihres entmündigten Gemahls nicht wesentlich ab¬
weiche, dass sie ausserdem aber auch unter dem Einflüsse hoch¬
gradigster Hysterie und des Genusses von Morphium jedenfalls
zeitweise in Zuständen krankhafter Erregung sich befinde,
welche die Annahme begründet erscheinen lassen, dass ihre freie
Willensbestimmung dann ausgeschlossen sei.
Unter dem 25. Mai beantragte Frau G. Vertagung des Ter¬
mins und schrieb dabei unter Andern: „Gilt die Vergewaltigung
nebst allen begleitenden und folgenden Rechtsverletzungen, wie
sie handgreiflich vorliegen, für feststehend, so würde meine Be¬
strafung ganz unmöglich und nicht weniger ungereimt sein, als
wenn mutatis mutandis anerkannte Idealgestalten — Fidelio —
wegen unbefugten Waffentragens zur Verantwortung gezogen
werden sollten.“
Im Termine vom 27. Mai beschloss das Gericht: In Er¬
wägung, dass der Sanitätsrath Dr. L. die Erklärung abgegeben
hat, dass er auf Grund der heutigen Verhandlung Zweifel an der
Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten habe und beantragen müsse,
dieselbe in eine öffentliche Anstalt zu bringen und dort beobachten
zu lassen, in Erwägung, dass der Gerichtshof bei der hochgradigen
Erregung der Angeklagten diese Zweifel theilt, beschliesst der
Gerichtshof, die Angeklagte in der Königlichen Charitö unterzu¬
bringen und auf ihren geistigen Zustand dort untersuchen zu
lassen. Die Untersuchung darf die Dauer von sechs Wochen nicht
überschreiten.
Frau G. hielt sich seit dem Termine verborgen, es erging
Haftbefehl und Steckbrief. Unter dem 2. Juni sandte Frau G.
Beschwerde ein, in welchem sie unter Andern sagt:
„Ich habe in zwei längeren Verhandlungen vor Gericht gestanden, einmal
mit einem untreuen, dann ohne jeden Vertheidiger — der bestellte Oflizialbei-
stand fiel thatsächlich aus —, ohne dass die Gerichtspersonen oder die anwesenden
Gerichtsärzte den geringsten Zweifel an meiner Zurechnungsfähigkeit gefasst
hätten.
Ueber Querul&ntenwahnsiim.
233
Die Aufwerfung der Frage ist ein unverantwortlicher Akt des Vertheidi-
digers, der mich nur zwei Mal vorher kurz gesprochen und daher völlig inkom¬
petent zu nennen ist. — Derselbe hatte mir auch zugemuthet, auf jeden Wahr¬
heitsbeweis zu verzichten und meine Thatsachen zum Schein zurückznnehmen....
Derselbe hat mich mit seinem Anträge überfallen.Ich lehne jede gerichts¬
ärztliche Untersuchung ab, so lange die wegen falscher Zeugnisse und jeder
Unzuverlässigkeit belangten Dr. L. und M. des aktiven und passiven Schutzes
der Behörden sich erfreuen.
• Ich lehne die Beschwerde-Instanz ab, da dieselbe bösartige, untreue Bichter
bei der wider mich verhängten willkürlichen und widerrechtlichen Freiheits¬
beraubung, Amtsmissbrauch und andere öewalthandlungen hartnäckig gedeckt
und auf diese Weise sich mit schuldig gemacht hat.
Ich lehne das Königliche Kammergericht in pleno ab, da dasselbe unter
Vorsitz des Präsidenten und letzterer für sich offen Gesetzesverletzungen übelster
Art zum Schaden meines Ehemannes aktiv und passiv begünstigt hat.
Den Herrn Juistizminister lehne ich, als in jeder Richtung interessirt,
selbstverständlicher Weise ab und beantrage, diese Beschwerde Seiner Majestät
dem Kaiser und König, als obersten Gerichtsherrn und Schirmer des Rechts in
Seinen Landen zu unterbreiten.“
Am 10. Juni wurde Frau G. verhaftet und in die Charite
übergeführt.
Nach der Beobachtung in der Charite gab Herr Dr. W. sein
Gutachten dahin ab:
„Frau G. ist geisteskrank und auch zur Zeit der inkrimi-
nirten Handlung geisteskrank gewesen. Sie leidet, beeinflusst von
ihrem Gatten, an einer bestimmten Form der Paranoia (Verrückt¬
heit), dem Querulantenwahnsinn. Es ist mit Wahrscheinlichkeit
anzunehmen, dass sich diese Krankheit auf hysterischer Basis
entwickelt hat.“
Da es mir versagt war, Frau G. einer genaueren Unter¬
suchung zu unterziehen, so referire ich nach der Beobachtung des
Dr. W. Folgendes: Die 35jährige Frau G. stammt aus einer
Familie, in der nach ihrer Angabe Geistes- oder Nervenkrank¬
heiten nicht vorgekommen sind. Sie selbst war nach ihrer Angabe
stets gesund, nur zart besaitet.
Sie ist jetzt eine grazil gebaute, blass und leidend aussehende
Frau, an deren inneren Organen sich Abnormitäten nicht nach-
weisen lassen.
Nur bei Erregungen bemerkt man eine gewisse Unruhe und
Zuckungen in der Gesichtsmuskulatur, in den ausgestreckten
Händen leichten Tremor. Sonst körperlich alles normal (keine
Ovarie etc.). Geistig ist sie in der Anstalt ruhiger geworden.
Ihre Gesprächsweise ist weitschweifig; sie beschäftigt sich aus¬
schliesslich mit dem Schicksal ihres Mannes und dem Ausgang des
eigenen Prozesses.
Bezeichnend ist ferner ihr Ausspruch: „Würde ihr Mann
jetzt von Herrn Dr. R. für geisteskrank erklärt, so müsse sie
auch diesen Arzt für einen Feind ihres Mannes ansehen.“
Das vorstehende Gutachten wurde von dem Gerichte nicht
für ausreichend erachtet; ich sandte nachstehende Begründung ein:
Wenn ich behaupte, dass Frau G. geisteskrank ist, so leiten
mich hierbei dieselben Wahrnehmungen und Erwägungen, welche
234
Dr. Mittenzweig.
auch Herrn Dr. W. zu eben demselben Urtheil geführt haben.
Hierbei macht es keinen wesentlichen Unterschied, dass ich per¬
sönlich einige Handlungen in den Gerichtsterminen selbst mit
erlebt habe, den Haupttheil meines Begründungsmaterials muss
auch ich den Akten entnehmen; denn nur sie geben uns das Ge-
sammtbild wieder, in welchem sich der Geisteszustand der Ange¬
klagten in der letzten Zeit darstellt. Ueber ihre Vorgeschichte
ist nur wenig ermittelt worden und selbst über ihre Krankheits¬
geschichte hören wir widersprechende Angaben.
Ihr Ehemann hat sie mir als epileptische Kranke vorgestellt,
die Herren Dr. E. und Dr. R. sprechen einmal von krampfartigen
Zuständen und allgemeiner Kränklichkeit, das andere Mal von
einem Zustande hochgradiger Gereiztheit und nervöser Erregtheit.
Herr Dr. W. urtheilt, dass sich ihr jetziger Zustand auf hysteri¬
scher Basis entwickelt habe, doch habe er körperliche Symptome
der Hysterie bei ihr nicht auffinden können.
Dies ist die geringe Kenntniss, welche wir von ihrer Ver¬
gangenheit haben.
Bekannter sind uns die Vorgänge aus den Jahren 18.. und
18.., beginnend mit dem Briefe vom 7. März 18..
Diese Vorgänge, im Verein mit den mir bekannten Vorgängen
ihres ebenfalls von mir begutachteten Ehemannes, haben mir die
Ueberzeugung aufgedrungen, dass auch Frau G., ebenso wie ihr
Ehemann, an Querulanten Wahnsinn leidet.
Die oben von mir wiedergegebenen Ereignisse lehren, dass
Frau G. schon mit ihrem ersten Briefe an Frau von S. auf den
geschäftsmässigen Gang des Entmündigungs - Prozesses ihres Ehe¬
mannes einen Druck und Einfluss ausüben wollte, der zum Zweck
hatte, die Entmündigung ihres Mannes zu beseitigen resp. zu
verhindern.
Wegen dieses Briefes und der Eingabe an das Gericht
zu C. wegen Beleidigung, Verleumdung und Nöthigung ange¬
klagt, suchte sie nunmehr den gegen sie angestrengten Straf¬
prozess auf jede Weise hinzuziehen und ihre Verurtheilung un¬
möglich zu machen. Sie lehnte Richter und Sachverständige in
wiederholten Fällen ab. Diese Ablehnung erstreckte sich auf das
Kammergericht und seinen Präsidenten, auf den Justizminister und
selbst auf ihre Vertheidiger. Sie liess es hierbei an Beleidigungen
und den bösartigsten Unterstellungen nicht fehlen, verfolgte ein¬
zelne dieser Personen selbst mit Strafanträgen etc.
Ich halte es nicht für erforderlich, die ganze Reihe dieser
Handlungen, welche ich oben entwickelt habe, noch einmal vor-
zuführen. Sie sind so zahlreich und so unverschleiert, dass sich
ihr Charakter als eine lange Reihe von querulirenden Handlungen
ohne weiteres ergiebt. Mit dem Ausdruck der querulirenden
Handlung will ich dieselben nicht schon jetzt als krankhaft hin¬
stellen; es bedarf vielmehr eines besonderen Beweises, wenn man
das Queruliren als den Ausfluss einer krankhaften Geistesbeschaffen-
heit bezeichnen will. Querulirende Handlungen sind solche, welche
! >e Gerichte und Behörden unaufhörlich belästigen und den vor-
Ueber Querulantenwahnsinn.
235
geschriebenen normalen Lauf der Gerechtigkeit zu stören und zu
unterbrechen geeignet sind.
Frau G. hat den normalen Lauf ihres Prozesses und der
einzelnen Termine zu vereiteln gesucht durch Anträge jeder Art,
die sich meistens als uumotivirte herausstellten, und hat, wenn
diese Anträge nicht fruchteten, die Verhandlungen dadurch unmög¬
lich gemacht, dass sie anscheinend in Ohnmacht, Krämpfe und
tobsuchtsartige Zustände verfiel. Ich bin noch heute der Ansicht, dass
diese letzteren Zustände willkürlich hervorgerufene waren und bin
in dieser meiner Ansicht noch bestärkt durch die Thatsache, dass
Frau G., als sie nach der energischen Massregel ihrer Verhaftung
erkannte, ihr bisheriges Benehmen während der Termine habe
doch nicht den gewünschten Erfolg, nunmehr im Stande war,
Stunden lang zu verhandeln und dass sie trotz aufregender Vor¬
kommnisse während dieser Verhandlungen von keinen störenden
Zufällen befallen wurde. Auch während ihres Aufenthaltes in der
Charitö sind solche Zufälle nicht beobachtet worden.
Herr Dr. W. schreibt dies ihrer Willenskraft zu — ich für
meine Person erkläre mir dies durch die Simulation der früheren
Krampfzufälle und glaube den Nachweis für die Richtigkeit meiner
Ansicht geführt zu haben. Dieser Nachweis wird auch durchaus
nicht nichtig, wenn ich mit Herrn Dr. W. annehme, dass Frau G.
eine hysterische Person ist. Solche hysterische Kranke lieben die
Simulation und Uebertreibung auf Grund ihres krankhaften Wesens.
Ich steife mich andererseits nicht auf diesen Beweis von dem
Vorhandensein einer hysterischen Basis und eines hysterischen
Charakters, weil uns, wie gesagt, das frühere Leben und Wesen
der Angeklagten verhüllt ist.
Ich komme jetzt zur Begründung meiner Behauptung, dass
das querulirende Handeln der Angeklagten ein krankhaftes und
dass es nicht aus überlegtem und besonnenem Denken hervorge¬
gangen sei. Es ist weder aus rafiinirter Bosheit, noch aus augen¬
blicklicher Unbesonnenheit hervorgegangen, — sondern aus einem
krankhaften Vorstellungskreis, aus Wahnvorstellungen der Verfol¬
gung und Beeinträchtigung.
Dass Frau G. in allen Personen, welche ihr entgegentreten
und ihrer Ansicht nicht beipflichten, Verfolger und Feinde sieht,
das venäth sie in allen ihren Eingaben, Beschwerden, Verhand¬
lungen und Gesprächen. Hat sie doch dem Dr. W. zugestanden,
sie würde auch Dr. R. für ihren Feind halten, wenn er ihren
Ehemann für geisteskrank erklärte.
Dass diese Vorstellungen krankhafte Wahnvorstellungen sind,
lässt sich an ihrer Entstehung und ihrem wachsenden Umfang
nachweisen.
Die Verfolgungsideen, welche die Angeklagte beherrschen,
sind nicht entstanden auf Grund von Thatsachen, welche eine Ver¬
folgung der Angeklagten erschlossen lassen, sondern auf Grund
von eingebildeten und in keiner Weise als wirklich vorhanden zu
beweisenden Annahmen. Die Angeklagte geht z. B. von der
Vorstellung aus, ihr Ehemann sei unschuldig, er sei der Verfolgte,
236
Dr. Mittenzweig: Ueber Querulantenwahnsinn.
auch der Herr Minister verfolge ihn, weil er ein Geheimniss des recht¬
lich und moralisch schuldigen Ministers kenne, und man gewinnt
aus ihrer (und ihres Mannes) Darstellung die Ansicht, dass der
Herr Minister Initiative ergriffen und den Herrn G. verfolge,
um ihn mundtodt zu machen. Das Studium der Akten indess
ergiebt das gerade Gegentheil. ‘ Der Herr Minister hat keine
Ahnung von der Existenz des Herrn G. und seinen Prozessen.
Da fuhrt — ein Zufall — den Herrn G. zur Kenntniss eines
angeblichen strafwürdigen Verbrechens des Herrn Ministers, und
Herr G. beutet diese Kenntniss aus, um den Herrn Minister in
seinem Interesse zu Handlungen zu bewegen.
Die Andeutungen des Herrn G. lassen den Herrn Minister
kalt. Herr G. wird entmündigt.
Nunmehr übernimmt Frau G. die Holle des einschüchternden
Verfolgers, und wird deshalb wegen Nöthigung etc. verklagt. Mit
der Klage wächst die Anzahl ihrer vermeintlichen Feinde. Letz¬
tere ergreifen nach ihrer Ansicht gegen Pflicht, Gewissen und Eid
die Partei ihres Gegners und treten damit in die Reihe ihrer
Verfolger. Auch das warum? erklärt sie, indem sie ohne jeden
Anhalt bei jedem annimmt, dass er sich dem Herrn Justizminister
angenehm machen will. Dass dem wirklich so sei, dass ihre
Unterstellungen irgend welche thatsächliche Begründung hätten,
das versucht sie nicht weiter zu beweisen. Besonders gegen die
Sachverständigen, die ihren Ehemann für geisteskrank erklärt
haben, wendet sich ihr Angriff, und namentlich der Unterzeichnete
hat die ganze Schwere ihres Hasses fühlen müssen. Dabei passirt
es ihr, dass sie Thatsachen, die ihr bekannt sein müssen, unter¬
drückt und selbst das Gegentheil davon behauptet. So giebt sie,
wie ihr Ehemann, an, dass der Uuterzeichnete den Geisteszustand
ihres Mannes beurtheilt habe, ohne den Mann selbst untersucht
zu haben. Und doch muss ihr bekannt sein, dass ihr Ehemann
mehr denn eine Stunde lang von ihm beobachtet ist. Des Ferneren
giebt sie an, dass der Unterzeichnete sein Gutachten vom 16. De¬
zember 18.. ohne jeden Schein von Grund in der Folge geändert
habe und doch weiss sie, dass derselbe dies mit den Angaben der
Gerichtsdiener motivirt hat, welche sie, die Angeklagte, gleich
nach dem Termin vom 16. Dezember 18.. beobachteten, ohne
einen Schein von Schwäche an ihr zu bemerken.
Ich nehme nicht an, dass Frau G. mit Besonnenheit und
Ueberlegung in bösartiger Absicht die Unwahrheit hierin sagt,
sondern bin der Ansicht, dass sie sich ihrer Handlungen nicht
vollkommen bewusst ist, dass sie die Ereignisse nicht richtig und
nicht unparteiisch auffasst, dass sie die Ereignisse in ihrer Lei¬
denschaft nur so auffasst und im Gedächtniss behält, wie sie
nützen können. Leicht verständlich ist ein solches Wesen nicht.
Wie aber bei anderen Formen der Geisteskrankheit, so müssen
wir auch bei dieser Form der Paranoia querulans uns damit be¬
gnügen, dass wir die Thatsache der mangelnden Reproduktions¬
treue bei ihr beobachten, ohne uns das psychische Räthsel voll¬
kommen erklären zu können.
Aus Versammlungen und Vereinen.
237
So Hesse sich bei jeder speziellen Verfolgungsidee der Frau
G. nachweisen, dass sie des ^tatsächlichen Hintergrundes entbehrt,
dass sie irrthtimlich und subjektiv entstanden ist. Dass die Zahl
der einzelnen Verfolgungsvorstellungen stets gewachsen ist und
noch wachsen muss, ergiebt sich aus der gegebenen Darstellung,
sowie aus der Aeusserung der Frau G. über Herrn Dr. R.
Charakteristisch für das Krankhafte der Vorstellungen ist
auch der Umstand, dass nichts die Angeklagte von dem Irrthüm-
lichen ihrer Wahnideen überzeugen kann.
Man könnte noch Zweifel hegen, ob diese Handlungen wirk¬
lich krankhafte sind, ob sie nicht doch als strafbare verbrecherische
Handlungen aufgefasst und beurtheilt werden müssen.
Ohne darauf speziell einzugehen, will ich hier betonen,
dass Erfahrung und Wissenschaft bewiesen haben, dass solche
Personen irre, d. h. geisteskranke Personen sind. Hinweisen will
ich ferner auf die klare und verständnisvolle Beurtheilung des
R.-A. G. Auch auf die Untersuchung will ich mich hier nicht
speziell einlassen, ob Frau G. in ihrem Wesen den Boden zur
Krankheit in sich getragen hat oder ob sie von ihrem in gleicher
Weise erkrankten Ehemann induzirt ist. Letzteres sei, wie Herr
Dr. W. bereits erwähnt hat, nicht selten und auch im vorliegenden
Falle anzunehmen.
Ich gebe schliesslich mein Gutachten dahin ab, dass Frau G.
an Wahnvorstellungen leidet, welche aus irrigem Urtheil entstanden
sind; dass diese Wahnvorstellungen das querulirende Handeln der
Angeklagten veranlasst haben und dass diese Krankheit als
Querulantenwahnsinn zu bezeichnen ist.
(Fortsetzung folgt.)
Aus Versammlungen und Vereinen.
4. Versammlung des Vereins der Ufedisinalbeamten des
Reg.-Bes. Stettin am 24. April 1893 an Stettin.
Anwesend waren 14 Mitglieder. Vor Beginn der Versammlung fand eine
Besichtigung der neuerbauten Schlachthausanlage statt, wobei einige
pathologische Thierpräparate demonstrirt wurden.
Die Versammlung begann unter Leitung des Vorsitzenden, Reg.- u. Med.-
Rathes Dr. Kater bau, zunächst mit einigen geschäftlichen Mittheilungen, unter
denen besonders hervorgehoben wurde, dass die ersten beiden Gegenstände der
vorigen Tagesordnung, die Obergutachten der Berufsgenossenschaften und die
Erweiterung der Disziplinarbefugniss der Aerztekammern betreffend, als nun¬
mehr gegenstandslos, nicht mehr, wie es bestimmt worden war, auf die Tages¬
ordnung des Preussischen Medizinalbeamten-Vereins gebracht worden sind.
Alsdann berichtete H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Katerbau über einige
behördliche Verordnungen aus dem letzten Jahre.
Zum Schluss trug H. Kr.-Phys. und Geh. San.-Rath Dr. Wilhelmi-
Swinemünde seine eigenen Erfahrungen und Anschauungen über asiatische
Cholera vor.
An der Hand der bisherigen geschichtlichen Erfahrungen und der geogra¬
phischen Verbreitung, welche die Cholera genommen, suchte der Vortragende nach¬
zuweisen, dass eine Verbreitung dieser Krankheit durch die Flüsse, insbeson¬
dere durch das Wasser, weder jemals erwiesen, noch überhaupt plausibel sei.
Längs der Flüsse hätte die Krankheit sich nur fortgepflanzt, sofern grosse Städte
an ihnen gelegen seien, und die Wanderung der Krankheit von einer Stadt zur
288 Kleinere Mitthcilungen and Referate ans Zeitschriften.
anderen stattgefunden habe. Nicht Feuchtigkeit, sondern im Gegentheil Trocken-
heit habe nach seinen Beobachtungen stets eine Förderung der Krankheit zur
Folge gehabt. Trockenheit und Wärme förderten, Nässe und Kälte
hemmten die Krankheit. Ob der Oommabacillus thatsächlich der Erreger
der Krankheit ist, hält Vortragender durchaus nicht für abgeschlossen, es könne
auch ein Zersetzungsprodukt der Choleradejekte sein.
In der hieran sich schliessenden Diskussion wurde den Ausführungen des
Vortragenden durchweg entgegengetreten.
Nach Schluss der Sitzung blieben die Anwesenden noch zu gemeinsamem
Abendessen zusammen.
Dr. Fr eye r-Stettin.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
Hygiene und offcntlichcs Sanitätswesen:
Die Verhütung des Kindbettfiebers. Von Prof. Dr. Löh lein. Verlag
von J. F. Bergmann in Wiesbaden. Gross 8°, 35 S.
Als 9. Punkt der „gynäkologischen Tagesfragen“ bespricht der
bekannte Verfasser, der Leiter der Frauenklinik in Giessen, die Verhütung
fieberhafter Erkrankungen im Wochenbett — eine Frage, die Alle und nicht
zum wenigsten uns Medizinal - Beamte iuteressiren muss. Er erinnert an die
Schrecken der vorantiseptischen Zeit, wo die geburtshülflichen Kliniken ein reiches
Material für die Demonstrations-Kurse der pathologischen Anatomie lieferten,
und sodann an die Ueberganszeit der 70 er Jahre, wo man zwar bereits wusste,
dass die Krankheitsträger meist durch die Hände und Gerätschaften des Pflege-
Personals in die Geburtswege gebracht wurden, wo man aber kein zuverlässiges
Mittel kannte, jene Schädlinge femzuhalten. Wie anders ist das jetzt geworden!
Getrosten Muthes sieht der Geburtshelfer dem Wochenbett der von ihm entbun¬
denen Frauen entgegen, auch wenn er eingreifende Operationen unter ungünstigen
äusseren Verhältnissen ausführen musste.
Verf. untersucht nunmehr, wie sich die Verhältnisse seit Einführung der
Antiseptik in der Anstaltspraxis und in der Hauspraxis gestaltet haben.
In den Anstalten ist seit dem Ende der 60er Jahre, wo die Mortalität
in Folge von „puerperalen Prozessen“ immer noch 3 °/ 0 und darüber betrug, die
Sterblichkeit — nicht mit einem Schlage, sondern Schritt für Schritt — auf 0,5
bis 0,3 °/ 0 gesunken. In der Giessener Klinik starben während der letzten
4 Jahre von 1000 Entbundenen an puerperaler Infektion nur 2, von denen die
eine bereits infizirt aufgenommen, die andere durch Kaiserschnitt entbunden
wurde, nachdem 7 Stunden vor ihrer Aufnahme das Fruchtwasser abgeflossen
war. Es war also bei den Kreissenden, die vom Geburtsbeginn an in der Klinik
abgewartet werden konnten, die Wochenbetts-Sterblichkeit = Null. Wae die
ErkrankungsZiffer betrifft, so erkrankten während der letzten 2 Jahre inner¬
halb der ersten Woche nach der Geburt 8,3 °/ 0 aller Entbundenen, und von diesen
hatte hei 4,3 °/ 0 die Temperatur nur einmal 38° überschritten. Und dies Alles,
trotzdem in 15,3 °/ 0 aller Fälle grössere geburtshilfliche Operationen nöthig
wurden und zahlreiche Geburts-Komplikationen Vorlagen ! — Aus anderen Kliniken
werden ähnliche, z. Th. noch etwas günstigere Erfolge gemeldet. Dieses vor¬
zügliche Resultat wurde in der Giessener Klinik erreicht, ohne dass regelmässige
prophylaktische Scheiden - Ausspülungen vorgeuommen wurden. Nur in Vs — l U
aller Fälle, wo die Möglichkeit der Anwesenheit pathogener Keime nicht mit
Sicherheit ausgeschlossen werden konnte, erfolgte ein sorgfältiges und schonendes
Auswischen und Ausreiben der Scheide mit Watte, die in Sublimat - Lösung
getränkt war. Die Indikationen für diese prophylaktische Desinfektion des
Geburtskanals möge man im Original nacklesen, ebenso die Art, wie die Anti¬
sepsis vor und bei der Geburt gehandkabt wird. Sie zeichnet sich dadurch aus,
dass sie einfach und von jeder Künstelei frei ist. Erwähnt sei nur, dass zum
Dammschutz über den ganzen Damm eine Lage (mit Sublimat-Lösung getränkter)
Watte gelegt und durch diese schützende Decke hindurch der Austritt unter¬
stützt wird.
Für uns viel wichtiger ist der 2. Tkeil, der die Erfolge der Antiseptik in
Kleinere Mittheilungen and Referate ans Zeitschriften.
239
der Hanspraxis behandelt. Es ist unmöglich, den reichen und anregenden
Inhalt auch nur annäherungsweise kurz wiederzngebcn; ich will desslialb einige
Punkte herausgreifen. Dass trotz aller vom Staate, von den Aerzten, den
Hebammen und dom Publikum aufgewendeten Mühe die Erfolge bis jetzt nicht
deutlich hervortreten, hat eine ganze Reihe von Gründen. Jeder Erfahrene wird
mit dem Verfasser übereinstimmen, »wenn er hierbei auf die gesteigerte Ope¬
rationsfrequenz hinweist und die Aerzte vor der unnützen Vielthuerei (namentlich
durch Lösung der Placenta und Anlegung der Zange) dringend warnt. Beim
Dnrchsehen der Hebammen - Tagebücher haben wir Physiker ja reichlich Gelegen¬
heit, hierüber Studien zu machen, und es muss gewiss Kopfschütteln erregen,
wenn bei manchen Hebammen jede 6. oder 7. Geburt durch künstliche ärztliche
Hülfe beendet wird. Aus meinem früheren Wirkungskreise habe ich berechnet,
dass die Zahl der geburtshülflichen Operationen von 2,92 auf 4,47 °/ 0 (die der
Zangen - Applikationen von 1,10 auf 2,31 °/ 0 ) gestiegen ist. Wir brauchen auch
kein Geheimniss daraus zu machen, dass bei einem unverhältnissmässig hohen
Prozentsatz der schweren Puerperal - Fälle ärztliche Eingriffe vorausgegangen
sind. Ich will nicht einmal von solchen Aerzten reden (wie ich sie kennen
gelernt habe), die bei geburtshülflichen Operationen nicht einmal die Manschetten
ablegen oder die Zange ungereinigt und (im Winter!) ungewärmt direkt aus der
Verband - Tasche in die Gesehlcchtstheile der Kreissenden einführen; aber auch
der gewissenhafte Antiseptiker sollte in seinem eigenen Interesse das vorsichtige
pflichtgemässe Abwarten dem hastigen rücksichtslosen Handeln vorziehen.
Den Hauptnachdruck legt der Verfasser natürlich auf den Zustand des
Hebammenwesens. Alles ist zu unterstützen, was den allgemeinen Bildungsgrad,
die Fachausbildung, die materielle Stellung der Hebammen zu bessern und die
Einzelnen vor der Degeneration zu bewahren im Stande ist. Unter den hier
erwähnten Punkten möchte ich die „Allgemeine Deutsche Hebammenzeitung“
heransgreifen, die bei manchen Kollegen noch immer einem gewissen — meiner
Ansicht nach ganz unberechtigten — Misstrauen begegnet. Sie ist vortrefflich
redigirt und weisst namentlich fortwährend die Hebammen auf die Schranken
ihrer Thätigkeit hin, verdient also auch seitens der Physiker die wärmste Em¬
pfehlung gegenüber der Behörde. Ich habe bei keiner Hebamme, die eine eifrige
Leserin dieser Zeitung war, jene Ueberhebung gefunden, wie sie uns gerade bei
beschränkten und jeder Weiterbildung abholden Personen so oft zu unserm Leid¬
wesen entgegentritt.
Einen breiten Raum in der Erörterung nehmen natürlich die von der
Hessischen Regierung eingeführten „Wiederholungslehrgänge“ für
Hebammen in den Staats-Entbindungs-Anstalten ein. Alles, was der Ver¬
fasser bereits in seinem ersten Berichte über diese Kurse rühmend hervorheben
konnte, hat sich auch beim 2. Kursus in erfreulicher Weise gezeigt. Nach dem
sicherlich kompetenten Urtheil des Verfassers giebt es kein Mittel, durch das
die Regierung zur Zeit und unter den gegebenen Verhältnissen die Hebammen
— wenn wir von der Hebung ihrer materiellen Lage absehen — wirksamer vor
der Degeneration schützen könnte, keines, das sie (namentlich auch die älteren
Hebammen) mit den modernen antiseptischen Massftgeln gründlicher vertraut
machen könnte, als diese Kurse in der Anstalt. Möchte doch der Preussische
Staat bald ähnliche Kurse cinführen! Denn, dass die jetzigen von den Physikern
abzuhaltenden Nachprüfungen den Zweck der Weiterbildung nur unvollkommen
erfüllen, darüber besteht wohl keine Meinungsverschiedenheit. Bereits vor meh¬
reren Jahren habe ich bei einer anderen Gelegenheit aus den Erfahrungen meiner
früheren Stelle statistisch den Nachweis hierüber zu erbringen versucht. Ja, ich
habe in der letzten Zeit die betrübende Erfahrung machen müssen, dass eine
eingehende Nachprüfung nicht einmal ein sicheres Urtheil darüber gestattet, ob
eine ältere Hebamme sieh in den modernen Anforderungen der Antiseptik prak¬
tisch noch zurechtfindet. Zur Ergänzung der Nachprüfungen und zur Ueber-
wachung der Thätigkeit der Hebammen scheint mir daher ein Verfahren sehr
geeignet, dass im hiesigen Bezirk vor Kurzem eingeführt ist: Bei jedem Fall
von Kindbettfieber werden durch den Physikus an Ort und Stelle die Entbundene,
die bei der Geburt zugegen gewesenen Zeugen, der Arzt und die Hebamme nach
einem genau vorgeschriebenen Schema auf das Eingehendste über alle Vorgänge
bei der Geburt und im Wochenbett vernommen und etwaige InstruktionsWidrig¬
keiten festgestellt. Jede Hebamme, die auch nur einmal durch ein solches Fege¬
feuer hindurchgegangen ist, hat erstens ein sehr eindringliches Repetitorium über
240
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
ihre Pflichten durchgemacht und ist zweitens der auf ihr lastenden Verantwort¬
lichkeit schwer bewusst geworden; der Physikus hat aber hier die unvergleich¬
liche Gelegenheit, die Hebamme so kennen zu lernen, wie sie im Altagsleben
wirklich ist und nicht nur, wie sie sich im Staatsgewande des Nachprüfungs-
Termins präsentirt. Dass ich — auch nach Einführung der staatlichen Repe¬
titionskurse — aus vielen Gründen nicht auf die Nachprüfungen durch den
zuständigen Physikus verzichten möchte, habe ich schon in meinem vorhin
erwähnten Aufsatze betont und hebe es nochmals hervor.
Bei Besprechung der den Hebammen zu gebenden prophylaktischen
Spezialvorschriften berührt der Verfasser auch die von Einigen in letzter
Zeit aufgestellte Forderung, dass den Hebammen die innere Untersuchung
ganz zu verbieten sei. Löhlein verwirft diese Forderung mit Recht, und zu
den angegebenen Gründen möchte ich noch das hinzufügen, was Frau 0. Gebauer
in Nr. 6 der Allgemeinen Deutschen Hebammenzeitung vorgebracht hat: dass
nämlich nur auf diesem Wege (der inneren Untersuchung) eine Kenntnissnahme
im Geburtsmechanismus und ein richtiges Urtheil über den Geburts-Verlauf sich
erwerben lässt, und das die Hebammen, welche bei jeder Entbindung auf die
innere Untersuchung verzichten, eine Fortbildungs-Gelegenheit aufgeben, die sich
schnell genug rächen würde, wenn der ganze Stand diesen Pass innehielte. Das
ist gewiss richtig; und wenn sich die Hebamme bei jeder inneren Untersuchung
das Bewusstsein der Verantwortung lebendig erhält, wenn also jede innere Unter¬
suchung zu einer Haupt- und Staats-Aktion gemacht wird, über die Rechenschaft
abgelegt werden muss, dann kann dieser Eingriff den Hebammen ruhig gestattet
werden. Nur dass auch hier die Aerzte mit gutem Beispiel vorangehen!
Auch darin wird jeder Sachkenner mit dem Verfasser übereinstimmen,
dass man bezüglich des den Hebammen zu übergebenden Antiseptikums an
der Karbolsäure festhalten soll und zwar an der 3 °/ 0 Lösung. Wenn er aber
sagt, dass der lächerliche Zusatz von einigen Esslöffeln einer 2 °/ 0 Lösung auf
eine kolossale Wasserschüssel Wasser endlich in das Reich der Mythe herabge¬
stiegen ist, so muss ich dem nach meinen hiesigen Erfahrungen widersprechen.
Ich habe kaum eine ältere Hebamme gefunden, die nicht für die Reiniguug der
Geschlechtstheile vor der Geburt dem Waschwasser einige Esslöffel ihrer 3 4 / 0
Lösung zugesetzt hätte. Sobald es nur etwas nach Karbol riecht, tritt schon ein
wohlthuendes Gefühl der Sicherheit ein! Mag dieses Gefühl trügerisch und also
gefährlich sein, so beruht es in diesem Falle offenbar auf der richtigen Empfin¬
dung, dass die in den §§.71 und 109 des neuen Lehrbuchs vorgeschriebene
Reinigung der Geschlechtstheile („mit- lauwarmem, wenn möglich durchgekochtem
Wasser“) unzulänglich ist. Die minist. Verfügung vom 22. November 188® verlangt
wenigstens (§. 6) gründliches Waschen unter Anwendung der Waschbürste und
von Seife, und ich weiss nicht, warum die Redaktion des Lehrbuchs Seife und
Bürste gestrichen hat. Denn bei vielen unserer Kreissenden (namentlich auf dem
Lande) lässt sich eine Reinigung der Geschlechtstheile nur mit Wasser gar nicht
erzielen. Auf der anderen Seite sind auch solche Vorschriften nicht durchzuführen,
wie sie Leopold bezüglich der Desinfektion der äusseren Geschlechtstheile giebt,
dass nämlich diese 6 Minuten lang abgebürstet (!) und dann noch 3 Minuten lang
mit 2'/i °/<> Karbol-Lösung abgerieben werden sollen. Und diese Reinigung soll
bei jeder länger dauernden Geburte aller 3 Stunden wiederholt werden! —
Zum Schluss bespricht der Verfasser die wichtige Frage, wann und von
wem eine Erkrankung im Wochenbett als Puerperalfieber dem Physikus an ge¬
zeigt werden soll. Er hält es für unthunlich, den Hebammen diese Entschei¬
dung zu überlassen, und meint, es müsste zu den grössten Unzuträglichkeiten
führen, wenn die Hebamme auf irgend ein bestimmtes Fieber-Symptom hin —
etwa bei einer Temperatur über 38,5 oder 39° — zur amtlichen Meldung ver¬
pflichtet würde und daraufhin seitens des beamteten Arztes persönliche Nach¬
fragen in Bezug anf den „gemeldeten Puerperalfieber -Fall“ stattfände. Ich bin
nicht ganz dieser Meinung und glaube, dass die Anzeigen der Hebammen nicht
zu entbehren sind; ich habe auch niemals Unzuträglichkeiten erlebt, wenn sich
bei meinen Nachforschungen an Ort und Stelle das vermuthete Kindbettfieber
als eine harmlosere Krankheit herausstellte, und ich halte die bei solchen Ge¬
legenheiten zu machenden Beobachtungen über das Verhalten der Hebammen für
äusserst werthvoll. Aber nach meiner Ansicht ist der richtige Weg der, wie er
im hiesigen Bezirk vorgeschrieben ist, dass die Hebammen jede fieberhafte Er¬
krankung einer Wöchnerin dem Physikus zu melden verbunden ist, und dass sich
Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften.
241
der Physikn8 (falls die Meldung nicht direkt als Kindbettfieber lantet) dann mit
dem behandelnden Arzte in Verbindung setzt. Erklärt dieser die Krankheit mit
Bestimmtheit nicht für Kindbettfieber, so unterbleibt jede Lokal - Recherche,
andernfalls finden in der vorhin angegebenen Weise die Ermittelungen statt, um
einer Verschleppung des Kindbettficbers vorzubeugen. Dass eine solche „Ver¬
schleppung“ durch eine Hebamme, die sich in jedem einzelnen Fall ihre Verant¬
wortung bewusst ist und in jedem Falle streng nach antiseptischen Grundsätzen
verfährt, nach unseren Anschauungen eigentlich nicht denkbar erscheint, ist
gewiss ebenso richtig, wie dass die Mehrzahl unserer Hebammen diesem eben
gezeichneten Ideal recht fern steht. Aber die Zahl derer, die sich ihm nähern,
wächst von Jahr zu Jahr, und hierzn beizutragen, ist die Pflicht jedes Arztes
und jedes Physikus. Jeder sollte deshalb auch die Schrift Löhleins von der
ich nur einige zusammenhanglose Brocken habe geben können, lesen und —
beherzigen! Kr.-Phys. Dr. Gleitsmann-Wiesbaden.
Einfluss der Steil- und Schrägschrift. In Nr. 18—15 d. J. bringt
die Münchener medizinische Wochenschrift den zweiten Bericht 1 ) der vom ärzt¬
lichen Bezirksverem zu München gewählten Kommission zur Ptüfung des Ein¬
flusses der Steil- und Schrägschrift auf die Augen, Körper und Kopfhalten der
Schulkinder. Die betreffenden Untersuchungen sind in denselben Schulen, wie
im Vorjahre, fortgesetzt; von den Schülern (ca. 8000) schrieben ca. 66% steil
und 44% schräg.
Die von Dr. Brunner ausgeführten Untersuchungen der Wirbelsänle
ergaben
überhaupt
bei Knaben.
bei Mädchen.
Rachitis.
25,5%
24,2 %
20,6 T
flache Rücken ....
10,4 „
9,6 „
11,2 ,
Skoliose.
1,8»
1,9 ,
0,24 „
1,8 ,
Kyphose.
Biegung der Lendenwir¬
0,2,
0,13 „
belsäule .
6,9 „
63 ,
5,9 „
Im Allgemeinen stimmten diese Untersuchnngsresultate mit denen des
Vorjahres überein, nur in Bezug auf die rachitischen Erkrankungen nnd der
Kyphose zeigte sich eine wesentliche Abnahme, in Bezug auf Skoliose eine ge¬
ringe Zunahme.
Die Untersuchungen der Sehschärfe ergaben fast vollständige Ueber-
einstimmung mit dem Vorjahr: bei 58°/ 0 war derselbe normal; ebenso waren
unter den Knaben wiederum verhältnissmässig mehr Normalsichtige (62,5 %) als
unter den Mädchen (53,0 °/ 0 . In der I. Klasse waren etwas weniger Normal¬
sichtige 54,8 % als in der n. und III. Klasse (59,0 und 59,8 °/ 0 ); desgleichen
unter den schrägschreibenden Schülern weniger als unter den steilschreibenden
(55,3 gegenüber 60,0 °/ 0 ).
Die Prüfung der Refraktion ergab:
Emmetropen 60,3% gegenüber 64,0 °/ 0 im Vorjahre
Hypermetropen 21,1 „ „ 24,4 „ „
Myopen 6,2 „ „ 3,6 „ „
Astigmatiker 10,2 „ „ 7.8 „ „
sonstige Anomalien 3,2 „ „ 2,1 „ „ *
Bei den Knaben waren mehr Emmetropen (62,8%) und Kurzsichtige
(5,5 %) als bei den Mädchen (57,6 und 5,0 %), bei diesen dagegen mehr Hyper¬
metropen und Astigmatiker (22,3 und 12,0% gegen 20,0 und 8,5 %). In
den steilschreibenden Schulen fanden sich nur 4,8 % Kurzsichtige, in den schräg¬
schreibenden dagegen 5,8%.
Die Körperhaltung war bei
Steilschrift - Schrägschrift
absolut grade . bei 33,7% 22,8 % Schulkindern.
mehr oder weniger schief . „ 66,3 „ 77,2 „ „
Recht ausschlaggebend zu 'Gunsten der Steilschrift war das Verhältniss
in der ersten Klasse, in der die Kinder gleich beim Eintritt in die Schule steil
‘) Das Referat über den ersten Bericht ist in Nr. 18 der Zeitschrift, 1892,
S. 431 gebracht.
242 Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften.
schreiben lernen, also vorher gar nicht schräg geschrieben haben. Hier wurde
normale Körperhaltung bei 34,2% steilschreibenden Schulkindern gefunden, da¬
gegen nur bei 14,4% schrägschreibenden. Auch die Kopfhaltung war bei
den steilschreibenden Schulkindern erheblich besser als bei den schrägschreiben¬
den; dieselbe wurde bei den ersteren 2% mal soviel absolut gerade (9,5 %
gegenüber 3,8%) und 2 mal soviel relativ gerade (33,5% gegenüber 17,5%)
als bei letzteren gefunden. Linksneigung des Kopfes ist bei beiden Schreibe¬
arten viel häufiger als Rechtsneigung; ebenso ist die Neigung des Kopfes nach
links ein beträchtlicherer als nach rechts (durchschnittlich 11,7° bei Steilschrift
und 15,7° bei Schrägschrift gegen 4,4 und 6.4°).
Die Entfernung der Augen von der Federspitze stellte sich
bei den Untersuchungen im vorigen Jahre bei den steilschreibenden Kindern um
3,3 cm grösser (27,9 cm), als bei den schrägschreibenden.
Die bei den im Jahre 1891 ausgeführten Untersuchungen festgestellten
Vorzüge der Steilschrift: bessere Körper- und Kopfhaltung, geringere Annähe¬
rung an die Schrift, werden somit durch das Ergebniss der vorjährigen Unter¬
suchungen wiederum bestätigt. Es ist durch dieselben aber auch eine Besserung
der Schreibhaltung bei der Schrägschrift konstatirt und zwar besonders bei den
grösseren Schülern und in denjenigen Klassen, in denen das Interesse und die
Energie des Lehrers einen entsprechenden Einfluss auf die Haltung der Schul¬
kinder beim Schreiben ausgeübt hat. Oberstabsarzt Dr. Segge 1, der wiederum
die Untersuchungen über die Körperhaltung, Sehschärfe und Accommodation
ausgeführt hat, kommt in seinem Berichte zu dem Schluss, dass der Vorrang
der Steilschrift in Bezug auf die bessere Schreibhaltung genügend erwiesen aei.
Die bei der Steilschrift in Folge des Ellenbogens bedingte gute Körperhaltung
werde von den Schulkindern aber nur anfänglich angenommen und nicht lange
festgehalten, bei eintretender Ermüdung trete wie bei der Schrägschrift fehler¬
hafte Schrägstellung der Wirbelsäule, starke Neigung des Kopfes zur Seite unter
gleichzeitiger Annäherung zur Schreibfläche ein, so dass seines Erachtens die
Einschränkung des Schulunterrichtes ein noch dringenderes Gebot sei
als eine Aenderung der Schreibmethode. Diese Einschränkung hätte sich noch
weniger auf die Zahl von Si hreibstunden als vielmehr auf die Abkürzung der
Stunden in der Weise zu erstrecken, dass von den kleineren Schulkindern, die
leichter ermüden, nicht länger als eine Viertelstunde geschrieben und die Dauer
des Schreibens in den aufsteigenden Klassen allmählich, aber niemals bis zu einer
Stunde erhöht werden dürfe. Rpd.
Ergebnisse der Schutzpockenimpfung im Königreiche Bayern im
Jahre 1891. Vom Königlichen Centralimpfarzte Dr. Ludwig Stumpf-München.
Medizinische Wochenschrift 1892; Nr. 51 und 52.
Das Gcsammtergebniss stellt sich wie folgt: Es sind von 100 Impfpflich-
tigen bei den
Erstimpfungen.
Wiederimpfungen.
1891
gegen
1890:
1891
gegen
1890:
im Laufe des Geschäftsjahres
uugeimpft gestorben . .
10,3
71
9,7
0,15
71
0,12
verzogen.
0,9
71
0,7
1,50
71
1,00
impfptiiehtig geblieben . . .
82,8
71
83,0
98,35
71
98,28
Von 100 impfpflichtig Geblie¬
benen sind geimpft. . .
92,75
71
93,9
98,75
71
98,76
ungeimpft geblieben ....
7,25
71
0,1
1,25
71
1,24
und zwar weil
wegen Krankheit zurückgestellt
5,50
71
4,7
0,75
71
0,70
aus der Schulpflicht entlassen
—
71
—
0,08
71
0,07
nicht aufzufinden.
0,95
n
0,9
0,12
71
0,17
vorschriftswidrig entzogen . .
(),S0
71
0,5
0.3
71
0,30
Von 100 Geimpften sind geimpft
mit Erfolg.08,71
71
99,0
90,7
71
96,3
ohne Erfolg ....
1,29
71
1,4
3,3
71
ö,V
Die Zahl der Fehlirapfungcn
betrug bei der Impfung mit
Menschenlymphe:
a) von Körper zu Körper
0,1
n
0,7
3,0
71
2,6
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
243
Erstimpfungen.
1891 gegen 1890:
b) Glyccrinlymphe . . .
Ji
0,5
c) anders aufbewahrter .
0,95 „
0,4
Impfung mit Thierlymphe:
a) mit Glycerinlymphe
1,2 *
1,75
b) anders aufbewahrter .
1,6 -
0,70
Wiederimpfungen.
1891 gegen 1890:
“ » } 23,7
3,5 „ 3,6
2,2 „ -
Die Thierlymphe wurde fast ausschliesslich von der Königl. Ccntral-
impfnnstalt geliefert, die 469729 Portionen Lymphe (40696 Portionen mehr
als im Vorjahre) produzirt hat von 103 Kälbern. Von diesen Portionen sind 413817
versandt, 10459 an der Centralstelle selbst verbraucht, 37420 Portionen wegen
nachträglicher Erkrankung der Impfthiere vernichtet und 7353 in Bestand ge¬
blieben. Die Menge der von den einzelnen Kälbern gewonnenen Lymphe schwankte
au Trockensubstanz von 1,20 bis 31,78 gr.
Das öffentliche Impfgeschäft war ebenso wie im Vorjahre fast allgemein
in der kurzen Zeit von 6 Wochen (letzte Aprilwoche bis Mitte Juni) erledigt;
vorzugsweise wurde im Monat Mai geimpft.
Als Impfmethode kam fast ausschliesslich der einfache Schnitt zur
Anwendung, und zwar bei Erstimpflingen 5 Schnitte auf jedem Arm; bei Wieder¬
impfungen 5—6 auf dem linken Arm. Mit Kreuz- und Querschnitten wurde nur
selten geimpft; die Zahl der Impfschnitte war dann eine geringere. Die Vor¬
schriften in Bezug auf Reinigung der Impfinstrumente u. s. w. scheinen immer
beachtet zu sein; ein Impfarzt hat in jedem Impftermin 50 Lanzetten zur Hand
gehabt und mit der nämlichen Lanzette nur je einmal geimpft.
Betreffs der Autorevaccinationen wird von fast sämmtlichen Impf¬
ärzten betont, dass sich hierbei meist nur abortive Bläschen entwickelten. Ferner
ist mehrfach die Beobachtung gemacht, dass je jünger die Kinder zur Impfung
gebracht werden, desto geringer sind besonders die Schnitterfolge der Impfung.
So hat ein Impfarzt z. B. bei den im Jahre 1890 geborenen Impflingen 56,7 °/ 0
Schnitterfolg, bei den im Jahre 1891 geborenen aber nur 34,1 0 / 0 erzielt; ein
anderer 91,8 °/ 0 und 82,3 °/ 0 . Bei den Wiederimpflingen war bei denjenigen mit
sichtbar und gut entwickelten, von der ersten Impfung herrührenden Impfnarben
der Impferfolg meist ein viel schlechterer, als bei solchen mit schwachen, kaum
sichtbaren Narben.
Erythem und Impferysipel ist nur in ganz vereinzelten Fällen be¬
obachtet worden. Todesfälle von Geimpften in dem zwischen Impfung und Nach¬
schau liegenden Zeiträume sind 10 beobachtet, die aber sämmtlich nicht auf die
Impfung, sondern auf andere Krankheiten zurückgeführt werden konnten.
Rpd.
Die Ergebnisse der Impfung im Grossherzogthum Hessen im Jahre
1891. Korrespondenzblatt der ärztlichen Vereine des Grossherzogthums Hessen,
1892, Nr. 11.
Von 100 impfpflichtig Gebliebenen wurden im Berichtsjahre bei den
Erstimpfungen Wiederimpfungen
geimpft. 88,75 °/ 0 95,97 °/ 0
blieben ungeimpft. 11,25 „ 4,03 „
und zwar weil
wegen Krankheit zurückgestellt 8,30 „ 1,77 „
aus der Schulpflicht entlassen . — 1,92 „
nicht anfzufinden. 0,67 „ 0,16 „
vorschriftswidrig entzogen . . 2,28 „ 0,18 „.
Die Wiederimpfungen sind ausschliesslich mit animaler Lymphe aus¬
geführt; bei den Erstimpfungen haben noch einige Privatärzte humanisirte
Lymphe benutzt, jedoch nur bei 0,5 °/ 0 der Erstimpflinge, so dass 99,5 °/ 0 gleich¬
falls mit animaler Lymphe geimpft sind. Die Thierlymphe wird aus dem Lan¬
desimpfinstitut zu Darmstadt sowohl den Impfärzten, als den Privatärzten unent¬
geltlich verabfolgt. Die damit erzielten Erfolge haben sich von Jahr zu Jahr
gebessert und betrugen bei den
Kleinere Mittheiluugcn and .Referate aas Zeitschriften.
244
im Jahre
1885
Erstimpflingen:
92,7%
Wiederimpfpf
79,5 %
77
1886
93,4 „
81,0 „
77
1887
93,9 „
78,1 „
77
1888
97,0 „
81,3 „
rt
1889
98,7 „
91,4,
*
1890
98,7 „
90,5 ,
71
1891
99,0 „
93,5 ,
Die Zahl der wegen Krankheit zurückgestellten Impfpflichtigen hat sich
im Berichtsjahre gegenüber dem Vorjahre etwas erhöht (8,30 °/ 0 bei den Erst¬
impflingen and 1,77% bei den Wiederimpfpflichtigen gegen 7,31 °/ 0 und 1,32 %
im Jahre 1890). Die meisten Zurtlckste Hangen erfolgten in Rheinhessen (12,2
und 3,2°/ 0 ), die wenigsten bei den Erstimpflingen in Oberhessen (5,8%) and bei
den Wiederimpfpflichtigen in Starkenburg (0,85 %).
Erfreulich ist das allmähliche Zurückgehen der vorschriftswidrig der
Impfang entzogenen Kinder, deren Zahl im Jahre 1885 noch 3,58% für
die Erst- and 0,40 % für die Wiederimpfpflichtigen betrag gegen 2,18 and 0,18 %
im Berichtsjahre. Rpd.
Ergebnisse der amtlichen Pockentodesfallsstatistik im Deutschen
Reiche vom Jahre 1891. Von Regierangsrath Dr. Rahts in Berlin. Sonder-
abdruck aas: Medizinalstatistische Mittheilangen aas dem Kaiserlichen Oesand-
heitsamte. Bd. 2. Berlin 1893; Verlag von Jalias Springer.
Die Zahl der im Deutschen Reiche während des Jahres 1891 vorgekom¬
menen Pockentodesfälle betrag nar 40, d. h. 18 weniger als im Vorjahre;
darunter 6 Todesfälle von rassischen Aaswandern, so dass auf die Bewohner
des Deutschen Reiches eigentlich nar 34 Pockentodesfälle entfallen. Es starben
somit an Pocken nar 0,8 auf je eine Million Einwohner, gegenüber 3,05 im fünf¬
jährigen Durchschnitt der Jahre 1886/90. Die 40 Todesfälle vertheilen sich anf
28 Ortschaften, von denen 17 in Preussen, je 4 in Bayern and Sachsen, je 1 in
Renss j. L., Bremen and Eisass - Lothringen gelegen sind. In stärkerer Verbrei¬
tung sind die Pocken nirgends aufgetreten; die am meisten betroffenen Orte
waren Berlin mit 5 Todesfällen, Zabrze, Trier and Barmen mit je 3, Laarahütte
(Kreis Kattowitz) und Olbersdorf (Kreishauptmannschaft Zwickan) mit je 2 Todes¬
fällen; in den anderen 22 Ortschaften starb nur je eine Person an Pocken.
Von den in Preassen vorgekommenen Pockentodesfällen (26) betrafen
6 Personen/ die im Aaslande geboren waren and 13 ereigneten sich in Orten,
die nahe der Aaslandsgrenze liegen; in Bayern entfielen von den 4 Todesfällen
2 auf unmittelbar an der österreichischen Grenze belegenen Bezirksämtern; des¬
gleichen in Sachsen 4 von 5 Todesfällen. Der in Reuss j. L. beobachtete Pocken¬
todesfall ist ebenso wie derjenige in Eisass - Lothringen aaf Einschleppung von
Aussen zurückzuführen; die in Bremen verstorbenen Personen waren um dieselbe
Zeit erkrankt, wo dort 9 Kinder aas rassischen and böhmischen Aaswanderer¬
familien von den Pocken ergriffen waren.
Dem Geschlechte nach waren von den Verstorbenen 21 männlich and
19 weiblich; dem Alter nach
über
77
77
über 2 Jahr
2-10 „
10-20 „
20- 30 „
11 .
5.
2 .
2 ,
über 30—40 Jahr: 6.
„ 40-50 „ : 3.
„ 50-60 „ : 8.
„60 „ :3.
Die Mehrzahl dieser Verstorbenen war entweder gar nicht oder nar ein¬
mal bezw. ohne Erfolg geimpft.
Vergleicht man die Pockensterblichkeit im Deutschen Reiche pro 1891
mit derjenigen in anderen europäischen Staaten, so ergiebt sich, dass von 100 000
in grösseren Städten lebenden Bewohnern gestorben sind
in Deutschland (235 Städte) 0,14 gegen 0,26 im Jahre 1890.
Oesterreich
( 52
• )
29,19
, 15,7
T7
Ungarn
( 12
. )
0,62
. 3,3
77
77
Schweiz
( 15
. )
0,60
» 2,2
77
9
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
245
in Belgien ( 63 Städte) 29,44 gegen 11,64 im Jahre 1890.
TT» 1 ' L H AA \ A K AA A A rt
Frankreich
(100
„ )
15,62
n 14,7
n
n
England
( 28
yi )
0,19
„ 0,1
n
n
Italien
( 69
n )
7,18
7i 25,2
n
n
Amtsärztlich beglaubigte Ausweise über Pockenerkrankungen liegen
aus allen deutschen Bundesstaaten mit Ausnahme von Preussen vor. Darnach
sind in 8 Bundesstaaten 126 Personen an den Pocken erkrankt, und zwar 45
in Bayern, 37 in Sachsen, 1 in Württemberg, 2 in Schwarzburg-Rudolstadt, 4
in Reuss j. L., 32 in Bremen, 3 in Hamburg und 2 in Eisass - Lothringen. Ab¬
gesehen von Bremen sind die meisten Erkrankungen in Olbersdorf, Amtshaupt¬
mannschaft Zittau (16 mit 2 Todesfällen) vorgekommen; in den übrigen Ort¬
schaften ist die Zahl der Erkrankungen nicht über 5 gestiegen, meist aber auf
1—2 beschränkt geblieben.
Von den Erkrankten waren im Alter
davon leicht erkrankt:
schwer erkrankt!
gestorben:
über
0— 2 Jahre 15,
11 = 73,4%
2 = 13,3%
2 = 13,3%
n
2— 5
n
15,
13 = 86,6 „
1 = 6,7 B
1 = 6,7,
n
5—10
n
9,
7 = 87,8 „
2 = 22,2 „
n
10—15
fl
5,
4 = 80,0 B
«s
©
§
II
vH
n
15—20
n
5,
4 = 80,0 B
1 = 20,0 B
- -
n
20—30
yf
12,
7 = 58,3 „
5 = 41,7 „
- -
71
30—40
fl
21,
14 = 66,6 „
5 = 23,8 ,
2 = 9,6 B
40—50
fl
21,
9 = 42,9 B
10 = 47,5 „
2 = 9,6 B
rt .
50—60
71
14,
5 = 35,8 „
4 = 28,4 ,
5 = 35,8 B
n
60 Jahre
9,
5 = 55,6 B
3 = 33,3 B
1 = 11,1 „
126,
79 = 62,7%
33 = 26,1 %
14 = 11,2%
Von den Erkrankten waren:
ungeimpft.
einmal als Kind geimpft . . .
wiedergeimpft.
in unbekanntem Impfzustande .
Es sind
von den Ungeimpften . .
„ einmal als Kind
Geimpften . . .
„ Wiedergeimpften.
„ mit unbekanntem
Erfolg Geimpften.
leicht erkrankt:
21 = 67,7%
47 = 62,7 „
11 = 61,1 „
. . 31 = 24,7%
. . 75 = 59,4 „
. . 18 = 14,3 „
. . 2 = 1 , 6 ,
schwer erkrankt: gestorben:
7 = 22,6% 3 = 9,7 %
20 = 26,7 „ 8 = 10,6 „
6 = 33,3 „ 1 = 5,6 B
— — 2 = 100 %
Bei Personen bis zu 30 Jahren sind Pockenerkrankungen mit tödt-
lichem Ausgange nur bei Ungeimpften oder ohne Erfolg Geimpften beobachtet;
mit Erfolg wiedergeimpfte Personen sind mit einer Ausnahme an Pocken nicht
gestorben. Personen im Alter von 31 Jahren und darüber sind, wenn sie nur
im frühen Kindesalter einmal mit Erfolg geimpft waren, vor tödtlich verlau¬
fenen Pockenerkrankungen nicht zu schützen gewesen. Rpd.
Die Bewegung der Bevölkerung in Oesterreich während des
Jahres 1891. Oesterreichisches Sanitätswesen; 1893, Nr. 6 u. 7,
Die Zahl der Geborenen betrug 947017 = 39,3% 0 der Bevölkerung
gegen 37,8 % 0 im Jahre 1890. In allen Kronländern machte sich eine Zunahme
der Geburtsziffer bemerkbar mit Ausnahme von Görz - Gradiska und Vorarlberg.
Die höchste Geburtsziffer hatten wiederum Galizien und Bukowina 46,4 und
45,7 % 0 , die niedrigste Vorarlberg und Tyrol 29,1 und 29,7 % 0 , Von
100 Geborenen waren todtgeboren 2,9% (1890: 2,8%); unehelich
geboren 14,7 (1890: 15,0%); die grösste Verhältnissziffer der Todtgeburten
weisen Triest und Niederösterreich (6,0 und 4,3), die niedrigste Dalmatien, Krain
Vorarlberg und Tyrol (0,8, 1,6, 1.7 und 1,8) auf. Die meisten unehelichen
Geburten sind ebenso wie im Vorjahre in Kärnthen (44,0%), Salzburg (27,4 %),
Niederösterreich (25,8%) und Steiermark (25,0 %) vorgekommen die wenigsten
in Görz und Gradiska 2,8 %), Istrien (3,1 %) und Dalmatien (4,1 %).
246
Kleinere Mittheilungen and Referate ans Zeitschriften.
Von den einzelnen Monaten zeigt der Jannar die höchste, der Jhni die
niedrigste Geburtsziffer; zwischen beiden Monaten findet im Allgemeinen ein
allmähliches Ab- und Ansteigen der Gehörten statt.
Die Zahl der Gheschliessnngen ist in keinem Jahre so hoch ge¬
wesen, als im Jahre 1891: 186418 = 8 % 0 der Bevölkerung (7,56 °/ 00 im Vor¬
jahre).
Dem Alter nach waren von den Eheschliessenden
bis 24 Jahr alt ... .
Männern:
16,75%
Frauen:
47,67 %
über 24—30 Jahr . . .
48,24 „
89,96 „
, 30-40 „ . . . .
22,31 „
8,06 „
15,03 „
, 40—50 „ ... .
6,86 „
» 50 „ ... .
5,64 „
1,98 „
Die ZahlderGestorbenen ohne Todtgeburten betrug 673 315 = 27,9 °l 00
gegen 29,37 °/ 00 im Vorjahre. Verhftltnissmässig hohe Sterbeziffern hatten ebenso
wie im Voijahre Bukowina (34,0 °/ 00 ) und Galizien (31,1 °/ 00 ), niedrige dagegen
Dalmatien (24,4 °l 00 ) und Kämthen (24,5 °/ 00 ).
Dem Alter nach standen von den Verstorbenen:
im Alter von über 0— 5 Jahr 48,4 °/ 0 gegen 48,2 # / 0 im Vorjahre.
n
, , 5-15 ,
5,6 ,
Ti
5,7 ,
Ti
n
, , 15-30 „
7,1,
n
7,0 „
ff
n
» „ 30-60 „
17,3 ,
Ti
17,4 „
Tt
»
21,6,
n
21,7 ,
Ti
Dem Geschlechte nach waren von 10Ö Verstorbenen 51,2 männliche
und 48,8 weibliche Individuen.
Der Zeit nach entfallen die meisten Todesfälle auf den
die wenigsten auf den Monat Juli; zwischen beiden Monaten
Monat Januar,
macht sich ein
Anfangs ziemlich plötzliches (Mai bezw. November) und dann allmähliches Ab¬
steigen und Ansteigen bemerkbar.
Von je 100 Lebendgeborenen starben im ersten Lebensjahre 24,3°/ 0
nnd zwar von den ehelichen Kindern 23,3 %, von den unehelichen 30,1 %. Eine
verhältnissmässig hohe Kindersterblichkeit zeigten besonders die Kron-
länder Salzburg (27,2 °/ 0 ), Bukowina (26,7 °/ 0 ), Oberösterreich 26,8 °/ 0 ) und Böhmen
(26,4°/ 0 ); eine niedrige dagegen: Dalmatien (16,5°/ 0 ), Krain (18,1 °/ 0 ) und Görz-
Gradiska (18,7%). Dementsprechend war auch der natürliche Bevölke¬
rungszuwachs, der sich für den Gesammtstaat auf 10,20 °/ 00 stellte, am
höchsten in Dalmatien (15,9%); am niedrigsten in Salzburg (1,6 °/ t0 ) und Triest
(1,8 °/oo). Rpd.
Die Seehospize and die skrophulösen Kinder. Von Dr. Nicola
Candela. Giornale di medicina pubblica. Jahrg. XXIII, Nr. 8 u. 9, 1892.
Dass in einem längeren Aufenthalt an der See die grösste Wolilthat be¬
steht, die man skrophulösen Kindern erweisen kann, ist allgemein anerkannt,
und hat in fast allen Kulturstaaten zur Gründung von Seehospizen geführt. In
Italien wirken jetzt über 400 Komitees für deren Erhaltung und Neugründung —
das erste von ihnen 1862 von B a r e 11 a i in’s Leben gerufen — und es bestehen
20 Seehospize, 13 am Mittelmeer uud 7 an der Adria. Behandelt wurden in
einem Jahre 5631 Kinder; eine sehr grosse Zahl, wenn man sie mit der für
Deutschland (1119) und Frankreich (685) vergleicht, aber gering im Vergleich
mit Grossbritannien, das in 23 Hospizen mit 2500 Betten 16 000 Kinder in einem
Jahr verpflegte. Candela beklagt, dass sich die Behandlung auf die Sommer¬
monate beschränkt — allerdings schwer begreiflich bei den klimatischen Ver¬
hältnissen besonders Süditaliens — und dass der Aufenthalt für jedes Kind auf
nur 30—40 Tage bemessen ist. Ausserdem wünscht er, dass vor der Aufnahme
ein ärztliches Attest gefordert wird, was jetzt nur in zwei Hospizen geschieht,
dass man regelmässig Messungen und Wägungen vornimmt, und dass Vor¬
kehrungen zur Aufnahme von Säuglingen getroffen werden, wie in Atlantic city
(Nordamerika), wo für diese mit ihren Müttern 20 kleine Baracken bestehen.
Vor allem soll aber der Aufenthalt der Kranken sich nicht auf so kurze Zeit
beschränken, sondern die Hospize sollen das ganze Jahr geöffnet sein, und ihre
Pfleglinge erst nach möglichst vollständiger Heilung entlassen.
Dr. W o 11 e m a s - Gelnhausen.
Besprechungen. — Tagesnachrichten.
247
Bericht über den Gesundheitszustand der Provinz Neapel Tür 1891.
Von Dr. Bessone. Giornale di medicina pubblica. Jahrg XXIII, 9, 1892.
Die Geburtsziffer war 37,2, die Sterbeziffer 28,5 auf 1000 Einwohner.
Von besonderem Interesse ist, dass die Sterblichkeit an Unterleibstyphus, die
1881—1885 noch 0,02 auf 1000 Einwohner betrug, 1891 auf 0,2 zurückgegangen
war. An Tuberkulose starben von 1000 Einwohnern 2,6. Ders.
Besprechungen
Dp. Henry Menger, Medizinalassessor bei dem Königl. Medizinal¬
kollegium der Provinz Brandenburg: Ausrüstungs-Nach¬
weis für transportabele Baracken-Lazarethe unter
Angabe der Preise und Bezugsquellen. Im Aufträge
des Central - Comit6 der Deutschen Vereine vom Rothen Kreuze
zusammengestellt. Berlin 1893. In Kommission von R. v.
Decker’s Verlag.
Das vorliegende kleine Werk bildet gleichsam die Fortsetzung zu dem
von dem Verfasser seiner Zeit erstatteten Bericht über die vom Centralkomitß
der deutschen Vereine vom Rothen Kreuze im Jahre 1891 in Tempelhof errich¬
teten transportablen Baracken-Lazarethe 1 ). Es bringt eine kurze, aber sehr
genaue Beschreibung der inneren Einrichtung und Ausstattung der Kranken-
und Wirthschafts - Baracken mit vortrefflichen, auf Erfahrungen beruhenden
Rathscblägen in Bezug auf die Organisation und Anlage der Baracken, auf die
Wahl des Platzes, auf die bei der Ausrüstung zu beobachtenden Grundsätze,
auf die Raumvertheilung u. 8. w. Das Verständniss des Textes wird durch
zahlreiche Abbildungen in anschaulicher Weise erläutert. — Den zweiten Theil
des Buches bildet eine sehr sorgsame Zusammenstellung der Kosten der einzel¬
nen Baracken und ihre Ausrüstung unter Angabe der Preise und der Bezugs¬
quellen für die einzelnen Gegenstände.
Das vorzüglich ausgestattete Werk wird den Medizinalbeamten besonders
jetzt, wo die Frage nach Beschaffung von Baracken zur eventuellen Unterbrin¬
gung von Cholerakranken häufiger an sie herantreten dürfte, sehr willkommen
sein und kann ihnen als zuverlässiger Rathgeber nach jeder Richtung hin em¬
pfohlen werden. Rpd.
Tagesnachrichten.
Zur Medizinalreform. Von den politischen Blättern wurde in jüngster
Zeit folgende Mittheilung gebracht: „Die Vorarbeiten für die preussische
Medizinalreform sind an den zuständigen Stellen bereits so weit gefördert, dass
voraussichtlich noch während der laufenden Laudtagssession bestimmte Er¬
klärungen vom Ministertische werden gegeben werden können. Unter Anderem
handelt es sich dabei namentlich um eine Aufbesserung der Stellung der Kreis¬
physiker.“
Wir registriren diese Mittheilung, glauben aber kaum, dass sie sich be¬
wahrheiten wird, besonders mit Rücksicht auf die neulich von dem Herrn
Ministerial-Direktor in der Hauptversammlung des preussischen Medizinalbeamteu-
Vereins abgegebenen Erklärung, dass der Herr Minister zwar fortgesetzt darauf
bedacht sei, die Stellung der Physiker zu verbessern, dass er aber die endgültige
Beschlussfassung darüber bis zum Inkrafttreten des Reichsseuchengesetzes ver¬
tagt habe. Insofern können wir nur bedauern, dass der Reichstag aufgelöst und
dieses Gesetz nicht mehr zur Verabschiedung gelangt ist. Hoffentlich wird
es aber dem neuen Reichstage sofort wieder vorgelegt; an seine Annahme, aller¬
dings wohl mit wesentlichen Aenderungen, dürfte kaum zu zweifeln sein.
Inzwischen wird aber voraussichtlich die auf der Tagesordnung des Ab¬
geordnetenhauses am 30. Mai stehende Interpellation des Grafen Douglas,
*) Vergleiche das Referat in Nr. 12 der Zeitschrift, Jahrg. 1892, S. 320.
248
Tagesnachric b ten.
betreffend Massregeln gegen die Cholera, dem Herrn Minister anch Veranlassung
geben, sich über Ziel und Wesen der geplanten Medizinalreform auszusprechen
und sich hierbei heraussteilen, inwieweit die vorher erwähnte Mittheilung auf
Wahrheit beruht.
Im Laufe dieses Sommers sollen in ähnlicher Weise, wie im Jahre 1887,
hygienische Kurse für Verwaltungsbeamte an einigen hygienischen Univer¬
sitätsinstituten unter Leitung der betreffenden Professoren stattfinden. Nach dem
vom H. Minister der Medizinalangelegenheiten genehmigten Programm werden
in diesen Kursen die wichtigsten Abschnitte aus dem Gebiete der öffentlichen
Gesundheitspflege, wie Reinhaltung der Städte, Wasserversorgung, Wohnungs¬
hygiene, Massregeln gegen die Verbreitung ansteckender Krankheiten, Begräbniss-
wcsen, Verkehr mit Nahrungsmitteln u. s. w. einer eingehenden Erörterung in
Verbindung mit praktischen Demonstrationen, Besichtigungen u. s. w. unterzogen
werden. Als Honorar für diese Kurse ist die Summe von 36 Mark einschliesslich
Institutsgebühren festgesetzt. Der erste derartige Kursus wird in der Zeit vom
6.—17. Juni für die Verwaltungsbeamten aus den Provinzen Westfalen, Hessen-
Nassau und der Rheinprovinz im hygienischen Institute der Universität Marburg
unter Leitung des Prof. Dr. Fränkel stattfinden.
Der Senat in Bremen hat die Einrichtung eines staatlichen Labora¬
toriums für Bakteriologie beschlossen und zum Leiter desselben den Stabsarzt
Dr. Kurth, Hillisarbeiter beim Reichsgesundheitsamte, berufen.
Cholera. In Galizien ist in der Zeit vom 26. April bis 3. Mai nur
ein Erkrankungsfall mit tödtlichem Ausgange in Kudrynce vorgekommen. Aus
der vorhergehenden Woche sind nachträglich noch eine Erkrankung in Smykowce
und 1 Todesfall in Buczacz gemeldet. Seit dem 3. Mai sind neue Cholerafälle
nicht zur amtlichen Kenntniss gelangt
In Frankreich hat die Cholera in der Stadt Lorient abgenommen,
im Arrondissement dagegen etwas zugenommen. Die Zahl der Erkrankungen
betrug in der Stadt vom 8. bis 14. April: 18 mit 2 Todesfällen, vom 15. bis
21. April: 8 mit 6 Todesfällen; im Arrondissement während derselben Zeit
40 und 77 Erkrankungen mit 10 bezw. 27 Todesfällen.
In Russland herrscht die Seuche noch in grösserer Ausbreitung in den
Gouvernements Podolien nnd Ufa.
Offener Brief an die Herren Kollegen I
Den Herren Kollegen mache ich die ergebene Mittheilung, dass ich mit
der Bearbeitung einer medizinischen Literatur- ued Gesetz - Sammlung für Me¬
dizinalbeamte, Physikatskandidaten und Aerzte nach alphabetisch geordneten
Stichwörtern beschäftigt bin.
Diese Stichwörter sind den drei grossen Gebieten der Hygiene, der Me¬
dizinalgesetzgebung nnd der gerichtlichen Medizin entnommen, und decken sich
als solche bereits vielfach mit den schriftlichen Themata der Physikatskan¬
didaten.
Durch Aufnahme dieser Themata unter die Stichwörter hat die Samm¬
lung an Brauchbarkeit wesentlich gewonnen. Ich richte daher an die Herren
Kollegen die kollegiale Bitte, mich bei meiner Arbeit zu unterstützen und mir
die Ihnen einst ertheilten Themata jedes auf besonderem Blatt — nebst den
dazu benutzten Literaturverzeichnissen baldigst und gütifi^t zuzusenden.
Die Kollegen brauchen nicht zu befürchten, damit anzustossen, da der
Herr Minister Bedenken gegen die Herausgabe des Werkes nicht hat.
Weissenfels, den 4. Mai 1893.
Dr. 8ch.roed.er, Kreisphysikus.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden L W.
J. 0. O. Brau«, Buehdrnoktrei, Minden.
6. Jahrg.
Zeitschrift
1893.
für
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben yon
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rath u. gerichtl. Staatphysikus in Berlin. Reg.- und Mediiinalrath in Minden.
and
Dr. WILH. SANDER
Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagsh&ndlung und Rud. Mosse
entgegen.
No. 11.
Erscheint am 1. and 15. Jeden Monate.
Freia jährlich 10 Mark.
1. Juni.
Ueber einen seltenen Fall von Sturzgeburt.
Mitgetheilt von Dr. Gabriel Corin in Lüttich.
Zahlreich sind jetzt in der Literatur die Fälle, in welchen
das Kind aus den Geschlechtsteilen beinahe hervorgeschossen ist,
während die Mutter gebückt oder selbst aufrecht stand und jeden¬
falls die sofortige Entbindung nicht erwartete.
Neuerdings hat noch Pullmann 1 ) über einen solchen Fall
berichtet, welchen er selbst behandelt hatte. Wenn auch die
forensische Wichtigkeit dieser Vorkommnisse nicht bestritten werden
kann, so dürften wir doch kaum einen neuen Fall veröffentlichen,
falls nicht die begleitenden Umstände ihm ein besonderes Interesse
verliehen. Es handelt sich um eine Sturzgeburt, welche bei einer
sonst ganz gesunden Frau und bei voller Geistesgegenwart ihr
unbewusster Weise vorgekommen ist.
Frau J., 32 Jahre alt, III gebärend, von normaler Stärke
und Entwickelung; besonders ist das Becken wohlgebaut, seine
Durchmesser normal, die Schamspalte nicht zu weit, kein Damm¬
riss vorhanden. Die zwei vorhergehenden Entbindungen habe ich
selbst behandelt und wegen Trägheit der Wehen mittels Zange
vollendet. Uebrigens waren die zwei Kinder gut entwickelt, kräftig
und sind noch heute lebend und gesund.
Die in Frage stehende Schwangerschaft war von einem aus¬
gesprochenen Status gastricus begleitet, welche! die Ernährung
etwas erschwert hatte, ohne doch einen besonderen Schwäche¬
zustand hervorzurufen. Während der Schwangerschaft wurde ich
öfter konsultirt und jedesmal fand ich die Frau und ihren Gemahl
*) Vierteljahrsschrift für die gerichtliche Medizin. Dritte Folge, 1. Bd.,
2. Heft, S. 276.
250
Dr. Corin: Ueber einen seltenen Fall von Sturzgebart.
sehr erfreut auf den zu erwartenden Zuwachs in ihrer Familie,
da sie nämlich zwei Töchter hatten und einen Knaben verlangten.
Den 28. Januar d. J., als sie erst am Ende des achten
Monates der Schwangerschaft zu sein angab, was übrigens bei der
kombinirten Untersuchung als richtig sich erwies, verspürte sie
Wehen, weshalb sie mich rufen liess. Bei meiner Ankunft fand
ich, dass der Muttermund ausdehnbar war, dass aber die Eihäute,
selbst während der Wehen nicht aus demselben vorsprangen.
So verflossen nun drei Tage mit intermittirenden Wehen, trotz¬
dem war am 31. Januar um 10 Uhr Morgens der Muttermund nur von
Ftinfmarksttickgrösse. Das Fruchtwasser war noch vorhanden.
Die Untersuchung ergab, dass es sich um eine Hinterhauptslage
und zwar wahrscheinlich um eine 0. I. S. A. handelte.
Als ich das Zimmer verlassen wollte, da die Wehen noch
schwach und selten waren, verlangte die Frau zu Stuhle zu gehen.
Ich gestattete ihr um so mehr zu dem Nachtstuhle zu gehen, als
ich soeben touchirt, die Eihäute intakt, und den Kopf noch etwas
beweglich im Beckeneingang gefunden hatte. Der Topf des Nacht¬
stuhles war ungefähr 40 cm hoch und mit Wasser halb erfüllt.
Kaum sass die Frau auf demselben, so hatte sie eine starke Kolik
und wir hörten das Fallen eines Gegenstandes in’s Wasser.
Wir wollten die Frau sogleich aufstehen lassen; das ver¬
weigerte sie aber, indem sie behauptete, dass es um eine Koth-
entleerung sich handelte und dass sie auch noch Drang fühlte.
Als sie eine Minute später nichts mehr zu verspüren angab,
zwangen wir sie aufzustehen und sahen überrascht ein scheinbar
todtes Kind, kopfüber im Wasser. Die Nabelschnur war nicht
gerissen und der Mutterkuchen nicht ausgestossen; die spontane
Ausstossung desselben geschah, während die Mutter zu Bett ge¬
bracht wurde.
Durch künstliche Athmung wurde das Kind rasch wieder¬
belebt. Es war ein kräftiges achtmonatliches männliches Kind,
hatte eine Körperlänge von ungefähr 45 cm; ich unterliess leider
die Durchmesser und den Umfang des Kopfes zu messen und
später war dies nicht mehr möglich; die übrigen Zeichen (Nägel,
Wollhaare, Hoden) entsprachen aber der berechneten Zeit.
Obgleich kein äusserliches Zeichen eines Schädelbruches im
Augenblicke der Geburt vorhanden war, bekam doch das Kind
Nachmittags beträchtliches Nasenbluten. Leider war ich verhindert,
dasselbe zu besuchen; der Tod erfolgte denselben Abend und das
Kind wurde am nächsten Tage beerdigt. Die Eltern hatten eine
etwaige Obduktion abgelehnt.
Meines Wissens giebt es in der Fachliteratur keinen Fall,
wo eine Pluripara ein fast reifes Kind bei vollkommener Geistes¬
gegenwart unbewusst geboren hat. Aber nicht minder bemerkens-
werth sind die begleitenden Umstände. In der That ist der Tod
des Kindes zweifelsohne dem Falle in den Topf zuschreiben. Ueber-
dies wäre es auch möglich gewesen, dass die Frau, als sie den
Kothdrang verspürte, zur Befriedigung desselben einen Abort be¬
nutzt hätte. Dann wäre das Kind sammt der Nabelschnur und
Dr. Schlüter: Epidemiologischer Kursus zur Bekämpfung etc.
261
der Nachgeburt sicher in die Tiefe hinabgestürzt und Veranlassung
zu gerichtlichem Einschreiten vorhariden gewesen. Es lässt sich
nicht läugnen, dass solche Fällen auch in gerichtsärztlicher Praxis
Vorkommen können und dass bei dem h'eutigen Stande der Frage
der Tod der Frucht als verbrecherisch oder mindestens als fahr¬
lässig angesehen werden würde, besonders wenn es sich um eine
Pluripara handelte, die eine gewisse Erfahrung über die zu er¬
wartenden Vorkommnisse haben sollte.
Wenn es sich um eine uneheliche Pluripara, eine Wittwe,
eine Lohnarbeiterin handelte, welche ein Interesse hätte, ihren
Zustand zu verbergen, würde die Frau wahrscheinlich für schuldig
gelten.
Die weiteren Schlussfolgerungen überlasse ich jedem Gerichts¬
arzte zu ziehen.
Epidemiologischer Kursus zur sanitätspolizeilichen Bekämpfung
der Cholera.
Von Kreisphysikus Dr. Schlüter in Gütersloh.
Auf Ersuchen des Herausgebers der Zeitschrift habe ich ver¬
sucht, nachstehend ein kleines Referat über den sechsten, unter
Leitung des Herrn Geh. Med.-Rath Dr. Koch im Institut für
Infektionskrankheiten abgehaltenen epidemiologischen Kursus zur
wirksamen sanitätspolizeilichen Bekämpfung der Cholera zu geben,
in der Annahme, dass sich vielleicht diejenigen Kollegen, welche
an den Kursen nicht Theil genommen haben, dafür interessiren werden.
In einem einleitenden Vortrage präzisirte zunächst Herr Geh.
Rath Koch den Zweck des Kursus und hob hervor, dass er von
einer Uebung in der bakteriologischen Untersuchung absehe; es solle
vielmehr das Wesen der Cholera in einzelnen Vorträgen erörtert,
die Erfahrungen, welche sich aus der letzten Epidemie im Jahre
1892 ergeben hätten, klargelegt, sowie die sanitätspolizeilichen
Massregeln besprochen werden, die auf Grund dieser Erfahrungen
als wirksam anzusehen seien. Die an den beiden ersten Tagen
von H. Privatdozent Dr. Pfeiffer und H. Prof. Dr. Pfuhl ge¬
haltenen Vorträge erstreckten sich demgemäss hauptsächlich auf
das Wesen der Cholera, die Art ihres Entstehens und
ihrer Verbreitung, auf die klinischen und pathologi¬
schen Verhältnisse, die bakteriologischen Thatsachen
u. 8. w., während am letzten Tage H. Geh. Rath Dr. Koch selbst
die nothwendigen Schutzmassregeln gegen die Cholera einge¬
hend erörterte. Der Inhalt der einzelnen Vorträge war ungefähr
folgender:
Die Frage, ob die Cholera in jedem Falle eingeschleppt wird oder auch
autochthon entstehen kann, ist mit Sicherheit für die Einschleppung ent¬
schieden. Die Cholerabazillen erlangen ihre pathogene Wirkung nicht etwa erst
im Darmkanal oder durch siechhafte Bodenverhältnisse, sondern besitzen dieselbe
von vornherein. Grade durch das Verdienst von Dr. Koch ist auch beim Cholera¬
bacillus eine Konstanz der Art nachgewiesen, und es ist nicht anzunehmen, dass
er sich nnter günstigen Umständen etwa aus Saprophyten entwickeln kann, sondern
er ist sicher ebenso wie der Milzbrand- und Tuberkel-Bazillus seit Jahrtausenden
252
Dr. Schlüter.
in seiner Art vorhanden gewesen. Man muss jetzt den Glaubenssatz als erwiesen
aunehmen, dass die Cholera ^ets ein geschleppt wird; denn es ist
kein Fall eines autochthonen Entstehens bekannt, wenn auch die
Einschleppung ebenso wie bei andern Infektionskrankheiten nicht immer sicher
nachgewiesen werden kann. Endemisch herrscht die Cholera dauernd in^Theilen
von Vorder- und Hinter-Indien, besonders im Gangesdelta und in Theilen
von China und Cochinchina; in Europa tritt sie alle 10 Jahre als Epidemie auf.
In Vorder-Indien ist sie bis zum Jahre 1817 unbekannt gewesen, und jedenfalls
damals aus Hinter-Indien, wo sie wahrscheinlich seit Jahrtausenden endemisch
gewesen ist, eingeschleppt worden. Nach Europa wurde die Cholera stets durch
den Verkehr verschleppt und zwar bis zur Eröffnung des Suezkanals auf dem
Landwege, da sie sich, wie zuerst Pettenkofer nachgewiesen hat, auf Schiffen
nicht lange genug hält und in Folge dessen bei der langen Zeit, die bisher der
Schiffsverkehr von Indien nach Europa in Anspruch nahm, auf der Fahrt zum
Erlöscheu kam. Auf dem Landwege war dagegen in den Karavanenzügen eine
dauernde Kette von Erkrankungen gegeben und wurde dadurch die Einschleppung
ermöglicht. Dass sich übrigens die Cholera auch unter günstigen Umständen
bis zu 52 Tagen auf einem Schiffe halten kann, ist durch den Fall mit einem
italienischen Auswandererschiff bewiesen, an dessen Bord nach der Abfahrt von
Genua auf der Fahrt nach Süd-Amerika Cholera ausbrach und das in Folge dessen
weder in Buenos-Ayres, noch in Rio de Janeiro an Land gelassen wurde, so dass
es nach Genua zurückkehren musste. Derartige günstige Umstände für die Cholera
finden sich auf Auswanderer- und Truppentransport-Schiffen, die mit Menschen voll¬
gepfropft sind. Bei den Schiffen, welche den Suezkanal passiren, geht bei der lang¬
samen Fahrt und dem öfteren Aufenthalt das Schiffspersonal häutig an’s Land und
kann auf diese Weise die Cholera leicht eingoschleppt worden Auch im Jahre 1884
ist die Seuche nachweislich nach Toulon aus Cochinchina eingeschleppt worden und
wahrscheinlich in derselben Weise im Jahre 18112 nach Paris; denn es sind da¬
mals auf Truppentransportschiffen mehrfach Todeslälle an Cholera vorgekommen.
Die Einschleppung geschieht meist durch leichte, als Cholera gar nicht
erkannte Erkrankungsfälle. Jedenfalls hat es sich bei der isolirten Epidemie in
Gonsenheim im Jahre 1886 auch um Einschleppung durch eine Person gehandelt
und nicht um mittelbare Importirung durch Waaren, da ein solcher Fall za
den äussersten Seltenheiten gehört und überhaupt kaum Vorkommen dürfte.
Die Einschleppung der Seuche in Hamburg ist zweifelsohne ebenfalls
durch den Personenverkehr erfolgt, wiewohl der Weg nicht mit Bestimmtheit
ermittelt worden ist. Eine Importirung auf dem Seewege aus Havre ist nicht
wahrscheinlich, weil damals der Schiffsverkehr zwischen Hamburg und Havre
nicht erheblich war und die Nachforschungen keine Handhabe für eine derartige
Annahme gegeben haben. Viel wahrscheinlicher ist eine Einschleppung auf dem
Landwege durch russische, aus verseuchten Gegenden herstammende Auswanderer.
Der Einwand, dass dann vorher schon irgendwo in den von den Auswanderern
berührten Orten der Ausbruch der Cholera hätte stattfinden müssen, ist hinfällig,
weil dies durch zweckmässige Massregeln verhindert worden ist. Die Aus¬
wanderer sind nämlich von der russischen Grenze in geschlossenen Zügen bis
in die Nähe von Berlin nach Buhleben geführt, dort in einem Barackenlager vom
Verkehr abgesperrt und dann nach Hamburg weiter befördert worden. Auch in
Hamburg hat man sie nach Möglichkeit in einem mit hoher Mauer umgebenen
Barackenlager von jedem Verkehr ausgeschlossen, aber hier traten andere, die
Einschleppung der Seuche begünstigende Umstände hinzu: Die Quaianlagen
Hamburgs haben eine Kanalisation für sich, deren Siele im Hafen ausmünden,
in dessen unmittelbarer Nähe die Auswanderer in Baracken untergebracht waren.
Die Dejektionen derselben, das Schmutzwasser von ihrer Wäsche u. s. w. ge¬
langten somit uudesinfizirt in den Hafen. Es war zwar ein zweckentsprechender
Desinfektionsapparat aufgestellt und in dauernder Thätigkeit, aber derselbe
genügt nicht für die vielen Menschen, noch weniger aber die Desinfektion der
Wäsche und sonstiger Sachen mit Schwefeldäinpfen, wie sie in einem Schuppen
ausgeführt wurde, denn bekanntlich wirkt schweflige Säure nur in wässriger
Lösung desintizirend. Wenn nun auch bei keinem Auswanderer ein wirklicher
Cholerafall konstatirt worden ist, so erscheint die Annahme doch gerechtfertigt,
dass virulente Cholerakeime in das Hafenwasser gelaugt sind. Hier fanden die
Keime damals die günstigsten Verhältnisse für ihre Weiterentwickelung vor, da
das Hafenwasser stark verunreinigt war und bei der herrschenden tropischen
Epidemiologischer Korsos zur sanitätspolizeilichen Bekämpfung der Cholera. 253
Hitze eine Temperatur bis za 25—26 0 C. hatte. Für diese Annahme spricht der
• ganze Verlauf der Epidemie, die anfangs auf das Hafengebiet beschränkt blieb
und erst später sekundär durch die Wasserleitung eine ansgedehnte Verbreitung
annahm.
Auch der Ausbruch der verschiedenen lokalen Epidemien an andern Orten
des Deutschen Reichs erklärt sich durch Verschleppung von Hamburg aus, wenn¬
gleich dieselbe nicht immer direkt nachgewiesen werden konnte, z. B. bei der
kleinen Epidemie in Eberswaldo, wo 5 Erkrankungsfälle mit 3 Todesfällen vor¬
kamen und bei der Epidemie in Nietleben.
Die Theorie, dass die Epidemien im Winter durch überlebende Keime ver¬
ursacht werden, ist nicht haltbar; die Keime können sich nicht etwa Jahre lang
versteckt halten und die Chancen für ihre Haltbarkeit sind überhaupt im Winter
sehr gering, weil die zu ihrem Wachsthum erforderlichen bestimmten Bedingungen
nur im Hoch- und Spätsommer gegeben sind. Im Winter sind 16 °C., die
niedrigste Temperatur, bei der die Cholerabazillen wachsen und gedeihen können,
selten vorhanden. Während ferner die Lebensdauer der Bazillen unter günstigen
Bedingungen 15—18 Tage beträgt, erniedrigt sich dieselbe im Winter auf wenige
Tage; ebenso gehen sie im Boden und in Fäkalstoften nach wenigen Tagen zu Grunde,
so dass ein Ueberdauern der Keime über den Winter hinaus sehr unwahrschein¬
lich ist. Ein Ueberwintern der Bazillen kann nur im mensch¬
lichen Körper stattfinden und besteht in einer Kette von
immer neuen Erkrankungsfällen. Einzelne Glieder dieser Kette werden
allerdings oft übersehen, namentlich leichte, anscheinend unbedeutende Durchfälle.
Das endemische Vorhandensein der Cholera in Vorder- und Hinter-Indien
erklärt sich, weil dort dauernd dieselben günstigen Bedingungen vorliegen, wie
sie im August 1892 in Hamburg gegeben waren. Zum Beispiel finden sich in
der Umgebung von Calcutta unzählige kleine, von den Hütten der Eingeborenen
umgebene Teiche (Tanks), welche die Dejektionen aufnehmen und in denen die
schmutzige Wäsche gewaschen wird. Das Wasser dieser Teiche wird auch zum
Trinken benutzt und da in ihnen bei den lokalen und klimatischen Verhältnissen
die Keime fortwährend wachsen und gedeihen können, so resultirt eine fort¬
dauernde Kette von Erkrankungen. Die Grundbedingungen für die Cholera in
Indien zu beseitigen, wird schwerlich zu erreichen sein, um so mehr müssen wir
uns deshalb mit der dauernden Gefahr der Einschleppung nach Europa ver¬
traut machen.
Auf Befragen liess sich der Vortragende (Dr. Pfeiffer) auch über die
Pettenkofer’sche Theorie aus. Der Ausgangspunkt für Pettenkofer war
die Beobachtung, dass die Kurve der Typhus-Morbidität und Mortalität genau mit
dem Steigen und Fallen des Grundwassers znsammenhing. Zunächst nahm
Pettenkofer als Ursache des Typhus gasförmige Miasmen in Folge der Fäul-
nissprozesse im Boden an und nach der Entdeckung der pathogenen Krankheits¬
erreger passte er seine Theorie dieser Thatsache an. Dass der Boden durch
Benutzung allmählich fast- überall in den sogenannten siechhaften Zustand ver¬
setzt wird, darüber dürfte ein Zweifel nicht bestehen, anderseits sprechen aber
die Untersuchungen in Bezug auf die Möglichkeit des Gedeihens der pathogenen
Keime im Boden und Grundwasser ganz zu Ungunsten der Pettenkofer’schen
Theorie. In der Tiefe von 2 m sind Boden und Grundwasser steril und die
Thatsache, dass in der Tiefe, wo das Grundwasser auf- und abschwankt, Bakterien
überhaupt nicht vorhanden sind, giebt der Theorie den Todesstoss. Dass z. B.
Cholerakeime, welche etwa aus undichten Abortsgruben in den Boden gelangen,
dort weiter gedeihen können, ist ausgeschlossen, weil die Temperatur des Bodens
nicht dauernd 16 0 C. beträgt; denn selbst im Hochsommer ist in der Tiefe von
2—3 m nur eine Temperatur von 6—8°C. vorhanden. Die Versuche von
Esmarch haben bewiesen, dass Milzbrand-, Typhus- und Cholerakeime in solcher
Tiefe im Boden keine Spur von Wachsthum zeigen. Aber selbst bei vorhandenem
Wachsthum würden die Keime aus dem Boden gar nicht heraus gelangen
können, denn eine Herausbeförderung durch das Steigen des Grundwassers oder
durch die Luftströmung ist nicht möglich, ganz abgesehen davon, dass es in den
oberen Bodenschichten ausserdem eine Unmasse von Bakterien giebt, die derartige
Keime nicht aufkoinmen lassen werden. Selbst Sandfilter von nur 60—100 cm.
Mächtigkeit machen bakterienhaltiges Wasser fast keimfrei trotz der verhält-
nissmässig grossen Geschwindigkeit des Durchströmens; bei gewachsenem Boden
ist die Durchströmung aber unendlich viel langsamer und derselbe filtrirt des-
254
Dr. Schlüter.
halb noch viel vollständiger. Nach den Versuchen von Petri bleiben auch bei
dem durch Au- und Absaugen (mittelst der Luftpumpe) bewirkten, mit grosser
Geschwindigkeit erfolgenden Durchströmen von Luft durch ein Sandfilter, die
Keime im Sande zurück. Typhus und Cholera sind von der Temperatur abhängig
und deswegen ist das Zusammentreffen ihrer grössten Häufigkeit mit dem
niedrigsten Grundwasserstande im Sommer und das seltene Auftreten bei dein
hohen Grundwasserstande im Winter ganz natürlich; es gehen aber beide Er¬
scheinungen ohne inneren Zusammenhang einfach nebeu einander her.
Was die klinischen und pathologischen Verhältnisse der
Cholera anlangt, so findet man Erbrechen und Durchfall nicht in allen
Krankheitsfällen, z. B. fehlen sie ganz bei den schweren Formen der Cholera
sicca, wo durch die schwere Intoxikation vom Darmkanal aus die Vergiftung des
ganzen Körpers zu akut ist, desgleichen in sehr leichten Fällen. So sind z. B.
in Hamburg Kommabazillen bei Personen mit normalem Stuhlgange und ohne
Erbrechen aufgefunden worden.
In den typischen Fällen von Cholera finden sich regelmässig Vergiftungs¬
erscheinungen, welche auf einer Lähmung des Gefäss- und Temperatur - Centrums
beruhen und nicht etwa von der Eindickung des Blutes in Folge des Wasser¬
verlustes durch Erbrechen und Durchfall herrühren. Die Prostration, Cyanose
und Pulslosigkeit lassen sich nur durch die Einwirkung des von den Bazillen
produzirten Giftes erklären. Als wichtige Erscheinung tritt bei den noch um¬
hergehenden Kranken eine geringe Spannung des Pulses auf, bei den schwerer
Erkrankten ein Sinken der Temperatur häufig bis zu 34—35 °C., manchmal sogar
bis 31 0 C. Es zeigt sich dann ein kolossaler Kollaps, wie er sich ähnlich nur
bei Erfrierung oder bei zu langem Aufenthalte in eiskaltem Wasser findet. Dazu
kommen fast regelmässig Muskelkrämpfe und Anurie (Wiederkehren der Urin¬
absonderung ist bekanntlich von guter Vorbedeutung); die Stuhlgänge sind sehr
wässerig, nicht fäkulent, ähneln einer dünnen Hafersuppe und enthalten eine
grosse Menge von Schleimflocken, welche aus abgestossenen Epithelien bestehen.
Diese Schleimflocken enthalten die grösste Menge von Kommabazillen, und zwar
besonders in den abgestorbenen und abgestossenen Epithelien.
Bei der Sektion findet sich, wenn der Tod im ersten’ Stadium einge¬
treten ist, die Haut und Muskulatur trocken, das Blut verdickt, Peritoueum und
Darmschlingen mit einer leiraartigen Masse überzogen, der Darm gleichmässig
intensiv roth gefärbt und schwappend gefüllt, ferner Schwellung der Plaques und
der solitären Follikel. Ist der Tod im späteren Stadium erfolgt, so findet man
sekundäre Veränderungen z. B. metastatisehe Abscesse, Prozesse in den Lungen,
diphtherische Erkrankungen der Darm- und Blasenschleimhaut. Es sind dies aber
keine echte diphtherische Erkrankungen, .sondern Reaktionserscheinungen,
Einwirkungen der Fäulnissbakterien, die nach Verlust der schützenden Epithel¬
decke des Darms durch die Cholerabakterien Zutritt in die Blutbahn erlangen.
Die häufig auftretende und durch das Choleragift hervorgerufene parenchymatöse
Erkrankung der Nieren und die Koagulationsnekrose sind nicht typisch.
Eine Verwechselung nach dem Sektionsbefunde mit Cholera nostras
ist leicht möglich, da sich diu Fälle so ähnlich sehen können, wie ein Ei dem
andern. Auch mit Arsenik-, Fleisch- und gewissen Pilzvergiftungen liegt die
Möglichkeit einer Verwechselung vor. Die Cholera nostras wird auch durch
Bazillen, aber nicht durch dun Bacillus Finkler-Prior bedingt. Sie ist von der
echten Cholera nicht ira Wesen, sondern nur durch den Krankheitserreger zu
unterscheiden, auch giebt es keine Epidemien von Cholera nostras. (?)
Weder klinisch noch pathologisch-anatomisch ist eine
sichere Feststellung d e r (Mi o 1 e r a bei einem einzelnen Falle mög¬
lich. Erst wenn die Erkrankungsfälle sich häufen und epidemisch Auftreten, kann
mit Bestimmtheit Cholera angenommen werden; dann kommt die Diagnose jedoch zu
spät und die Massnahmen erfolgen post festurn. Von um so grösserer Bedeutung
ist daher die bakteriologische Untersuchung; denn sie allein
ermöglicht uns sofort beim ersten Erkrankungsfalle eine
sichere Diagnose zu stellen. Je schneller die ersten Erkrankungsfälle
aber festgesteilt werden können, desto sicherer ist eiue Weiterverbreituug der
Seuche zu verhüten.
Bei der Untersuchung empfiehlt es sich zunächst den mikroskopischen
Befund aus dem Stuhlgang bezw. aus dem Darminhalt der Leiche festzustellen.
Zu diesem Zwecke fischt inan eine Schleimflocke aus dein Sedimente heraus, bringt
Epidemiologischer Kursus zur sanitttspolizeilichen Bekämpfung der Cholera. 265
diese auf ein Deckglftschen, lässt sie auf demselben durch Hin- und Herziehen
hoch über der Flamme unter gleichzeitigem Verreiben mit dem Platindrahte
antrocknen. Man zieht das Deckgläschen dann noch 1—3 mal durch die Flamme
und färbt hierauf das Präparat, wozu man am besten eine frisch bereitete 5°/ 0
wässrige Verdünnung der Zie hl'sehen Fuchsinlösung an wendet, die man
mindestens 6 Minuten lang einwirken lässt. Es treten dann die schöngefärbten
Bakterien und Epithelzellen deutlich hervor, ln typischen Fällen, zu welchen
gerade sehr oft die ersten Erkrankungen gehören, wird man meist eine Bein¬
kultur von Kommabazillen finden, oder Häufchen von Bazillen, die in gewissen
Zügen angeordnet sind. Die Diagnose ist dann schon gesichert.
Bei Sektionen empfiehlt es sich, die Schleimschicht des Darms mit dem
Skalpell abzustreichen und auf dem Deckglas auszustreichen, da in dieser die
Bazillen viel mehr enthalten sind, als im Darminhalt selbst, in dem sie ausser¬
dem nicht gleichmässig vertheilt sind.
Unter Umständen ist die Diagnose aus dem mikroskopischen Befund
schwierig, weil sich im Darmkanal bei Gesunden und Kranken den Komma¬
bazillen sehr ähnliche Bakterien vorfinden, welche nur der Geübte unterscheiden
kann; dieselben sind morphologisch dünner, länger, an den Enden zugespitzt
und stammen von den Spirochäten des Zahnschleims her; sie wachsen jedoch auf
keinem uns bekannten Nährboden. Bei dem mikroskopischen Befunde
giebt also nur das Auffinden von Kommabazillen in Reinkultur
oder in typisch angeordneten Häufchen neben abgestorbenen
Epithelzellen Sicherheit; in anderen Fällen muss das Urtheil bis nach
Vornahme der Platlenkultur aufgeschoben werden.
Bei der Anwendung des Platten-Verfahrens wachsen, wenn
frische Stuhlgänge untersucht werden, oft zahlreiche charakteristische Kolonien,
auch bei Vorhandensein von wenig Cholerabazillen, weil in derartigen Stuhlgängen
ausser den Cholerabaziilen keine Bakterien Vorkommen, welche die Gelatine ver¬
flüssigende Kolonien bilden. Die Cholerakolonien aus frischen Stühlen sehen
anders aus wie die aus Kulturen; bei den ersteren ist die Verflüssigung der
Gelatine intensiver, während die aus Kulturen sich bildenden Kolonien das Ver¬
mögen der Verflüssigung oft verloren haben. Weil man diese Thatsache nicht
genügend berücksichtigte, glaubte man z. B. in Nietleben im Anfang Cholera
nostras vor sich zu haben. Die Aussaat bei der Plattenkultur geschieht
mit Schleimflöckchen oder mit Abstrich von der Darmschleimhaut; die zu
ebnutzende Gelatine muss stark alkalisch sein, so dass sich Lakmuspapier
intensiv blau färbt. Zum Wachsen der Kolonien ist eine Temperatur von
20 bis 23° C. erforderlich; das Zimmer muss daher entweder geheizt oder die
Kulturen in der Nähe des Ofens aufgestellt werden. Nach 18 bis 20 Stunden
kann man dieKolonien schon mit blossemAuge sehen. Unter dem
Mikroskop erscheinen sie körnig, mit unregelmässig welliger Begrenzung, leicht
grau und thoilweise glashell. Sie zeigen ferner häufig ein Zucken durch Geissel-
bewegung der Bakterien, was besonders bei Abdämpfung des Lichtes sichtbar
wird. Bei solcher Baschafi'enheit hat man bei frischen Stuhlgängen, in welchen
andere Bazillen mit Verflüssigung der Gelatine nicht Vorkommen, unzweifelhaft
Cholerabazillen-Kolonien vor sich und kann, selbst wenn nur eine einzige derartig
charakteristische Kolonie gefunden wird, mit Bestimmtheit die Diagnose auf
Cholera stellen. In 95°/ 0 der Fälle kommt man auf diese Weise zum sicheren
Ziele. In den wenigen Fällen, in welchen bei frischem Stuhlgänge eine sichere
Diagnose nicht möglich ist, sind besondere Störungen vorhanden, z. B. wenn im
Stuhlgang das Bacterium coli, welches Säure produzirt und deshalb die Gelatine
für die Cholerabazillen zum Wachsthum ungeeignet macht, zahlreich vertreten
ist oder in den seltenen Fällen, wenn die Cholerabazillen atypisch wachsen.
Diese Beobachtung ist in Hamburg und Altona am Ende der Epidemie gemacht,
jedoch sind solche Fälle für die Praxis wegen der Seltenheit nicht schwer¬
wiegend. Vielleicht erklärt sich dieses atypische Wachsthum der Cholerabazillen
dadurch, dass sie vorher längere Zeit im Wasser unter ungeeigneten Bedingungen
gelebt und dadurch an Wirksamkeit cingebiisst haben.
Bei alten Stuhlgängen oder, wenn denselben Flusswasser beigemischt ist,
liegen andere Bedingungen vor durch die Gegenwart von anderen Bazillen, welche
die Gelatine rasch verflüssigen, und deshalb ist die Untersuchung von Latrinen¬
inhalt und von infizirtem Wasser viel schwieriger. Gewöhnlich ist ja das zu
untersuchende Wasser überhaupt stark mit Bakterien verunreinigt; in Hamburg
256
Dr. Schlüter.
wurden z. B. im Elbwasser 40 —100 Tausend Keime in 1 ccbm. gefunden und
darunter befanden sich viele die Gelatine stark verflüssigende Arten. Ans diesem
Grunde muss man bei der Untersuchung von Latrineninhalt oder verdächtigem
Wasser so Vorgehen, dass man die etwa darin enthaltenen Cholerabazillen in
günstige Verhältnisse, unter welchen sie sich rascher wie die anderen Bazillen
vermehren, bringt. Zu diesem Zwecke verwendet man eine 1 bis 2 prozentige, mit
Kochsalz versetzte Peptonlösung und erwärmt dieselbe nach Zusatz des Latrinen*
Inhalts im Brutschrank; die etwa vorhandenen Cholerabazillen steigen wegen
ihres Sauerstoff bedürfuisses nach oben und bilden ein Häutchen, welches direkt
nach Färbung mikroskopisch untersucht wird. Dasselbe Verfahren lässt sich auch
bei der Untersuchung von Wasser anwenden, jedoch ist es hier nicht so sicher,
weil im Wasser den Kommabazillen sehr ähnliche Bakterienformen ohne pathogene
Bedeutung Vorkommen. Die Diagnose muss desshalb noch durch das Platten-
Kulturverfahren gesichert werden. Wenn viele die Gelatine verflüssigende Bak¬
terien vorhanden sind, eignet sich übrigens eine Aussaat auf Agar besser, nur
sind dann die Cholerakeime nicht so charakteristisch.
Die Choleraroth-Reaktion, eine Indol-Beaktion, ist für die Prog¬
nose der Cholera ebenfalls nicht ohne Bedeutung. Dieselbe tritt bei dem Pepton¬
verfahren im Brutschrank eventuell schon nach 16—20 Stunden deutlich ein und
findet sich sonst nur beim Vibrio Metschnikoff, welcher beim Menschen nicht
vorkommt. Von Werth ist die Reaktion jedoch nur bei Reinkulturen, weil auch
die Fäulnissbakterien die Eigenschaft besitzen Indol und gleichzeitig salpetrige
Säure aus den Nitraten zu bilden.
Der Choleraprozess ist, wie dies Koch gleich im Anfang der Ent¬
deckung des Bacillus ausgesprochen hat, eineVergiftung. Die Cholerabazillen
durchschwimmen nie die Blutbahn wie bei Milzbrand, sondern sie wuchern auf
der Oberfläche des Darms, in den Epithelzellen und auch in den Lieb er¬
kühn’sehen Krypten; dagegen dringen sie nicht tiefer in das Gewebe ein und
nur bis zur Basalmembran. Wenn man sie durch Schütteln mit Chloroform¬
wasser oder durch Austrocknen abtödtet, so bleiben sie giftig, aber nicht mehr
infizirend. Damit 'das Gift durch Eindringen in den Körper zur Wirksamkeit
gelangen soll, muss eine Zerstörung der Epithelzellen des Darms durch die
nekrotisirende Einwirkung der Bazillen vorhergehen. Zur Erklärung der leichten
Fälle von Cholera hat die Ansicht viel wahrscheinliches, dass dann eine Zer¬
störung der Epithelzellen nicht stattgefunden hat. Ebenso kann man annehmen,
dass die prädisponirenden Momente die Widerstandsfähigkeit dadurch herabsetzen,
dass sie das Epithel vorher schädigen. Für die Bazillen der Cholera ist zunächst
der saure Magensaft schädlich, dann müssen sie die im Darmkanal akklimatisirten
Bakterien überwinden; schliesslich ist noch eine Nekrotisirung des schützenden
Epithels erforderlich, damit das Gift der Bazillen durch Eindringen seine volle
Wirkung äussern und einen schweren Cholerafall hervorrufen kann.
Aehnlich wie hei anderen Infektionskrankheiten scheint durch einmaliges
Ueberstehen der Cholera eine Immunität bedingt zu werden; die Immunität
ist zwar noch nicht sicher erwiesen, aber es sind auch keine Erfahrungen für
das Gegentheil bekannt. Jedenfalls tritt in Folge des Ueberstehens der Cholera
eine Veränderung in der Blutbeschaffenheit ein; denn wenn man 4 bis 8 Wochen
nach der Erkrankung an Cholera einem Menschen Blut entzieht, so verleiht
das Serum des Bluses, wie durch Thierversuche festgestellt ist, Schutzkraft gegen
eine Infektion mit lebenden Cholerabazillen.
Will man die Cholera wirksam bekämpfen, so muss man vor allem die
Lebenseigenschaften der Cholerabazillen genau kennen. Sie ge¬
deihen und wachsen nur bei einer bestimmten Temperatur, deren Minimum j. 6°C.
ist, im Winter ist ein Wachsthum der Bazillen daher nur in geheizten Räumen
oder im Darm des Menschen möglich. Lebens- und infektionsfähig bleiben sie
allerdings für kurze Zeit auch im Winter, wie sich das in Nietleben gezeigt
hat. Die Bazillen bedürfen ferner Sauerstoff und entwickeln sich nur, wenn
Sauerstoff vorhanden ist, sie sind also nicht anaerob; für das Gegentheil ist
der bekannte Versuch von Hüppe mit der Züchtung im Ei nicht beweisend, da
die Eischale porös und für Luft durchgängig ist. Durch Eintrocknen sterben die
Bazillen rasch und schon nach einigen Stunden ab, während sie sich in den
Stuhlgängen durchschnittlich mehrere Tage lang halten. Im Wasser bleiben
sie nur am Leben, wenn dasselbe Salze enthält, sie halten sich daher nur im
Fluss- oder Brunnenwasser, während sie in destillirtem Wasser rasch absterben.
Epidemiologischer Kursus zur sanitätzpolizeilichen Bekämpfung der Cholera. 257
Id Altona blieben sie z. B. in einem Brunnen bei 8° C. 18 Tage lang lebend
und infektionsfähig. In Flüssen halten sich meist am Bande auf, wo gerade das
Gebrauchswasser entnommen wird. Sie können einige Meilen weit verschleppt
werden, wenn aber über diese Entfernung heraus Erkrankungen auftreten, so
muss man an eine Verschleppung durch Menschen denken.
In schmutziger feuchter Wäsche halten sich Cholerabazillen lange und können
sich sogar vermehren, da sie vor dem Austrocknen geschützt sind und öfter günstige
Temperaturbedingungen antreffen. Eine Abkühlung auf kurze Dauer vertragen sie
ganz gut, 0°C. und darunter jedoch nur einige Tage lang; dagegen werden sie
durch desinfizirende Mittel, sogar schon durch die Salzsäure des Magens, ver¬
nichtet und man muss den Magensaft durch eine öproz. Sodalösung alkalisch
machen, wenn sie den Magen ungefährdet passiren sollen.
Dauerformen der Cholerabazillen kennen wir nicht, wenigstens ist bis jetzt
noch keine Sporenbildung oder Theilung nachgewiesen. Ein Uebergangsstadium
haben sie weder im Wasser, noch im Boden, sondern sie sind sofort nach dem
Verlassen des menschlichen Körpers infektiös.
Wenn eine Choleraepidemie langsam fortschreitet, muss man an direkte
Uebertragung durch die Abgänge der Kranken denken, bei explosionsartigem
Auftreten, also bei Massenerkrankungen, ist dagegen immer eine allgemeine
Quelle durch das Gebrauchwasser zum Trinken, Spülen u. s w. anzunehmen.
Auch die Milch, seltener Butter und Weichkäse, kann der Träger sein. Der
Waarenverkehr ist nur für deii Nah- und Kleinverkehr zwischen Produzent und
Konsument gefährlich. In dieser Hinsicht lehrt die Erfahrung aus der Hamburger
Epidemie, dass eine Verschleppung nach entfernten Orten nur durch Personen
und nicht durch Waaren stattgefunden hat. Dass die mit Dejektionen beschmutzte
Wäsche, so lange sie sich in feuchtem Zustande befindet, besonders gefährlich
ist, liegt auf der Hand, dagegen ist die Leiche eines an Cholera Gestorbenen
nur dadurch gefährlich, weil sie mit Dejektionen beschmutzt ist.
Für Epidemien von Cholera, welche durch das Gebrauchswasser
hervorgerufen werden, ist charakteristisch, 1. der plötzliche massenhafte
Ausbruch, 2. die Beschränkung auf das Gebiet der Wasserver¬
sorgung und 3. die gleichmässige Vertheilung in diesem Ge¬
biete. In dieser Beziehung haben die Epidemien in Hamburg und Nietleben
genügende Beweise geliefert.
Man hat früher beobachtet, dass einzelne Orte für Cholera immun waren,
aber nach den jetzigen Erfahrungen sind verschiedene Städte, welche früher
Choleraheerde waren, immun geworden und zwar besonders durch eine gute
Wasserleitung, z. B. Halle a. S., Danzig und auch Altona. Der Boden spielt jeden¬
falls in dieser Beziehung keine Bolle und nicht einmal die Kanalisation, welche
z. B. in Hamburg vorzüglich ist. Nietleben liegt z. B. aul einem Porphyrfelsen
und nur die Gärtnerwohnung, deren Bewohner von der Cholera verschont blieben,
hat Grundwasser; die Leute daselbst hatten auch von dem infizirten Leitungs¬
wasser getrunken, aber angeblich nur nach dem Essen, demnach zu einer Zeit,
wo mehr Magensaft produzirt wurde.
Was nun die gegen die Cholera wirksamen Schutzmass-
regeln und die nothwendigen sanitätspolizeilichen Massnahmen
betrifft, so stimmen die alten Anschauungen über die Infektionskrankheiten
mit unserem heutigen Wissen nicht mehr überein; die frühere Eintheilung in
kontagiöse, miasmatische und kontagiös- miasmatische Krankheiten ist jetzt hin¬
fällig geworden. Speziell die Cholera ist eine parasitische Krankheit sui generis,
denn wo der Parasit nicht vorhanden ist, da ist keine Cholera
möglich; der Parasit muss ausserdem in den Darmkanal gelan¬
gen. Die Cholera ist demnach eine Infektionskrankheit mit
spezifischem Charakter undauf dieser Anschauung basiren die
nothwendigen Schutzmassregeln.
Eine Absperrung der Landesgrenze, etwa durch Truppenkordons, ist
erfahrungsgemäss ganz unwirksam, die Verbreitung der Cholera auf dem Land¬
wege ist überhaupt weniger zu befürchten, als solche auf dem Wasserwege der
Flüsse. Auch den Waarenverkehr im Grosshandel, den internationalen Verkehr,
brauchen wir nicht zu stören und zu beunruhigen, ja sogar die gefürchteten Lumpen
haben nicht die ihnen zugeschriebene Bedeutung für die Verschleppung der Seuche.
Vor allem ist der cholerakranke Mensch in’s Auge zu fassen. Ein
solcher Mensch im Inkubationsstadium ist anscheinend gesund und doch ist er
258
Dr. Schlüter.
krank und kann andere Menschen infiziren; ebenso sind die leichten Erkrankungen
an Cholera für die Verschleppung besonders gefährlich, da derartige Kranke oft
noch weitere Reisen unternehmen und erst in Folge eines Diätfchlers hinterher
schwer krank werden. Deshalb muss sich unsere Aufmerksamkeit auf diejenigen
Menschen lenken, die ans Choleragegenden kommen; sie müssen für 5 Tage und
zwar jeden Tag beobachtet werden, denn das Inkubationsstadium der Cholera
beträgt 2—5 Tage. Eine solche Massregel ist für die praktischen Verhältnisse
ausreichend, um sie jedoch durchzufilhren, ist für alle aus Choleragegenden
zugereisten Personen die Meldepflicht bei der Ortspolizei
behörde vorzuschreiben.
Wenn zu Anfang eine ärztliche Inspektion dieser Personen stattgefunden
hat, so genügt meist bei den gebildeten und zuverlässigen das tägliche Ein¬
ziehen von Erkundigungen und die Frage nach etwaigem Durchfall. Anders
liegt die Sache bei umherziehenden Personen, Handwerksburschen, Hausirern,
Zigeunern, Bummlern u. s. w., die^e sind ira Krankenhause oder in passenden
Räumen zu isoliren und zu beobachten; auch sind dieselben durch Abschliessung
der Klosets zur Benutzung eines Nachtstuhls zu veranlassen, damit eine bakte¬
riologische Untersuchung des Stuhlganges stattfinden kann. Es sind deswegen
im Nothfalle getrennte Räume für Kranke und Verdächtige zu beschaffen.
Die Cholera ist hauptsächlich eine Krankheit der Armen und solche Kranke
sind am gefährlichsten.
Besondere Aufmerksamkeit erheischen auch die Auswanderer und Ar¬
beitertrupps. Desgleichen ist der Verkehr auf den Wasserstrassen be¬
sonders in’s Auge zu fassen. Auf dem Wasser leben in Kähnen in Norddeutschland
Tausende von Menschen — man kann ihre Zahl auf 10 bis 20 Tausend
schätzen — und durch dieselben wird die Cholera gerade am leichtesten ver¬
schleppt. Von den 32 in Berlin im Vorjahre au Cholera erkrankten Personen
waren 14 bis 15 Schiffer und die übrigen zugereiste Hamburger oder solche, die
am Wasser zu thun hatten und auf dem Wasser zugereist waren. Im Jahre
1892 waren deshalb auf den Wasserwegen Untersuchungsstationen eingerichtet,
durch die eine einmalige tägliche Kontrole der Schiffer, Flösser u. s. w. garantirt
wurde. Dieser Massregel schreibt Koch es zu, dass die Cholera sich im vorigen
nicht in Deutschland eingenistet hat. Bei den Schiffen hat auch stets eine Des¬
infektion des Gefahr bringenden Kielwassers, welches die Schiffe mitschleppen,
stattzufinden. Nach diesen Prinzipien sind auch die Schiffe in den Häfen zu
behandeln; für den internationalen Verkehr ist dagegen festgesetzt, dass beson¬
dere Massregeln nur gegen infizirte Schiffe nöthig sind, deren Mannschaft isolirt
und täglich untersucht werden muss.
Die Basis aller sanitätspolizeilichen Massregel gegen
die Cholera bildet die Anzeigepflicht der Aerzte für alle
Fälle von Cholera und alle auf Cholera verdächtigen Fälle.
Für die gemeldeten Fälle dieser Art ist die Diagnose so schnell als
möglich bakteriologisch festzustellen und deshalb die schleunigste Ueber-
sendung der Untersuchungsobjekte an die hierfür bezcichneten Institute erfor¬
derlich. Von der Untersuchung durch die Physiker ist abgesehen worden, weil
ihre Untersuchungen zu lange, meist 5—6 Tage gedauert, so dass auf diese
Art zu viel kostbare Zeit verloren gegangen und die nothwendige Bekämpfung
der Krankheit zu spät erfolgt ist.
Bis zur bakteriologischen Feststellung der Diagnose ist jeder angcmeldete
verdächtige Erkrankungsfall wie echte Cholera zu behandeln. Ist bakteriologisch
die Diagnose Cholera gestellt, so ist der Kranke am besten im Krankenhause
zu isoliren oder wenn das nicht zu erzielen ist, so wird er im Hause isolirt und
die übrigen Hausbewohner werden evakuirt und in passenden Räumen unter¬
gebracht, um dort täglich beobachtet zu werden. Eine derartige Evakuation
und Isolirung ist selbstverständlich meist nur im Anfangsstadium oder am Ende
einer Epidemie möglich.
Während der Verkehr im Grosshandel keine Gefahr bringt und ohne Be¬
schränkung bleiben kann, gilt dies nicht für den Nahverkehr zwischen
Produzent und Konsument, weil derselbe unter Umständen gefährlich ist, speziell
ist die Ausfuhr von Milch, Butter und Weichkäse aus einem infizirten Orte zu
verbieten. In Trotha waren z. B. die erkrankten Personen in einem Viehstalle
beschäftigt, und es ergab sich, dass die Milchgefässe mit dem infizirten Saale¬
wasser gespült wurden. Im Uebrigen soll man den Nahverkehr nicht zu sehr
Epidemiologischer Kursus zur sanitätspolizeilichen Bekämpfung der Cholera. 259
beschränken; man braucht nicht zu ängstlich zu sein, auch wenn ein oder der
andere Fall durch diesen Verkehr als entstanden deukbar wäre.
Die Ueberwachung des Eisenbahnverkehrs ist so einfach wie mög¬
lich zu gestalten: Es genügt beim Uebertritt Uber die Grenze bei Gelegenheit der
Zollrevision eine ärztliche Inspektion durch einfaches Ansehen, und erforderlichen
Falls weitere Beobachtung verdächtiger Reisender am Ankunftsorte. Eine Des¬
infektion der Effekten hat keinen Zweck, weil sie in wirksamer Weise nicht
durchführbar ist und alles Unnütze vermieden werden soll. Nach der inter¬
nationalen Uebereinkunft bleibt die Desinfektion auf Wäsche beschränkt, welche
mit Cholera- oder verdächtigen Dejektionen beschmutzt ist. Eine Desinfektion
der Dejektionen bei Benutzung der Klosets in den Bahnzügen ist praktisch
nicht durchführbar und hat auch keine grosse Wichtigkeit, denn der Bahndamm
ist ein fiir die Weiterentwicklung etwaiger auf ihm ausgestreuter Cholerakeime
ungünstiges Terrain und die Gefahr ist nicht gross, dass sie von dort durch
einen Regenguss in öffentliche Wasscrläufe gelangen. Dagegen ist bei Anwen¬
dung von Kübeln die Gefahr viel grösser, weil dann die Dejektionen gesammelt
und auf einer Station desinfizirt werden müssen.
Bei dem Flussverkehr ist nicht allein die Schiffs-, sondern auch die
Uferbevölkerung zu überwachen, weil beide mit einander häufig in Verkehr
stehen. Es kommen daher oft in der Nähe der Flüsse in kleinen Orten lokale
Epidemien vor, welche durch diesen Verkehr entstanden sind und sich wegen
der versteckten Lage der Orte leicht der Entdeckung entziehen, wie z. B. im
vorigen Jahre in einem kleinem Orte an der Weichsel. Die Flösser auf der
Weichsel und auf dem Rhein werden am zweckmässigsten in grossen Trupps
mit Sonderzügen in die Heimath geschafft werden, was sich durch Gewährung
von Fahrpreisvergünstigungen ebenso wie bei Auswanderern leicht er¬
reichen lässt.
Beim Auftreten eines einzelnen Falles von Cholera ist jedesmal nach der
Quelle des Infektion zu forschen und hei jedem weiteren Falle den Faden der
Infektion zu verfolgen. Wenn die Annahme richtig ist, dass die Cholera bei uns
nicht überwintern kann, so ist die Ausrottung jedenfalls leichter, wenn sie auch im
Sommer bei Epidemien grösserer Art kaum durchführbar sein dürfte. Bei der Epi¬
demie von 1892 ist zum ersten Male festgestellt, dass die Bazillen bei den erkrankt
gewesenen Personen, ähnlich wie bei der Diphtherie, längere Zeit haften; sie
sind bis zu 18 Tagen in den Stuhlausleerungen Erkrankter nachgewiesen, so dass
die Genesenen im Anfang und gegen Ende der Epidemie eigentlich nicht vor
Ablauf von 3 Wochen aus der Isolirung entlassen werden dürfen.
Die Desinfektion soll sich auf die Dejektionen der Kranken und die
mit ihnen verunreinigten Sachen erstrecken, auf das Schmutz- und Waschwasser,
Kleider und Wäsche. Es kommen hauptsächlich Flüssigkeiten in Betracht,
weil die Fäkalien meist gar nicht in die Latrinen, sondern in die Wäsche und
deren Spülwasser gelangen.
Als Desinfektionsmittel steht der Aetzkalk an der Spitze, weil er
überall am leichtesten zu beschaffen und am billigsten ist und nicht wie die
Karbolpräparate monopolisirt werden kann. Die rohe Karbolsäure muss durch
Mischung mit Kaliseife oder Schwefelsäure in Wasser lüsslich gemacht werden.
Verdünnte Mineralsäuren sind gleichfalls brauchbar; bei Kreolin, Lysol und ähn¬
lichen Mitteln aus Kresolen ist zu beachten, dass sie nicht zu viel verdünnt
werden dürfen, weil sie schon Wasser enthalten; also mindestens 5°/ # Lösungen.
Die Kleider, Betten und Matratzen werden in Dampfapparaten
desinfizirt. Solche Apparate sind als stationäre einzurichten, müssen mit */* Atmos¬
phäre Ueberdruck arbeiten, zweckmässig aufgestellt und gut bedient werden.
Die Wäsche muss immer mit Dampf oder Karbolseifen-Lösung desinfizirt
sein, ehe sie an die Wäscherinnen gelangt.
Die Latrinen desinfizirt man mit Kalkmilch unter Umrtthren, bis der
ganze Inhalt kräftig alkalisch reagirt, später genügt der tägliche Zusatz von 1 1.
Kalkmilch. Beim Herrschen einer Choleraepidemie soll keine Entleerung der Ab¬
trittsgruben, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist, stattfinden und eine Desinfek¬
tion derselben ist natürlich nur da erforderlich, wo Cholera vorhanden ist. Jede
nnnöthige Desinfektion ist überhaupt zu vermeiden, da sie die Mittel vergeudet
und falsche Sicherheit giebt.
Hinsichtlich der für die Desinfektion am meisten in Betracht kommenden
und deshalb sorgfältig zu behandelnden Schmutzwässer ist zu bedenken,
260
Dr. Schlüter.
dass alle Desinfektionsmittel zur Bntfaltung ihrer Wirkung eine gewisse Zeit,
etwa eine Stunde, erfordern und es müssen deshalb zur Mengung mit den Mitteln
mehrere Behälter zur Verfügung stehen.
Die Wände und Decken der Wohnungen sind, wo es angeht, mit Kalk-
zu behandeln, die Möbel mit Kaliseifenlösung abzuwaschen; Ledertheile und
Wagen werden mit Karbollösung besprengt und durch Austrocknen, besonders
in der Sonne, desinfizirt.
Zur Desinfektion ungeeignete Sachen, besonders nicht werthvolle, werden
verbrannt und der Eigenthümer wird entschädigt.
Die Leichen von an Cholera gestorbenen Personen sind in mit Chlor¬
kalklösung getränkte Tücher zu hüllen, der Boden des Sarges ist mit Säge-
spänen, auf welche Chlorkalk gestreut wird, zu bedecken und der SaTg zu Ver¬
pichen; bei solchen Vorsichtsmassregeln ist ein Transport der Leiche nicht gefährlich
und eine Abkürzung der Beerdigungsfrist nicht nothwendig. Das Waschen der
Leiche ist zu verbieten, wenn es nicht mit stark desinfizirenden Lösungen
geschieht, ebenso der Aufenthalt des Leichengefolges im Trauerhause. Im Erd¬
boden ist die Leiche nicht mehr gefährlich und daher keine Feuerbestattung
erforderlich; solange diese nicht allgemein durchgeführt wird, bietet sie über¬
haupt keine Vortheile und ist für die Hygiene gleichgiltig.
Als Vorbeugungsmittel ist die Sorge für gutes und keim¬
freies Trinkwasser am wichtigsten. Eine Central-Wasserleitung
ist gefährlich, wenn sie kein keimfreies Wasser liefert. Die Sandfilter haben sich
ni Altona, welches eine der bestgeleiteten Wasserleitungen besitzt, bei sorgfäl¬
tiger Handhabung bewährt, was umsomehr hervorgehoben werden muss, weil das
Wasser an der Entnahmestelle stark verunreinigt ist. Aber trotz der sorgfältigen
Ueberwachung entstand daselbst eine Nachepidemie, weil ein Sandfilter durch
Einfrieren nicht genügend filtrirte. Aus diesem Faktum ergiebt sich die Lehre,
dass bei unserm Klima überdachte Filter vorzuziehen sind. Es ist ausserdem
eine Kontrole des Filtrates nothwendig, welche in der täglich vorzunehmenden
bakteriologischen Untersuchung des Wassers von jedem einzelnen Filter bestehen
muss, wenigstens in Zeiten der Gefahr und da, wo gefährliches Wasser gebraucht
wird. Das zu untersuchende Wasser muss gleich nach dem Austreten aus dem
Filter entnommen werden und dürfen nicht mehr als 100 Keime in 1 ccm ent¬
halten sein. Jedes schlecht funktionirende Filter muss vom Beinwasser-Be-
servoir ausgcschaltet werden. Keimfreies Wasser nimmt in der Leitung durch
Berührung mit der Luft zwar nachträglich wieder Keime auf, die jedoch un¬
gefährlich sind, wenn nicht Infektionsstoffe hineingelangen.
Das Grundwasser ist filtrirtes Wasser und das Filtriren dauert bei
feinkörnigem Boden vielleicht Monate lang, so dass eine derartige Filtrirung der
künstlichen voransteht und keimfreies Wasser liefert. Eine nachträgliche Infi-
zirung des keimfreien Grundwassers kann bei grossen Anlagen, wenn auf der
Entnahmestelle keine Menschen wohnen, leicht ausgeschlossen werden. In der
Nähe von Wasserläufen fiiesst das Grundwasser mit dem Strom, wird aber nicht
dadurch verunreinigt, da es mit dem Flusswasser nicht direkt kommunizirt, denn
auf dem Flussboden befindet sich eine undurchlässige Schlammschicht. Das
Grundwasser ist meist eisenhaltig, und es lagert sich beim Zutritt der Luft und
dem Stagniren in den Wasserleitungsröhren Eisenschlamm ab. Bei Einzelent¬
nahme von Wasser muss man dafür sorgen, dass das reine Grundwasser nicht
nachträglich verunreinigt und infizirt wird, was am sichersten beiBohrbrnnnen
vermieden werden kann. Die Kesselbrunnen sind deshalb so gefährlich,
weil sie meist durch Hereinfliessen von unreinem Wasser von oben her oder von
der Wandung aus, zumal im Winter bei gefrorenem Erdreich, verunreinigt
werden; die Ummauerung ist nicht undurchlässig herzustellen, weil sie der Ein¬
wirkung des Frostes ansgesetzt ist. Bei Kesselbrunnen muss man deswegen
ein Bleirohr in die Wasserschicht leiten und einen Abschluss nach oben hin
hersteilen. Dies wird erzielt, indem man durch Hineinschütten von Kies und Sand
nach oben hin ein Filter bildet oder zu demselben Zwecke das Bleirohr über
dem Wasserstande durch die Wandung des Brunnens nach aussen seitlich ableitet,
darüber abdeckt und Sand aufschüttet. Brunnen werden am besten unter die
erste isolirende bis in die zweite wasserhaltige Schicht, also bis in die Kies¬
schicht geführt; eisenhaltiges Wasser kann vom Eisen mittelst Filtrirung durch
Koks und Sand befreit werden, wie man das auch in Hamburg ausgeführt hat.
Die Massregel, das Trink- und Brauchwasser vor dem Genuss abzu-
Epidemiologischer Korsos zur samtätspolizeilichen Bekämpfung der Cholera. 261
kochen, ist immer nnsicher, da sie omgangen wird; in Nietleben war diese
Anordnung auch im Sommer 1892 getroffen nnd wurde zunächst befolgt, dagegen
später nicht mehr, als die Gefahr vorüber zu sein schien.
Wenn das Resultat der chemischen Untersuchung eines Brunnen*
wassere schlecht ist, so ergiebt sich, dass der Brunnen sich in gefährlicher Nähe
einer ekelhaften Vernnreinignngsstelle befindet, jedoch wird das Wasser nur
infizirend, wenn es pathologisch wirksame Keime enthält.
Das Eis ist nicht gefährlich, wenn es einige Zeit gelagert hat, da die
Cholerabazillen eine derartige Kälte nur drei Tage lang aushalten, bei Typhus
dessen Keime widerstandsfähiger sind, ist eine Infektion leichter möglich.
Das Baden in infizirtem Wasser ist unbedingt zu verbieten.
Hinsichtlich der Assanirungsmassregeln ist vor allem die Rein¬
haltung des Bodens in den Ortschaften wichtig. Zur Wegschaffnng der Abfall¬
stoffe und Schmutzwässer ist das Rieselsystem das beste Verfahren, wenn
es auch nicht absolut reines Wasser liefert, weil dabei der Boden schliesslich zu
sehr überlastet wird und an einzelnen Stellen versagt; ausserdem bleibt die
Verunreinigung der öffentlichen Wasser durch die Nothauslässe bestehen.
Das Klär ung sv er fahre n desinfizirt nicht, weil der Kalk zu kurze
Zeit einwirkt und weil zu rasch Fällungsmittel zugesetzt werden. Wenn keine
Cholera vorhanden ist, braucht man hinsichtlich der Schmutzwässer nicht zu
ängstlich zu sein, da wir eine Verunreinigung der Flüsse doch nicht verhüten
können.
Das Abfuhrsystem berücksichtigt nur die Fäkalien und gar nicht die
wichtigen Schmutzmässer.
In Betreff der Wohnungshygiene ist Reinlichkeit nothwendig.
Wichtig ist ferner, einer Ueberfüllung der Wohnungen vorzubeugen, da
diese Unreinlichkeit im Gefolge hat und bei Cholera leichter eine unmittelbare
Uebertragung von Mensch zu Mensch hervorruft, während dieselbe sonst mehr
durch Wasser oder Nahrungsmittel erfolgt. In Hamburg herrschte die Krank¬
heit sogar weniger in den alten Qnartieren, als in den modernen übervölkerten
Miethskasernen. Auch bricht die Cholera mit Vorliebe in geschlossene Anstalten
ein, in welchen eine Menge von Menschen den gleichen Bedingungen unterworfen
sind. Dazu kommt, dass die unteren Volksklassen, die hauptsächlich in über¬
füllten Wohnungen wohnen, der Belehrung in Bezug auf die Voreichtsmassregeln
gegen die Cholera schwer oder garnicht zugängig sind.
Während des Kursus fanden ausserdem noch zahlreiche Demon¬
strationen statt. So demonstrirte am ersten Tage Herr Privat-
Dozent Dr. Pfeiffer eine Cholerakultur, ein Präparat aus Cholera¬
stuhl, welches fast Reinkultur war und ein zweites mit Anordnung
der Kommabazillen in Zügen. Am zweiten Tage zeigte Herr
Professor Dr. Pfuhl den Thierversuch und wurden 3 Meerschwein¬
chen mit einer auf Agar gewachsenen Cholerakultur von der Bauch¬
höhle aus vergiftet Am letzten Tage führte derselbe die Theilnehmer
des Kursus in eine der Baracken des Instituts für Infektionskrank¬
heiten, erörterte deren Bau und Einrichtung und zeigte schliesslich
den Dampfdesinfektionsapparat des Instituts im Betriebe. Dabei hob
er hervor, dass man bei derartigen Apparaten das Hauptgewicht
auf die Zuleitung des Dampfes von oben her und auf das Arbeiten
mit überspanntem Dampfe legen müsse.
Nach Drucklegung des vorstehenden Referates wurde dem
Herausgeber der Zeitschrift noch von anderer Seite ein gleicher
Bericht über denselben Kursus zugeschickt. Von einem voll¬
ständigen Abdruck desselben musste, um Wiederholungen zu ver¬
meiden, leider Abstand genommen werden; wir bringen daher nur
den Schluss desselben, in dem einige von H. Geheimrath Dr. Koch
bei Gelegenheit der Kurse den Medizinalbeamten gemachten Vor-
262 Die Frage der Vornntersuchuugen in der Wohnung d. Medizinaibeamten etc.
würfe näher besprochen und zurückgewiesen werden. Der Bericht¬
erstatter schreibt:
„Zum Schluss mögen an dieser Stelle nochmals die von Herrn
Geheimrath Dr. Koch in den Kursen den Medizinal - Beamten
gemachten Vorwürfe als vollständig unbegründet zurückgewiesen
werden. Dass die Medizinalbeamten durch ihre Lauheit und Un-
thätigkeit mit daran Schuld getragen hätten, dass der erste Ent¬
wurf des Reichsseuchengesetzes im Bundesrathe abgeändert sei,
dieser Vorwurf Koch’s wird jedenfalls sämmtlichen Kollegen ebenso
neu und ungerechtfertigt, wie den Theilnehmern des Kursus er¬
scheinen. Noch erstaunter waren aber diese und dürften
sicherlich alle übrigen Medizinal - Beamten sein über die von Koch
in den Kursen ausgesprochene Verwunderung und Missbilligung,
dass keiner der preussischen Physiker im vorigen Jahre die Ge¬
legenheit wahrgenommen habe, eine so bedeutende und lehrreiche
Epidemie, wie die Hamburger jüngste Choleraepidemie, persönlich
an Ort und Stelle zu studiren. Mit Recht wurde sofort beim Aus¬
spruche dieses Vorwurfes von einem älteren, wohl erfahrenen
Medizinalbeamten entgegnet, dass die Physiker zu dieser Zeit seit
langem wirklich einmal unentbehrlich gewesen seien und
ihren Wirkungskreis angesichts der drohenden Gefahr keineswegs
hätten verlassen dürfen, ganz abgesehen davon, dass ein etwaiges
Urlaubsgesuch auch abschläglich beschieden worden wäre. Von
Herrn Geheimrath Koch, den wir preussischen Physiker stets
als mit Stolz aus unserer Mitte hervorgegangen betrachten und
von dem wir ein regeres Verständniss der augenblicklich unge¬
nügenden Stellung der Physiker in Preussen aus eigener An¬
schauung erwarten durften, hätten wir solchen Vorwurf um so
weniger erwartet, als dieser im völligen Widerspruch steht mit
der s. Z. von Allerhöchster Stelle öffentlich zum Ausdruck ge¬
brachten ehrenden Anerkennung der hervorragenden und auf¬
opfernden Thätigkeit der Medizinalbeamten zur Zeit der letzten
Choleraepidemie.“
Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung des Medizinal¬
beamten bei Abgabe mündlicher Gutachten im Termin.
Wir bringen nachstehend drei, von Kollegen uns zur Verfü¬
gung gestellte gerichtliche Entscheidungen, die vom Landes-
gericht in Duisburg, von dem Königl. Kammergericht
in Berlin und von dem Reichsgericht in der Frage betreffs
der Gebühren für Voruntersuchungen in der Wohnung des Medi¬
zinalbeamten bei Abgabe mündlicher Gutachten im Termin getrof¬
fen sind:
I. Beschluss des Landgerichts in Duisburg vom
10. September 1892.
Der Kreisphysikus Dr. Marx in Mühlheim war auf Antrag
der Königl. Staatsanwaltschaft vom Königl. Amtsgericht in Folge
Die Fratre der Voruntersuchungen in der Wohnung il. Medizinalbeamleu etc. 2f> >
des Ministerialerlasses vom 13. Juli 1892 zur Rückzahlung: von
Gebühren für Voruntersuchungen in 4 Füllen aus dem Jahre 1889
aufgefordert. Gegen diesen Antrag erhob er bei dem Königl.
Landgericht in Duisburg Beschwerde und begründete dieselbe
folgendermassen:
„1. Die in Frage stehenden, im Aufträge des Gerichts gemachten Vor¬
untersuchungen mussten vor dem Terminstage vorgenommeu werden; es sind
neben und ausserhalb des Termins von mir geforderte Leistungen, welche
n i cjhjt zur Obwartung des Termins gehören, und für welche mir demgemäss im
Verhältuiss zu Mühe und Zeitvers&umniss eine Entschädigung zusteht. Ich berufe
mich hierbei auf die Entscheidung des Reichsgerichts vom 19. April 1888
(juristische Wochenschrift 1888 Nr. 13 und 14 S. 215).
2. Will man, entgegen dieser Entscheidung der Ansicht der Königl.
Staatsanwaltschaft beitreten, dass für derartige Voruntersuchungen §. 6 (Gebühren
für Vorbesuche) des Gesetzes vom 9. März 1872 keine Anwendung finden
kann, so muss der Gebührenanspruch zugebilligt werden nach §§.3 — 5 der
Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige vom 30. Juni 1878 unter
Berücksichtigung der mit den fraglichen Geschäften verknüpften Zeitversäumniss,
denn derartige Untersuchungen im Aufträge der Gerichtsbehörden gehören nicht
zu den vom Gesetz besonders bestimmten Dienstleistungen, zu welchen der Mc-
dizinalbeamte unentgeltlich verpflichtet ist.
3. Untersuchungen in der Wohnung der zu Untersuchenden sind häufig
unmöglich, unzweckmässig und nicht im Interesse der Sache wegen unpassender
Räumlichkeit, Mangel an Licht, je nach Art der Untersuchung auch mit Rück¬
sicht auf die Umgebung (worauf insbesondere bei Untersuchungen von kindlichen
Geschlechtsteilen Rücksicht zu nehmen), wegen des notwendigen Gebrauchs
von Instrumenten, Spiegel, (letzteres besonders bei Untersuchungen auf Schleim,
Eiter, Trippergift, Samenflecken etc.). Thatsächlich ist es mir wiederholt vorge¬
kommen, dass ich bei Vor besuchen die zu Untersuchenden in meine Wohnung
bestellen musste, weil aus obigen Gründen die Untersuchung in der Wohnung
der Leute nicht möglich war.
Es müsste im höchsten Grade unbillig und ungerecht erscheinen, auch dem
Interesse der Sache widerstreben, wollte man deshalb dem Medizinalbeamten
die Gebühren entziehen.
4. Die Reflexionen der Königl. Staatsanwaltschaft auf die Gebühren für
Erstattung eines schriftlichen Gutachtens sind meines Erachtens nicht zu¬
treffend. Diese Gebühren bewegen sich zwischen 6 und 24 M. Wenn auch die
höheren Sätze „insbesondere“ — nicht etwa „nur“ — dann zu bewilligen sind,
wenn die Untersuchung, resp. das Gutachten besonders schwierig und zeitraubend
ist, mikroskopische und andere Instrumente etc. erfordert, so kommen doch in allen
anderen Fällen nicht immer der niedrigste, sondern die niederen Sätze
in Anwendung und der Niedrigste nur da, wo es sich um ganz einfache, wenig
Zeit und Mühe erfordernde Gutachten handelt, gleichviel ob die vorherige Unter¬
suchung einer Person oder Sache damit verbunden ist oder nicht. Letzteres ist
oft genug nicht der Fall. Wo dies aber nöthig ist, wird der Gutachter fast
stets unbeanstandet 9 M. liquidiren können, (d. i. gleich einem Vorbesuch und
Terminsabwartung); und dabei kann er sich die Zeit zur Abfassung des Gut¬
achtens nach Belieben mit Rücksicht auf seine Zeit wählen, so dass er keine
Schädigung durch Versäumniss hat.
Uebrigens sind, wie bereits oben bemerkt, die Voruntersuchungen für
gerichtliche Termine oft genug schwierig und mühevoll, erfordern Mikroskop
und andere Instrumente, so dass in vielen Fällen die beanspruchte Gebühr von
3 M. bescheiden genug erscheint.“
Dieser Beschwerde wurde seitens der Strafkammer des König¬
lichen Landgerichts in Duisburg durch Beschluss vom 10. Sep¬
tember 1892 stattgegeben unter Aufhebung der vom Amtsgericht
erlassenen Verfügungen aut Rückzahlung der Gebühren. Das
Urtheil lautet wie folgt:
„In den genannten drei Untersuchungssachen war vor den Terminen vom
264 Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc.
2. Oktober, 20. November und 23. April 1889 amtsrichterlich die Untersuchung
bestimmter Personen und zwar in der Sache gegen Fr. zweier Personen
dem Beschwerdeführer in seiner Wohnung übertragen und erhielt derselbe für
den empfangenen Vorbesuch je 3 M. und in der Sache gegen Fr. 6 M. auf
die Kasse angewiesen und gezahlt In Folge Erinnerung der Königlichen Ober¬
rechnungskammer hat die Königliche Staatsanwaltschaft zu Duisburg gegen diese
Anweisung Beschwerde erhoben und das Amtsgericht durch Verfügung vom
10. September 1892 den Dr. Marx aufgefordert, in 2 Fällen je 3 M. und in
einem Falle 6 M. der Gerichtskasse zu erstatten. Hiergegen erhebt Dr. Marx
Beschwerde mit dem Anträge, die Berechtigung der gezahlten Gebühren anzu¬
erkennen und den Antrag der Königlichen Staatsanwaltschaft abzulehnen.
Die Beschwerde ist für begründet gehalten.
Nach §. 13 der Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige vom
3. Juni 1878 ist für Gebührenfestsetzungen der von den Gerichten den Medizinal¬
beamten übertragenen Geschäfte das preussische Gesetz vom 9. März 1872 auf¬
recht erhalten. Nach §. 3 1 dieses somit Anwendung findenden Gesetzes haben
die Medizinalbeamten für Abwartung eines Termins 6 M. und bei längerer Dauer
von drei Stunden für jede ganze oder angefangene Stunde 1,50 M. zu liquidiren.
Nach §. 6 daselbst ist, wenn zu der verlangten sachkundigen Ermittelung
besondere Vorbesuche nöthig sind, falls nicht die Voraussetzungen für Reisekosten
und Tagegelder vorliegen, für jeden Vorbesuch eine Gebühr von 3 Mark zu
bewilligen.
Hier ist in Frage, oh unter Vorbesuch nur der von dem Medizinalbeamten
gemachte oder auch der in seiner Wohnuug empfangene zu verstehen ist.
Das Beschwerdegericht hat diese letztere Auslegung angenommen. Denn
einmal spricht hierfür der Wortlaut des §. 6, wonach für jeden Vorbesuch,
wenn nicht Tagegelder und Reisekosten liquidirt werden dürfen, eine Gebühr
von 3 Mark zu bewilligen ist, so dass also unter „Vorbesuch* im weitesten
Sinne sowohl der gemachte, als auch der empfangene zu sub-
stituiren ist. Ferner spricht hierfür, dass der §. 3 l , der für Abwartung
eines Termins eine Vergütung von 6 M. festgesetzt, nur für die terminliche
Thätigkeit Entschädigung bietet.
Wenn im Allgemeinen auch richtig sein mag, dass dem Sachverständigen
die Art und Weise, auf welche er sich das für sein Gutachten erforderliche
Material zu verschaffen suchte, zu überlassen ist, so ist hiervon im vorliegenden
Falle abgewichen, da der Sachverständige den richterlichen Auftrag zur Unter¬
suchung vor dem Termine in seiner Wohnung erhalten hat. Durch die Erledi¬
gung dieses Auftrages ist dem Sachverständigen eine besondere Mühewaltung
erwachsen, für welche der §. 3 keine Vergütung trifft und auch eine andere
Entschädigung als aus §. 6 in dem Gesetze, insbesondere aus §. 10, nicht
enthalten ist. Es würde somit bei einer Unterscheidung der Vorbesuche in
gemachte und empfangene für einen gemachten Vorbesuch 3 M. und für einen
empfangenen nichts zu liquidiren sein. Die Mühewaltung des Arztes scheint aber
wenigstens als Regel dieselbe zu sein, ob sie sich bei einem gemachten oder
einem empfangenen Vorbesuche äussert; bei dem letzteren könnte sie dadurch
noch intensiver werden, dass dem Arzte seine Hülfsmittel zugänglicher gemacht
sind. Da der Sachverständige überhaupt nach §. 3 der Gebührenordnung vom
30. Juni 1878 für seine Bestimmungen eine Vergütung erhält, der Medizinal¬
beamte für den empfangenen Vorbesuch aber nicht vergütet werden soll, so
würde die Vergütung für den gemachten Vorbesuch sich nur auf den Umstand
gründen lassen, dass der Sachverständige in letzterem Falle einen Weg zurück¬
gelegt hat, für welchen jedoch nur unter den Voraussetzungen zu liquidiren ist,
wenn Tagegelder und Reisekosten liquidirt werden dürfen. Somit hat der §. 6
ohne Rücksicht auf den Weg für die ärztliche Leistung eine Vergütung von 3 M.
für jeden Vorbesuch bestimmt und ist daher dieser Betrag auch für den em¬
pfangenen Vorbesuch mit Recht angewiesen.
Diese Auffassung steht auch dem Beschlüsse des Reichsgerichts vom
19. April 1888 nicht entgegen und kann den in der Beschwerdeschrift der
Königlichen Staatsanwaltschaft entwickelten Gründen, worin insbesondere auf
den Erlass des Justizministeriums vom 15. Juli 1892 Bezug genommen wird, nicht
beigetreten werden.“
Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc. 265
II. Beschluss des Kammergerichts vom 20. Dezember 1892.
Der Augenarzt Dr. Cr. in Kottbus war gerichtsseitig beauf¬
tragt, ein mündliches Gutachten im Termin als Sachverständiger
über einen Augenverletzten abzugeben und zu diesem Zwecke
vorher in seiner Wohnung eine Untersuchung des Verletzten auf
seinen Sehzustand vorzunehmen. Der für die Untersuchung (3 M.)
liquidirte Betrag war ihm auch zunächst anstandslos ausbezahlt
worden; auf Grund des vorerwähnten Justitz-Ministerialerlasses
aber später wieder gestrichen. Eine dagegen erhobene Beschwerde
wurde von dem Königl. Landgerichte in Kottbus als begründet
anerkannt und die Gerichtskasse zur Auszahlung des liquidirten
Betrages von 3 M. angewiesen. Gegen diesen Beschluss wurde
vom Oberstaatsanwälte Beschwerde beim Kammergericht erhoben,
von diesem der Beschluss des Landgerichts wieder aufgehoben
und dem Anträge des Oberstaatsanwalts gemäss auf Rückzahlung
der Gebühren erkannt. Der betreifende Beschluss des Kammer¬
gerichts (IX. Civilsenat) vom 20. Dezember 1892 lautet wie folgt:
„Durch Beschloss der m. Civilkammer des Königlichen Landgerichts za
Cottbas vom 4. Juli 1892 war die Vernehmung des Augenarztes Dr. Cr.
daselbst als Sachverständigen darüber angeordnet worden, ob der von dem Mit¬
beklagten Sch. abgegebene Pfeilschuss unmittelbar den Verlust des linken
Auges des Klägers zur Folge gehabt habe oder nicht. Der Sachverständige
beantragte darauf, zu veranlassen, dass ihm der Kläger einige Tage vor dem
auf den 29. September 1892 anberaumten Termine zn einer Untersuchung vor¬
gestellt werde. Dies ist denn auch in der Wohnung des Arztes geschehen. Für
die Untersuchung liquidirte dann der Sachverständige ein Gebühr von 3 M., für
die Wahrnehmung des Termins eine solche von 6 M., zusammen 9 M. Mit
Rücksicht auf den Runderlass des Herrn Justizininisters vom 13. Juli 1892 —
I. 3346 — setzte jedoch der beauftragte Richter die Gebühr nur auf 6 M. fest*
In Folge der hiergegen von dem Sachverständigen erhobenen Erinnerung hat die
bezeichnete Civilkammer durch Beschluss vom 7. Oktober 1892 die Gerichtskasse
zu Kottbus angewiesen, dem Sachverständigen Augenärzte Dr. Cr. für die vor
dem Termine am 26. September 1892 an dem Knaben A. vorgenommene Unter¬
suchung die liquidirten 3 M. zu zahlen.
Hiergegen hat die Oberstaatsanwaltschaft bei dem Königlichen Kammer
gerichte in Vertretung der Staatskasse Beschwerde mit dem Anträge eingelegt-
den vorbezeichneten Beschluss aufzuheben und die von dem Augenärzte Dr. Cr.
gegen die Gebührenanweisung vom 29. September 1892 geführte Beschwerde
vom 1. Oktober 1892 zurückzuweisen.
Zur Begründung der Beschwerde hat sie lediglich auf die Ausführungen
des gedachten Runderlasses Bezug genommen.
Die Beschwerde ist, sofern man annimmt, dass die genannte Civilkammer
nur an Stelle des von ihr beauftragten Richters die in §. 17 Absatz 2 der Ge¬
bührenordnung für Zeugen und Sachverständige vom 30. Juni 1878 vorgesehene
Berichtigung der ursprünglichen Gebühren festsetzung — in Folge der von dem
Sachverständigen Dr. Cr. erhobenen Erinnerung vorgenommen hat, als die in
§. 17 Absatz 3 dieses Gesetzes zugelassene Beschwerde an sich statthaft, auch
in der gesetzlichen Form eingelegt (Allg. Verf. vom 28. Februar 1885, §. 14
J. M. Bl. S. 92).
Sie muss auch für begründet erachtet werden.
Es kann für den vorliegenden Fall dahin gestellt bleiben, ob, wovon der
erste Richter ausgeht, eine Gebühr auf Grund des §. 6 des Gesetzes vom
9. März 1872 deshalb nicht zum Ansätze gebracht werden darf, weil dieser sich
nur auf Vorbesuche, welche der Arzt der untersuchenden Person, nicht aber auf
solche, welche diese jenem gemacht hat, beziehe. Auch als ein von dem Sach¬
verständigen dem Kläger erstatteter Vorbesuch würde derselbe den
Sachverständigen nicht zum Bezüge der besonderen Gebühr aus dem angezogouen
266 Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc.
§. 6 berechtigen. Dieser gewährt den Medizinalpersonen nicht für jeden Vor¬
besuch schlechthin, sondern nur für „besondere Vorbesuche“, welche
behufs der angeordneten „sachkundigen Ermittelung“ erforderlich sind, eine
Gebühr von je 3 M. Die Vorbesuche müssen also „besondere“ sein, um Anspruch
auf die besondere Gebühr des §. 6 zu gewähren. Den Gegensatz zn ihnen bildet,
wie sich ans dem ganzen Zusammenhänge des Gesetzes ergiebt, derjenige Vor¬
besuch, welcher lediglich behufs Vornahme der für die betreffende sachkundige
Ermittelung erforderlichen mindestens einmaligen Untersuchung der
bezüglichen Person ausgeführt wird. Denn schon nach der Natur der Sache
muss davon ausgegangen werden, dass ein Arzt, welchem eine bestimmte Er¬
mittelung aufgegebeu wird, die betreffende Person, falls er nicht etwa ihren
Körper- oder Geisteszustand anderweit mit Zuverlässigkeit kennen gelernt hat,
vor Abgabe seines Gutachtens einer Untersuchung unterwerfen muss. Diese aber
setzt, sofern sie nicht ausnahmsweise im Termine zur Abgabe des Gutachtens
selbst erst vorgenommen wird, stets einen Besuch, sei es des Arztes bei der zu
untersuchenden Person, oder dieser bei jenem, voraus. Diese Besuche können
daher mit den „besonderen Vorbesuchen“ des §. 6 nicht gemeint sein, der¬
selbe hat vielmehr, wie sich aus dem Gegensätze ergiebt, diejenigen Besuche im
Auge, welche ausser der regelmässig erforderlichen, mindestens einmaligen
Untersuchung der betreffenden Person, behufs der angeordneten sachkundigen
Ermittelung, nothwendig sind, also solche, welche die regelmässige Zahl von
einem überschreiten, insbesondere behufs einer längeren oder längere Zeit
fortgesetzten Beobachtung in einer Mehrzahl nach wissenschaftlichen
Grundsätzen erforderlich sind.
Diese Bedeutung des §. 6 wird auch durch die Vorschrift des §. 3 Absatz 2
des Gesetzes, auf welche auch bereits in dem erwähnten Erlasse hingewiesen
ist, bestätigt:
„Die höheren Sätze sind insbesondere dann zn bewilligen, wenn
eine zeitraubende Einsicht der Akten nothwendig war, oder die Un¬
tersuchung die Anwendung des Mikroskops oder anderer Instru¬
mente oder Apparate erforderte, deren Handhabung mit besonderen
Schwierigkeiten verbunden ist.“
Denn hier wird ausdrücklich die Schwierigkeit der vor der Abgabe des
Gutachtens oder der Erstattung des Berichts anzustellenden Untersuchung
nur als ein Umstand bezeichnet, welcher lediglich auf die Bemessung der Gebühr
für dieses Gutachten oder den Bericht innerhalb des gesetzlichen
Bahmens der beweglichen Gebührensätze Einfluss ausüben soll. Die Anstellung
einer Untersuchung überhaupt als einer nicht besonders gebührenpflichtigen
Handlung wird also ohne Weiteres vorausgesetzt. Durch die Gebühr für
das Gutachten bozw. den Bericht soll somit diejenige für die vorgängige Unter¬
suchung bezw. für den hierzu erforderlichen Besuch, bezüglich dessen es demnach
hier ganz gleichgültig ist, ob er von dem Arzte der zu untersuchenden Person
oder von dieser jenem gemacht ist, mitabgegolten werden. Dieser Grundsatz
aber stellt sich nach dem ganzen Zusammenhänge des Gesetzes als ein allge¬
meiner dar und muss daher auch da gelten, wo, wie für die Abwartung eines
Termins, nicht ein beweglicher, sondern ein festbestimmter Satz ausgeworfen ist.
Zu demselben Ergebnisse führt auch die Betrachtung der Entstehungs¬
geschichte der einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes vom 9. März 1S72.
Dieses ist an die Stelle des V. Abschnitts — „Taxe für die gerichtlichen Aerzte
und Wundärzte“ — der Medizinalpersonentaxe vom 1. Juni 1815 getreten und,
wie eine Vergleichung beider lehrt, in vielen seiner Vorschriften auf dem Boden
jener älteren Bestimmungen erwachsen. In jenem Abschnitte fand sich nun eine
allgemeine, dem §. 6 des jetzigen Gesetzes entsprechende, gleichmässig auf
besondere Vorbesuche behufs Abwartung eines Termines oder Erstattung eines
schriftlichen Gutachtens, auf Untersuchungen des körperlichen oder geistigen
Zustandes einer Person, bezügliche Vorschrift nicht. Vielmehr enthielt er nur
folgende einschlägige E i n z e 1 bestimmungen :
„§. 7. Für ein Attest über den Gesundheits- oder Krankheitszustand
oder einer Verletzung 20 Sgr. bis 1 Thlr.
§. 8. Ist es zur Ausstellung eines solchen Attestes nothwendig, dass
der Physikus sich zu dem Kranken oder Verletzten begeben muss, weil
dieser selbst nicht das Zimmer verlassen kann, so bekommt der Phy-
Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc. 267
sikus mit Inbegriff des ausgestellten Attestes 1 bis
2 Tklr.“
Auch hier war demnach mittelbar der Grundsatz anerkannt, dass fttr einen
Vorbesuch, und zwar selbst für einen solchen, behufs dessen der Physikus sich
zu dem Kranken oder Verletzten begeben musste, nur zusammen mit der
Gebühr für das Gutachten ein einheitlicher, allerdings höherer Satz als
sonst, zu gewähren sei.
Ferner §. 9:
„Für die Untersuchung eines Gemüthszustandes
a. wenn das Gutachten darüber zu Protokoll diktirt wird, 2 Thlr.,
b. wenn ein besonderes Gutachten verlangt wird, incl. des¬
selben 4 Thlr.
Sind im Aufträge des Richters mehrere Besuche nüthig, so wird
jeder einzelne wie ein gewöhnlicher ärztlicher Besuch angesehen und
renumerirt.“
Hier wird gleichfalls, wie der Wortlaut ergiebt, an sich die ansgewor¬
fene Gebühr für die Untersuchung und das Gutachten einheitlich
gewährt, und nur wenn mehrere Besuche nach der Anordnung des Richters
auszuführen waren, sollten die einzelnen wie gewöhnliche ärztliche Besuche
besonders vergütet werden. Die Abstattung nur eines Besuches, welchen das
Gesetz eben in jedem Falle behufs Vornahme der Untersuchung als nothwendig
voraussetzte, sollte demnach durch jene an sich einheitliche Gebühr für Unter¬
suchung und Gutachten mitabgcgolten werden.
Für die Annahme aber, dass von jenem so in der früheren Gesetzgebung
in einzelnen Anwendungen anerkannten Grundsätze der Gesetzgeber bei
der Aufstellung der allgemeinen Vorschrift des §. 6 des gegenwärtig gelten¬
den Gesetzes habe abweichen wollen, liegt um so weniger Anlass vor, als die
Begründung zu dem ersten Entwürfe dieses Gesetzes (Drucksachen des Hauses
der Abgeordneten aus der X. Legislaturperiode, IIL Session 1869 Bd. 4 Nr. 255)
— die späteren Vorlagen enthalten keine besondere Begründung — in der hier
fraglichen Hinsicht keine irgendwie abweichende Auffassung erkennen lässt,
vielmehr zur Rechtfertigung des §. 6 nur ganz allgemein angeführt:
„Für den hier vorgesehenen Fall eine bestimmte Vorschrift zu
haben, ist ein in der Praxis hervorgetretenes Bedilrfniss. Der Vor¬
schlag sebst wird einer näheren Motivirung nicht be¬
dürfen.“
Aber auch der §. 10 des Gesetzes vom 9. März 1872, auf welchen der
Vorderrichter im Anschlüsse an den mit dem gedachten Runderlasse mitgetheilten
Beschluss des Reichsgerichts vom 6. Februar 1888 seine Entscheidung gestützt
hat, lässt sich zur Begründung einer besonderen Gebühr für den von einem
medizinischen Sachverständigen behufs Vornahme einer angeordneten sachkundi¬
gen Ermittelung gemachten oder empfangenen Besuch, bei welchem lediglich die
einzige nothwendige Untersuchung der betreffenden Person vorge¬
nommen worden ist, nicht heranziehen. Der §. 10 will, wie schon aus seiner
in seinen Eingangsworten:
„Insoweit die Gebühren vor stehend nicht nach festbestimm¬
ten Sätzen geregelt sind, ist der im einzelnen Falle anzuwei¬
sende Betrag etc.“
enthaltenen ausdrücklichen Bezugnahme auf die vorhergehenden Bestimmungen
des Gesetzes hervorgeht, aber auch sein Wortlaut im Uebrigen ergiebt, nur in
Ergänzung der vorhergehenden einzelnen Gebührenvorschriften einen allgemeinen
Massstab für die Bemessung derjenigen Gebühren aufstellen, welche in den vor¬
angestellten Paragraphen nicht nach „festbestimmten“ Sätzen, sondern nur durch
Festsetzung eines Höchst- und eines Mindestsatzes geordnet sind. Für die
Anwendung des so der festsetzenden Behörde gelassenen Ermessens giebt er
bestimmte Weisungen. Nicht aber enthält er, worauf die entgegengesetzte
Meinung hinausläuft, eine sog. clausula generalis, welche ermächtigte, für eine
in den vorhergehenden Paragraphen nicht ausdrücklich vorgesehene Leistung der
Medizinalpersonen eine Gebühr nach völlig freiem Ermessen der fest¬
setzenden Behörde zu bestimmen. Dies würde auch gerade dem ausgesprochenen
Zwecke des Gesetzes, die Gebühren der Medizinalpersonen in den einschlägigen
Fällen bestimmt und genau, sowie den verwendeten Zeitverhältnissen entsprechend
zu regeln, widersprechen.
268 Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinal beamten etc.
Da nun im vorliegenden Falle der von dem Augenärzte Dr. Cr.
empfangene eine Besuch des Klägers lediglich die Vornahme der einzigen behufs
Abgabe des von ihm erforderten Gutachtens nöthigen Untersuchung bezweckt
bat, so ist diese und der empfangene Bestich durch die Gebühr für den dem¬
nächst von ihm abgewarteten Termin mit abgegolten und eine besondere Gebühr
hierfür gesetzlich unstatthaft.
Demgemäss kann es dahin gestellt bleiben, ob eine besondere Gebühr für
die von dem Sachverständigen vorgenommene Untersuchung der Augen des
Klägers auch nach §. 6 des mehrerwähnten Gesetzes deshalb ausgeschlossen ist,
weil er den bezüglichen Besuch nicht seinerseits dem Kläger gemacht, sondern
von diesem in seiner, des Sachverständigen, Wohnung empfangen hat; ingleichen:
wie die von dem ersten Richter aufgeworfene Frage zu beantworten ist, ob und
welche Gebühr bei der hier angenommenen Auslegung des §. 10 einem ärztlichen
Sachverständigen dann zuzubilligen wäre, wenn nach Vornahme der Untersuchung
der anberaumte Termin in Folge inzwischen eingetretener Erledigung des Rechts¬
streites aufgehoben würde.
Der angefochtene Beschluss ist deshalb dahin abzuändem, dass dem
Augenärzte Dr. Cr. für die erwähnten Verrichtungen lediglich auf Grund
des §. 3 Nr. 1 des gedachten Gesetzes eine Gebühr von 6 M., dagegen keine
weitere auf Grund des §. 6 oder des §. 10 festgesetzt wird.
Kosten des Beschwerdeverfahrens kommen nach §. 45 des Gerichtskosten¬
gesetzes nicht zum Ansatz.“
Gegen diesen Beschluss erhob der Augenarzt Dr. Cr. Be¬
schwerde beim Reichsgericht, das dieselbe aber aus formellen
Gründen als unzulässig zurückwies, da die angefochtene Entschei¬
dung nach ihrem Ergebniss mit der von dem beauftragten Richter
vorgenommene Festsetzung vollständig übereinstimme, so dass es
an einem neuen selbstständigen Beschwerdegrunde, der nothwen-
digen Voraussetzung für die Statthaftigkeit der weiteren Beschwerde
nach §. 531, Abs. 2, der Civilprozessordnung fehle.
EU. Beschluss des Reichsgerichts vom 6. Februar 1 893.
Ebenso wie in dem ersten Falle hatte das Landgericht in
Duisburg durch Beschluss vom 7. Oktober 1892 auch in einem
ähnlichen, den Kreisphysikus Dr. Beermann dortselbst betreffenden
Falle diesem für eine in seiner Wohnung vor dem Termine vor¬
genommene EFntersuchung 3 Mark Gebühren zugebilligt. Hier¬
gegen erhob der Oberstaatsanwalt Beschwerde und wurde diese
Beschwerde vom 2. Civilseuat des Oberlandesgerichts in Hamm
durch Beschluss vom 10. November 1892 als begründet anerkannt.
Gegen diesen Beschluss legte jedoch der genannte Sachverständige
beim Reichsgericht -weitere Beschwerde ein und erkannte der
4. Civilseuat desselben in seiner Sitzung vom 6. Februar 1893:
dass der Beschwerde stattzugeben, der angefochtene Be¬
schluss aufzuheben und der Beschluss des Landgerichts
zu Duisburg dahin abzuändern sei, dass der Kreisphysikus
Dr. Beermann für die von ihm vorgenommene
ETntersuchung eine Vergütung von 1,50 Mark
erhält.
Die Begründung lautet folgendermassen:
„Pas Landgericht zu Duisburg hatte durch Beweisschluss die Vernehmung
des Kreisphysikus Pr. B e e r 111 a n u als Gutachters über die Körperbeschaffenheit
des Beklagten angeordnet und dem Sachverständigen aiifeesreben, noch vor dem
Termine den Beklagten, den er zu diesem Zwecke zu sich zu bestellen habe, zu
Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc. 269
untersuchen. Dr. Beermann kam dem Aufträge nach; er untersuchte in seiner
Behausung den Beklagten und erstattete demnächst im Termine das Gutachten.
An Gebühren liquidirte er für den Termin 6 M. und für die diesem vorausge¬
gangene Untersuchung 3 M., welches Liquidat durch den Vorsitzenden festgesetzt
wurde und mit 9 M. zur Zahlung gelangte. Auf die Erinnerung des Oberstaats¬
anwalts, die sich gegen die Bewilligung einer Gebühr für die von dem Sachver¬
ständigen vor dem Termine in seiner Wohnung vorgenommene Untersuchung
neben der Terminsgebühr richtete, hielt das Landgericht durch Beschluss vom
7. Oktober 1892 auf Grund des §. 6 des Preussischen Gesetzes, betreffend die
den Medizinalbeamten für die Besorgung gerichtsärztlicher etc. Geschäfte zu
gewährenden Vergütungen, vom 9. März 1892 und des §. 13 der Deutschen
Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige die Verfügung des Vorsitzenden
aufrecht. Das Oberlandesgericbt hat durch Beschluss vom 10. November 1892
diese Entscheidung aufgehoben, die streitige Gebühr von der Liquidation abge¬
setzt und die Wiedercinziehung der gezahlten 3 M. zur Gerichtskasse angeordnet.
Gegen diesen Beschluss ist von Dr. Beermann die weitere Beschwerde erhoben,
die für begründet zu erachten ist.
Das Oberlandgericht ist unter Hinweis auf eine Verfügung des Preussischen
JuBtizministers vom 13. Juli 1892 der Auffassung des Landgerichts, die sich an
die Entscheidung des Reichsgerichts in Sachen R. wider V. VI. B. 43/88
vom 19. April 1888 anschliesst, mit der ErwägUDg entgegengetreten: für
die Beurtheilung sei allein das Preussische Gesetz vom 9. März 1872 massgebend;
nach dem §. 6 dieses Gesetzes stehe aber dem Medizinalbeamten nur für die von
ihm gemachten, also ausserhalb seiner Behausung abgestatteten Vorbesuche,
nicht auch für die in seinem Hause empfangenen Besuche eine besondere Gebühr
von 3 M. zu; auch werde das Liquidat nicht durch die Bestimmung des §. 10
desselben Gesetzes gerechtfertigt; vielmehr sei mit Rücksicht darauf, dass ein
Gutachten ohne vorausgegangene Prüfung oder einmalme Untersuchung des zu
begutachtenden Gegenstandes der Regel nach nicht erstattet werden könne,
davon auszugehen, dass diese einmalige, dem im Termine abgegebenen Gutachten
zu Grunde gelegte Untersuchung — abgesehen von den im Gesetze vorgesehenen
Ausnahmefällen — durch die Terminsgebühr des §. H Nr. 1 des Gesetzes abge¬
golten werde; diese Annahme werde durch den §. 3 Nr. 6 ebenda, betreffend
die Gebühren für schriftliche Gutachten, unterstützt, wonach die dort bestimmten
höheren Gebührensätze insbesondere dann zu bewilligen seien, wenn die Unter¬
suchung die Anwendung schwierig zu handhabender Instrumente oder Apparate
erforderte.
Dem Oberlandesgerichte ist darin beizupflichten, dass der Entscheidung
allein das Gesetz vom 9. März 1872 zu Grunde zu legen ist. Der §. 13 der
Deutschen Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige bestimmt, dass,
soweit für gewisse Arten von Sachverständigen besondere Taxvorschriften beste¬
hen, welche an dem Orte des Gerichts, vor welches die Ladung erfolgt, und an
dem Aufenthaltsorte des Sachverständigen gelten, lediglich diese Vorschriften zur
Anwendung kommen. Solche besonderen Taxvorschriften sind aber für Medizinal¬
beamte in dem Gesetze vom 9. März 1872 enthalten. Dieses Gesetz bildet daher
die alleinige Norm für die Bestimmung der Vergütung, welche den Medizinal¬
beamten als Sachverständigen zusteht, sodass die Anwendung der Deutschen
Gebührenordnung in den von ihr für die Bemessung der Vergütung der Sach¬
verständigen aufgestellten Grundsätzen (vgl. §. 378 der Civilprozessordnung)
hier ausgeschlossen ist.
Es ist auch ferner mit dem Oberlandesgerichte anzunehmen, dass das
streitige Liquidat durch die §§. 6 und 10 des Gesetzes vom 9. März 1872 nicht
geschützt wird. Der §. 6, der dem Medizinalbeamten für jeden Vorbesuch eine
Gebühr von 3 M. bewilligt, hat nur solche Besuche im Auge, die der Medizinal¬
beamte ausserhalb seiner Behausung vornimmt. Dies ergiebt sich aus
dem gebrauchten Ausdrucke: „Vorbesuche machen“ und sodann daraus, dass
die Gebühr nur für den Fall bewilligt ist, dass nicht die Voraussetzungen vor¬
liegen, unter denen Tagegelder und Reisekosten liquidirt werden dürfen. Der
§. 10 besagt:
„Insoweit die Gebühren vorstehend nicht nach bestimmten Sätzen
geregelt sind, ist der im einzelnen Falle anzuweisende Betrag nach der
Schwierigkeit des Geschäfts und dem zur Ausrichtung desselben erfor¬
derlich gewesenen Zeitaufwande festzusetzen. Diese Festsetzung hat,
270 Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc.
wenn sich Bedenken gegen die Angemessenheit des liquidirten Betrages
ergeben, die zuständige Regierung oder Landdrostei endgültig zu
bewirken.“
Diese Vorschrift bezieht sich nach dem Wortlaute, und wie auch aus der
Entstehungsgeschichte des Gesetzes, insbesondere aus der Begründung des Ent¬
wurfs, der mit unwesentlichen Abänderungen zum Gesetze erhoben ist, erhellt,
nur auf solche Fälle, für die das Gesetz eine ihrem Satze nach unbestimmte
Gebühr vorschreibt, enthält aber nicht die Ermächtigung, für Geschäfte, deren
Honorirung im Gesetze nicht vorgesehen ist, eine Gebühr nach arbiträrem Er¬
messen festzusetzen.
Dagegen kann dem Oberlandesgerichte in den weiteren Erwägungen nicht
gefolgt werden. Dem Medizinalbeamten steht, wie schon das Reichsgericht in
der Entscheidung vom 19. April 1888 ausgesprochen hat, nach dem bezeichneten
massgebenden Gesetze für die ihm aufgetragene Untersuchung vor dem Termine
auch dann, wenn solche in seiner Behausung stattfindet, eine besondere
Gebühr neben der Terminsgebühr zu.
Aus dem Umstande, dass der §. 6 a. a. 0. eine besondere Vergütung nur
für die Vorbesuche ausserhalb der Wohnung des Medizinalbeamten fest¬
setzt, ist nicht zu folgern, dass für eine vorherige Untersuchung in der
Wohnung die Gewährung einer besonderen Vergütung ausgeschlossen sei.
Der §. 6 bezweckt, die Gebühr für die Besuche ausserhalb der Wohnung auf
einen bestimmten Satz zu fixiren; dass ein weitergehender Zweck
obgewaltet hat, ist weder aus dem Gesetze noch aus den Motiven desselben
ersichtlich, wie auch die letzteren keine Andeutung darüber enthalten, dass dem
Medizinalbeamten für die in seiner Wohnung empfangenen Besuche eine
Vergütung nicht zustehen solle. Die Vorschrift des §. 8 Nr. 6 ebenda, auf
welche sich das Oberlandesgericht stützt, kann nicht in Betracht kommen. Dort
sind die Gebühren für schriftliche Gutachten auf 6 bis 24 M. bestimmt, sodass
ein ausreichender Spielraum gegeben ist, bei der Festsetzung der Gebühr die
vom Sachverständigen aufgewendete Mühcwaltuug, also auch die empfange¬
nen Besuche zu berücksichtigen; letzteres ist dadurch nicht ausgeschlossen,
dass weiter angeordnet ist: die höheren Sätze seien insbesondere dann zu
bewilligen, wenn eine zeitraubende Einsicht der Akten nothwendig war oder die
Untersuchung die Anwendung des Mikroskops oder anderer Instrumente oder
Apparate erforderte, deren Haudhabung mit besonderen Schwierigkeiten verbun¬
den ist. In dem §. 3 Nr. 1 ist für die Bemessung der Terminsgcbühr ein
solcher Spielraum nicht gegeben. Die Terminsgebühr ist auf 6 M. und, insofern
der Termin über drei Stunden dauert, für jede folgende ganze oder angefangene
Stunde auf 1,50 M. fest bestimmt. Es lässt nun aber gerade diese Art der
Bestimmung der Gebühr die Unrichtigkeit der Auffassung des Oberlandesgerichts
erkennen. Nach dem Wortlaute des §. 3 Nr. 1 steht die Gebühr dem Sachver¬
ständigen für die Abwartung des Termins zu. Aus dieser Fassung ergiebt
sich, das das Gesetz nicht davon ausgeht, dass durch die Terminsgebühr auch
vor dem Termine vorgenommene Untersuchungen abgegolten werden. Dass der
Sachverständige, um ein Gutachten erstatten zu können, der Regel nach zuvor
eine Untersuchung der Person oder Sache vornehmen muss, ist an sich nicht
entscheidend. Geschieht diese Untersuchung im Termine, so bildet sie eine
zur Abwartung des Termins gehörende, also eine einen Bestandtheil
der Terminsabwartung ausmachende Thätigkeit, und dann wird sie durch
die Terminsgebühr abgegolten. Erfolgt sie dagegen auf Erfordern der Behörde
vor dem Termine, so ist sie eine besondere, von der Terminsabwartung
getrennte Leistung, für die der Sachverständige auch dann, wenn die Unter¬
suchung in seiner Behausung stattgefunden hat, entschädigt werden muss.
Diese Annahme entspricht unbedenklich dem Sinne des Gesetzes, welches andern¬
falls es mit klaren Worten ausgesprochen hätte, dass dem Medizinalbeamten für
die von ihm vor dem Termine in seiner Behausung vorgenommene Unter¬
suchung eine Vergütung neben der Terminsgebühr versagt sei. Die entgegen¬
gesetzte Auffassung würde auch nicht nur zu Unbilligkeiten führen, die vor¬
nehmlich erkeuubar hervortreten würden, wenn wiederholte Untersuchungen
stattgefunden, sondern unter Umständen zu einer direkten Bcnachtheiligung des
Sachverständigen Anlass geben. Denn wenn die Untersuchung nicht erst im
Termine erfolgt, sondern schon vor demselben bewirkt wird, so hat dies eine
Abkürzung der Terminsdauer zur Folge; dem Sachverständigen würde daher,
Di« Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc. 271
wenn der Termin ohne vorangegangene Untersuchung länger als drei Stunden
gedauert haben würde, während er, nachdem die Untersuchung tbats&chlich
vorher stattgefunden hat, die Dauer von drei Stunden nicht überschreitet, nur
ein Anspruch auf die gewöhnliche Terminsgebtihr von 6 M., nicht aber auch ein
Anspruch auf die Zuschlagsgebühr zustehen, welche letztere er im andern Falle
zu fordern berechtigt gewesen wäre.
Das Gesetz stellt nun zwar für solche von dem Medizinalbeamten vor
dem Termine in seiner Behausung vorgenommenen Untersuchungen eine beson¬
dere Taxe nicht auf. In dieser Hinsicht gewährt jedoch für die Bemessung der
Vergütung der §. 3 Nr. 1 des Gesetzes einen bestimmten Anhalt. Die Gebühr
für einen Termin mit der Dauer bis zu drei Stunden ist auf 6 M. nud die Gebühr
für die über die Grenzen eines solchen Termins hinausgehende
Leistung auf 1,50 M. für jede folgende ganze oder angefangene Stunde fest¬
gesetzt. Mit Rücksicht hierauf ist es als dem Sinne des Gesetzes entsprechend
anzusehen, dass dem Sachverständigen auch für seine Mühewaltung vor dem
Termine und insbesondere für eine Thätigkeit der hier beregten Art neben der
Terminsgebühr eine besondere Vergütung von 1,50 M. für jede ganze ober auge-
fangene Stunde zu bewilligen ist, eine Vergütung, die nur im Hinblicke auf
§. 6 des Gesetzes einer Einschränkung insofern unterliegt, als sie den Betrag
von 3 M. für jeden Besuch im Höchstbetrage nicht übersteigen darf.
Der Kreisphysikus Dr. Beermann hat in Folge der an ihn ergangenen
Aufforderung die amtliche Anzeige erstattet, dass er auf die Untersuchung des
Körperzustandes des Beklagten und auf die Notizen bezüglich des Befundes
etwa eine halbe Stunde Zeit verwendet habe. Es steht ihm daher neben der
Terminsgebühr von 6 M. noch eine Vergütung von 1,50 M. zu.
Nach diesen Ausführungen war der angefochtene Beschluss aufzuheben
und auf die Beschwerde des Oberstaatsanwalts nnter Abänderung des landge¬
richtlichen Beschlusses, wie geschehen, Entscheidung zu treffen.“
In den drei vorstehenden Erkenntnissen ist somit die Frage,
ob den Medizinalbeamten für Voruntersuchungen in ihrer Wohnung
bei demnächstiger Abgabe mündlicher Gutachten im Termin Ge¬
bühren und eventuell in welcher Höhe zustehen, von drei ver¬
schiedenen Gerichten verschieden beantwortet worden. Während
das Kammergericht entsprechend dem Erlasse des Herrn Justiz¬
ministers vom 13. Juli 1892 den Medizinalbeamten für eine der¬
artige Voruntersuchung keine besondere Gebühr zubilligt, stehen
das Reichsgericht und das Landgericht übereinstimmend auf dem
entgegengesetzten Standpunkte. Das Reichsgericht bemisst jedoch
die dem Medizinalbeamten in solchem Falle zustehende Gebühr
nach Analogie der im §. 3 Nr. 1 des Gesetzes vom 9. März 1872
enthaltenen Bestimmungen auf 1,50 Mark für jede ganze oder an¬
gefangene Stunde, das Landgericht in Duisburg dagegen auf Grund
des §. 6 des genannten Gesetzes auf 3 Mark.
Wenn nun auch durch die Entscheidung des Reichsgerichts
die in Rede stehende Frage zunächst endgültig entschieden ist,
so dürfte es doch nicht überflüssig sein, auf die Ausführungen der
vorher mitgetheilten Entscheidungen etwas näher einzugehen.
Uebereinstimmend wird in ihnen zunächst die Ansicht vertreten,
dass in Gemässheit des §.13 der Deutschen Gebührenordnung für
Zeugen und Sachverständige das Gesetz vom 9. März 1872 die
alleinige Norm für die Bemessung der Gebühren der Medizinal-
Beamten bildet und demnach eine Anwendung der Deutschen Ge¬
bührenordnung auch selbst in denjenigen Fällen ausgeschlossen ist,
in denen für eine bestimmte Thätigkeit der Sachverständigen keine
besondere Tax Vorschrift in jenem Gesetze vorgesehen ist. Ebenso
272 Die Frage der Voruntersuchungen in dor Wohnung d. Medizinalbeamten etc.
stimmen alle drei Erkenntnisse dahin überein, dass der §. 10 des Ge¬
setzes vom 9. März 1872 sich nur auf solche Fälle bezieht, für die das
Gesetz eine ihrem Satze nach unbestimmte Gebühr vorschreibt, und
daher keine Ermächtigung enthält, für nicht im Gesetze erwähnten
Geschäfte eine Gebühr nach arbiträrem Ermessen festzusetzen. Das
Eeichsgericht setzt sich somit durch sein jetziges Erkenntniss in
Widerspruch mit demjenigen vom 19. April 1888, in dem es sowohl
die Zulässigkeit der Anwendung der Deutschen Gebührenordnung,
als des §.10 des Gesetzes vom 9. März 1872 bei den in diesem
Gesetze nicht vorgesehenen Fällen anerkannt hatte. Es lautet
ausserdem ungünstiger für den Medizinalbeamten als das damalige
Urtheil, das für eine Voruntersuchung in der Wohnung des Medi¬
zinalbeamten eine Gebühr von 3 Mark mit Eücksicht auf die
Schwierigkeit des Geschäftes und den zur Ausrichtung desselben
erforderlich gewesenen Zeitaufwand als angemessen bezeichnete.
Jetzt wird die Gebühr dagegen auf die Hälfte (1,50 Mark) er-
mässigt, — denn eine Untersuchung dürfte wohl nur in Ausnahme¬
fällen länger als eine Stunde dauern — und als massgebend für
diese Gebührenfestsetzung lediglich der Zeitaufwand ange¬
nommen, die Schwierigkeit der Untersuchung selbst aber
gar nicht berücksichtigt. Wenn daher auch das Eeichsgericht
prinzipiell die Frage des Gebührenanspruchs bei Voruntersuchungen
in der Wohnung des Medizinalbeamten zu Gunsten und entgegen
der vom Herrn Justizminister in dem Eunderlass vom 13. Juli 1892
vertretenen Ansicht entschieden hat, so kann uns die Entscheidung
in Bezug auf die Höhe der zugebilligten Gebühr keineswegs be¬
friedigen. Dieselbe steht auch dadurch, dass sie die mit der Unter¬
suchung verbundene Mühewaltung völlig ausser Acht lässt und
allein die verwendete Zeit in Anrechnung bringt, im vollen Wider¬
spruch mit dem Sinne des Gesetzes vom 9. März 1872, wie solcher
besonders im §. 10 seinen Ausdruck gefunden hat.
Man muss sich überhaupt wundern, dass das Eeichsgericht
den §. 3 Nr. 1 des Gesetzes als Anhalt für die Bemessung der
Gebühr annimmt, obwohl es ausdrücklich in seinem jetzigen Er¬
kenntniss den Grundsatz aufstellt, dass eine Untersuchung vor dem
Termin keinenBestandtheil desselben bildet. Ist dies aber nicht
der Fall, dann kann noch viel weniger die Voruntersuchung gleich¬
sam als eine über die Grenzen des Termins hinaus¬
gehende Leistung angesehen und dementsprechend mit 1,50 M.
pro Stunde honorirt werden.
Ferner sagt das Eeichsgericht, dass der §. 6 des Gesetzes
nicht auf die empfangenen Besuche, sondern nur auf die ge¬
machten Besuche Anwendung finde; trotzdem wird dieser Para¬
graph wieder in dem Urtheil als massgebend für die bei Vor¬
untersuchungen in der Wohnung des Sachverständigen zu gewährende
Höchstgebühr herangezogen, indem diese den Betrag von 3 Mark
nicht übersteigen darf. Falls demnach ein Sachverständiger mehr
als 3 oder 4 Stunden zu einer derartigen Untersuchung gebraucht
hat, wird er dafür trotzdem nur 3 Mark, also die Gebühr für zwei
Stunden bezahlt erhalten. Solche lang dauernden Untersuchungen
Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc. 278
dürften in Wirklichkeit allerdings wohl nicht Vorkommen; aber
wenn einmal der §. 6 von dem Gerichtshöfe als nicht massgebend
für empfangene Vorbesuche erachtet wird, dann kann er auch
nicht bei der Bemessung der Höchstgebühr für dieselben als Mass¬
stab herangezogen werden. Das Reichsgerichtsurtheil setzt sich
hier somit in gleicher Weise mit seinen eigenen Ausführungen in
Widerspruch, wie bei der Heranziehung des §. 3 Nr. 1 als Anhalt
für die Bemessung der in Rede stehenden Gebühr.
Unseres Erachtens verdient die Entscheidung des Land¬
gerichts in Duisburg demReichsgerichtsurtheile gegenüber unbedingt
den Vorzug, auch vom juristischen Standpunkte aus. Das Wort
„Vorbesuch“ kann an sich jedenfalls ebensowohl einen „gemachten“
wie einen „empfangenen“ Vorbesuch bedeuten. Desgleichen wider¬
spricht der Zwischensatz des §. 6, „falls nicht die Voraussetzungen
vorliegen, unter denen Tagegelder und Reisekosten liquidirt werden
dürfen,“ keineswegs dieser Auffassung, denn durch diese Einschrän¬
kung soll nur bestimmt zum Ausdruck gebracht werden, dass bei
auswärtigen Vorbesuchen eine Gebühr für den Vorbesuch selbst
neben Tagegeldern und Reisekosten unzulässig ist. Glaubte man
aber gerichtsseitig unter Vorbesuche nur „gemachte“ verstehen zu
müssen, dann bot zweifellos die Position 7 in §. 3 „Befundschein“
einen viel richtigeren Anhalt für die Gebühr als Position 1; da
bei Ausstellung eines Befundscheines hauptsächlich die Mühe¬
waltung der Untersuchung in Betracht kommt, aber nicht die
wenig Arbeit und Zeit beanspruchenden Zeilen eines solchen
Scheines.
Auf alle Fälle muss die in dem Reichsgerichts¬
urtheil zugebilligte Gebühr von 1,50 Mark für eine Vor¬
untersuchung im Hause des Arztes als viel zu niedrig
und der damit verbundenen Mühewaltung nicht ent¬
sprechend bezeichnet werden; es ist dies eine Vergütung,
die sogar hinter den betreffenden Sätzen der Taxe vom 21. Juni
1815 zurückbleibt, wenn man bedenkt, dass dafür alle ärztlichen
Untersuchungen, ohne Rücksicht auf ihre Schwierigkeit u. s. w.
geleistet werden müssen.
Dass auch hohe Gerichtshöfe in ihren Entscheidungen gänzlich
unhaltbare Ansichten entwickeln können, zeigt besonders das vor¬
stehende Erkenntniss des Kammergerichts. Dasselbe setzt sich
mit seinen Ausführungen in vollen Widerspruch mit dem Er¬
kenntnisse des Obertribunals vom 4. Mai 1876, in dem aus¬
drücklich anerkannt wird, dass eine jede den Medizinalbeamten
aufgetragene und ausserhalb seiner Wohnung vorgenommene Unter¬
suchung einer Person oder Sache als ein Vorbesuch im Sinne des
§. 6 des Gesetzes vom 9. März 1872 anzusehen sei, während das Kammer¬
gericht vorzugsweise auf das Wort „besondere“ Gewicht legt imd
den Gegensatz zu den besonderen Vorbesuchen in einem ein¬
maligen regelmässigen oder gewöhnlichen Vorbesuch
findet, der seiner Meinung nach jeder Abwartung eines Termins,
jeder Abgabe eines Gutachtens vorangehen muss und daher nicht
als ein „besonderer“ honorirt zu werden braucht, sondern durch
274
Besprechungen.
die Terminsgebühr (§. 3 Abs. 1) mit abgegolten wird. Diese Inter¬
pretation unterstellt zweifellos dem Gesetzgeber einen unklaren
Ausdruck seines Willens und verstösst gegen den Wortlaut und
den Zusammenhang des §. 6, ganz abgesehen davon, dass die An¬
nahme des Kammergerichts, jeder Terminsabwartung müsse unter
allen Umständen ein einmaliger Vorbesuch vorangehen, willkürlich
und unzutreffend ist.
Jedenfalls geben die vorstehenden, in ihren Ausführungen
weit auseinander gehenden gerichtlichen Entscheidungen einen
neuen Beweis dafür, dass die Fassung des Gesetzes vom 9. März
1872 keine sehr glückliche ist und die verschiedenartigsten Aus¬
legungen zulässt. Eine anderweite, jeden Zweifel auschliessende
Neuredaktion des Gesetzes erscheint daher dringend erwünscht,
dann können in demselben auch für diejenigen amtlichen Thätig-
keiten Positionen ausgeworfen werden, für die bisher solche nicht
vorgesehen sind.
Nachdem das Reichsgericht in einem zweiten, die Honorirung
der Voruntersuchung in der Wohnung der Medizinalbeamten be¬
treffenden Falle auf die Beschwerde des KreiBphysikus (Dr. Frey er
in Stettin) durch Erkenntniss vom 3. Mai d. J. in gleicher Weise
wie vorstehend entschieden hat, steht zweifellos eine baldige Ab¬
änderung des Justizministerial-Erlas8e8 vom 23. Juli 1892 zu
erwarten, da er unter den obwaltenden Verhältnissen nicht mehr
aufrecht zu halten ist 1 ). Die Reichsgerichts - Entscheidung wird
übrigens künftighin auch bei der Bemessung der Gebühren für
zuvoriges Aktenstudium bei Abgabe mündlicher Gutachten mass¬
gebend sein. Den Kollegen kann daher nur empfohlen werden,
vorkommenden Falls ihre Liquidationen dementsprechend auf¬
zustellen.
Besprechungea
Dr. Fritz Elsner: Die Praxis der Chemiker bei Unter¬
suchung von Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegen¬
ständen u. 8. w., bei bakteriologischen Untersuchun¬
gen sowie in der gerichtlichen und Harn-Analyse.
Ein Hiilfsbuch für Chemiker, Apotheker und Gesundheitsbeamte.
Fünfte, umgearbeitete und vermehrte Auflage. Mit zahlreichen
Abbildungen im Text. Hamburg und Leipzig 1892 und 1893.
Verlag von Leopold Voss. 1.—5. Lieferung.
Die schnelle Aufeinanderfolge der Auflagen des vorliegenden Werkes
spricht schon an sich für seine Brauchbarkeit und für die grosse Verbreitung,
die es in den betheiligten Kreisen gefunden hat. Nach den bis jetzt erschie¬
nenen 5 Lieferungen der fünften Auflage zu urtheilen, hat das Werk eine gründ¬
liche, dem jetzigen Stande der Wissenschaft auf diesem Gebiete entsprechende
Umarbeitung erfahren. Insbesondere betrifft dies die Abschnitte über thierische
und pflanzliche Fette, über Milch, Mehl, Bier, Wein, Spirituosen, Kakao und
Kaffee; ausserdem sind einige neue Abschnitte, z. B. über Pepton, Kefir u. 8. w.
') Ist inzwischen bereits geschehen.
Besprechungen.
275
hinzugekommen. Ebenso wie in den früheren Auflagen hat Verfasser von den
verschiedenen Untersuchungsmethoden nur diejenigen aufgenommen, die sich auf
Grund eigener Erfahrungen als praktisch und zuverlässig bewährt haben. Gerade
dadnrcb ist aber sein Buch ein vorzüglicher und unentbehrlicher Bathgeber nicht
nur für den stets in der Praxis stehenden Nahrungsmittelchemiker, sondern auch
für alle diejenigen, die nicht immer in der Lage sind, selbst die zahlreichen,
fast täglich neu auftauchenden Untersuchungsmethoden auf ihren Werth zu
prüfen, oder nur selten derartige Untersuchungen vorzunehmen haben. Auch
den Medizinalbeamten kann das Buch für ihre etwaige amtliche Thätigkeit bei
Ausführung des Nahrungsmittelgesetzes als treuer Berather empfohlen werden.
Epd.
Dr. R. Robert, kaiserl. russischer Staatsrath u. ord. Professor der
Pharmakologie in Dorpat: Lehrbuch der Intoxikationen.
Mit 63 Abbildungen im Text. Stuttgart 1893. Verlag von
Ferd. Enke. Gross 8°, 816 S.
Verfasser sagt in seinem Vorworte sehr richtig: „Da mehr als die Hälfte
aller jetzt in Deutschland, Oesterreich und Deutschrussland praktizirenden Aerzte
auf der Universität keine spezielle Ausbildung in Toxikologie erhalten hat, so
ist ihnen in ihrer Bibliothek ein verständlich geschriebenes, mit erschöpfendem
Begister versehenes Werk über Intoxikationen, das gleichzeitig als Lehrbuch
und als Handbuch dienen kann und in dem sie sich im Falle einer Vergiftung
rasch orientiren können, unentbehrlich.“ Die Zahl der Aerzte, die eine spezielle
Ausbildung auf der Universität nicht genossen haben, dürfte sogar noch eine
viel höhere sein, als sie vom Verfasser angenommen wird; um so erwünschter
und verdienstvoller ist daher die Herausgabe des vorliegenden Werkes, das
gleichsam eine neue, aber sehr erweiterte Auflage des von dem Verfasser vor
6 Jahren herausgegebenen, aber längst vergriffenen Kompendiums der Toxiko¬
logie bildet.
Das Werk ist, wie schon gesagt, in erster Linie für Mediziner, praktische
Aerzte sowohl wie Studirende der Medizin, bestimmt; es soll aber auch dem
Bakteriologen, dem Apotheker, Gerichtschemiker und dem Gerichtsarzte in toxi¬
kologischen Fragen ein zuverlässiger Rathgeber sein und kann diesen Anspruch
um so mehr erheben, als es hervorgegangen ist aus vieljähriger Thätigkeit im
Laboratorium, Kursen, Seminaren und Vorlesungen, die sich über sämmtliche
Abschnitte der allgemeinen und speziellen Toxikologie erstreckten.
Die Eintheilung des umfangreichen Stoffes ist im grossem Ganzen der*
selbe wie in dem vorerwähnten Kompendium: Der erste, allgemeine Theil
bringt in zwei Abtheilungen Allgemeines über Intoxikationen und den Nachweis
derselben; der zweite spezielle Theil behandelt in 3 Abtheilungen:
1. die Stoffe, die schwere anatomische Veränderungen veranlassen, un
zwar vornehmlich am Ort der Applikation (ätzende Säuren, Alkalien,
Salze, andere lokal irritirende thierische, pflanzliche oder künstlich
darstellbare organische Gifte, sowie reizende Gase und Dämpfe) oder
auch an anderen Körperstellen (Blei, Wismuth, Phosphor, Mutterkorn
u. s. W •).
2. Blutgifte, je nachdem sie in rein physikalischer Weise die Blutzirku¬
lation stören, z. B. Wasserstoffsuperoxyd, Ricin u. s. w., oder ein ganz
besonders starkes Auflösungsvermögen für rothe Blutkörperchen besitzen,
wie Phallin, Solanin, Arsenwasserstofl u. s. w., oder Methämoglobin-
bildung im Blute hervorrufen, wie chlorsaures Kali, Pyrogallol,
Hydrazin und seine reduzirenden Verbindungen, Nitrobenzol, Nitro¬
glycerin, Amylnitrit, Aethylnitrit, Pikrinsäure, Anilin, Antifebrin, Anti-
pyrin, Schwefelkohlenstoff u. s. w., oder endlich eine eigenartige Wir¬
kung auf den Blutfarbstoff und dessen Zersetzungsprodukte ausüben,
wie Schwefelwasserstoff, Stickoxyd, Blausäure und Cyankalium, Kohlen¬
oxyd u. s. w.
3. Gifte, die ohne schwere anatomische Veränderungen veranlasst zu
haben, tödten können und zwar: a) Gifte des Cerospinalnervensystem
(Chloroform und andere Anästhetika, Opium und seine Alkaloide, Alko-
276
Besprechungen.
holica, Chloralpräparate, Cocain, Atropin, Strychnin und Ähnliche
Alkaloide, Camphor, Kohlensäure, Santonin, Chinalk&loide n. s. w.);
b) Herzgifte (Digitalis, Helleborus, Mnscarin u. s. w.).
Als Anhang (6. Abtheilnng) ist eine kurze Abhandlung beigefOgt, die
giftigen Stoffwechselprodukte der Menschen und der Thiere und der in ihnen
theiU intra vitam, theils post mortem unter Umständen vorhandenen oder sich
in ihren Nahrungsmitteln entwickelnden Mikroorganismen. Hier werden die
giftigen Eiweisse und eiweissähnlichen Substanzen (Toxalbumine), das Giftig¬
werden an sich unschädlicher Nahrungsmittel (Wurst-, Fleisch-, Käse-Vergiftung),
die Autitoxikationen (Ammoniämie, Urämie, Glykosnrie u. s. w.), die Ptomaine
u. s. w. besprochen.
Bei jedem einzelnen Gifte werden Aetiologie und Statistik, Wirkung und
Dosis, Krankheitsbild, Therapie, Sektionsbefund und Nachweis auf Grund eigener
Erfahrungen nnd experimenteller Versuche, sowie unter kritischer Benutzung
der von anderen Forschern gemachten Beobachtungen erörtert und zwar bei den
häufig, besonders in der gerichtsärztlichen Praxis vorkommenden Giften in sehr
ausführlicher und erschöpfender Weise, bei den selteneren Giften ent¬
sprechend kürzer.
Durch sehr genaue Literaturangaben und ein sorgfältig ausgearbeitetes
Begister wird die Brauchbarkeit des Buches nur noch erhöht. Dasselbe bildet
eine höchst werthvolle Bereicherung der einschlägigen Literatur und kann ins¬
besondere den Medizinalbeamten mit Rücksicht auf ihre gerichtsärztliche Thätig-
keit auf’s Wärmste empfohlen werden. Rpd.
Dr. A. Lustig, ord. Prof, der allgem. Patholog. zu Florenz: Diag¬
nostik der Bakterien des Wassers. In’s Deutsche über¬
setzt von Dr. Teuscher in Jena; mit einem Vorwort von Prof.
Dr. Baumgarten in Tübingen. Jena 1893. Verlag von Gustav
Fischer. Gr. 8°, 128 S.
Das vorliegende Werk schliesst sich in der Art der Darstellung der von
Eisenberg herausgegebenen Hülfstabellen zur bakteriologischen Diagnostik
an. Verfasser hat sich bemüht, alle bisher im Wasser aufgefundenen Bakterien
auf Grund der bisher in der Literatur vorhandenen, aber vielfach zerstreuten
Angaben und Beschreibungen, sowie auf Grund seiner eigenen Beobachtungen
und Untersuchungen übersichtlich in Tabellenform zusammenzustellen unter
kritischer Sichtung und sorgfältiger Ausarbeitung der differential - diagnostischen
Merkmale. Zunächst werden die für den Menschen und für Thiere pathogenen
Bakterien aufgeführt, dann die nicht pathogenen Mikrokokken, Bazillen und Spi¬
rillen, je nachdem sie die Gelatine verflüssigen oder nicht, sowie einzelne Spi¬
rillen und Schizomyzeten. Es sind nicht weniger wie 186 verschiedene Bak¬
terien die hier nach ihrer Form und Anordnung, Entwicklung auf oder in den
allgemein üblichen Nährböden und bei den verschiedenen Temperaturverhältnissen,
nach ihrer etwaigen Eigenbewegung, Sporenbildung, pathogenem Verhalten und son¬
stigen Eigentümlichkeiten genau beschrieben werden; bei den meisten sind
ausserdem der Namen des Forschers angegeben, der den betreffenden Mikroorga¬
nismus entdeckt bezw.* zuerst boschrieben hat, desgleichen die zugehörigen
Literaturstellen.
Verdient aus dem vorliegenden Werke ein Abschnitt besonders hervor¬
gehoben zu werden, so ist es derjenige über den Typhusbazill, dem die Beschrei¬
bung der typhusähnlichen Bazillen beigefügt ist. In höchst ausführlicher und
übersichtlicher Weise werden hier die einzelnen unterscheidenden Merkmale des
echten Typhusbazill und der zahlreichen ihm ähnlichen Bazillenarten angeführt
und ihr Werth für die Differentialdiagnose kritisch beleuchtet. Nicht ganz so
vollständig sind der Vibrio der asiatischen Cholera und die demselben ähnlichen
Bazillen behandelt.
Gerade jetzt, wo unsere Aufmerksamkeit immer mehr auf das Wasser
als Träger und Verbreiter seuchenartig auf tretender Krankheiten, speziell der
Cholera und des Typhus, gerichtet ist und die bakteriologischen Wasserunter-
Besprechungen.
277
suchungcn im Vordergründe des hygienischen Interesses stehen, wird das Er¬
scheinen einer deutschen Ausgabe des höchst verdienstvollen Werkes des ita¬
lienischen Verfassers in den betheiligten Kreisen gewiss mit Freuden begrilsst
werden. Es macht dem Fachgenossen vielfach die Nothwendigkeit eigener Kon-
troluntersuchungen, sowie das Nachschlagen der Literatur überflüssig, es
schützt vor schwerwiegenden Verwechselungen und bildet somit ein schwer ent¬
behrliches Hülfsmittel, einen zuverlässigen Bathgeber bei allen bakteriologischen
Untersuchungen des Wassers.
Eine freundliche Aufnahme und weite Verbreitung dürfte dem Werke
auch in deutschen Fachkreisen gesichert sein. Rpd.
Dr. Ed. Golebiewski, Vertrauensarzt bei der nordöstlichen Bauge¬
werks - Berufsgenossenschaft in Berlin: Aerztlicher Kom¬
mentar zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli
1884. Mit praktischen Rathschlägen zur Untersuchung, Be¬
handlung und Beurtheilung von Unfallverletzten. Berlin 1893.
Karl Heymann’s Verlag. 8°, 261 S.
Längere Zeit war die Beck er'sehe „Anleitung zur Bestimmung der Ar¬
beit#- und Erwerbsunfähigkeit nach Verletzungen“ das einzige Buch, um dem
Arzte als Rathgeber auf diesem für ihn mehr oder weniger neuen Gebiete seiner
ärztlichen Tbätigkeit zu dienen. Fast gleichzeitig mit der 4. Auflage dieses
vortrefflichen Buches sind dann vor Kurzem in schneller Aufeinanderfolge zwei
andere derartige Arbeiten (von Blasius und Kaufmann) erschienen, von denen
besonders dasjenige von Kaufmann als ein höchst beachtenswertes Handbuch
bezeichnet werden muss. Diesem ebenbürtig schliesst sich jetzt das vorliegende
Werk an, dass auch im Wesentlichen nach denselben Grundsätzen wie jenes
bearbeitet ist, nur mit dem Unterschiede, dass in ihm nur die Unfallgesetzgebung
des Deutschen Reiches und nicht auch diejenige der Schweiz und des öster¬
reichischen Staates wie dort Berücksichtigung gefunden hat. An Uebersichtlich-
keit und vor Allem an Brauchbarkeit für die Aerzte im Deutschen Reiche hat
das Buch dadurch indessen gewonnen, da für diese im Allgemeinen die Unfall¬
vorschriften in anderen Ländern wenig oder gar kein Interesse haben.
Das Buch soll nicht nur den Aerzten, sondern auch den Berufsgenossen¬
schaften zur Information über alle wichtigen ärztlichen Fragen des Unfallver¬
sicherungsgesetzes dienen, um dadurch ein erspriessliches Zusammenarbeiten
beider Theile thunlichst zu fördern; denn nur wenn auf beiden Seiten möglichst
gleiche Erfahrungen vertheilt sind, steht ein solches nach Ansicht des Verfassers
zu erwarten. In erster Linie ist das Werk aber für die Aerzte bestimmt, gleich¬
wohl dürfte es auch für die Bernfsgenossenschaften von grossem Nutzen sein,
um diese über manche verkehrte Anschauungen in Bezug auf Thätigkeit,
Pflichten und Befugnisse des Arztes bei der Behandlung und Begutachtung
Unfallverletzter zu belehren.
Der Verfasser bringt zunächst die für den Arzt wichtigsten Bestimmungen
des Unfallversicherungsgesetzes mit den erforderlichen Erläuterungen, die sich
thcils auf Entscheidungen des Rcichsversicherungsamtes, theils auf andere Kom¬
mentare, insbesondere auf das bekannte Werk von W o e d t k e stützen. Er
geht dann auf den Begriff Unfall und Betriebsunfall über und bezeichnet
hier mit Recht die von Blasius vertretene Ansicht, dass bei jedem Falle von
Bruch das Vorhandensein eines Unfalles zu bestreiten sei, als völlig unhaltbar und
mit den wissenschaftlichen Erfahrungen sowie mit den Entscheidungen des
Reichsversicherungsamtes nicht in Einklang stehend.
Sohr sachgemäss sind die im dritten Abschnitte gegebenen Rathschläge
in Bezug auf das von den Aerzten während des Heilverfahrens im Interesse
der Unfallverletzten sowohl wie der Berufsgenossenschaften zu beobachtenden
Verfahren. Nicht minder klar und verständlich sind die beiden folgenden Ab¬
schnitte über Erwerbsunfähigkeit und Bestimmung des Grades
derselben bei den einzelnen Verletzungen bearbeitet. Zutreffend bemerkt Ver-
278
Besprechungen.
fasser, dass die Abschätzung der durch den Unfall erlittenen Beeinträchtigung
der Erwerbsunfähigkeit in jedem einzelnen Falle unter Erwägung aller sonstigen
besonderen Umstände und nicht an der Hand einer Unfallskala stattfinden müsse;
die letztere könne höchstens als allgemeiner Anhalt dienen.
Fast alle in der Unfallpraxis Torkommenden Verletzungen sind in Bezug
auf ihre Heilungsdauer und ihre etwaigen Folgen für die Erwerbsunfähigkeit
ziemlich eingehend behandelt unter Heranziehung zahlreicher Entscheidungen des
Reichsversicherungsamtes; nur bei dem Kapitel „traumatische Neurose“ hat es
sich Verfasser recht leicht gemacht und zur genaueren Orientirung auf die
einschlägige Literatur verwiesen, die nicht Jedermann zur Verfügung stehen
dürfte.
Die von vielen Seiten behauptete Zunahme des Simulantenthums seit dem
Bestehen des Unfallsversicherungsgesetzes kann Verfasser nicht zugeben. Er
sagt sehr richtig, dass es sich in der Mehrzahl der Fälle nur um eine einfache
Uebertreibung seitens der Verletzten handelte, diese aber keineswegs als Simu¬
lation bezeichnet werden könne. Er giebt dann sehr beherzigenswerthe Winke,
um einen Simulanten zu entlarven und empfiehlt als sicherstes und bestes Mittel,
jeden einzelnen Fall genau zu untersuchen und zu individualisiren, nach seiner
Art besonders zu prüfen und zu beurtheilen. Dabei dürfe der Verletzte nicht
im Geringsten ahnen, dass man ihn auf Simulation beobachte, man müsse ihm
scheinbar alle seine Klagen glauben; denn je sicherer er sich dem Arzte gegen¬
über fühle, desto leichter werde er in die ihm gelegte Falle gehen.
Die werthvollsten Abschnitte des Buches bilden unzweifelhaft die letzten
Kapitel über die ärztlichen Untersuchungen der Unfallverletzten und über die
Abgabe ärztlicher Gutachten. Die hier niedergelegten, sehr ausführlichen und
äusserst praktischen Rathschläge beruhen zweifellos auf eigene, reiche Erfahrun¬
gen und werden daher nicht nur denjenigen Aerzten, die verhältnissmässig
selten mit Unfallkranken zu thun haben, sondern auch den auf diesem Gebiete
häufig beschäftigten Aerzten zu ihrer Information sehr willkommen sein. Jeden¬
falls kann man nur wünschen, dass die von dem Verfasser in Bezug auf die
Untersuchung und Begutachtung der Verletzten wie in Bezug auf die geschäft¬
liche Behandlung der Unfallsachen gegebenen Anleitungen von den praktischen
Aerzten überall berücksichtigt werden, dann dürften auch die in Kreisen der
Berufsgenossenschaften so oft und leider nicht immer ohne Grund gemachten
Klagen über unvollständige und mangelhafte ärztliche Gutachten sehr bald
aufhören. Bpd.
Dl*. Wiener, Kr.-Phys. u. Geh. San.-Rath; Taxe für die preus-
sischen Medizinalpersonen vom 21. Juni 1815. Mit
den Zusatzbestimmung'en bis auf die neueste Zeit.
2. Aufl. Berlin 1893. Kommissions-Verlag von Alfred H.
Fried & Co. Kl. 8°. 71 S.
Seit langer Zeit hat man von Seiten der preussischen Aerzte dahin zu
wirken gestrebt, dass die seit 1815 bestehende Medizinaltaxe zeitgemäss, Ähn¬
lich der im Jahre 1890 für das Königreich Sachsen herausgegebenen Taxe umge¬
ändert werde. In jüngster Zeit sind auch die Aerztekammern gutachtlich in
dieser Beziehung gehört worden, so dass man der Herausgabe der neuen Taxe
in nicht allzuferner Zeit entgegensehen kann. Der verstorbene Verfasser hat in
der Erwägung, dass zur Zeit noch die alte Taxe zu Recht besteht und beson¬
ders dem Richter im Civilprozesse als Unterlage zur Festsetzung der Gebühren
dient, diese neben den seither als Ergänzungen erlassenen Bestimmungen zusam¬
mengestellt und erläutert. Als Anhang für die Bestimmung der Gebühren für
neuere Untersuchungsmethoden, Operationen u. s. w. ist die sächsische Taxe, in
welcher alle diese einschlägigen Verrichtungen mit möglichst grosser Ausführ¬
lichkeit berücksichtigt sind, angegeben. Dr. Israel-Medenau (Ostpr.).
Tagesnachrichten.
279
Tagesnachrichten.
Zur Medizinalreform. In der Schlesischen Zeitung war kürzlich von Neuem
die Frage angeregt, ob es nicht bei der jetzt bevorstehenden Reform des Medi¬
zinalwesens räthlich und angängig sei, wenigstens einen Theil der Medizinal¬
abtheilung von dem Kultusministerium abzulösen und mit dem Ministerium des
Innern in Verbindung zu bringen. Demgegenüber schreibt man aus Berlin:
„Mag immer eine Reihe von verwaltungstechnischen Gründen zu Gunsten einer
solchen Umgliederung sprechen, so ist doch auf der anderen Seite gar nicht zu
bestreiten, dass der jetzige Zustand die Aufrecherhaltung von Beziehungen
gestattet, die für die Landeswohlfahrt von grosser Wichtigkeit sind. Selbstver¬
ständlich fällt es Niemandem ein, auch die Abtrennung der Universitätskliniken
und des medizinischen Universitätsunterrichts vom Kultusministerium zu befür¬
worten. Zwischen diesen Centren der Wissenschaft aber und den staatlichen,
provinziellen und kommunalen Heilanstalten und Krankenhäusern findet jetzt
ein so fruchtbringender Austausch von Erfahrungen statt, wie er nur ausgedacht
werden kann und sich praktisch ermöglichen lässt, wenn ein und derselbe
Minister das Auge über sämmtlichen bezüglichen Stätten hat und ohne Weiteres
immer aufs Neue Nachforschungen veranlassen kann, wie weit die nicht der
Theorie und der Forschung, sondern dem praktischen Leben unmittelbar dienen¬
den Krankenhäuser im Lande den fortschreitenden Anforderungen der Wissen¬
schaft genügen. Von nicht gering zu schätzender Bedeutung scheint auch zu
sein, dass derselbe Minister, dem die Theoretiker der Heilkunde unterstellt sind,
auch die Praktiker kontroliren kann. Es siud auf diese Weise schon wiederholt
Aerzte, die sich in ihrem verhältnissmässig bescheidenen praktischen Berufskreise
besonders auszeichneten, in Wirkungssphären versetzt worden, in denen es ihnen
vergönnt war, sich die grössten Verdienste um die Wissenschaft und die leidende
Menschheit zu erwerben.“
Durch die vorstehenden Ausführungen ist die Zweckmässigkeit der Ver¬
einigung der Sanitätspolizei (denn nur um die Abtrennung dieses Zweiges der
Medizinalabtheilung kann es sich handeln) mit dem Ministerium des Innern
keineswegs widerlegt. Gleichwohl erscheint es uns nicht angezeigt, gerade jetzt eine
derartige Abtrennung zu befürworten, wo die Frage der Medizinalreform von dem
Herrn Kultusminister so thatkräftig, wie noch nie zuvor von einem seiner Amtsvor¬
gänger, in die Hand genommen ist und ihre endgültige Lösung voraussichtlich
in der allernächsten Zeit mit Sicherheit zu erwarten steht.
Die auf die Tagesordnung der Abgeordnetenhaus - Sitzung vom 30. Mai
gestellte Berathung der vom Graf Douglas eingebrachten Cholera-Inter¬
pellation ist mit Rücksicht darauf, dass der Herr Kultusminister dieselbe
persönlich zu beantworten wünscht und leider in Folge einer nothwendigen Bade¬
kur in Karlsbad am Erscheinen im Abgeordnetenhause verhindert war, vorläufig
von der Tagesordnung abgesetzt worden und wird erst beim Wiederzusammentritt
des Landtages (Ende Juni) zur Berathung gelangen.
Die Frage der Reform der Irrengesetzgebnng ist kürzlich auch im
Herrenhause (am 25. Mai) bei Gelegenheit der Berathung über eine von dem
Dr. Sternberg (Charlottenburg) eingereichten Petition eingehender erörtert
worden. Von mehreren Rednern (von Durant, Graf Pfeil, Graf Klin-
kowström) wurde im Sinne des bekannten Aufrufes der Kreuzzeitung auf die
Reformbedürftigkeit des heutigen Trrenwesens hingewiesen und von Seiten der
Staatsregierung durch Herrn Geh. Obermedizinalrath Dr. Skrzeczka die Er¬
klärung abgegeben, dass im Staatsministerium zwischen den betheiligten Ressorts,
Erörterungen über eine Reform des Irrenwesens unter gleichzeitiger Erwägung
einer etwaigen Aenderung des Entmündigungsverfahrens bereits seit geraumer
Zeit schweben.
Auf die diesjährige Tagesordnung der am 26. und 27. Juni in Breslau
stattfindenden Aerztetages ist ausser den schon früher festgestellten Berathungs-
280
Tagesnachrichten.
gegenständen: ärztlicher Dienst an Krankenhäusern, Umgestaltung des Vereins¬
blattes, anch das Reichssenchengesetz gesetzt. Inzwischen hat der ärzt¬
liche Bezirks-Verein in Düsseldorf am 16. Mai auf einen Bericht von Dr. Busch -
Krefeld bestimmte Sätze als Vorlage für den Aerztctag bei Berathnng des
Seuchengesetzes genehmigt, die im Wesentlichen mit den Beschlüssen des
Preussischen Medizinalbeamten-Vereins übereinstimmen, mit Ausnahme der Be¬
stimmung betreffs Ausdehnung der Anzeigepflicht auf die Kurpfuscher.
VIII. internationaler Kongress für Hygiene und Demographie in
Budapest. Die einzelnen Sektionen des im Jahre 1894 stattfindenden Kon¬
gresses sind bereits gebildet und die vorbereitenden Sektionsvorstände gewählt.
Die Zahl der Sektionen für Hygiene beträgt 13: 1. Aetiologie der Epidemien
(Bakteriologie), 2. Prophylaxis der Epidemien, 3. Gewerbehygiene, 4. Kinder- und
Schulhygiene, 5. Nahrungsmittel, 6. Bauhygiene, 7. Hygiene der Städte, 8. Hygiene
des Verkehrswesens (Eisenbahn- und Schifffahrtsverkehr, Touristik), 9. Armee¬
hygiene (Lagerhygiene, Rothes Kreuz, Erste Hülfe), 10. Hygiene der Bäder),
ll. Sanitätspolizei, 12. Thierhygiene und 13. Pharmacie. Für die Abtheilung
der Demographie sind 7 Sektionen gebildet: 1. Geschichte, 2. Anthropometrie,
3. Technik der Demographie, 4. Demographie der Urproduzenten, 5. Gewerbe¬
arbeiter, 6. Demographie der grossen Städte und 7. Statistik der körperlichen
und geistigen Defekte.
In der 5. hygienischen Sektion für Nahrungsmittel wird beabsichtigt, die
Organisation der Kontrole der Lebensmittel, die Massennährung der Arbeiter
und die Trinkwasserfrage als Haupt - Borathungsgcgenstände auf die Tagesord¬
nung zu setzen. In dieser Sektion sind ausserdem 8 Untergruppen gebildet für:
1. Milch und Milchprodukte, 2. Alkohol und alkoholische Getränke, 3. Fleisch,
Mehl und Mehlprodukte, 4. Genussmittel und Gewürze, 5. Trinkwässer, Mineral¬
wässer, Kunstwässer und Quellenprodukte, 6. Volksnährung, 7. Hygiene der
Ernährung und 8. Konserven. _
Cholera. In vergangener Woche ist in Hamburg ein vereinzelter,
tödtlich verlaufender Fall von Cholera vorgekommen. Von verschiedenen politischen
Zeitungen wird dieser Fall in Zusammenhang gebracht mit dem am 27. Mai
erfolgten Zusammentritt der Reichs - Cholerakommission im Kaiserlichen Gesund¬
heitsamte. Diese Kombination beruht jedoch auf einem Irrthume, da die Ein¬
berufung der Kommission bereits vor länger als acht Tagen beschlossene Sache
war, also zu einer Zeit, wo von dem neuen Erkrankungsfall in Hamburg noch
gar keine Rede sein konnte.
Die Stadt Hamburg wird übrigens jetzt laut einer Bekanntmachung der
dortigen Cholera - Kommission ausschliesslich mit filtrirtem Wasser versorgt und
ist seit dem 28. Mai die alte Schöpfstelle der Stadt - Wasserkunst geschlossen.
In Oesterreich, speziell in Galizien, sind Erkrankungen an Cholera
in der zweiten Hälfte des Mai nicht mehr vorgekommen.
In Frankreich hat die Cholera in den ergriffenen Departements
Morbihan und Finistere keine grössere Ausbreitung genommen. In der Stadt
Lorient scheint die Seuche erloschen zu sein. Aus dem ganzen Departement Morbihan
sind in der Zeit vom 24. April bis 8. Mai 26 Todesfälle (vom 2.—8. Mai 28 Er¬
krankungen mit 12 Todesfällen) gemeldet; aus Quimper (Departements Finist&re)
in derselben Zeit 17 Erkrankungen mit 10 Todesfällen. Zeitungsnachrichten
zu Folge sollen Ende Mai 2 Cholera-Todesfälle in Toulouse vorgekommen sein.
In Russland herrscht die Cholera nach wie vor in grosser Ausbreitung
nur noch in Podolien; die Zahl der Erkrankungen betrug hier in der Zeit
vom 28. März bis 27. April 636 mit 200 Todesfällen.
Notiz: Der heutigen Nummer der Zeitschrift ist der offizielle
Bericht über die zehnte Hauptversammlung des Preussischen Medi¬
zinalbeamten-Vereins beigegeben.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden L W.
J. 0. 0. Brom, BvehdrtioktrtJ, Minden.
6. Jahrg.
Zeitschrift
für
1803.
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rathu.gerichtl.Stadtphysikus inBerlin. Reg.- und Meduinalrath in Minden.
und
Dr. WILH. SANDER
Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Yerlagshandlung und Rud. Moese
entgegen.
No. 12.
Erscheint am 1« und 15* jeden Monats.
Freia jährlich 10 Mark.
15. Juni.
Ueber Querulantenwahnsinn.
Von Dr. Mittenzweig.
(Fortsetzung.)
II. Gutachten über den Geisteszustand des Herrn
Pfarrer C. Witte zu Berlin 1 ).
A. Sachlage.
a. Nach dem Inhalt der Akten.
Der Pfarrer C. Witte, geb. am 26. November 1835 zu
Cronberg, Kreis Mettmann, als Sohn des Hauptlehrers W. daselbst,
bezog mit dem Reifezeugniss des Gymnasiums zu Elberfeld um Michaelis
1853 die Universität Bonn, studirte zeitweise auch in Berlin und
hat im April 1857 sein erstes, im Oktober 1858 sein zweites theo¬
logisches Examen bei dem Königlichen Konsistorium in Koblenz
bestanden. Nachdem er vorher als Hülfsprediger und Vikar fungirt
hatte, wurde er am 16. Februar 1859 ordinirt und an demselben
Tage in das Pfarramt zu Beverungen eingeführt. Vom 1. Oktober
1864 bis zum 15. August 1870 war er erster Missionsprediger der
Berliner Gesellschaft zur Beförderung des Christenthums unter
den Juden, alsdann bis zum 1. Januar 1877 erster Diakonus an
der St. Elisabeth - Kirche und Prediger an der damaligen Golgatha-
Kapelle in Berlin, von jenem Zeitpunkte ab Pfarrverweser an der
neugegründeten St. Golgatha - Kirche. Im Februar 1879 wurde er
als Pfarrer dieser Kirche eingeführt, in welchem Amte er bis
Januar d. J. gewaltet hat. Er ist zum zweiten Male verheirathet
und Vater von 3 Söhnen und einer Tochter.
Durch Verfügung des Königlichen Konsistoriums vom 16. Januar
*) Da das Gutachten bereits von Herrn Pfarrer Witte in einer Broschüre
grösstentheils veröffentlicht ist, so liegt keine Veranlassung vor, Namen und Zeiten
zu ändern oder nur anzudeuten.
282
Dr. Mittenzweig.
1892 wurde ihm die Eröffnung gemacht, dass der Fall seiner Ver¬
setzung in den Ruhestand vorliege, weil er wegen Schwäche seiner
geistigen Kräfte zu der Erfüllung seines Amtes dauernd un¬
fähig sei.
Diese Verfügung wurde begründet durch sein gesammtes
Verhalten seit mehr als einem Jahre, namentlich
durch seine an den Evangelischen Ober-Kirchenrath und an
das Konsistorium erstatteten Berichte;
durch sein Benehmen gegen die ihm zur Seite gestellten
Kirchenältesten (vornehmlich den Kirchenkassen - Rendanten, Amts¬
gerichtssekretär Sp.), sowohl bezüglich der Veranlassung als der
weiteren Behandlung der zwischen Witte und diesen entstan¬
denen und fortbestehenden Streitigkeiten;
insbesondere durch die Art und Weise, in der er den Vorsitz
und die Leitung der Geschäfte und Verhandlungen des Gemeinde-
Kirchenraths geführt hat, und durch seine an die Aeltesten er¬
lassenen Rundschreiben;
ferner durch sein Verhältniss zu seinen Amtsbrüdern an der
St. Golgatha - Kirche
und endlich durch seine Kundgebungen in den langwierigen
mündlichen Verhandlungen, wodurch jüngst die ihm Vorgesetzte
Behörde im Interesse seiner selbst und der Gemeinde ihn zur Be¬
sinnung zu bringen und seine Versöhnung mit den Kirchenältesten
herbeizuführen vergeblich bemüht war.
Aus diesem allen habe das Konsistorium entnommen, dass
unter der Einwirkung allmählich entwickelter Wahnvorstellungen
sowohl von dem Werthe und der Bedeutung seiner eigenen Person,
wie von den Absichten Anderer seine (in früheren Jahren hervor¬
ragende) Urtheilskraft in dem Masse geschwächt sei, dass er —
bei vielem Scharfsinn und Gedanken - Reichthum im Nebensächlichen
— in der Hauptsache nicht mehr im Stande sei, die ihn umgebenden
Verhältnisse klar zu erkennen und mit der für sein Amt erforder¬
lichen Besonnenheit die Folgen seiner Handlungen richtig zu be-
urtheilen, weder nach dem moralischen Werthe der letzteren, noch
nach ihrer Zweckmässigkeit. —
Eine Erläuterung dieser Verfügung hat das Konsistorium in
einem Berichte an den Evangelischen Ober - Kirchenrath gegeben,
worin es heisst:
„Dass die W.’sehen Eingaben an Hochdenselben nnd an uns in letzterer
Zeit, namentlich seit vielen Monaten von einer, mit der Arbeitskraft der Behörde
gar nicht in Einklang zu bringenden Häufigkeit und Länge — mit einer, die
meist einfache Sachlage und die sittlichen Gesichtspunkte völlig ausser Acht
lassenden, nörgelnden Spitzlindigkeit — abgefasst sind, die das sorgfältige und
eingehende Lesen der Akten schon nach einiger Dauer dem einfachen und ge¬
sunden Verstände zur Qual macht.
Dabei zeigt sich W. in seinem Gedankenkreis derartig gebannt, dass er
diesen auch bei dem Leser ohne Weiteres voraussetzt-, und in fast allen seinen
Eingaben z. B. von dem „Kuhstallgeflüster“ redet, ohne auch nur anzudeuten, dass er
damit Besprechungen seiner Gegner in einer sehr wenig bekannten, den Namen
„Kuhstall“ führenden Gastwirtschaft im Norden Berlins meint. Die Ursache
dieser Erscheinung ist eine höchst übertriebene Empfiudung der Wichtigkeit
seiner Person, eine Empfindung, der er häufig durch Selbstlob Ausdruck giebt
und die er noch anderweitig an den Tag gelegt hat — so z. B. durch ein end-
Ueber Querulanten Wahnsinn.
288
loses Reden über sich und für sich und gegen Andere, wie es in den Versamm¬
lungen des Gemeindekirchenraths bis zum völligen Ausschluss der Geltend¬
machung der von der seinen abweichenden Meinungen der Aeltesten gediehen
war, so dass die kleinliche Rechthaberei und Rücksichtslosigkeit, mit der er
seinen Vorsitz führte, die Fortdauer derselben nicht länger möglich erscheinen lies.
Seine Eingenommenheit von sich selbst geht sogar so weit, dass er sich
eine für andere vernichtende, göttliche Bevorzugung beimisst. So hat er, um
von mehreren Beispielen nur eines zu erwähnen, wiederholt die Erkrankung des
Oberhofpredigers Dr. K. als die Folge des seiner Meinung nach ungerechten
Verhaltens dieses hochstehenden Geistlichen gegen ihn bezeichnet.
Seine Person gegen vermeintliche Ehrenkränkungen durch Injurienprozesse
zu vertheidigen, erklärt er wiederholt für Gottesdienst und schliesst dann auf
Zureden des Richters Vergleiche mit seinen Gegnern, die nicht einmal zur end¬
gültigen Beilegung des Streites führen, sondern noch widerwärtige Zänkereien
in öffentlichen Blättern zur Folge haben.
Gegen ihn Partei zu nehmen, macht nach seiner Behauptung an sich und
ohne Weiteres moralisch schlechter, und jeden, der ihm widerstrebt, überhäuft er
mit Schmähworten und bösartigen Verdächtigungen.
Um die ihm nachtheiligen Zeugenaussagen eines, seiner ganzen Erschei¬
nung und seinem Benehmen nach einfachen und ihm nicht einmal irgendwie
feindlich gesinnten alten Mannes, des Sohnes eines ehemals wohl bekannten
alten Geistlichen, zu entkräften, scheut sich W. nicht zu berichten, dass der
Zeuge, sein damaliger Aeltester bei St. Golgatha, sich vor Jahren über die
Onanie einer jetzt längst verheiratheten Tochter beklagt habe.
Ueberall bei seinen Gegnern sieht er x& ßdih) xoö 2axav£, was er offen und
mit diesen Worten ausspricht.
Damit im Zusammenhänge steht eine stetige Besorgniss, dass alle Welt
ihm feindlich gesinnt sei, ihm seine Stellung und sein Ansehen missgönne, seine
Ehre und sein Amt ihm rauben, ihn überlisten und kränken wolle.
Und alles, was er in seiner Umgebung hört und sieht, bezieht er auf
seine Person.
Mit seiner Frau beobachtet er die Bewegungen seiner vermeintlichen
Gegner auf der Strasse und zieht daraus Schlüsse auf Anschläge, die gegen ihn
gesponnen werden.
Wiederholt hat er als seinen Lebensgrundsatz erklärt: Wer ihn vernichten
wolle, den vernichte er. Und es gehört wenig dazu, um Jemanden bei ihm in
jener Absicht soweit zu verdächtigen, dass er rücksichtslos gegen ihn herzieht,
um ihn seinerseits um Ehre und Amt zu bringen.
Ein redendes Beispiel dafür ist sein Verhalten gegen den Kirchenkassen¬
rendanten im Ehrenamte, Amtsgerichtssekretär Sp. Dabei sah er einen offenbar
harmlosen Vorgang bei der Kassenrevision als eine ihm gestellte gefährliche
Falle an.
Hiernach kann es nicht Wunder nehmen, dass er zu einem Bewusstsein
eigener Schuld durchaus nicht zu gelangen vermag.
Obwohl er die Aeltesten seit langer Zeit in mündlichen Reden bei den
Verhandlungen im Gemeindekirchenrath und in schriftlichen, alles Mass an Rück¬
sichtslosigkeit übersteigenden Zirkularen schwer verletzt hatte, war er doch in
den Verhandlungen Dezember v. J. und Januar d. J. auch durch die eindring¬
lichsten Vorstellungen von Seiten des Generalsuperintendenten Dr. Br. und des
mitunterzeichneten Präsidenten nicht zu bewegen, sich auch nur im Geringsten
schuldig zu bekennen.
Dies und noch vieles Andere spricht für seine Erkrankung an Grössen-
und Verfolgungswahn, und Ansätze dazu scheinen schon seit einem Jahrzehnt
und länger bei ihm vorhanden gewesen zu sein, da er seinen Bekannten von
jeher durch seine Ruhmredigkeit auffiel und lästig wurde.“
Ueber die Beschaffenheit und Entwicklung von W.’s Charakter
und Geisteseigenschaften ergeben die in den Akten niedergelegten
Thatsachen und Urtheile Folgendes:
Bis zur Zeit seines Amtsantrittes in Beverungen finden wir
nichts Bemerkenswerthes. Erst seine Bewerbung um das Missions¬
amt in Berlin giebt dem Herrn Superint. B. in B. Veranlassung
2S4
Dr. Mittenzweig.
zu einer charakterisirenden Aeusserung. Derselbe schreibt (Acta
personalia Bd. I, Bl. 9 tf) unter dem 16. Oktober 1S62:
^Wenn Pastor W\ dem evangelisch-lutherischen Bekenntnis» treu zu-
gethan ist. so erfüllt er damit seine heilige Pliicht: denn einmal ist er aut die¬
selbe vorschriftsmäßig bei seiner Ordination verpflichtet, zum anderen bestimmen
die sogenannten Bekenntnis.* - Paragraphen der Kirchenordnuug ausdrücklich, dass
die lutherischen symbolischen Bücher auch selbst in den der Union beigetretenen
Gemeinden in voller Geltung bleiben. Stimmt ein Pastor mit denselben nicht
überv-in, so sollte er, wenn eine Gemeinde lutherischer Konfession ihn berult, doch
pflichtmärsig diesen Huf ablehnen. Pastor W\ weiss aber recht gut, dass es
vollkommen gleichgültig ist. ub man lutherisch, refurmirt oder sonstwie in die
Holle fährt, und dass sein Beruf an der Gemeinde der ist, zu suchen und selig
zu machen, vor Allem, dass er selbst zu trachten hat, dass er selig wird mit
Furcht und Zittern. So weit ich sehen kann, hat er sein Amt unter sehr
schwierigen Verhältnissen gewissenhaft versehen, namentlich aber ohne
alle Menschen furcht. Es konnte deshalb nicht fehlen, dass Gemeinde¬
glieder ihn um seines entschiedenen Auftretens in der Predigt und Seelsorge
Willen meinten an feinden zu müssen, indessen ist meines Wissens auch
zu diesen sein Verhältnis ein gutes und freundliches, und die übrigen hängen
ihrn mit vieler Liebe an. Geachtet wird er von Allen. Für den Aufbau der
noch in Entwicklung begriffenen Gemeinde ist er unermüdlich thätig gewesen.
— Es ist die Folge seiner Bemühungen, dass ein Pfarr-Dotations- Kapital,
2d Morgen Ländereien, Kirci.platz, ein Kapital zum Kirchenbau zusammeu-
gekomincn und die 1700 Thlr. Schulden, welche auf dem Pfarr-, Kirchen- und
.Schulbau» standen, getilgt sind.
Las Altlutherthum anlangend, so glaube ich, dass er die Separation tief
beklagt und nicht die geringste Neigung hat, der Landeskirche untreu zu werden.*
In einem zweiten Schreiben vom 6. Februar 1864 schreibt
Herr Sup. B.:
„Ob ich W. aber gerade für Ihren Zweck empfehlen kann, weiss ich nicht.
Ich habe keine Kenntnis», ob Sie dieselbe Auslegung der Propheten verlangen,
wie z. B. die Rheinische Gesellschaft und die Engländer, wonach das Israel nach
dem Fleisch einen Vorrang vor den Heidenchristen behält u. s. w. Diese Aus¬
legung wird er nie acceptiren. Ausserdem aber scheint er mir eine wirklicheAb-
nejgung gegen die Juden zu haben und sie vorzugsweise nach der Seite hin zu
betrachten, dass sie den Herrn gekreuzigt und den Fluch auf sich geladen haben,
wenigstens habe ich es schon für meine Pflicht gehalten, ihn zu fragen, ob seine
Stellung zu den Juden der Liebe und der Nachfolge St. Pauli, Homer 1 ff ent¬
spreche. Irre ich mich darin oder kann er dies überwinden, so halte ich ihn
allerdings zum Missionar geeignet. Er ist in der Unterhaltung frei-
uni t h i g, gewandt und f a c i 1 e. u
Im Jabre 1865 vollendete W. eine Schrift, welche Bl. III. c.
als gediegener Beitrag zu den Arbeiten der Mission unter Israel
bezeichnet wird.
In den siebziger Jahren hat W. viele Krankheiten in seiner
Familie gehabt, und auch er selbst war in Folge grosser Anstren¬
gungen leidend geworden. Aus diesem Grunde hatte schon im
Jahre 1878 sein Hausarzt Pause, Stärkung und speziell eine Kur
in Ems aufs Dringendste empfohlen. Die Verhältnisse gestatteten
indess damals einen Urlaub nicht. Erst im Sommer 1875 konnte
er eine Erholungsreise machen.
Zu Ende 1874 war die erste Pfarrstelle der St. Elisabeth-
Gemeinde neu zu besetzen, und wurde in dieselbe der Pfarrer Qu.
berufen, welcher am 16. November 1874 das Pfarrhaus bezog
(Bl. 202 ff, Personl. I). W. hat damals nach den Akten trotz er¬
haltener Anzeige die Schlüssel zur Studirstube nicht rechtzeitig
überliefert und vom Superintendenten der Diözese Berlin II eine
Ueber Querulantenwahnsinn.
285
Aufforderung erhalten, dies schleunigst zh thun. Inzwischen
aber war die Auslieferung der Schlüssel bereits erfolgt, und W.
antwortete dem Superintendenten in einem Schreiben, in welchem
das Konsistorium eine ironisirende Glossirung und eine
unpassende Kritik des Schreibens des Superintendenten fand.
Dieses Schreiben lautet:
„Schleunigst antwortet Ew. Hochehrwürden der Unterzeichnete, dass
er die nach eben eingegangener Anordnung des Herrn Königl. Superintendenten
schleunigst an Herrn Pfarrer design. Qu. zu entsendenden Schlüssel schon
vorgestern schleunigst an den Herrn Prediger Qu. auf schriftliches Er¬
suchen des Predigers v. K. übersandt hat. Es ist bereits vor 48 Stunden ge¬
schehen.
Wir leben in ernster Zeit; ihre Aufgaben sind schwer. Jeder Geistliche
hat sich zu freuen, wenn er in inferioren Dingen nicht zu viel hin
und her zu schreiben hat etc.“
Auf den 12. Dezember 1875 hatte ferner der Pfarrer Qu.
ihn zu sich zu einer Tasse Thee etc. eingeladen. Diese Einladung
lehnte er jedoch mittelst folgenden Schreibens ab:
„Verehrter Herr Bruder! Wie herzlich würde ich mich freuen, wenn es
nicht durch ihr ganzes bisheriges Betragen mir unmöglich gemacht wäre, der
im Grunde z. Z. mich überraschenden Einladung zu folgen. Leider haben Sie
mir’s unmöglich gemacht, — zu meinem Bedauern, ja zu meiner Betrübniss.
Pesthaltend an der Gemeinschaft des Glaubens, welchen wir mit einander
haben und daher sie freundlich grüssend Ihr C. W.“
Dieses Schreiben erhielt er mit folgender Unterschrift in
originali zurück.
„Solcher Dank auf eine freundliche Einladung wird von der verletzten
Hausfrau, die dergleichen nie gekannt hat, einfach wieder zurückgeschickt.
gez. A. Qu., geb. M.“
Hierauf antwortete W. dem Pfarrer Qu. am 13. Dezember
1875 mittelst eines mit dem Amtssiegel verschlossenen Schreibens
dahin:
„Mit Bezug auf die gestern per Post mit Beginn des Gottesdienstes mir
gewordenen Zeilen Ihrer Gattin bemerke ich Ihnen, dass ich Ihre Frau Ge¬
mahlin an der Einladung für im Wesentlichen unschuldig noch heute halte, wie
ich denn auch heute noch das Vertrauen hegen möchte, dass Ihre Gattin meine
Ablehnung schon eher für gerechtfertigt halten würde, wenn ihr das Verhalten ihres
Gatten gegen seinen nächststehenden Amtsbruder bekannter wäre. Uebrigcns
braucht, auch abgesehen von verletzten Hausfrauen hüben und drüben, eine
Korrespondenz zwischen Ihrer Gattin als Hausfrau und mir um so weniger zu
entstehen, als ich jeden Anlass dazu vermieden habe. Sie sind der eigentlich
Einladende, und sind die meisten Einladungen, wie ich vernehme, sogar von
Ihrem Küster, der ja nicht zugleich von ihrer Frau Gemahlin ressortirt, ge¬
schrieben worden. Sie allein hatte ich darüber zu verständigen, wie ich zu
Ihrer in meinen Augen werthlosen und verwerflichen Einladerei stehe. Wie Sie
durch Ihr ganzes bisheriges Betragen sich von den schuldigen Rücksichten gegen
einen Amtsbruder bis hin zur Frage des täglichen Brodes thatsiiehlich dispensirt
und die Ehre verwirkt haben, mich unter ihren Gästen zu sehen, so dispensirc
ich Sie von allen süffisanten velleites und theatralischen maneuvres.
Das Mitglied des Gemeinde - Kircheuraths C. W.
An den Herrn Pfarrer Qu., Vorsitzenden des Gemeinde-Kirchenraths.
Hochehrwürden.“
Letzteres Schreiben hat der Pfarrer Qu. in der nächsten
Gemeinde-Kirchenraths-Sitzung unter Protest W.’s verlesen, und
es entspann sich daraus eine Differenz, so dass der Gemeinde¬
kirchenrath die Angelegenheit dem Konsistorium mitzutheilen
beschloss.
Sein Benehmen, dem Superintenden Str. gegenüber, entschul-
286
Dr. Mittenzweig.
digte W. später damit, dass er dazumal in einen Zustand der
Nervosität gerathen sei, welche es für ihn schwierig machte, jeden
einzelnen Zwischenfall mit völliger Ruhe zu erledigen.
Zum Verständniss des Vorfalles mit Qu. sei erwähnt, dass
W. als erster Diakonus der Elisabeth - Gemeinde die Hoffnung ge¬
hegt hatte, in die erledigte Pfarrstelle dieser Gemeinde berufen
zu werden, während der Pfarrer Qu. berufen wurde. Ferner
glaubte W., dass dieser die Verhandlungen über seine Gehalts¬
erhöhung in die Länge zöge (Bl. 203 1. c.) und anderes mehr.
Das Konsistorium hob schon bei dieser Gelegenheit hervor:
„Was achliesslicfi die vielfachen herben und invektiven Ausdrücke betrifft,
welche der Prediger W. in seinen an das Konsistorium zu der Disziplinarunter-
suchung gerichteten Vorstellungen bezüglich des Pfarrers Qu. gebraucht hat, so
entziehen sich dieselben einer disziplinarischen Beurtheilung, da etc.“
Auffällig erscheinen auch schon aus dieser Zeit Redewendungen
W.’s, welche Ueberschätzungs- und Verfolgungsideen verrathen,
so z. B.:
Bl. 38: „Fama ruit, der phanthastische Jubel der Feinde — warum sollte
er nicht gross sein.“
Bl. 40: „Mag der Prediger Qu. seine Einladung vor Gott und dem sittlich¬
religiösen Urtheil verantworten, — Gott richtet mich auf wie durch den Zu¬
spruch seines Geistes so durch den tröstlichen Beistand edler Männer.“
„So gewiss das „audiatur et altera pars“ und das „suum cuique“ gelten,
halte ich an meiner ehrerbietigen Zuversicht fest.“
„Vor der empfindungslosen und hartherzigen Empfindlichkeit des Predigers
Qu. Respekt zu haben, liegt mir ferne, als solche aber habe ich sie erkannt.“
„Mehr denn 5 Jahre diene ich der Gemeinde. Vier Hülfsprediger haben
mir zur Seite gestanden. Unser Verhältniss war ein ideales, es sind Verhältnisse
für die Ewigkeit geworden. Da kommt nun ein Mann, der noch keinerlei kol-
legialische Probe bestanden hat, darf mich verklagen und hat Erfolg, ehe ich
auch nur gehört bin.“
„Prediger D. erklärte mir, „ich würde bald exmittirt werden und plötzlich
anderwärts auftauchen, in Berlin gehe das rasch.“ Ich (W.) führe das an als
Symptom dafür, wie ich hier seit Jahren im Kampf um’s Dasein stehe. Ich
bin derjenige, der des Schutzes einer Köuigl. Preussischen Behörde bedarf etc.“
Noch eine andere Eigenthümlichkeit W.’s macht sich schon
in diesen Schriftstücken geltend, nämlich die Benennung einzelner
Vorgänge mit auffallenden Bezeichnungen und der Gebrauch dieser
Bezeichnungen, welche nur dem Eingeweihten deutbar sind, in
seinen Eingaben an die Vorgesetzten Behörden, z. B. der Bezeich¬
nung: „Thee-Einladung“, „Thee-Konflikt“, Thee-Sache, Schlüssel¬
sache etc.“
Andererseits ist aus jener Zeit hervorzuheben, dass W. dem
begütigenden Einfluss seiner Vorgesetzten und seiner damals noch
lebenden ersten Frau sein Ohr lieh. Bl. 84 1. c. sagt er:
„Sein (des Superintendenturverwesers) Schreiben hat mich zur ernstlichen
Erwägung des Wortes geführt, dass des Menschen Zorn nicht thut, was vor
Gott recht ist; tt
und von seiner Frau schreibt er:
„Das kann ich zwar sagen, dass ich vor dem Ausbruch eines Konflikts
gezittert habe; um so mehr hätte ich am 13. Dezember, nachdem ich jenen
Schlag empfangen, einen Gegenstoss nicht führen sollen, sondern, Alles dem
anheirnstellend, der da richtet, meine christliche Ehre darein setzen sollen,
zu schweigen, wie ich vor Jedermann sonst darüber geschwiegen.
Beklagen muss ich, dass ich darin nicht dem Käthe meiner lieben Frau
gefolgt bin, w r elche mir rieth, ich solle auch das schweigend hinnehmeu, dagegen,
Ueber Qnerolantenwahnsinn. 287
wenn ich etwas thun wolle, den Amtsbrader Qa. persönlich darüber, ihn b e -
suchend, anreden.
Aber das Gefühl der empfangenen Beleidigung war mir
leider zu mächtig geworden.“
Charakteristisch für Witte’s Ehrgeiz und Eigensinn ist auch
seine Zurückweisung einer Versetzung. Er schreibt diesbezüglich
am 18. April 1876 an das Konsistorium (Bl. 122):
„beehre ich mich nochmals und ganz gehorsAmst zu erklären, dass die
Proposition aus allen massgebenden Gründen für mich unannehmbar bleibt.
Im Zusammenhang mit der Thee- Angelegenheit kann und darf ich nicht
von hier weichen.
Hochwürdiges Konsistorium wolle vertrauen, dass ich meine öffentliche
Ehre, welche seit hochverehrlicher Suspensions - Verfügung vom 6. Januar (1876)
in diese Thee • Sache verflochten ist, in jedem Falle unversehrt auf meine Kinder
überliefern werde.“
In einem Schreiben des Konsistoriums an den Herrn Minister
F., betr. Beantragung einer Unterstützung W.’s, heisst es ferner:
„Jedenfalls mussten wir zu der Ueberzeugung gelangen, dass ein Ver¬
bleiben des p. W. in seiner jetzigen Stellung eine Unmöglichkeit ist. Anderer¬
seits liesa sich nicht verkennen, dass sich der p. Witte der Tragweite seiner
Handlungsweise nicht voll bewusst war und ist, dass seine Verbitterung ihm
den klaren Blick raubt und ihn in eine psychologisch krankhafte
Stimmung einer Art von Verfolgungswahn versetzt hat. Wir ver¬
suchten deshalb, ihn im Wege der Güte zu einem Eingehen auf seine Versetzung
zu bewegen; indess ohne Erfolg. Nunmehr blieb nichts übrig als die Disziplinar-
untersuchung gegen ihn zu eröffnen. — Schon damals war W. nicht zur Einsicht
in sein Unrecht zu bringen und halsstarrig im Kampfe um seine äussere Ehre.“
Der Inhalt des Adhibendum I wirft ebenfalls Streiflichter
auf das Benehmen W.’s in dieser Disziplinaruntersuchung. Sie
bilden die Erläuterung zu den bereits angezogenen Stellen und
die ausführlichen Begründungen zu dem Urtheil des Konsistoriums.
So namenlich der Bl. 20 des Adh. I stehende Brief W.’s an den
Superintendenten Str., ferner ein solcher (Bl. 21), in welchem
es heisst:
„Das bestehende gesetzliche Verhältniss ehre ich mit freudigem Gehorsam,
aber zur richtigen Würdigung meiner amtlichen Stellung gehört mir immerhin
auch die Rücksicht auf die Würde meines eigenen Amtes,
meiner Stellung und meiner Person.“
Und ferner:
„Der untergebene Geistliche, namentlich auf dem Boden unserer Kirche,
wird je nach Lage und Charakter der Dinge nicht leicht darauf verzichten, auch
bei seinem geistlichen Herrn Vorgesetzten und für diese Zeitlichkeit sich an
Herz und Gewissen zu wenden.“
Schliesslich ist beziehentlich dieser ersten Disziplinarunter¬
suchung noch im Allgemeinen hervorzuheben, dass W. zwar in
seiner Vertheidigungschrift sein Unrecht gegenüber dem Sup. Str.
nur theilweise, sein Unrecht gegen den Pfarrer Qu. überhaupt
nicht anerkannte, sich aber doch bei dem Erkenntniss des Konsistoriums
beruhigte, wenigstens äusserlich keine Schritte that, um seinen ver¬
meintlichen Rechte Anerkennung zu verschaffen.
Abgesehen von der Verwarnung vom 27. März 1880 finden
sich in den Akten bis zum Jahre 1889 keine besonderen Vor¬
kommnisse erwähnt. Gleichwohl war dieses Jahrzehnt von 1878
bis 1888 für die Gestaltung von W.’s äusseren und inneren Ver¬
hältnissen an Vorkommnissen sehr inhaltsreich und folgenschwer,
namentlich dadurch, dass sein Erscheinen auf der Bühne der poli-
288
Dr. Mittenzweig.
tischen Wahlkämpfe ihn mit St. Zusammentreffen liess, ihn schliesslich
mit diesem in einen persönlichen Konflikt verwickelte und dass im
Gefolge dieses Kampfes neben dem Aufrühren und Aufbauschen
mancher an sich unerheblicher Thatsachen auch die Differenzen aus
dem Schoosse der Gemeinde und namentlich aus dem Gemeinde-
Kirchenrathe in die Oeffentlichkeit gezerrt wurden.
Die Acta personalia Band II und III nebst den Adhibenda
II. Bd. I und II, sowie die beiden Bände mit Zirkularen umfassen
die Vorgänge aus der Zeit von 1889 bis 1892 und liefern gleich¬
zeitig das Material zur Kenntniss der Vorgänge aus dem genannten
Jahrzehnt, insofern sie zur Erklärung der leztjährigen Ereignisse
und Handlungen Witte’s nothwendig ist. Aus diesen Akten ist
Folgendes ersichtlich:
Mit dem Beginn des Jahres 1889 hatte Herr Hofprediger
St. unter dem 10. und 19. Januar je eine Beschwerde über W. an
das Königl. Konsistorium und dieser wiederum unter dem 23. Febr.
resp. 22. März eine Beschwerde über den Hofprediger St. an den
Evangelischen Oberkirchenrath eingereicht.
Das Konsistorium fand keine genügende Veranlassung zu
einem disziplinarischen Einschreiten gegen W.; der Evangelische
Oberkirchenrath indess ertheilte ihm unter dem 25. März 1889
einen Verweis und fügte hinzu:
„Dabei wird von uns vorausgesetzt, dass ähnliche Publikationen *) in Zu¬
kunft unterbleiben werden. Sollte diese Erwartung sich als hinfällig erweisen,
so würden schärfere disziplinarische Massnahmen in Erwägung gezogen werden
müssen.
Es ist Thatsache, dass an diese Veröffentlichungen die peinlichsten Er¬
örterungen in der Tagespresse geknüpft worden sind, welche in weiten Kreisen
der evangelischen Kirche und in den Gemeinden gerechtes Aufsehen und
Aergemiss zu erregen geeignet waren und zweifellos erregt haben. In einer
Zeit, in welcher Irreligiosität und Gleichgültigkeit gegen die Kirche mehr und
mehr um sich greifen, muss die Würde des geistlichen Amtes nach allen Rich¬
tungen doppelt sorgfältig gewahrt, insbesondere aber von jedem Träger desselben
gefordert werden, dass er in Selbstverleugnung durch Sanftmuth und Verträg¬
lichkeit den Gemeinden ein vorbildliches Beispiel gebe (cfr. §§. 70, 71. Tit. 11
Thl. II Allgem. Landrechts).
Gegen diese Amtspflicht haben Sie durch obige öffentliche Kundgebungen
verstossen und dadurch die abfälligen und gehässigen Beurtheilungen in der
Presse mit veranlasst. Die Beweggründe, welche Sie in Ihren bei den Akten
befindlichen Erklärungen für Ihr Vorgehen angeführt haben, können wir als
eine Rechtfertigung desselben nicht ansehen.
Bei dieser Sachlage treten die Einzelheiten, namentlich die Frage, welcher
von beiden Geistlichen der zuerst angegriffene gewesen und welchen derselben
ein grösseres Mass von Schuld treffe, in der Bedeutung zurück und bedürfen einer
näheren Erörterung und Feststellung nicht.“
Da diese letzte Vorbestrafung W.’s im ursäclilichen Zu¬
sammenhänge mit der nun folgenden Disziplinaruntersuchung steht,
so erscheint es für die Beurtheilung seines Verfahrens vortheilhaft,
auf die ersten Ursachen der Anklagepunkte des Genaueren ein¬
zugehen.
Als im Jahre 1878 Hofprediger St. als konservativer Kan¬
didat des VI. Berliner Wahlkreises aufgestellt war, und als W.,
') St. und W. hatten Artikel veröffentlicht, deren Sinn auf eine gegen¬
seitige Bezichtigung des Mangels an Wahrhaftigkeit hinauslief.
Ueber Querulantenwahnsinn.
289
der von der Anschauung ausging, dass für die grösstentheils
aus Arbeitern bestehende Bevölkerung des VI. Wahlkreises der
Fabrikbesitzer H. ein viel geeigneterer Vertreter sein würde, aus
diesem Grunde für die Kandidatur dieses Letzteren eintrat, da
theilte St. seinem damaligen Parteimitgliede Gr. mit, dass W. seine
Unterschrift dazu hergegeben hätte, um den Kommerzienrath W.
den Titel als Geheimer Kommerzienrath auszuwirken, und beauf¬
tragte ihn, in der Versammlung diese Mittheilung zu benutzen
und event. den Wählern vorzustellen, dass ein Mann, der jüdischen
Mitbürgern Titel und Ehren verschaffen helfe, nicht geeignet sei,
mit einer selbstständigen konservativen Agitation hervorzutreten.
Hofprediger St. selbst hat damals einen dahinzielenden Brief
an W. nicht geschrieben. In einem gerichtlichen Erkenntniss
gegen B. war aber in der Begründung irrthümlicher Weise gesagt,
dass dies geschehen sei, indem augenscheinlich dieser nicht exis-
tirende Brief von den beiden Vertheidigern und dem Gerichtshöfe
mit einem wirklichen Briefe St. an W. aus dem Jahre 1885 ver¬
wechselt worden war.
Ueber die Existenz dieses, wie Hofprediger St. ihn nennt,
„in der Phantasie des Gerichtshofes existirenden Briefes“ entspann
sich der erste Streit zwischen St. und W., welcher mit dem Ver¬
weise vom 25. März 1889 für W. endete.
Trotz dieser Verwarnung erschien im Buchhandel W.’s
Broschüre „Mein Konflikt mit Herrn Hof- und Domprediger St“.
In der dieserhalb angestellten Disziplinaruntersuchung gegen
W. erkannte das Königliche Konsistorium unter dem 6. März 1890
dahin, dass der Angeschuldigte zu einer Geldstrafe von dreihundert
Mark und zum Ersatz der baaren Auslagen des Verfahrens ver-
urtheilt werde.
In dem Erkenntniss wird am Schlüsse bemerkt:
„Die Erklärung für derartige Anfeindungen kann nur in der Stimmung
gefunden werden, in welcher sich der Angeklagte schon seit Jahren — übrigens
nicht ohne Veranlassung — in Bezug auf den Hofprediger St. befindet.
Man hat es offenbar hier mit einer Idiosynkrasie des Angeklagten zu thun,
die es ansschliesst, ihm die absolute Grundlosigkeit eines Theiles seiner Angriffe
als besonders belastend zuzurechnen. Eine Folge dieser Idiosynkrasie ist
auch dies, dass der Angeklagte den Gegnern des Hofpredigers St. alles glaubt,
während er hinter den eigenen Erklärungen des Letzteren ohne Weiteres nur
Lug und Trug sieht.“
Am Schlüsse heisst es:
„Daneben kam in Betracht, dass dem Angeklagten, trotz seiner Vorstrafen,
das Zeugniss eines eifrigen und treuen, fest zu den Bekenntnissen der Kirche
haltenden Geistlichen nicht versagt werden konnte. Aus diesem letzteren Um¬
stande auch schöpfte das Kollegium die Hoffnung, der Angeklagte werde durch
eine milde Beurtheilung seiner Fehltritte wiederum auf den rechten Weg geführt
und zur Umkehr von der abschüssigen Bahn bewogen werden, auf die er sich
durch seine Feindschaft gegen den Hofprediger St. hat leiten lassen.“
Gegen diese Entscheidung legte sowohl der Ankläger wie der
Verurtheilte Berufung ein.
Am 2. September 1890 reichte W. dem Evangelischen Ober-
Kirchenrath seine Berufungsschrift im Umfange von 348 Blättern
ein unter Beilegung der beiden Broschüren „Meine Konflikt etc.“
und „Wider das St.’sche „Volk“.
290
Dr. Mittenzweig.
Dieselbe ist wegen verspäteter Einreichung nicht berück¬
sichtigt worden.
Unter dem 21. Januar bestätigte der Evangelische Ober-
Kirchenrath die Entscheidung des Konsistoriums vom 6. März 1890.
In der Begründung sagt dieser Erlass:
„Beide Broschüren, welche inhaltlich in engem Zusammenhänge stehen,
enthalten heftige Angriffe und schwere Vorwürfe gegen den Hofprediger St.
und bilden deshalb von Seiten des Angeschuldigten eine Fortsetzung jenes vor
der grossen Oeffentlichkeit geführten Kampfes der beiden Geistlichen, wegen
dessen die oberste Kirchenbehörde soeben disziplinarisch gegen sie vorgegangen
und vor dessen Fortsetzung auch der Angeschuldigte in der Vorfügung vom
26. März 1889 unter Hinweis auf die ernsteren disziplinarischen Folgen etwaiger
weiterer ähnlicher Publikationen nachdrücklich gewarnt war. Dass es sich in
beiden Broschüren um Publikationen ähnlichen Inhalts handelt, wie solche jener
Verfügung des Evangelischen Oberkirchenraths zu Grunde lagen, ist durch die
Broschüren selbst und durch die Erklärungen des Angeschuldigten als erwiesen
und thatsächlich festgestellt erachtet worden.
Ob in der Verfügung vom 25. März 1889 ein Verbot solcher Publikationen
oder nur eine Warnung des Angeschuldigten zu finden bezw. ob die Behörde zu
einem derartigen Verbot überhaupt befugt gewesen sei, bedarf keiner weiteren
Erläuterung. Unzweifelhaft steht der kirchlichen Aufsichtsbehörde das Urtheil
darüber zu, was die Amtspflicht von den ihr unterstellten Geistlichen der Landes¬
kirche fordert und die Behörde hat den Angeschuldigten nicht darüber in Zweifel
gelassen, wie sie ihrerseits bei ähnlichen Publikationen die Sache auffassen werde.
In dieser Beziehung ist an der, der Verfügung vom 25. März 1889 zu
Grunde liegenden Auffassung lediglich festzuhalten.
Der Angeschuldigte selbst konnte über die Meinung der ihm in dieser
Verfügung gemachten Eröffnung nicht im Unklaren sein, und es ist nicht anzu¬
nehmen, dass dieserhalb Zweifel bei ihm thatsächlich bestanden haben. Ob die
Fortsetzung jenes gehässigen Kampfes in der Oeffentlichkeit durch die Zeitungen
oder durch die Broschüren erfolgt ist, bleibt völlig gleichgültig.
Es kann aber auch nicht zugegeben werden, dass der Angeschuldigte in
der Nothwehr gehandelt, weil er von der Vorgesetzten Behörde ohne Schutz
gelassen sei. Dem Hofprediger St. war, wie dem Angeschuldigten bekannt, im
März 1889 seitens des evangelischen Ober-Kirchenraths ebenfalls das Geeignete
eröffnet worden. Seitdem hat. St. sich aller öffentlicher Angriffe gegen den An¬
geschuldigten enthalten. Der Artikel in Nr. 89 der Zeitung „Das Volk u , welcher
erwiesener Massen vom Hofprediger St., wenn auch mit nicht näher festge-
stellten Abänderungen seitens des Redakteurs L. versehen, herrührt, trägt das
Datum des 15. Februar 1889, ist also vor der Verfügung vom 25. März 1889
veröffentlicht. Ueberdies ist der Artikel Gegenstand einer besonderen Privat¬
klage des Angeschuldigten gegen Hofprediger St. wegen Beleidigung gewesen
und durch deu zwischen den Parteien abgeschlossenen Prozessvergleich vom
6. November v. J. erledigt.
Wenn Angeschuldigter von der Annahme ausgeht, Hofprediger St. sei,
wenn nicht direkt als Verfasser, so doch als intellektueller Urheber für die in
den beiden Broschüren erwähnten, den Angeschuldigten beleidigenden Zeitungs¬
artikel aus dem April 1889 moralisch verantwortlich, so fehlt für diese Annahme
jeder Beweis. Die Redakteure L. und E., welche zeugeneidlich über diese Punkte
vernommen worden sind, haben das Gegeutheil bekundet. Unmöglich kann der
Augeschuldigte von den Kirchenbehörden einen Schutz gegen Angriffe solcher
Personen erwarten, welche der Disziplinargewalt dieser Behörden nicht unter¬
stellt sind.
In dem vorliegenden Verfahren ist das entscheidende Gewicht lediglich
auf die gehässige Fortsetzung des Aufsehen und Aergeruiss gebenden Streites
als solche zu legen, dem Inhalte der Broschüren im Einzelnen aber keine
selbstständige disziplinarische Bedeutung beizumessen.
Insbesondere ist nicht angenommen worden, dass es im Bewusstsein und
in der Absicht des Angeschuldigten gelegen habe, die schuldige Ehrerbietung
gegen seine Vorgesetzte Behörde durch die öffentliche Kritik des Erlasses vom
25. Alärz 1889 zu verletzen, oder dass ihm mit Rücksicht auf die Anwendung
Ueber Querulantenwahnsinn.
291
eines Schriftwortes (S. 56 Z. 2 and 3 der ersten Broschüre), dessen Heranziehung
allerdings hätte vermieden werden sollen, ein Mangel an Ehrfurcht vor der
heiligen Schrift vorzuwerfen sei.
Die Mittheilung des Gespräches zwischen der Ehefrau des Angeschuldigten
und dem Chefredakteur v. H. (S. 2 und 3 der ersten Broschüre) tritt in diszipli¬
narischer Hinsicht wesentlich zurück.
Wie schon bei Erlass der Verfügung vom 25. März 1889 kann es auch
jetzt dahin gestellt bleiben, auf welcher Seite in dem Streite der beiden Geist¬
lichen die überwiegende Schuld liegt und inwieweit die Beschuldigungen und
Vorwürfe des einen Theiles durch Angriffe und Neigungen des anderen Theiles
aufgewogen werden. Schon in der Entscheidung des Konsistoriums vom
6. März v. J. ist in dieser Beziehung anerkannt, dass es sich um Handlungen
eines durch Kränkungen von gegnerischer Seite schwer gereizten Mannes handelt.
Es rechtfertigt sich daher um so mehr, den Vorwurf der Beleidigung des Hof¬
prediger St. als einen selbstständigen Belastungspunkt bei der disziplinarischen
Würdigung des Verhaltens des Angeschuldigten auszuscheiden, als sich inzwischen
beide TheUe, wie bereits oben erwähnt, unter der Erklärung, dass sie sich keine
persönliche Kränkung zufügen wollten, vor Gericht wegen der Beleidigungen
verglichen haben.
Aus allen diesen Gründen erscheint es zutreffend, dass das Konsistorium
in der Publikation der beiden Broschüren des Angeschuldigten einen erheblichen
Vcrstoss gegen die Amtspflicht erblickt hat u. s. w.“
W. hat sich in der Folge noch mit zwei Immediat-Gesuchen
an Se. Majestät gewandt, aber ohne Erfglg.
Als charakteristisch für seine Anschauungsweise ist auch das
Schreiben an das Konsistorium vom 16. Juni 1891 zu erwähnen,
welches lautet:
„Nachdem seitens hochwürdigsten Evangelischen Oberkirchenraths mittelst
Verfügung vom 4. Juni 1891 meine Bitte um Erlass der Ordnungsstrafe sowie
um Zurücknahme des März-Verweises von 1889 zurückgewiesen worden ist, so
habe ich fast umgehend unter noch näherer Darlegung des Thatsächlichen meine
Bitte erneuert. Auch in diesem Studium habe ich, der Verantwortlichkeit ein¬
gedenk, nach bestem Wissen und Gewissen das Meine thun wollen.
Es ist mir im Einklang mit den Rechten, welche ich schon als Unterthan
habe, als Pflicht erschienen, zugleich Sr. Majestät, unserem Allergnädigsten
Herrn, hiervon allerunterthänigst Meldung zu thun.
Es ist dies nicht im Sinne einer Beschwerde, sondern unter Ausdruck einer
Hoffnung geschehen.
Ein vielfach Misshandelter fährt fort zu hoffen.-
Ich bin mir bewusst, nur solches gethan zu haben, was an sich der
höchsten, auch kirchenregimentlicheu Anerkennung um deswillen werth sei, weil
es an sich nur gut sei. So habe ich denn mit einer noch vollkommeren Dar¬
stellung des Thatsächlichen neu dem Guten dienen wollen.“
Aehnlich schreibt er am 7. August 1891:
„.. wohl aber aus tiefinnerlichen Gründen, habe ich jüngst
Hochw. Oberkirchenrath aufs Neue die Bitte vorgetragen, für die Aufhebung
der wider mich verhängten Disziplinarstrafen wirksam werden zu wollen.“
Ferner am 7. September 1891:
„Als Preusse hatte und habe ich ausserdem den mit dem Christenthum
und der Amtspflicht keineswegs-kollidirenden Ehrgeiz, dass in Preussen Jedem,
erst recht einem Geistlichen die Vertheidigung seines guten Namens erlaubt
sein, ja als etwas Selbstverständliches zustehen müsse. . .
Gegenüber aller sonstigen Betrübniss trage ich die unerschtitterte und
tröstliche Ueberzeugung in mir, mein unantastbares Recht in unantast¬
barer Weise wahrgenommen zu haben. Ich weiss dabei sehr wohl, dass
meine Ueberzeugung gegen Beschlüsse nichts vermag und für nichts
geachtet werden kann.-
Meine Eingaben, durch welche ich die Vollziehung der Strafe abzuwenden
gesucht, sind von christlichem, patriotischem Geiste eingegeben gewesen. Ich
war berechtigt und verpflichtet dazu, weil ich das Thatsächliche am besten
in seinem Umfange, seiner Aufeinanderfolge und seinem Zusammenhänge kenne.
292
Dr. Mittenzweig.
Ich will übrigens ganz gehorsamst nicht verhehlen, dass ich das konsistoriale
Loyalitäts-Monitum vom 31. Jannar 1889 viel bitterer als Verweis und
Ordnungsstrafe empfinde. Mit ihm ward ein Schatten auf meinen Charakter oder
auf meine Handlungsweise vom ethischen Gesichtspunkte aus geworfen.“
Aus W.’s Beschwerdeschrift ist ferner die Art und Weise
anzuführen, in welcher sich der Verklagte über die Persönlichkeit
des Herrn Präsidenten H. und des Herrn Konsist. - Rath A. aus¬
spricht, Bl. 330 des Adh. n. 1 . und ebendaselbst Bl. 359, wo er
sagt: „Wie mag es doch wohl kommen, dass ein Königl. Preussi-
scher Gerichtshof und schon zuvor ein Schöffengericht mehr Ver¬
stand, Herz und Gewissen in harmonischem Zusammenweilen be-
thätigen als dieser zeitige Herr Präsident des Königl. Konsistoriums
der Provinz Brandenburg“; Bl. 398: „Durch sein Schweigen hat
aber insonderheit der Führer bei den Konsistorial - Geschäften,
Präsident H., sich auch noch „fremder Sünden“ theilhaftig gemacht,
wovon er auch durch sein Alter sich hätte füglich abhalten lassen
sollen“; ferner Bl. 391 und ff., Bl. 427. Eine Glossirung über die
christliche und landrechtliche Sanftmuth findet sich Bl. 438, über
den unbedingten Gehorsam Bl. 464.
Nicht unwichtig für die Beurtheilung W.’s ist die Kenntniss
von dem Wesen und dem Einfluss seiner Ehefrau. Von Interesse
ist diesbezüglich die Wiedergabe der Unterredung zwischen
Frau W. und Herrn v. H. (Bl. 470 1. c.), in der Frau W. unter
andern sagt:
„Ich an meines Mannes Stelle hätte es nicht gethan. Ich habe damals
vor 3 Jahren zu meinem Manne nngef&hr so gesagt: „Da hast den Mann jetzt
in der Hand, verdirb ihn! Sonst wird er Dich zu verderben trachten. Aber
mein Mann übte immer and immer wieder Schonung.“
In der Moabiter Plarrwahl vom Jahre 1888 spielte Frau
W. eine aktive, für ihren Ehemann nicht ungefährliche Rolle; auch
sonst hat sie ihn in seinen Ansichten und Plänen eher bestärkt
als davon abgebracht.
Der dritte Band der Acta personalia führt uns in die Wirren
und Streitigkeiten ein, in welche W. besonders in den letzten
Jahren im Sehoosse seiner Gemeinde verwickelt worden war, und
welche schliesslich zu dem Beschlüsse des Königlichen Konsistoriums
vom 16. Januar 1892 und damit zu seiner zwangsweisen Emeri¬
tirung führten.
W. hatte durch die Zwistigkeiten mit dem Hofprediger St.,
durch die Injurien - Prozesse gegen die Anhänger desselben und
durch sein Auftreten gegen die Mehrzahl des Gemeinde - Kirchen¬
raths, gegen seine Amtsbrüder in St. Golgatha und einzelne Mit¬
glieder der Gemeindevertretung wie der Synodal - Deputation den
Unwillen der genannten Herren erregt. Weit davon entfernt, sich
nunmehr der Ruhe und des Friedens in seiner Gemeinde zu be-
fleissigen und den ungünstigen Eindruck, den seine bisherige
Politik hervorgerufen hatte, zu verwischen sich zu bemühen, ver¬
folgte er beharrlich die betretene Bahn, unbeirrt durch die Gefahren,
welche er für den Frieden und das kirchliche Leben seiner Ge¬
meinde, für das gesammte Ansehen der Kirche, namentlich in der
tonangebenden Hauptstadt des Reiches und für das Wohl seiner
Person und seiner Familie dadurch heraufbeschwören musste.
Ueber Querulanten Wahnsinn.
298
Einzelne Mitglieder des Kirchenraths, Gruppen aus demselben und
bisweilen der gesammte Kirchenrath richteten Beschwerden an das
Königliche Konsistorium über die Art und Weise der Leitung in
den Sitzungen, über die Form und den Inhalt der von W. an den
Kirchenrath gesandten Zirkulare und über die Aergernisse, welche
er durch sein Streben bei Durchführung seiner Ansichten und
Pläne dem Kirchenrath und der Gemeinde bereitete. Die Ent¬
gegnungen W.’s auf diese Beschwerden, welche an das Konsis¬
torium und schliesslich auch an den Evangelischen Oberkirchenrath,
gerichtet waren, enthielten zum Theil unverständliche Anspielungen,
Andeutungen und ironische Wendungen und seine Aeusserungen
waren so wenig in einfachen und schlichten Worten abgegeben,
dass sie selbst von dem Konsist. - Rath A., der doch die gesammten
Vorgänge aus der Vergangenheit kannte und an die W.’schen
Redeweisen gewöhnt war, nur unvollkommen verstanden wurden.
So sagt W. in seiner Beschwerdeantwort vom 25. Feb. 1891:
„Herr Lehrer E. hatte, wie er auch schon früher durch sein Verhalten
gegenüber guten, auch unter seiner eigensten Mitwirkung entstandenen Be¬
schlüssen unheilsam überrascht hatte, in zwei letzten Sitzungen der Gemeinde¬
vertretung die Legalität der Versammlung mit nichtigen Gründen angegriffen
nnd mich, wenn auch ohne endgültigen Erfolg, verdächtigt. Das darf er nicht,
er soll auch das nicht, selbst wenn er es mit seinem Altargelübde für verträg¬
lich halten möchte.“ —
„Es ist werthvoll und erwünscht, dass einzelne Männer noch über ihre
eigene Absicht hinaus offenbar werden, und kann ich solches nur fördern.
Ich zweifle es nicht an, dass dieselben in Gemeinschaft mit Herrn D. als ein
vierblättriges Kleeblatt erscheinen. — Des „Kuhstallsgeflüsters“ ist längst genug
geworden, auch des geistesverwandten Geflüsters überhaupt. Von treuen
Männern werde ich auch ferner unterrichtet bleiben, um die Netze zu zerreissen.
— Es wird uns im Sinne des Invaliditäts- und Altersversicherungs¬
gesetzes noch die Fürsorge für einige in unserem Gemeindedienst beschäftigte
Männer obliegen 1 )
An anderer Stelle schreibt W.:
„Aber es genügte dem abwesend gewesenen Dr. B. mit gellender
Stimme zu schreien: „Ich erhebe Protest 1“ —
„Der Möglichkeit der Lüge, die Gemeindevertretung habe mir mit einem
früheren Beschluss ein Misstrauensvotum geben wollen, war vorgebeugt, wo sie
etwa schon in Kurs gebracht war, ein Ende gemacht (Bl. 11)“ —
„Meine Stimmung und Haltung waren auf’s Denkbarste ruhig, und ist es
meinen Gegnern niemals gelungen, mich zu reizen. Immer freilich pflege ich
an die sittliche radix zu gehen oder wenigstens dem clair obscur zu Leibe zu
gehen. (Blatt 11).“ —
„Auch die Beschwerdeführer begeben sich unter den angeblichen Schild
ihrer „Ueberzeugung und Friedens-Liebe“, indem sie nur ihrer Willkühr und
der Befriedigung ihrer demokratischen Neigungen folgen, für das Bischen von
nur scheinbar konservativem Hauch sich auf dem Gebiete der Kirche mit Drang-
salirung des Pfarrers schadlos haltend, mögen sie hierbei den Diakonus als
Gönner oder Handlanger erachten.“ —
„Die Streit-Differenz dreht sich hauptsächlich um das Begehren des
Diakonus, ein nur koordinirter zweiter Vorsitzender für Armenpflege zu werden
und zu diesem Zwecke die Gemeinde zu halbiren und zu zerreissen. Auf seine
*) Ich bemerke hier vorweg, dass W. mir gelegentlich der mit ihm ge¬
führten Unterredungen diese für den Uneingeweihten ganz unverständlichen Aus¬
drücke erklärt und dabei gemeint hat, dass Herr Konsist. - Rath A. dieselben
wohl hätte verstehen müssen. Als ich ihm dann entgegenhielt, dass doch auch
die anderen Mitglieder des Konsistoriums seine Beschwerden lesen und verstehen
müssten, erwiderte er, Herr A. sei Referent und lese sie auch wohl nur allein.
294
Dr. Mittenzweig.
brüskirende Weise pflege ich mich sehr duldsam und schweigsam zu verhalten,
schon um andere nicht in Verlegenheit zu bringen.“ —
„Den stinkenden Sack mit den stinkenden Noten habe ich in der Sitzung
mit Ekel vor der ekelhaften D.’schen Inscenation präsentirt. Der Sack stinkt
weiter im zweiten Konf.-Saal, und schaffe ich ihn anders wohin, da sich nicht
einmal M. seiner erbarmen zu wollen scheint.“ —
„Durch mein Cirkular habe ich, wie ich hoffe, dem „Euhstallgeflttster“
ein Ziel gesetzt. Was ich unter „geistesverwandtem“ Geflüster verstehe, wissen
die Beschwerdeführer am besten. Nötigenfalls könnte ich auch hierüber noch
weiter mich aussprechen.“ —
„Meinen Verstand ausschliessend, haben diese Leute ihren eigenen nicht
unversehrt behalten, sondern geschädigt.“
Unter dem 7. Juli 1891 lief beim Königl. Konsistorium eine
Eingabe von 14 Herren ein, welche sich gegen Herrn D. und
seine Anhänger richtete (Bl. 45—48).
Am 23. Juli beschwerte sich Herr Diakonus H. über W.
Am 31. Juli 1891 fand eine Sitzung des Kirchenraths statt, in
welcher beschlossen wurde, das Konsistorium zu ersuchen, das dem
langjährigen Kirchenkassen - Rendanten Sp. seitens des Pfarrers
W. geschehene Unrecht wieder gut zu machen, und den Pfarrer
W. von seinem Amte als Vorsitzenden der Gemeindekörperschaften
so lange zu entbinden, bis sämmtliche streitige Angelegenheiten
entschieden seien.
W. hatte unter dem 30. Juli 1891 Herrn Sp. aufgefordert,
sein Amt niederzulegen, hauptsächlich wegen seiner Gedächtniss-
schwäche; die wahre Ursache dieser Amtsaufkündigung aber war
der Umstand, dass auch Herr Sp. in der letzten Zeit mit seinem
Pfarrer nicht mehr zu gehen vermochte, ihn nicht mehr unter¬
stützte, sondern anscheinend auf die Seite seiner Gegner trat. Herr
Sp. wird allseitig als braver und harmloser Mann dargestellt, der
sein Amt als Rendant viele Jahre lang mit Treue und Geschick
versehen hatte. Seine brüske Entlassung und W.’s beleidigendes
Auftreten gegen den alten ehrwürdigen Mann scheint in der
ganzen Gemeinde einen grossen Sturm erregt zu haben.
Als ein Beispiel der von W. erlassenen Zirkulare diene fol¬
gendes vom 2. April 1891:
„Nachdem am 12. März die versammelt gewesenen Herren auf Anregung
des Herrn Dr. B. alle, alle gegen mich die Hand erhoben haben, als ob es sich
zugleich um eine recht gefällige Leibesübung handle, ist mein Vertrauen in die
Gesinnung, Einsicht, Fähigkeit und Tüchtigkeit Einzelner zwar noch tiefer herab¬
gestimmt, als es schon vorher der Fall war, und der Bann dieser ohne Ursache
und ohne Befugniss verübten That ruht leider noch auf ihnen fast allen. Es
war ein Verhalten ohne Rücksicht. Aber dies kann mich, da vom Auslande her,
dies Mal in der Aufeinanderfolge Kirchenbauverein — L., Diakon. B. — Gefahr
vor den Thoren steht, nicht zögern lassen, zu einer ausserordentlichen Sitzung
auf heute Donnerstag, den 2. April 7 Uhr Abends, in Hinblick auf Ihre durch
freiwilliges Gelübde übernommenen Pflichten so zusammen zu berufen, einzu¬
laden und zu bitten, als ob keinerlei Zwiespalt uns gegenüber dem Auslände
hemmen könnte . . . tt
Die folgenden Beschwerde - Entgegnungen W.’s vom 27. und
28. August, sowie vom 3. September sind ebenfalls reich an be¬
lastenden Stellen: W. führt ein Beispiel an, dass auch andere
Pfarrer Stellen aus der heiligen Schrift in ihren Artikeln anzögen,
ohne deshalb wie er selbst, einen Vorwurf zu erfahren. (Superint.
Kr.) Er fährt fort:
Ueber Querulantenwahnsinn.
296
„Fürwahr bin ich bereits mehr als genug geschlagen, und die Nämlichen,
die mich schlngen, ermahnten mich zur Friedfertigkeit, im Interesse noch
Anderer, die mich schlagen.“ —
„Mein Amtsbrader B. wusste es damals bereits aas dreier Zengen Mond,
dass er in dieser Beziehung von dem Superint. D. in gar nnnöthiger Weise irre
geführt war.“ —
„H. hatte mich verdächtigt mit einer verleumderischen Erfindung in Kon¬
firmandensachen, zu mir kam Herr Sup. D. nicht, ich hatte den Pfarrer B. nicht
verdächtigt, und zu B. ging der Herr Superintendent, um mich bei B. zu
verdächtigen.“ —
„Neue Konflikte standen in Aussicht. Ich brach ihnen die Spitze ab, ja
beugte ihnen vor und bethätigte zugleich arglos mein damaliges Vertrauen zu
dem Herrn Superintendenten.“ —
„Ich hegte und hob die Autorität des Herrn Superintendenten und habe
die Sache durch ihre Fährlichkeiten hindurchgesteuert.“ —
„Man hatte ein wohl begreifliches Interesse hie und da, mich zu isoliren.
Man hatte zwei Eisen gegen mich im Feuer. Standen mir „Liberale“ bei, cs
ward zu meiner Verdächtigung benutzt, standen sie mir nicht bei, so ward auch
dies ebenmässig benutzt.“ —
„Im Allgemeinen habe ich es mit Verschwörungen zu thun.“ —
„Genug, Herr Sup. D. hat die ersten Quadersteine zum Fundament der
D.’schen Beschwerden vom 2. März mildiglich und frei geliefert.“ —
„Ad I. Ich habe die Herren B. und D. auf ihrem gemeinschaftlichen
schlendernden Wege nicht gesehen. (Bezieht sich auf den späteren Vorwurf,
dass Witte alles auf sich bezöge.) —
„Sollte Herr Konsist.-Rath M., einer meiner Richter, sich zu tief mit D.
eingelassen haben.“ —
„Schon Mancher, der schlecht an mir gehandelt hat, ist dadurch noch
schlechter geworden.“ (S. Motivirung der W.’schen Geisteskrankheit.) —
„Nun aber, zumal er (D.) dem Konsist.-Rath M. nachsagte, dieser habe
ihn am 25./26. November 1889 gefragt, ob denn Nichts gegen mich Seitens der
Gemeinde vorgebracht werden könne.“ —
„Wort für Wort ist eine frevelhafte Verleumdung.“
Ich bemerke hier, dass die D.’schen Beschwerden zurück¬
gewiesen sind, ebenso wie die spätere Beschwerde des Majors
Sch. W. konnte daraus wohl ersehen, dass das Konsistorium und
sein vermeintlicher Gegner, Konsist. - Rath A., die Angelegenheiten
sorgfältig und unbefangen prüften und, wenn er wirklich Recht
hatte, ihm zur Seite traten, selbst noch in diesem Endstadium
seiner Sache. Und doch spricht er wiederholt das Gegentheil
aus, so Bl. 155 e.:
„Dass ich das Buch nicht mit Sanftmuth bekommen, hat sich heraus¬
gestellt, und bis zur Stunde vergeblich ist meine Bitte um eine hochgeneigte,
meinen Schutz einschliessende Intervention geblieben. — Vermöge des in meiner
Vokationsurkunde mir garantirten Schutzes klopfe ich um solchen bittend hier¬
durch ganz gehorsamst nochmals an.“
In den Verhandlungen der Kreis-Synode Berlin II vom
22. Mai 1891 waren die Beschwerden über W. öffentlich zur
Sprache gekommen, und namentlich dieser Umstand hat es bewirkt,
dass seine Angelegenheit schärfer betrieben wurde. Seine Vor¬
gesetzten waren unausgesetzt bemüht, einen Vergleich und einen
Frieden zwischen ihm und dem Gemeinde - Kirchenrath herbeizu¬
führen. Es war vergeblich. W. schien durch die Vorhaltungen
momentan von seinem Unrecht überzeugt zu werden und versprach,
seine Hand zur Versöhnung zu bieten. Aber schnell war solche
Regung verraucht, und die Versöhnung blieb aus.
Es ist für die Beurtheilung W.’s äusserst wichtig, gerade
diese eindringlichen, Stunden langen Unterredungen zu kennen,
296
Dr. Mittenzweig.
um sich zu überzeugen, dass nichts unversucht geblieben ist, um
ihm die Einsicht in sein Unrecht zu bringen. Wir werden später
zu suchen haben, was die Ursache dieses Verhaltens gewesen ist
und noch heute ist.
Bl. 155 g registrirt Herr Konsist. - Präs. Sch. eine solche
Vorhaltung von mehrstündiger Unterredung und schreibt:
„In derselben machte ich ihm hinsichtlich aller von den Betheiligten gegen
ihn geführten Beschwerden ernsteste, ihn in keiner Weise schonende Vorhaltungen,
wies ihn namentlich auf das Nachdrücklichste hin auf das Unzulässige seines
Verhaltens gegen die Aeltesten und bei Leitung der amtlichen Versammlungen,
seiner ewigen Bodens- und Rechthaberrolle, seiner Herrschsucht in der Verwaltung,
seiner Art der Protokollführung, seiner verletzenden und ungehörigen Zirkulare,
seines unangemessenen Auftretens gegen den Rendanten, seines die Thätigkeit
seiner Amtsbrüder verhindernden Verhaltens, sowie auf die Quelle aller dieser
Verfehlungen, welche ich fand in Selbstsucht, Selbstüberschätzung, Lieblosigkeit,
Mangel an Geduld und Friedfertigkeit, Vergessen seines Berufes und der damit
ihm auferlegten Verantwortlichkeit für die Seelen seiner Gemeindemitglieder,
auch der Aeltesten, und in anderen einem Geistlichen als Prediger des Evan¬
geliums Jesu Christi Ubelanstehenden, ja selbst bei jedem sonstigen Christen
verwerflichen Eigenschaften und Beweggründen.
Nachdem er sich lange unausgesetzt vertheidigt und alle Schuld auf
andere geschoben hatte, wobei er immer nur (?) thatsächliche und innere Ver-
theidigungsmoinente vorbrachte, schien er, wenn auch nicht zur Anerkennung
einer Verfehlung, so doch zu ernsterem Nachdenken über das Gesagte zu
kommen, dankte herzlich und offenbar in dem Momente mit voller Aulrichtigkeit
für die ihm gemachten Vorhaltungen und die ganze ihm gewährte Unterredung,
versprach auch Alles ihm Mögliche in der ihm angedeuteten Richtung zu thun,
um den Frieden wieder herzustellen und zu erhalten.“
Ein neuer Vorfall, das Eindringen und die Ausweisung W.’s
aus der D.’schen Versammlung goss Oel in’s Feuer und beschäftigte
die Zeitungen.
Herr Präsident Sch. und Consist. - Rath A. hatten den Gen.-
Superint. Dr. Br. darum gebeten, und auch dieser hatte mit W.
eine eingehende seelsorgerische Unterhaltung gepflogen. Präs. Sch.
hatte sodann eine Zusammenkunft mit dem Kirchenältesten R.,
der sich folgendermassen über die Angelegenheit aussprach (Blatt
326):
W. habe in der Gemeinde nicht, wie er behaupte, grossen persönlichen
Anhang, Liebe und Vertrauen. Man werde sich immer mehr bewusst, dass er
herrscksüchtig sei, es mit der Wahrheit nicht genau nehme, unnöthig schwatzhaft
sich verhalte und dabei die Ehre und den Ruf Dritter nicht schone. Dass das
Verhalten W.’s auf Geisteskrankheit beruhe, wie mehrfach angedeutet werde,
könne er (R.) nicht glauben; W. sei ein überaus gescheuter, bis zur Spitzfindig¬
keit verstandesbegabter Mann, der Fehler beruhe auf moralischer Schwäche.“
Am 17. Dezember wurden W. scharfe und bestimmte Mass-
regeln gegeben und ihm unter dem 21. Dezember bekannt gemacht.
Er erklärte sich bereit, den Anordnungen Folge zu leisten, seine
Verfehlungen anzuerkennen und seinen Gegnern die ihren zu ver¬
geben. Auf den 4. Januar 1892 wurde eine Versammlung be¬
stimmt, in welcher die Versöhnung öffentlich stattfinden sollte.
Das Konsistorium hatte am 17. Dezember diesen Versuch
beschlossen, um W. seiner, wie vermuthet wurde, auf Grössenwahn
und Verfolgungswahn zurückzu führenden Verirrung zu entreissen.
Sollte der Versuch erfolglos sein, so sollte Witte vorläufig sus-
pendirt und ärztlich untersucht werden.
Der Versuch schlug fehl.
Ueber Querulantenwahnsinn.
297
Vorher, nämlich unter dem 19. und 21. Dezember 1891, hatte
W. noch zwei Schreiben an den Ev. Oberkirchenrath gerichtet,
von denen dieser schrieb:
„Der unklare und verworrene Inhalt beider Schriftstücke in Verbindung
mit dem gesummten Verhalten des Pfarrers W. in den letzten Jahren giebt zu
so schweren Bedenken gegen seine Zurechnungsfähigkeit Anlass, dass es uns
angezeigt erscheinen will, durch gerichtsärztliche Sachverständige festzustellen,
ob p. W. nicht etwa wegen Schwäche seiner geistigen Kräfte zu der Erfüllung
seiner Amtspflichten als dauernd unfähig zu erachten sein möchte.“
Der erstgenannte Brief lautet:
„Als eine Art von „öffentlichem Geheimniss“ wird jetzt in Umlauf ge¬
bracht, unseres allergnädigsten Herrn, unseres Kaiser und Königs Majestät habe
Allerhöchst Anstoss genommen an meinen Prozessen.
Begreiflicher Weise würde mir das sehr schmerzlich sein. Ich wäre dann
zunächst ein Opfer entstellender Berichte geworden. Denn menschlicher Weise
kann Sr. Majestät es nur verborgen geblieben sein, mit wie objektiv sowie sub¬
jektiv gutem Grunde ich in meine Prozesse eingetreten bin.
Es wurde eine Mobilmachung aggressiver Kräfte fühlbar. Noch eine
Reihe von Prozessen, lauter unerlässlichen, steht bevor, und sie müssen durch-
gefochten werden.
Dies zu thun, ist ein gottesdienstliches Werk, und Königliche Gerichts¬
behörden sind keine unheiligen Instanzen.
Ich stehe vor manchen Dingen, welche ich als sogen. Unbegreiflichkeiten
bezeichnen möchte.
Von Königlichem Konsistorium werde ich mehrfach wie ein Deliquent
behandelt. Meine Berichte, im Uebrigen wenigstens den Vorzug habend, ab¬
schriftlich in meinen Händen zu sein, werden bemängelt, al£ ob sie keine Be¬
rücksichtigung verdienten, zum Theil sind sie sogar abhanden gekommen. In
Nichts ist mir irgend ein Verstoss nachgewiesen worden. Bisher ist es auch
nicht für erforderlich erachtet worden etc.“
Am Schlüsse der Eingabe bittet W. um Eröffnung der Dis-
ziplinaruntersuchung.
Im Schreiben vom 21. Dezember 1891 zieht er den Antrag
zurück. Am 23. Dezember sendet er an Herrn Konsist. - Rath A.
einen Entwurf zur event. Benutzung als Vorbereitung der Ver¬
sammlung vom 4. Januar 1891, unter Beifügung zweier Briefe,
welche drei Schriftstücke den alten Geist W.’s an der Stirn trugen,
so dass Herr A. antwortete:
„Sehr lieber und geehrter Herr Pfarrer! Durch den Schritt, den Sie mit
Ihren beiden Briefen von gestern gethan haben, bin ich von Neuem in grosse
Sorge um Ihr und Ihrer Familie Wohl gerathen. — Ich glaube kaum, dass
Ihnen noch zu helfen ist; aber denke dabei auch: Herr, hilf meinem Unglauben.“
W. antwortete darauf, er sei zwiefach missverstanden:
„Gleich Ihnen steuere ich auf das Ziel des Friedens hin, beuge mich aber
der ausschliesslich massgebenden und das Steuer führenden Einsicht ohne Weiteres
und mit freudigem Gehorsam.“
Und gleichwohl, trotz dieser Versicherung, fügte er sich am
4. Januar 1892 nicht, sondern verhinderte die Versöhnung durch
ein halsstarriges Festhalten an seinem angeblichen Rechte und
durch Mangel an Entgegenkommen hinsichtlich Beilegung der Be¬
leidigungen und Prozesse. Auch im Uebrigen verstand er sich
nirgends zu einem wirklichen Bekenntniss seiner Schuld, behauptete
vielmehr, überall in seinem vollen Recht gewesen zu sein und
war nur vom Standpunkte äusseren Gehorsams bereit, weiterhin
das zu meiden, was von dem Konsistorium verboten sei. Am
7. Januar 1892 legte W. Protest gegen seine Suspension ein.
Unter dem 11. Januar 1892 sendet er einen Bericht, betreffend
298 Dr. Mittenzweig: Ueber Qaerulantenwahnsinn.
die Ang-elejrenheit der Konfirmanden des Pfarrers W. an das
Konsistorium; unter demselben Datum einen zweiten Bericht mit
einem Zeitungsartikel, in welchem seine Ehefrau der Agitation in
der Konfirmanden-Angelegenheit bezichtigt wird. Er verwahrt
sie dagegen, aber mit dem Hinzufügen: „Hätte meine Frau das
gethan. was ihr beigemessen wird, so hätte sie freilich nur Gutes
gethan.“
Am 16. Januar 1892 erfolgte die Amtsentsetzung wegen
Geistesschwäche mit der oben angegebenen Motivirung in Folge
Beschlusses des Konsistoriums vom 14. Januar.
Noch am 4. Januar hatte W. angefragt, ob die Suspension
sich auch auf den Konfirmanden-Unterricht erstrecke, am 6. Jan.,
ob dies der Fall sei für Sterbende, die das heilige Abendmahl
verlangten.
Am 6. Januar neue Anfrage wegen des Konfirmanden - Unter¬
richts ; am selben Tage Eingabe bezüglich seiner Gegner.
Am 7. Januar Eingabe, betreffend Einleitung der Disziplinar-
untersuchung.
Am 9. Januar Eingabe, betreffend weitere Zerstörungen des
Gemeindelebens. Diese Eingabe verräth auch W.’s Antheil an
den Agitationen gegen die Pastoren H. und S., so z. B. in den
Worten: „Natürlich ist es gegen mein Gewissen, ihnen für ihre
Seelen solche Persönlichkeiten wie den Diakonus H. und Hülfs-
prediger S. zu empfehlen.“
Am 14. Januar Eingabe, betr. die D.’sche Klage (Vergleich).
Am 15. Januar Eingabe, betreffend den Notensack des M.
Am 15. Januar Eingabe, betreffend den Hülfsprediger S.
Am 26. Januar Eingabe, betreffend das St.-D.’sche „Volk“.
Fernere Eingaben sind von W. ergangen am 19., 22., 23.,
27. Januar je eine.
Er greift das Konsistorium und Herrn Konsist. - Rath A. an
(Bl. 446).
Bl. 447 und 448 sagt W.:
„Einer der von mir behufs meines Schutzes gegen die „geistliche“ Ver¬
gewaltigung besuchten Irrenärzte sagte mir etc.“ —
„Die Konsistorialherren Sch. und A. sind mir nicht geborene Väter, ich
ehre sie ira gesetzlichen Rahmen als mir Vorgesetzte Beamte, wenigstens den
Herrn Präsidenten Sch. — Aber vergreifen sollen und dürfen sich solche
Beamte nicht an mir. — Ich hatte ursprünglich mit Schwierigkeiten vom Konsist.-
Rath M. her zu ringen. Nun aber ist seitens des Königl. Konsistoriums noch
weit Schlimmeres geschehen. Gross und Klein sucht man gegen mich einzu-
sclmchtern. Grausam gegen mich handelnd, nimmt man das Wort „Liebe“ in
den Mund. Prozesse zu führen sei gegen die Liebe. Mir aber den Prozess zu
machen, streitet nicht gegen ihre Liebe. — D. und die anderen Konsistorial-
Lieblinge.“ —
„Man hat mich darin nicht verstehen wollen, dass Prozessftthrung, nament¬
lich wenn die zum Schutze berufenen Beamten mit den Gegnern des Schutz¬
suchenden wie freundschaftlich intim werdeu, etwas Unerlässliches, ja ein gottes¬
dienstliches frommes Werk sei, und mir liegt es fürwahr nicht ob, mich hierin
noch erst verständlicher machen zu sollen.“
Und ferner Bl. 456:
„Ich bin prozcssäüchtig. Meine Prozesse führe ich der Noth gehorchend,
nicht dem eigenen Triebe. — Wie ich schon wiederholt ausgesprochen habe,
liegt es mir nicht daran, meine Gegner durchaus bestraft zu sehen. Vielmehr
Zar Medizinalreform.
299
and wesentlich kommt es mir darauf an. dass die Thatsachen klar gestellt
werden und dass die Würde meines Amtes und meiner Person und nicht an
letzter Stelle die meiner Vorgesetzten Behörde nicht ohne die unerlässliche Ge-
nugthuung bleibe. Würden nur beide Theile gehört, so würden die hohen
Behörden nicht länger mehr das Opfer bitterböser Täuschungen bleiben,
Täuschungen, durch welche ein gerechtes Urtheil über mich aufs Empfindlichste
erschwert geblieben ist.“
Nachträglich hat W. noch mehrere Gesuche an den Evang.
Oberkirchenrath und an den Herrn Minister des Innern gerichtet.
Das eine Gesuch an den Evang. Ober-Kirchenrath umfasst 110
Folioseiten und wendet sich sehr eingehend gegen seine Suspension
und Emeritirung. Alle sind in demselben Sinne verfasst.
Auf die Aussagen des Herrn Konsist.-Rath A. (Bl. 439)
komme ich später zurück. (Fortsetzung folgt.)
Zur Medizinalreform.
Die Frage der Medizinalreform ist in jüngster Zeit wiederum
aus Anlass der vom Grafen Douglas im Abgeordnetenhause ein-
gebrachten Interpellation, betreffend Massregeln zur Bekämpfung
der Cholera, Gegenstand der Besprechung in der politischen Presse
gewesen. So schreibt die Vossische Zeitung in ihrer Morgenaus¬
gabe vom 7. d. M.
„Bei den Erörterungen, die in Hinsicht darauf bisher in der Presse ge¬
pflogen worden sind, wird zumeist als Kernpunkt der ganzen Angelegenheit die
Besoldung der Kreis-Physiker hingestellt. Die Kreis - Physiker müssten, so hört
man sagen, höher besoldet werden. Am besten wäre es, wenn man ihnen ein
so hohes Gehalt zuwiese, dass sie die private Praxis ganz entbehren könnten.
Sie könnten dann gehalten werden, ihre ganze Thätigkeit der Ausübung ihreB
Staatsamtes zu widmen. Gegen diese Anschauungen kann nicht dringend genug
angekämpft werden. Sie fassen die Lage der Dinge in ganz falschem Lichte
auf. Zuzugeben ist, dass die Besoldung der Kreis - Physiker im Verhältniss zu
ihren Aufgaben überaus gering ist. Durch die Erhöhung der Besoldung wird
aber die jetzige Unzulänglichkeit der Medizinal - Verwaltung nicht gehoben
werden. Die Stelle, an der bei der Neuordnung anzusetzen ist, liegt auf ganz
anderem Gebiete, in der jetzt üblichen Vorbildung der preussischcn Medizinal-
Beamten. Ursprünglich wurde von den Physikats - Kandidaten wenig mehr als
etwas Kenntniss der gerichtlichen Medizin verlangt. Später sind die Anforde¬
rungen gesteigert worden. Es wurden die Anforderungen in den bisherigen
Prüfungsfächern, in der gerichtlichen Medizin, Psychiatrie, Hygiene und Sanitäts¬
polizei erhöht; ausserdem kam noch die pathologische Anatomie vornehmlich auf
Virchow’s Betreiben als neuer Prüfungsgegenstand hinzu. Das Wesentlichste
aber ist, dass jetzt in der Hygiene lediglich theoretische Kenntnisse, und nicht
praktische Fertigkeiten verlangt werden. Es kann jemand mit einem Physikat
belehnt werden, der noch niemals z. B. eine Luft- oder Wasseruntersuchuug aus¬
geführt hat. Das thatsächlich auch, entsprechend der Eigenheit der Prüfungs¬
vorschriften, viele Physiker mit der Praxis der hygienischen Untersuchuugsmethode
nur ganz unzulänglich oder gar nicht vertraut sind, ist schon mehrfach zu Tage
getreten. Insbesondere führt Prof. Rubner, Ordinarius für Hygiene an der
Berliner Universität, im Klinischen Jahrb. darüber Klage, dass die Sanitätsberichte
schwere Mängel in dieser Hinsicht anfweisen. Bekanut ist ferner, dass das
preussische Medizinal - Ministerium es ganz ablehnte, die bakteriologische Unter¬
suchung in Cholerafällen den Kreis-Physikern zu überlassen; dass sie diese
vielmehr anwies, in jedem Falle die Hülfe eines bakteriologischen Universitäts-
Institutes oder eines Militär-Sanitätsamtes in Anspruch zu nehmen. Was noth
thut, das ist vor allem, dass die Medizinalverwaltung den Amtsärzten und den¬
jenigen Aerzten, die in die Physikatslaufbahn eintreten wollen, Gelegenheit zur
gründlichen praktischen Ausbildung in den in Frage kommenden Gebieten giebt.
300
Zur Medizm&lrefortn.
Za diesem Zwecke müsste cs ihnen ermöglicht werden, ohne die beträchtlichen
persönlichen Aufwendungen, die jetzt nöthig sind, an den gerichtsärztlichen,
hygienischen und bakteriologischen Kursen theilzunehmen. Zum Vorbilde könnten
dem Ministerium die entsprechenden Veranstaltungen der Militär-Medizinal-Ver-
waltung dienen. Sodann wäre es förderlich, von dem Physikats-Kandidaten eine,
wenn auch kurze, praktische Dienstleistung im Medizinalwesen (sie könnten
Kreis - Physikern und Regiarungs - Medizinalräthen als Assistenten beigegeben
werden) zu verlangen. Den Physikern die Ausübung der Praxis ganz zu ver¬
bieten, ist zu widerrathen, weil sie dann allzu leicht jede Fühlung mit ärztlichen
Dingen verlieren. An Medizinalbcamten und Universitätslehrern wird gerade die
Entfremdung von der ärztlichen Praxis sehr unliebsam bemerklich.“
Wenn der vorstehende Artikel von einigen Zeitungen als
„offiziös“ bezeichnet wird, so befinden sich diese jedenfalls in einem
grossen Irrthum, denn dazu ist der Inhalt des Artikels viel zu
unlogisch und zeigt zu wenig Vertrautheit mit den einschlägigen
Verhältnissen. „Gegen die Anschauung, dass die Medizinalbeamten
höher besoldet werden sollen, damit sie ihre ganze Thätigkeit der
Ausübung ihres Staatsamtes widmen können, kann nicht dringend
genug angekämpft werden“ sagt der angeblich offiziöse Verfasser,
gleichwohl fordert er aber, dass die Physiker in allen hygienischen
Untersuchungsmethoden geübt sind und dieselben ausführen können.
Nun, zur Ausführung derartiger Untersuchungen gehört bekannt¬
lich nicht nur Uebung und Erfahrung, sondern vor allem auch recht
viel Zeit, besonders wenn man keinen Assistenten hat, wie die
Herren Professoren in den Instituten, sondern alles allein be¬
sorgen muss. Sollen vielleicht diese Untersuchungen von den Phy¬
sikern auch noch bei einem Gehalt von 900 Mark, den der Ver¬
fasser schon jetzt den an die Physiker gestellten Aufgaben gegen¬
über als zu gering bezeichnet, übernommen werden? Und wo bleibt
dann die Zeit zur Privatpraxis, wovon sollen sie und ihre Fami¬
lien leben? Die Medizinalreform ist unseres Erachtens in erster
Linie eine Geldfrage, d. h., die Physiker müssen derartig
besoldet werden, dass von ihnen alle diejenigen Aufgaben ge¬
fordert werden können, die im Interesse der öffentlichen Gesund¬
heitspflege gefordert werden müssen, und dazu rechnen auch wir
die Ausführung der hauptsächlichsten hygienischen Untersuchungen.
Aber mit der Regelung der Besoldung muss auch die Re¬
form der amtlichen Stellung der Physiker Hand in Hand
gehen. Es müssen ihnen ähnliche Machtbefugnisse eingeräumt
werden, wie z. B. den Gewerbeinspektoren; denn zur Zeit fehlt
ihnen das Recht jeden selbstständigen Vorgehens, sie sind ledig¬
lich auf die Requisition der unteren Polizeibehörden angewiesen,
ihre ganze amtliche Stellung ist eine nebensächliche und hat kaum
Aehnlichkeit mit derjenigen eines Beamten, wie dies auch
von dem Kollegen Dr. Fielitz auf der letzten Hauptversammlung
des Preuss. Medizinalbeamten Vereins in zutreffender Weise aus¬
geführt ist.
Auch der von dem Verfasser den Medizinalbeamten gemachte
Vorwurf in Bezug auf die Unzulänglichkeit ihrer Kenntnisse trifft
in keiner Weise zu. Die anerkennenden Worte, die im Jahre 1889
Minister v. Gossler im Abgeordnetenhause über die Thätigkeit
der Medizinalbeamten äusserte: „Es ist auf unsere Medizinalbe-
Zur'Medizinalreform.
301
amten ein neues Leben mit frischer Kraft übergegangen, — es
besteht bei ihnen durchweg ein lebendiger Sinn, ein volles Ver-
ständniss für die grösseren Aufgaben der Medizinalpolizei in der
modernen Ausgestaltung“, sind seitdem von höchster und mass¬
gebender Stelle mehrfach bestätigt worden. Mit nicht hoch
genug zu schätzendem Eifer und Fleiss haben sich die Medizinal¬
beamten gerade in den letzten Jahren bemüht, den überaus schnellen
Fortschritten der Bakteriologie und Hygiene zu folgen und kein
Opfer gescheut, um sich auf diesem Gebiete das Nöthige anzu¬
eignen. Aber was hilft ihnen denn alles wissenschaftliche Streben,
was hilft ihnen die mit schweren pekuniären Opfern erkaufte Theil-
nahme an den Fortbildungskursen, die Anschaffung theurer Instru¬
mente u. 8. w., wenn sie in Folge ihrer ungenügenden amtlichen
Stellung keine Gelegenheit haben, das Geleimte wieder praktisch
zu verwerthen? Man gebe den Medizinalbeamten daher nur erst
einmal die erforderliche unabhängige, mit entsprechenden Befug¬
nissen und mit entsprechendem Gehalte ausgestattete amtliche
Stellung, sie werden derselben schon voll und ganz gerecht
werden!
Der Ansicht von der ungenügenden Ausbildung der Medizinal-
Beamten kann nicht scharf genug entgegengetreten werden. Es
scheint, als ob dieselbe besonders in gewissen Professoren-Kreisen
ihre Stütze findet; den Herren Theoretikern ist es vielleicht unan¬
genehm, wenn sich die Medizinalbeamten den täglich neu auf¬
tauchenden, im Reagenzglase gewonnenen Forschungsresultaten auf
bakteriologischem und hygienischem Gebiete gegenüber skeptisch
verhalten, besonders, wenn diese mit iliren langjährigen, praktischen
Erfahrungen im Widerspruche stehen; aber man wird sich in den
betreffenden Kreisen daran gewöhnen müssen, dass erfahrene Männer
nicht wie junge Studenten in verba magistri schwören!
Dabei wollen wir allerdings den Werth der Fortbildungskurse
für die Physiker keineswegs unterschätzen; wir stimmen mit dem
Verfasser des Artikels auch dahin überein, dass es nicht ange¬
zeigt erscheint, den Physikern die Ausübung der Praxis ganz zu
verbieten; die letztere muss nur künftighin nicht mehr die Haupt-
thätigkeit des Physikus wie bisher bilden, sondern erst in zweiter
Linie kommen. In zutreffender Weise wird dies in einem anderen,
von den politischen Blättern soeben gebrachten Artikel ausgeführt,
der folgendermassen lautet:
„Bei der Medizinalreform, die der jetzige Minister der Medizinal-
angelegenheiten in Angriff zu nehmen ernstlich Willens ist, handelt es sich um
die Ausführung eines in seinen Grundzügen seit Langem feststehenden Planes.
Vor Allem gilt es, die Stellung der Medizinalbeamten aufzubessern und auf der
einen Seite ihre Befugnisse, auf der andern ihre Pflichten zu erweitern. Dass
es in der Absicht liege, die Stellen der Kreisphysiker pensionsfäbig zu machen,
wurde bereits mitgetheilt. Strittig ist noch die Frage, ob die betreffenden Be¬
amten berechtigt bleiben sollen, Privatpraxis neben der amtlichen beizubehalten.
Doch neigt die Mehrheit der zuständigen Berather entschieden der Ansicht zu —
und der Minister scheint ihnen unbedingt Recht zu geben —, dass es nicht nur
gestattet bleiben müsse, sondern geradezu erwünscht sei, wenn die Kreisphysiker
auch nach Aufbesserung Ihrer Stellen und einer anderen Umgrenzung ihres Be¬
rufskreises Privatpraxis ausüben. Allerdings wird die letztere in vielen, um
nicht zu sagen den meisten Fällen denjenigen Umfang nicht mehr haben, wel-
302 Bericht über die XV. Jahressitzung des Vereins Deutscher Irrenärzte.
chen sie bis jetzt besitzt. Damit fällt dann aber auch die stellenweise übergrosse
Konkurrenz fort, welche den Privatärzten durch die Kreisphysiker gemacht wird.
Sobald das im Entwurf bekannte Reichsseuchengesetz zur Verabschiedung gelangt,
ist die Durchführung der Medizinalreform unerlässlich. Dass dieselbe auch dann
noch an dem nothwendigen Mehrerforderniss an Geld scheitern würde, ist um so
weniger anzunehmen, als der nöthige Betrag sich auf nur etwa eine Million
beziffert.“
Wie im Kultusministerium die Regelung der Frage gedacht
und beabsichtigt ist, darüber wird jedenfalls die demnächstige Be-
rathung über die Douglas’sehe Interpellation Aufschluss geben.
Nach allen bisher in dieser Hinsicht von massgebender Stelle aus
abgegebenen Erklärungen dürfte die Entscheidung im Sinne des
zuletzt erwähnten Artikels und damit auch dem Wunsche der
Medizinalbemten gemäss ausfallen. Rpd.
Bericht über die am 25. u. 26. Mai d. J. in Frankfurt a. M.
stattgehabte XV. Jahressitzung des Vereins der Deutschen
Irrenärzte.
„Psychiatrie und Seelsorge“ hiess das erste Verhand¬
lungsthema der diesjährigen Jahressitzung des Vereins der
Deutschen Irrenärzte, welche am 25. und 26. Mai d. J. in
Frankfurt a. M. stattfand. Die Wichtigkeit dieses und des fol¬
genden Verhandlungsgegenstandes: „Die Bestrebungen zur
Abänderung des Verfahrens bei der Anstaltsaufnahme
und bei der Entmündigung der Geisteskranken“ hatte
das Preussische Kultusministerium bewogen, zwei Vertreter, Min.-
Direktor Dr. Bartsch und Geh. Ober-Md. - Ratli Dr. Schönfeld,
zur Sitzung zu entsenden. —
Bei beiden Gegenständen handelte es sich vorzugsweise um
Abwehr der Angriffe, der gegen die Irrenärzte, gegen Richter
und Sachverständige, und gegen die wissenschaftliche Psychiatrie
gerichtet werden. Sie gehen in erster Linie von der orthodox¬
kirchlichen Partei aus, welche behauptet, dass in den Irrenan¬
stalten, soweit sie unter ärztlicher Leitung stehen, die Einwirkung
der Kirche, die Seelsorge, gehemmt und unmöglich gemacht werde,
und- welche bestrebt ist, die Pflege und Behandlung aller Geistes¬
kranken in die Hand der Kirche zurückzubringen, der sie ge¬
bühre und gehöre.
Der Unterzeichnete Referent, welcher das erste Thema be¬
sprach, zeigte an der Hand der Geschichte der Psychiatrie, wie
die nach langen Kämpfen endlich überwundenen theologischen An¬
schauungen, welche die Psychosen auf den Ausfluss der Sünde, des
Besessenseins von Dämonen und vom Teufel zurückführen, jetzt
wieder ihr Haupt erheben, um die Wissenschaft zum Stillstand
und zur Umkehr zu zwingen und um alle Fortschritte der Huma¬
nität, wie sie die ärztliche Auffassung der Seelenstörungen den
unglücklichen Kranken gebracht hat, wieder in Frage zu stellen.
In ihren Angriffen ist den orthodoxen Gegnern jedes Mittel recht.
Durch eine Blumenlese aus ihren Schriften und ihren Agitations-
Bericht Aber die XV. Jahressitzung des Vereins Deutscher Irrenärzte. 303
Kundgebungen illustrirte der Redner ihr Verfahren. Er schilderte
sodann die positiven Erfolge, welche diese kirchliche Partei und
die mit ihr verbundene innere Mission auf dem Gebiete der Irren¬
pflege, der Pflege der Epileptiker und der Idioten thatsächlich
schon erreicht hat; mit Zahlen wurde nachgewiesen, welche grosse
Ausdehnung die pastoralen Anstalten bereits erfahren haben, ins¬
besondere in Preussen nach dem Inkrafttreten des Gesetzes vom
11. Juli 1891 über die erweiterte Armenpflege. — Fragt man nun,
nach welchen Anschauungen und wissenschaftlichen Grundsätzen
diese vielen Kranken beurtheilt und also auch behandelt werden,
so findet man, dass abstruse philosophische Theorien und fanatisch¬
religiöse Doktrinen an die Stelle der humanen psychiatrisch - medi¬
zinischen Maxime treten, dass die Irren für ihr Thun verantwort¬
lich gemacht und als Solche angesehen werden, in welchen das
Böse oder „Der Böse“ mächtig ist. — In eigentümlichem Gegen¬
satz zu der bereits erreichten Ausdehnung der pastoralen Irren¬
pflege steht der Mangel an Staatsaufsicht, welcher bei den meisten
derartigen Anstalten Statt hat, der Mangel an Verpflichtungen,
zur Aufnahme gefährlicher oder störender Kranker, das absolute
Befreitsein von einer staatlichen Kontrole ihrer Ausgaben und Ein¬
nahmen, obwohl sie doch — ganz abgesehen von den grossen Dar¬
lehen der Provinzial-Verwaltungen — öffentliche, ihnen aus den
konzessionirten Kollekten zufliessende Gelder verbrauchen.
Es sind daher die so charakterisirten Bestrebungen von Seiten
des Staates und von Seiten aller Aerzte, welche eB wohl meinen
mit ihrer Wissenschaft, mit der Ehre ihres Standes, und mit dem
Wohl der Geisteskranken, auf’s energischste zu bekämpfen.-
Geh. Med.-Rath Dr. Zinn-Eberswalde, als Korreferent, er¬
klärte sich mit den Ausführungen des Referenten völlig einver¬
standen. Er machte den ganzen Verband Deutscher evang. Irren¬
seelsorger mit verantwortlich für die Lehren und Massnahmen der
orthodoxen Führer v. Bodelschwingh, Hafner und Genossen,
falls er nicht bald öffeutlich klare Stellung dazu nehme. Sodann
kennzeichnete er den Gegensatz, in welchem der gegenwärtige
Stand der Sache zu den altbewährten Grundsätzen der preussischen
Regierung steht, wie sie in dem Erlass des Ministers v. Harden¬
berg an Dr. Langermann zu Anfang dieses Jahrhunderts
niedergelegt sind. Die Irrenärzte ihrerseits stehen noch ganz auf
dem Boden der darin angegebenen Grundsätze, dass der Arzt jedes
Mal angeben solle, bei welchen Kranken es der Seelenzustand
zulässt, dass ihnen religiöser Zuspruch und Ermunterung zu Theil
wird, und dass die Irrenheilkunde ein Theil der Medizin ist, welche
im innigen untrennbaren Zusammenhänge zur Gesammt - Medizin
steht. Zinn ging dann auf die Behandlung der Geisteskranken
in den Anstalten mit Diakonen und Diakonissen als Pflegepersonal
ein und beweist aus Thatsacken, dass das gewohnheitsmässige
Austheilen von Prügeln seitens dieses Personals die Konsequenz
der kirchlich - psychiatrischen Anschauungen sei. Auch Zinn richtet
zum Schluss eine Mahnung an die jüngere Generation der Aerzte,
304 Bericht über die XV. Jahressitzung des Vereins Deutscher Irrenärzte.
keine Stellen an solchen von Geistlichen geleiteten Anstalten
anzunehmen. —
Die ausserordentlich zahlreiche Versammlung nahm hierauf
einstimmig die vorher von den Referenten und dem Vorstande ver¬
einbarten Thesen an, zu denen auch ein anwesender langjähriger
Irrenseelsorger seine Zustimmung erklärte. Dieselben lauten wie
folgt:
„I. 1) Das Irresein ist eine Krankheit des Gehirns und des Nerven¬
systems; der Irre ist ein Kranker, der für sein Thun und Lassen verantwort¬
lich nicht gemacht werden kann.
Der von den Pastoren v. Bodelschwingh, Hafner und Genossen
vertretene Standpunkt, welcher die dem Irrsein zu Grunde liegende Krankheit
auf den Begriff der Sünde und des Besessenseius zurückführen, den Irren
als „dämonisch“ krank geworden und „für sein Thun und Lassen verant¬
wortlich“ erklären will, steht im Widerspruch mit den durch Wissen¬
schaft und Erfahrung unanfechtbar sichergestellten Thatsachen
und in schroffem Gegensätze zur Kechtspflege, Gesetzgebung und
öffentlichen Meinung alller Kulturstaaten der Welt.
2) Die Lehre der Pastoren v. Bodelschwingh, Hafner und Ge¬
nossen ist nur geeignet, alte Vorurtheile neu zu beleben, einen Gegensatz
zwischen dem Anstaltsgeistlichen und der ärztlichen Oberleitung zu schaffen, ein
gedeihliches Zusammenwirken beider zu erschweren und die unglücklichen
Kranken und ihre Familien aufs schwerste zu schädigen.
Diese Lehre, praktisch bethätigt, würde nothwendig zur Verkehrung
des Charakters der Irrenanstalten in den von Strafanstalten, zur Be¬
strafung der Geisteskranken, zum Exorcismus und schliesslich zu den
Hexenprozessen des 16. und 17. Jahrhunderts führen.
In den Konferenzen des „Verbandes deutscher evangelischer Irrenseel¬
sorger“ ist gegen die Lehren und Forderungen der Pastoren v. Bodelschwingh
und Genossen nur ganz vereinzelter Widerspruch erhoben, aber ein Beschlnss
nicht gefasst worden. Es ist um so mehr Pflicht des Verbandes deutscher
evangelischer Irrenseelsorger — wenn er nicht mitverantwortlich sein will —
endlich öffentlich klare Stellung zu der Lehre, den Bestrebungen und Forde¬
rungen der v. Bodelschwingh, Hafner und Knodt zu nehmen, als
diese Herren, soweit bekannt, den Verband gegründet und dessen Leitung in
Händen haben.
3) Nicht unter ärztlicher Leitung und Verantwortung stehende An¬
stalten für Geisteskranke — einerlei, ob dieselben heilbar oder unheilbar
sind —, für Epileptische und für Idioten entsprechen nicht den Anforde¬
rungen der Wissenschaft, Erfahrung und Humanität und können deshalb als
„zur Bewahrung, Kur und Pflege dieser Kranken geeignete Anstalten“,
auch im Sinne des Preussischen Gesetzes vom 11. Juli 1891, nicht betrachtet
werden.
Unheilbare Geisteskranke bedürfen der ärztlichen Fürsorge nicht minder
als die heilbaren.
4) Es ist deshalb Pflicht des Staates, der Provinzial- und Kreisverbände,
die hülfsbedürftigen Geisteskranken, Epileptischen und Idioten in eigenen,
unter ärztlicher Leitung und Verantwortung stehenden Anstalten
zu bewahren, zu behandeln und zu verpflegen.
5) Alle im Besitz von Privaten oder religiösen Genossenschaften befind¬
lichen Anstalten der genannten Art müssen unter verantwortliche ärztliche
Leitung und unter besondere Aufsicht der Staatsbehörde ge¬
stellt werden.
6) Als leitende und für die Leitung verantwortliche Aerzte
dürfen nur psychiatrisch theoretisch und praktisch vorgebildete Aerzte
angestellt werden. Ihre Anstellung an im Besitz von Privaten oder von religiösen
Genossenschaften befindlichen Anstalten bedarf, wie ihre Dienstanweisung, der
Genehmigung der Staatsbehörde.
7) Die fernere Annahme einer Stelle an einer nicht unter ärztlicher
Leitung stehenden Anstalt durch einen Arzt widerstreitet dem öffentlichen
Interesse und der Würde des ärztlichen Standes.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
305
II. 1) Die an den Irrenanstalten angestellten Geistlichen werden überall
in Deutschland von den Direktoren und Aerzten „in ihrer Thätigkeit ge¬
würdigt und unterstützt“, sofern dieselben das „Maasa und die Art
pastoraler Einwirkung den ärztlichen Vorschriften unterordnen.“
Die deutschen Irrenärzte erkennen es als ihre Pflicht an, das religiöse
Bedürfniss ihrer Kranken befriedigen zu lassen, sie sind einmüthig der Ueber-
zeugung und handeln demgemäss, dass an Irrenanstalten den Kranken eine
ausreichende Seelsorge nicht fehlen dürfe, dass aber der Umfang und
die Art derselben von der Weisung des leitenden Arztes abhängen
müsse und nur im Einvernehmen mit demselben erfolgen könne, dass dieselbe
aber überall da zu gestatten sei, wo ein Nachtheil für den Eiranken nach pflicht-
gemässem Ermessen des Arztes nicht zu befürchten ist.
Die deutschen Irrenärzte weisen die Behauptung der Pastoren v. B o d e 1 -
schwingh und Genossen, dass in den Irrenanstalten die Einwirkungen der
Kirche auf die Kranken wesentlich beeinträchtigt, und die Kranken des ihnen so
nöthigen religiösen Trostes oft in unverantwortlicher Weise beraubt seien als
eine Unwahrheit zurück.
2) Die Anstalten sollen für Kranke aller Konfessionen bestimmt sein,
sogenannte konfessionelle Anstalten sind nicht zu empfehlen.
Für den Wartedienst in den Anstalten sind Angehörige religiöser Ge¬
nossenschaften oder Orden mit Rücksicht auf die nothwendige einheitliche
ärztliche Leitung ebenfalls nicht zu empfehlen.
Die Behauptung jedoch, dass die Irrenärzte aus dem persönlichen
Grunde der Einführung dieses Personals widerstrebten, weil sie dadurch „etwas
von ihrer Macht aus der Hand geben müssten und von ihnen damit eine Ent¬
sagung gefordert würde, die gerade dem Arzt einer Irrenanstalt nicht ganz
leicht sei“, müssen wir als eine unbegründete Verdächtigung ablehnen.
Nur die Rücksicht auf das Wohl der Kranken, nicht aber persönliche
Rücksicht oder der persönliche religiöse Standpunkt ist für unsere Entscheidung
massgebend. Die deutschen Irrenärzte thun, was ihre Pflicht ihnen vorschreibt;
die Erfüllung einer Pflicht hat für dieselben weder „etwas Bedenkliches“, noch
wird sie von ihnen als „Entsagung“ empfunden.“ Dr. Siemens-Lauenburg.
(Schluss folgt.)
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Ueber den augenblicklichen Stand der bakteriologischen Cholera¬
diagnose. Von Prof. Dr. K. Koch. Zeitschrift für Hygiene und Infektions¬
krankheiten; 1893, XIV. Bd., 2. H., S. 319.
„Wir können es jetzt wohl als eine feststehende Thatsache ansehen, dass
die Cholerabakterien unzertrennliche Begleiter der asiatischen Cholera sind und
dass der Nachweis derselben das Vorhandensein dieser Krankheit mit unfehlbarer
Sicherheit beweist“, mit diesem Satze beginnt Koch seine neueste Abhandlung,
fügt aber in Anmerkung ausdrücklich hinzu, dass das Fehlen oder vielmehr das
Nichtauffinden der Cholerabakterien in einem cholcraverdächtigen Falle keines¬
wegs unter allen Umständen das Nichtvorhandensein der Cholera beweist, da
ebenso wie bei anderen durch Mikroorganismen bedingten Infektionskrankheiten
einzelne Cholerafälle Vorkommen können, die man wegen ihres sonstigen Ver¬
haltens als unzweifelhafte Choleraerkrankungen ansehen muss, bei denen aber
entweder wegen mangelhafter Befähigung der Untersuchenden oder wegen nicht
rechtzeitiger Untersuchung Kommabazillen nicht gefunden werden. In allen
zweifelhaften Erkrankungsfällen ist somit der Nachweis der Cholerabazillen für
die Diagnose von grösster Bedeutung und daraus ergiebt sich der grosse Werth
der bakteriologischen Untersuchung für die Bekämpfung der Cholera. Sie setzt
uns in den Stand, der „Seuche auf Schritt und Tritt entgegenzutreten und sie
gerade dann zu bekämpfen, wenn sie gering und schwach ist, und von welchem
bedeutenden Nutzen diese Art der Choleraprophylaxis ist, welche sich gegen die
einzelnen Fälle richtet, hat der bisherige Verlauf der Epidemie in Deutschland
in unzweifelhafter Weise erkennen lassen.“
Um den Werth der bakteriologischen Diagnose vollständig ausnutzen zu
306
Kleinere Mittheilongen und Referate aus Zeitschriften.
können, ist aber eine schnelle und sichere Ausführung derselben durchaus noth-
wendig, denn sowohl die Ausbreitung der Cholera im Orte des Ausbruches selbst,
als ihre Verschleppung nach anderen Orten geht meist so schnell vor sich, dass
die Verzögerung der Massregeln um einige Tage, selbst um einen Tag, das
schwerste und nicht wieder gut zu machende Unheil anrichten kann. Die bak¬
teriologische Technik muss auch im Stande sein, die leichtesten Fälle asiatischer
Cholera zu diagnostiziren, bei denen also keine merkbare Krankheitssymptome vor¬
handen und selbst die Dejektionen scheinbar von normaler Beschaffenheit sind.
Leider werden derartige Erkrankungen wohl kaum zur amtlichen Kenntniss und
damit zur bakteriologischen Untersuchung gelangen; gerade deshalb werden sie
aber auch künftighin eine grosse Gefahr für die Weiterverbreitung der Seuche
bilden, die sich trotz aller Vorsichtsmassregeln nicht völlig vermeiden lässt.
Das bisherige Gelatineplatten-Verfahren zum Nachweis der Cholerabazillen
hatte den Fehler, dass es zu lange Zeit, mindestens 2 Tage, beanspruchte und
ausserdem in denjenigen leichten Erkrankungszufällen, wo in den Dejektionen
nur wenige Bazillen vorhanden sind, im Stich liess. Man hat daher von allen
Seiten nach Verbesserungen des Verfahrens gesucht und sind diese Bestrebungen
nicht ohne Erfolg geblieben. Der eine hat dieses, der andere jenes Scherflein
hierzu beigetragen, und ist auf diese Weise eine Untersuchungsmethode zur
Ausbildung gelangt, die gegen die früheren als ein wesentlicher Fortschritt be¬
zeichnet werden muss und daher auch den weitesten Kreisen zugänglich gemacht
zu werden verdient.
Das Verfahren, das zur Zeit im Institut für Infektionskrankheiten geübt
wird und sich auf Grund umfangreicher Erfahrungen als erprobt erwiesen hat,
ist nach Koch folgendes:
Zunächst werden aus dem Darminhalte mikroskopische Präparate,
womöglich von Schleimflocken angefertigt, mit verdünnter Ziehl’scher Fuchsin¬
lösung gefärbt und untersucht. Zeigt sich in denselben die charakteristische
Anordnung der Cholerabakterien in Häufchen oder Schwärmen, in denen die Ba¬
zillen sämratlich die gleiche Richtung haben, oder eine Reinkultur derselben,
was in nahezu der Hälfte der Fälle zutrifft, so kann daraufhin die Diagnose
auf asiatische Cholera mit Sicherheit gestellt werden; also schon innerhalb
weniger Minuten nach dem Eintreffen der Untersuchungsobjekte. Grade mit
Rücksicht auf dieses schnelle Ergebniss der mikroskopischen Untersuchung ist
diese für die Choleraprophylaxis von grösster Bedeutung, sie setzt allerdings eine
grosse Uebung und Erfahrung des Untersuchenden voraus.
Zur vollkommenen Sicheruug der Diagnose wird dann gleich eine Pepton-
und eine Gelatinekultur augelegt. Die Peptonkultur wird in der Weise
ausgeführt, dass man in ein Reagenzglas mit sterilisirter 1 prozentiger Pepton¬
lösung ein oder mehrere Platinösen der Dejektion, oder wenn dieselbe Schleim¬
flocken enthält, einige solcher Flocken bringt und bei einer Temperatur von 37 0
hält. Etwa in den Dejekten vorhandene Ckolerabazillen streben in Folge ihres
starken Sauerstoffbedürtnisses nach der Oberfläche der Flüssigkeit und vermehren
sich daselbst sehr rasch, ungestört von den übrigen Fäccsbakterien, die mehr in
den tieferen Schichten der Flüssigkeit bleiben. Schon nach 6—8 Stunden zeigt
die Flüssigkeit die ersten Spuren von Trübung, unter Umständen bildet sich auch
an der Oberfläche ein sichtbares feines Häutchen; entnimmt man dann mit der
Platinöse ein Tröpfchen von der Oberfläche der Lösung und untersucht dieses
mikroskopisch, so findet man bei reichlichem Vorhandensein von Cholerabakterien
im Aussaat-Material meist eine Reinkultur derselben und ist in diesem Falle
zur Abgabe eines bestimmten llrtheils berechtigt. Sind dagegen in den Fäces
nur wenige Cholerabazillcn vorhanden gewesen, dann erscheinen sie später an
der Oberfläche und sind auch mehr oder weniger mit anderen Bakterien, beson¬
ders mit Bact. coli vermischt. Hier gestattet das Verfahren kein bestimmte»
Resultat, bietet aber gleichwohl für das Gelatine- und Agarplattenvcrfahren den
unentbehrlichen Vortheil der Anreicherung der Cholerabazillen. Zu bemerken
ist übrigens noch, dass es vortheilhaft ist, den Kochsalzzusatz der Peptonlösung
auf l°/n zu erhöhen, die Flüssigkeit stark alkalisch zu machen und das Peptou
zuvor auf seine Fähigkeit als bevorzugtes Nährmaterial für Cholerabazillen zu
prüfen, da sich nicht jedes der künstlichen Peptonpräparate dazu eignet.
In der Technik des Gela t in e pla tteil-Verfahrens hat sich nichts ge¬
ändert; dasselbe wird allerdings in Bezug auf Feinheit und Schnelligkeit von der
Peptonkultur übertroffen, kann aber trotzdem für die Diagnose nicht entbehrt
Kleinere Mittheilnngen und Referate ans Zeitschriften.
307
werden. Es sind daher stets gleichzeitig mit der Peptonkultur auch Gelatine*
platten mit dem Untersuchungsmateriale in der bekannten Weise anzulegen nnd
diese bei 22® C. zu halten; die sich bildenden Kolonien erreichen dann schon in
15—20 Stunden ihr charakteristisches Aussehen. Sind nur wenige Cholerabazillen
in dem Untersuchungsobjekte, so empfiehlt es sich, diese erst durch die Pepton¬
kultur in wenigen Stunden anzureichern und aus diesen Gelatineplatten anzulegen.
Dieselben werden dann sehr bald von Kolonien übersät sein, während sich sonst
nur vereinzelte oder gar keine entwickelt hätten. Abweichungen in der Zu¬
sammensetzung der Gelatine, langsame Entwickelung bei niedriger Temperatur
können ein abweichendes Aussehen der Kolonien bedingen, ebenso wie solches
bei älteren, lange Zeit im Laboratorium fortgezüchteten Cholerabakterien beob¬
achtet wird. Die Kolonien zeigen dann eine sehr geringe Neigung zur Verflüssigung
und breiten sich mehr platten- und schildartig aus. Bei frischen Cholerabak¬
terien gehört ein derartiges atypisches Wachsthum zur grössten Seltenheit; die
Diagnose wird dann durch die Anwendung anderweitiger Kriterien festgestellt
werden müssen.
Die Agarplattenkultur bietet zwar kein so charakteristisches Wachs¬
thum der Cholerabakterien wie die Gelatineplatten; sie hat aber den Vorzug,
dass die Platten einer hohen Temperatur (37 °C.) ausgesetzt werden können und in
Folge dessen schon nach 8—10 Stunden verhältnissmässig grosse Kolonien liefern,
die, nachdem sie mikroskopisch geprüft sind, theils zur Anlegung von Reinkulturen
in Peptonlösung dienen und in kurzer Zeit die Choleraroth - Reaktion ermög¬
lichen, theils auch direkt zum Thierversuch verwendbar sind. Die Kulturen
werden in der Weise angelegt, dass man eine Peptonkultur des Ausgangsmate¬
rials zur Aussaat benutzt und dann einige Platinösen auf der Oberfläche des in
Doppelschalen ausgegossenen, zuvor wieder erstarrten Agars ausstreicht; das Ver¬
fahren bildet somit gleichsam die Vervollständigung der Peptonkultur und führt
in zweifelhaften Fällen schneller und sicherer als das Gelatineplattenverfahren
zu einem endgültigen Ergebnisse.
Zur weiteren Unterstützung der Diagnosse dient ferner dieCholeroth-
oder Indol-Reaktion. Ausser den Cholerabakterien giebt es allerdings noch
andere Bakterien, die entweder Indol produziren oder Salpetersäure zu salpe¬
triger Säure zu reduziren vermögen, aber von den mit den Cholerabazillen mor¬
phologisch in Folge ihrer gekrümmten Form zu verwechselnden Bakterien besitzt
keine diese Eigenschaft und aus diesem Grunde ist der Cholerarothreaktion für
die Unterscheidung der Cholerabakterien von ähnlich geformten Mikroorganismen
ein sehr hoher Werth beizumessen. Es muss jedoch bei dieser Reaktion darauf
geachtet werden, dass ein durch Vorversuche als geeignet befundenes Pepton
zur Verwendung gelangt (s. weiter unten das Referat über die betreffenden Ver¬
suche von Bleisch), dass die zur Reaktion benutzte Schwefelsäure völlig frei
von salpetriger Säure ist und nur eine Reinkultur von Cholerabakterien in Pep¬
tonlösung (nicht in Fleischbrühe) zur Anstellung der Versuche benutzt wird.
In den schwierigsten Fällen muss auch zum Thier versuch gegriffen werden,
um ganz sicher zu gehen. Man verfährt dabei so, dass man von der Oberfläche
einer Agarplattenkultur (flüssige Gelatinekulturen sind zu diesem Versuche nicht
zu gebrauchen) mit einer, ungefähr 1,5 mg. der Kultur fassenden Platiuüse eine
volle Oese entnimmt, in ca. 1 ccm. sterilisirter Bouillon vertheilt und in die
Bauchhöhle (nicht in den Darm) eines Meerschweinchens einspritzt. Es treten
dann bald nach der Injektion die charakteristischen Vergiftungserscheinungen
ein, vor allem ein sehr schneller, durch das Thermometer leicht festzustellendcr
Temperaturabfall, dem schliesslich der Tod folgt. Diese bei so geringer Dosis
schon eintretende tödtlich wirkende Eigenschaft kommt unter allen gekrümmten,
spirillenartigen Bakterien nur allein den Cholerabazillen zu; daraus ergiebt sich
von selbst ihr grosser Werth für die Diagnose in zweifelhaften Fällen.
Die früher benutzten Kulturen im hohlen Objektträger und auf Kartoffeln
sind ebenso wie die Gelatinestichkultur durch die vorstehend beschriebenen sechs
Einzelverfahren überflüssig gemacht. Werden diese Verfahren in zweckmässiger
Reihenfolge und Kombination richtig angewandt, so führen sie stets zu einer
sicheren Diagnose, die in der Regel schon vor Ablauf von 24 Stunden und selbst
in den schwierigsten Fällen in höchstens 48 Stunden beendet sein kann. Zunächst
wird stets die mikroskopische Untersuchung unter gleichzeitiger Anlegung der
Gelatine- und Plattenkultur auszuführen und bei Gewinnung von Reinkulturen
an der Oberfläche der Peptonkultur mit diesen die Indolreaktion anzustellen sein.
308
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
Ist das Ergebniss dieser Untersuchungsverfahren ein unsicheres, so sind von der
Peptonkultur Agarplatten anzulegen, um möglichst schnell grosse Cholerakolonien
zu bekommen. Dies kann schon 10 Stunden nach der Aussaat der Fall sein und
ist dann die Diagnose gesichert; zweckmässig wird dieselbe aber noch durch
einige mit diesen Cholerakolonien angelegte Peptonreinkulturen und durch die
damit angestellten Indolreaktionen kontrolirt. Für diejenigen Fälle endlich, in
denen zwar in der Peptonkultur, wenn auch etwas später und in geringerer Zahl,
Kommabazillen auftreten, während auf den Gelatineplatten nur ganz vereinzelte
oder gar keine charakteristischen Kolonien zu finden sind, kommt alles auf die
richtige Benutzung der aus den Peptonkulturen geimpften Agarplatten an. Die
auf diesen aber vorhandenen verdächtigen Kolouicn müssen sofort auf frischen
Agar- und Gelatineplatten sowie in Peptonröhrchen fortgepflanzt und sobald als
möglich für die Indolreaktion und den Thierversuch verwendet werden.
Zur Untersuchung von Wasser auf den Gehalt von Cholera¬
bakterien empfiehlt Koch noch am Schluss seiner Abhandlung das zur Zeit
im Institut für Infektionskrankheiten übliche und auf dem Prinzip der Anreiche¬
rung der Choleraflüssigkeiten durch Peptonkulturen beruhende Verfahren. Zu
diesem Zwecke werden von dem zu prüfenden Wasser mehrere Einzelproben von
je 100 cm entnommen und denselben je 1 °/ 0 Pepton und Kochsalz zugesetzt.
Die mit Pepton versetzten Proben werden sodann bei 37 0 C. gehalten und nach
10, 15 und 20 Stunden Agarplatten damit beschickt. Alle ihrem Aussehen nach
verdächtigen, auf der Agarplatte zur Entwickelung gekommenen Kulturen sind
hierauf zunächst mikroskopisch zu prüfen und, sofern sie aus gekrümmten Bak¬
terien bestehen, weiter zu züchten behufs Anstellung der Indolreaktion und des
Thierversuches, die bei Wasseruntersuchungen unter allen Umständen die Dia¬
gnose vervollständigen müssen. Mit Hülfe dieses Verfahrens sind während der
Winterepidemie in Hamburg, Altona und Nietleben Cholerabakterien im Elb¬
wasser, in einem Brunnen in Altona, auf den Rieselfeldern in Nietleben, ira
Saalewasser und im Leitungswasser der Anstalt in Nietleben nachgewiesen,
also in Gewässern, die zu Choleraerkrankungen in Beziehung standen und aus
denen beim Aufhören der Epidemie auch die Cholerabakterien verschwun¬
den waren. Rpd.
Ueber einige Fehlerquellen bei Anstellung der Choleraroth-Reak¬
tion und ihre Vermeidung. Von Kreisphysikus Dr. M. Blei sch in Kosel.
Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheit. 1893, XIV. Bd., H. 1, S. 103.
Das Ausbleiben der Choleraroth-Reaktion bei Versuchen mit einer der
vorjährigen Choleraepidemie entstammenden Cholerakultur gab dem Verfasser
Veranlassung, eingehende Untersuchungen in Bezug auf die Ursache dieses Aus¬
bleibens anzustellen. Dieselben führten zu folgendem Ergebniss:
Die für das Zustandekommen der Choleraroth - Reaktion neben Indol noth-
wendigen Nitrite werden durch die Cholerabakterien im Wesentlichen aus den
im Nährmedium vorhandenen Nitraten gebildet.
Schon ein sehr geringer Ueberschuss von Nitraten im Nährmedium über
das an sich sehr niedrig liegende Optimum genügt indess, um den Eintritt der
Reaktion unter dem Einfluss der aus ihnen im Ueberschuss gebildeten Nitrite zu
verhindern. — Den gleichen Einfluss übt ein Ueberschuss fertiger Nitrite im
Nährboden aus.
Eine weitere Veranlassung zum gänzlichen oder längeren Ausbleiben der
Reaktion kann unter Umständen eine durch die Zusammensetzung des Nähr¬
mediums bedingte mangelhafte, bezw. verzögerte Indolbildung abgeben.
Andererseits kann die Verwendung nitrithaltiger Nährmedien oder Säuren
zur Reaktion eine Choleraroth-Reaktion Vortäuschen.
Der Gehalt der in gewöhnlicher Weise zubereiteten Flcischpeptonbouillon
an den zur Reaktion nothwendigen Stoffen, besonders an Nitraten, ist ein so
wenig konstanter, dass in Rücksicht auf die daraus entspringenden Fehlerquellen
ihre Verwendung als Nährinediuiu bei Anstellung der Cholerarothreaktion zu
diagnostischen Zwecken sich nicht empfiehlt. An ihrer Stelle sind reine Pepton-
kochsalzlösungeu anzuwenden, denen die Nitrate in der zur Reaktion nothwen¬
digen Menge genau zugemessen worden sind. Verfasser empfiehlt hierzu fol¬
gende Lösung:
Kleinere Mittheilnngen und Referate ans Zeitschriften.
309
Pept. sicc. (Witte) 2.00
Natr. clorat. puriss. 0,5
Aqu. dest. 100.00
Sol. Kal. nitric. purissim. (0,80 : 100) gtt. XXX—L.
Die Lösung wird gekocht, filtrirt und ist dann nach der Sterilisationn zum
Gebrauche fertig.
Sie hat ausser ihrer einfachen Herstellungsweise auch den Vorzug, dass
sie die Reaktion schon nach 4—6 ständigem Aufenthalte im Brutschränke bei
37° C. deutlich giebt, während diese in Fleischpeptonbouillon erst nach 12—24
Stunden, oft auch erst nach mehreren Tagen eintritt.
Betreffs der zur Hervorrufung der Reaktion zu verwendenden Säuren macht
Verfasser endlich darauf aufmerksam, dass nur völlig nitratfreie Mineralsäme,
insbesondere aber nitratfreie Schwefelsäure, geeignet sind. Rpd.
1. Ueber das Verhalten der Cholerabazillen im Eise. Von Prof.
Dr. Renck in Halle a./S. Fortschritte der Medizin Nr. 10, 1893.
2. Weitere Beiträge zur Biologie des Cholerabacillus. Einfluss
der Kälte auf seine Lebensfähigkeit. Von Prof. Dr. Uf fei mann in
Rostock. Berliner klinische Wochenschrift. 1893, Nr. 7.
Der Ausbruch der Cholera in der Provinzial - Irrenanstalt in Nietleben,
mitten im Winter bei Temperaturen von — 20° C., legte die Frage nahe, ob
Cholerabazillen im Eise kouservirt werden oder zu Grunde gehen. Die darauf¬
hin im hygienischen Institute in Halle ausgeftthrten Versuche haben zu dem
Resultate geführt, dass die Zahl der Cholerakeime in einem vorher mit infizirten
und dann zum Gefrieren gebrachten Wasser sich schon nach 24 Stunden um
mehr als 50 °/ 0 vermindert hatte und nach drei Tagen ununterbrochener Frost¬
wirkung alle Cholerabazillen getödtet waren; dass die Abtödtung aber etwas
später eintrat (nach 6—7 Tagen), wenn die Frostwirkung unterbrochen wurde.
Es ist daher mit Bestimmtheit anzunehmen, dass im Eis, das älter als 8 Tage
ist, entwickelungsfähige Cholerabazillen nicht mehr vorhanden sind.
Zu einem ähnlichen Resultat ist auch Uf fei mann bei den von ihm in
dieser Hinsicht angestellten Versuchen gekommen. Er fand, dass die Cholera¬
bazillen spätestens nach 5 Tagen im Eise abgestorben waren; dass sie aber
immerhin die Kälte, selbst Temperaturen von —24,8 0 C., einen gewissen Zeit¬
raum ertragen können, und erst nach einer gewissen, von der Intensität der
Kälte abhängigen Zeit derselben erliegen.
Auch die in neuerer Zeit im Königlichen Institut für Infektions¬
krankheiten angestellten einschlägigen Versuche haben zu demselben
Ergcbniss geführt. Rpd.
Untersuchungen über die Brauchbarkeit der Berkefeld-Filter
aus gebrannter Infusorienerde. Von Dr. Martin Kirchner, Stabsarzt und
Vorsteher der hygienischen Versuchsstation des X. Armeekorps in Hannover.
Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten; 1893, XIV. Bd., 2. H., S. 299.
Ueher die Brauchbarkeit und Wirksamkeit der aus gebrannter Infusorien¬
erde hergestellten sogenannten Berkefeld’schen Filter lagen bisher äusserst
günstige Untersuchungsergebnisse, besonders aus den hygienischen Instituten von
Breslau (von Dr. Nordmeyer und Dr. Bitter) sowie aus dem hygienischen
Institute des Prof. Dr. Gr über in Wien (von I)r. Prochnick) vor 1 ). Dr.
Kirchner kann sich auf Grund eingehender von ihm augestellter Versuche diesem
Urtheile leider nicht anschliessen, sondern kommt zu dem Resultat, dass
1. die Filter kein zuverlässig keimfreies Filtrat geben uud die Keiin-
freilieit, wenn sie überhaupt eintritt, nicht längere Zeit, sondern nur
höchstens einige Zeit andauert;
2. die Filter pathogene Bakterien nicht länger zurückhalten, als nicht
pathogene und
*) Vergleiche das Referat über diese Arbeiten in Nr. 20 dieser Zeitschrift,
Jahrg. 1891, S. 503.
310
Besprechungen.
3. dass sich ihre Anwendung im Grossen vom praktischen Standpunkte
aus nicht empfiehlt, da ihre Leistungsfähigkeit schnell abnimmt und
nur durch häufig wiederholte, umständliche und bei der Brüchigkeit
des Filtermaterials gefährliche Keinigungsmassregeln wieder herge¬
stellt werden kann.
Den Charaberland -Filtern gegenüber stehen somit dieBerkefeld’schen
in Bezug auf Keimdichtigkeit zurück, sind ihnen aber betreffs der Leistungsfähig¬
keit überlegen. Verfasser hofft, dass es dem Fabrikanten gelingen möge, die
Keimdichtigkeit seiner Filter zu erhöhen und deren Zerbrechlichkeit zu vermin¬
dern; das erstere wird allerdings nur auf Kosten der Ergiebigkeit der Filter
erreicht werden können. Rpd.
Besprechungen
Dr. L. W. Liersch, Kreisphysikus und Geh. San.-Rath: Die linke
Hand. Eine physiologische und medizinisch-prak¬
tische Abhandlung für Aerzte, Pädagogen, Berufs-
Genossenschaften und Versicherungs - Anstalten.
Berlin 1893. Verlag von Richard Schoetz. 47 Seiten.
Die Rechtshändigkeit beruht beim aufrechtstehenden und gehenden Menschen
auf anatomischen und physiologischen Eigeuthümlichkeiten des menschlichen
Organismus. Die Rechte war von Anfang an die Hand der Abwehr, des Schwerte«;
die Linke diejenige, die das verletzlichste Organ des Körpers, das Herz, zn
schützen hatte, also die des Schildes. Von diesem JStandpunkt ausgehend und
zugleich beweisend, dass die Rechtshändigkeit von jeher nicht fakultativ, sondern
obligatorisch gewesen ist, betrachtet Verfasser die Schädigungen, die besonders
dem jugendlichen Organismus aus der alleinigen Anwendung der rechten
Hand erwachsen. Er rechnet hierzu: 1. die seitliche Rückgratsverkrümmung
(Skoliosis), 2. Erkrankungen und Fehler der Augen, 3. innere Leiden. — Des
Weiteren betrachtet er die schädlichen Folgen und die Gebrauchsbeeinträchti¬
gungen der rechten bezw. linken Hand, welche durch Unfallsverletzungen her¬
vorgerufen werden. Es werde die Verschiedenheit in der Abschätzung der
Eiubusse an normaler Erwerbsfähigkeit an den Angaben fünf verschiedener
Autoren (Berufsgenossenschaften) demonstrirt und der Wunsch wird ausgesprochen,
dass eine allgemeingültige Zusammenstellung oder Anleitung zur Bemessung der
Erwerbsunfähigkeitsgrade aufgestellt und eingeführt werde. Man wird sich
diesem Wunsche anschliessen, wenn man bedenkt, dass z. B. im Jahre 1887 von
15 970 entschädigten Unfällen 5150, also beinahe ein Drittel an den Händen
vorkamen. — Das Zusammenwirken beider Hände ist für das Zustandekommen
fast jeder Arbeit nothwendig: daher die Mahnung und der Hinweis des Ver¬
fassers auf die Ausbildung der Zweihäudigkeit (Ambidexterität), daher sein Vor¬
schlag als Vorbeugungsmittel bei so manchen Uebelständen neben der Rechten
auch die Liuke auszubilden. Seine Worte sollten gewissermassen eine Ehren¬
rettung der linken Haud sein.
Es liegt hier eine äusserst geistreich geschriebene, mit höchst interessanten
Bemerkungen versehene Abhandlung vor, die zugleich von reicher Lebenserfahrung
Zeugniss ablegt. Da sie ausserdem recht viele Anregungen bietet, so können
wir die Lektüre derselben den Herren Kollegen auf’s angelegentlichste empfehlen.
Dr. Israel-Medenau (Ostpr.).
R. Schulize, Stadtbauinspektor in Köln a. Rh.: Bau und Betrieb
von Volksbadeanstalten. Mit einem Vorworte von Geh.
San.-Rath Dr.Lent. Mit 45 Abbildungen im Text. Bonn 1893.
Verlag von Emil Strauss. 68 Seiten.
Während die grossen Städte gerade in den letzten Jahren mit dem Bau
öffentlicher Badeanstalten vorgegangen sind, haben die mittleren und kleineren
Gemeinden meist aus Furcht vor erheblichen Kosten sich nicht so häufig, wie
es im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege liegt, an die Aufgabe heran¬
gewagt. Die ärztlichen Kreise haben jede Gelegenheit benutzt, um das Interesse
Tagesnachrichten.
311
für den Bau von Volksbadeanstalten zu erwecken. Durch das vorliegende Werk
ist nunmehr auch die Möglichkeit gegeben, sich über die Kosten und die Raum-
ansprtiche bis in’s kleinste Detail Auskunft zu holen. Der Verfasser hat als
Vorlagen für zu schaffende Volksbäder Typen der bisher ausgeführten oder ent¬
worfenen Anlagen gesammelt, hat Angaben über die Einrichtung der Gebäude,
die badetechnischen Einzelheiten und die Höhe der gemachten Kostenaufwendungen
gemacht, endlich die bisher erzielten Betriebsergebnisse dargelegt. Durch Grund¬
risse, Abbildungen der Gebäude und innerer Einrichtungen wird das Beschriebene
anschaulich gemacht. Das Werk zeigt deutlich, dass die Brausebäder-Anlage
mit so geringem Kostenaufwande verbunden ist, dass selbst kleine Gemeinden
dieser segensreichen Einrichtung theilhaftig werden können. Möge deshalb im
Interesse der körperlichen und sittlichen Fortentwickelung unseres Volkes das
mit vielem Fleiss ausgearbeitete Werk baldigst Eingang in die betheiligten
Kreise finden. Ders.
Tagesnachrichten.
Auf Veranlassung des Herrn Ministers der Medizinal - Angelegenheiten
werden im Institut für Infektionskrankheiten in Berlin von Mitte Juni d. J. ab
unentgeltliche Vorlesungen über Cholera für praktische Aerzte abgehalten
werden. Jeder Cyklus dieser Vorlesungen ist auf eine Woche und auf täglich
zwei Stunden berechnet. Es können dazu etwa 50 Zuhörer zugelassen werden.
Anmeldungen sind an den Direktor des Instituts Geh. Med.-Rath Dr. Koch
zu richten.
Eine zweite internationale Sanitätskonferenz soll im Spätherbst d. J.
in Paris abgehalten werden, um die auf der ersten Konferenz in Dresden nicht
erledigten, auf das Sanitätswesen im Orient beziehenden Fragen zu erledigen.
Die in Dresden getroffene Uebereinkunft ist inzwischen dem Bundes¬
rath zur Beschlussfassung zugegangen und im Reichsanzeiger veröffentlicht.
Wir bringen in der heutigen Beilage den Wortlaut derselben.
Vom 8. —10. September d. J. wird der I. internationale Samariter-
Kongress in Wien unter dem Präsidium des Prof. Dr. Billroth, Präsident,
Bürgermeister Dr. Prix, und Dr. A. Loew, Vizepräsidenten, stattfinden.
Die bisher zur Berathung angenommenen Verhandluugsgegenstände sind
folgende:
1. Welche Erfolge hat das freiwillige Rettungswesen bisher aufzuweisen?
2. Wie verhält sich die zukünftige Stellung der freiwilligen Hülfeleistung
zur offiziellen?
3. Welche grundsätzliche Bestimmungen sollen in dem Statute eines
Samariterbundes enthalten sein?
4. a) Nach welchen Grundsätzen sind Personen zum Rettungs- und Sama¬
riterdienste auszuwählen ?
b) In welcher Weise kann die Schulung einzelner Personen oder ge¬
schlossener Vereine in einheitlicher Form bewerkstelligt werden?
c) Auf welche Weise sind Rettungsgesellschaften und Samaritervereine
zweckentsprechend auszurüsten?
5. Welche Stellung soll der Samariterbund ira Kriege einnehmen?
6. In welcher Weise können freiwillige Feuerwehren ohne Gefährdung
ihres eigentlichen Hauptzweckes zum Samariterdienste herangezogen werden ?
7. Ist die Gründung eines statistischen Bureaus für den Samariterbund
wünschenswerth oder erforderlich?
8. In welcher Weise sind die Geldmittel für einen Samariterbuud bei¬
zuschaffen ?
Wie ist die Wasserwehr als solche für allgemeine Hülfszwecke cinzu-
richteu ?
10. In welcher Weise sind öffentliche und private Krankenanstalten für
die Zwecke des Samariterbundes heranzuziehen?
312
Tagesnachrichten.
In Hamburg ist unter dem 12, Mai d. J. vom Senat der Bürgerschaft
der Entwurf eines Gesetzes betreffend die Wohnnngspflege vorgelegt,
durch den bessere Wohnungsverhältnisse unter staatlicher Beaufsichtigung ge¬
schaffen werden sollen. Darnach wird beabsichtigt, die Stadt in 36 Pflegebezirke
zu theilen und für jeden Bezirk einen Vorsteher und eine je nach dem Bedürf¬
nisse zu beinessende Zahl Wohnungspfleger zu bestellen, die sich durch Revisionen
u. s. w. genaue Kenntniss von den Grundstücken und Wohnungen ihres Bezirks
zu verschaffen und für die Abstellung Vorgefundener Missstände mit Hülfe des
städtischen Baupolizeiamtes zu sorgen haben. In dem Gesetzentwürfe sind be¬
stimmte Erfordernisse für die Verwendbarkeit der Gelasse und Räume zum
dauernden Aufenthalt von Menschen gegeben und wird z. B. für jede Wohnung
ein besonderer verschliessbarer Zugang, ein eigener Abort, eine eigene Koch¬
stelle u. s. w. verlangt. In den Schlafzimmern sollen auf jedes Kin d unter 10
Jahren mindestens 0,1 qm Fensterfläche mit 5 cbm. Luftraum, auf jede ältere
Person 0,2 qm Fensterfläche mit 10 cbm Luftraum bei 2 bezw. 4 qm Grund¬
fläche entfallen.
Die Nordd. Allg. Ztg. schreibt: „Die Art, wie im vorigen Jahre die Ru¬
brik der Choleranachrichten bei uns zu einer ständigen in den Zeitungen
gemacht und jeden Tag möglichst zu füllen versucht wurde, konnte nur zu sehr
angethan erscheinen, ira Auslande ganz falsche Begriffe über den Grad der Ver¬
breitung der Seuche innerhalb unserer Reichsgrenzen zu erwecken. Auch ist
die Neigung, jeden einzelnen Cholerafall so breit wie möglich zu treten, im
Auslände schlechterdings nicht verständlich. Berücksichtigt man, dass insbesondere
der Theil des Inhalts unserer Zeitungen telegraphisch nach dem Auslande ver¬
breitet wird, welcher unser Gedeihen in irgend welcher Beziehung fragwürdig
erscheinen lassen kann, so erwächst der Presse und dem Publikum die doppelte
Verpflichtung, gerade auch auf dem in Frage stehenden Gebiet die denkbar
grösste Selbstzucht zu üben und in der möglichsten Beschränkung diejenige
Weisheit zu erkennen, die uns verhältnissmässig leicht schwere Verluste am
Nationalvermögen erspart. Diese Weisheit zu üben, sollte um so weniger schwer
fallen, als in der Ürganisirung der Reichscholerawehr die beste Bürgschaft dafür
gegeben ist, dass im Falle des Wiedereinbruchs der Cholera in die Reichsgrenzen
alles mobil ist, um den Feind, wo immer er auch auftreten möge, so schnell und
wirksam, wie denkbar, zu schlagen.“
Wir können diesen Standpunkt nur völlig theilen und haben schon bei
Gelegenheit der Berathung des Reichsseucheiigesetzes auf der diesjährigen Haupt¬
versammlung des Vereins darauf hingewiuseu, dass es keineswegs zweckmässig
sei, jeden einzelnen Erkrankungsfall von Cholera, Pocken u. s. w. sofort
öffentlich bekannt zu machen und an die grosse Glocke zu bringen, da der da¬
durch z. B. für industrielle Städte erwachsende Schaden in Bezug auf Handel
und Verkehr in keinem Vergleich steht zu (lein Nutzen, den derartige Bekannt¬
machungen für die angebliche (?) Beruhigung der Bevölkerung haben sollen.
Cholera. In Hamburg sind keine weitere Erkrankungen vorgekommen.
Auch in Oesterreich, speziell in Galizien ist seit nunmehr 4 Wochen ein
Cholorafall nicht mehr zur amtlichen Kenntniss gelangt. Dagegen ist die Seuche
in Süd-Frankreich an verschiedenen Orten ausgebrochen, insbesondere in
Cette, Montpellier und Frontignan (Departement Herault), sowie in Alais und
Niiues (Departement Gard); während in dem westlich gelegenen bisher am meisten
ergriffenen Departement Morbihan in den letzten Wochen nur noch vereinzelte
Choleraerkrankungen beobachtet sind, ln Alais sind bis zum 13. Juni 49 Per¬
sonen der Krankheit erlegen, in Oette bisher 11 und in Montpellier 4.
Wie nicht anders zu erwarten war, ist mit dem Eintritt der Pilgerfahrten
nach Mekka auch die Cholera dortselbst zum Ausbruch gekommen; Zeitungs¬
nachrichten zu Folge sollen vom 8.—14. d. Mts. bereits 185 Personen an dem ge¬
nannten Orte in Folge von Cholera gestorben sein.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i W.
J. G. C. Brun«, BnchdruckereJ, Minden.
6. Jahrg.
Zeitschrift
für
1898 .
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rathu.gerichtl.Staatphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in Minden.
und
Dr. WILH. SANDER
Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagsbandlnnff and Rad. Mosse
entgegen.
No. 13.
Erscheint am 1. und 15. Jeden Monats.
Preis Jährlich 10 Mark.
1. Juli.
Ueber Querulantenwahnsinn.
Von Dr. Mittenzweig.
(Fortsetzung.)
A. Sachlage.
b. Nach der persönlichen Untersuchung Witte’s.
Im Allgemeinen kann ich vorausschicken, dass W. sich
sehr bereitwillig auf meine Einladung zur Untersuchung gestellt
und dass er mir seine ganze Zeit zur Verfügung geboten bat,
sodass er mir eher zu viel als zu wenig Zeit verschaffte,
ihn kennen zu lernen. Was den Gewinn anlangt, den ich hieraus
zu ziehen vermochte, so entsprach er indess nicht ganz meinen
Wünschen, und zwar kam dies daher, dass er die Neigung besitzt,
bei Beantwortung einer präzis gestellten Frage, zuerst weit aus¬
zuholen, dann sich in die einzelsten Einzelheiten zu vertiefen und
schliesslich die Frage nicht so scharf zu beantworten, wie sie ge¬
stellt ist. Die Ursache dieser Beantwortungsweise liegt m. E.
darin, dass W. äusserst gern die Gelegenheit benutzt, die, ich
möchte fast sagen, ihm lieb gewordenen Themata zu behandeln,
wobei sich wiederholentlich herausstellt, dass er dieselben fast mit
denselben Worten, um nicht zu sagen, verbo tenus wiedergiebt
und dass sich seine Auslassungen ebenso verbo tenus meistens in
den Akten wieder vorfinden.
Ueber seine Personalien hat er mir das bereits in den Akten
Stehende wiederholt, so dass ich diesbezüglich nur wenig Neues
gehört habe.
Sein Vater war Hauptlehrer in E. und starb im Jahre 1867
im Alter von 58 Jahren an den Folgen einer Operation; er ist
nach W.’s Angabe sehr begabt gewesen. Seine Mutter ist im
Alter von 73 Jahren gestorben; sie hat nie an Migräne, an
Krämpfen oder dergleichen gelitten, sie hat sechs Kinder geboren
814
Dr. Mittenzweig.
und hatte, wie W. mir auf eingehendes Befragen mittheilte, eine
ähnliche Lähmung der linken Gesichtsseite, wie er selbst. Von
seinen Geschwistern leben noch ein Bruder als Kaufmann in
London und eine Schwester als Gesellschafterin in Barmen. Beide
sollen körperlich und geistig völlig gesund sein.
Von dem Bruder hatte W. gelegentlich des D.’schen Kon¬
firmationsstreites erwähnt, dass er die Gewohnheit gehabt, ohne
Grund plötzlich in Lachen auszubrechen. Auf Befragen gab W.
an, dies sei nur ein einziges Mal vorgekommen bei Besuch eines
älteren Herrn, und da hatte der Knabe guten Grund zum Lachen.
Er habe dies Beispiel nur angeführt, um der Familie D. eine Be¬
schämung zu ersparen.
Mit 17 1 /» Jahren war W. Abiturient. Er war damals sehr
klein, körperlich knabenhaft und schämte sich, mit den anderen,
grossen erwachsenen Jungen in’s Examen zu gehen; aber der
Schulrath selbst habe ihn dazu ermuntert. Studirt habe er in
Bonn und Berlin. Sein Patriotismus habe ihn nach Berlin hin¬
gezogen.
Die Ereignisse hier in Berlin hat mir W. in derselben Weise
wiedergegeben, wie er sie in den Akten niedergelegt hat. Von
D. sagt er, er wolle die Rechte der Gemeindevertretung vertreten
gegenüber dem Gemeindekirchenrath. Abgesehen von K.’s Person,
meint W., konnte er auch auf den Gemeinde - Kirchenrath rechnen
bis zum Jahre 1889.
Von 1889 an wurde die St.’sche Angelegenheit, die bis dahin
latent gewesen war, patent. Der Kampf zwischen St. und ihm
war der Kampf eines konservativen Mannes, gegen eine von St.
getragene pseudokonservative Bewegung. W. sah grosse Gefahr
in dem Programm St.’s, welches hiess: Befreiung der Kirche vom
Staat. Deshalb habe er sich St. nicht angeschlossen.
Ueber sein Verhältniss zu dem Synodal - Deputirten D. spricht
sich W. folgendermassen asu: Herr D. bekleidet das Amt eines
Gemeindevertreters seit Januar 1883. Schon seit dem Jahre 1880
hatte er die Erkenntniss, dass Herr D. für die Gemeinde eine
schwierige Persönlichkeit sei. Im Jahre 1883 trat ihm D. in
schroffem Gegensatz gegenüber mit M. und K. in Sachen der
Lithurgie und des Altargesanges, und durchkreuzte durch Be¬
schwerden beim Konsistorium den Weg, auf dem die Angelegenheit
in freundschaftlicher Versammlung mit den Gemeindevertretern
geordnet werden sollte. D. wollte nur seine Macht zeigen. Er
wollte auch Patronatsältester und sein Miethsherr werden. Dass
beides nicht geschah, hat er nie überwunden. K. war von D.
gewonnen, und beide waren so taktlos, sich an andere Geistliche
zu wenden. W. trat freiwillig von seinem Plane zurück, obwohl
der Altargesang sein Ideal war. Schon 1886 habe er (W.) dem
Probst v. d. G. gesagt, dass er D. um des Friedens willen habe
zum Kreissynodal - Deputirten wieder wählen lassen, trotzdem er
dazu kaum passte. Man lache viel, wenn er spreche.
H. Konsist.-Rath A. sei ihm feind geworden, früher war er
sein Freund. Aber A. glaubte, seine Freundschaft für ihn sei
Ueber Qaerolantenwahnsiim.
315
ein Hindernis» für seine Carriäre gewesen und wollte dieses
Hinderniss aus dem Wege räumen. Auch der Präsident Sch. sei
ihm nicht gewogen. Einen bestimmten Grund dafür giebt W. nicht
an. Ebenso wäre der Konsist.-Rath M. stets sein Gegner gewesen,
desgleichen der frühere Präsident H. Die anderen Mitglieder des
Konsistoriums kennten seine Angelegenheit nicht, sie liessen sich
von Sch. und namentlich von A. leiten.
Weshalb ihm die einzelnen Mitglieder des Kirchenraths feind¬
lich gesinnt seien, dafür hat er nur die allgemeine Erklärung, dass
sie für St. und gegen ihn Partei ergriffen hatten.
Die Gemeindevertreter und die Mitglieder selbst ständen in
überwiegender Mehrheit auf seiner Seite.
Wie weit sich W. in diesen seinen Anschauungen täuscht,
das werden wir später erkennen können.
Nachdem ich so mit ihm seine Stellung im Allgemeinen be¬
sprochen hatte, wandte ich mich zu der Erörterung der einzelnen
Punkte, aus denen das Königl. Konsistorium geschlossen hatte, dass
er geisteskrank und geistesschwach ist.
* Das Gutachten des Konsistoriums gipfelt darin, dass W. an
Grössenwahn und Verfolgungswahn leide und dadurch die Fähig¬
keit verloren habe, die ihn umgebenden Verhältnisse richtig zu
erkennen und besonnen zu handeln. Dass er an Grössenwahn
leide, entnimmt das Konsistorium aus der Menge, der Grösse und
Beschaffenheit seiner Eingaben und Reden, aus der Art, wie er
den Vorsitz in den offiziellen Versammlungen führte und aus ein¬
zelnen Aeusserungen.
Was seine Eingaben anlangt, so sagt W., er sei zu einer
so grossen Anzahl von diesen gezwungen worden, weil er sich
gegen die über ihn eingereichten Beschwerden hätte vertheidigen
müssen und weil seine Beschwerden beim Konsistorium keine Be¬
rücksichtigung gefunden hätten. Hätte das Konsistorium seine
Eingaben prompter beantwortet, so hätte es sich viele Arbeit
erspart.
Der grosse Umfang der Beschwerden war nothwendig, weil
eine erschöpfende Widerlegung stets mehr Ausführungen und
Worte erforderte als die Beschwerde selbst. Zum Verständniss
der Sache musste er oftmals auf fernliegende Ereignisse zurück¬
greifen und deren Verlauf darstellen.
Auch die Beschaffenheit der Beschwerden sei der Natur und
Lage der Sachen angemessen. Seine Beschwerden habe er zwar
an das Plenum des Konsistoriums gerichtet, er wisse aber, dass
nur H. Konsist.-Rath A. dieselben lese, und dieser wiederum sei
mit seinen Angelegenheiten so vertraut, dass er jede Redewendung
und jeden anderen eigenthümlichen und unverständlich erscheinen¬
den Ausdruck ohne Weiteres verstehe.
Selbst der Präsident Sch. habe ihm bei seinen Unterredungen
mitgetheilt, das er über die Einzelheiten nicht unterrichtet sei.
Daher hätte er sich daran gewöhnt, Ausdrücke, wie „Thee- Kon¬
flikt“, „Schlüsselsache“, „Kuhstallgeflüster“ und dergl. auch in
seinen offiziellen Eingaben zu gebrauchen.
316
Dr. Mittenzweig.
Den Vorwurf nörgelnder Spitzfindigkeit müsse er ablehnen.
Hiervon sei ihm kein Exempel zu demonstriren versucht. So oft
ich ihm solche nachzuweisen versuchte, ergoss er sich in längerer
Rede darüber, dass er dazu berechtigt war, weil die Thatsachen,
um die es sich in den Redewendungen handelte, wahr seien. Von
dem Kern der Sache, der Taktlosigkeit in Anwendung der
Form, liess er sich nicht überzeugen.
In derselben Weise vertheidigte er die Menge, Ausdehnung
und Beschaffenheit seiner Reden.
Auch hier gab er niemals zu, dass er seine Person und seine
Angelegenheiten all zu sehr in den Vordergrund gedrängt hätte.
Nur im Interesse der Sache hätte er so handeln und sprechen
müssen, nicht seine Person, sondern sein Amt hätte er in den
Vordergrund gestellt. Er selbst sei bescheiden und demüthig und
offenbare dies überall und bei jeder Gelegenheit.
Auf meinen wiederholten Einwand antwortete er mir wörtlich:
„Ich schrieb an Herrn A., als an einen Mann, der mit mir seit 12 Jahren
in genauen Beziehungen steht, mit dem ich mündlich über dieselben Dinge viel¬
fach konferirt habe und dem das Lesen meiner Eingaben in keiner Weisq
Schwierigkeit bereiten konnte. Ich hatte zu rechnen auf 2 Männer, abgesehen
von Präsidenten, mit A. und Br. Ich habe an Br. manchen parallelen Brief ge¬
schrieben. Im Mai/Juni 1891 wurde Br. krank, und ich habe seit der Zeit seiner
geschont. Es war mir bekannt, dass A. thatsächlich der einzige Leser war.
Der Präsident Sch. hat am 4. Januar 1891 selbst gesagt, dass er erst mit dem
1. April 1891 einträte, überhäuft mit Arbeit und deshalb weniger orientirt sei.
Dagegen wusste A. ganz genau Bescheid, was ich mit jedem Worte sagte.
Meine Eingaben sind nie monirt worden, man hat mir vielmehr Kompli¬
mente gemacht. A. selbst hat meine Broschüre ein Meisterstück genannt; er
fügte hinzu: „Diese Broschüre hat Sie gerettet“.
Es sind mir auch manche Wendungen dahin ausgelegt, als ob mir eine
moquante Absicht untergelegen hätte, während ich bei Gebrauch derselben eine
konkrete Angelegenheit im Auge hatte, so z. B. die Berührung des Invaliditäts¬
und Alterversorgungsgesetzes. Ebenso das Dankschreiben von Ende August in
der Angelegenheit der Kassenverfügung. Auch dies sollte Hohn sein, und doch
war es warmer Dank.“
Selbst den Gebrauch der bei älteren Angelegenheiten ange¬
wandten Worte, welcher bereits früher gerügt ist, versucht W.
mir gegenüber zu rechtfertigen, z. B. die Wiederholung des Wortes
„schleunigst“, den Ausdruck „empfindungslose und hartherzige Em¬
pfindlichkeit des Pfarrers Qu.“, „versuchsweise und versucherisch“
und dergleichen mehr. In allen diesen Sachen findet er nichts
Besonderes und Eigentümliches, nichts, was Anderen nicht auch
erlaubt wäre.
Und doch sind dies alles Punkte, welche dem unbefangenen
Leser sofort auffallen und anstössig erscheinen, während W. nicht
fühlt oder einsieht, dass er damit für seine Person etwas Be¬
sonderes prätendirt.
Dass W. den Vorsitz in den offiziellen Versammlungen und
namentlich auch im Gemeinde - Kirehenrathe in einerWeise fühlte,
welche seine Selbstüberhebung und seine Rücksichtslosigkeit gegen
Andere wie seine Nichtachtung Anderer beweist, stellt er ebenfalls
in Abrede. Er hält seine Weise für die angemessene und be¬
rechtigte, er müsse die Sachen klären und feindliche, verderbende
Ansichten bekämpfen. So habe er z. B. bei der Gehaltsfrage
Ueber Querulantenwahnsinn.
817
nicht nur seine Person, sondern besonders seine Stelle und seine
Nachfolger im Auge gehabt.
Seine einzelnen Aeusserungen anlangend, sucht er auch
diesen mir gegenüber mit dialektischer Gewandtheit die Spitze ab¬
zubrechen. Manches sei missverstanden, manches falsch und ent¬
stellt wiedergegeben, manches harmlos gesprochen, manches völlig
berechtigt, manches aber auch völlig aus der Luft gegriffen. So
sei kein wahres Wort daran, dass er mit seiner Ehefrau den
Spaziergang des Pastor B. mit D. von seinem Fenster aus beobachtet
und nun geargwöhnt habe, dass beide gegen ihn konspirirten. Wo
er Vermuthungen gefasst und aufgestellt habe, da seien sie auch
ineistentheils später durch die Thatsachen bestätigt worden. Er
habe sich selten, fast nie getäuscht. Den Prediger Cr. habe er
von Anfang an für einen krystallklaren Charakter gehalten, und
als ihn D. bei ihm verleumden wollte, habe er sofort gewusst, dass
er sich in Cr. nicht täusche. Es sei auch in der Folge erwiesen
worden. Habe doch der Gang der Ereignisse gelehrt, dass er
schon vor Jahren die Verhältnisse richtig beurtheilt und geschätzt
hätte. Man habe ihm thatsächlich keinen Fehler nachweisen
können, und dennoch sei wörtlich eingetroffen, was Herr W. ihm
einstmals prophezeiht, man werde ihn verfolgen und ihn schliess¬
lich für geisteskrank erklären.
Dass er seit Jahren verfolgt werde und sich verfolgt fühle,
das sei kein Wahn, sondern Wirklichkeit. St., D., K., A. spielten
hierbei eine Rolle, und ihre Haupt-Motive habe er wiederholentlich
nachgewiesen. Wenn er dagegen reagire, so sei es einfach die
Pflicht der Selbsterhaltung. Auch St. gegenüber habe er dies be¬
wiesen; denn er habe lange Zeit geschwiegen, und erst als er
selbst von ihm angegriffen wurde, darauf geantwortet. Die Injurien¬
prozesse habe er einleiten müssen, weil er seinen Namen von den
Verleumdungen reinwaschen musste. Dies war seine Pflicht als
Pfarrer, als Mann und als Familienvater. Da das Konsistorium
ihn nicht schützen wollte, so musste er den Schutz des weltlichen
Gerichtes suchen, auch das sei eine gesetzliche und nicht unheilige
Instanz. Und hier habe er stets Schutz gefunden.
Uebrigens giebt er auch zu, dass nicht alle Mitglieder im
Konsistorium gegen ihn feindlich gehandelt hatten, so namentlich
nicht Br. und Dr. B.
Was seinen wiederholt ausgesprochenen Grundsatz anlangt:
„Wenn Dich jemand verderben will, so verdirb ihn zuvor,“ so
hält er diesen in seiner moralischen und selbst christlichen Würdi¬
gung aufrecht und sucht ihn selbst mit Belägen aus der heiligen
Schrift zu vertheidigen.
Mit einem Wort, W. stellt in Abrede, dass man in seinem
Thun und Handeln irgend etwas Unsittliches oder gar Krankhaftes
finden könne.
Ich füge hinzu, dass Frau Pfarrer W. und Herr Dr. P., sein
Arzt, seine Meinung theilen und dieselbe energisch vertreten, dass
aber andere Personen, welche ihm nahe stehen und denen ich ein
objektives Urtheil zutraue (z. B. Rechtsanwalt S.), mir mitgetheilt
818
Dr. Mittenzweig.
haben, W. habe auf sie den Eindruck gemacht, dass er entweder
schon geistig krank sei oder doch an der Grenze der Geistes¬
krankheit stehe.
In der Unterhaltung mit W. fallt dies weniger auf, und auch
körperlich macht er den Eindruck eines frischen und gesunden
Mannes. Wie er mir selbst mittheilt, lebt er sehr einfach, ist auch
sehr enthaltsam, namentlich im Genuss von geistigen Getränken.
Er ist ein Freund körperlicher Bewegung, badet und schwimmt
gern und regelmässig.
Mittelgross, zart, aber gut genährt, von frischer Gesichts¬
farbe, lebendiger Bewegung und Sprache macht er den Eindruck
eines gesunden Mannes, der eher jünger denn älter aussieht im Ver¬
gleich zu seinen Lebensjahren. Sein Körper und sein Kopf sind
regelmässig, letzterer namentlich symmetrisch gebildet. Nur im
Gesicht zeigt Witte eine geringe Auffälligkeit, eine leichte
Lähmung des Nervus facialis, welche an und für sich in ihrer
Isolirtheit ohne Bedeutung wäre und nur dadurch erwähnenswerth
wird, dass nach W.’s Angabe, auch bei seiner verstorbenen Mutter
eine gleiche Abweichung vorhanden gewesen ist.
Seine Sinnesorgane funktioniren gut, seine Körperorgane sind
gesund. Nur leichte Neigung zu Katarrhen der Augenlider und
des Kehlkopfes nimmt man an ihm wahr. Appetit, Verdauung und
Schlaf sind angeblich tadellos.
Nirgends finden sich Störungen der Motilität, Sensibilität
oder der Reflexe.
B. Gutachten.
Herr Pfarrer W., 57 Jahre alt, stammt von geistesgesunden
Eltern und sind auch in seiner gesummten Familie Geisteskrank¬
heiten irgendwelcher Art noch nicht vorgekommen. Die erwähnte
Eigentümlichkeit seines Bruders erscheint nach der von W. ge¬
gebenen Erklärung bedeutungslos. Was die linksseitige Gesichts¬
lähmung der Mutter anbetrifft, so ist es allerdings ein sonderbares
Erbtheil, dass diese auf den Sohn überkommen ist, bei ihrem
isolirten Vorhandensein darf man indess auch hierauf kein grosses
Gewicht legen, weil gerade einseitige Facialis-Lähmungen häufig
Vorkommen. Eine erbliche Belastung von wesentlicher Bedeutung
lässt sich sonach bei W. nicht feststellen.
Seine körperliche und geistige Beschaffenheit deutet ebenfalls
nicht darauf hin, dass bei ihm eine Prädisposition zu einer Geistes¬
krankheit zu suchen wäre. W. ist nicht gross, aber kräftig und
gesund. Seine eben nur angedeutete linksseitige Gesichtslähmung
will ich ebenso wenig in’s Treffen führen, wie seine diesbezügliche
Heredität. Im Uebrigen ist eine Abweichung in der Funktion des
gesammten Nervensystems nicht aufzufinden.
Auch besondere Krankheiten, welche eine Schwächung des
Körpers und namentlich des zentralen Nervenapparates hätten herbei¬
führen können, hat W. nicht überstanden.
Ebenso wenig lassen sich Trunksucht, Ausschweifungen oder
körperliche Strapazen als etwaige Krankheitsursachen geltend
machen.
Ueber Quernlantenwahnsinn.
819
Nur ein Moment macht sich im Laufe der Zeit bemerkbar,
d. i. ein zeitweiliges Klagen über körperliche und geistige Ab¬
spannung. Wiederholentlich hat W. geklagt, dass er durch die
Sorge und den Kummer über die Krankheit seiner Frau und seines
Sohnes, durch grosse Ueberarbeitung nervös und erholungsbedürftig
geworden wäre. Zeitweise hat er auch Erholungsreisen angetreten,
ein anderes Mal aber haben die Umstände dies nicht erlaubt. Als
anderen und nicht unwichtigen Faktor einer erworbenen Disposition
spreche ich die dauernden Gemüthsbewegungen an, welche eine
Folge seiner aufreibenden Konflikte waren und welche zweifels¬
ohne mit seiner nervösen Reizbarkeit in wechselseitiger ursäch¬
licher Beziehung gestanden haben. Es scheint mir sehr wahr¬
scheinlich, dass der jetzige Zustand nicht die Höhe erreicht hätte,
welche er zur Zeit besitzt, wenn rechtzeitig ein dauernder und
wirksamer, d. h. in Wahrheit durchgeführter Urlaub W. aus seinen
aufregenden Verhältnissen herausgerissen und die äusseren Ver¬
anlassungen der Gemüthsbewegungen ihm fern gehalten hätte.
Die Verhältnisse und der lebhafte Charakter haben dies nicht
gestattet. Selbst in’s stille Bad folgten ihm Briefe, Zeitungsnach¬
richten und dergleichen geistige Fäden, welche ihn auch hier
beschäftigten, reizten und zu fernerer Thätigkeit hinrissen.
Alles dies fiel bei ihm auf einen fruchtbaren, aber gefährlichen
Boden, welcher gebildet wurde von einer Reihe von Charakter¬
zügen, deren Verschmelzung eine Disposition zur Entwicklung von
Geistesstörung erfahrungsgemäss abzugeben vermag.
Wenn wir die hohe Lebensstellung W.’s., die Stellung des
ersten Pfarrers einer grossen christlichen Gemeinde Berlins, mit
dem Lebensbilde in Vergleich ziehen, welches uns bei dem Studium
der Akten vor Augen tritt, dann überkommt uns wohl ohne Aus¬
nahme das Gefühl, dass wir vor etwas Unbegreiflichem stehen.
Wir fragen uns: wie kann ein christlicher Pfarrer dauernd in
solche Zwistigkeiten gerathen? Wie kann seine Person und sein
Amt so in die Oeffentlichkeit gezerrt werden? Wie kann er in
so massloser Weise gegen Laien, Amtsbrüder und Vorgesetzte
Vorgehen ?
Wir wollen ganz davon absehen, ob er in manchen oder
vielen Dingen der Beleidigte ist oder der Beleidiger, der Schädi¬
gende oder der Geschädigte, der Misshandelnde oder der Gemiss-
handelte, ob er in diesen oder jenen Dingen Recht hat oder
Unrecht.
Mag dem sein, wie es will, auf jeden Fall beleidigt die
Art und Weise, wie W. auf tritt, das Masslose in seinen Schritten
unser Gefühl.
Dasselbe tritt uns entgegen, wenn wir sein Wesen analysiren
und wenn wir hierbei neben den herrlichsten Geistesgaben eine
Reihe von Charaktereigenschaften entdecken, deren Vorhandensein
wir am wenigsten bei einem christlichen Pfarrer vermuthen, der
doch durch seine Erziehung und sein Studium, durch seinen Lebens¬
gang und seine Lebensstellung ein Vorbild der nachsichtigen
Liebe und Sanftmuth, der Demuth und des Gehorsams, der Selbst-
320
Dr. Mittenzweig.
losigkeit und Aufopferung, des Anstandes und der feinen Form
sein sollte.
Statt dessen stossen wir bei W. auf Ehrgeiz und Empfind¬
lichkeit, auf Herrschsucht und Selbstsucht, auf Argwohn und
Misstrauen, auf Mangel an Gehorsam und Ehrerbietung, auf Hass
und Rachsucht.
Dass er ehrgeizig und empfindlich für seine Person ist, das
hat er uns schon zur Zeit seines Abiturientenexamens verrathen.
Weil er so knabenhaftes Aussehen hatte, wollte er noch nicht in’s
Examen gehen, trotz guter Kenntnisse. Er musste erst von
anderen bewogen werden, seine kleine Eitelkeit zu überwinden.
Dann studirte er und wurde Pastor. Seine Neigung führte ihn
zur Missionsgesellschaft. Wieviel sein Ehrgeiz dazu beitrug, ihn
nach der Hauptstadt des Reiches zu ziehen, das lässt sich nicht
bestimmen. Seine Werbung um die Pfarrstelle in St. Elisabeth,
die Wahl Qu. verletzte seinen Ehrgeiz und hatte den Konflikt
mit diesem zur Folge.
Sein Ehrgeiz fand ferner Befriedigung in seinen Erfolgen
gegenüber der Sozialdemokratie. W. war furchtlos, wie ihn
Superintendent B. schilderte, in die Versammlungen der Oranien¬
burger Vorstadt gegangen und war dort trotz drohender Gefahr
aufgetreten. Er selbst sagt von sich: „Ein guter Hirt verlässt
nicht seine Herde, wenn der Wolf kommt.“ Den Muth spreche
ich ihm zu, aber auch den Ehrgeiz. Auch die Hartnäckigkeit,
mit der er jede vermeintliche Verletzung seiner Ehre vertheidigte
und rächte, spricht für einen hohen Grad dieser Charaktereigen¬
schaft. Ihm genügte nicht die Erhaltung seiner christlichen Ehre,
auch der Schild seiner Mannes - Ehre musste rein erhalten bleiben.
Seine Ehre verlangte, dass er sich im Konflikt mit Qu. nicht ver¬
setzen liess. Nur seine Ehre zwang ihn, die Strafe von 300 Mk.
zu zahlen, damit seine Kinder nicht leere Wände sähen. Nicht
der Gehorsam gegen das Gesetz bewog ihn dazu, sondern die
Furcht vor vermeintlicher Schande in den Augen seiner Kinder.
Ein edler Ehrgeiz ist gewiss eine edle Eigenschaft des
Mannes, auch bei einem Pfarrer; etwas anderes ist es insonderheit
für den letzteren, wenn der Ehrgeiz so in den Vordergrund tritt,
wie bei W., zumal wenn er dann in Verbindung auftritt mit
Herrschsucht.
Nicht nur D. zeiht ihn dieser Eigenschaft, auch die Mit¬
glieder des Gemeinde - Kirchenraths beklagen sich wiederholt und
bitter über die tyrannische Leitung der Versammlungen, die keine
andere Meinung neben sich aufkommen liesse. Dem Pastor H.
gegenüber kehrt W. das Verhältniss von Pfarrer und Diakonus
schroff heraus. Die Zirkulare beweisen das Uebrige. Mit dieser
Herrschsucht im engen Zusammenhang steht seine Selbstsucht.
Was ihm geuehm war, dazu sollen sich auch die Andern bequemen.
Er wollte die Weisen des spezifischen Lutherthums in St. Golgatha
einführen und scheute selbst nicht den Kampf mit einem Theil
der Gemeinde, obwohl der Friede in der Gemeinde ihm doch vor
Allem am Herzen liegen musste. Dass er auch finanzielle Rück-
Ueber Querulantenwahnsinn.
321
sichten sprechen liess, soll nicht betont werden, aber im Interesse
seiner Stelle und seiner Nachfolger trat er in pekuniärer Beziehung
energisch und zähe auf. Schon der Superintendent B. wies auf
seinen praktischen Sinn und seine Thatkraft bei finanzieller Hebung
der Pfarre und Kirche in Beverungen hin. In St. Golgatha ver¬
folgte W. denselben Plan. Hier wurde ihm seine hartnäckige
Zähigkeit übel vermerkt.
Wenn diese drei genannten Eigenschaften schon auf einen
hohen Grad von Egoismus hindeuten, so verstärkt sich diese An¬
nahme noch, wenn wir erfahren, dass W. überdies äusserst arg¬
wöhnisch und misstrauisch war. Nur wenigen Menschen schenkte
er Vertrauen, ich nenne H., Cr., Br., Dr. B. Den meisten miss¬
traute er, und wenn er Misstrauen hegte, so wuchs dies an zu
krankhafter Höhe. Stets glaubte er, dass seine Gegner etwas
gegen ihn im Schilde führten. Sprachen in der Synode zwei mit
einander, so bezog er deren Gespräch auf sich. Er argwöhnt, dass
B. und H., H. und D. u. s. w. gegen ihn konspirirten. Man wolle
ihn kränken, beleidigen, schädigen, verderben. Ueberall sieht er
Verschwörungen. Jedermann, der ihm entgegentritt, und wäre es
noch so sachlich, ist sein persönlicher Feind. Die Mitglieder des
Kirchenraths sind ihm persönlich feind, D. hat sie gewonnen und
verschwört sich mit ihnen zu seiner Verfolgung. Der Konsistorial-
rath A. verfolgte ihn aus unedlem Motive. Als ich vor Kenntniss
der speziellen Verhältnisse Herrn W. mittheilte, dass vor seinem
Besuche bereits Herr Konsist.-Rath A. mich aufgesucht habe, um
mir den Auftrag des Konsistoriums zu übermitteln und mich
darüber äusserte, dass mir auch die sehr umfangreichen Akten
zugesandt werden sollten und dass Herr A. mir zur Erleichterung
der Orientirung Anhaltspunkte, „einen rothen Faden“, wie ich mich
W. gegenüber ausdrückte, in Aussicht stellte, da witterte er sofort
neuen Verrath. Auch ich sollte befangen gemacht werden. Die
Menge dieser Vorkommnisse veranlasste das Konsistorium nicht
ohne Grund zur Annahme eines gewöhnlichen Verfolgungswahns.
W. war aber nicht der Mann, der die ihm zugefügte odei
vermeintlich zugefügte Unbill und Ungebühr leidend hinnahm.
Er war, wie er selbst sagt, zu leidenschaftlich, um dagegen nicht
zu reagiren.
Schon in früheren Jahren erfuhr dies der Pfarrer Qu., der
Superintendent Str., später Herr Hofprediger St. und seine „drei
Redakteure“, der Kirchenrath und seine Mitglieder, namentlich
auch Herr Kirchenkassen-Rendant Sp., das Konsistorium und seine
Mitglieder, Herr Superint. D., der Präsident H. und andere mehr.
Aber nicht nur in leidenschaftlicher Erregung reagirte W.
auf Angriffe, welche gegen seine Person gerichtet schienen, sondern
bei kaltem Blute und mit Ruhe und Ueberlegung ging er an die
Zurückweisung und Wiedervergeltung von Kränkungen und Invek-
tiven. War doch sein und seiner Ehefrau Wahlspruch in den oft
geäusserten Worten enthalten: „Wer mich verderben 4 will, den
verderbe ich.“ W. will dieses Wort aus dem Munde des Prof. W.
vernommen und sich angeeignet haben. Frau W. gebrauchte es
322
Dr. Mittenzweig.
Herrn v. H. gegenüber; W. selbst hat gegen Herrn Konsist.-Rath
A. und Präsident Sch. diesen Satz vertheidigt, ihn als nicht un¬
moralisch und nicht unchristlich hinzustellen gesucht und damit
seine diesbezügliche Moral vertheidigen wollen. Er hält dafür,
dass der Satz die Nothwehr ausdrücke, er dehnt den Begriff der
Nothwehr aber sehr weit aus und überschreitet dieselbe nicht nur,
sondern handelt sogar nicht selten nach dem Muster einer präven¬
tiven Nothwehr. In welcher Weise aber W. diese Nothwehr und
die Abwehr zur Wahrung seiner Interessen ausübt, davon zeugen
seine Schriften, Beschwerden, Eingaben und Zirkulare fast auf
jeder Seite. Wie er leicht dazu gelangt, in Jemand seinen Gegner
zu sehen, so fehlt es ihm auch nie an Anhaltspunkten, um ihn
anzugreifen, zu kränken, zu beleidigen. Nicht selten wird ihm
sogar vorgeworfen, dass er auch zu Verleumdungen greife und es
mit der Wahrheit nicht genau nehme. Die Mitglieder des Ge¬
meinde - Kirchenrathes, welche am meisten unter ihm zu leiden
hatten und welche nach dem Ausspruch der Herren A. und Sch.
ernste, besonnene Männer und von der friedfertigsten Absicht be¬
seelt sind, klagen in der herbsten Weise über die Behandlung, der
sie seitens ihres Pfarrers W. dauernd ausgesetzt sind. Als Beispiel
für die Rachsucht und die schnöde Behandlung von Seiten seines
Pfarrers dient der langjährige Kirchenkassen - Rendant Sp. Dieser
hatte sich lange Zeit völlig parteilos in dem Streit zwischen W.
und Gemeinde - Kirchenrath gehalten; schliesslich glaubte W., dass
auch Sp. auf die Seite seiner Gegner getreten sei, und in kurzer
Zeit hatte er mit Benutzung kleiner Unregelmässigkeiten im
Kassenwesen es dahin gebracht, dass er den alten, verdienten
Herrn in barscher Weise „wegen zunehmender Gedächtnisschwäche“
aus dem Amte weisen konnte.
Sein Benehmen gegen seine Vorgesetzte Behörde ist geradezu
masslos, die Rücksichtslosigkeit seiner Sprache und seiner Angriffe
spottet jeder Beschreibung. Dem Konsist.-Rath A., welcher die
Anklage zu vertreten hat, wirft er alle erdenklichen Böswillig¬
keiten vor. Er konspirire mit seinen Gegnern, er mache böswillige
Unterstellungen, er wolle ihn verderben, er sei sein Feind aus
Eigennutz, ja, W. schreckt nicht davor zurück anzudeuten, dass in
böswilliger Absicht aus seiner Broschüre zwei Blätter von grosser
Bedeutung heimlich herausgeschnitten seien während ihres Ver¬
wahrsams im Konsistorium.
Schon vor Zeiten hat W. wegen solchen Benehmens einen
Verweis erhalten, als er den Brief des Superint. Str. ironisirte;
sein Vorgehen in den letzten beiden Jahren aber spottet jeder
Beschreibung und jeder Remedur. Da die Entscheidungen und Be¬
richte des Konsistoriums sich vielfach auf die früheren Schriften
W.’s beziehen, so will ich nur eine kurze Blumenlese an der Hand
eines seiner letzten Schreiben an den Evangelischen Ober-Kirchen-
Rath folgen lassen (8. Februar 1892). Er sagt darin:
„Schon Mancher hat mir erklärt, dass er durch solche Verfügung den
Verstand verlieren würde. Ob Dieser oder Jener solchen Erfolg wider mich
erhofft hat, Gott weiss es.“ —
Ueber Querulanten Wahnsinn.
323
„Und fürwahr, ich habe die Machtmittel solcher M&nner nie unterschätzt,
und ihre ,Ansichten* hingen von ihrer Absicht ab.“ —
„Im Juni 1891 bekomplimentirte mich A. als Verrückten. Ich erkannte,
dass er die Situation am Wenigsten nach ihrer sittlichen radix begriff und den
Menschen wie den Dingen nicht gewachsen war.“ —
„Als A. sich etwas administrative Erleichterung zu verschaffen gesucht
hatte, indem er mich im Juni 1891 privatissime für verrückt erklärte, habe ich
noch auf sein Gewissen zu wirken versucht.“ —
„Ich war damals gezwungen, vor dem Konsistorium zu erklären, dass
ich seine Besorgniss für mich ohne Dank ablehne, indem ich mich im Immediat-
Sanatorium Gottes befinde.“ —
„Konsistorial-Rath M. nämlich, einer der Intimsten des Hofpredigers St.
und im Uebrigen ohne jegliche Ursache ein ausgesprochener Gegner von mir.“ —
„Seit der Zeit ist eine dämonische Agitation wider mich in Szene gesetzt.“ —
„Aber es gab Solche (im Konsistorium), denen ich lieber geworden wäre,
wenn D. Hecht gehabt hätte, und denen ich immer weniger lieb wurde, je mehr
das Unrecht von D. und Genossen zu Tage trat. Es wurde stellenweis gehandelt,
als ob unter den missbrauchten Titeln von Friede und Versöhnung es nur noch
eine Pflicht gebe, mich als vogelfrei zu behandeln und preiszugeben, dagegen
meine Feinde, D. und Genossen, zu bekomplimentiren, zu hätscheln und zu
bestärken.“ —
„L. geht’s wie Manchem; er gilt für meinen Freund und er, der mir über
seinen verstorbenen Kollegen B. mit Recht früher Stein und Bein geklagt, ver¬
band sich nun mit dessen Bruder wider mich auf der Synode.“ —
„Dem Konsist.-Rath A. war es wohl bewusst, dass jeder etwa gelingende
Versuch, mich zu schwächen, gleichbedeutend mit einer mehrseitigen Stärkung
meiner Gegner war. Die wirksamste Schwächung war die, mich mit allerlei
Gerede, etwa z. B. unter der Firma einer für christlich ausgegebenen „Demuths“-
Nttance, an mir selbst irre zu machen.“ —
„Unter die, die mir ohne Grund und gegen Beruf meinen Amtsweg und
Lebensgang erschwert haben, gehört auch Herr Ober-Konsist.-Rath D., mein
früherer Superintendent. Einerseits gab er Verdächtigungen, von Diakonus H.
wider mich angebracht, ohne Vorfrage bei mir weiter, andererseits scheute er
sich nicht, mich, wiederum natürlich ohne mein Wissen und Ahnen, ebenso auch
ohne Ursache als einen Verdächtiger eines meiner Amtsbrüder zu verdächtigen
(Angelegenheit B.).“ —
„Durch Superint. D. hatte ich unerlässlicher Weise über Diakonns H. zu
berichten. Meine damaligen Berichte, von Superint. D. vermöge seines Amtes
mit Marginal-Bericht versehen, und von den Herren H., Br., A. gelesen, sind
seitens des Königlichen Konsistoriums unter damaliger Leitung, nachdem sie die
Feuerprobe bestanden, verschwunden; man hatte nichts bemängeln können.“ —
Diakonus H. ist von meinem Gegner Konsist. - Rath M. entdeckt und aus¬
gesucht, gemeinschaftlich mit Herrn Dr. K. empfohlen und mittelst Empfehlung
von dieser Seite Herrn Dr. Br. zugeschoben.“ —
„Bei Konsist.-Rath A. ist mir eine mehrfache Gedächtnissunfähigkeit
entgegengetreten. Etwas de me und contra me Gehörtes erschien ihm als etwas
a me Gesagtes. Ich habe ihm sagen müssen, das sei ja zum Gruseligwerden
und könne ja Unglück anstiften. Ich erkannte je länger je mehr seine Hülf-
losigkeit gegenüber seinen wirklichen Aufgaben; er fand nicht die Kraft in
sich, Leute wie Sp. oder R. zurechtzuweisen und richtig zu behandeln. Je mehr
ihr Unrecht und mein Recht zu Tage kam, um so grösser ward diese seine
Hülflosigkeit. Nun suchte er, um zugleich alles von mir Vorgebrachte zu ent-
werthen, sich durch die Auskunft zu retten, dass ich geistesgestört u. s.‘ w. sei.
Die Erwägung, ob solcher Auskunftsversuch verbrecherisch sei oder nicht, ist
ihm wohl ziemlich fern geblieben.
Schon im Sommer 1889 hatte er, um im Grunde meine Verantwortlichkeit
zu treffen, von Ungeheuerlichkeiten mit erstaunlicher Oberflächlichkeit gefaselt.
Schon damals war zu erkennen, dass er mich zu verderben begehrte. In
sittlichen Beurtheilungen sah ich mich mehrfach von ihm, soweit er sich wenigstens
ausspracb, durch eine Kluft geschieden.“ —
„Auch der Präsident hatte keine Befugniss, diesem Herrn R. vorher oder
nachher solches Recht einzuräumen und sein willkürliches Verhalten zu besiegeln
Dr. Mittenzweig.
324
oder za belohnen. Meines Erachtens giebt es kaum etwas Bedenklicheres, als
wenn die Autorität sich in den Dienst der Anarchie stellt.“ —
„Wissen denn Sch. und A. trotz ihrer Aemter nicht, dass sie, wie sehr
sie mir auch grollten, doch nicht so entgleisen durften?“ —
„Freilich liegt Methode in dem Sch. • A.’schen Vorgehen gegen mich tadel¬
losen Pfarrer.“ —
„Ohne ärztliches Zeugniss und von Niemanden inspirirt als den
Herren Sch. und A., womit jede heilige Inspiration hier ausgeschlossen ist, hat
ein ganzes behördliches Kollegium vereideter Männer die Fahrlässigkeit oder
dess etwas gehabt, mich für dauerndem Wahn und dauernder Unfähigkeit ver¬
fallen zu erklären. Und dieses Kollegium, unser Königliches Konsistorium, heisst
eine geistliche Behörde!“ —
„Wer aber fähig ist, seinen Nächsten ohne Ursache für verrückt zu erklären,
wird der zuverlässig in Berichten sein wollen oder können?“ —
„Sogar das, was der oberkirchenräthliche Dezernent angeregt hatte, reicht
nicht an die Thaten Sch.-A’s. heran.“ —
„Wie sehr man mit vollem Bewusstsein so grauenhaft an mir handelte,
geht aber schon hervor ..."
Nur dem Herrn Generalsup. Dr. Br. gegenüber scheint W.
kein Misstrauen zu hegen. Er schreibt:
„Ihm war meine Erholungsreise, wenn mich nicht Alles täuscht, nicht
etwa ein Mittel, daraufhin und in meiner Abwesenheit mir „Geistesschwäche“
wie mit einem Steinwurf nachzuwerfen und mittels eines mehrwöchentlichen
Beiseaufenthalts über die ganze Dauer meines Lebensganges zu verfügen.“ —
Die Gesammtheit der vorgenannten Eigenschaften wurzelt in
einem krassen Egoismus, welcher in der Jugend W.’s von seinen
glänzenden Geistesgaben überstrahlt wurde, im späteren Alter
aber, namentlich durch die äusseren Verhältnisse, die exponirte
Stellung, der sich W. aussetzte und die scharfen Gegensätze, in
welche er mit politischen und kirchlichen Gegnern gebracht wurde,
wucherte und schliesslich seine Persönlichkeit beherrschte.
Daneben wurde überdies, nicht nur vom Konsist. - Rath A.,
welcher allerdings am meisten mit W.’s Person und seinen Ange¬
legenheiten sich amtlich zu beschäftigen hatte, sondern auch von
anderen Personen und insonderheit von dem ganz unbefangenen
Ober - Kirchenrath die Bemerkung gemacht, dass auch die Intelli¬
genz W.’s gelitten haben müsste.
Die Verworrenheit der beiden W.’schen Berichte an den
Ober - Kirchenrath vom 19. und 21. Dezember 1891 und der Ent¬
wurf für eine Verfügung des Konsistoriums an den Gemeinde¬
kirchenrath vom 23. Dezember sprechen dafür, dass er damals die
Besonnenheit ganz verloren hatte.
Auch sein Gedächtniss scheint durch die dauernde Gemüths-
erregung, trotz der Schärfe für manche Dinge, hie und da gelitten
zu haben. Die mehrfachen Anklagen, dass W. an einem Mangel
an Wahrheitsliebe leide, finden für mich nur in mangelnder Re¬
produktionstreue für manche Erlebnisse ihre Erklärung.
Ich komme hiermit auf den Schwerpunkt meines Gutachtens
und zu der Frage: Ist das Benehmen W.’s namentlich aus der
letzten Zeit die Folge eines unsittlichen Charakters oder die Folge
einer krankhaften Geistesstörung.
Die Stimmen darüber sind getheilt.
Am schärfsten hat sich Herr R. diesbezüglich ausgesprochen,
wenn er sagt, er halte nicht dafür, dass W. geisteskrank sei,
sondern moralisch schwach.
Ueber Querulantenwahnsinn.
325
Ich kann mich diesem Urtheile des Herrn R. nicht an-
schliessen, sondern bin gegenteiliger Ansicht: Herr W. ist nicht
moralisch schlecht, sondern geisteskrank. Er besitzt von Natur
einen krankhatten Charakter, und auf der Grundlage dieses Charak¬
ters hat sich unter der Ungunst übel wirkender äusserer Einflüsse
eine Geisteskrankheit entwickelt.
Neben dem krassen Egoismus, welcher W. beherrscht, haben
wohl die meisten Beobachter seines Lebens oder Leser seiner
Akten sich des Gefühls nicht erwehren können, dass in seiner
Persönlichkeit ein unbegreifliches Etwas steckt, was nicht an Bös¬
willigkeit, sondern an krankhaften Zwang erinnert. Diese ewige
Rechthaberei, welche selbst auf die eindringlichsten Zusprüche
von Männern, welche W. hoch zu verehren scheint, nur schein¬
bar und nur auf Stunden zum Nachgeben gebracht werden kann,
seine heftigen, masslosen und bösartigen Angriffe und Verdächti¬
gungen erwecken dem unbefangenen Leser an und für sich schon
das Gefühl, dass er es mit einem kranken Menschen zu thun habe.
Lange Jahre hat man vor einem Räthsel gestanden, wenn
man Personen, wie W., sich in einem unvernünftigen und zweck¬
losen Kampf mit wirklichen oder vermeintlichen Gegnern müde
kämpfen sah, lange blieb das Wesen solcher Menschen dem Auge
der Welt und Wissenschaft verborgen. Die immer wiederkehrende
Erfahrung, dass der Lebensgang und Lebenskampf dieser
Menschen stereotyp denselben Weg nahm, zu demselben trostlosen
Ziele, dem Ruin der Person und seiner Familie und nicht selten
zum ausgesprochenen Wahnsinn, zur Verrücktheit führte, hat uns
eine Erklärung auch für das Wesen dieser Personen gegeben.
Wie bei anderen Personen derart, finden wir auch bei W.
den krankhaften Punkt in dem Gefühls vermögen, in einem Mangel
des Rechtsgefühls. Er, der scheinbar nur nach Recht uud Wahr¬
heit strebt, verräth von früh auf ein mangelndes Gefühl für das
verletzte Recht anderer Personen. Und nicht allein das unbe¬
stimmte Gefühl hierfür fehlt ihm, sondern es fehlt ihm auch trotz
hoher Begabung und trotz eines bis zur Haarspalterei und Spitz¬
findigkeit scharfen Verstandes die Einsicht in das Unrecht, welches
er mit diesem Eingriff in die fremde Rechtssphäre begeht.
W. besteht so beharrlich auf sein wirkliches oder vermeint¬
liches Recht und sucht rücksichtslos Anerkennung desselben, selbst
wenn er dabei und dadurch die Rechte anderer Personen mit
Füssen tritt, weil er kein Verständniss für das Anderen zugefügte
Unrecht hat. Er ist in dieser Beziehung farbenblind.
Dies beweist er insbesondere gegenüber den seelsorgerischen
Zusprüchen und Ermahnungen der Herren Br. und B., und ferner
durch den genannten Entwurf vom 23. Dezember 1891.
Dieser Entwurf wurzelt m. E. nicht in Bosheit, sondern in
jedem Mangel an Verständniss für das Unvernünftige und Un¬
rechte, was er von dem Gemeinde-Kirchenrath und dem Konsis¬
torium fordert. Denn bei genauerer Prüfung besagt dieser Ent¬
wurf: Wenn der Gemeinde - Kirchenrath alle Punkte, welche W.
326
Dr. Mittenzweig.
je gefordert hat, nach seinem Wunsch erfüllt, dann will er die
Hand zur Versöhnung bieten.
Der ethische Defekt, der W. angeboren ist, drückt seinem
Wesen und seinem Charakter den Stempel der Krankheit auf, und
erst nachdem wir diesen Gesichtspunkt gewonnen haben, haben
wir den richtigen Schlüssel zu seinem Leben und Treiben, zu
seinem Denken und Handeln gefunden. Selbst manche vorher
unverständliche Einzelheiten seines Wesens stellen sich jetzt unver-
htillt dar.
Aus dieser ethischen Verkümmerung erklärt sich der wuchernde
Egoismus, dem ein starkes sittliches „Ich“ nicht entgegentritt,
weil es eben selbst mangelhaft entwickelt ist. Ihm entspricht der
unzähmbare Ehrgeiz, der Mangel an Zartgefühl, an Rücksicht, an
Duldsamkeit, die Empfindlichkeit für die eigene Person neben der
Rücksichtslosigkeit gegen andere, die Selbstsucht und Selbstüber¬
hebung neben der Missachtung seiner Gegner, die Beschönigung
der eigenen Handlung neben der Verdächtigung und böswilligen
Unterstellung der harmlosesten Vorgänge seitens anderer Personen.
Dass wir es in Wahrheit mit einem krankhaften Gefühls¬
mangel zu thun haben, dafür sprechen auch leise Andeutungen
einer Betheiligung des Intellektes. Die Unklarheit und Verworren¬
heit mancher Berichte verräth einen Mangel an klarem Denken
und ruhiger Besonnenheit. Die Ursache dieses Mangels ist einer¬
seits die dauernde Gemüthserregung W.’s, welche die verständige
und objektive Auffassung der ihn interessirenden Begebnisse hin¬
dert und seinen Vorstellungskreis mit falschen Bildern erfüllt,
andererseits ein wirklicher Mangel an Logik und Erkenntniss für
den inneren Zusammenhang höherer sittlicher Interessen. Mit
feinem Verständniss ist bereits in dem Gutachten des Konsistoriums
dieser Punkt hervorgehoben, wo es heisst: „dass er bei vielem
Scharfsinn und Gedankenreichthum im Nebensächlichen — in der
Hauptsache nicht mehr im Stande sei, die umgebenden Verhält¬
nisse klar zu erkennen und mit der für sein Amt erforderlichen
Besonnenheit richtig zu beurtheilen.“
Einen zweiten Defekt des Intellektes bemerken wir, aller¬
dings erst in seinen Anfängen, auf dem Gebiet des Gedächtnisses.
Dem ihm vorgeworfenen Mangel an Wahrheitsliebe stimme ich
nicht bei. Ich glaube aus der Thatsache, dass seine Angaben
sich bisweilen nicht mit der Wahrheit decken, entnehmen zu
dürfen, dass er einen Mangel an Reproduktionstreue besitzt, und
bin um so mehr dieser Ansicht, als auch Herr Konsist. - Rath A.
mir gegenüber persönlich bemerkt hat, dass ihm wiederholt eine
Unklarheit des Gedächtnisses bei W. aufgefallen sei.
Eine andere Frage ist ferner die, ob W. bereits an Wahn¬
ideen leidet, im Speziellen an Grössenwahn und Verfolgungswahn.
Der Beweis hierfür ist m. E. in dem jetzigen Entwickelungs-
Stadium der Krankheit schwer zu erbringen. Dass das Hervor¬
treten und Hervorkehren seiner eigenen Persönlichkeit bereits
Wahn wäre, möchte ich nicht unterzeichnen, dass die Idee, er
werde von vielen Seiten verfolgt, als Verfolgungswahn schon jetzt
Ueber Querulantenwahnsinn.
327
aufzufassen sei, will ich auch dahingestellt sein lassen. Ganz
unberechtigt erscheint mir zwar die letztere Annahme nicht,
namentlich mit Rücksicht auf den Umstand, dass in letzterer Zeit
der Kreis seiner vermeintlichen Verfolger einen immer grösseren
Radius erhalten hat und dass recht wenig 'dazu gehört, um nach
dem Urtheil W.’s in diesen Kreis aufgenommen zu werden. 1 )
Gleichwohl nehme ich Anstand, es auszusprechen, dass W.
bereits an ausgesprochenen Wahnideen leide. Sein Krankheitsbild
weist uns weniger auf die Krankheitsform der unkomplizirten oder
der halluzinatorischen Paranoia (Wahnsinn und Verrücktheit), als
auf die Form der Paranoia querulans, den sogenannten Queru¬
lantenwahn hin.
Die zahllosen Konflikte, die Unverträglichkeit, die Recht¬
haberei, die krankhafte Verfolgung des vermeintlichen Rechtes,
die Furcht, an seiner äusseren Ehre zu verlieren, die Art und
Weise seines Kampfes um die Wiedergewinnung seines Rechtes
und seiner Ehre, sein Vordringen bis in die höchsten Instanzen,
die Länge, Häufigkeit und Beschaffenheit seiner Eingaben und Be¬
schwerden, die mangelnde Einsicht in das von ihm begangene
Unrecht und in die Folgen seines unvernünftigen und zweckwidrigen
Treibens, kennzeichnen schon jetzt den echten krankhaften Queru¬
lanten. Und auch der Umstand, dass er den richterlichen Be¬
hörden bisher nicht beschwerlich gefallen ist, widerspricht keines¬
wegs der Annahme, dass er an Querulantenwahn leidet.
W. hat freilich Prozesse geführt, aber bisker keinen ver¬
loren und darum noch keinen Anlass gefunden, auch in dem
Richter einen Gegner oder Verfolger zu sehen.
Ich gebe hiernach mein Gutachten dahin ab
dass W. an einer chronischen Geistesstörung, nämlich
an Querulantenwahnsinn leidet.
In dem Begleitschreiben an das Konsistorium habe ich ferner
ausgeführt:
Was die Frage der Entmündigung aulangt, so hat Witte’s
Geist bisher eine dauernde Schädigung noch nicht erlitten. Seine
Krankheit befindet sich im ersten Stadium und hat bisher weder
eine dauernde Beraubung der Besonnenheit oder Vernunft, noch
eine sekundäre Geistesschwäche zur Folge. Es ist sogar nicht
ausgeschlossen, dass die leidenschaftliche krankhafte Erregung,
welche jetzt seinen Geist trübt und die Herrschaft seiner Krank¬
heit über die Vernunft bedingt, durch die Entfernung aus dem
Amte und den Fortfall der durch dieses bedingten Aufregungen
schwinden kann.
Diesen meinen Standpunkt habe ich auch in der Diagnose
des beginnenden Querulanten-Wahnsinnes gewahrt.
*) Die Arbeit Magnan’s über den Quernlantenwahn nnd die verfolgten
Verfolger war mir zur Zeit der Erstattung des Witte’schen Gutachtens leider
noch unbekannt.
328 Bericht über die XV. Jahressitzung des Vereins Deutscher Irrenärzte.
Aus Versammlungen und Vereinen.
Bericht Uber die am 25. u. 26. Mai d. J. in Frankfurt a. M.
stattgehabte XV. Jahressitzung des Vereins der Deutschen
Irrenärzte.
(Schluss.)
„Die Bestrebungen zur Abänderung des Ver¬
fahrens bei der Anstaltsaufnahme und bei der Ent¬
mündigung der Geisteskranken“, wie sie sich in dem be¬
kannten „Aufruf“ und in den Reden der bekannten Agitatoren
(Stöcker und A.) in den parlamentarischen Verhandlungen dar¬
stellten, charakterisirte Geh. Med.-Rath Dr. Zinn in einem um¬
fassenden, zwei Stunden währenden Vortrage. Er wies an der
Hand der geschichtlichen Entwickelung des bezüglich der Irren
und der Entmündigung geltenden Rechts nach, dass die jetzt zu
Recht bestehenden Verwaltungs- und Gesetzes-Vorschriften auf
sachkundigen und humanen Erwägungen beruhen und volle Gewähr
und Sicherheit gegen verbrecherischen Missbrauch bieten. Er
bedauerte, aussprechen zu müssen, dass die Unterzeichner des
„Aufrufs“ ohne sorgfältige Prüfung der von ihnen mitgetheilten
angeblichen Thatsachen und ohne genaue Kenntniss der wirk¬
lichen Verhältnisse, nur gestützt auf einseitige Angaben Betheiligter
und auf deren Schriften, in unbegründeter Weise schwerwiegende
Anklagen von so verderblicher, Misstrauen säender Wirkung gegen
Aerzte und gegen die Rechtspflege agitatorisch in die Oeffentlich-
keit geschleudert haben. Weiter bedauert er, dass bei den par¬
lamentarischen Verhandlungen über diese Dinge die Regierungs¬
vertreter bei den jetzigen Verhältnissen, wo ein Fachmann im
Ministerium fehlt, nicht in der Lage gewesen wäreu, die that-
sächlich bestehenden Verhältnisse darzulegen, womöglich die
Resultate amtlicher Ermittelungen über die angeführten Fälle
mitzutheilen und so das Unbegründete der Anklagen und Verdäch¬
tigungen nachzu weisen. —
Die sich aus vielen Einzelangaben und daran geknüpften
Erwägungen zusammensetzenden Ausführungen eignen sich nicht
für ein kurzes Referat, es sei daher auf die in Kurzem erschei¬
nende Druckschrift hingewiesen, welche die vorstehend skizzirten
Verhandlungen und Referate im Wortlaut bringt. Die Versamm¬
lung nahm einstimmig die nachstehenden, vom Referenten vorge¬
schlagenen Thesen an:
Zu den im Preussischen Abgeordnetenhause vom 16. März 1892 und
10. März 1893 von dem Abgeordneten Pastor Stöcker und zu den im „Auf¬
ruf“ der Kreuzzeitung vom 9. Juli 1892 in Bezug auf die über Auf¬
nahme in Irrenanstalten und deren Beaufsichtigung, Uber die für
das Entmündigungsverfahren wegen Geisteskrankheit in Preussen
gültigen Vorschriften und Gesetze und deren Handhabung durch die Verwaltung
und Rechtspflege erhobenen Beschwerden, Beschuldigungen und Forderungen
erklärt der am 25. und 26. Mai 1893 in Frankfurt a. M. zu seiner Jahressitzung
versammelte „Verein der deutschen Irrenärzte“ einmüthig:
I. 1) Die über die Aufnahme in Irrenanstalten — private und öffent¬
liche — und über die Entlassung aus denselben bestehenden Vorschriften und
Bericht über die XV. Jahressitzung des Vereins Deutscher Irrenärzte. 329
gesetzlichen Bestimmungen bieten volle Sicherheit gegen ungerechtfertigte
Aufnahme und gegen ungerechtfertigte Verlängerung des Aufenthalts
der Aufgenommenen in den Anstalten.
Der Nachweis von in Preussen und im übrigen Deutschland angeblich
vorgekommenen ungerechtfertigten Aufnahmen, oder zu Unrecht oder „böswillig“
verzögerten Entlassungen ist noch niemals geführt worden, auch nicht durch
Pastor Stöcker und den „Aufruf“.
2) Eine Milderung der gültigen Aufnahmebestimmungen ist ohne
irgend welche Gefährdung der persönlichen Freiheit der Kranken
durchtührbar und im Interesse derselben und der Möglichkeit ihrer Heilung
dringend erwünscht.
3) Die Verwirklichung der von dem Abgeordneten Pastor Stöcker und
dem “Aufruf“ gestellten Forderung: die Entscheidung über die Auf¬
nahme“ in die Hand einer Kommission unabhängiger Männer zu legen“,
würde den beabsichtigten Schutz nicht gewähren, eine rationelle Behandlung,
Pflege und Bewahrung der Geisteskranken unmöglich machen, die öffentliche
Ordnung und Sicherheit gefährden und zudem sich als kaum ausführbar erweisen.
4) Die Aufnahme in eine öffentliche oder private Irrenanstalt kann und
darf nicht von der vorher erfolgten Entmündigung abhängig ge¬
macht werden, wie das auch in allen deutschen Staaten, insbesondere Preussen
anerkannt worden ist.
II. 1) Die über die Beaufsichtigung der Irrenanstalten — öffent¬
lichen und privaten — bestehenden Vorschriften und die den Behörden zu dem
Zwecke eingeräumten Befugnisse genügen den strengsten Anforderungen und
bieten richtig gehandhabt nach jeder Richtung volle Sicherheit.
2) Eine ihrem Zwecke mehr entsprechende nnd häufigere Ausführung
der betreffenden Vorschriften ist im öffentlichen und im Interesse der Kranken
und ihrer Familien dem „Verein der Deutschen Irrenärzte“ nur erwünscht.
Die von massgebender Stelle ausgesprochene Absicht, einen „hervorragen¬
den Kenner der Psychiatrie“ in erster Linie mit der Beaufsichtigung der privaten
und öffentlichen Irrenanstalten zu betrauen, entspricht, sofern derselbe auch
durch langjährige Erfahrung im Anstaltsdienst mit der Irrenpflege vertraut
ist, dem schon 1877 und 1878 (Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 34, p. 713 und f.,
Bd. 35 p. 527) von dem „Verein der deutschen Irrenärzte“ gestellten und seither
wiederholten Verlangen; die endliche Verwirklichung dieses Verlangens wird
mit grosser Befriedigung von den Irrenärzten aufgenommen werden.
3) Die Beaufsichtigung der öffentlichen und Privatirronanstalten liegt
schon jetzt „höheren Verwaltungsbeamten“ (Landesdirektor, Oberpräsident, Re¬
gierungspräsident) ob. Gegen die beabsichtigte Betheiligung „eiues höheren
Verwaltungsbeamten“ an der Beaufsichtigung der Irrenanstalten neben dem
„Kenner der Psychiatrie“ wird ein Einwand nicht erhoben. Wohl aber muss im
Interesse der Kranken und ihrer Familien, im Interesse der Ruhe und Ordnung
in der Anstalt gegen die Zuziehung von Elementen, „welche nicht nach Fach¬
kenntnissen urtheilen, sondern auf den Augenschein sehen“ entschieden
Verwahrung eingelegt werden.
4) Die Privatirrenanstalten sind ein dringendes Bedürfniss. Die von dem
Abg. Stöcker und dem „Aufruf“ gegen die Irrenärzte, namentlich gegen die
an Privatanstalten erhobenen Beschuldigungen sind unbegründet, ungerecht und
— weil dadurch Misstrauen erregt wird, Virurtheile geweckt und genährt
werden, — im Interesse der Kranken und ihrer Familien zu bedauern.
III. 1) Die Entscheidung, ob eine Entmündigung zu verhängen oder eine
ausgesprochene Entmündigung wieder aufzuheben sei, kann nur auf Grund ärzt¬
licher Gutachten durch R i c h t e r s p r u c h erfolgen.
Die Verwirklichung des Verlangens des Abg. Pastor Stöcker und des
„Aufrufs“, die „Entscheidung Über die Entmündigung in die Hand einer
Kommission unabhängiger Männer zu legen, welche das Vertrauen ihrer
Mitbürger geniessen, nicht nach Fachkeuntnissen urtbeilen, auch nicht
durch medizinische Gutachten beeinflusst sind, sondern auf den Augenschein
sehen“, würde nur das Interesse und das Wohl der in Frage kommenden Per¬
sonen, die Rechtssicherheit und das Vertrauen zur Rechtspflege schädigen, die
öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden und seinen Zweck verfehlen. Ein
solches Verlangen beruht auf völliger Unkenntniss der thatsächlichen Verhält¬
nisse und ist unausführbar.
330 Bericht ttber die XV. Jahressitzung des Vereins Deutscher Irrenärzte.
2) Das in Prenssen und Deutschland gültige Verfahren in Entmündigungs¬
sachen bietet durch die Anordnung provisorischer Fürsorge, durch die aus¬
gedehnte Zulassung der Anfechtungsklage, durch die Zulässigkeit einst¬
weiliger Verfügungen zum Schutze der Person und des Vermögens, durch
die Möglichkeit, jederzeit, eventuell im Wege des Prozesses, die Wieder¬
aufhebung der Entmündigung erwirken zu können, durch Zulassung der
Rechtsmittel — Beschwerde, Klage, Berufung, Revision — und durch die
Befugniss des Staatsanwalts, in allen Fällen im Interesse des zu Ent¬
mündigenden oder des Entmündigten das Verfahren zu betreiben, einen aus¬
reichenden Schutz für die persönliche Freiheit, die bürgerliche Selbst¬
ständigkeit und das Vermögen aller derjenigen Personen, gegen welche der
Verdacht einer Geisteskrankheit angeregt und deshalb ein Entmündigungsantrag
gestellt ist. Keines der, vor Inkrafttreten des jetzigen Entmündigungsver¬
fahrens für das Deutsche Reich, in Preussen und den übrigen deut¬
schen Staaten in Geltung gewesenen Gesetze hat einen so weit¬
gehenden Schutz für die persönliche Freiheit und die bürgerliche Selbst¬
ständigkeit gewährt und damit solche Schonung mit dem körperlichen
und geistigen Zustand des zu Entmündigenden oder des Entmündigten
verbunden, wie das seit 1879 für das Deutsche Reich eingeführte Verfahren in
Entmündigungssachen wegen Geisteskrankheit sie gewährleistet.
3) Der Nachweis für die Behauptungen des Abgeordneten Pastor Stöcker
und des „Aufrufs“, dass ungerechtfertigte Entmündigungen in Preussen oder
im übrigen Deutschland vielfach oder auch nur einmal und namentlich, dass
dieselben in Folge mangelhafter gesetzlicher Bestimmungen des
Entmündigungsverfahrens vorgekommen seien, ist in keiner Weise
erbracht und somit auch nicht der Nachweis für das angeblich vorhandene Be-
dürfniss einer Abänderung des bestehenden Rechts. Es bleibt zu bedauern, dass
in den von dem Abgeordneten Stöcker und dem „Aufruf“ namentlich bezeich-
neten Fällen angeblich „ungerechtfertigter Entmündigung und Einsperrung in’s
Irrenhaus“ nicht durch amtliche Untersuchung der wirkliche Sach¬
verhalt festgestellt worden ist.
IV. 1) Der Staat hat die Pflicht, für eine bessere theoretische und prak¬
tische Ausbildung aller Aerzte in der Psychiatrie zu sorgen; zu dem Zweck
muss die Zulassung zur ärztlichen Prüfung von dem Nachweis eines mindestens
halbjährigen Besuchs einer psychiatrischen Klinik abhängig gemacht und
die Psychiatrie als Gegenstand der ärztlichen Prüfung in die
Prüfungsordnung aufgenommen werden.
2) Der Oentralbehörde jeden Staates ist ein mit der Psychiatrie und
der Irreupflege durch langjährige Erfahrung im Anstaltsdienst theoretisch und
praktisch vertrauter Irrenarzt als technischer Rath beizugeben. Demselben
ist die Leitung des gesammten Irrenwesens und die Oberaufsicht über die
Irrenpflege zu übertragen, und hat derselbe diesem Amte ausschliesslich zu
leben. (Beschl. d. V. d. d. Irrenärzte 1872, 1877, 1878 u. s. w. AUg. Ztschr.
f. Psychiatr. Bd. 29, 34, 35 u. s. w.)
Aus den weiteren Verhandlungen seien noch erwähnt die
Vorträge über die z weckraässigste Art der Gehirnsektion.
Die Redner (Siemerling, Weigert, Edinger u. A.) betonten,
dass die älteren Methoden und auch die für die gerichtlichen Ob¬
duktionen von V i r c h o w vorgeschriebene für die Zwecke der
genaueren Lokalisation und der späteren mikroskopischen Durch¬
forschung ungeeignet seien. Ein für alle Fälle passendes Schema
giebt es nicht; diejenige dem individuellen Fall angepasste Methode
ist die beste, welche bei klarem Einblick in die wichtigsten
makroskopischen Verhältnisse das Objekt für die Zwecke der nach¬
folgenden mikroskopischen Untersuchung nicht verdirbt. Manche
Redner sprechen sich im Prinzip für grosse Frontalschnitte aus. —
Der letzte Vortrag bezog sich auf die Genese der konträren
Sexualempfindung. Dr. Sioli charakterisirte die Letztere
Atu Versammlungen und Vereinen.
881
als Defekt, als geistige Schwäche, als Störung in den Assozitations-
bahnen. Sie entsteht auf dem Boden der Onanie; die meist abnorm
früh dem Bewusstsein sich aufdrängenden Organempfindungen der
Geschlechtstheile gewinnen in Folge der gestörten und geschwäch¬
ten Assoziationen hervorragende Bedeutung, die Vorstellung der
eigenen bezw. homosexualen Körpertheile verbindet sich fest mit
dem Wollustgefiihl und dominirt schliesslich die sexuale Empfindung.
In der Diskussion blieb diese Theorie nicht ohne Widerspruch.
Mendel nahm Veranlassung, die Gefahr hervorzuheben, welche
in der Ausbreitung der über diese Gegenstände handelnden Bücher
unter dem grossen Publikum liegt. Dadurch werden Perservitäten
geradezu gezüchtet. Diese Literatur gehört nicht auf den Markt,
sondern in die wissenschaftlichen Archive.
Dr. Siemens - Lauen bürg.
Bericht über die vom S5.-28. Bai d J. in Wfiraburg statt-
gehabte XVIII. Versammlung des Deutschen Vereins für
öffentliche Gesundheitspflege.
I. Sitzungstag, Donnerstag, den 25. Mai d. J.
Unter verh<nissmässig reger Beteiligung — die Präsenzliste wies am
ersten Tage 225 Mitglieder als anwesend auf — eröffnete der Vorsitzende, Stadt¬
baurath Stubben (Köln), Vormittags 9 Uhr die Versammlung in dem grossen
prachtvollen weissen Saale der Königlichen Residenz, der dem Vereine von Sr.
Königl. Hoheit dem Prinzregenten in liebenswürdiger Weise zur Verfügung ge¬
stellt war.
Nach den Begrüssungen von Seiten des Vertreters der Königlichen Staats¬
regierung, Reg.- und Med.-Raths Dr. Schmitt (Würzburg), des Oberbürger¬
meisters von Würzburg, Hofraths Dr. Steidle, des Rektors der Universität,
Prof. Dr. Scholz und des DekanB der medizinischen Fakultät, Dr. Michel,
erstattete zunächst der Vereinssekretär, Sanitätsrath Dr. Spriss (Frankfurt), den
üblichen Geschäftsbericht, aus dem sich ergab, dass die Mitgliederzahl in Folge
eines ungewöhnlich hohen Abgangs durch Tod von 1898 auf 1324 gesunken ist.
Auf Antrag des Geschäftsausschusses des Vereins wurde sodann ein¬
stimmig beschlossen, Herrn Geheimrath Prof. v. Pettenkofer, den Nestor
der hygienischen Wissenschaft in Deutschland, anlässlich seines bevorstehenden
50 jährigen Doktor - Jubiläums zum Ehrenmitgliede des Vereins zu ernennen. Es
ist dies die erste derartige Auszeichnung seit dem Bestehen des Vereins.
Hierauf ging die Versammlung zum ersten Gegenstand der Tages¬
ordnung über:
I. Die unterschiedliche Behandlung der Bauordnungen fiir das Innere,
die Aussenbezirke und die Umgebung von Städten.
H. Oberbürgermeister Adiek es (Frankfurt a. M.): Die vorstehende
Frage hat den Verein schon in den Jahren 1874 und 1885 beschäftigt, seitdem
haben sich die baulichen Verhältnisse, namentlich in den grösseren Städten, in
Folge der überaus raschen Bevölkerungszunahme und der durch Spekulation her¬
vorgerufenen Preissteigerung der Baustellen keineswegs gebessert. In den
älteren engbebauten Stadtbezirken herrscht nach wie vor Uebervölkerung und
in den neuen Stadttheilen werden bereits ähnliche Miethskasemen wie in den
alten erbaut, um das Bauterrain thunlichst auszunutzen; seitens der Behörden
geschieht aber nichts, um dieser übertriebenen Ausnutzung der Baugrundstücke
durch Einführung zweckmässiger Bauordnungen in wirksamer Weise entgegen
zu treten. Die bestehenden städtischen Bauordnungen machen fast ausnahmslos
keinen oder nur einen geringen Unterschied zwischen den älteren und neueren
Stadttheilen und tragen daher aus übermässiger Rücksicht und Schonung der in
der Altstadt vorhandenen hohen Grundwerthe nur in beschränktem Maasse den
sozialen und gesundheitlichen Anforderungen Rechnung. Wenn nun auch eine
derartige Rücksichtnahme für die älteren Stadttheile eine gewisse Berechtigung
332
Aus Versammlungen und Vereinen.
hat, so ist sie für die neuen Aussenbezirke jedenfalls zu verworfen. Hier muss
im gesundheitlichen Interesse eine weiträumige Bebauung, ein Bauen in die
Breite, statt in die Höhe gefordert und der Bau von Miethskasemen verboten
werden; denn gerade durch die letzteren wird der Grundwerth gesteigert, das
Zusammendrängen der Bevölkerung begünstigt und jede bessere Bebauung ver¬
hindert. Daraus ergiebt sich die Nothwendigkeit, für das Innere der Städte
einerseits und für die Aussenbezirke und Zwischengebiete andererseits unter¬
schiedliche Bauordnungen oder bauliche Sonderbestimmungen zu erlassen, die am
besten nach bestimmten Zonengebieten abgegrenzt werden. Durch Einschränkung
der zulässigen Höhe der Gebäude und der Zahl der Stockwerke, durch Forderung
grösserer Hofräume, Vorgärten u. s. w., sowie durch Bestimmungen in Bezug
auf den inneren Ausbau, die Einrichtung und Ausnutzung der Wohnungen lässt
sich dann in den neuen Stadttheilen ein weiträumiges gesundes Wohnen ohne
Steigerung der Miethspreise sicher stellen, und auch in den Uebergangsgebieten
eine wesentliche Besserung der WohnungsVerhältnisse erzielen. Man darf nur
nicht so ängstlich bei der Zonenabgrenzung sein; die Massregel ist allerdings
eine tief einschneidende, aber finanziell betroffen werden dabei nur die Bau¬
spekulanten, die eine Rücksichtnahme nicht verdienen. Die segensreichen Folgen
eines derartigen Vorgehens werden nicht ausbleiben, wie die in dieser Hinsicht
gemachten Erfahrungen in Frankfurt a. M. und Altona gezeigt haben. Der sich
hier Anfangs gegen die Neuerung gemachte Widerspruch, ist sehr bald ver¬
stummt und allgemein werden die gesundheitlichen und sanitätspolizeilichen
Vortheile der neuen Bestimmungen anerkannt.
Der Korreferent, H. Oberbaurath Prof. Baumeister (Karlsruhe) schliesst
sich im Allgemeinen den Ausführungen des Vorredners an und betont gleichfalls,
dass die Behandlung der alten und neuen Stadttheile in baulicher Hinsicht eine
völlig verschiedene sein müsse. Er geht dabei auf die Bestimmungen einzelner
neuer Bauordnungen, namentlich auch auf diejenigen der neuen Bauordnung für
die Vororte von Berlin, näher ein und empfiehlt besonders die offene Bauweise,
die einen ausgedehnten Luftwechsel, das Anbringen reichlicher Fenster, das
Wegfällen von Brandmauern u. s. w. gestattet und sich nicht nur für Villen,
sondern auch für kleinere Familien- und Arbeiterwohnungen eignet. Auch die
Verweisung der Fabriken in einen bestimmten Bezirk hat sich in vielen Städten
z. B. in Frankfurt a. M., Breslau u. s. w. bewährt.
Ohne genau abgegrenzte Zoneuabtheilung und Erlass entsprechender bau¬
licher Bestimmungen lassen sich die Wohnungsverhältnisse der Städte nicht
günstig gestalten. Die Schwierigkeiten, die der Durchführung dieser Massregel
in den Aussenbezirken von Seiten der angrenzenden selbstständigen Gemeinden
gemacht werden, müssen entweder durch Einverleibung dieser Gemeinden oder
durch freihändige oder zwangsweise (im Enteignuugsverfahren) Erwerbung des
in Betracht kommenden Bauterrains beseitigt werden. Ein solcher Erwerb von
grösseren Banflächen seitens der Stadtgemeinden ist nicht nur von grosser
hygienischer Bedeutung, sondern auch in pekuniärer Hinsicht nicht unvortheilhaft,
da die Auslagen durch die spätere Werthsteigerung der Grundstücke reichlich
gedeckt werden.
Weiter bespricht Redner noch einzelne in den Bauordnungen aufzuneh¬
mende Vorschriften betreffs der Feuersicherheit und konstruktiven Sicherheit
der Gebäude. Während er bei diesen Vorschriften eine Abstufung für die Ge¬
bäude in den älteren oder neueren Stadttheilen nicht für nothwendig erachtet,
hält er unterschiedliche Bestimmungen in Bezug auf die Breite, Befestigung,
Beleuchtung, Wasserversorgung der Strassen, sowie auf die Vorräume für zweck¬
mässig, jedoch sollen sich diese Unterschiede nicht nach den einzelnen Stadt¬
theilen, sondern nach dem Charakter der betreffenden Strassen und Baubezirke
richten.
Zum Schluss fordert Redner eine gesetzliche Regelung der Frage, insbe¬
sondere die Aufstellung allgemein gültiger Grundsätze von Seiten des Staates;
denn ohne dessen Mitwirkung sei eine Durchführung der in Vorschlag gebrachten
und in gesundheitlichem wie sozialpolitischem Interesse unbedingt erforderlichen
Massregeln nicht möglich.
Beide Referenten hatten ihre Ausführungen in folgenden gemeinschaft¬
lichen Leitsätzen zusammengefasst:
1. „Die rasche Bevölkerungszunahme der meisten, namentlich der grösse¬
ren deutschen Städte, und die ausserordentliche Bedeutung guter Wohn-
Aus Versammlungen und Vereinen.
333
Verhältnisse für die gesammte soziale Entwicklung lassen eine zweck¬
entsprechende bauliche Anlage der neuen Stadttheile als
eine Angelegenheit von grösster Wichtigkeit erscheinen.
2. Die für die meist engbebauten älteren Stadttheile erlassenen
oder zu erlassenden baupolizeilichen Bestimmungen können
naturgemäss wegen der nothwendigen Rücksichtnahme auf die einmal vor¬
handenen hohen Grundwertho den Anforderungen der Gesundheitspflege und
Sozialpolitik nur in sehr beschränkter und bedingter Weise gerecht werden
und sind daher an sich nicht geeignet, auf die neuen Stadttheile
Anwendung zu finden, in denen es sich zum grössten Theil noch
um reines Ackerland oder unfertiges Baugelände, im Uebrigen
aber um dünner bebaute Grundstücke handelt.
3. Die diesen Erwägungen zuwiderlaufende, aber in fast allen Städten
herrschende gleiche Behandlung der Altstadt und der neuen
Stadttheile hat zugleich mit einer weit überdas sozialpolitisch zulässige
Maass hinausgehenden Zusammendrängung der Bevölkerung die
äusserste Ausnutzung des Baugeländes und — da die Bodenpreise
wesentlich durch das polizeilich zugelassene Maass der baulichen Ausnutzung
mitbestimmt werden — eine durchaus ungesunde Steigerung der
Bodenpreise zur Folge gehabt, welche alle Versuche einer im allge¬
meinen Interesse dringend zu fordernden, weiträumigerenGestaltung
der neuen Bauquartiere auf das Aeusserste erschwert. Ausserdem wird
durch die einfache Uebertragung der altstädtischen Bestimmungen eine
den verschiedenen Anbaubedürfnissen (grössere und kleinere
Wohnungen, Fabriken und kleinere gewerbliche Anlagen) entsprechende
Eintheilung und Ausgestaltung der neuen Stadttheile
gehindert.
4. Die an manchen Orten sich findenden Sonderbestimmungen über
a) sehr dicht bebaute ältere Grundstücke,
b) Grundstücke, welche nicht an regulirten und kanalisirten Strassen
liegen,
c) bisher schon bebaute Plätze im Vergleich zu leeren,
d) Fabrikbezirke,
e) Bezirke mit offener Bauweise,
genügen nicht, um der Bevölkerung der neuen Stadttheile, namentlich den
Unbemittelten, gute WohnungsVerhältnisse zu sichern; vielmehr
bedarf es umfassender, zu einem einheitlichen Ganzen verbundener Sonder¬
bestimmungen für die neuen Stadttheile, um durch dieselben
ira Anschluss an die Bebauungspläne und die von der Stadterweiterung nach
Lage der örtlichen Verhältnisse zu lösenden Aufgaben, allen Bevölke¬
rungsklassen ein weiträumiges und gesundes Wohnen zu sichern, und
den verschiedenen Anbaubedürfnissen — soweit die Verhältnisse
dies gestatten — in fest abgegrenzten Bezirken (Wohn-, Fabrik-,
gemischten Vierteln) Rechnung zu tragen.
5. Insbesondere bedarf es energischer Vorschriften zur dauernden
Verhinderung der übermässigen Ausnutzung der Baugrund-
stücke, sowohl durch angemessene Beschränkung der Gebäudehöhen,
als durch Festhaltung genügender freier Hof räume und unter Umständen
auch freier Räume zwischen Gebäuden (Bauwich), und zwar
sollte der Flächenraum der unbebaut zu lassenden Grundstückstheile auch
von der Zahl und Beschaffenheit der auf dem Grundstück anzu¬
legenden Wohnungen abhängig gemacht werden, wobei unter
Umständen Vorgärten und auch Theile breiterer Strassen mit zur Anrech¬
nung gebracht werden könnten.
6. Die durch die Verhältnisse gebotenen Unterschiede in Bezug auf den
Grad der zulässigen Baudichtigkeit lassen sich in der Regel nur
mittelst fester Grenzen zwischen bestimmten Zonen oder Bezirken
sichern, wobei nach Umständen Uebergangsbestimmuugen für ge¬
wisse schon in die Bebauung hineingezogene Grundstücke vorzusehen sind.
7. Bei rationeller Gestaltung der Vorschriften über Feuersicherheit
und konstruktive Festigkeit bedarf es keiner Abstufungen der¬
selben für die einzelnen Stadttheile; es ergeben sich eben von selbst auf
834 Aas Versammlungen und Vereinen.
weiträumiger bebautem Gelände mannigfache Verbilligungen
beim Bauen.
8. Zweckmässig sind Unterschiede in der Breite und Befestigung der
Strassen, in der Behandlung von Vorräumen, sowie in der Kon¬
struktion etlicher Baugegenstände an und vor den Häusern. Desfallsige
Anordnungen sind aber nicht nach Stadttheilen zu gliedern, sondern nach
dem Charakter der einzelnen Strassen und Blöcke.
9. Unter neuen Stadttheilen im Sinne dieser Leitsätze (vergl. 2. 3. 4.) ist
nicht nur das augenblicklich zur städtischen Gemarkung gehörige Gelände
zu verstehen; vielmehr müsste alsbald das gesammte, in absehbarer
Zeit in städtische Verhältnisse eintretende Gebiet von ein¬
heitlichen Gesichtspunkten aus, und zwar, insoweit eine entsprechende
Erweiterung der städtischen Gemarkung unthunlich ist, vermittelst Zu¬
sammenwirkens aller zuständigen Behörden, den vorerwähnten baupolizei¬
lichen Beschränkungen unterworfen werden.
10. Ausser den baupolizeilichen Vorschriften sind vielfach privatrecht¬
liche Vereinbarungen und Bestimmungen Uber Bebauung und Be¬
nutzung bestimmter Bezirke oder Baublöcke empfehlenswerth, weil dieselben
eine grössere, den Bedürfnissen genau angepasste Individualisirung und
weitergehende Beschränkungen iz. B. Ausschluss von Etagenwohnungen,
von Wirthschaften a. a. m.) gestatten.
11. Die hier geforderten Sonderbestimmungen für die neuen Stadttheile
sind nach Massgabe des Landesrechtes durch Gesetz, Verordnung oder Orts¬
statut herbeizuführen.
Landesgesetzliche Ausführungsbestimmungen zur Ge¬
werbe-Ordnung (§.23,) würden zwar in einigen Beziehungen den
Erlass von Vorschriften über Fabrikviertel erleichtern, sind aber keine
Vorbedingung für Einführung dieser Sonder-Bestimmungen durch Polizei-
Verordnung.“
In der sich an die Vorträge anschliessenden Diskussion wird von Herrn
Stadtrath Hendel (Dresden) auf die Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, die
bei der Erweiterung der Städte diesen durch die angrenzenden oder von ihnen
zum Theil eingeschlossenen Gemeinden iu baupolizeilicher Hinsicht erwachsen,
und deren Beseitigung meist nur mit den grössten pekuniären Opfern zu er¬
reichen ist.
H. Oberbürgermeister Merkel (Göttingen) stimmt den Referenten in
Bezug auf die Nothwendigkeit der gesetzlichen Regelung der Frage zu; gleich¬
zeitig empfiehlt er, bei der Verkoppelung der Ländereien im Stadtweichbilde
für die Errichtung eines guten Wegenetzes Sorge zu tragen, wodurch später die
Anlage neuer Stadttheile wesentlich erleichtert werde.
H. Oberbürgermeister F r i t s c h e (Charlottenburg) weist auf die Schwie¬
rigkeiten hin, die den Behörden bei Erlass von Bauordnungen Seitens der
Grundbesitzer gemacht werden. Er warnt ferner davor, den Einfluss der Bau¬
ordnungen in Bezug auf die Besserung der WohnungsVerhältnisse zu überschätzen,
so lange die Art der Ausnutzung der Wohnungen nicht auch einer strengen
Kontrole unterworfen werde.
H. Oberbürgermeister Ad ick es kann die Befürchtung in Bezug auf den
Widerstand der Grundbesitzer nicht theilen; in Frankfurt sei dieser Widerstand
durch eine lebhafte Bewegung gegen die übermässige Ausnutzung der Baustellen
mit Erfolg beseitigt. Zum Schluss betont er die Nothwendigkeit eines staat¬
lichen Eingriffes auf diesem in sozialpolitischer wie hygienischer Hinsicht wich¬
tigen Gebiete.
Die Versammlung nahm hierauf die folgende von Geh. Sanitäts-Rath
Dr. Le nt (Köln) beantragte Resolution einstimmig an:
„Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege erkennt die von
den Referenten geforderte unterschiedliche Behandlung der Bauordnung für das
Innere, die Aussenbezirke und die Umgebung vou Städten als ein dringendes
Bedürfniss an und empfiehlt den Staatsregierungen und den betheiligten Ge¬
meindebehörden, von diesem Gesichtspunkte aus in eine Revision der bestehenden
Bauordnungen und, soweit erforderlich, der Gesetzgebung baldigst einzutreten.“
Aas Versammlungen and. Vereinen.
885
II. Reformen auf dem Gebiete der Brodbereitnng.
H. Prof. Dr. Lehmann (Würzburg): Das in Deutschland gebräuchliche
Brod besteht in den Städten im Allgemeinen aus einem mittelsanren, klein¬
porösen nnd verhältnissmässig gut durchgebackenen Graubrod; auf dem Lande
dagegen häufig aus schlechteren Brodsorten, namentlich gilt dies in Bezug auf
das in Norddeutschland noch viel konsumirte Schwarzbrod. Während hier der
Roggen die hauptsächliche Brodfrucht ist und besonders auf dem Lande meist
reines Roggenbrod bereitet wird, hat in den Städten die Verwendung von Weizen,
— als Mischung mit Roggen, — immer mehr zngenommen und bildet diese
Mischung (*/ 3 Roggen und ‘/s Weizen) in Sttddeutschland die Regel.
Als Fehler der Brodbereitnng kommt zunächst die Vernnreinigung
des Getreides durch Unkraut in Betracht, die besonders in nassen Jahren, wo
die Unkräuter fippig gedeihen, oft eine sehr erhebliche ist. Durch sorgfältige
Reinigung lässt sich der Unkrautsamen allerdings ausscheiden; schon der Produ¬
zent kann dies in befriedigender Weise besorgen, noch besser die Landmühlen
und am vollkommensten die Kunstmühlen, aber leider geschieht dies nicht
immer in ausreichendem Maasse. Während Referent in den von Kunstmühlen
gelieferten Mehlen selten mehr als 0,3 °/ 0 Unkrautsamen gefunden hat, steigt
dieser Prozentsatz in Mehlen von Landmühlen mitunter auf 1—2 °/ 0 und in
Mehlproben aus dem nördlichen Deutschland noch viel höher z. B. in rheinischen,
aus ostpreussischem Roggen hergestellten Schwarzbroden wurden bis 7,3 '% Korn¬
rade, bis 3,5 °/ 0 Wicken, bis 1,5 °/ 0 Vogelknöterich, bis 1 u / 0 Mutterkorn und
ausserdem noch Mäusekoth, Erde u. s. w. festgestellt. Ein Gehalt von 1—2 °/ 0
Unkrautsamen macht nach Ansicht des Referenten das Mehl zum Genüsse un¬
tauglich ; dnreh starke Säuerung wird jedoch die Wirksamkeit der giftigen Bei¬
mischungen unschädlich gemacht und erklärt sich daraus die verhältnissmässig
seltene nachtheilige Wirkung der dem Brode, speziell dem Schwarzbrode, beige¬
mischten schädlichen Stoffe auf die Gesundheit der Bevölkerung. Andererseits
wird aber stark angesäuertes Brod nicht von Jedermann vertragen.
Ein nicht minder wichtiger Gesichtspunkt für die Brotbereitung ist die
Zermahlung des Getreides. Je feiner dieselbe geschieht, desto grösser ist
die Ausnützung und die Verdaulichkeit des aus dem Mehle gebackenen ßrodes.
Am ungünstigsten liegen daher diese Verhältnisse bei dem sogenannten Schrot-
brod, das in Folge dessen bis 10 °/ 0 schlechter als das gewöhnliche Brod aus¬
genutzt wird.
Ferner darf der Kleiegehalt des Brodes nicht zu gross sein; denn
durch ungenügende Ausscheidung der Kleie wird der Stickstoffgehalt des Brodes
vermindert. Am besten wird die Kleie durch das Uhlhorn’sehe Getreide¬
schälverfahren ausgeschieden, durch das die verholzten Hülsen des Getreides
entfernt und die Appetitlichkeit wie die Ausnützlichkeit des Brodes vermehrt
werden. Schrotbrode aus geschältem Roggen sind daher auch viel verdaulicher
als ans ungeschältem.
Die Säuerung des Brodes ist nach Ansicht des Referenten nur hinsicht¬
lich des Geschmackes von Bedeutung. Während in der Schweiz das Brod gar
nicht gesäuert wird, liebt man in Norddentschland ein ziemlich stark gesäuertes,
in Mitteldeutschland ein mässig angesäuertes Brod. Die Ausnützung des Brodes
wird durch die Säuerung eher begünstigt als beeinträchtigt.
Weizenmehl wird bei der Brodbereitung besser ausgenützt, wenn es mit
Roggenmehl vermischt wird; dasselbe gilt umgekehrt von Roggenmehl. Die in
Süddeutschland übliche Mischung beider Mehlsorten ist daher sehr rationell.
Von Bedeutung für das Brod als Nahrungsmittel ist sein Eiweiss-
gehalt. Derselbe hängt grösstentheils von den Getreidearten ab und ist z. B.
im russischen und süddeutschen Weizen am höchsten (bis 15,5 °/ 0 ). Es empfiehlt
sich in Folge dessen der Anbau derartiger stickstoffreicher Getreidesorten. In
jüngster Zeit hat man auch Versuche gemacht, den Eiweissgehalt des Brodes
durch Zusatz des Aleuronats, eines bei der Weizeustärkeproduktion mitge¬
wonnenen, sehr eiweissreichen (SO °/ 0 ) Nebenproduktes, zu erhöhen und kann dieses
Verfahren nur empfohlen werden. Das Brod wird dadurch nicht wesentlich
vertheuert und auch sein Geschmack kaum verändert; namentlich für den eisernen
Bestand der Soldaten verdienen Aleuronatzwiebäcke verwendet zu werden.
Mit Rücksicht auf die Billigkeit lässt sich auch Mais zweckmässig als
Ersatz für Weizen verwenden; er hat allerdings einen geringeren Eiweissgehalt
als dieser, dagegen einen grösseren Gehalt an Fett.
336
Besprechungen.
Verbesserungen auf dem Gebiete der Brodbereitung werden nach Ansicht
des Referenten am sichersten durch leistungsfähige Brodfabriken an gebahnt; das
durch diese hergestellte bessere Brod wird schliesslich auch das Kleingewerbe
zur Aufgabe eingebürgerter Missbrauche bei der Brodbereitung zwingen.
Die von dem Vortragenden aufgestellten, nicht zur Abstimmung bestimmten
Schlusssätze lauten wie folgt:
1. „Der Zustand des Brodes ist, von Hungerjahren und besonders armen
Gegenden abgesehen, in den meisten Theilen von Deutschland als ein leid¬
licher, in den meisten Städten als ein guter zu bezeichnen, nur in den
Schrotbrod verzehrenden Gegenden herrschen vielfach noch sehr schlechte
Verhältnisse. Die Fehler des Schwarzbrodes sind am häufigsten:
1) Herstellung aus ungenügend gereinigtem Getreide,
2) ungenügende Zermahlung des Getreides,
3) ungenügende Abscheidung der Kleie,
4) zu starke Säuerung des Brodteiges; der Nachtheil der starken Säue¬
rung ist allerdings vielfach überschätzt, und es muss zugegeben
werden, dass die Nachtheile der Säuerung zum Theil von bisher
nicht gewürdigten Vortheilen mehr als ausgeglichen werden können.
2. Die Vermeidung der erwähnten Fehler ist leicht:
1) Bei einiger Sorgfalt lassen sich die Unkräuter selbst auf Land¬
mühlen annähernd vollständig entfernen; dieselben sind nicht werth-
los, sondern geröstet ein gutes Viehfutter. Der Handel mit den
abgeschiedenen Unkräutern bedarf staatlicher Aufsicht.
2) u. 3) Mit Hülfe des U hlhorn’sehen DekortikationsVerfahrens lässt
sich eine Entfernung der verholzten Kleie und damit eine höchst
wesentliche Verbesserung der Appetitlichkeit und Ausnützbarkeit
des Brodes aus ganzem Korn erzielen; ein gutes Zermahlen be¬
fördert die Ausnutzbarkeit weiter.
4) Die zu starke Säuerung ist einfach durch kürzere Gährungsdauer
zu verhüten.
3. Von weiteren Vorschlägen zur Verbesserung oder Verbilligung des deut¬
schen Brodes verdienen namentlich folgende Beachtung:
1) der Anbau stickstoffreicher Getreidesorten,
2) die Verwendung von Mais, Hülsenfrüchte,
3) die Verwendung von Aleuronat nach Hundhausen.
4. Am leichtesten werden kapitalkräftige Brodfabriken bahnbrechend auf
dem Gebiete der Brodverbesserimg Vorgehen und eingebürgerten Missbrauch
beseitigen können. Die Hygiene hat also ein grosses Interesse an ihrem
Entstehen.“
In der dem Vortrage folgenden kurzen Diskussion stimmt H. Privat¬
dozent Dr. Prausnitz (München) im Allgemeinen den Ausführungen des Vor¬
tragenden zu, kann sich jedoch dem günstigen Urtheile über das Uhlhorn’sche
Schälverfahren nicht anschliessen, da die Zermahlbarkeit des Getreides durch
dasselbe beeinträchtigt werde. Auch dem Aleuronat kann er keine grosse Be
deutung für die Brodbereitung beimessen, da es in viel zu geringen Mengen
hergestellt werde. Zweckmässig sei ein Zusatz von Magermilch zur Erhöhung
des Eiweissgehaltes des Brodes. Dem gegenüber wird von H. Stadtrath K a 11 e
(Wiesbaden) der Werth des Aleuronats für die Brotbereitung hervorgehoben und
auch in einem Schlussworte vom Herrn Referenten nochmals auf die günstigen
Versuche hingewiesen, die seitens der Militärverwaltung in dieser Hinsicht ge¬
macht sind. Die Produktion des Stärkeklebers sei allerdings keine ausreichende,
gleichwohl sei es nicht gerechtfertigt, deshalb diesen für die Steigerung des
Eiweissgehaltes des Brodes sehr werthvollen Stoff unbenutzt zu lassen.
(Fortsetzung folgt.)
Besprechungen
Dr. Ralf Wichmann, Spezialarzt für Nervenkrankheiten in Braun¬
schweig: Der Werth der Symptome der sogenannten
traumatischen Neurose und Anleitung zur Beur-
Besprechungen.
337
theilung der Simulation von Unfall-Nervenkrank¬
heiten. Für Krankenkassen - Aerzte und Medizinal - Beamte.
Braunschweig 1892. Druck und Verlag von Friedrich
View eg & Sohn. Gross 8°, 100 Seiten.
Seitdem Oppenheim im Jahre 1884 die Ansicht aufstellte, dass die nach
Verletzungen mitunter zurückbleibenden Störungen des Nervensystems als ein
eigenes, von ihm „traumatische Neurose“ bezeichnetes Krankheitsbild aufzufassen
seien, ist diese Frage sehr häufig Gegenstand der lebhaftesten Debatten auf
ärztlichen Versammlungen gewesen und hat nicht minder Veranlassung zu zahl¬
reichen Erörterungen in der Fachliteratur gegeben, ohne dass bisher eine
Einigung in diesem wissenschaftlichen Streite erzielt worden wäre. Auch auf
dem diesjährigen Kongress für innere Medizin hat bekanntlich „die traumatische
Neurose“ auf der Tagesordnung gestanden; der von den Referenten Strümpell-
Erlangen und Wernicke -Breslau vertretene Oppenheim’sehe Standpunkt
eines einheitlichen besonderen Krankheitsbildes fand aber in der Versammlung
keineswegs überall Zustimmung, insonderheit traten J o 11 y- Berlin und Schulze-
Bonn den Ausführungen der Referenten entgegen und sprachen den Wunsch aus,
dass der Kollektivname, traumatische Neurose, wieder verschwinden möge.
Verfasser hat sich in seiner Schrift auf eine Erörterung der in Rede
stehenden, nach seiner Ansicht ziemlich nebensächlichen Streitfrage nicht ein¬
gelassen. Ihm kam es hauptsächlich darauf an, den Kassenärzten und Medizinal-
Beamten in ihrem Bestreben, sich über die Frage der traumatischen Neurose
wie der Unfall - Nervenkrankheiten überhaupt und etwaiger Simulation möglichst
genau und schnell zu informiren, auf Grund der bis jetzt in dieser Hinsicht
feststehenden Thatsachen eine Anleitung zur Untersuchung und zur richtigen
Beurtheilung derartiger Fälle zu geben. Er behandelt daher der Reihe nach
die einzelnen für die traumatische Neurose angeblich charakteristischen sub¬
jektiven und objektiven Symptome mit Rücksicht auf ihren diagnostischen
Werth und kommt dabei schliesslich zu dem Ergebniss, dass alle diese Symptome
mehr oder weniger auch bei anderen, nicht auf traumatischem Ursprung beruhenden
chronischen Krankheiten besonders bei Neurasthenie, Hysterie und Hypochondrie
beobachtet werden, dass sie ausserdem grösstentheils subjektiver Art sind, sich
in Folge dessen leicht simuliren lassen und auch thatsächlich gelegentlich simulirt
werden. Um sich vor Täuschung zu schützen, müsse man bei der Untersuchung
und Beobachtung derartiger Unfallverletzter gar nicht an traumatische Neurose
denken, sondern jeden einzelnen Fall stets präzisiren und versuchen, ihn in
die allbekannten, von allen Aerzten auch anerkannten übrigen Krankheitsbilder
cinzureihen.
Die vom Verfasser gegebenen Rathschläge in Bezug auf die Untersuchung
solcher Fälle beruhen auf eine reiche eigene Erfahrung und werden vielfach
durch Einfügung einschlägiger Fälle aus seiner Praxis illustrirt. Er betont die
Schwierigkeit einer Entlarvung von Simulation und warnt mit Recht davor,
Jemanden als einen Simulanten zu erklären, che ein bestimmter Beweis dafür
erbracht sei, auch wenn man selbst davon innerlich fest überzeugt sei, dass
Simulation vorliege.
Wir können den Kollegen das eingehende Studium der vorliegenden Arbeit
nur dringend empfehlen; sie werden dann sicherlich weniger Gefahr laufen, von
derartigen Kranken getäuscht zu werden. Nach Ansicht des Referenten ist
allerdings eigentliche Simulation bei den Unfallverletzten nicht so häufig, wie
vielfach von Aerzten, auch scheinbar vom Verfasser und besonders von den Be¬
rufsgenossenschaften angenommen wird; in der Regel handelt es sich besonders
Anfangs lediglich um eine Uebertreihung der bestehenden Beschwerden, aber
nicht um absichtliche Vortäuschung. Erst später, nachdem die Kranken durch
wiederholte Untersuchungen von verschiedenen Aerzten und die an sie gestellten
Fragen klüger geworden, gleichsam medizinisch ausgebildet sind, geht das Simu¬
liren los, so dass, wie Verfasser sehr richtig sagt, jeder später untersuchende
Arzt dem Verletzten gegenüber einen viel schwierigeren Stand als sein Voruuter-
sucher hat. Die Ansicht des Verfassers, dass Simulanten ambulatorisch ebenso
gut als in einem Krankenhause entlarvt werden können, wird wohl nicht überall
Zustimmung finden; denn selbst dem tüchtigsten Arzte fehlt hierbei ein sehr
wichtiges Hülfsmittel zur Entlarvung: die fortgesetzte Kontrole des Verletzten
338
Tagesnachrichten.
durch das Krankenwärterpersonal oder durch andere Kranke, ohne dass es der
Verletzte selbst merkt Ausserdem ist es bekanntlich äusserst schwierig, die
Rolle eines Simulanten wochenlang konsequent durchzufnhren, ohne nicht hin
und wieder aus derselben herauszufallen. Verfasser scheint auch selbst der
Anstaltsbehandlung derartiger Kranker den Vorzug zu geben; er will sie nnr
nicht in den allgemeinen Krankenhäusern, sondern in Spezialkrankenhäusern,
oder in besonderen, von Spezialisten geleiteten Abtheilungen der grossen Kranken*
häusern untergebracht wissen, also gewissermassen in kleinen Unfallkrankenhäu*
sern, die im Anschluss an bestehende Krankenhäuser errichtet sind. Rpd.
Dr. George H. F. Nuttall: Hygienic measures in relation
to infections diseases. New-York und London 1893.
G. P. Putnam’8 sons.
Die einzelnen Infektionskrankheiten werden in alphabetischer Reihenfolge
kurz besprochen, die Art ihrer Verbreitung, die Resistenzfähigkeit und die
übrigen Lebensbedingungen ihrer Erzeuger, soweit sie bekannt sind, und im An¬
schluss daran die zweckmässigsten Massregeln zu ihrer Bekämpfung, speziell
durch Desinfektionsmassregeln, angegeben. Um häufige Wiederholungen dabei
zu vermeiden, ist ein Abschnitt über Desinfektionsmittel im Allgemeinen und
über ihre Anwendung in Bezug auf den Kranken und seine Umgebung, auf
Kleidungsstücke, Exkrete etc. vorausgeschickt, und bei den einzelnen Krank¬
heiten nur kurz erwähnt, welche der vorher ausführlich geschilderten Massregeln
nöthig sind. Zum Schluss wird noch die chirurgische Desinfektion kurz behandelt.
Das Ganze bildet ein Büchlein von 100 Textseiten und zeichnet sich durch Be¬
rücksichtigung der neuesten Forschungen, sowie durch eine sehr klare und über¬
sichtliche Anordnung und Darstellung vortheilhaft aus.
Eine deutsche Uebersetzung ist bei Hirschwald in Berlin bereits
erschienen, wird aber von Herrn Nuttall als „in jeder Hinsicht verunglückt“
bezeichnet, und die Verantwortlichkeit dafür abgelehnt.
Dr. Woltemas-Gelnhausen.
Tagesnachrichten.
Zur Medizinalreform. Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung
bringt in der Morgenausgabe vom 15. Juni d. J., Nr. 275, nachfolgenden, schein¬
bar aus offiziöser Feder stammenden Artikel:
„Eine nothwendige Folge des Zustandekommens des Reichs - Seuchen¬
gesetzes wird die Durchführung der Medizinalreform in Preussen sein.
Eine solche ist längst geplant; der Ausführung des Vorhabens haben sich aber
bis jetzt immer neue Hindernisse in den Weg gestellt, und nicht in letzter
Linie ist es die Rücksicht auf die Finanzlage des Staates gewesen, welche den
zuständigen Minister veranlasste, in Bezug auf das den beamteten Aerztcn zuge¬
wandte Muss der Fürsorge sich eine Beschränkung aufzuerlegen, die ihm durch¬
aus nicht erwünscht sein konnte.
Wird eine praktische Medizinalreform insbesondere auch das Ziel verfolgen
müssen, die Stellen der beamteten Aerzte zu möglichst auskömmlichen zu machen,
so erscheint dies schon um deswillen gerechtfertigt, weil die Ansprüche des
Staates an diese Beamten mit dem Inkrafttreten des Reichs - Seuchengesetzes
bedeutend grössere werden.
Die Aufbesserung der Lage der in Frage stehenden Berufsklassen ist aber
auch ohnedies nothwendig geworden, weil sich der Pflichtenkreis derselben schon
bisher erweitert und vollständig verändert hat.
Während in früheren Zeiten der Schwerpunkt der amtlichen Thätigkeit
des Kreisphysikers hauptsächlich nach der gerichtsärztlichen Seite hin lag, hat
sic sich im Laufe der Zeit und in dem Masse mehr, je mehr die öffentliche
Gesundheitspflege als Aufgabe der staatlichen Fürsorge geschätzt werden sollte,
nach der Seite der Hygiene hin verschoben. Im Zusammenhang damit hat der
Physikus zahlreiche Pflichten übernehmen müssen, die früher ganz ab von seinem
Wege lagen. Aus ihrer Wahrnehmung aber erwächst ihm nicht nur viel Arbeit,
Tagesnachrichten.
889
sondern anch mancher Verdruss und Naohtheil, denn es ist unvermeidlich, dass
ihm durch die Art, wie er von Amtswegen gezwungen ist, die Rücksicht der
öffentlichen Wohlfahrt den Interessen Einzelner gegenüber zu vertreten, Kon¬
flikte nicht erspart bleiben und die Möglichkeit, Privatpraxis zu treiben, gegen
früher nicht unerheblich erschwert und vermindert wird.
War es längst nöthig, ihn hierfür so weit als thunlich schadlos zu halten,
so lässt sich diese Verpflichtung mit dem Augenblick nicht weiter von der Hand
weisen, wo der Staat mit erhöhten Ansprüchen an die Leistungsfähigkeit des
beamteten Arztes herantritt. Es wird vor Allem auch als gerechtfertigt an¬
erkannt werden müssen, dass die Stellen der Physiker zu pensionsfähigen erhoben
werden. Das liegt auch im Interesse der Medizinalverwaltung, die zur Zeit
gar keine Handhabe hat, um in Fällen, wo die Kraft des beamteten Arztes
nicht mehr ausreicht, einen erwünschten Personenwechsel eintreten zu lassen.
Ist es nicht zu empfehlen, den Kreisphysikern die Ausübung der Privat¬
praxis neben der amtlichen Thätigkeit ganz zu verbieten, und zwar auch schon
um deswillen, weil der beamtete Arzt dann am besten davor bewahrt bleibt,
einseitig zu werden, wenn er mit dem Leben und den verschiedenen Verhält¬
nissen des Lebens in so intimer Verbindung bleibt, wie es die berufsärztliche
Thätigkeit mit sich bringt, so wird doch aus der Durchführung der Medizinal¬
reform in vielen Fällen eine Verminderung der privatärztlichen Thätigkeit der
Kreisphysiker sich ergeben und damit die Konkurrenz eine schwächere werden,
welche den Privatärzten durch die beamteten Aerzte auch jetzt noch besonders
da gemacht wird, wo die Letzteren in Folge ihrer schlechten Dotirung darauf
angewiesen sind, sich möglichst viel Privatpraxis zu verschaffen. Der ärztliche
Stand als solcher hat also an der Durchführung der Medizinalreform mindestens
dasselbe Interesse, wie die beamteten Aerzte im Speziellen und die Verwaltung
des Medizinalwesens, resp. der Staat.“
Zur Taxfrage. Amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte. Der
Herr Finanzminister hat im Beschwerdewege neuerdings wiederum, wie bereits
am 13. August 1892 (vergleiche Zeitschrift für Medizinalbeamte Nr. 20, 1892,
Seite 517) entschieden, dass amtsärztliche Atteste resp. motivirte Gutachten
für Staatsbeamte den ausstellenden Physikern zu honoriren seien.
Das Nähere ist aus den beiden folgenden Schreiben der Königl. Provinzial-
Steuer - Direktion ersichtlich l ):
Berlin, den 24. Dezember 1892.
Euer Hochwohlgeboren theilen wir hierdurch auftragsgemäss ganz ergebenst
mit, dass der Herr Königliche Provinzial-Steuer-Direktor hierselbst nach seiner
Verfügung vom 17. d. Mts., Nr. 18 668, sich nicht in der Lage befindet, die von
Ihnen für die amtsärztliche Untersuchung des Steuer - Aufsehers S. liquidirten
9 Mark zur Zahlung anzuweisen, da Euer Hochwohlgeboren erst nach dem
16. Februar 1844 als Königlicher Physikus angestellt sind und Ihnen daher nach
dem Erlasse des Herrn Ministers der geistlichen Angelegenheiten vom 20. Januar
1853 ein Anspruch auf Gebühren nicht zustche, wie auch in einem früheren
gleichen Falle von der Königlichen Ober - Rechnungskammer entschieden worden
sei, und da die Berufung auf einen in der Nr. 20 der Zeitschrift für Medizinal¬
beamte, Jahrgang 1892 enthaltenen Finanzininisterial - Erlass vom 13. Aug. d. J.
um so weniger Veranlassung geben könne, von den bisherigen Vorschriften abzu¬
weichen, als in diesem, einen Spezialfall betreffenden Erlasse die Gründe, aus
welchen die Zahlungsanweisung erfolgt ist, nicht näher angegeben worden sind.
Die seiner Zeit eingereichte Liquidation, sowie die Nr. 20 der Zeitschrift für
Medizinalbeamte erfolgen anbei zurück.
Königliches Haupt - Steuer - Amt für ausl. Gegenst.
Auf die hierauf eingelegte Beschwerde erfolgte nachfolgende Antwort:
Berlin, den 26. April 1893.
Auf die an den Herrn Finanz - Minister gerichtete Vorstellung vom
10. Januar d. J. habe ich, im Aufträge desselben, Euer Hochwohlgeboren bei
') Der Redaktion mitgetheilt von Herrn Bezirksphysikus Geh. San.-Rath
Dr. Lewin in Berlin.
340
Tagesnachrichten.
Rückgabe der beifolgenden beiden Anlagen ergebenst mitzntheilen, dass Ihr An¬
spruch auf Zahlung einer Entschädigung für das von Ihnen unterm 30. Ok¬
tober y. J. ansgestellte Attest über den Gesundheitszustand des Steuer - Aufsehers
S. als gerechtfertigt anerkannt worden ist.
Euer Hochwohlgeboren wollen daher dem Königlichen Haupt - Steuer - Amte
für ausländische Gegenstände hierselbst eine Liquidation über die Ihnen zustehenden
Gebühren gefälligst zur Zahlungsanweisung einreichen.
Der Provinzial - Steuer - Direktor.
Unter der Mannschaft des Bayerischen Infanterie-Regiments
in München ist seit dem 21. Mai d. J. der Typhus ausgebrochen und sind
seit dieser Zeit 280 Mann unzweifelhaft, an dieser Krankheit erkrankt und 16
Mann in Folge derselben gestorben. Die Ursache der Seuche scheint trotz der
von Seiten des Kriegsministeriums und der berufenen Dienstesstellen angeord¬
neten umfassenden und weitgehenden Untersuchungen noch nicht genau fest¬
gestellt zu sein und bleibt es einer vom Königl. Staatsministerium des Innern
und dem Königl. Kriegsministerium berufenen, aus Vertretern dieser Ministerien
und der städtischen Behörden, aus hervorragenden Klinikern, Aerzten und Fach¬
männern gebildeten Kommission Vorbehalten, in dieser Hinsicht auf Grund der
Forschungsresultate Klarheit zu verschaffen. Das Ergebniss der Beratbung dieser
Kommission soll seiner Zeit bekannt gegeben werden.
\
Erkrankungen nach Fleischgenuss. In Hettstedt (Gebirgskreis
Mansfeld) und einigen umliegenden Ortschaften sind in der Zeit vom 4.—14. Juni
nach dem Genuss von Fleisch eine bedeutende Anzahl von Erkrankungen (103)
vorgekommen, die mehr oder weniger unter denselben Erscheinungen (hohes
Fieber, mitunter Schüttelfrost, grosse Hinfälligkeit, Genick-, Kreuz- und Kopf¬
schmerzen, Flimmern und Schwindel, Uebelkeit, Erbrechen, Leibschmerzen, Durch¬
fälle) verliefen. Das Fleisch, nach dessen Genuss die Erkrankungen erfolgten,
war in allen Fällen von drei bestimmten Schlachtern bezogen und soll angeblich
von zwei nothgeschlachteten Ochsen gestammt haben, die jedoch von dem Thier¬
arzt untersucht und für schlachtbar befunden waren. Die Erkrankungen traten
meist 18 Stunden nach dem Genuss des Fleisches auf; dasselbe war in einer
grossen Zahl von Fällen roh, als sogenanntes Hackfleisch, genossen, einige Mal
auch gebraten; gut gekochtes Fleisch scheint weniger zu Erkrankungen Ver¬
anlassung gegeben zu haben.
Cholera. Im südlichen Frankreich scheint die Seuche immer
mehr an Ausbreitung zu gewinnen. In Cette sind in der Zeit vom 14.—24. Juni
28, in Alais 70, in Montpellier 24 Cholera-Todesfälle vorgekommen; auch in
Toulon und Umgegend ist in jüngster Zeit die Krankheit aufgetreten.
In Mekka nimmt die Zahl der Todesfälle in Folge von Cholera von Tag
zu Tag; zu in der Zeit vom 13.—16. Juni erlagen 377, vom 17.—20. Juni 830
und vom 21.—25. Juni 1485 Personen der Seuche.
Berichtigung : In dem in Nr. 12 der Zeitschrift gebrachten Re¬
ferat über „Fehlerquellen bei Anstellung von Choleraroth-
Reaktion von Dr. Blei sch“ muss es in der auf Seite 309 angegebenen
Formel für Peptonlösung Solut. Kal. nitric. puriss. „0,08:100“ statt „0,80:100“
und am Schlüsse des Referats „nitritfreie“ Mineralsäure, insbesondere „nitrit¬
freie“ Schwefelsäure statt „nitratfreie“ heissen. Die in dem Referat mitge-
theilte Formel für die Peptonlösung setzt übrigens die Anwendung eines alkali¬
schen Peptons voraus, das ganz oder wenigstens soweit frei von Nitraten ist,
dass diese an sich für den Eintritt der Reaktion ohne Bedeutung sind. Für
jedes Peptonfabrikat ist daher stets durch Vorversuche diejenige Menge des
Nitratzusatzes zu ermitteln, bei welcher die intensivste Reaktion in kürzester
Zeit erzeugt wird.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W.
J. C. C. Brun«, ßuehdruckerei, Minden.
Zeitschrift - JSÄ -
für
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rathu.gerichtl.Stautphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrathin Minden.
und
Dr. WILH. SANDER
Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlung und Rad. Hots#
entgegen.
Die Verhandlungen des preussischen Abgeordnetenhauses über
die Interpellation des Grafen Douglas, betreffend Massregeln
gegen die Cholera.
Am 4. d. M. hat endlich die Verhandlung über die von dem
Grafen Douglas eingebrachte Interpellation: „Welche Massregeln
gedenkt die Königliche Staatsregierung der Choleragefahr gegen¬
über zu ergreifen?“ im preussischen Abgeordnetenhause stattge-
fimden. Das Ergebniss derselben wird speziell die Medizinalbe¬
amten wenig befriedigen, besonders im Hinblick auf die Erklärung
des Herrn Ministers: „Dass er einen durchgearbeiteten, einheit¬
lichen, brauchbaren Plan für die Medizinalreform in seinem Ressort
nicht vorgefuiiden habe und dass er sich diesen erst schaffen müsse,
worüber noch mancher Tropfen Wasser den Berg herunterlaufen
könne.“ Die Medizinalbeamten werden dieser Erklärung des Herrn
Ministers gegenüber sicherlich sehr enttäuscht und verwundert
sein, und diese Enttäuschung und Verwunderung ist um so ge¬
rechtfertigter, wenn man sich erinnert, dass schon im Jahre
1877 der jetzige Kultusminister dem Abgeordnetenhause gegen¬
über als Regierungskommissar die Erklärung abgegeben hat:
„Dass ein vollständiger Plan für die Reorganisation der
Medizinalverwaltung bereits von der wissenschaftlichen Depu¬
tation für das Medizinalwesen ausgearbeitet sei, so dass das
Ministerium hoffentlich bald in die Lage kommen werde, diese
Vorlage an das Abgeordnetenhaus gelangen zu lassen.“ Seitdem
sind fast jedes Jahr ähnliche Erklärungen vom Ministertische aus
erfolgt; immer hiess es, der Plan ist fertig, seine Ausführung
scheitert nur an dem Widerstand des Finanzministers, — und nun,
wo alle Welt annimmt, dass die Choleragefahr endlich diesen
Widerstand gebrochen hat, da muss der Medizinalbeamte aus dem
Munde des Herrn Ministers vernehmen: Dass ein brauchbarer
No. 14.
Erscheint am 1. und 15. jeden Monats.
Preis jährlich 10 Mark.
15. Juli.
842 Verhandlungen d. preuas. Abg.-Hauses ab. d. Interpellation <L Grafen Douglas.
Plan überhaupt nicht vorhanden sei und dass noch geraume Zeit
darüber vergehen dürfe, ehe der Minister in der Lage sein werde,
ein so tief eingreifendes und kostspieliges Reformprojekt wie die
Medizinalreform in’s Leben zu rufen. Fast könnte man glauben,
dass auch die jetzige Generation der Medizinalbeamten, ebenso wie
ihre Vorgänger, darüber hinsterben sollte, ohne dass es ihr ver¬
gönnt wäre, die schon seit Jahrzehnten in Aussicht gestellte
Medizinalreform zur Durchführung gelangen zu sehen. Aber trotz¬
dem vermögen wir uns nicht zu dieser pessimistischen Anschauung
zu bekennen; denn, wenn es auch der Herr Minister ablehnt, feste
Versprechungen in Bezug auf die Reform der Stellung der Medi¬
zinalbeamten zu geben, so ist er doch andererseits seinen Er¬
klärungen gemäss so tief und fest von der Nothwendigkeit dieser
Reform überzeugt, dass er voraussichtlich alles aufbieten wird,
um dieselbe so bald als möglich zur Ausführung zu bringen. Es
wird ihm dies allerdings um so eher gelingen, wenn er die Er¬
ledigung dieser Frage nicht mit derjenigen anderer, noch uner¬
ledigter Fragen auf dem Gebiete des Medizinalwesens verbindet,
wie dies z. B. von dem Abgeordneten Dr. Grat in Bezug auf die
Organisation des Aerztestandes u. s. w. gewünscht wird. Wir
halten nach wie vor die Besserstellung der Medizinalbeamten für
die dringlichste Seite, den Kern- und Kardinalpunkt der Medizinal¬
reform und müssen in dieser Hinsicht den Ausführungen des Abg.
v. Pilgrim nur voll und ganz beistimmen. Eine Vermengung
dieser Angelegenheit mit anderen, nur lose mit ihr zusammen¬
hängenden, würde ihre Lösung in nachtheiliger Weise beeinflussen,
zum Mindesten aber in unerwünschter Weise verzögern. —
Was die von dem Abg. Graf Douglas gemachten Reform¬
vorschläge anbetrifft, so können wir uns im Allgemeinen mit ihnen
einverstanden erklären, weniger dagegen mit dem Vorschläge des
Abg. Dr. Virchow, den praktischen Aerzten eine administrative
Exekutive einzuräumen, ganz abgesehen davon, dass die Ein¬
räumung einer solchen wohl kaum den Wünschen der Aerzte ent¬
sprechen dürfte. Noch unrichtiger erscheint uns aber der weitere
Vorschlag des genannten Abgeordneten, die Medizinalreform nicht
von unten herauf, sondern von oben an zu beginnen. Gerade das
Gegentheil ist unbedingt erforderlich; bei den Kreis -Medizinal-
beamten, und nicht bei den Regierungs - oder Ministerial - Medizinal -
Beamten, muss der Anfang in Bezug auf eine Besserstellung ge¬
macht werden!
Zum Schluss noch ein Wort zu der in der Verhandlung des
Abgeordnetenhauses zu Tage getretenen Ansicht über die angeblich
ungenügende Vorbildung der Medizinal-Beamten. Wir haben dieses
Kapitel bereits in Nr. 12 der Zeitschrift ziemlich eingehend erörtert
und den in dieser Hinsicht von der „Voss. Ztg.“ den Medizinal-
Beamten gemachten Vorwurf zurückgewiesen. Wenn einige ältere
Physiker vielleicht nicht mehr mit den neueren wissenschaftlichen
Ergebnissen auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege
vertraut sind, so ist dies doch kein Grund, einer ganzen Beamten¬
klasse gegenüber von Unzulänglichkeit der Ausbildung zu sprechen;
Verhandlungen d. preuss Abg.-Hauses tkb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 843
auch unter den Militärärzten, die den Medizinalbeamten in jüng¬
ster Zeit mit Vorliebe als Muster gegenüber gestellt werden, giebt
es sicherlich so manchen älteren, der nicht allen Anforderungen
mehr entspricht. Jedenfalls stehen die preussischen Medizinal - Be¬
amten inBezug auf Ausbildung, wissenschaftliche Tüchtigkeit und
Pflichteifer weder den Militärärzten noch den Medizinalbeamten
irgend eines anderen Staates nach!
„Man verlangt in Preussen,“ heisst es in einem von sachkun¬
diger Hand geschriebenen und gegen den vorher erwähnten Artikel der Vossischen
Zeitung gerichteten Leitartikel in der Morgennummer des Hannoverschen Ku-
rirs vom l.d.M., „von den Sanitätsbeamten mindestens dieselben
Kenntnisse wie in anderen Staaten, nur durch ungenügende Besoldung
wird ihnen eine nutzbringende Verwendung des Erlernten unmöglich gemacht.
An Gelegenheit zum Lernen hat es schon längst nicht mehr gefehlt,
sondern nur an Gelegenheit zum Ueben des Erlernten. Wenn die
„Voss. Ztg.“ hervorhebt, dass der Minister es ablehnte, den Physikern bakterio¬
logische Untersuchungen in Cholerafällen zu überlassen, so ist das richtig, aber
die Folgerungen hieraus sind ganz falsch. Es giebt eine grosse Anzahl Kreis¬
physiker, welche derartige Untersuchungen ebenso sicher ausführen können, wie
Universitätslehrer oder Militärärzte, aber woher sollen sie die Zeit nehmen?
Weiss die „ Vossische“ nicht, welche Einrichtungen und welche Müsse zu solchen
Untersuchungen gehört? Und wenn Cholera im Kreise herrscht, wo soll dann
der Sanitätsheamte zu finden sein: im Laboratorium oder an den bedrohten
Orten? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein!
Wenn ausserdem auf Professor Bubner’s Klagen Bezug genommen
wird, „dass viele Physiker mit der Praxis der hygienischen Untersuchungs¬
methode unzulänglich oder gar nicht vertraut seien“, so wollen wir dagegen das
interessante Faktum in Erinnerung bringen, dass erst in jüngster Zeit in einem
hygienischen Universitätsinstitute von zwei Ordinarien Tage lang Cholerabazillen
verkannt und für Finkler-Prior gehalten wurden!
Man setze also nicht eine Beamtenklasse herab, die im Gegentheil seit
langen Jahren mehr geleistet hat, als der Staat billiger Weise verlangen konnte.
Es bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung, wie verkehrt es wäre,
wollten wir die Medizinalreform im Sinne der „Voss. Ztg.“ vornehmen. Die
Kreisphysiker werden ganz andere Dinge zu thun haben, als nur bakteriologische
Untersuchungen anzustellen. Es kann nicht scharf genug betont werden, dass
die öffentliche Gesundheitspflege ihre Hauptaufgabe nichtinderBekämpfung
ausgebrochener Seuchen, sondern in deren Verhütung erblickt,
und da liegt vor dem Beamten ein weites Feld der Thätigkeit, welches einen
ganzen Mann beansprucht und nicht länger wie bisher so nebenbei besorgt
sein will.“
Wir können uns diesen sachgemässen und zutreffenden Aus¬
führungen nur völlig anschliessen und müssten es bedauern, wenn
die Tüchtigkeit eines Medizinalbeamten lediglich danach beurtheilt
werden sollte, ob dieser Cholerabazillen fangen kann oder nicht.
Unseres Erachtens liegt die Thätigkeit desselben auf ganz anderem
Gebiete, als auf demjenigen der Bakteriologie, so wünschenswerth
auch an und für sich seine Vertrautheit mit den bakteriologischen
Untersuchungsmethoden ist; man kann aber, wie die Erfahrung
lehrt, auch ohne eine solche Vertrautheit ein sehr tüchtiger, seiner
Aufgabe völlig gewachsener Medizinalbeamter sein. „Alle Ächtung
vor der Thätigkeit der Medizinalbeamten, sie haben getlian, was
irgend möglich war“, sagt mit Recht der Abg. v. Pilgrim, und
in gleicher Weise erkennt der Herr Minister ausdrücklich an, „dass
die Medizinalbeamten bisher im Allgemeinen und bei schweren
Aufgaben auch unter schwierigen Verhältnissen, namentlich, wenn
344 Verhandlungen d. prenss. Abg.-Hauses üb. d. Interpellation d. Grafen Bonglas.
es sich um öffentliche Nothstände gehandelt hat, niemals versagt
haben und dass kein Grund vorliegt, dass sie auch künftighin nicht
ihre volle Schuldigkeit thun werden“. Diese volle Schuldigkeit
werden sie aber in noch viel höherem Maasse thun, wenn ihnen
erst eine den grossen Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege
entsprechende, mit den erforderlichen amtlichen Befugnissen aus¬
gestattete und ausreichend dotirte amtliche Stellung gewährt ist.
Hoffen wir, dass sie schneller, als man nach den jüngsten Er¬
klärungen vom Ministertische aus annehmen muss, in die lang¬
ersehnte Lage kommen, diesen Beweis zu führen!
Im Nachstehenden lassen wir die betreffenden Verhandlungen
des Abgeordnetenhauses auf Grund des stenographischen Berichtes
folgen.
Abg. Graf Donglas dankt zunächst der Königlichen Staatsregierang für
das, was sie gegenüber der drohenden Choleragefahr im vorigen Jahre geleistet
habe; es sei an den Zentralstellen nicht nur aus allen Kräften, sondern noch
über das Mas« der Kräfte hinaus, bis zum Erliegen gearbeitet worden. Auch
der Beichsregierung und der Militärverwaltung, die mit grösster Bereitwilligkeit
geeignete Kräfte zur Verfügung gestellt habe, gebühre der gleiche Dank. An¬
dererseits erscheine es aber weder opportun noch der Würde der Staatsregierang
entsprechend, sich gleichsam auf fremde Hülfe zu stützen, auf die man ausser¬
dem nicht zu jeder Zeit rechnen könne. In Folge dessen erlaube er sich an
die Staatsregierang die Frage zu richten: sind die nöthigen Organe vorhanden,
um uns vor der Wiederholung ähnlicher Fälle wie in Nietleben, zu schützen?
Ebenso dauernd, wie voraussichtlich die Choleragefahr bleiben werde, müssen
auch die zur Abwendung dieser Gefahr erforderlichen Massregeln vorbereitet sein.
Insonderheit gelte dies in Bezug auf die Assanirung der Wohnungen, des Grand
und Bodens und des Wassers, sowie in Bezug auf das möglichst schnelle Er¬
kennen der Krankheit, das Feststellen ihres Ursprungs u. s. w. Beim Abwägen
der Opfer, die durch solche gegen die Choleragefahr bedingten Organisationen
und Massregeln hervorgerufen werden, müsse man auch die Vortheile in Rech¬
nung ziehen, die uns daraus gleichzeitig auch allen anderen epidemischen Krank¬
heiten gegenüber erwachsen. Die Cholera sei auch keineswegs die schlimmste von
allen Seuchen; Diphtherie und vor aUem Tuberkulose fordern alljährlich eine
viel grössere Anzahl von Menschenleben; auch könne man sich gegen die Cholera
durch rationelle Lebensweise viel sicherer als gegen andere ansteckende Krank¬
heiten sichern. Bei der Bekämpfung der Infektionskrankheiten müsse der Schwer¬
punkt auf die Prophylaxe gelegt werden; wie viel durch diese geleistet werden
könne, dafür liefere das Zurückgehen der Krankheits- und Sterblichkeitszahlen
der deutschen Armee den besten Beweis.
Will man aber diese Ziel erreichen, will man die für alle Zeit epoche¬
machenden Forschungen eines v. Pettenkofer oder eines Koch praktisch
verwerthen, dann bedürfen wir vor allem eine Medizinalreform, die schon
seit Jahrzehnten angestrebt, aber noch immer nicht zur Durchführung gelangt sei.
Redner macht für dieselbe folgende Vorschläge:
„Es dürfte sich empfehlen, mehrere Kreise zusammenzulegen, wenn
es sich nicht um sehr volkreiche handelt, schon aus dem Grande der Er-
sparniss. Man könnte eine Sanitätskommission bilden, bestehend aus dem
Landrath respektive den Landräthen und dem Bezirksarzt. Wenn bei dieser
Gelegenheit die Bezeichnung „Kreisphysikus“ in Wegfall käme und dafür
„Bezirksarzt“ gesagt würde, so wäre das eine Verbesserung, denn die gegen¬
wärtige Bezeichnung ist weder deutsch, noch bezeichnend, noch schön. — 1 Man
wird zunächst natürlich zu einem gemischten System übergehen müssen, da man
nicht mit einem Schlage die ganze Reform vornehmen kann. Die Ausbildung
würde namentlich zu richten sein auf Epidemiologie, Hygiene und Bakteriologie,
dann auf Kenntnisse in der Verwaltung, indem die Aerzte eine Zeit hindurch
bei dem Landrath oder bei der Regierung arbeiten könnten. Ferner würde es
sich empfehlen, dass auch hier nach dem so bewährten Vorbilde der Militär¬
sanitätsverwaltung diese Herren nach gewissen Zeitabschnitten zur Theilnahme
Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 345
an den entsprechenden Kursen einberufen würden, denn es ist nicht möglich,
dass jemand in diesen Fragen auf der Höhe bleibt, wenn er jahrelang ohne jede
direkte Anschauung über diese meist so schnell fortschreitenden Wissenschaften
bleibt. Die Wirkungskreise dürften sein: die Ueberwachung der gesammten
hygienischen Verhältnisse des Bezirks, der Schulen, namentlich des Wassers in
den Schulen, die Ueberwachung der Armenhäuser und der Krankenhäuser, das
Impfen, sowie Funktionen am Gericht. Solche Aerzte müssten vor allen Dingen
das Recht haben, unmittelbar einzugreifen, wo sie von einer Epidemie Kenntniss
erhalten, was ihnen bis jetzt leider nicht zusteht. Han könnte ihnen eine
Praxis gestatten, vielleicht in der Form, wie dies heute in Betreff der Regierungs¬
medizinalbeamten geschieht, dass sie die Erlaubniss haben, dieselbe zu betreiben,
solange es mit ihrem Amte verträglich erachtet wird. Oder es dürfte sich viel¬
leicht eine konsultative Praxis, wie sie die Universitätsprofessoren zu haben
pflegen, noch mehr empfehlen. Gehalt und Rang wären zu erhöhen. In Betreff
des Gehalts möchte ich darauf hinweisen, dass unsere Medizinalverwal¬
tung ihre Beamten am schlechtesten in ganz Deutschland hono-
rirt; es gilt dies allen übrigen Staaten und jetzt namentlich auch Hamburg gegen¬
über. Man müsste ihnen Pensionen zubilligen, und das müsste rückwirkend sein.
Denn jetzt steht die Königliche Regierung häufig vor der meist sehr peinlichen Frage,
entweder einen verdienstvollen Arzt, der lange Jahre hindurch dem Staate treu ge¬
dient hat, den kein Vorwurf trifft, als sein vorgerücktes Alter, in einer Weise zu ent¬
lassen, ohne alle Pension, die leicht verletzen, als ein Ausfall in den Einnahmen
empfunden wird, oder, was leicht noch weit verhängnisvoller für viele werden
kann, einer unfähigen Persönlichkeit diesen zu Zeiten hochwichtigen Posten an¬
zuvertrauen. Ferner müsste eine Wittwenpension ins Auge gefasst werden. So
wie jeder Soldat, der ins Feld zieht, jeder Bergmann, der seinem gefahrvollen
Beruf nachgeht, das Bewusstsein mit sich nimmt, dass, wenn er nicht zurück¬
kehrt, für seine Hinterbliebenen gesorgt ist, so sollte man dieses Bewusstsein
auch den Herren geben, die sich oft im höchsten Masse exponiren müssen.
Vor allen Dingen scheint es aber erforderlich, dass seitens der Regierung oder
der Kreise dafür gesorgt wird, dass jeder der Herren, insoweit er es richtig zu
verwenden versteht, ein Mikroskop hat. Man kann unmöglich jemandem, dessen
Gehalt 900 Mark beträgt, zumuthen, dass er sich ein Instrument zulegt, das
mit Zubehör 600 Mark kostet.“
Redner geht hierauf noch auf die sanitären Misstände der Woh¬
nungen und des Schlafstellenwesens sowie auf die Nothwendigkeit der
Anstellung von Wohnungsinspektoren, Gesundheitsaufseher und Gesundheits¬
ämter ein, deren Organisation sich den lokalen Verhältnissen anpassen müsse.
Für Leute, die den Tag über in der Industrie oder unter der Erde in schlech¬
ter Luft zu arbeiten haben, seien besser angelegte Wohnungen nothwendig
als für solche, die den ganzen Tag in frischer guter Luft arbeiten. Er
schlägt ferner vor, die hygienischen Institute als Sanitätsämter der Provinz
auszugestalten und sie mit dem Medizinalkollegium in einen gewissen Konnex
zu bringen. Auch empfehle es sich, den Parlamentariern, Schuldirektoren u. s. w.
Gelegenheit zu geben, ah hygienischen Kursen, wie solche seiner Zeit für Ver¬
waltungsbeamte eingerichtet seien, theilzunehmen. Vor allem sei es aber nöthig,
die wichtigsten hygienischen Grundsätze durch die Volksschulen in die weitesten
Schichten der Bevölkerung hineinzutragen.
Zum Schluss betont Redner, dass alle Ausgaben auf dem Gebiete der
öffentlichen Gesundheitspflege reichliche Zinsen tragen und gerade durch eine
mangelhafte Gesundheitspflege die grössten Verluste herbeigeführt werden. Er
bittet die Königliche Staatsregierung, die von ihm gemachten Vorschläge in
Erwägung zu nehmen und richtet speziell an den Finanzminister die Bitte, nun¬
mehr nach Feststellung der Steuerreformgesetzgebung seine zum Theil entlastete
Kraft und seine reichen Erfahrungen auch in den Dienst dieser das Allgemein¬
wohl des Volkes betreffenden Fragen zu stellen. (Bravo).
Kultusminister Dr. Bosse: M. H.! Der Wortlaut der von dem Herrn Inter¬
pellanten an die Staatsregierung gerichteten Anfrage geht dahin, welche Massregeln
sie der Choleragefahr gegenüber zu ergreifen gedenkt. Nun hat freilich der Herr
Interpellant eben ausgeführt, dass, wenn man den Wortlaut sich sehr genau ansieht,
man daraus wohl entnehmen könnte, dass die Interpellation auch über die Cholera¬
gefahr, wenigstens über eine imminente Choleragefahr hinaus gemeint sei. Ich
glaube aber doch sagen zu müssen, dass, wer die Interpellation liest, sie zunächst
846 Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas.
auf die imminente Choleragefahr, die möglicher Weise über unser Vaterland
hereinbrechen könnte, bezieht, und ich werde mich daher zunächst auch auf die
strikte Beantwortung der gestellten Anfrage beschränken. Diese Antwort könnte
ich, der Geschäftslage des hohen Hauses entsprechend, sehr kurz fassen, indem
ich Sie, was ja auch der Herr Interpellant anerkannt hat, auf die Ihnen vor¬
gelegte Denkschrift über die Massregeln verweise, die wir im vorigen Jahre
gegen die Cholera ergriffen haben. Wir werden, da die in der Denkschrift
Ihnen mitgetheilten Massregeln im vorigen Jahre, Gott sei Dank, einen über¬
raschend gnten Erfolg gehabt haben, wenn wiederum eine Invasion der Cholera
bei uns erfolgen sollte, was Gott verhüten wolle, im Wesentlichen dieselben
oder doch analoge Massregeln ergreifen, um einer in grösserem Umfange aus¬
brechenden Epidemie entgegenzutreten. Das ist im knappsten Rahmen rebus sic
stantibus die eigentlich selbstverständliche Antwort, die ich auf die Interpellation
zu geben habe; immerhin gehören aber dazu noch einige Bemerkungen, für die
ich mir Ihre Geduld erbitten möchte, weil ohne sie doch das Bild von dem, was
wir zu thun gedenken und bereits gethan haben für den Fall einer herein¬
brechenden Cholera, nicht ganz vollständig sein würde; selbst dann, wenn ich
es in dem engsten Rahmen halte. Die Epidemie des Vorjahres, namentlich der
erschreckende Ausbruch der Cholera in Hamburg, kam vollkommen überraschend.
Wir haben an der Hand des sachverständigsten technischen Raths, der uns zu
Gebote stand, gethan, was wir konnten, und unsere Massregeln sind ja auch von
Erfolg gewesen. Immerhin haben wir aber aus dem Verlauf der Epidemie im
Vorjahre Erfahrungen gewonnen, die uns damals in diesem Umfange und nach
den bestimmten Richtungen hin, in denen wir sie gemacht haben, noch fehlten.
Wir sind vielleicht im vorigen Jahre in manchen Richtungen zu weit gegangen,
weiter als unbedingt nöthig gewesen ist; ich erkenne das bereitwillig an. Ich
will nur einen Punkt hervorheben: das ist die Beschränkung des Verkehrs. Wir
sind zu der Ueberzeuguug gelangt, dass wir in dieser Beziehung ohne jede Ge¬
fahr erheblich weitherziger sein können, als wir es damals, wenigstens im An¬
fänge, gewesen sind. Wir werden daher die Verkehrsbeschränkungen diesmal,
wenn die Cholera wirklich in grösserem Umfange erscheinen sollte, auf ein
Mindestmass einschränken können, und eine ganze Reihe von Massregeln, durch
welche das Publikum sich belästigt fühlt, werden dieses Mal gar nicht mehr ii
Frage kommen. Unsere Massregeln werden daher erheblich weniger empfindlich
sein als im vorigen Jahr und — worauf auch Werth zu legen ist — auch erheb¬
lich billiger. Wir werden sie mehr konzentriren und dadurch auch in die Lage
gesetzt werden, an wirklich gefährdeten Punkten — ich habe dabei namentlich
die Wasserläufe im Auge — sie wirksamer gestalten zu können.
Sodann sind unsere Vorbereitungen — und das ist ein wesentlicher Unter¬
schied gegen das vorige Jahr — an der Hand der gemachten Erfahrungen dies¬
mal bereits im Voraus getroffen. Im vorigen Jahre konnten wir das nicht thun,
weil wir von der Cholera um diese Jahreszeit, in der wir uns jetzt befinden,
noch gar nichts wussten. Das Personal, welches wir gebrauchen, ist designirt
worden, ist jeden Augenblick in voller Zahl in Aktion zu treten bereit, soweit
es nöthig ist. Die Vorkehrungen für die Diagnose der Cholera sind vervoll¬
ständigt; ich komme darauf noch zurück. Die bakteriologischen Stationen zur
Untersuchung der vorkommenden Cholerafälle sind vermehrt, ihre Ausrüstung
ist ausgiebig erfolgt, sie sind fix und fertig. Kurz, ich glaube versichern zu
dürfen, was menschenmöglich ist, um der Gefahr zu begegnen, ist z. Z. voll¬
ständig vorgesehen. Wir stehen daher einer etwaigen Cholerainvasion diesmal
besser gerüstet und mit günstigeren Chancen gegenüber als im vorigen Jahre.
Zu diesen besseren Vorbereitungen gehört aber namentlich, dass wir 117
gut befähigte, namentlich auch körperlich rüstige Medizinalbeamte, insbesondere
Kreisphysiker, cinberufen haben, die gruppenweise in sechs Abtheilungen vom
Geheimen Rath Kocii im Laufe dieses Frühjahrs in den Erfahrungen, welche
bei der jüngsten Epidemie gewonnen sind, und in den Abwehrmassregeln gegen
die Cholera unterwiesen worden sind. Diese Beamten sollen überall da, wo das
Bedürfnis» vorliegt, auch ausserhalb ihres Kreises, zur Unterstützung der ört¬
lichen Behörde, zur Berathung der Sanitäts- Kommissionen u. s. w. verwendet
werden.
Der Ueberwachungsdienst auf der Weichsel — es hat sich im vorigen
Jahre herausgestellt, dass die Stromläufe die gefährdetsten Punkte waren — der
Ueberwachungsdienst auf der Weichsel, der ganz besondere Bedeutung hat wegen
Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hause9 üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 347
der aus Russland kommenden Flösser, ist bereits mit dem Beginn des Flösserei-
verkehrs wieder aufgenomiuen worden. Die Flösser werden überwacht und auch
znsammengehalten, damit sie nicht durch eine Zerstreuung in der Bevölkerung
unabsehbaren Schaden anrichten können. Die einwandsfreie Wasserversorgung
dieser Leute ist vollkommen gesichert. Um sodann die Natur der choleraver¬
dächtigen Erkrankungen und Todesfälle in möglichst zuverlässiger Weise aufzu¬
klären, ist für die Bedürfnisse des besonders gefährdeten Weichselgebiets eine
neue bakteriologische Untersuchungsstation in Danzig eingerichtet worden und
die Räume dazu — ich muss das dankbar hervorheben — sind von den städti¬
schen Behörden in der dankenswerthesten Weise uns zur Verttigung gestellt.
Eine gleiche Anstalt fehlte bisher in den Rheinlanden, wo wir ja an der
Universität Bonn zu meinem Bedauern ein hygienisches Institut noch nicht
haben. Ich habe daher auch in Bonn eine solche Institution einrichten lassen;
sie ist fertig und kann jeden Augenblick in Wirksamkeit treten.
Im Uebrigen aber wird das Bedürfniss nach dieser Richtung durch die
hygienischen Universitäts - Institute, das hiesige Institut für Infektionskrankheiten
und aushülfsweise auch die militärischen Sanitätsämter vollkommen gedeckt.
Was die Wasserversorgung und die Beseitigung der Abfallstoffe anlangt,
so wird überall fortgesetzt unter Mitwirkung der Sanitätskommissionen dieses
Gebiet überwacht. Aus Veranlassung der auch von dem Herrn Interpellanten
erwähnten, höchst beklagenswerthen Epidemie in Nietleben sind die Behörden
neuerdings streng angewiesen, diese Verhältnisse insbesondere in allen Anstalten
mit grösserer Belegung scharf zu beobachten, etwaigen Missständen abzuhelfen
und solche alsbald, wo sie sich finden, zu beseitigen. Wenn der Herr Inter¬
pellant gefragt hat, ob wir sicher wären, dass ein solcher Fall, wie Nietleben,
nicht wiederkehre, so kann ich diese Frage freilich nicht bejahen. Aber auch
wenn alles geschähe, was der Herr Interpellant verlangt hat, wenn wir unsere
Medizinalreform in der ausgiebigsten Weise ausftihren — ich komme darauf noch
zurück —, so werden wir doch nicht in die Lage kommen, sagen zu können:
solche Fälle, wie sie in Nietleben vorgekommen sind, sind absolut unmöglich
und können sich nicht wiederholen. Den abstrakten Möglichkeiten gegenüber,
die ja ganz unabsehbar sind, lassen sich solche absoluten Versicherungen, wie
übrigens der Herr Interpellant auch anerkannt hat, nicht abgeben; aber was
möglich war, um ihnen vorzubeugen, ist geschehen.
Ich möchte dann noch ein Wort einfügen über die internationale Sanitäts¬
konferenz in Dresden. Aus den Protokollen dieser Konferenz ist ersichtlich,
dass die Grundsätze, auf denen sich in Preussen die Schntzmassregeln im inter¬
nationalen Verkehr herausgebildet hatten, im Wesentlichen dort zur Geltung
gelangt sind. Also neue Einrichtungen nach dieser Richtung hin werden in
Preussen nicht nöthig werden. Unsere beiden Quarantäne-Anstalten in Neufahr¬
wasser und Swinemünde habe ich jetzt eben durch Kommissarien meines
Ministeriums einer sorgfältigen Untersuchung unterwerfen lassen. Ich kann nur
bezeugen, dass nach den vorliegenden Berichten ihre Einrichtungen sich in
musterhafter Ordnung befinden.
M. H. t nehmen Sie zu der Antwort, die sich aus der Ihnen vorgelegten
Denkschrift ergiebt, diese Bemerkung hinzu, so haben Sie im Wesentlichen,
glaube ich, das Bild der Massnahmen, mit denen wir event. zu operiren ge¬
denken. Der Herr Interpellant, hat selbst hervorgehoben, dass er als die wesent¬
lichste Absicht der Interpellation die ansieht, im Laude Beruhigung darüber
herbeizuführen, dass eintretenden Falls nichts versäumt werden wird, um der
Seuche mit allen Mitteln, die der staatlichen Organisation zu Gebote stehen,
erfolgreich entgegenzutreten.
Nun glaube ich, dass zur Erreichung dieses Zweckes das, was ich gesagt
habe, im Wesentlichen ausreichen wird. Freilich ist nun der Herr Interpellant
über den Wortlaut der Interpellation bei seiner Begründung weit hinausgegangen
Er hat eine Reihe ganz allgemeiner, über die spezielle Bekämpfung der Cholera¬
gefahr weit hinausgehender Massnahmen, ein System der allgemeinen Assanirung
und als nothwendigstes Mittel dazu die organisatorische Reform unserer ge-
sammten Medizinalverwaltung in Anreguug gebracht; Massnahmen, von denen
ich ja anerkennen muss, dass sie, wenn sie zur Ausführung gelangen, natürlich
auch der Oholeragefahr gegenüber von der wesentlichsten Bedeutung sein werden.
Was nun dieses Eingehen auf den schon so oft in diesem hohen Hause
verhandeltet Plan einer Reform unserer Medizinalverwaltung angeht,
348 Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hausea üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas.
so kann ich nicht gerade behaupten, dass mir in diesem Augenblick die Anregung
dieser Frage sehr bequem wäre. Das ist ja aber auch nicht nöthig, und darauf
kommt es nicht an. Ich bin allerdings mit dieser Angelegenheit in den Jahren
1876 bis 1878, als ich in der Medizinalabtheilung des Ministeriums war, befasst
gewesen; aber dazwischen liegt eine ganze Reihe von Jahren, in denen mir
begreiflicher Weise die Einzelheiten einigermassen aus den Augen gekommen sind.
Ich habe nun diese ganze Frage, kurz nachdem ich das Ministerium über¬
nommen hatte, meines Theils wieder angeregt und wieder aufgenommen. Ich
muss aber dabei hervorheben, dass, so oft auch über die Sache verhandelt ist,
ich ein ohne Weiteres verwerthbares Material odereinen kon¬
kreten Plan, mit dem ich nun hätte gleich operiren können, in
den Akten des Ministeriums nicht vorgefunden habe: Anre¬
gungen und allgemeines Material in Hülle und Fülle, aber ein
durchgearbeiteter, einheitlicher Plan, mit dem ich sofort an dieses
hohe Haus hätte treten können, oder an den ich mich auch nur hätte anlehnen
können — ich musste mir die Prüfung selbstverständlich Vorbehalten —, ein
Plan für eine gesetzgeberische Aktion auf diesem Gebiet war
nicht vorhanden, und den muss ich mir erst schaffen. So viel ist richtig,
m. H., dass seit vielen Jahren gewisse Mängel in unserer Medizinalverwaltung
auch innerhalb des Ministeriums schwer empfunden werden. Ich leugne diese Män¬
gel selbstverständlich nicht, ich kenne sie, wenigstens einen Theil davon« und es
ist mein dringender Wunsch, dass sie abgestellt werden. In gewissem Sinne ist
auch mein Herr Amtsvorgänger der Abhülfe bereits näher getreten; er hat in Ueber-
cinstimmung mit dem Wunsch des Herrn Finanzministers, wie auch schon bei
der Etatsberathung mitgetheilt worden ist, Ermittelungen herbeigeführt über
die jetzigen Bezüge der Kreis-Medizinalpersoneu, und die Ergebnisse dieser
Ermittelungen, die ja nach der Natur der Sache zum Theil sehr zweifelhafter
Natur sind, werden jetzt nicht ohne Schwierigkeit zusammengestellt und Ihnen
hoffentlich später zugehen.
M. H., der Umstand, dass es sich hier in der That um die Befriedigung
wichtiger, auch von der Medizinalverwaltung empfundener Bedürfnisse handelt—
und ich muss hinzufügen, die wohlwollende Art, mit der der Herr Interpellant
diese Dinge mir gegenüber behandelt hat, — nöthigen mich, ungeachtet dieser
noch wenig geklärten Lage der Sache darauf einzugehen. Ich mnss aber be¬
tonen, dass das selbstverständlich nur in den allgemeinsten Umrissen geschehen
kann, schon deshalb, weil die Frage — ich will nicht sagen: in der Hauptsache,
aber zu einem wesentlichen Theil eine Finanzfrage ist. Weil ich sie nicht selbst¬
ständig lösen kann, muss ich mir nach dieser Richtung hin in Bezug auf die
Ideen, die mir über die Lösung vorschweben, eine grosse Reserve auferlegen,
und es wird noch mancher Tropfen Wasser den Berg herunter¬
laufen, ehe ich in der Lage sein werde, ein so tief eingrei¬
fendes und, wie ich hinzufügen muss, kostspieliges Reform¬
projekt in’s Leben zu rufen.
Nun wird sich, wie auch der Herr Interpellant anerkannt hat, diese
künftige Medizinalreform in Preussen wesentlich in zwei Richtungen bewegen:
einmal — das ist die Grundlage für alle weiteren Schritte — müssen wir eine
grössere Gewähr wie bisher dafür erstreben, dass die örtlichen Medizinalbeamten
— ich will sie einmal die künftigen Kreisärzte, nennen —, dass die künftigen
Kreisärzte mit den neuerdings gewonnenen wissenschaftlichen Ergebnissen auf
den Gebieten der öffentlichen Gesundheitspflege: Hygiene, Bakteriologie, Epide¬
miologie, Assanirung der Wohnungen, Wasserfrage u. s. w. im grösseren Masse
wie bisher vertraut werden, und dass sie, was bei einigen der älteren Herren
vielleicht hier und da vermisst werden könnte, von der ungeheuren Bedeutung
der öffentlichen, das gesummte Gesellschaftsleben der Menschen umfassenden
Prophylaxe auf diesem Gebiet vollkommen durchdrungen sind. Das müssen wir
erreichen, das ist die Vorbedingung der ganzen Medizinalreform, sie liegt in der
Vorbildung der künftigen M e d i z i n a 1 b e a m t e n.
In Wechselwirkung mit diesem Punkt steht dann die Regelung der
amtlichen Stellung der örtlichen M e d i z i n a 1 b e a m t e n: nicht bloss
ihres Gehaltsbezuges, von dem ich anerkenne, dass manche Aenderung in dieser
Beziehung wünschenswert!! sein dürfte, sondern auch ihrer gesummten Stellung
im Ilahmen der Verwaltung, ihrer Stellung zu den Regiminalbehörden, ihrer
Initiative u, s. w. Indessen, m. H., dieser Punkt ergiebt, sowie man ihm näher
Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses ob. d. Interpellation n. Grafen Donglas. 849
tritt, eine ganze Reihe organisatorischer und finanzieller Fragen, deren Lösung
die alleigrössten Schwierigkeiten bietet, und die ich jedenfalls nicht über das
Knie brechen kann.
Was mich am meisten beunruhigt hat beim Lesen der Interpellation, das
ist die Gefahr, die für mich darin lag, dass ich dazu verleitet werden könnte,
hier Versprechungen in dieser Beziehung zu machen, die ich dann später nicht
halten könnte, dagegen verwahre ich mich; das will ich nicht und darf ich nicht
thun, und damit wurde ich auch dem Landtage und dem Lande keinen Dienst
erweisen. Denn dass die jetzigen Kreisphysiker, die in der Hauptsache auf ihre
ärztliche Praxis angewiesen sind und die daneben zwar Beamte sein sollen, die
aber andererseits gewisse Vorzüge der Beamtenstellung entbehren, so dass mir
neulich ein Kreisphysiker sagte: Ja wir sind nicht Fisch noch Fleisch, — kurz,
dass diese Stellung der Kreisphysiker gewisse sachliche Mängel darbietet, die
auch zurückwirken auf die Wirksamkeit der ganzen Institution, darüber wird
man wohl kaum im Zweifel sein. Alle diese Fragen und in Verbindung damit
auch die Frage, inwieweit der örtliche Kreis-Medizinalbeamte auf die freie
ärztliche Praxis zu verweisen ist, bedürfen der gründlichen Prüfung. Es liegen
grosse Gefahren darin, unsere Medizinalbeamten von der Praxis ganz frei zu
machen, sie nicht mehr in die Häuser hineinzuschicken, wo sie das Wichtigste
sehen, was sie für ihre Aufgaben als Medizinalbeamte brauchen; und es liegen
andererseits auch Gefahren darin, sie ganz auf die Praxis zu verweisen und
damit ihre Kräfte zu absorbiren, so dass sie uns, wenn wir sie brauchen, mit
dem Einwurf kommen: Das ißt nicht zu leisten Angesichts der Besoldung, mit
der wir jetzt abgefunden werden. Kurz, alle diese Fragen werden jetzt einer
sorgfältigen Prüfung innerhalb des Ministeriums unterzogen. Wir werden viel¬
leicht in der Lage sein — ich persönlich würde dazu geneigt sein —, wenn wir
erst einmal die Sache einigermassen formulirt haben, Vertrauensmänner, viel¬
leicht eine freie Kommission, Uber diese Dinge zu hören. Zur Zeit bin ich
nicht in der Lage, sagen zu können: So und so werden wir die Sache gestalten.
Auch die Frage der örtlichen Gesundheitskommissionen und der vom Herrn
Interpellanten erwähnten Anstellung von Gesundheits-oder Wohnungs-Inspektoren
ist zur Zeit nach meiner Ueberzeugung noch nicht spruchreif. Wir müssen uns
zunächst mit den Organisationen behelfen, die wir haben, und dabei sind wir
unseren Medizinalbeamten zum mindesten die Anerkennung schuldig,
dass sie bisher im Allgemeinen und bei schweren Aufgaben
auch unter schwierigen Verhältnissen, namentlich wenn es
sich um öffentliche Nothstände gehandelt hat, niemals versagt
haben. Es wird sich ja auf diesem Gebiete manches verbessern
lassen, aber es liegt doch nach den bisherigen Erfahrungen
kein Grund zu der Annahme vor, dass unsere Medizinalbe¬
amten, namentlich in Zeiten der Noth, nicht ihre volle Schul¬
digkeit thun würden. Ich bin überzeugt, sie werden sie thun,
wie sie ihre Pflicht bisher stets gethan haben, und die Besorgniss,
dass daraus eine akute Gefahr erwachsen könnte, ist ohne jeden thatsächlicheu
Anhalt. Dass wir dabei von militärischer Seite sehr bereitwillige Hülfe im vorigen
Jahre gefunden haben, dafür sind wir sehr dankbar; ich sehe auch darin kein
Unglück, aber wir werden darauf Bedacht zu nehmen haben, dass unsere Me¬
dizinalbeamten mindestens gleichwerthig auch nach dieser Richtung ausgebildet
sind und auch ausgerüstet werden, wie es jetzt beim Militär der Fall ist.
Ich darf also in dieser Beziehung mich dahin zusammenfassen: Eine
Revision und erforderlichen Falls eine organische Reform
unserer Sanitätsorganisation wird mit allem Ernst in Angriff
genommen werden. Die grundlegenden Vorarbeiten dazu
sind jetzt im Gange. Dass, m. H., dies alles nicht ans dem Hand¬
gelenk in’s Leben zu rufen ist, dass das einer sehr praktischen und ein¬
gehenden, sorgfältigen Erwägung bedarf, darüber brauche ich nicht zu reden.
Nun bin ich mir ja wohl bewusst, dass bei allem Eifer, mit dem der Herr Inter¬
pellant seine humanitären Bestrebungen verfolgt, es vicdleicht auch schon als
ein Erfolg zu verzeichnen ist, wenn diese Erklärungen, die ich bisher hier habe
abgeben können, eine Beruhigung herbeigeführt haben. Aber auf der anderen
Seite weiss ich mich mit ihm darin einig, dass mit blossen Vertröstungen auf die
Zukunft diese Dinge nicht behandelt werden dürfen. Dazu ist die Sache zu
gross und die Frage zu ernst. Glücklicher Weise bin ioh aber iu der Lage,
350 Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauaes üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas.
«war nicht alles Wünschenswerte auf einmal schon jetzt zu thun und in Aus¬
sicht zu stellen, aber einiges können wir doch sofort thun, ohne diese weit aus¬
sehende Neuorganisation abwarten zu müssen. Der Herr Interpellant hat mit
Recht die Notwendigkeit von Lehrkursen hervorgehoben, die den Zweck haben
sollen, in weiteren Kreisen Verständniss für die öffentliche Gesundheitspflege zu
verbreiten; und in diesem Punkt bin ich mit ihm in jeder Beziehung einver¬
standen, ja, ich bin seinen dankenswerthen Anregungen nach dieser Richtung
bereits zuvorgekommen. Wir haben nicht nur hygienische und bakteriologische
Kurse für Aerzte und Medizinalbeamte, sondern auch solche für Verwaltungs-
Beamte und Beamte der Schulverwaltung eingerichtet. Ich habe die Direktoren
der hygienischen Institute der Universitäten Breslau, Königsberg, Kiel, Marburg
und Berlin angewiesen, solche hygienische Kurse für Beamte einzurichten, und
zwar dergestalt, dass diese Kurse, so weit sie Theilnahme finden und die Auf¬
gaben der Institute es gestatten, von Zeit zu Zeit wiederholt werden. Wenn
es demnächst einer Anzahl von Abgeordneten gefällt, an diesen Kursen theil-
zunehmen, so versteht es sich von selber, dass uns das die grösste Freude sein
wird. In dieser Beziehung kann sich der Herr Interpellant beruhigen; ich
fürchte nur, sehr zahlreich würde der Zugang von hier aus auf die Dauer wohl
nicht werden.
Diese Kurse sind zunächst auf vierzehn Tage berechnet; sie verfolgen als
Ziel, den Theilnehmern durch Vorträge und Demonstrationen einen Einblick in
die ihren Wirkungskreis berührenden Theile der öffentlichen Gesundheitspflege
zu verschaffen. Diesem Zweck sollen die Sammlungen der Institute, sowie be¬
sonders auch die sanitären Einrichtungen der betreffenden Orte und ihrer Um¬
gebungen in möglichst ausgedehntem Masse dienstbar gemacht werden. Es
handelt sich dabei um ein sehr grosses Menu: um die allgemeinen Aufgaben der
Hygiene, Mortalitäts- und Morbiditätsstatistik, Krankheitsursachen, die krankheit-
erregenden Parasiten; um Boden und Wasser, Wasserversorgung im Grossen,
Filterbetrieb, Brunnenanlagen, Hausfilter; um Wohnungshygiene, gesundheits¬
schädliche Bestandtheile der Luft, Ventilation; Heizung, lokale und zentrale
Heizanlagen; Schulbauten, Krankenhäuser, Isolirbaracken, Arbeiterwohnungen,
Gefängnisse; um die Eutfernnng der Abfallstoffe, Kanalisation, Rieselwirthschaft,
Kläranlagen, Abfuhrsysteme; um Volksernährung, Kost in öffentlichen Anstalten,
Alkoholismus, Verfälschung der Nahrungsmittel, Fleischschau, Marktpolizei; um
die wichtigsten Theile der Gewerbehygiene; ferner um daä Begräbnisswesen und
die Verhütung der übertragbaren Krankheiten (Desiufektionswesen).
An den einzelnen Kursen sollen 15 bis 20 Hörer theilnehmen, und wenn
auch das Menu etwas reichlich ist, so versteht es sich doch von selbst, dass nicht
alle Gegenstände mit gleicher Vollständigkeit in jedem Kurse behandelt werden
können. Es ist Vorsorge getroffen, dass die Mitglieder der Verwaltungsbehörden
und alle Personen, für welche die Kurse zugänglich sind, über deren Einrich¬
tung unterrichtet werden. Wir haben in Bezug auf die Kurse, was der Herr
Interpellant gewünscht hat, bereits gethan; denn wir haben Kurse an den
hygienischen Instituten, den Universitäten, sowie bei dem hiesigen Institut für
Infektionskrankheiten einmal zur Fortbildung und Unterweisung von Medizinal¬
beamten, dann für Verwaltungsbeamte, sodann hygienische Uebungskurse für die
Studirenden und endlich noch besondere epidemiologische Lehrkurse der Medizinal¬
beamten. Ich habe auch besonders Sorge dafür getragen, dass diese Kurse auch
den Beamten der Schulverwaltung und der Seminare zugänglich werden. Viel¬
leicht lässt es sich später ermöglichen, in den Seminaren selbst Kurse über
Schulhygiene und über die wissenswert-besten Zweige der allgemeinen Gesund¬
heitspflege einzurichten. Ich werde alle diese Einrichtungen persönlich im
Auge behalten.
Im Uebrigen haben wir hygienische Kurse und Vorlesungen nicht nur an
den Universitäten, sondern auch an den technischen Hochschulen, wenn sie hier
auch naturgemäss sieh wesentlich auf Gewerbehygiene beschränken.
Das ist im Wesentlichen die Antwort, die ich zu geben habe. In weitere
Einzelheiten einzugehen, würde, wue ich glaube, zwecklos sein. Aber ich hoffe,
gezeigt zu haben, dass wir auf dem Posten sind, und dass die Mittel, mit denen
wir der Cholera entgegen wirken und eintretenden Falls entgegenzu wirken denken,
wohl vorbereitet sind. Wenn diese Darlegung dazu dient, das Vertrauen ira
Lande zu stärken, so wird auch diese Interpellation nicht ohne segensreiche
Folgen bleiben. (Bravo!)
Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses üb. d. Intrepellation d. Grafen Donglas. 351
Abg. Dr. Graf will es gern anerkennen, dass die Massregeln, welche
die Staatsregierang in Verbindung mit der Reichsregierang im vorigen Jahre
gegen die Cholera getröden bat, von grossem Erfolge gekrönt gewesen sind und
dass namentlich die bessere Kenntniss von dem Träger der Infektion and seinen
Lebensbedingungen anch schon zn greifbaren praktischen Resultaten geführt hat.
Von grosser Bedeutung für die Verbreitung der Cholera sei besonders das Wasser
und zwar sowohl in seiner Verwendung als Trinkwasser wie als Gebrauchs¬
wasser. Mit Befriedigung müsse man die getroffenen Vorkehrungen behufs Be¬
aufsichtigung des Flussverkehrs begrüssen, nicht minder aber auch den Fortfall
aller unzweckmässigen Absperrungsmassregeln und weitgehenden Verkehrsbe¬
schränkungen. Falsch wäre es jedoch, sich in Sicherheit wiegen zu wollen;
gerade die bitteren Erfahrungen im vorigen Jahre weisen darauf hin, wie noth-
wendig es sei, die auf dem Gebiete des Nationalwesens dringend nothwendigen
Reformen in Angriff zu nehmen. Vor allem sei eine bessere Vorbildung
und Stellung der Medizinalbeamten erforderlich. Es gäbe wohl keine
Frage, Uber die so allseitiges Einverständnis herrsche, und Angesichts der Er¬
lebnisse des vorigen Jahres müsse er es für unmöglich halten, dass der Finanz¬
minister noch länger gegen diese allerdringendste Bedürfnissfrage taub bleiben
kann. Aufgaben für die Medizinalbeamten seien in genügender Weise vorhanden.
Die bessere bakteriologische Kenntniss und die bessere Verwerthung dieser
Kenntniss bilde nur einen kleinen Theil davon; die ganze öffentliche Gesund¬
heitspflege, die Prophylaxe der Krankheiten werde die Medizinalbeamten vollauf
beschäftigen und darum müssen sie auch pensionsfähig und unabhängig von der
Privatpraxis gestellt werden; denn nur, wenn sie nicht mehr Konkurrenten der
praktischen Aerzte sind, können sie zu diesen in das richtige Verhältniss treten.
Neben den berechtigten Wünschen der Medizinalbeamtcn müssen aber
auch die Forderungen der praktischen Aerzte eingehende Berücksichtigung finden,
eine solche sei die unerlässliche Vorbedingung für die Wirksamkeit jedes Reichs¬
seuchengesetzes. Die Beschränkung des jüngst dem Reichstage vorgelegten Ge¬
setz-Entwurfes auf die Cholera sei unter den obwaltenden Verhältnissen zu
billigen, da eben jene Vorbedingung, eins wirkliche Organisation des
Aerztestandes, ein Ausbau der Aerztekammer, fehle. Auch eine Revision
des §. 29 der Gewerbeordnung, die Wiederherstellung des Kurpfuschereiverbots
sei unbedingt erforderlich, dann falle auch der Streit fort, ob die Kurpfuscher
anzeigepflichtig gemacht werden sollen oder nicht. Nach Ansicht der Mehrzahl
der Aerzte sei es durchaus ausreichend, wenn die Aerzte und Haushallungs-
Vorstände mit der Anzeigepflicht betraut werden; die Anzeige der letzteren be¬
dürfe allerdings der amtsärztlichen Bestätigung. Mit Recht müsse ferner ver¬
langt werden, dass, falls der Amtsarzt bei ärztlicher Anzeige noch weitere Er¬
mittelungen oder Massregeln für nöthig erachtet, der behandelnde Arzt davon
benachrichtigt werde. Eine derartige Bestimmung fehle vollständig in dem
Entwürfe des Seuchengesetzes. Desgleichen seien die in demselben gegebenen
Garantien für die sehr wichtige Prophylaxe der Seuchen nicht ausreichend. Auf
diesem Gebiete lasse sich mit Hülfe der Sanitätskommissionen Vieles erreichen,
dieselben müssten nur zweckmässig umgestaltet und zu einem dauernden lebens¬
fähigen Institute gemacht werden.
„Der Herr Minister hat,“ schliesst Redner seine Ausführungen, „aner¬
kannt, dass eine organische Reform unseres Medizinalwesens dringend nöthig ist.
Er hat einschränkend hinzugefügt, dass ein fester Plan noch nicht bestehe, er
hat leider auch in Aussicht stellen müssen, dass noch eine gewisse Zeit darüber
hingehen werde, bis eine Vorlage an uns kommen könne. Ich verlange gewiss
kein Versprechen von ihm — wir haben solche Versprechen schon früher gehabt
und sie sind ungelöst geblieben — aber ich habe das Vertrauen zu ihm, dass
er uns wirklich Thaten sehen lässt.
Ein gutes Senchengesetz, eine befriedigende Medizinalreform, eine wirk¬
same Bekämpfung der Volksseuchen, sie alle setzen ein harmonisches und or¬
ganisches Zusammenwirken aller betheiligten Faktoren voraus: der Staatsbe¬
hörden und der Gemeinden, und nicht allein der beamteten Aerzte, sondern des
gesammten, sich seiner Pflichten gegenüber dem öffentlichen Wohle voll bewussten
Aerztestandes“ (Bravo).
Abg. v. B'ülow (Wandsbeck) begründet hierauf seinen Antrag: „Die
Staatsregierung aufzufordern, Ermittelungen über die durch die Bekämpfung der
Cholera im Jahre 1892 entstandenen Kosten anzustellen und das Ergebniss dem
852 Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas.
Hanse der Abgeordneten in einer Nachweisung vorzulegen und dabei roitzu-
theilen, welche dieser Kosten die Staatsregierung auf Landespolizeifonds zu
übernehmen gedenkt.“ Nach seiner Ansicht ist die Frage, wer die Kosten des
Seuchenkampfes zu tragen hat, in der dem Abgeordneten hause vorgelegten
Denkschrift über die Cholera zu kurz behandelt. Durch Ministerialerlass vom
5. November v. J. sind allerdings die Regierungspräsidenten aufgefordert, etwaige
Anträge auf Erstattung der von den Gemeinden im landespolizeilichen Interesse
gemachten Ausgaben zur Bekämpfung der Cholera alsbald einzureichen, es scheint
aber, als ob dieser Erlass den Gemeinden gar nicht bekannt geworden ist, so
dass nur sehr wenige derartige Erstattungsanträge gestellt sind. Nach Ansicht des
Redners entspricht es nur der Billigkeit, wenn besonders die Gemeinden, denen unver-
hältnissmässig grosse Kosten durch die zur Abwendung der Choleragefahr auch im
allgemeinen Interesse ergriflenen Massregeln erwachsen sind, z. B. die Gemeinden in
der Nähe von Hamburg, durch antheilige Uebernahme dieser Kosten seitens des
Staates entschädigt werden. Wtinschenswerth sei es ausserdem, ein genaues
Bild über die im vorigen Jahre entstandenen ortspolizeilichen Kosten zu erhalten;
diese Ermittelung werde auch als werthvolles Material für das bevorstehende
Reichsseuchengesetz dienen können und aller Wahrscheinlichkeit nach das Resultat
ergeben, dass die Kosten in der alierungerechtesten Weise einzelne Gemeinden
drücken. Im Kreise Stormarn haben dieselben z. B. 61 OCX) Mark betragen und
sich nur auf 20 Gemeinden vertheilt. Auch bei der Bekämpfung der Viehseuchen
werde ein Theil der Kosten vom Reiche und vom Staate getragen, warum soll
dies bei den Menschenseuchen, die oft viel grösseren pekuniären Schaden her-
vorrufen, nicht ähnlich gehandhabt werden? Allerdings sei es sehr schwer, zu
entscheiden, welche der entstandenen Kosten ortspolizeilicher und welche landes¬
polizeilicher Art sind, aber bei jeder Massnahme zur Abwehr einer Seuche werde
nicht nur der Ort des Ausbruchs, sondern auch die benachbarten Orte, ja das
ganze Land gegen das weitere Umsichgreifen der Seuche geschützt. Darnach
erscheine es angemessen, dass auch die weiter entfernt gelegenen und mit ge¬
schützten Theile des Landes an den Kosten theilnehmen, oder, da dies schwer
durchführbar sei, dass die Hälfte derartiger Kosten aus Landespoiizeifonds
gedeckt würde.
Kultusminister Dr. Bosse: „M. H., ich kann dem Hohen Hause nur an¬
heimstellen, ob es glaubt, dass ausreichende Gründe vorliegen, um den Antrag
des Herrn Abg. v. B ü 1 o w anzunehmen. Ermittelungen über die zur Bekämpfung
der Cholera im Jahre 1892 entstandenen Kosten sind natürlich von uns angestellt
worden, aber sie haben sich doch im Wesentlichen auf diejenigen Kosten be¬
schränkt, die wir auf landespolizeiliche Fonds übernommen haben; über die¬
jenigen Kosten, welche die einzelnen Ortsbehörden, die Gemeinden, hergegeben
haben, um die Cholera zu bekämpfen, haben wir eine Zusammenstellung bisher
nicht, und ich weiss auch nicht, ob es sich der Mühe verlohnt, die Ortsbehörden
aufzufordern, eine solche Zusammenstellung einzureichen, um die Sache dann im
Gesammtinteresse zusammenzustellen. Ich glaube nicht, dass das nöthig ist,
weil ja jede einzelne Ortsverwaltung, wenn sie zur Bekämpfung der Cholera
Ausgaben gehabt hat, die auf landespolizeiliche Fonds gehören, sie bei der Re¬
gierung liquidiren kann. Das haben die Gemeinden auch gethan, und ich muss
gestehen, dass mir die Meinung des Herrn v. Bülow völlig unverständlich ist,
dass der Erlass vom 5. September nicht ausgeführt sei, dass keine Erstattungs¬
anträge eingegangen sein sollen. Massenhaft sind solche bei uns eingegangen,
und, dass das der Fall war, können Sie daraus sehen, dass unsere Berechnung
in dieser Beziehung zwar noch nicht fertig ist, aber wir haben bis jetzt
722500 Mark auf landespolizeiliche Fonds übernommen, wir rechnen dabei noch
im Allgemeinen auf etwa 83 756 Mark, die noch dazu kommen werden, und wir
können annehmen, dass vom Vorjahre auf landespolizeiliche Fonds zur Be¬
kämpfung der Cholera zu übernehmen sind rund 810000 Mark. Woraus Herr
v. Bülow die Meinung hernimmt, dass die erwähnte Verfügung nicht aus¬
geführt werde, ist mir vollkommen unerfindlich; dies ist auch unwahrscheinlich.
Die Gemeinden würden ja thöricht sein, wenn sie diejenigen Beträge nicht
liquidiren wollten, die sie ausgelegt haben, von denen sie annehmen, dass sie
landespolizeilicher Natur sind. Nun gebe ich gern zu, die Unterscheidung ist
unter Umständen schwierig und auch zuweilen kitzlicher Natur. Es sind aber
nach dieser Richtung hin ganz bestimmte Anweisungen ergangen; im Allge¬
meinen bleibt jedoch nichts anderes übrig, als dass — wie wir dies auch erkenn-
Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 353
bar unseren Berechnungen zu Grunde gelegt haben — als landespolizeilich die¬
jenigen Massnahmen anzusehen sind, die auf Verhinderung der Einschleppung
der Seuche aus dem Auslande in’s Inland, oder auf ihre Verbreitung im Inlande
von einer Gegend zur andern abzielen, wahrend die Massnahmen, die auf die
Bekämpfung und Beschränkung der Krankheit innerhalb eines einzelnen Ortes
gerichtet sind, ortspolizeilicher Natur sind. Wir sind auch im Allgemeinen mit
der Unterscheidung bisher sehr gut ausgekommen. Es sind wirklich erhebliche
Beschwerden bis jetzt gar nicht an uns gelangt; es ist ja möglich, dass sie noch
kommen werden; aber ich bin nicht in der Lage, mich darüber auszusprechen,
sofern solche Fälle nicht spezialisirt werden.
Wenn das Haus es verlangt, so werden wir die Zusammenstellung der
Kosten in Erwägung nehmen. Ich werde die gesammten Kosten, soweit wir
sie kennen, zusammenstellen lassen, sie dann dem Hohen Hause vorlegen und
Ihnen sagen: so und so viel haben wir auf die landespolizeilichen Kosten über¬
nommen. Mehr können wir nicht thun, um dem Anträge des Herrn v. Bülow
gerecht zu werden.“
Abg. v. Pilgrim: „M. H! Seit Jahren habe ich die Frage wegen der
Besserstellung der Medizinalbearaten hier im Hause wiederholt zur Sprache
gebracht. Ich will deshalb auch heute nicht die Gelegenheit versäumen, mit
wenigen Worten die Dringlichkeit der Lösung dieser Frage auszudrücken. Der
Herr Interpellant hat ja in dankonswerther Weise auf diese wichtige Frage
schon hingewiesen, und der Herr Minister hat in der Beantwortung dieser
Interpellation wohlwollend ausgesprochen, dass diese Frage in der Bearbeitung
begriffen sei, das9 dieselbe aber vermuthlich nicht eher gelöst werden würde, als
bis die ganze Medizinalreform in’s Leben gerufen sein würde. Ich meine, m. H.,
wir dürfen nicht so lange warten mit der Besserstellung der
Mcdizinalbeamten Angesichts der grossen Aufgaben, die ihnen
nicht allein im allgemeinen sanitären Interesse, sondern viel¬
leicht schon bald ganz besonders durch die Choleragefahr
erwachsen. Soll der Medizinalbeamte seine Schuldigkeit schon in gewöhn¬
lichen Verhältnissen thun, so muss er von der Privatpraxis nach Möglichkeit
abgetrennt werden, damit er Zeit hat, wissenschaftliche Studien zu machen, um
prophylaktisch gegen ansteckende Krankheiten wirken zu können; er muss so
gestellt werden, dass er, wenn wichtige Momente vorliegen, frei dasteht und
nicht durch Praxis gebunden ist. Wie sollen in Zeiten der Noth, wo die Kreis¬
physiker wesentlich durch die Privatpraxis in Anspruch genommen werden, diese
Medizinalbeamten ihre Schuldigkeit thun können im öffentlichen Interesse? Sie
werden bald hier-, bald dahin zu Patienten abberufen in dringenden Krankheits¬
fällen und haben solchem Rufe zunächst Folge zu leisten. Es liegt auf der
Hand, so kann es nicht bleiben; es muss durchaus dahin gewirkt
werden, dass die Medizinalbeamten auskömmliche Gehälter
bekommen, und dass sie auch pensionirt werden können. Ich
habe eine lange Praxis in dieser Beziehung, und ich kann sagen: alle Ach¬
tung vor der Thätigkeit der Medizinalbeamten; sie haben
gethan, was irgend möglich war. Aber sobald sie in die höheren Jahre
kommen und nicht mehr thun können, was nöthig ist, dann hat die Verwaltungs¬
behörde mit Beamten zu thun, die absolut nicht in der Lage sind, zu erfüllen,
was verlangt wird, und das ist im öffentlichen Interesse wahrlich nicht mehr
länger mit anzusehen. Ich möchte deshalb noch einmal den dringenden Wunsch
aussprechen, dass der Herr Minister und zwar schon für den nächsten Etat,
Fürsorge treffen möchte, dass auf diesem Gebiete Abhülfe geschaffen wird. Es
ist das der Kern- und Kardinalpunkt der Medizinalreform. Stellen Sie die Me-
dizinalbeamten besser in ihrem Gehalt und ihrer ganzen Stellung den Aufgaben
des öffentlichen Wohles gegenüber, so werden Sie einen grossen Theil desjenigen
schon gelöst haben, was in einem neuen Seuchengesetz, was in der Medizinal-
reforra u. s. w. beabsichtigt wird. Darin liegt die Hauptsache: stellen
Sie die Medizinalbeamten so, dass sie frei und ungehindert
ihre Schuldigkeit thun können; dann haben wir den grössten
Theil desjenigen erreicht, was zur Verhütung und zur Be¬
kämpfung von Seuchen und ansteckenden Krankheiten ge¬
schehen kann. Also nochmals bitte ich den Herrn Minister, diese Frage als
eine besonders dringliche zu behandeln und zwar schon für den nächsten Etat.
(Bravo.)
354 Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas.
Abg. Dr. Virchow erklärt sich zunächst mit dem Vorredner darin ein¬
verstanden, dass die preussische Regierung und Landesvertretung nicht absolut
darauf warten sollen, bis das Reich seine Sachen fertig gemacht hat. Gerade
auf dem Gebiete der Medizinalgesetzgebung gebe es eine Reihe von Fragen, die
noch nicht reichsgesetzlich geordnet sind und bei denen daher ein selbstständiges
Vorgehen der Landesregierung angezeigt sei.
Er betont sodann, dass es entschieden zu weit gehe, den Staat gewisser-
massen als Hauptverpflichteten zur Tragung der bei der Bekämpfung ansteckender
Krankheiten entstehenden Kosten hinzustellen, die erstverpflichtete Instanz hierzu
müsse die Gemeinde bleiben. Bei dem Kampfe gegen die Volksseuchen handele
es sich nicht nur um Cholera und Pocken, sondern um alle anderen einheimischen
Infektionskrankheiten, wie Diphtherie u. s. w., deren Verheerungen viel grösser
sind, als diejenigen, die durch meist kurz dauernde, vorübergehende Cholera¬
epidemien hervorgebracht werden. Vor Allem müsse die Regierung die Be¬
schaffung der nötkigen Desinfektionsanstalten veranlassen, denn bis jetzt geschehe
gerade in dieser Beziehung von Seiten der dazu verpflichteten Gemeinden sehr
wenig und darum sei eine entsprechende Anordnung um so nothwendiger.
Gründliche, vollständige Desinfektion der mit Infektionsstoffen behafteten Gegen¬
stände, wie Wäsche, Kleider, Bettzeug u s. w. bilde eine der wichtigsten Mass-
regel gegen die Weiterverbreitung ansteckender Krankheiten. So lange nach
dieser Richtung hin nichts Durchgreifendes geschehe, so lange bleibe eine reich¬
liche, stete Quelle der Volksseuchen, wie sie schlimmer nicht gedacht werden
könne, bestehen. Auch die Behandlung der Leichen verlange die vollste Auf¬
merksamkeit. Man quäle sich immerfort, wie man die Leichen am zweckmässig-
sten absondert und in unschädlicher Weise unterbringen soll, aber man komme
nicht dahin, die einzige sichere Methode hierfür, die Feuerbestattung, anzu¬
wenden bezw. gesetzlich zuzulassen. Den einzigen Grund, der dagegen geltend
gemacht werde, die Verletzung des religiösen Gefühls, könne Redner nicht als
zutreffend anerkennen; im Gegentheil, gerade die bisherige Behandlung der Be-
gräbnissplätze mit ihrem dreissigjährigen Gräberwechsel sei viel pietätloser und
das christliche Gefühl viel mehr verletzend, als die Leichenverbrennung.
Zum Schluss kommt Redner auf die Stellung der Medizinalbe¬
amten zu sprechen und sagt hierbei wörtlich:
„Was die andere Frage anbetrifft, die mit Recht heute wiederholt berührt
worden ist, nämlich die Stellung der Medizinalbeamten, so erkenne ich an, was
Herr Graf Douglas hervorgehoben hat, dass es etwas Ungewöhnliches hat,
dass in so hervorragendem Masse gerade die Militärärzte während der Cholera¬
zeit bevorzugt worden sind. Ich möchte aber doch darauf hinweisen, dass diese
Betrachtung sich etwas mildert, wenn wir den anderen Fall in Betracht ziehen,
wo das Umgekehrte stattfindet. Denken Sie einmal, dass wir in einen Krieg
gerathen, dann ist die Militärverwaltung mit ihrem Personal insuffizient, dann
greift sie auf die Civilärzte zurück, und zwar in einem Masse, wie wir es noch
in Erinnerung haben, dass schliesslich gewisse Städte und Dörfer ganz und gar
der ärztlichen Hülfe beraubt waren. Wenn aber eine plötzliche Kalamität auf-
tritt, wie die Cholera, so ist allerdings kaum eine andere Organisation vorhan¬
den, welche so schnell und so wirksam helfen kann, wie die Militärorganisation.
Die Militärärzte sind ja an sich freier beweglich; sie können vertreten werden
innerhalb ihrer hierarchischen Organisation, welche Nachschübe eintreten lassen
kann; da ist das leicht zu machen, und ich glaube daher kaum, dass wir ganz
über diese Hülfe hinwegkommen werden.
Ich möchte aber auch die Gelegenheit benutzen, um dem Herrn General¬
stabsarzt der Armee meine Anerkennung auszusprechen über die unaufhörliche
Sorge, die er trägt, immer wieder neues, praktisch und wissenschaftlich geschul¬
tes Material von Aerzten zu erziehen, um eine immer grössere Zahl von Personen
dieser Art zur Hand zu haben. Ich kann nicht verschweigen, dass ich wünschte,
die Medizinalverwaltung möchte etwas ähnliches machen. Ich sehe z. B. in der
That nicht ein, warum nicht eine Person, welche Aussicht hat zum Regierungs¬
medizinalrath ernannt zu werden, vorher eine eingehende Schulung in einem
hygienischen Institut empfangen soll, warum ein solcher Kandidat nicht nach-
weisen soll, dass er eine gewisse Reihe von Jahren hindurch mindestens Assistent
gewesen ist in irgend einer solchen Anstalt. Da die Mediziualvcrwaltung der¬
artige Anstalten in einer gewissen Fülle in ihrer Hand hat, so steht gar nichts
im Wege, dass sie eben solche Einrichtungen trifft wie die Militärverwaltung,
Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 355
um sich ein geschultes Personal zu erziehen. Ich habe die Regierungsmedizinal-
räthe zunächst hervorgehoben, weil ich allerdings glaube, dass diese Erziehung
von oben herunter kommen müsste, nicht umgekehrt von unten herauf. Es ist
nämlich die sonderbare Thatsache zu erwähnen, dass wir in Preussen immer die
Entwickelung von unten herauf gesucht haben. Es hat viele Jahre gebraucht,
bis es endlich auf Betreiben der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinal¬
wesen angeordnet wurde, dass der Kreisphysikus ein Mikroskop haben müsse.
Damals verstanden die wenigsten Kreisphysiker zu mikroskopiren, und so wartete
man wieder aut die junge Brut, die aus den Universitäten kommen sollte. Auf
diese Weise ist man bis auf den heutigen Tag noch nicht dazu gekommen, eine
vollkommen organisirte Hierarchie zu haben, in der überall geschulte Personen
in genügender Zahl vorhanden sind. Vor allen Dingen müssen sie in den oberen
Stellen sein; wenn man oben nicht weiss, was zu machen ist, und wie man es
machen muss, dann ist es schwer, die unteren Instanzen zu kontroliren und zu
rechter Zeit anzufeuern. Ich meine also: es ist sehr wohl möglich, dass der
Herr Minister sich eine Art von Stab erzöge, aus dem die höheren Stellen be¬
setzt werden können. Es müsste das freilich immer weiter fortgeführt werden;
aber vor allen Dingen sollten es die hohen Stellen sein, deren Träger die volle
Vorbereitung zu thatkräftiger Arbeit erlangt haben. Au diese müssten sich die
Hülfskräfte anschliessen. Wenn die sämmtlichen Mitglieder der Provinzial¬
medizinalkollegien auch genügend geschult würden, so würde es wahrscheinlich
recht gut möglich sein, eine Anzahl von Aerzten zu sammeln, die man als eine
mobile Kolonne benutzen könnte in Fällen besonderer Noth.
Auf der anderen Seite möchte ich, was die Stellung der Medizinalbeamten
anbetrifft, hervorheben, dass da allerdings auch ein Punkt kommt, der wesent¬
lich landespolizeilicher oder landesgesetzlicher Natur ist. Das ist nämlich die
Frage, wieweit die Kompetenz der beamteten Aerzte in solchen Fällen gehen
soll: ist der Arzt nichts weiter als der Berather des Landraths, dieser oder
jener Polizeibehörde? Unsere Aerzte verlangen, wie ich meine, mit Recht, dass
ihnen eine wirkliche Exekutive wenigstens in den schleunigen Fällen zugestanden
wird. Ob man diese Exekutive auch darüber hinaus fortbestehen lassen will,
das muss erst genauer Prüfung unterzogen werden; aber au erster Steile müsste
der Arzt nicht blos der Berather irgend einer administrativen Instanz sein, zu¬
mal wenn diese administrative Instanz nicht verpflichtet ist, dasjenige auszu¬
führen, was der Arzt begutachtet. Wenn aber der Arzt sein Gutachten abgiebt,
und der Landrath die Ausführung desselben für ganz überflüssig hält, so ist alle
ärztliche Thätigkeit für nichts. Das ist es, was die Aerzte nicht blos kränkt,
sondern was sie als eine wirkliche Lähmung empfinden. Sie wollen administra¬
tive Exekutive haben, und ich stimme ihnen darin bei, das für den ersten An¬
griff jeder Arzt eine solche Kompetenz haben müsse. Entstehen Zweifel über
die Nothwendigkeit einer derartigen Anordnung, so mag die Behörde den Fall
durch einen beamteten Arzt prüfen lassen und nach dessen Gutachten handeln.
Aber der behandelnde Arzt darf wohl mit Grund in Anspruch nehmen, dass er
die Anordnungen zu treffen hat, welche er nach bestem Wissen lür sofort noth-
wendig hält und dass der später abgesandte beamtete Arzt ihn zu hören hat,
damit eine Verständigung herbeigeführt werde; ich hoffe und wünsche, dass eine
solche in der Regel gelingen wird. Die behandelnden Aerzte müssen auf ihre
Verantwortung hin handeln können, aber ich erkenne an, dass dieses Recht
seine Grenze haben muss. Die Verwaltungsbehörden müssen mitwirkeu in dem
weiteren Verlaufe des Falls.
Ich will über die Nothwendigkeit einer Verbesserung der finanziellen Aus¬
stattung der beamteten Aerzte nicht sprechen, wir haben sie hier schon wieder¬
holt erörtert. Ich unterlasse es, da ich die Vorstellung hege, dass der Herr Minister
in seinem Herzen bereit ist, nach dieser Richtung hin energisch vorzngehen. Ich
möchte nur darauf aufmerksam machen, dass das zu bemessende Gehalt nicht allzu
knapp sein dürfte, damit die Neuerung eine nachhaltige Wirkung haben könnte. 44
Nach einer persönlichen Bemerkung des Abg. v. Bülow, in der er seine
Verwunderung ausspricht, dass ein von ihm als Landrath des Hamburg benach¬
barten Kreises Pinneberg gestellter Kosten-Erstattungsantrag bisher noch ohne
Erfolg geblieben sei, wird die Debatte geschlossen und hierauf der Antrag
v. Bülow abgelehnt.
356
Aus Versammlungen und Vereinen.
Aus Versammlungen und Vereinen.
Bericht üher die vom Ä5.-28, Hai d. J« in Würaburg statt-
gehabte XVIII. Versammlung des Deutschen Vereins für
öffentliche bSesundheitspflege.
Zweiter Sitzungstag, Freitag, den 26. Mai d. J.
III. Veber die Grundsätze richtiger Ernährung und die Mittel, ihnen bei
der ärmeren Bevölkerung Geltung zu verschaffen.
H. Privatdozent Dr. Pf ei ff er (München): Das von Voit vor 18 Jahren
angegebene Durchschnittsmaass (118 g Eiweiss, 56 g Fett und 500 g Kohlen¬
hydrate) für das Nahrungsbedürfniss eines Arbeiters von mittlerem Körpergewicht
(70—75 kg) und mittlerer Arbeitsleistung muss auch jetzt noch als zutreffend
bezeichnet werden. Von verschiedenen Seiten ist allerdings seitdem die Ansicht
vertreten, dass die von Voit verlangte Eiweissmenge zu hoch bemessen sei; bei
den in dieser Hinsicht angostellten Versuchen ist aber stets der wichtige Punkt
ausser Acht gelassen, dass sich das Nahrungsbedürfniss des Menschen nach seinem
Körpergewichte, seinen Arbeitsleistungen u. s. w. richtet und dass selbstver¬
ständlich Leute von geringerem Körpergewichte (wie z. B. die Japaner), oder
die leichtere Arbeit zu verrichten haben, mit weniger Eiweisszufuhr auskommen
können. So braucht z. B. ein Zigarrenarbeiter nur 110 g Eiweiss, der Arbeiter
eines Gussstahlwerkes dagegen 130 g; es muss also der Eiweissverbrauch den
Bedürfnissen augepasst werden und empfiehlt sich sogar für den Arbeiter ein
Ueberschuss von Eiweiss, da sein Ernährungszustand dadurch gesteigert und
sein Wohlbefinden sowie seine Widerstandskraft gegen Krankheiten in Folge
dessen erhöht wird. Umgekehrt verursacht eine Kost, die durch Ueberschuss
an Kohlenhydraten den fehlenden Eiweissgehalt ersetzen soll, Verdauungsstörungen
(Darmkatarrhe, Durchfälle, u. s w.) und damit eine Abnahme der Körperkräfte,
der Leistungs- und Widerstandsfähigkeit. Auch durch das theuere Fett kann
das Eiweiss nicht ersetzt werden, es muss daher jede Einschränkung der Eiweiss¬
zufuhr als eine Beeinträchtigung der Ernährung betrachtet werden.
Die von mancher Seite aufgestellte Behauptung, dass durch eine zu
eiweissreiche Nahrung die Reizbarkeit des Nervensystems gesteigert werde, und
auf den gesteigerten Fleischkonsum die Zunahme der Nervosität unter der jetzigen
Bevölkerung zurückzuführen sei, wird vou dem Referenten als eine völlig irr-
thümliche bezeichnet; denn ganz abgesehen davon, dass eine solche Zunahme
noch keineswegs erwiesen sei, müsse gerade in einer guten, eiweissreichen, die
Widerstandskraft erhöhenden Nahrung das beste und sicherste Mittel gegen
nervöse Erkrankungen gesucht werden: Mens sana in corpore sano!
Der Korreferent H. Stadtrath Kalle (Wiesbaden) beleuchtet die Frage
vom praktischen Standpunkte aus. D.e durch den industriellen Grossbetrieb
herbeigeführte grosse Zunahme der städtischen Bevölkerung und zwar haupt¬
sächlich der ärmeren, sowie die unrationelle Lebensweise derselben hat den
Gesundheits- und Ernährungszustand dieser Bevölkerungsklasse in hohem Grade
beeinträchtigt. Den besten Beweis dafür liefern die Aushebungslisten, denn
während in rein ländlichen Bezirken 9 / 10 der Militärpflichtigen brauchbar be¬
funden werden, beträgt dieser Prozentsatz in den Städten mit wenig Industrie
nur 4 / 10 und in rein industriellen Städten sogar nur 3 / l0 . Schon vom militäri¬
schen Standpunkte aus ist daher eine Besserung dieser Verhältnisse dringend
geboten; noch mehr aber im sozialpolitischen Interesse.
Der unbemittelte Stadtbewohner ist in Bezug auf seine Ernährung zweifel¬
los ungünstiger gestellt, als der gleicharme Landbewohner. Es liegt dies weniger
darin, dass er die Nahrungsmittel zu verhältnissmässig hohen Preisen kaufen
muss, als vielmehr daran, dass die städtischen Arbeiter nur zu leicht die Ge¬
wohnheiten der Wohlhabenden nachahmen und ihr Geld für minder nährwerthige
Nahrungs- oder Genussmittei ausgeben. Neben der unzweckmä.ssigen Auswahl
der Nahrungsmittel spielt aber auch die unzweckmässige Zubereitung derselben
eine Hauptrolle; denn bekanntlich fehlen gerade den städtischen Arbeiterfrauen
die dazu erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, oft aber auch die Zeit und
Lust. So lange diese Missstände bestehen, wird auch durch Erhöhung der Löhne
keine Besserung der Ernährung der Bevölkerung erzielt werden. Vor allem
kommt es daher darauf an, gegen jene schlechten Gewohnheiten anzukämpfen
und wenn dies auch mit grossen Schwierigkeiten verknüpft ist, so lässt sich
Aus Versammlungen und Vereinen.
357
doch bei richtigem Vorgehen viel erreichen, wie Redner auf Grund eigener Er¬
fahrungen in Wiesbaden mittheilen kann. Als Mittel zur Erreichung dieses
Zweckes empfiehlt er folgende Massregeln:
1. „Verbesserung der Kost derjenigen Personen, welchen diese fertig¬
gestellt geliefert wird, also besonders der Soldaten, der Insassen geschlossener
Anstalten verschiedener Art und der Kostgänger von Arbeiter-Menagen,
Volksküchen u. s. w.;
2. Erleichterung und Verbilligung der Beschaffung von gesunden, nähr¬
kräftigen Lebensmitteln, insbesondere von Seefischen, Produkten der Milch¬
wirtschaft und leichtverdaulichen proteinreichen vegetabilischen Nahrungs¬
mitteln ;
3. Belehrung und Anregung zur SelbBthülfe.
Hierbei ist in’s Auge zu fassen:
a) Mündliche Belehrung durch Arbeitgeber, Aerzte und andere Ver¬
trauenspersonen, sowie die Abhaltung von Vorträgen in Volksbildungs¬
und ähnlichen Vereinen;
b) Verbreitung leichtverständlicher kleiner Druckschriften;
c) Einrichtung von Kochschulen für arme Mädchen, in welchen neben
praktischem auch theoretischer Unterricht ertheilt wird;
d) Weckung des Verständnisses für die Bedeutung richtiger Ernährung
durch den Volksschulunterricht. Und zwar kann dies geschehen, ohne
dass man genötigt wäre, die Ernährungslehre als besonderes Unterrichts¬
tach zu behandeln, indem man die sich bei dem Unterricht in den jetzt
eingeführten Fächern darbietenden Gelegenheiten benutzt, die Kinder
über das Nährstoffbedürfniss des Menschen und den Nährstoffgehalt
der wichtigsten Volksnahrungsmittel, sowie deren Preise aufzuklären.“
Als grösster Kostgeber hat der Staat die Ernährung der Soldaten im
Allgemeinen rationell gestaltet, so dass dieselbe als eine gute bezeichnet werden
kann; trotzdem ist sie noch nach einzelnen Punkten hin verbesserungsbedürftig,
insbesondere sind täglich drei Mahlzeiten, ausserdem grössere Abwechselung der
Speisen und etwas mehr Fett erwünscht. In den Arbeiter - Menagen, Volks¬
küchen u. s. w. wird meist eine gute nahrhafte Kost geboten; als hervorragendes
Beispiel in dieser Hinsicht wird von dem Redner die Arbeiter-Menage von
Krupp hervorgehoben.
Durch Verbilligung und Verbesserung des Transports der zur Versorgung
der Städte bestimmten billigen thierischen Lebensmittel kann der Staat als
Eisenbahnbesitzer eine wesentliche Erleichterung bewirken; insbesondere muss
der Verbrauch von Seefischen ebenso wie der Milchkonsum in den Städten thun-
liehst gesteigert werden. Nicht minder wichtig ist die leichtere Beschaffung
leicht verdaulicher proteinreicher vegetabilischer Nahrungsmittel durch zweck¬
mässige Gestaltung des Handels; namentlich sind hierbei die fabrikmässig auf¬
geschlossenen leicht verdaulichen Hülsenfrüchte, das Aleuronat, die Rado-
mann'sehen Erdnusspräparate u. s. w. in’s Auge zu fassen. Erdnussgrütze
enthält z. B. 48 % Eiweis und 22 °/ 0 Fett bei einem Preise von nur 40 Pfennig
für das Kilo. Auch die Ausbreitung der Konsumvereine ist zu fördern.
Empfehlenswerth ist ferner die Verpachtung kleiner Landstücke an
Arbeiter, um diesen die Möglichkeit zu geben, sich ihren Bedarf an Kartoffeln,
Gemüse u. s. w. selbst zu ziehen. Den Schwerpunkt legt der Vortragende aber
auf die Belehrung und Anregung zur Selbstbülfe, ohne die alle anderen Mass¬
regeln nichts helfen würden. Am besten geschieht dieses durch Haushaltungs-
schnlen und praktischen Unterricht der Mädchen im Kochen. Schon in der
Schnle müssen die Kinder über die wichtigsten Grundsätze der Ernährung bei
Gelegenheit des naturwissenschaftlichen Unterrichts, des Rechenunterrichts u. s. w.
aufgeklärt werden; der Vortragende hat zu diesem Zwecke Tafeln über den Werth
der einzelnen Nahrungsmitteln ehst Erläuterungen für den Lehrer anfertigen
lassen, die in den Seminaren und Schulen des Grossherzogthums Hessen bereits
eingeführt sind. Nach dem Austritt aus der Schule muss dann für die Mädchen
der Unterricht in den Koch- und Haushaltuugsschulen erfolgen. Die Einrichtung
einer solchen Schule in Wiesbaden hat sich durchaus bewährt. Hier wird der
Kochunterricht in Kursen von 40—50 Tagen an je 12 Mädchen ertheilt, die
wiederum in drei Gruppen getrennt werden. Die Schülerinnen jeder Gruppe
haben sich unter Anleitung die Mahlzeit selbst zuzubereiten und jedesmal den
Preis wie den Nährinhalt der betreffenden Speisen zu berechnen. In den An-
858 Ans Versammlungen und Vereinen.
stalten wird ausserdem der Sinn für Reinlichkeit, Ordnung u. s. w. geweckt und
verdient die Einrichtung derselben daher den Vorzug vor sogenannten Wander¬
kochkursen, mit denen in Baden auf dem Lande Versuche gemacht sind.
In der Diskussion empfiehlt Herr Heg.- und Med.-Rath Dr. Wernich
(Berlin) gleichfalls eine thunlichst eiweissreiche Nahrung, während Stabsarzt
Dr. Jäger (Stuttgart) eine Verminderung der Hülsenfrüchte die von den Sol¬
daten nicht sehr gern gegessen werden, in der Armeeverpflegung empfiehlt.
Die Einrichtung von Kochschulen ist nach seiner Ansicht besonders für die
besser gestellten Stände erwünscht, da die Mädchen ans den ärmeren Vokslklassen
sich die erforderlichen Kenntnisse im Kochen, Waschen u. s. w. recht gut während
ihrer Dienstzeit in besseren Häusern aneignen können.
Stadtschultheiss R ü m e 1 i n (Stuttgart) kann sich mit sämmtlichen vom
Korreferenten aufgestellten Thesen aus sozialpolitischen Gründen nicht einver¬
standen erklären. Viel wichtiger erscheint ihm ein energisches Vorgehen gegen
jede Verfälschung von Nahrungsmitteln.
Nach einem kurzen Schlussworte der beiden Referenten gelangte folgender
vom Herrn Oberbürgermeister Dr. Steidle (Würzburg) gestellter Antrag zur
Annahme:
„Der Verein für öffentliche Gesundheitspflege spricht den Herrn
Referenten seinen Dank aus und empfiehlt neben der Bekämpfung der
Nahrungsmittelverfälschung die Schlusssätze den in Betracht kommenden
Behörden, Arbeitsgebern und Vereinen zur möglichsten Beachtung.“
Deutscher Aerztetag lu Breslau aut 26. uud 27. Juni 4. J.
Auf dem diesjährigen Aerztetage waren 139 Vereine mit 10388 Mitgliedern
durch 89 Deligirte vertreten. Von den zur Berathung gelangten Gegenständen
haben hauptsächlich Punkt 4 und 6 der Tagesordnung ein weiteres Interesse. Der
erstere betraf „den ärztlichen Dienst in Krankenhäusern“. Das Referat
hierüber erstattete Dr. Cnyrim (Frankfurt a. M.) und wurden die von ihm
aufgestellten Thesen mit grosser Mehrheit angenommen. Dieselben lauten:
1. Die Krankenhäuser sollen in erster Linie den humanen Zwecken einer
guten Verpflegung und wirksamen ärztlichen Behandlung der Kranken dienen.
Sie sollen aber auch mehr und mehr Stützpunkte der Wissenschaft werden.
2. Der ärztliche Dienst in den Krankenhäusern ist derart zu organisiren,
dass auf 100 bis 120 Kranke ein Oberarzt und mindestens zwei Assistenzärzte
kommen.
3. Es ist zu erstreben, dass die Oberärzte grosser Krankenabtheilungen
auf Privatpraxis, mit Ausnahme der konsultativen, verzichten. Ihr Gehalt ist
dementsprechend zu bemessen.
4. Die Dienstzeit eines Assistenzarztes soll sich in der Regel nicht über
ein bis zwei Jahre ausdehnen.
5. Durch Anstellung bezw. Konsultirung von Spezialärzten ist dafür Sorge
zu tragen, dass in allen Fällen die Kranken eine sachgemässe Behandlung finden.
6. Für grössere Städte empfiehlt es sich, einen pathologischen Anatomen
von Fach zur Vornahme der Obduktionen in den Krankenhäusern, sowie zu
sonstiger wissenschaftlicher Unterstützung der Aerzte in- und ausserhalb der
Hospitäler anzustcllen.
7. Die systematische Ausbildung des Personals gehört zu den Aufgaben
des ärztlichen Dienstes.
8. Es ist als eine wesentliche Forderung für den ärztlichen Dienst in den
Krankenhäusern zu betrachten, dass von den beobachteten Fällen möglichst ein¬
gehende Krankengeschichten niedergeschrieben, und dass diese, nach den Krank¬
heiten oder Krankheitsgruppen geordnet, aufbewahrt werden.
9. Seitens der Hospitalverwaltungen ist die wissenschaftliche Thätigkeit
der Aerzte dadurch zu fördern, dass in möglichster Ausdehnung die für dieselbe
erforderlichen Einrichtungen und Apparate hergcstellt werden.
10. Die Krankenhäuser sollen in grösserem Umfange als bisher Gelegenheit
gewähren zur praktischen Ausbildung von Aerzten.
Auch die vom Korreferenten H. Prof. Dr. Käst (Breslau) aufgestellteu
Thesen gelangten nach geringen Aenderungen zur Annahme:
1. An der Weiterbildung der Aerzte betheiligen sich die Krankenhäuser
am zweckmässigsten in folgender Weise: Jeder neu geprüfte Arzt hat zwischen
Aus Versammlungen und Vereinen.
359
der Staatsprüfung nnd der Erlangung der Approbation einen praktischen Dienst
als Unterarzt in einem Erankenhause zu absolviren.
2. Die Dauer dieser praktischen Krankenhausthätigkeit ist auf ein Jahr,
für diejenigen, die ihrer Dienstpflicht als einjährig-freiwillige Aerzte genügt
haben, auf ein halbes Jahr zu bemessen. Hiervon sind mindestens sechs Monate
in einem der folgenden Krankenhäuser zu verbringen:
3. a) die internen Kliniken,
b) die inneren Abtheilungen grosser allgemeiner Krankenhäuser,
c) gemischte Krankenhäuser von mindestens 100 Betten, welche inner¬
halb der letzten fünf Jahre nachweislich zu zwei Drittel belegt waren,
d) die Krankenabtheilungen der Irrenanstalten.
4. Die Zuweisung der Unterärzte an die einzelnen Krankenanstalten erfolgt
durch die Reichszentralbehörde.
5. Einem Krankenhause von 100 Betten sind höchstens vier Unterärzte
zuzuweisen.
6. Die Dienstordnung der Unterärzte ist durch ein Reglement von Reichs¬
wegen festzusetzen.
7. Die Beaufsichtigung des Dienstes der Unterärzte geschieht durch die
zuständige Landes- bezw. Provinzial - Medizinalbehörde.
8. Nur derjenige Arzt, welcher seine Thätigkeit als Unter-Arzt zur Zu¬
friedenheit seiner Vorgesetzten durchgeführt hat, und darüber ein Attest des
betreffenden Krankenhaus - Leiters vorlegen kann, wird zur selbständigen Aus¬
übung der Heilkunde zugelassen. Kann ihm dieses Attest wegen mangelnden
Fleisses oder ungenügender Führung nicht ertheilt werden, so hat er ein weiteres
Halbjahr als Unter-Arzt an einem von der Zentralbehörde ihm angewiesenen
Krankenhause Dienst zu thun.
9. Der Aerztetag spricht die Zuversicht aus, dass die städtischen Behörden
und übrigen Krankenhausverwaltungen, sowie die leitenden Krankenhausärzte
die Durchführung dieser im Interesse der Allgemeinheit liegenden Massregeln
durch ihr Entgegenkommen und ihre thätige Mitwirkung zu fördern suchen werden.
Ausserdem wurde der Geschäftsausschuss beauftragt, eine Umfrage bei
allen deutschen Krankenhausverwaltungen zu halten, um festzustelien, unter
welchen Bedingungen diese zur Anstellung von Unterärzten bereit wären.
Ueber den zweiten Hauptpunkt der Tagesordnung, den Entwurf eines
Gesetzes zur Abwehr gemeingefährlicher Krankheiten, referirte Dr. B u s ch
(Crefeld). Dazu wurden folgende Thesen angenommen:
I. 1. Die Anzeige der Krankheit soll eine einmalige sein und an die Mcdizinal-
Behörde erstattet werden. Durch die Erfüllung der Anzeige dürfen den Aerzten
keine Kosten erwachsen.
2. Zur Anzeige verpflichtet sind nur die Aerzte und die Haushaltungs¬
vorstände sowie deren Stellvertreter.
3 a. Für die Ermittelung der Krankheit ist die Anzeige des Arztes in
der Regel genügend; die durch einen Laien bedarf der amtsärztlichen Fest¬
stellung.
3 b. Wenn bei ärztlicher Anzeige Ermittelungen durch den beamteten
Arzt vorzunehmen sind, so halten wir es für nothwendig, dass der behandelnde
Arzt hiervon benachrichtigt wird und das Recht hat, den Untersuchungen bei¬
zuwohnen.
4. Die Desinfektion soll auf öffentliche Kosten erfolgen.
5. Für Aerzte, einschliesslich der Amtsärzte und Krankenpfleger, welche
im Aufträge der zuständigen Behörde mit Personen, die an übertragbaren Krank¬
heiten leiden, in Berührung kommen, dabei selbst erkranken lind in Folge der
Krankheit invalide werden oder, falls sie sterben, für die Hinterbliebenen
hat Fürsorge aus öffentlichen Mitteln nach Massgabe landesgesetzlicher Regelung
zu erfolgen.
II. 1. Die wirksame Durchführung eines Reichsseuchengesetzes setzt die
Schaffung einer deutschen Aerzteordnung voraus; eine solche ist schleunigst und
dringend zu fordern, wie es auf mehreren Aerztetagen beschlossen ist. In dieser
Aerzteordnung müssen Bestimmungen enthalten sein a) über die Rechte und
Pflichten des praktischen Arztes; b) über die Rechte und Pflichten des beain-
360
Aua Versammlungen und Vereinen.
teten Arztes*) (Stellung als Gesundheitsbeamter, auskömmliches Gehalt); c) Über
das Verbot der gewerbsmässigen Kurpfuscherei.
Der Erlass eines alle ansteckenden Krankheiten umfassenden Reichs-
seuchengesetzes ist dringend erforderlich.
2. Die obligatorische Leichenschau muss überall im Deutschen Reiche
durchgeftihrt werden.
3. Der Entwurf eines Reichsseuchengesetzes ist nothwendig einer ein¬
gehenden Berathuug durch die ärztlichen Staudesvertretungen zu unterstellen.
Bericht über die 46. Konferenz der Hedizlnalbeamten des
Regierungsbezirks Düsseldorf vom 29« April 1893.
Die 46. Konferenz der Medizinalbeamten dos Reg.-Bez. Düsseldorf hatte
33 Teilnehmer, darunter als Gast Herrn Reg. - Assessor von Peistel.
Der Vorsitzende, Herr Regierungs- und Medizinalrath Dr. Michelsen
begrüsst Herrn Reg.-Assessor von Peistel, seinen Mitarbeiter auf der Re¬
gierung, den jüngst ernannten Kreisphysikus Dr. Schrakamp in Kempen und
theilt den Tod des im Alter von 83 Jabren verstorbenen Kreiswundarztes
Dr. Rheins in Neuss mit.
Bei den Regeln für die Ernährung der Kinder sind Wünsche nach
Aenderungen laut geworden; es soll hierüber auf der nächsten Versammlung be-
rathen und Dr. Hartcop in Bannen als Berichterstatter darum gebeten werden.
Es wird beschlossen, die Sammlung von Gerönne*s Medizinal¬
verfügungen fortzusetzen.
Mehrere Regierungsverfügungen des letzten halben Jahres werden
kurz bösprochen.
Zu Punkt 2 der Tagesordnung waren von den Berichterstattern, den
Kreisphys. und San.-Rath Dr. Bauer in Moers und Dr. Albers in Essen
„Thesen über Vorschläge zur Abfassung einer Polizeiverordnung betr.
die Desinfektion der Wohnungen bei ansteckenden Krankheiten“ auf¬
gestellt worden. Nach eingehender Berathung, an der sich auch Herr Reg.-
Assessor von Peistel betheiligte, wurden die Thesen schliesslich in folgender
Form angenommen:
1. Die zuständigen Behörden haben für das Vorhandensein der erforder¬
lichen Desinfektionseinrichtungen und Desinfektoren Sorge zu tragen.
Vereinigung von Gemeinden zu gemeinschaftlichen Einrichtungen ist zu¬
lässig. Hierbei sollen im Nothfalle die Kreisverbände unterstützend eintreten.
2. In Fällen von Scharlach, Diphtherie, bösartigen Masern, Ruhr, Fleck-
und Unterleibstyphus, Rückfallfieber, Pest, gelbem Fieber, Cholera und Pocken
ist nach Ablauf der Erkrankung eine Desinfektion der Wohnungen, speziell des
oder der Krankenzimmer, der gebrauchten und aller mit dem Kranken in Be¬
rührung gekommenen Gegenstände zu bewirken durch einen amtlich angestellten
Desinfektor nach Massgabe einer zu erlassenden Desinfektionsordnung.
Von Lungenschwindsüchtigen bewohnt gewesene Räume dürfen erst nach
erfolgter Desinfektion wieder bezogen werden.
3. In Fällen, in denen wegen allzu grosser Raumbeschränkung eine
Evakuation der Bewohner nothwendig wird, hat die Ortsbehörde für deren Unter¬
bringung zu sorgen, bis die Beziehung der desinfizirten Wohnung wieder möglich
wird. Die vorübergehend zu evakuirenden Personen sind zu isoliren bis nach
erfolgter Desinfektion; erforderlichen Falls kann eine Räumung der Wohnung
und Isolirung verlangt werden.
4. Die Desinfektionsarbeiten werden von den Kreisphysikern überwacht.
Dieselben können mit dieser Ueberwachung praktische Aerzte im Falle ihres
Einverständnisses beauftragen.
Die Desinfektoren sind nach vorangegangener Prüfung von den Polizei¬
behörden anzustellen, deren allgemeiner Dienstaufsicht sie auch zu unterstellen
sind. In technischer Beziehung unterstehen dieselben der Kontrolc der Kreis-
physiker, deren dienstlichen Anweisungen sie Folge zu leisten haben.
’) Derartige Bestimmungen dürften wohl kaum in eine Aerzteordnung
gehören.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
861
5. Die entstehenden Kosten trägt bei Armen die Gemeinde; Wohlhabende
zahlen nach Massgabe eines Tarifs.
Ueber Punkt 3 der Tagesordnung: Begräbnissordnnng konnte wegen
der vorgerückten Zeit nur der eine Berichterstatter, Kreisphys. Sanitätsrath
Dr. Wiesemes in Solingen gehört werden. Das Referat des anderen, sowie
die Diskussion werden die nächste Konferenz beschäftigen.
Während einer Pause wurde der fahrbare Desinfektionsapparat
von Polizeikommissar Tilger, angefertigt von Weyerguns in Düsseldorf
besichtigt. Nachdem er in Betrieb gesetzt, stieg im Innern nach 1 j 4 Stunde die
Temperatur auf 110° C. Hineingei angene Kleidungsstücke blieben trocken und
unversehrt.
Nach Schluss der Verhandlungen vereinigte ein gemeinschaftliches Mahl
und eine duftende Maibowle die Theiinehmer in fröhlicher Tafelrunde.
Dr. Hofacker -Düsseldorf.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Zur Milchfrage. Das Herannahen der heissen, trockenen Jahreszeit mit
ihren gastro-intestinalen Störungen namentlich des Kindes- und des Säuglings-
Alters giebt genügend Veranlassung, das Interesse der Herren Spezialkoüegen
auf einige neuere Arbeiten über die Milchfrage zu lenken. Zunächst sei der ver¬
dienstvollen That mehrerer Posener Kollegen gedacht, über die Pan ly
(Posen) unter Hintenansetzung seiner eigenen Person in einem Artikel der Deut¬
schen med. Wochenschrift (Nr. 18, 4. Mai 1893 „Zur Beschaffung sterilisirter
Milch“) in überaus knapper, aber alles wesentliche berücksichtigender Form be¬
richtet. Der kaum zu kürzende Inhalt ist etwa folgender:
Auf Grund Soxhlet’s und Aufrechtes neuester Postulate, dass die
Milch möglicht bald nach dem Melken sterilisirt werden soll (— damit die in
derselben enthaltenen Keime nicht erst zu reichlicher Entwickelung kommen und
das Sterilisiren erschweren; Amu. d. Ref. —) sind jene Herren mit einem 15 km
von Posen entfernt wohuenden Inhaber einer Dampf - Molkerei in Verbindung
getreten, um die Milch gleich direkt neben dem Stalle sterilisiren zu lassen.
Sorgfältig ausgesuchte Kühe in peinlich sauberen Ställen werden lediglich
trocken gefüttert, und die Sauberkeit beim Melken wird aufs Schärfste über¬
wacht. Die Milch ist bakteriologisch als leicht sterilisirbar erkannt und hat sich
als haltbar und vor allem als bekömmlich bewährt. Sie wird in Soxhlet’schen
Flaschen mit dem neuen einfachen Verschluss sterilisirt, mittelst Federwagen
nach der Stadt gesandt und dort von einem Drogisten und 2 Kolonialwaaren-
händlern zu 3 Pfg. die 100 Gr.- und 6 Pfg. die 200 Gr.-Flasche verkauft. Den
Armen- und Krankenhaus-Aerzten ist von den betreffenden Verwaltungen die
Verordnung der Milch für die Monate Juli, August und September gestattet.
Um dieselbe aber auch wenig bemittelten Kreisen zugänglich zu machen, hat
man es durch eine für diesen Zweck veranstaltete Sammlung ermöglicht, an be¬
stimmten Stellen (Krankenhäusern) die Milch zu 15 Pfg. pro Liter zu verab¬
folgen. — Von Wichtigkeit ist eine bei diesem Sterilisirungs-Verfahren gemachte
— neue — Beobachtung, dass die Milch für den Transport im Sommer bei höhe¬
ren Temperaturen als 17° C. mittelst Wasserdampf von 104° C. (nicht 100°)
sterilisirt werden muss. Bei höherer Temperatur sterilisirt, verliert die Milch
ihre Opalescenz, bräunt sich und wird dadurch für den Säuglings - Magen weniger
bekömmlich.
Den Herren Kollegen, die Gelegenheit haben sollten, derartige Versuche
zu wiederholen, sei die kleine Schrift Weidmanns, eines Molkereifachmanns;
„Die Methode der Milch - Conservirung etc.“ (Bremen 1893, M. Heinsius) auf
das Angelegentlichste empfohlen. Der Verfasser erläutert zunächst kurz die
Herkunft der Bakterien in der Milch und ihre Vermehrungsfähigkeit. „Dem
Drüsengewebe einer gesunden Kuh entströmt sterile Milch.“ Durch unverdaute
Futterreste (Koth), Streu, die melkenden Hände, den Staub der Gefässe und des
Stalles, gelangen massenhaft Bakterien in die Milch. — Dass übrigens nicht
wenig Kuhkoth getrunken wird, bewies Renk, der in der Marktmilch Halles
362
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
bis 0,3625 gr Koth pro Liter fand. — Für die Vermehrung der Bakterien in
der Milch ist die Temperatur von bedeutendem Einfluss. Weigmann bespricht
sodann die zumeist wahrnehmbaren Wirkungen der Milchbakterien, wie die Säure-
und die Lab-Gerinnung, die Milchfehler (rothe etc. Milch) und kommt zu einer
Kritik der Konservirungsmittel. Die chemischen sind [in wirksamen Mengen
angewandt, theils gesundheitsschädlich wie die Borsäure und die Salicylsäure,
theils befördern sie, wie die Alkalien, direkt die Entwickelung der Bakterien.
Die Konservirung durch Kälte hat den Nachtheil, dass der Rahm ausgeschieden
wird, gesondert gefriert und sich beim Anfthauen nicht mehr genügend verthei¬
len lässt. Bei der Konservirung durch Hitze entwickelt sich leicht der unan¬
genehme Kochgeschmack. Von den eingedickten Milchkonserven ist die S c h a r f sehe
zu empfehlen. Das Pasteurisiren, das sehr ausführlich unter Abbildung von
Apparaten besprochen wird, hat 2 Fehler: Anbrennen und Kochgeschmack. Die
Vorzüge des Sterilisiren werden dagegen — in ausführlicher Besprechung —
anerkannt, dabei aber betont, dass die hohen Temperaturen von 110—130° C M
wie sie zur Tödtung des Heubaccillus nöthig sind, den Wohlgeschmack und die
Bekömmlichkeit der Milch vernichten. — Zu einem ähnlichen Ergebniss kommt
auch Hesse („Ucber Milchsterilisation im Grosbetriebe tt , Zeitschrift für Hygiene
XIII 1. 1893). Derselbe hält aber 140° C. zur sicheren Sterilisation nothwendig.
Ein eigenes Kapitel widmet Weigmann der Kindermilch, von der er
fordert, dass sie 1. keine pathogenen Keime, 2. keine Toxine und Toxin bildenden
Keime enthalten und 3. keine Gährung durchmachen darf. Ein einmaliges Auf¬
kochen, namentlich mit nachherigem Erkaltenlassen der Milch in offenen Ge-
fässen, schützt dagegen nicht; die Milchkochapparate von Soltmann u. 8. w.
sind schwer zu reinigen und erfordern ein Umgiessen in andere Gefässe; man
muss eben die Milch nach dem Sterilisiren vor Neuinfektionen schützen, und das
besorgt am besten der Soxhlet’sche Apparat. Auch hier gilt, dass die Milch
um so leichter zu sterilisiren ist, je weniger Keime sie enthält. Langes Erhitzen
verändert die Eiweissstoffe und vor Allem den Milchzucker und macht die Milch
dadurch schwer verdaulich. Er kommt in Folge dessen zu dem Schlüsse, dass
eine strenge polizeiliche Kontrole der Milch sich nicht nur auf etwaige Ver¬
fälschungen erstrecken soll, sondern auch auf die sanitäre Beschaffenheit; er
verlangt strenge Gesetze, betreffend den Schutz der Milch vor Infektion mit
Krankheit« - Keimen durch beständige Kontrole der Viehbestände und durch
scharfe polizeiliche Handhabung spezieller Vorschriften, betreffend Reinhaltung
der Milch, nicht nur zum Schutz des konsumirenden Publikums, sondern auch
zum Nutzen des Milch-Lieferanten und des Milch - Händlers.
— Dass strenge sanitäre Massregeln auch für die anfänglich schwer davon
Betroffenen grossen Nutzen haben können, haben die früheren, strengeren Ver¬
fügungen über die Zulassung tuberkulösen Fleisches zum Verkaufe gezeigt; es
haben sich viele Besitzer grösserer Viehbestände veranlasst gesehen, ihr Vieh
einer regelmässigen thierärztlicheu Kontrole auf Tuberkulose oder der Impfung
mit Tuberkulin zu unterziehen, und so die Assaniruug ihrer Viehbestände ange¬
bahnt. Derartige Erfolge könnten auch strenge Vorschriften in Betreff der
Milch haben. A. d. Kef. —
Es ist interessant, dass auch ein anderer Vertreter der Molkerei-Wirth-
schaft, Flaak, (Zur Milchsterilisirung; Molkerei-Zeitung, Hildesheim 1893,
Nr. 11 und 12) sieh lur schärfere polizeiliche Beaufsichtigung der Milch ausspricht.
Schon früher waren von ärztlicher Seite, namentlich in ausführlicher,
übersichtlicher Darlegung von Marx („Die polizeiliche Uehenvachung des Ver¬
kehrs mit Milch. u Vierteljahrsschrift für üffentl. Gesundheitspflege, Bd. 22, H. 3)
strenge Polizei - Vorschriften, womöglich aber ein Reichsgesetz, gefordert worden.
Wenn auch zur Zeit ein Reiclisgesetz nicht zu erwarten ist, so wären doch
Vorschriften von Seiten der Herren Regierungspräsidenten dringend erwünscht.
Die Milchfrage allein von dem Stand} unkte Suxhlet’s zu lösen, ist vorläufig
für manche Gegenden nicht gut möglich. Wohl aber lasseu sich seine Grund¬
prinzipien in Form von Polizei - Vorschriften und Belehrungen durch Kreisblätter,
Sanitäts - Kommissionen etc. verbreiten und durchführen, also im Wesentlichen:
Gesunde Milchkühe, trockenes Futter, saubere Ställe, sauberes Melken (Vorsicht
in Betreff Infektion), kaltes Aufbewahren bis zum Verkauf, für den Privatmann:
sofortiges Abkochen und Kaltstellen.
— Wenn darauf hiugewiesen wird, dass jede sterilisirte Milch nach längerer
Aufbewahrung im Brutschrank verdirbt, so ist dem entgegen zu halten, dass der
Kleinere Mittheilongen und Referate ans Zeitschriften.
363
Bedarf der Milch gewöhnlich an demselben Tage gedeckt and die Milch kühl
und nicht bei Brutofentemperatur verwahrt wird. A. d. Ref. —
Der kleineren Arbeiter-Bevölkerung, namentlich der ländlichen, ist das
Halten guter Milch-Ziegen zu empfehlen; der Fettgehalt dieser Milch ist nur
wenig von dem der Kuhmilch verschieden (vergl. Lüttig: Milch als Nahrung,
D. V. f. öffentl. Ges., Bd. XXY, Heft II, 1893). — Ziegen sind übrigens billig
anzuschaffen und zu unterhalten, Perlsucht ist bei ihnen sehr selten und vor
Allem ist ihr Euter in Folge ihres trockenen Kothes, der geringen Menge des¬
selben und der leichteren Möglichkeit, die Streu zu wechseln, sauberer zu halten
als das der Kühe. A. d. Ref. —
Dr. A scher, Kreiswundarzt in Bomst.
Die Frage der Verwerthung des Fleisches tuberkulöser Schlacht-
thiere ist am 16. Januar d. J. in einer Sitzung des veterinärärztlichen
Centralausschusses des Grossherzogthums Hessen einer Berathung
unterzogen worden, an der ausser dem Vorsitzenden und den Mitgliedern der
Ministerialabtheilung für öffentliche Gesundheitspflege die drei Delegirten der
veterinärärztlichen Provinzialvereine, sowie noch drei weitere Veterinärärzte und
die mit der Ausführung bezw. Ueberwachung der Fleischbeschau in den 5 Städten
des Grossherzogthums betrauten Veterinärärzte theilnahmen.
Der Art. 318 des Grossh. Hess. Polizeistrafgesetzes bestimmt, dass das
Fleisch kranker Thiere, wenn solches bei der Fleischbeschau als für die mensch¬
liche Gesundheit unschädlich noch genossen werden könne, nur unter Angabe der
Eigenschaft, also mit Bezeichnung der Krankheit des Schlachtthieres verkauft
werden darf. Nach dieser gesetzlichen Bestimmung kann daher zur Zeit in
Hessen das Fleisch tuberkulöser Schlachtthiere nur in öffentlichen Freibänken,
oder sonst kenntlich gemacht, verkauft werden. Dieser Modus wurde seither,
abgesehen von den Widersprüchen und Agitationen der Metzger, allgemein für
den richtigen gehalten und auch der Landesausschuss der landwirtschaftlichen
Vereine Hessens hat in seiner Resolution vom Jahr 1889 und wiederholt im Jahr
1891 dies anerkannt.
Durch den bekannten Erlass der Preussischen Ministerien vom 26. März
v. J. und durch denjenigen des Bayrischen Staatsministeriums vom 25. Juui v. J.‘)
angeregt, hatten nun die Metzgerinnungen, sowie auch eine Anzahl Landwirthe
bei der Grossherzoglichen Regierung um Aenderung der bestehenden Vorschrift
im Sinne jener Erlasse nachgesucht.
Mit Rücksicht hierauf hat der veterinärärztliche Ccntralausschnss den be-
regten Gegenstand hauptsächlich nach der praktischen Seite einer Berathung
unterzogen, wobei zunächst die Frage erörtert wurde, was für die Landwirt¬
schaft eigentlich gewonnen wäre, wenn auch in Hessen nach dem Preussischen
oder Bayrischen Erlasse verfahren würde. Von sämmtlichen anwesenden Vete-
rinärärzten wurde dabei festgestellt, dass bei der in Hessen allenthalben in der
Fleischbeschau eingehaltenen Praxis im Wesentlichen nur Fälle von ausgesproche¬
ner Tuberkulose zur Anzeige kämen, sodass, wenn, wie der Preussische Erlass
vorsehe, gutgenährte Schlachtthiere, welche tuberkulöse Veränderungen nur in
einer Körperhälfte zeigten, dem freien Verkehr überwiesen würden, bei genauer
Untersuchung aller wegen Tuberkulose beanstandeter Schlachtthiere etwa nur
24 °/ 0 derselben freigegeben werden könnten, dass aber nach dem Bayrischen
Erlass, wenn man den Begriff „lokalisirt und im ersten Stadium der Entwickelung
begriffen“ nicht für beliebig dehnbar halte, es sich höchstens unr um die Frei¬
gabe ganz einzelner Schlachtthiere handeln könne. Der Prozentsatz der tuber¬
kulös befundenen Schlachtthiere wurde nach dem Ergebniss der Fleischbeschau
im Jahr 1892, wie folgt, angegeben: in der Stadt Darmstadt 2,7 °/ 0 , Mainz 1,38 °/ 0
Offenbach 2,3 o/o, Giessen 3,25 °/ 0 und Bensheim 2,8 °/ 0 ; das Ergebniss auf dein
Lande weicht hiervon nicht erheblich ab. Auf Grund dieser Angaben wurde
hervorgehoben, dass die Gleichmässigkeit des Ergebnisses der Fleischbeschau in
Hessen in Bezug auf die Zahl der als tuberkulös behandelten Schlachtthiere nur
der erwähnten Vorschrift zu danken sei, was ganz besonders auffalle, wenn man
die Tuberkulosestatistik von 1838/89 damit vergleiche. Man findet da Städte,
l ) Vergleiche Beilagen zu Nr. 9 und 14 dieser Zeitschrift 1892, S. 63
und 102.
364
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
wo 15 bis 20 °/ 0 , und wieder andere, wo nur gegen */* °/o tuberkulöser Schlacht-
thiere verzeichnet seien. Z. B. sei in Frankfurt a. M., wo fast alle tuberkulösen
Schlachtthiere in den freien Verkehr kämen, über 10 °/ 0 , in Wiesbaden, wo vor
dem vorjährigen Preussischen Erlass alle mit Tuberkulose behafteten Schlacht¬
thiere auf die Freibank verwiesen worden seien, nur 1,66 °/ 0 verzeichnet. Auch
das Verhältnis» der freigegebenen Stücke sei in den verschiedenen in Betracht
gezogenen Städten ganz ungleich. Von sämmtlichen anwesenden Veterinärärzten
wurde anerkannt, dass bei der zur Zeit in Hessen üblichen Praxis von einer
rigorosen Handhabung der Fleischbeschau nicht die Rede sein könne. Bezüglich
der durch den Verkauf auf der Freibank verursachten Verluste wurde erwähnt,
dass derselbe in manchen Fällen nur ein unerheblicher sei, und dass, wenn er
auch in anderen Fällen sich höher stelle, im Durchschnitt es sich doch nur um
20 °/ 0 handele; zugleich aber seien die Landwirthe auch wieder gegen Ueber-
vortheilungen seitens der Metzger und Händler geschützt, indem nur wegen
wirklich als tuberkulös beanstandeter Schlachtthiere Währschaftsansprüche geltend
gemacht werden könnten. Mehrere der anwesenden Veterinärärzte erwähnten auch,
dass die hessischen Landwirthe durchaus nicht allgemein eine Aenderung der
bestehenden Vorschrift verlangten, ja, dass sehr viele sie für allein richtig und
gerecht hielten, nur einzelne grössere Landwirthe, namentlich Besitzer von Milch-
wirthschaften, unter deren Viehständen die Tuberkulose besonders häufig ist,
wünschten jene Aenderung. Von einem Veterinärarzte wurde allerdings auch
erwähnt, dass die Metzger aus hessischen Städten mitunter grössere Schwierig¬
keiten beim Einkauf der Schlachtthiere hätten wegen der hier bestehenden stren¬
geren Vorschrift.
Auf die Frage, ob die anwesenden Veterinärärzte selbst sich für Beibehal¬
tung der bestehenden Vorschrift oder für eine Aenderung und eventuell für
welche aussprächen, erklärten alle bis auf einen, dass sie die bestehende Ein¬
richtung für gut und gerecht und auch für den Landwirth nicht drückend
erachteten, dass bei einer Aenderung in gedachtem Sinn aber eine deutliche
Grenze für die Freigabe der tuberkulösen Schlachtthiere gar nicht zu ziehen sei,
dass man insbesondere dann auch befürchten müsse, es werde von Seiten der
Metzger mit allen möglichen Mitteln, namentlich auch durch die Heranziehung
von weniger selbstständigen und energischen Thierärzten zur Ausübung der
Fleischbeschau, angestrebt werden, dass die gedachte Grenze immer weiter
gezogen würde. Nur einer der anwesenden Veterinärärzte hielt im Interesse der
Landwirthe eine Aenderung dahingehend für angemessen, dass man das Fleisch
gutgenährter Schlachtthiere, welche nur an lokalisirter Tuberkulose erkrankt
gewesen seien, freigebt:; freilich müsse dann eine strenge Kontrole darüber durch
den beamteten Thierarzt ausgeübt werden.
(Korrespondenzblatt der ärztlichen Vereine des Grossherzogthums Hessen 1893 Nr. 2.)
Die Irrren-, Heil- und Pflegeanstalten sowie die Augen- und Ent¬
bindungsanstalten des Deutschen Reiches nach den Erhebungen der
Jahre 1886, 1887 und 1888 nebst einem Anhänge: Häufigkeit der Todes¬
fälle im Wochenbett und am Kindbettfieber. Von Regierungsrath Dr.
Rahts in Berlin. Sonderabdruck aus Medizinal - Statistische Mittheilungen aus
dem Kaiserlichen Gesundheitsamte. 2 Bd. Verlag von J. Springer, Berlin.
a. Die Irren-, Heil- und Pflegeanstalten. Die Gesammtzahl
der Anstalten betrug am Ende der Berichtszeit 257, darunter 124 öffentliche
und 133 private; die Zahl der Betten betrug 52 286, von denen 40280 d. h. 77 °/ 0
auf die öffentlichen Anstalten entfielen. 81,6 °/ 0 der verpflegten Personen befan¬
den sich in den öffentlichen Anstalten. Dem weiblichen Ge sc blechte gehörten
im Durchschnitt 48,2 °/ 0 der verpflegten Irren an. Auf je eine Million
Bewohner des Reiches kamen 1007 Geisteskranke. In den drei
Jahren hat die Zahl der geisteskranken Anstaltsinsassen sich um 6206 d. h.
14,6 °/ 0 des Anfangsbestandes vermehrt, während die Bevölkerung des Reiches
in dieser Zeit nur um etwa 3,2 °/ 0 zugenommen hat. Der Gesammtzugang an
Irren betrug jährlich etwa 423 auf 1 Million und wenn man die den allgemeinen
Krankenhäusern zugegangenen Geisteskranken hinzurechnet 564 auf 1 Million
Einwohner.
Was die einzelnen Krankheitsformen betrifft, so zeigte sich ein
Kleinere Mittheilungen und Referate au & Zeitschriften.
365
Unterschied bei beiden Geschlechtern derart, dass beim weiblichen Geschlecht die
einfachen Seelenstörungen weitaus am häufigsten waren, während die Paralyse
und der Säuferwahnsinn mehr beim männlichen Geschlecht vorkamen.
Das Delirium potatorum war am häufigsten in Bremen, Schleswig-
Holstein, Berlin, West- und Ostpreussen; am seltensten in Westfalen und Ham¬
burg; im Grossherzogthum Hessen und im Herzogthura Braunschweig war D. p.
überhaupt nicht verzeichnet. Die Sterblichkeit der männlichen Deliranten war
9,4 °/ 0 . In den Irrenanstalten zu Bremen, Schleswig-Holstein und Westpreussen
entspricht ein hoher Prozentsatz von geisteskranken Trinkern einer geringen
Anzahl von Paralytikern, so dass die Vermuthung nahe liegt, dass in diesen
Anstalten mehr den kausalen Beziehungen Rechnung getragen worden ist. Der
Abnahme der geisteskranken Trinker (1885: 14,7 °/o> 1888: 9,0 °/ 0 des Zuganges)
entspricht eine deutliche Zunahme der Paralytiker in den Irren - Anstalten
(1884: 17,0 °/ 0 , 1888: 20,4 °/ 0 des Zuganges). Die überwiegende Mehrzahl der
männlichen Deliranten sind in öffentlichen Anstalten behandelt worden (138 bezw.
34: 1000), während die paralytische Seelenstörung fast ebenso oft in öffentlichen
wie in privaten Anstalten zur Behandlung kam.
Einfache Seelenstörung ist im Zugänge weitaus am häufigsten
verzeichnet. Verhältnissmässig selten war diese Form in den Anstalten Berlins 1
Braunschweigs und des Königsreichs Sachsen. Von den männlichen Kranken
dieser Art starben kaum 10°/ o , von den weiblichen 10,5 °/ 0 .
Die mit Epilepsie und Hysteroepilepsie verbundene Seelenstö¬
rung war verhältnissmässig häufig in Eisass-Lothringen, im Königreich Sachsen
und bei den weiblichen Kranken der Berliner Anstalten (13—15 °/ 0 ); gering in
Bayern, Württemberg und Baden (3—4 °/ 0 ). In den Privatanstalten war diese
Form häufiger als in den öffentlichen. Von je 100 männlichen starben 15,5, von
je 100 weiblichen Kranken 14,9. Die Letalität war somit höher als
bei jeder anderen Form der Seelenstörung.
Angeborene Imbezillität einschliesslich Idiotie und Kreti¬
nismus war am häufigsten in den Anstalten des Herzogthums Braunschweig
vertreten (35 °/ 0 ). Es starben 10,1 °/ 0 .
ln dem dreijährigen Berichtszeitraum hat sich die Zahl der Anstalts¬
kranken bei denen männlichen Geschlechts um 15,1 °/ 0 , bei denen weiblichen
Geschlechts um 14,0°/ 0 vermehrt. Am beträchtlichsten war das Anwachsen
der Krankenzahl bei der paralytischen Seelenstörung, dann bei den mit Epi¬
lepsie verbundenen Krankheitsformen. Eine Abnahme von 18 auf 15 ist nur
für die weiblichen Deliranten festzustellen gewesen.
Erbliche Belastung war im Ganzen, wenn man von notorischen
Trinkern absieht, bei Vs bis etwa Vs aller behandelter Geisteskranken festge¬
stellt, verhältnissmässig selten bei den Paralytikern, am häufigsten bei den an
einfacher Seelenstörung Leidenden. Der Begriff der erblichen Belastung ist in
den verschiedensten Anstalten so verschieden aufgefasst worden, dass ein Ver¬
gleich zwischen denselben bedeutungslos erscheint. —
b. Die Augenheilanstalten. Seit dem Jahre 1883 hat sich die Zahl
der öffentlichen Augenheilanstalten um 4, die der Privatanstalten um
24 vermehrt. Im Ganzen standen am Ende des Berichtszeitraumes 3006 Betten in
32 öffentlichen und 82 Privatanstalten für Augenkranke zur Verfügung. Die
Hamburger öffentliche Anstalt mit 103 Betten scheint eine der grössten im Reich
zu sein.
Die Zahl der Anstaltsinsassen hat sich von Jahr zu Jahr ver¬
mehrt, im Jahre 1888 kamen auf jedes in den Anstalten verfügbare Bett 10 bis
11 Kranke zur Aufnahme.
Von den einzelnen Krankheitsgruppen sind die Hornhautleiden am
häufigsten zur Behandlung gekommen, dann die Krankheiten des Linsensystems,
unter dieses am meisten dt*r graue Star. Erkrankungen der Thrünenorgane,
der Ghoriodea und der Augenmuskeln sind häufiger beim weiblichen als beim
männlichen Geschleckte beobachtet worden.
c. Entbindungsanstalten. Es bestanden 70 öffentliche Entbindungs¬
anstalten, von denen jede durchschnittlich über 32 bis 33 Betten verfügte. Die
Wirksamkeit der 118 Privatentbindungsanstalten war eine verhältnissmässig ge-
366 Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften.
ringfügige, im Jahre kamen auf durchschnittlich 2 bis 3 Betten nur 5 bis 6 Ent¬
bindungen.
In jeder öffentlichen Anstalt wurden in den drei Jahren im Mittel 665,
jährlich 221 bis 224 Personen entbunden; im Ganzen wurden von 46133 Personen
46 603 Kinder geboren. Die Zahl der Todtgeborenen belief sich auf 2725 *= 58
auf je 1000 Neugeborenen.
Mittels geburtshilflicher Operationen wurden in den öffentlichen
Anstalten 94 von je 1000 Gebärenden entbunden; von den Operrirten starben
5,4 °/ 0 . Am seltensten wurden Operationen in den Anstalten Posens und Ost-
preussens, am häufigsten in denen Lübecks und Mecklenburgs vorgenommen.
Von je 1000 Wöchnerinnen sind in den öffentlichen Anstalten 15 an
Kindbettfieber erkrankt und kaum 4 gestorben; die letzten Zahlen sind im
Vergleich zu früheren Berichtsperioden als niedrig anzusehen. Das Kindbett-
fieber ist somit in den öffentlichen Entbindungsanstalten des
ganzen Reiches viel seltener geworden und namentlich die
Sterblichkeit an Kindbettfieber beträchtlich gesunken.
Häufigkeit der Todesfälle im Wochenbett und an Kindbettfieber
im Deutschen Reich. Die Abnahme der Erkrankungen an Kindbettfieber in
den öffentlichen Entbindungsanstalten des Reiches gab Veranlassung, statistische
Erhebungen darüber anzustellen, ob eine solche Abnahme auch sonst zu kon-
statiren sei. Aus den grösseren Städten des Reichs (Orte mit 15000 und mehr
Einwohnern) gehen dem Kaiserlichen Gesundheitsamte monatliche Ausweise über
die Todesfälle an Kindbettfieber sowie über die Zahl der Lebend- und Todt¬
geborenen zu, so dass für diese ein zuverlässiges, statistisches Material zu Gebote
stand. Für die kleineren Städte und das platte Land bezw. für die Gesammt-
bevölkerung werden zwar in Bayern, Baden, Hessen und Eisass-Lothringen die
jährlich gemeldeten Todesfälle an Kindbettfieber nachgewiesen, in Preussen fehlt
es aber an solchen Nachweisungen. Doch können die standesamtlichen Nach¬
richten über die Zahl sämmtlicher im Kindbette gestorbenen Personen einen
brauchbaren Anhalt geben, weil nämlich die Erfahrung in anderen Staaten lehrt,
dass man annähernd die Hälfte der im Kindbette erfolgenden Todesfälle dem
Kindbettfieber zur Last legen darf.
Für die Gesammtbevölkerung aller Städte mit 15000 Einwohnern und
darüber ergiebt sich nun von 1881 bis 1891 ein erhebliches ununterbrochenes
Sinken der Sterblichkeit an Kindbettfieber (von 35,8 bis 19,4:10 000.) Im
Königreiche Preussen kamen unter der Stadtbevölkerung die meisten Todes¬
fälle im Kindbett während des Jahres 1881 zur Aufzeichnung. Seit dieser Zeit
lässt sich eine ziemlich stetige beträchtliche Abnahme feststellen. In der Land¬
bevölkerung zeigt sich diese Abnahme erst seit dem Jahre 1885. Es starben
im Kindbett auf je 10000 geborene Kinder in den Stadtgemeinden im Jahre
1881:51,5, im Jahre 1890:33,1 Personen; in den Landgemeinden im Jahre
1885:64,2:10000, im Jahre 1890:47,7 Personen. — Im Königreiche Bayern
sind während des Jahres 1885 die meisten Todesfälle an Kindbettfieber vorge¬
kommen, seit dieser Zeit ist es noch nicht seltener gewesen als vor 1885. Das
Minimum ist vielmehr in den Jahren 1879, 1880, 1883 beobachtet worden. —
Im Königreiche Sachsen ist während der letzten Jahre im Allgemeinen eine
Abnahme der Sterbefälle seit 1884 eingetreten, doch haben die Jahre 1888 und
1889 wieder ein geringes Ansteigen der Verhältnisszifiern gegenüber dem Jahre
vorher gezeigt. Auf je 10000 geborene Kinder kamen im Jahre 57,2 Kindbett¬
krankheiten überhaupt. — Im Staate Hamburg sind in den 3 Jahren 1889 bis
1891 verhältnisswässig weit weniger Wöchnerinnen als in den Jahren 1881 bis
1883 gestorben, eine stetige Abnahme der Todesfälle war indessen nicht fest¬
zustellen. —
Das Gesammtergebniss der Untersuchungen kann man dahin
zusammenfassen, dass während der letzten Jahre überall im Deutschen Reiche
eine Abnahme der Todesfälle im Kindbett, bezw. an Kindbett¬
fieber sich nach weisen lässt. Am erheblichsten war diese Abnahme in
den grösseren Städten des Reiches zu bemerken. Ebenso deutlich liess sich für
dass gesammte Königreich Preussen die Abnahme der im „Kindbett“ eintretenden
Sterbefälle nach weisen. Zu Anfang des vorigen Jahrzehnts starben von rund
105U0Ü0 Entbundenen im dreijährigen Durchschnitt (1880 bis 1882) noch 6125 im
Tagesnachrichten.
367
Kindbett, in den Jahren 1888 bis 1890 von rund 1100000 Entbundenen jährlich
nur 4948 im Kindbett. Dieser allmählich erreichte Qewinn von jährlich mehr
als 1000 Menschenleben ist sicher als Folge der besseren sanitären Fürsorge
anzusehen, die den Wöchnerinnen erst dann zu Theil werden konnte, nachdem
man die Natur des Puerperalfiebers und die Mittel zur Verhütung desselben
richtig erkannt hatte. _ Dr. Israel-Medenau.
Statistik der Krankenhäuser in Italien. Giornale di medic. pubblica,
März 1893.
Nach der Zusammenstellung des statistischen Bureaus bestanden 1891 in
Italien 1158 öffentliche und private Krankenhäuser — ohne Einrechnung der
Irrenhäuser und Entbindungsanstalten —, in denen 372965 Kranke behandelt
worden waren, davon zwei Drittel Männer. Im Verhältniss zur Bevölkerung
fanden am meisten Kranke Hospitalbehandlung in Mittel- und Oberitalien, am
wenigsten im Süden und auf den Inseln. Ueber 889 Anstalten lagen nähere
Angaben vor; dieselben verfügten über 37765 Betten und ein Pflegepersonal
von 2701 Wärtern und 4246 Wärterinnen; von letzteren gehörte fast die Hälfte
religiösen Orden an, von den Männern nur 85. Eine eigentliche Ausbildung von
Krankenwärtern fand nur in 10 Krankenhäusern statt. Mit 391 Hospitälern
waren Polikliniken verbunden.
Dr. Woltem a s - Gelnhausen.
Tagesnachrichten.
In voller körperlicher Rüstigkeit und geistiger Frische hat am 30. v. M.
Geheimrath v. Pettenkofer sein fünfzigjähriges Doktorjubiläum
gefeiert. Wie nicht anders zu erwarten war, sind dem hochverdienten Be¬
gründer und thatkräftigen Förderer der wissenschaftlichen -Hygiene an diesem
Tage Ehrenbezeugungen und Glückwünsche in reichstem Maasse zu Theil
geworden, der beste Beweis für die grosse Hochachtung und allseitige Verehrung,
die der Jubilar weit über die Grenzen seines engeren Vaterlandes hinaus geniesst.
Seine Verdienste auf dem Gebiete der Hygiene sind mit goldenen Lettern in die
Geschichte dieser Wissenschaft eingeschrieben; verdanken wir doch seinen grund¬
legenden und bahnbrechenden Forschungen in erster Linie die bedeutenden Fort¬
schritte, die gerade in den letzten Jahrzehnten in Bezug auf die Eutwickelung
der öffentlichen Gesundheitspflege in Deutschland gemacht sind. Möge es ihm
vergönnt sein, noch manches Jahr in der gleichen beneidenswerthen Frische und
Rüstigkeit wie bisher thatkräftig zu sein zum Segen des Vaterlandes und zur
Freude seiner zahlreichen Verehrer, unter denen die Medizinalbcamten nicht den
kleinsten Thtil bilden!
Der vierte internationale Kongress gegen den Missbrauch alko¬
holischer Getränke wird unter dem Patronat der Königin-Regentin der Nieder¬
lande und unter Ehrenpräsidentschaft des niederländischen Ministers des Innern
Tak van Poortvliet in den Tagen vom 16. bis 18. August 1893 im Haag
stattfinden. Präsident des Organisations-Komites ist Staats-Minister J. Heems-
kerk. Der offizielle Empfang der Kongressteilnehmer wird am 15. August,
Abends 8 Uhr, durch den Bürgermeister im Rathhause erfolgen. Die Sitzungen
werden im Gebäude für Kunst und Wissenschaften, Zwarteweg 7, stattfinden.
Bis jetzt haben sich etwa 300 Theilnehmer angemeldet. Die Eintheilung der
Vorträge ist nach dreierlei Gesichtspunkten erfolgt, und zwar wird an erster
Stelle über „Den Alkohol in Beziehung zur Physiologie und Hygiene“, an zwei¬
ter Stelle über „Die auf die freie Entschliesung des Menschen wirkenden Mittel“
und an dritter Stelle über „Die Zwangsmittel zur Bekämpfung des Alkohol¬
missbrauchs“ verhandelt werden. Bezüglich des ersten Punktes werden Dr. Dyce
Duckworth, London, L. P. Walburgh Schmidt, Amsterdam, A. Schmitz,
Bonn, und Dr. A. Forel, Zürich, über den Einfluss des Alkohols auf den
menschlichen Organismus, J. Grant Mills, London, über den Einfluss des Alko¬
holhandels auf die unzivilisirten Völkerschaften sprechen. Dr. A. Bär, Berlin,
338
Tagesnachrichten.
wird statistische Mitteilungen über die Sterblichkeit, Kriminalität und Geistes¬
krankheit bei Alkoholikern geben. In der zweiten Abtheilung der Vorträgre wer¬
den die verschiedenen Gesellschaften zur Bekämpfung des Alkoholismus, die
Mitarbeit von Kirche und Presse, die Frauenthätigkeit, die Trinkasyle, die
Volkskaffeehallen, die Bekämpfung der Trinksitten, die Besteuerung alkoholischer
Getränke, die Einwirkung aut die Jugend u. a. in. behandelt werden. Als
Zwangsmittel werden die amerikanischen Prohibitivgesetze, die Massregeln
europäischer Staaten gegen den Alkoholmissbrauch, die Alkoholmonopole, das
Licenz- und Konzessionswesen, endlich die Beschränkung Trunksüchtiger in ihrer
bürgerlichen Rechtssphäre zur Besprechung gelangen.
Betreffs der in der Mannschaft des bayerischen Infantrie-Leib-
Regiments in München ausgebrochenen Typhus - Epidemie hat die zur
Untersuchung des Sachverhaltes einberutVne Kommission (s. Nr. 13 der Zeit¬
schrift, S. 340) auf Grund der eingehendsten Untersuchungen «ich einstimmig’
dahin ausgesprochen:
1. Die verabreichten Nahrungsmittel, insbesondere die Konserven und
Dörrgemiise sind nicht als Ursache der gegenwärtigen Typhusepidemie bei dem
genannten Regiment zu betrachten. — Ebensowenig hat eine Vergiftung durch
Fleisch, durch metallische oder sonstige Gifte stattgefunden.
2. Die Entstehung der Epidemie beruht auf den ungünstigen Untergrunds¬
verhältnissen der Hofgartenkaserne als örtlicher und der abnormen Trockenheit
der Frühjahrsmonate als zeitlicher Ursache.
3. P2s muss nach den Ergebnissen der Untersuchung angenommen werden,
dass der Typhuserreger durch das Wasser eines lediglich zu Reinigungszwecken
benützten Pumpbrunnens (Kesselbrunnens) bei der Dampfküche der Hofgarten¬
kaserne in den Spülbehälter dieser Küche gelangte, wo er in dem daselbst befind¬
lichen Spülwasser unter dem Einflüsse eines mittleren Wärmegrades die günstigsten
Bedingungen für die Weiterentwickelung fand.
4. Nach der ganzen Sachlage wird man zu der Annahme gedrängt, dass
die weitere Verbreitung des Typhuserregers durch die mit diesem Wasser ge¬
spülten und dadurch infizirten Speisetrausportkessel und Menagegeschirre der
Mannschaften erfolgte.
Cholera. Die amtlichen Nachrichten über die Verbreitung der Cholera
in S iid-Fr&nkreich sind trotz der Beschlüsse der Dresdener Sanitätskonferenz
so ungenau und mangelhaft, dass sich ein klares Bild darüber nicht gewinnen
lässt. Alais ist jetzt jenen Beschlüssen geiuiis.s amtlich als Choleraheerd be¬
zeichnet. In Marseille sollen täglich 13—20 Personen an Cholera sterben;
in Toulon und Umgegend 5—7; auch in Nantes und Paris sind Zeitungs-
Nachrichten zu Folge Cholera!alle vorgekommen.
Von Südfrankreich aus scheint die Cholera nach Spanien (Palafrugell
in der Grenzprovinz Gerona) und Italien (Mailand, Pavia, Monaco) verschleppt
zu sein. Auch im nordöstlichen Ungarn (Szathmer, Tisza- Kerecseuy,
Hortyen) und in dem siebenbürgisehen Orte Dees sind vereinzelte choleraver¬
dächtige Erkrankung«- und Todesfälle vorgekommen.
In Russland nimmt die Cholera im Gonvernement Podolien wieder
zu; vom 28. Mai bis 17. Juni sind daselbst 102 Erkrankungen mit 31 Todes¬
fällen vorgekommen. Auch in Moskau sind vom 18.—28. Juni 32 Personen
an der Cholera erkrankt und davon 11 gestorben.
Ziemlich ausgebreitet ist die Cholera im Vilajet Bassora (asiatische
Türkei); die Zahl der Todesfälle belief sich dort bis zum 23. Juni auf 818,
davon 350 in Bassora, 410 in Abulhassib.
Tn Mekka (Arabien) sind vom 2(5. Juni bis 2. Juli 4079, vom 3. bis
f5. Juli 1 SCO Choleratodesfülle festgestellt. Mit dem Abzug der Pilger hat die
Seuche etwas abgenommen, ist dagegen von Mekka aus nach Dsheddah ver¬
schleppt, wo vom 3. bis 9. Juli 1332 Pilger der Cholera erlagen.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden L W
J. C. C. Bruns, Buchdruckerei, Minden.
6. Jahrg.
Zeitschrift
1893.
für
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rath u.gerichtl. Staat physikus inBerlin. Reg.- und Medizinalrath in Minden.
und
Dr. WILH. SANDER
M evlii.inalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlung und Rud. Mobs«
entgegen.
No. 15.
Erscheint am 1. und 15. Jeden Honatn.
Preis Jährlich 10 Mark.
i.
Aug.
Die Steilung der preußischen Kreisphysiker.
Von Kreisphysikua Dr. Kosak in Stade.
Nachdem am 4. d. M. die Verhandlung über die Interpellation
des Grafen Douglas im preussischen Abgeordnetenhause stattge¬
funden hat, wird nun wohl auch den Vertrauensseligsten unter
den Kreisphysikern klar geworden sein, was sie bezüglich der
Medizinalreform zu erwarten haben. Die so vorsichtige Rede des
Herrn Ministers versprach nichts und liess nur das zu deutlich
erkennen, dass in absehbarer Zeit die Medizinalreform in Preussen
nicht durchgeführt werden wird 1 ).
So sind denn alle Hoffnungen wieder begraben, die die politi¬
schen Blätter uns im vorigen Sommer machten, als die Cholera so
rauh die Aufmerksamkeit auf unsere Thätigkeit und unsere Stellung
lenkte. Wir haben unsere Schuldigkeit gethan, nun aber können
wir wieder gehen und es bleibt uns nur erlaubt, darauf stolz
zu sein, dass man im Ministerium darauf rechnet, dass wir in
Zeiten der Noth unsere volle Schuldigkeit wieder thun werden, wie
wir sie bisher stets gethan.
Das wäre gut und schön und vor allen Dingen bequem und
billig. Wie aber der Schreiber dieser Zeilen die Stimmung unter
den Kreisphysikem bei Gelegenheit der letzten amtlichen Kurse
im Institut für Infektionskrankheiten in Berlin kennen gelernt hat,
ist nicht anzunehmen, dass diese „Beamten“ auch dieses Mal ihre
Angelegenheiten so ohne Weiteres ad acta legen lassen werden.
Wir wollen klipp und klar aussprechen, dass unter den Physikern
jetzt geradezu Erbitterung darüber herrscht, dass man in Preussen
*) Diese Anschauungen des Verfassers erscheinen nach Lage der Verhält¬
nisse doch etwas zu pessimistisch. Red.
370
Dr. Rusak.
niemals ein Ohr für ihre gewiss berechtigten Wünsche bat, und
wir sind der Hoffnung und der Ueberzeugung, dass die Physiker
diesen Wünschen von jetzt an in der Presse nachhalti/gen und
kräftigen Ausdruck geben werden. Die Erinnerung daran, wie sie
besonders im vorigen Sommer zur Zeit der Choleranoth gezwungen
waren, die Praxis, von der sie mit ihrer Familie leben müssen,
zu vernachlässigen, um den Anforderungen genügen zu können,
welche ihr mit dem nicht pensionsfähigen Gehalt von 900 M.
bezahltes Amt an sie stellte, ist noch frisch in der Erinnerung
der Kreisphysiker und hat jeden von ihnen überzeugt, dass die
bisherigen Zustände nicht mehr schweigend geduldet und ertragen
werden können.
Es besteht aber unter den Kreisphysikern nicht nur der
Wunsch, ihre besonderen Interessen nachdrücklich zu vertreten, son¬
dern auch die allgemein aus selbsterlebten Vorkommnissen gewonnene
Ueberzeugung, dass die amtliche Stellung des Physikus im Inter¬
esse einer wirksamen Amtsführung eine völlig andere und vor
allen Dingen selbstständige werden muss. Liegt die Hauptaufgabe
des Sanitätsbeamten in der Prophylaxe, in der Verhinderung der
Weiterverbreitung von Infektionskrankheiten und Volksseuchen, so
muss er ein für alle Mal, wie kürzlich zur Zeit der Cholera, eigene
Initiative erhalten und nicht weiter fein still zu sitzen haben, bis
eine höhere Intelligenz, natürlich ein Jurist, das Vorhandensein von
Uebelständen anerkennt und nun den Fachmann in Bewegung setzt
und dirigirt. Dass eine solche Reform nicht ohne Aufwendung
höherer Geldsummen wie die bisher in der Medizinalverwaltung
gebrauchten durchzuführen ist, ist klar; dass aber eine solche
Reform in 20 Jahren nicht aus dem Stadium der Vorbereitungen
herausgekommen ist, obwohl das Abgeordnetenhaus nahezu ein-
müthig die Mehrforderungen bewilligen würde, kann nicht allein
daran liegen, dass im Finanzministerium eine gründliche Abneigung
herrscht, sich über die Beschaffung der nöthigen 2 bis 3 Millionen
die Köpfe zu zerbrechen. Stände an der Spitze der Abtheilung
für Medizinalangelegenheiten ein Mediziner und nicht ein Jurist,
so würde die Reform eine so nachhaltige, weil fachmännische Ver¬
tretung gefunden haben, dass längst auch die Unterstützung des
Finanzministers gewonnen wäre. Ein Fachmann als Leiter der
Abtheilung würde mit den übrigen technischen Räthen das nach den
Worten des Herrn Ministers in Hülle und Fülle vorhandene Ma¬
terial unzweifelhaft rascher zur Herstellung eines einheitlichen und
wohl begründeten Reformplanes verwerthen können als ein Jurist,
der auch beim besten Willen nie das lebendige Interesse eines
Fachmannes haben wird, weil er sich in die vielen, hierbei in
Betracht kommenden technischen Fragen des Medizinalwesens erst
mühsam einzuarbeiten hat und sie naturgemäss nicht völlig beherrscht.
Auch im Kriegsministerium steht an der Spitze der Medizinal-
abtlieilung ein Fachmann; wie vorzüglich aber das Militär-Sanitäts¬
wesen unter Leitung dieses Fachmannes verwaltet ist, zeigt die
allseitige Anerkennung, die dasselbe gerade in jüngster Zeit mit Recht
befunden hat. Die erste Forderung der Medizinalbeamten muss
Die Stellung der preusaischen Kreisphysiker.
371
also dahin gehen, dass auch an die Spitze des Zivil-Medizinal¬
wesens, der Medizinalabtheilung im Kultusministerium, ein Fach¬
mann gestellt wird. Die Medizinalangelegenheiten würden dann
nicht mehr, um mit den zutreffenden Worten des Abg. Dr. Graf
zu reden, die Rolle des Aschenbrödels im Kultusministerium spielen,
haben sie doch hier zur Zeit nicht einmal einen eigenen Ministerial¬
direktor, sondern müssen diesen mit einer anderen Abtheilung
dieses Ministeriums theilen.
Noch wichtiger als die Reform an der Spitze des Medizinal¬
wesens ist aber diejenige der Stellung der Kreismedizinalbeamten,
die keineswegs so lange vertagt zu werden braucht, bis die
angeblich unzulängliche Vorbildung der Kreisphysiker eine bessere
geworden ist. Man kann ohne Ueberhebung sagen, dass die
Kenntnisse der jetzigen Medizinalbeamten in den Gebieten der
Hygiene, der Bakteriologie, der Epidemiologie u. s. w. erheblich
grössere sind, als man in massgebenden Kreisen anzunehmen
geneigt ist. Die Kreisphysiker in allen Theileu der Monarchie
haben, zum Theil mit erheblichen pekuniären Opfern, jede Ge¬
legenheit benutzt, die ihnen geboten wurde, um sich mit den
neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften auf diesen Gebieten
theoretisch und praktisch bekannt zu machen, und ein Theil von
ihnen hat im vorigen Sommer Gelegenheit gehabt, ihre Kenntnisse
zum Wohl der Allgemeinheit praktisch zu bethätigen. Traurig
ist einstweilen nur, dass sie so gut wie nie Gelegenheit haben,
ihre Kenntnisse in den genannten Gebieten praktisch zu verwerthen.
Das ist gerade das Streben der Physiker, deshalb wünschen sie
eine gerechte und genügende Besoldung, damit sie nicht mehr
fast ausschliesslich auf den Erwerb durch die Praxis hingewiesen,
ihre Kräfte und ihr Wissen ihrer Thätigkeit als Sanitätsbeamte
widmen können. Das, was ihnen an Praxis auf diesen Gebieten
fehlt, würde schlimmsten Falls durch die Theilnahme an regel¬
mässig zu wiederholenden Kursen zu erreichen sein.
Es stellt zu hoffen, dass in dieser Angelegenheit noch mehrere
Physiker das Wort ergreifen. Um eine Diskussion über die An¬
gelegenheit anzuregen, erlaube ich mir kurz die hauptsächlichsten
Forderungen zn formuliren, welche betreffs der künftigen Stel¬
lung der Kreisphysiker, für die auch wir den Titel Kreis- oder
Bezirksarzt vorziehen würden, zu erheben sind:
1. Die Kreisphysiker (Kreisärzte, Bezirksärzte) sind unmittel¬
bare Staatsbeamte und beziehen ein in bestimmten Zeiträumen
steigendes und pensionsfähiges Gehalt von 3000 bis 5000 M.,
daneben Wohnungsgelder, Bureaugelder und Entschädigungen für
Dienstreisen. Bei der Pensionirung kommen auch die Jahre in
Anrechnung, während welcher der Kreisphysikus schon vor der
Medizinalreform im Amte war.
2. Die amtlichen Befugnisse der Kreisphysiker sind den An¬
forderungen der öffentlichen Gesundheitspflege entsprechend zu
erweitern; insonderheit ist ihnen das Recht eigener Initiative
einzuräumen.
3. Die Kreisphysiker sind in bestimmten Zwischenräumen zu
372 Die Cholerakurse und die angebliche Unzulänglichkeit der Kreisphysiker.
Fortbild ungs-Kursen einzuberufen, die an den hygienischen Univer¬
sitäts-Instituten abgehalten werden. Die Kosten dieser Kurse
trägt die Staatskasse; die Theilnehraer erhalten Reise- und
Tagegelder.
Die Cholerakurse und die angebliche Unzulänglichkeit der
Kreisphysiker.
(Eingesandt.)
Eine grössere Enttäuschung ist wohl keinem Beamtenstande
seit langer Zeit zu Theil geworden, als den zu den Cholerakursen
berufenen Kreisphysikern, musste doch jeder derselben dort zu der
Ueberzeugung gelangen, dass er erst dann als Commissarius ver¬
wendet werden würde, wenn die Assistenten der bakteriologischen
Institute aufgebraucht seien. Als Entree des mit Spannung er¬
warteten Menus empfingen die Theilnehmer des Kurses aus Herrn
Geheimrath Koch’s Munde die Mittheilung, die Physiker hätten
„den an sie gestellten Erwartungen, von ganz vereinzelten Fällen
abgesehen, nicht entsprochen“. Eine recht kalte Douche! Wenn
ein Mann von der Bedeutung Koch’s an denjenigen Beamten,
welche in erster Linie dazu bestimmt sind, die ersten Fälle einer
Seuche festzustellen und die erforderlichen Massregeln anzugebeu,
eine derartige generelle Kritik übt, so kann dieselbe ihre Wirkung
an massgebender Stelle nicht verfehlen, und dass sie diese Wirkung
nicht verfehlt hat, zeigt nicht nur die bekannte Ministerial-Ver¬
fügung, durch welche die bakteriologische Diagnose der ersten
Cholerafälle den hygienischen Instituten übertragen ist, sondern
auch die jüngst in der politischen Presse und im Abgeordneten¬
hause laut gewordenen Ansichten über die ungenügende Vorbildung
der Medizinalbeamteu. Es soll nicht bestritten werden, dass hier
und da Ungeschicklichkeiten vorgekommen sind, welche jene Ver¬
fügung für einzelne Bezirke als vorläufig augezeigt erscheinen
liess. Aber warum denn allen Medizinal - Beamten das Recht der
bakteriologischen Diagnose zu beschneiden, obwohl sich eine grosse
Anzahl derselben in dieser Hinsicht als durchaus zuverlässig be¬
währt hat? Streng genommen, hätte man dann auch den hygieni¬
schen Universitäts - Instituten die Untersuchungen nicht belassen
sollen, nachdem eines derselben seiner Zeit nicht im Stande ge¬
wesen ist, Cholerabazillen aufzufinden, wo solche vorhanden waren.
Und wenn ferner die Nothwendigkeit vorlag, eine grössere Anzahl
bakteriologisch ausgebildeter Kreisphysiker in jedem Regierungs¬
bezirke zu haben, warum hat man dann nicht, nachdem die Gefahr
der Cholera verschwunden und die Kreisphysiker wieder abkömmlich
waren, diesen Gelegenheit gegeben, sicli die nöthigen bakterio¬
logischen Kenntnisse zu verschaffen ? Dazu genügen allerdings keine
Kurse von 3 Tagen, sondern solche von mindestens 30 Tagen! Von
Koch ist in den diesjährigen Cholerakursen bei Darlegung seiner
epidemiologischen Ansichten und seiner Methoden besonders klar
und häufig betont, dass man in möglichst ununterbrochener
Die Cholerakurse und die augebliche Unzulänglichkeit der Kreisphysiker. 373
praktischer Uebung der Methoden bleiben müsse, wenn man sich
an eine Choleradiaguose heran wagen wolle. Eine Choleradiag¬
nose musste nach Koch’s Darlegungen demjenigen, der erst in
die Bakteriologie hätte eintreten wollen, geradezu als ein auserordent-
lich schwieriges Wagniss erscheinen. Und doch scheint es Koch gar
nicht sehr ernst damit zu sein, die Kreis -Physiker zu diesem an¬
scheinenden Wagniss zu befähigen, denn seinem Einflüsse wäre
es ein leichtes gewesen, den Physikern statt dreitägiger Kurse
solche von längerer Dauer zu verschaffen. Stattdessen scheint
es, als seien die Physiker gerade durch die Stellung,
welche Koch in Frage der Medizinalreform genommen
hat, kalt gestellt worden. Es klang wie bittere Ironie, als
Koch einem Physikus, welcher ihn, behufs Fortübung der bakte¬
riologischen Methoden, um eine Cholerakultur bat, die Antwort
gab, er sei dazu nicht berechtigt, hierzu bedürfe es einer Eingabe
des Physikus an den Herrn Minister. Dagegen erhielten die Theil-
nehiuer an den Petri’sehen Kursen im Reichs - Gesundheitsamte
direkte Vorschriften für den Transport der Kulturen, die sie mit¬
nehmen wollten.
Besonders betonte Koch, die Physiker hätten bakteriologisch
zu langsam gearbeitet. Dieser Tadel ist, von vielleicht sehr
wenigen Ausnahmen abgesehen, unberechtigt. Vor Allem, weil
Koch selbst nunmehr ganz anders die Methoden anwendet, als
zur Zeit, wo er seine Methoden publizirte. Koch hat aber
bis vor Kurzem weder selbst noch durch seine Assistenten auch nur
eine Zeile über diejenige Modifikationen in die Oeffentlichkeit ge¬
bracht, welche seine Methoden in seinem Laboratorium erfahren
haben. Er hatte Nichts publizirt über den Werth, welchen er der
Cholerarothreaktion beimisst, hatte nicht gesagt, dass man sehr oft
auf Stichkultur verzichten kann. Wenn andere Bakteriologen hier¬
über sich in diesem Sinne aussprachen, so war dies eben bedeutungs¬
los, so lange ihre Vorschläge nicht von Koch gleichsam öffentlich
sanktionii t waren. Besonders aber der Medizinalbeamte war bei der
grossen Tragweite der Sache gezwungen, erst dann von Cholera zu
sprechen, wenn er Alles beisammen hatte, was von Koch
als zur Charakteristik des Cholerabakteriums gehörig bezeichnet
worden war. Hatte doch Koch z. Z. die Stichkultur geradezu als
experimentum crucis für die Diagnose bezeichnet. Dass Finkler-
Prior nur ein Gespeust, nicht ein wirklicher Konkurrent bei
der Diagnose der Cholera ist, war, als die Arbeiten erschienen,
welche Koch selbst veröffentlichte, mindestens nicht erwiesen. Wenn
also Physiker langsamer arbeiteten als Koch, so folgt daraus noch
lange nicht, sie hätten berechtigten Erwartungen nicht entsprochen.
Sie entbehrten viel mehr der schnelleren Methoden, über welche
Koch und sein Stab verfügte, weil Koch bis dahin seine Zu¬
stimmung zur Aenderung der Methoden nicht veröffentlicht hatte.
Ohne die autoritative Zustimmung Koch’s mussten sie jede Ab¬
weichung von seinen alten Methoden einem crimen laesae majes-
tatis gleichschätzen.
Es kann allerdings Vorkommen, dass Physiker zu langsam
374
Aus Versammlungen und Vereinen.
arbeiten. Daran tragen aber nicht die Physiker die Schuld. Wer
gezwungen ist, den ganzen Tag des lieben Brodes willen seinem
ärztlichen Berufe nachzugehen, bei Sturm und Wetter über Land
zu fahren, der kann nicht so ruhig und schnell bakteriologische
Untersuchungen vornehmen, als dies einem von jeder Praxis unab¬
hängigen, nur seinen amtlichen Verpflichtungen sich widmenden
Mediziner in einem mit allen Hülfsmitteln ausgerüsteten hygienischen
Institute möglich ist. Die Schwierigkeiten, welche die Verbin¬
dung von Amt und Praxis mit sich bringt, scheint Koch, der
doch selbst einmal Physikus war, entweder ausnahmsweise nicht
gekannt oder vergessen zu haben. Koch durfte also vom Physikus
nicht das erwarten, was er erwartet hatte. Haben die Physiker
aber dennoch alles geleistet, was sie bei ihrer jetzigen Stellung
überhaupt leisten konnten, so verdient dies besondere Anerkennung.
Der Tadel, welchen Koch ausspricht, ist ein unverdienter!
Soll der Physikus das leisten, was man von ihm berechtigter
Weise im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege verlangen
muss, so bedarf es vor Allem erst einer vollständigen Umwandlung
seiner amtlichen Stellung, nicht nur in Bezug auf Gehalt und
Pension, sondern auch in Bezug auf amtliche Befugnisse.
Nach dieser Richtung sollte Koch an massgebender Stelle
allen seinen Einfluss aufbieten, anstatt dass er die Physiker durch
den ihnen gemachten Vorwurf herabsetzt, ihre Autorität schädigt
und ihre an und für sich schon hinreichend schwierige Stellung
nur noch schwieriger macht!
Aus Versammlungen und Vereinen.
Bericht über die vom 85.-28. Hui d. .F. in Würzburx stntt-
xehabte XVIII. Versammlung; des Deutschen Vercius für
öffentliche Gesundheitspflege.
Dritter Tag.
IV. Vorbengungsraassregeln gegen Wasser Vergeudung.
H. Wasser werkdircktor Kümmel (Altona): Die meisten Wasserwerke
erleiden grosse Verluste theils durch Undichtigkeit oder Brüche der Leitungen,
besonders wenn diese Schäden längere Zeit unbemerkt bleiben, theils durch
Sorglosigkeit und Missbrauch der Abnehmer. Durch eine derartige Vergeudung
wird nicht nur die Wasserversorgung, namentlich bei knappem Wasserzufluss
gefährdet, sondere auch in vielen Fällen der Preis des Wassers erhöht und um
so mehr liegt es im öffentlichen Interesse, derselben vorzubeugen. Der grösste
Bedarf an Wasser und in Folge dessen auch die grösste Wasservergeudung
findet bei den Privatabnehmern statt. Der Wasserkonsum für öffentliche Zwecke
(Strassenbesprengung, Bedürfnissanstalten, Spülung von Kanälen, Springbrunnen
u. s. w.) ist im Allgemeinen gar nicht so bedeutend, wie vielfach angenommen
wird; er beträgt z. B. in Berlin nur 9*/ 4 °/„, in Dresden 8,0°/„, in Stettin 6,0°/ 0 ,
in Breslau 5'/» °/ 0 , in Düsseldorf 5,0°/ 0 , in Hannover sogar nur 2'/»°/o, während
er sich in Süddeutsch land in Folge der dort üblichen ununterbrochen laufenden
Brunnen wesentlich höher stellt (in Würzburg auf 28,0 °/ 0 , in Nürnberg auf
20,0 °/„, iu Karlsruhe auf 25,0 °/ 0 , in München auf 20 °/ 0 ). Jedenfalls ist es Pflicht
der Wasserwerke, die häuslichen Wasseraulagen einer ausgiebigen Koutrole zu
unterziehen und da erfahrungsgeinäss die Wasservergeudung dort am grössten
Aas Versammlungen and Vereinen.
375
ist, wo das Wasser auf Grund einer Schätzung den Abnehmern nach dem freien
Ermessen geliefert wird, so empfiehlt es sich dringend, statt dieses Verfahrens
die Lieferung nach Maass einzuführen. Die vom Standpunkte der Gesundheits¬
pflege aus gegen die Hebung der Wassermesser zu erhebenden Bedenken wegen
der hierdurch möglicherweise herbeigeführten Beschränkung des Wasser¬
verbrauches können nicht ausschlaggebend sein, lassen sich auch im Wesentlichen
beseitigen durch die Feststellung eines unter allen Umständen zu bezahlenden
Mindestverbrauches, der nach einem Erfahrungssatze zu ermitteln und als feste
Wasserabgabe ohne Rücksicht auf den wirklichen Verbrauch zu erheben sein
würde. Redner selbst hält allerdings eine derartige Bestimmung für unnöthig,
gestützt auf seine Erfahrungen in Altona, wo sich die Einführung des Mindest¬
verbrauches nicht bewährt hat und daher wieder aufgegeben ist.
Eine nicht minder wichtige Vorbeugungsmassregel gegen Wasservergeudung
ist die fortwährende sorgfältige technische Ueberwachung des Wasserleitungs¬
netzes mit Rücksicht auf etwaige Undichtigkeiten. Lecke Stellen, mangelhaft
schliessende Hähne der Zapfstellen bleiben in den Zweigleitungen der Privathäuser
oft monatelang unentdeckt oder werden nicht rechtzeitig reparirt; bedenkt man
jedoch, dass ein undichter, fortwährend tröpfelnder Wasserhahn sehr leicht bis
700 Liter Wasser in 24 Stunden ausfliessen lassen kann, so kann man daraus
einen Schluss ziehen, welche enorme Wassermengen durch derartige Undichtig¬
keiten täglich verloren gehen können. Von jeher ist es daher das Bestreben
der Techniker gewesen, Apparate zu konstruiren, durch welche die Aufspürung
von Wasserverlüsten ermöglicht wird. Dahin gehört z. B. der schon in den
siebziger Jahren von dem Direktor der Wasserwerke in Liverpool Deacon selbst¬
tätig registrirender Distriktswassermesser, mit dem recht gute Erfolge erzielt
sind. Ein bewährtes Mittel zur Entdeckung von Wasserverlusten durch Leck¬
stellen ist ferner der 0 e s t e n ’ sehe Verlustanzeiger, der ausserdem den Vortheil
hat, dass er leicht und bequem zu handhaben ist; der Meldeapparat desselben
kann z. B. auf dem Schreibtisch des Hausbesitzers angebracht werden. Auch
der Vortragende hat einen derartigen Apparat „Hydrophon“ 1 ) konstruirt, der
auf dem Prinzip des Telephons beruht. Setzt man denselben mittelst eines
Hörstabes auf den Strassenhahn des Grundstückes, nachdem man diesen bis auf
einen schmalen Spalt geschlossen hat, so kann man besonders in stiller Nacht
sehr genau jedes Tröpfeln oder Rieseln des Wassers, das durch irgend eine
Leckstelle bedingt ist, hören.
In der Diskussion verlangt Reg.- und Med.-Rath Dr. Wernich
(Berlin) staatliche Kontrole der Wasserwerke, besonders auch mit Rücksicht auf
die Wasserentnahme, damit den Abnehmern nur vorzügliches Wasser geliefert
wird. Von verschiedenen anderen Rednern werden die von dem Referenten
vertretenen Grundsätze anerkannt und gleichzeitig einzelne Mittheilungen über
den Wasserkonsum aus anderen Städten gemacht. Als ausreichenden Wasser¬
verbrauch bezeichnete der Vortragende 40 Liter pro Kopf und Tag in kleinen
Haushaltungen, 80 Liter in grösseren und wohlhabenden; übersteige der Durch-
schnittsverbrauch 100 Liter pro Kopf, so sei die Vermuthang einer Vergeudung
berechtigt. Grosser Wasserverbrauch in der Nacht lasse stets auf Undichtigkeit
im Wasserleitungsnetz schliessen.
V. Die Verwendung des wegen seines Aussehens oder in gesundheit¬
licher Hinsicht zu beanstandenden Fleisches, einschliesslich der Kadaver
kranker getödteter oder gefallener Thiere.
Herr Oberregierungsrath Dr. Ly dt in (Karlsruhe): Die Erhaltung der
beträchtlichen Menge des minderwerthigen und von kranken Thieren herrühren¬
den, aber nicht gesundheitsschädlichen Fleisches ist im nationalökonomischen
Interesse nothwendig, denn ein vollständiges Ausschliessen derartigen Fleisches
vom menschlichen Genüsse würde nicht nur eine schwere Vermögensschädigung
der Fleischproduzenten, sondern auch für weite Schichten der Bevölkerung fast
eine Fleischentziehung zur Folge haben. Andererseits ist es aber im Interesse
und zum Schutze aller derjenigen, die nur völlig tadelloses Fleisch geniessen
wollen oder mit Rücksicht auf ihre Gesundheit geniessen müssen (Kinder, Wöch¬
nerinnen, Kranke, Rekonvaleszenten, Schwächlinge n. s. w.), angezeigt, dass
') Der Apparat wird von dem Mechanikus J. Paris in Altona verfertigt.
376
Aus Versammlungen und Vereinen.
das Feilhalten und der Verkauf des nach Herkunft und Beschaffenheit uu-
tadelhaften Speisefleisches von dem Feilhalteu und Verkaufe des diese Eigen¬
schaft nicht besitzenden, aber zum menschlichen Genüsse noch geeigneten Fleisches
streng gesondert wird, was nach Ansicht des Redners nur durch Einrichtung
von sog. „Freibänkc“, erreicht wird, in denen alles nicht bankmässigeFleisch
unter Bekanntgabe der Herkunft und der Beschaffenheit feilgehalten und ver¬
kauft werden muss. Das Feilhalten derartigen Fleisches im rohen Zustande
darf an der Freibank jedoch nur durch Polizeiorgane oder durch den Eigen¬
tümer des Fleisches oder dessen Vertreter unter behördlicher Aufsicht statt¬
finden; Metzger, Wurstler, Fleischwaarenlabrikanten oder -Händler, Gastwirthe
oder Kostgeber dürfen ausserdem derartiges Fleisch nur dann zum Hausgebrauche
oder zur Abgabe au Andere verwenden, wenn sie dies durch leicht sichtbaren
Anschlag in den Geschäftsräumen ihren Kunden bekannt geben. Lässt sich in
grösseren Kommunen eine derartige Ueberwachung des Verkehrs mit solchem
Fleische nicht durchführen, so empfiehlt Redner, dasselbe unter polizeilicher
Aufsicht im Schlachthofe abzukochen und nur in abgekochtem Zustande auf der
Freibank zum Verkauf bringen zu lassen oder in volkreichen Städten kommunale
Speiseanstalten einzurichten, in denen das Fleisch unmittelbar an die Konsu¬
menten als fertig zubereitetes Speisefleisch abgegeben wird.
Auch das zum menschlichen Genuss an sich ungeeignete Fleisch kann,
soweit dies nach den gesetzlichen Bestimmungen zulässig ist, zum Theil als
Speisefleisch gebrauchsfähig gemacht werden, indem ihm durch eine entsprechende
Zubereitung etwaige Eigenschaften der Gesundheitsschädlichkeit, Verderbniss und
des Ekelerregens genommen werden. Dies geschieht am zweckmässigsten durch
Sterilisirung des Fleisches in geeigneten Dampfkocbapparaten, wie solche von
Rohrbeck und Henneberg konstruirt sind, in denen selbst grosse Fleisch¬
stücke auch im Innern bis 90° Celsius erhitzt werden. Bei einer derartigen
Verwerthung des Fleisches ist gleichfalls die strengste polizeiliche Kontrole noth-
wendig; das Abkochen des Fleisches sollte nur in Schlachthäusern geschehen,
der Verkauf darf selbstverständlich nur unter Bekanntgabe der Herkunft und
der früheren Beschaffenheit auf der Freibank stattfinden.
Alles andere für den menschlichen Genuss unverwendbare, gesundheits¬
schädliche Fleisch ist behördlicherseits als Speisewaare in geeigneter Weise
(durch Petroleum, Verbrennung, technische Verarbeitung u. s. w.) unbrauchbar
zu machen und nur die Verwendung von solchen Theilen zu gestatten, die un¬
schädlich sind (wie Klauen, Hörner, Häute u. s. w.), oder durch Kochen oder
auf einem anderen Wege .ansgezogen sind.
Die Kontrole des aus den gewerbsmässigen Schlachtungen hervorgehenden
Fleisches beseitigt aber keineswegs sämmtliche Gefahren, die der Genuss des
Fleisches der mit Infektionskrankheiten behafteten Thiere mit sich bringt; im
Gegentheil durch diese Kontrole wird nur der kleinere und minder gefährliche
TheU des zum menschlichen Genüsse weniger oder nicht geeigneten Fleisches getrof¬
fen, während der grössere Theil desselben, der namentlich aus dcu nothgeschlach-
teteu oder umgestandenen Thieren herrührt und in vielen Gegenden
des Reiches zur freien Verfügung des Besitzers und unkontrolirt bleibt, nach-
gewiesenermassen für die menschliche Gesundheit viel gefährlicher als jener ist.
Um so nothwendiger ist daher auch hier ein polizeiliches Eingreifen und zwar
nach Massgabe der folgenden Grundsätze: Von dem Nothschlachten oder dem
Umstehen eines Thieres muss die Ortspolizeibehörde sofort benachrichtigt werden
und in allen Fällen eine thierärztliche Besichtigung anordneu, in denen es die
rciclis- oder landesseuchengesetzlichen Bestimmungen vorschreiben oder in denen
das nothgeschlachtete Thier mit einer infektiösen Krankheit behaftet oder der¬
selben verdächtig war oder das Fleisch desselben im rohen Zustand in Verkehr
gebracht oder auch zubereitet als Speisefleisch abgegeben werden soll, soweit
letzteres überhaupt nach den vorher aufgestellten Grundsätzen statthaft ist. Im
Uebrigeu sind die Kadaver nothgeschlachteter oder umgestandener Thiere so
schnell als möglich (innerhalb 24—48 Stunden) nach einem von den menschlichen
Wohnungen wie von dem Aufenthalt von Thieren möglichst entfernt liegenden
Orte in unschädlicher Weise fortzuschaffen oder durch ein die Belästigung der
Hausbewohner und der Nachbarschaft ausschliessendes Verfahren zu verarbeiten.
Das Liegenlassen von Kadavern auf Strassen, öffentlichen Plätzen, auf dem
freien Felde oder im Walde, sowie das Einwerfen solcher Gegenstände in Ge¬
wässer ist, weil in hohem Grade belästigend und gefährlich, mit Strafe zu be-
Ans Versammlungen und Vereinen.
377
drohen; auch das Einwerfen von Kadarcrtheilen und Blut in öffentliche Gewässer
zu Fischereizwecken ist nur mit polizeilicher Genehmigung zu gestatten.
Am besten haben sich zur unschädlichen und nicht belästigenden Beseitigung
von Thierkadavern oder Kadavertheilen kommunale Abdeckereien unter
Leitung von öffentlich bestellten Waseumeistern bewährt, denen die Beseitigung
der Kadaver bezw. ihre Verarbeitung obliegt. Die Einrichtung derartiger
Anstalten liegt im Interesse sowohl der Thierbesitzer als der Gemeinden; nur
für kleinere Gemeinden in dünn bevölkerten Landstrichen lässt sich die Ver¬
scharrung des gefallenen Viehes in der bisherigen Weise an einem geeig¬
neten Feld- oder Waldstücke (Wasenplatze) noch rechtfertigen. Die Anlage
von Wasenplätzen ist jedoch sanitätspolizeilicher Begutachtung hinsicht¬
lich der Lage, der Bodenbeschaffenheit, der Entfernung von menschlichen Woh¬
nungen, Stallungen und Weiden, des Vorhandenseins von ober- und unter¬
irdischen Wasserläufen, des Abflusses der Meteor- und Ablaufwasser, der Grösse,
der Einfriedigung, der Verwerthung der Pflanzenpro lukte auf denselben zu
unterstellen. Auch die Tiefe der Verscharrung (mindestens 1,50 m), die Zeit,
wann eine Grube wieder aufgedeckt und ihr Inhalt entnommen werden darf
(mindestens 10 Jahre) ist polizeilich genau festzusetzen. Zweckmässig erscheint
es ferner, auf dem Wasenplatze eine Einrichtung herzustellen, um Thicre ab-
häuteu, ausnehmen oder seziren zu können.
Das Verbrennen ganzer Thierkadaver ist in verseuchten Bezirken aller¬
dings dringend erwünscht, verursacht aber sehr erhebliche Kosten und gewährt
ausserdem keine Ausnutzung des Kadavers. Empfehlenswert sind dagegen zur
unschädlichen Beseitigung der Kadaver, der Schlachtabfälle und des als Speise-
waare ungeeigneten Fleisches solche Anstalten, die gewisse werthvolle Stoffe
aus den Kadavern (z. B. Fett finniger nnd trichinöser Schweine) ausziehen, und
mit Ausschluss der nicht anderweitig verwendeten Kadavertheile (nämlich Haut,
Knochen, Klauen, Hörner, Haare, Hufe), oder auch diese mit, wenn es sich um
Kadaver milzkranker, rauschbrandkranker Thiere handelt, zu unschädlichen,
landwirtschaftlich oder industriell verwertbaren, als Speisewaare aber nicht
mehr tauglichen Stoffen, z. B. Dungpulver u. s. w., verarbeiten. Nur auf chemi¬
schem oder thermischem Wege unschädlich gemachte und aus dem Fleische
gewonnene Produkte dürfen von diesen Anstalten, den Besitzern oder Beauf¬
tragten in Verkehr gebracht werden. Dieselben müssen mit Apparaten aus
gestattet sein, welche die zugeführten Thierleichen alsbald zu verarbeiten ver¬
mögen, infektiöse Kadaver, nötigenfalls unzerlegt, und Fleischstücke sicher
sterilisiren, weder übelriechende Gase oder Dämpfe in die Luft, noch übel-
riccheude oder sonst schädliche Flüssigkeiten in den Boden oder in die Wasser¬
läufe entweichen lassen und in möglichst kurzer Zeit bei dem geringst möglichen
Aufwand von Betriebsmitteln den höchsten Ertrag an verwertbaren Stoffen
liefern. Als einen sehr zu empfehlenden Apparat bezeichnet Redner den
Delacroix’schen Desinfektor, in Deutschland unter dem Namen „Kafill-Des¬
infektor“ von der Firma Rohrbeck-Henneberg eingeführt. Der Apparat
entspricht allen Anforderungen nnd die Verwendung bezw. Verwerthung der von
ihm gelieferten Abfallsprodukte ist meist eine so günstige, dass der Apparat
keine Unkosten verursacht, sondern im Gegenteil rentirt. Auch auf «lern
platten Lande lassen sich solche Anstalten mit Vortheil für mehrere Ortschaften
gemeinschaftlich cinrichten. Wünschenswert ist es, künftighin die Konzession
für die Errichtung einer Abdeckerei nur daran zu kuüpfen, dass der Betrieb
vorstehenden Forderungen entspricht; andererseits ist die Zahl der Abdeckereien
nicht ohne dringende Gründe zu vermehren und den gedachten Anstalten die
Verarbeitung der Schlachthofabfälle und dos beschlagnahmten Fleisches zu über¬
weisen, damit sic ertragsfähig bleiben und von ihreu Besitzern ordnnngsmässig
geleitet werden.
Zum Schluss seines Vortrages empfiehlt Redner noch die allgemeine Ver¬
sicherung der Hausthierbestände gegen Verluste durch Krankheiten und
Unglucksfälle, wie sie seit Knrzem in Baden eingeführt ist, da diese Massregel
die unschädliche Verwendung des minderwertigen, sowie des von kranken
Thicren herrührenden, für den menschlichen Genuss geeigneten und ungeeigneten
Fleisches erleichtert. Die Prämie derartiger Viehversicherungen darf nicht zu
hoch bemessen sein, um thunlichst allen Viehbesitzern den Beitritt zu ermög¬
lichen; erforderlichen Falls ist eine staatliche Unterstützung za gewähren, die
sich durchaus rechtfertigen lässt mit Rücksicht darauf, dass die Versicherung
378
Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften.
wesentlich dazu beiträgt, die der menschliche Gesundheit durch den Genuss schäd¬
lichen Fleisches drohenden Gefahren zu verhüten.
In der Diskussion erklärten Dr. Rohrbeck und Fabrikant Henne-
berg (Berlin) die von ihnen konstrnirten Apparate an der Hand von Zeich¬
nungen und unter Vorlegung von Proben der mit den Apparaten erzielten
Produkte. Rechtsrath Küntzer (München) sprach sich zu Gunsten des Pode-
wils’sehen Verfahrens aus, das iu Augsburg und München eingeführt ist und
sich recht gnt bewährt haben soll.
Auf Antrag des Oberbürgermeisters Dr. Steidle (Würzbnrg) wurden so¬
dann folgende Resolutionen einstimmig an.enommen:
1. „Es ist wünschenswerth, dass die Errichtung einer Abdeckerei iu Zu¬
kunft von der Ausstattung derselben mit Apparaten abhängig gemacht wird,
welche die bisherigen Benachtheiligungeu, Belästigungen und Gefahren des Ab¬
deckereibetriebes thnnlichst verhüten.
2. Behufs Fernhaltung gesundheitsschädlichen und verderblichen Fleisches
von dem Speisemarkt und behufs Förderung der unschädlichen Verwerthung
alles übrigen Fleisches ist die-allgemeine und obligatorische Viehversicherung
dringend zu empfehlen.“
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Laboratoriumscholera, beobachtet und mit dem modiflzirten
Lickfett’schen Verf ihren in 6 Stunden bakteriologisch diagnostizirt. Von
Oberarzt Kreisphysikus Dr. Freymuth und Dr. Lickfett. Deutsche mediz.
Wochenschrift Nr. 19.
Der oben erwähnte Fall von Laboratoriumscholera bietet ein doppeltes
Interesse, indem er einmal in den vielen Jahren, seitdem allerorten mit den
Kommabazillen bakteriologisch gearbeitet wird, der zweite innerhalb 6—7 Jahren
ist, bei welchem Unvorsichtigkeit bei der Arbeit zu einer Erkrankung führte,
sodann, indem er eine erst« glänzende Probe für den Werth des von Lickfett
in Nr. 45 Jahrgang 1892 der Deutschen medizinischen Wochenschrift beschriebe¬
nen Verfahrens mit den Miniaturplatten in der Praxis ist.
Der 20jährige, völlig gesunde Laboratoriumsdiener Kutschkowski
erkrankte am 11. April d. J., nachdem er einige Tage Magenschmerzen und
Appetitlosigkeit gehabt hatte, mit ziemlich heftiger Diarrhoe. Der Erkrankte
war bei allen Arbeiten mit Cholerakulturen, beim Reinigen der Platten,
Reagenzgläser etc. beschäftigt gewesen; die erforderlichen Vorsichtsmassregeln
waren ihm eingeschärft und wurden von dem intelligenten Menschen stets pünkt¬
lich befolgt, nur einmal, am 7. oder 8. April hatte er Dr. Lickfett Platten
von verschiedenen Nährböden bereiten helfen und scheint hierbei die Vorsichts¬
massregeln ausser Acht gelassen zu haben. Um 10 Uhr, während einer Pause,
war er eilig und hatte sich nicht die Hände gewaschen, strich eine Semmel, ass
dieselbe und ging dann wieder in’s Laboratorium, um das Fehlende dort fertig
zu machen, zum Mittagessen hatte er sich die Hände gewaschen. In den
nächsten Tagen bemerkte er keinerlei Unbehagen; am dritten Tage stellten sich
eigenartige Schmerzen in der Höhe des Nabels, Appetitlosigkeit, starker Durst
ein, aber keine Durchfälle. Am 10. April, während der Nachtwache, bekam K.
von 10 Uhr Abends an Frost, Kollern im Leibe und Aufstossen. Den 11. April,
gegen 3 Uhr Morgens, traten Leibscbmerzen und anhaltendes Kollern mit Auf¬
stossen, Schwäche in den Beinen und Schwindel auf, von Morgens 6—8 Uhr
vier Mal flüssiger Stuhl. Nach Darreichung von 8 Tropfen Opium leichte Besse¬
rung; gegen Abend wieder Verschlimmerung, es machte sich starke Neigung
zum Erbrechen, Frost und vollständiges Unbehagen geltend, am Abend noch
zwei Mal flüssiger Stuhl. Am 12. April Vormittags meldete sich K. krank, er
hatte an diesem Tage noch 5, am 13. Vormittags 2 diarrhöische Stühle; Nach¬
mittags erhielt er 0,5 g Calomel und hatte darauf bis zum 14. Nachmittags noch
acht Mal Durchfall. Am 15. April war der Anfall als beendet zu betrachten,
der Stuhl wurde dickbreiig und vom 16. Abends an fest. Die Körpertemperatur
schwankte während der Krankheit zwischen 36,4° und 37,2° C. Erbrechen trat
nur einmal und zwar am 12. unmittelbar nach einer Dosis von 15 Tropfen
Kleinere Mittheilungen und Referate aas Zeitschriften. 379
Opiam auf. Wadenkrämpfe, Harnverhaltung und Albuminurie * wurden nicht
beobachtet.
Mit Rücksicht auf die, das Erkranken K. begleitenden Umstände lag es
nahe, an eine Infektion mit Kommabazillen, an eine Laboratorinmscholera zu
denken. Von dem Stuhl wurde am 12. Vormittags, nach der Krankmeldnng,
ein gefärbtes Deckglaspräparat angefertigt: dasselbe enthielt mit Zeiss */,„
Okular 2 untersucht, zahlreiche Kommabazillen, 5 Formen in Spirillen von sehr
verschiedener Dicke, daneben zahlreiche Kokken und gerade Stäbchen.
Der Stuhl wurde nunmehr nach dem folgenden Verfahren untersucht:
Einige Reagenzgläser, gefüllt mit einem Nährboden, der hergestellt ist aus
500 ccm. Koch'scher Bouillon, 12 ccm Glycerinum purissim., 12 g Agar-Agar
und 30 g Gelatine, kommen zum Schmelzen der starren Masse in Wasser, welches
zum Kochen erhitzt wird. Nunmehr wird der heisse Inhalt eines dieser Gläser
vermittelst einer sterilen Pinzette auf einer Anzahl in der Flamme sterilisirter
Objektträger in der Weise ausgebreitet, dass überall ein ziemlich breiter, freier
Rand bleibt, während die erstarrende Masse sich durch mehrfaches Ueberschichten
zu einer Platte von 1—1'/* mm Dicke gestaltet. Diese Nährbodenplatte dient
zum Beet für die jetzt folgende Aussaat der Fäces. Ein Glas mit verflüssigtem
Nährboden wird im Wasserbade auf 45—46° C. abgekühlt und dieses sodann
mit 2 Oesen Fäces innig gemischt. Neben ihm im Wasserbade steht ein zweites
Glas mit sterilem Wasser, in welches ein steriler Pinsel taucht, hergestellt aus
dicken Seidenfäden von ca. 1 */* cm Länge, an einem Holzstiele. Diesen Pinsel
taucht man in die Nährbodenfäcesmischung, streicht an der Wand des Glases
den Ueberschuss an aufgeuommenen Material ab und überstreicht damit das
jetzt abgekühlte Objektträgerbeet möglichst zart, um Schrammen zu vermeiden.
Die Platte ist nun fertig. Mit beliebig verstärkter oder verdünnter Original¬
mischung kann man bei Beachtuug der erforderlichen Temperatur von 45° C.
verschiedene Platten anlegen. Jede Platte kommt einzeln in eine feuchte
Kammer, wozu eine Petri'sehe Doppelschale dienen kann; die Schale wird der
Brutwärme 38—39° C. ausgesetzt. Im vorliegenden Fall wurde eine der um
1 Uhr Mittags in den Brutschrank gestellten Platten um 6 1 /* Uhr Abends
mikroskopisch untersucht; bei Z e i s s A A, Okular 2 erschienen auf der Platte,
die makroskopisch wie ganz fein bestäubt aussah, zahlreiche Kolonien von ver¬
schiedener Grösse und Färbung. Ihr scheinbarer Durchmesser variirte zwischen
V* und 2 mm, die Farbe zwischen einem glänzenden hellen Stahlblau und einem
stumpfen Braun. Aus diesen blauen Kolonien wird mit der modifizirten Unna-
Ze iss'sehen Baktcrienharpune ein cylinderischer Pfropf losgelöst, herausgefördert
und zwischen zwei Deckgläschen zerdrückt, wie ein wenig verrieben. Nach dem
Abheben werden beide Deckgläser lufttrocken gemacht, durch die Flamme ge¬
zogen und mit frisch filtrirtem Anilinwasser gentianaviolett gefärbt. Unter der
Immersion zeigte sich eine Reinkultur von Kommabazillen. Dass ausserdem
noch Koutrolvcrsuche mit Koch'sehen Gelatineplatten, wie Versuche mit dem
Stuhlgang Gesunder unternommen wurden, bedarf wohl kaum der Erwähnung
uud ist das Original dieserhalb einzuschen.
Bis zum 30. April wurden mit dem Stuhle des K. täglich Platten gefertigt;
am 1(5. lieferten dieselben zum letzten Male Kommabazillen. Der sanitätspolizei¬
liche Werth des oben beschriebenen Verfahrens von Freymuth und Lickfett
leuchtet sofort ein; in dem vorliegenden Falle wurden bereits 6 Stunden nach
erfolgter Krankmeldung die erforderlichen Isolirungs- und Desinfektionsmass-
regcln ergriffen! Dr. Dtttschke-Aurich.
Zur Desinfektion der Choleraausleerungen. Von Dr. C. Eykmanu
in Batavia. Deutsche medizinische Wochenschrift; 1893, Nr. 25.
Der Verfasser wendet sich in dem oben angeführten Artikel gegen die
Zweckmässigkeit und praktische Verwcrthbarkeit der von Prof. Pfuhl angege¬
benen Desinfektion der (Jholeraausleeruugen durch Kalkmilch. Zur Zeit der
vorjährigen Choleraepidemie in Hamburg erschien in den holländischen Zeitungen
eine Warnung von Prof. Pekelharing aus Utrecht, wie mitgetheilt wurde,
dass Dr. Eykmann in Batavia bei seinen Untersuchungen über Cholera die
Kalkmilch als ein sehr schlechtes Desinfektionsmittel für frische Abgänge von
Cholerakrankeu erkannt hätte. Nach Dr. Eykmann gelten die Resultate, die
man in Europa mit Kalkmilch bekommen, nur für künstlich kultivirte Komma-
880
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
bazillcn, dagegen nicht für die aus dem menschlichen Körper entleerten. Da
diese Veröffentlichungen in manchen Kreisen Unsicherheit bervorriefen, wurdeu
von Prof. Pfuhl, um jeden Zweifel endgültig zu beseitigen, neue Versuche
über die Wirksamkeit der Kalkmilch an wirklich frischem Darminhalt von Cho¬
lerakranken angestcllt, der reichlich lebende Cholerabazillen enthielt. Ueber die
drei Versuche wurde in Nr. 39 der Deutschen mediz. Wochenschrift 1892 be¬
richtet und festgestellt, dass es zur wirksamen Desinfektion der Cholerastühle
genügt, wie dies auch in der vom Prcuss. Kultusministerium ausgearbeiteten
„Anweisung zur Ausführung der Desinfektion bei Cholera“ angegeben ist, wenn
die gleiche Menge Kalkmilch') dem Darminhalt zugesetzt, einfach gemischt
und 1 Stunde stehen gelassen wird.
Aus dieser erforderlichen einstündigen Einwirkung der Kalkmilch auf die
Choleraentleerungen zieht Eykmann den Schluss, dass dieses Desinficiens nicht
schnell und energisch wirkt uud dass in der Praxis nur zu oft gegen diese Vor¬
schrift gesündigt werdeu wird. Man solle sich nur den gar nicht seltenen Fall
denken, dasH ein Cholcrakranker innerhalb einiger Stunden zehn und mehrere
Male defäcirt. Da müsste mau, strikte genommen, eine stattliche Anzahl von
Gefässen bereit halten, um jedesmal die frischen Ausleerungen mit Kalkmilch
tüchtig vermischen zu können und es gehörte die peinlichste Sorgfalt dazu, um
zu verhüten, dass einmal ein Gefäss zu früh entleert würde. Denn es wäre
nicht statthaft, die successiven Abgänge in demselben Gefässo aufzufangen und
nur jedesmal eine neue Portion Kalkmileh nachzutragen. Das würde auf eine
Verdünnung des Desinficiens hinauslaufen, weil ja die schon während einiger
Zeit stehengebliebene Mischung kaum noch gelösten Kalk enthält. Nach Eyk-
manu’s Ansicht sollte eine wirklich praktisch durchführbare Vorschrift dahin
lauten, dass züvor in das Gcfäss eine genügende Quantität eines Desinfektions¬
mittels hineingethan werden soll, worin die successiven Entleerungen des Kranken
aufgefangen und ohne weitere Vermischung in kürzester Zeit, etwa 10
bis 15 Minuten, unschädlich gemacht werden können. Hierzu sei Kalkmilch
ganz und gar ungeeignet, wie Pfuhl’s dritter Versuch (.einfaches Zugiessen
der Kalkmilch und nicht Vermischen) beweise. Viel günstiger verhalte sich
in dieser Beziehung Karbolsäure und Kreolin. Dieselben wirken in kür¬
zester Zeit und brauchen auch bei der Mischung mit dem Darminhalt keine
Nachhilfe, weil sie sich in solcher Konzentration anwenden lassen, dass sie
auch bei stellenweis stärkerer Verdünnung in Folge weniger vollständiger Ver¬
mischung noch im Stande sind, die Kommabazillen abzntüdten. Nach Eykmann’s
Versuchen, wobei der Darminhalt in die Desinfektionsflüssigkeit gelangte, werden
die Choleramikroben innerhalb 10 Minuten sämmtlich abgetödtet, wenn 4 Vo-
lumtheile des Darminhalts in 1 Theil einer 5°/ 0 Karbolsäurelösung resp. einer
2 ' 7 0 wässerigen Kreolinemulsion aufgefangen werden. Ders.
Ueber die Entstehung und Verbreitung der Cholera-Epidemie in
Rassisch - Polen. Von 0. Bujwid aus Warschau. Zcitschr. f. Hygiene und
Infektionskrankheiten. Bd. XIV., H. 1.
Wenn über die Aetiologie der Cholera noch immer Zweifel bestehen, wenn
in dem alten Streit zwischen Kontagionisten und Lokalisten das letzte Wort
auch jetzt noch nicht gesprochen ist, ja, wenn es scheinen will, als ob die, unter
dem ersten Eindruck der Koch’schen Entdeckungen siegreich zurückgedrängte
Pettenkofer’sche Schule in diesem Streite neuerdings an Terrain gewonnen
hat, so hat die Erscheinung, dass es der Wissenschaft trotz 75 Jahre hindurch
fortgesetzten Studiums noch immer nicht gelungen ist, volle Klarheit über Ent¬
stehung und Verbreitung dieser Geissei des Menschengeschlechtes zu gewinnen,
zunächst etwas sehr Ueberraschendes! Es zeigt sich aber beim Durchgehen der
Choleraliteratur, dass trotz ihres gewaltigen Umfanges, die Zahl der ganz un¬
zweideutigen und wirklich beweisenden epidemiologischen Thatsachen doch eigent¬
lich recht gering ist, ja, dass die Mehrzahl der Beobachtungen von der einen
Seite ebenso wie von der anderen als Beweismittel für ihre Ansicht angeführt
werden kann. Selbst die Epidemie des Vorjahres liefert den Beweis, wie gross
die Schwierigkeiten sind; denn obgleich die epidemiologische Forschung in Deutsch¬
land mit unvergleichlich reicherem Rüstzeug, wie je zuvor, in das Feld rückte,
*) 1 Liter zerkleinerten, reinen gebrannten Kalks zu 4 Liter Wasser.
Kleinere Mittheilnngen und Referate aus Zeitschriften.
381
entspricht das Ergebnis der Campagne doch eigentlich nicht den gehegten Er¬
wartungen. Ist es doch weder in Hamburg, noch sogar in Nietlebeu geglückt,
festzustellen, woher denn eigentlich die Cholera dorthin gelangt ist! Und auch
die Weiterverbreitung, für welche in uns Anhänger der Koch’schen Anschauungen
wohl überzeugender Weise die Wasserversorgung in erster Linie iu Anspruch
genommen wird, ist doch nicht in so überzeugender Weise klargelegt worden,
dass jeder Ein wand der Gegner damit vollständig zurückzuweisen wäre, denn es
muss zugegeben werden, dass aus der Geschichte früherer Epidemien Beispiele
von eben so grossen Verschiedenheiten im Befallenseiu einzelner Stadttheile, und
zwar sicher ohne Einfluss der Wasserversorgung, bekannt sind, wie neuerdings
zwischen Hamburg einerseits und Altona und Wandsbeek andererseits!
Um so wichtiger ist daher der Beitrag, den Bujwid (bekanntlich der
Entdecker der Cholerarothreaktion) in dein vorliegenden, kurzen Artikel liefert
und der als eine höchst werthvolle Bereicherung unseres Wissens zu begrüssen
ist. Sehr bemerkenswert!! ist dabei die ganz auffallende Aehnlichkeit der
Bujwid’schen Beobachtung mit der in der Choleraliteratur so viel erwähnten
und von Pettenkofer selbst „als seine schwache Seite“ bezeichnten Ein¬
schleppung der Cholera in Altenburg im Jahre 1865. Bekanntlich reiste damals
eine Frau mit ihrem diarrhoe-kranken Kinde von Odessa, wo eine Cholera-
Epidemie im Entstehen begriffen war, in 9 tägiger Reise direkt nach Altenburg,
wo sie nach einigen Tagen an Cholera erkrankte und starb. Es starb dann ihr
Kind und ihre Schwägerin, bei der sie abgestiegen war uud es kam zur Ent¬
wickelung einer begrenzten Cholera-Epidemie von 180 Fällen inmitten des voll¬
ständig cholerafreien Deutschlands. Auch bei Bujwid handelt es sich um eine
Frau, die mit einem diarrhoe-kranken Kinde von Rostow am Don, wo sie als cho¬
leraverdächtig von der Bevölkerung zur Abreise gezwungen worden war, mit
der Eisenbahn 1500 km weit nach Biscupice in Russisch - Polen (Gouvernement
Lubliu) reiste. Drei Tage nach ihrer Ankunft (29. Juli) erkrankte und starb
in dem Hause, wo sie abgestiegen war, eine Frau, zwei Tage später eine andere
im Nebenhause und in kurzer Zeit entwickelte sich eine Epidemie, die sich von
hier aus, nach Bujwid fast überall in ihren Etappen nachweisbar, über ganz
Russisch - Polen verbreitete. Auch die Einschleppung der Cholera nach Rostow,
welche durch die Reise zweier Wittwen, welche iu Baku (1000 km) ihre Männer
an Cholera verloren hatten, verursacht wurde und die in sehr ähnlicher Weise
erfolgte Uebertragung der Krankheit von Lublin nach MIawa (300 km) konnte
Bujwid feststellen.
Auf Grund dieser Beobachtungen, welche allerdings die Verschleppung
durch zunächst anscheinend gesunde Reisende auf sehr weite Entfernungen er¬
geben, legt Bujwid der ärztlichen Ueberwachung des Reisenden-Verkehrs
ebensowenig Werth bei, wie etwaigen Desinfektionsmassregeln. dafür aber Be¬
obachtung derjenigen Personen, die aus verdächtigen Gegenden zureiseu.
Dr. Langerhan8-Cellc.
Können lebende Cholerabazillen mit dem Boden- und Keliriclit-
staub durch die Luft verschleppt werden? Von Professor Dr. J. Uffel-
inan n. Berliner Klinische Wochenschrift 1893, Nr. 26.
Nachdem in letzter Zeit mit voller Sicherheit festgestellt worden ist, dass
Cholerabazillen durch Trocknung keineswegs immer so rasch zu Grunde gehen,
als auf Grund früherer Versuche angenommen worden ist, drängte sich Uffel-
mann der Gedanke auf, dass möglicherweise auch durch Verreibeu und Ver¬
stäuben lufttrockenen cholerainfizirten Materials lebende Cholerabazillen in die
Luft gelangen. Von dieser Erwägung ausgehend, versuchte Uffelm&nu ex¬
perimentell zu erforschen, wie lange die Cholerabazillen in Bodenmateriai und
in Kehrichtraassen der Trocknung ausgesetzt am Leben bleiben, und ob von
völlig lufttrockenen, durch Luftbewegung von der Stärke des Windes, oder
mechanisch aufgewirbelten Boden- und Kehrichtmassen noch lebende Cholera¬
bazillen in die Luft übergehen können.
Uffelraann brachte in zwei flache Porzellanschalen so viel Gartenerde,
dass ihre Schicht 2—3 mm hoch war, verrieb, sterilisirte durch trockene Hitze
und setzte nach völliger Abkühlung so viel einer Aufschwemmung von Cholera¬
bazillen aus einer frischen Gelatinekultur in Wasser za, wie die Erdmasse eben
zu absorbiren vermochte. So erschien sie gleichmässig durchfeuchtet, nirgends
382
Kleinere Mittheilungen nnd Referate ans Zeitschriften.
geradezu nass. Die Schalen wnrden nun unbedeckt in einem Schrank des Ar¬
beitszimmers aufbewahrt und waren damit gegen Sonnenlicht geschützt. Die
Temperatur in dem Schranke schwankte zwischen 15—17 0 R. Nach Ablauf von
16 1 /* Stunden war die gesammte Bodenmasse in beiden Schalen lufttrocken.
Alsbald wurden sic mit einem Pistill ohne Mühe zu einer theils feinkörnigen,
theils stanbartigen Masse verrieben. Aus Schale I wurde vermittelst sterilen
Metalllöffelchens von vier Partien je eine Füllung des Löft'elchens entnommen,
zuerst 16 1 /*, dann 23, darauf 48, 72 und 96 Stunden nach der Infektion, und in
verflüssigte Nährgelatine gebracht, diese ausgerollt und bei 22—23° C. hinge¬
stellt. Hierbei entwickelten sich aus der nach 16*/ a Stunde, 23 Stunden und
48 Stunden entnommenen Masse 30—40, bezw. 3 und 1 Cholerakolonien, aus
den nach 72 und 96 Stunden entnommenen Massen keine Kolonie. Mit dem In¬
halt der Schale II experimentirte Uffelraann, nachdem derselbe lufttrocken
geworden, verrieben und 8 Stunden stehen geblieben war, indem er die Boden¬
masse in der Schale auf eine leicht zu desinfizirende Unterlage in einem sepa¬
raten abschliessbarcn Zimmer brachte, etwa 6 cm oberhalb des Schalenrandes
in etwas schräger Richtung eine mit fast erstarrter Nährgelatine bedeckte
Platte hielt und ohne jede Kraft mit dem Munde auf die feingepulverte
Bodenmasse blies. Der Staub blieb auf der Gelatine heften, letztere wurde
in eine feuchte Glaskammer gebracht und diese bei 22—23° C. gehalten.
Nach Verlauf von 3 Tagen wurden 6 Kolonien festgestellt, von denen 5 als
Cholerakolonien nachgewiesen werden konnten. Die Versuche sind zu verschie¬
denen Zeiten und mit verschiedenen Proben Gartenerde siebenmal wiederholt
worden. Jedesmal gelang es, in der lufttrockenen, feingepulverten Masse 16,
sowie etwa 20 und 24 Stunden nach geschehener Anfeuchtung mit dem infek¬
tiösen Material lebende Cholerabazillen aufzufinden. Mehrmals waren sie 36
Stunden nach geschehener Anfeuchtung, einmal sogar noch 96 Stunden nach der¬
selben, wennschon nur sehr vereinzelt, vorhanden. Ebenso konnte Uffelraann
stets noch 16 resp. 20 Stunden nach der Anfeuchtung durch leichtes Anblasen
mit dem Munde oder einem kleinen Kautschukballon aus der Schale Staub auf-
wirbcln, an einer schräg darüber gehaltenen Gelatineplatte fixiren und wenig¬
stens einige Cholerakolonien zur Entwicklung kommen sehen.
Ein ähnliches Resultat ergeben die Versuche, welche mit Strassen- und
Ziramerkehricht augestellt wurden, wobei letzterer mit stark diarrhöischer Fäkal¬
masse infizirt war, welcher nach erfolgter Sterilisiruug die gleiche Menge reich
mit Cholerabazillen erfüllter Bouillon zugesetzt wurde. Von dieser letzten luft¬
trocken gemachten und verriebenen Masse blies Uffelraann mit einem Kaut-
schnkballon ein wenig über eine mit sterilisirter Milch halb erfüllte Petri’sche
Unterschale, konstatirte, dass die Oberfläche der Milch au mehreren Stellen mit
feinem Staub bedeckt war, schüttelte einige Male hin nnd her, bedeckte die
Schale mit dem zugehörigen Deckel und setzte sic in den Brutschrank bei 23“ C.
Nach 24 Stundcu wurden vier Rollkulturen aus je 1 Tropfen der Milch angelegt.
Am dritten Tage hatten sich in dreien dieser Kulturen Cholerakolonien, wenn
auch nicht in erheblicher Zahl, entwickelt.
Uffelmann zieht aus seinen Versuchen den Schluss, dass in dünnen
Schichten von Gartenerde oder Kehricht, Cholerabazillen, welche ihnen mit¬
telst Aufschwemmung in Wasser oder mittelst dünner Fäkalmassen cinverleibt
waren, durch Trocknung an der Luft — bei Ausschluss der Sonnenstrahlen —
zwar der überwiegenden Mehrzahl nach binnen 24 Stunden zu Grunde gehen,
dass jedoch ihrer nicht wenige das Stadium des Lufttrockenwerdens jenes Ma¬
terials um mehrere Stunden, vereinzelte dasselbe Stadium noch länger, nämlich
einen vollen Tag, ausnahmsweise drei Tage überdauern. Wenn überhaupt lebende
Cholerabazillen an lufttrockenem, verstäubungsfähigem Materiale Vorkommen
können, so müsse auch die Möglichkeit zugegeben werden, dass sie mit dem,
sei es durch Wind, sei es durch mechanisches Aufrtthren aufwirbelnden Staube
verschleppt werden und mit diesem in unseren Mund oder auf resp. in
Nahrungsmittel, selbst in’s Wasser von Bächen, Flüssen u. s. w. gelangen können.
Diese Art der Uebertragung werde keine häufige sein, weil vou dem Augenblicke
des Lufttrockenwerdens der Erdmasse oder des Kehrichts die Zahl der Cholera¬
bazillen sich stetig und ziemlich rasch vermindere, weil ie Trocknung der
fäkal - verunreinigten Materialien an sich noch keine Staubbildung zur Folge
habe und besonders weil in natura der Prozess des Absterbens der Choleraba-
Kleinere Mittheilangen and Referate aas Zeitschriften.
383
zillen vielfach durch das Sonnenlicht wesentlich beschleunigt werde. Aber es
handele sich hier auch nur um die Entscheidung der Frage, ob
Oberhaupt lebende Cholerabazillen mit dem Luftstaube ver-
schleppt werden können; und diese Möglichkeit sei nach dem
Ergebniss seiner Versuche als bewiesen anzusehen.
Dr. Dütschke-Aurich.
1. Untersuchungen über Immunität gegen Cholera asiatica. Von
C. A. Wassermann, Assistenten am Institut.
2. Untersuchungen über das Wesen der Choleraimmunität. Von
R. Pfeiffer, Vorsteher der wissenschaftlichen Abtheilnng und A. Wasser¬
mann, Assistenten am Institut. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrank¬
heiten. XIV. 1.
Beide Arbeiten zeichnen sich durch Klarheit der Fragestellung, durch
erschöpfende Fülle in der Versuchsanordnung und durch Knappheit und Schärfe
bei der Zusammenfassung der Ergebnisse in derselben Weise aus, wie die
übrigen Arbeiten, welche bisher aus dem Koch’sehen Institut hervorgegangen
sind. Der erste Aufsatz zeigt, im Wesentlichen in Wiederholung bereits be¬
kannter Veröffentlichungen, aber zur Widerlegung dagegen gerichteter Angriffe
bestimmt und daher auf ein umfassendes, streng geordnetes Versuchsmaterial
gestützt, dass es unschwer gelingt, Meerschweinchen gegen nachträgliche peri¬
toneale Infektion lebender Cholerakulturen zu schützen und zwar sowohl durch
vorherige Einspritzung kleiner Mengen lebender, als auch irgendwie abgetödteter
Cholerakulturen, welche so bemessen sind, dass sie nicht den Tod, sondern nur
eine vorübergehende Erkrankung bewirken. Freilich zeigte sich ein durchgreifen¬
der Unterschied beispielsweise gegenüber der Diphtherie, denn es gelang nicht
durch wiederholte Vorbehandlung mit allmählich gesteigerten Dosen die Immunität
höher und höher zu steigern, dieselbe blieb vielmehr ziemlich gering und,
sobald die zur Infektion verwendete Vibrionen - Menge eine gewisse Grösse
überstieg, starben die Versuchsthiere ebensogut, wie die nicht vorbehandelteu Kon-
trolethierc. Sehr interessant sind die Versuche über die Verleihung der passiven
Immunität durch Uebertragung des Blutserums von Menschen, die durch Ueber-
stehen der Cholera-Krankheit gegen diese itnmnn geworden sind. Verfasser
konnten die von Lazarus gemachte Entdeckung, dass winzig kleine Mengen
solchen Blutserums (*/,„ bis mg), in das Bauchfell eines Meerschweins ein¬
gespritzt, dies gegen Cholera immunisiren, durchaus bestätigen.
Die zweite Arbeit sucht die Ursache der so gewonnenen Immunität zu
erforschen und stellt zunächst unzweifelhaft fest, dass es sich nicht um
Giftfestigung handelt, sondern um eine sehr lebhafte Ver¬
mehrung der bakterientödtenden Kräfte in der Bauchhöhle, so dass
das Peritoneum vorbehandelter Meerschweinchen, wenn sie nach Einspritzung zu
grosser Mengen der Intoxikation erlegen sind, regelmässig steril ist! Mit der Le-
benstbätigkeit der Vibrionen wird der immunisirte Organismus fertig, aber den gleich¬
zeitig eingespritzten Giftstoffen der Vibrionen erliegt er. Auch das Blutserum cho¬
leradurchseuchter und in Folge dessen immuner Menschen vermag die bakterietödtendc
Fähigkeit damit behandelter Thiere in sehr hohem Grade zu steigern, ohne ihnen
indessen Giftfestigkeit zu verleihen. Im Reagenzglase zoigt übrigens dieses Serum
weder giftzerstöreude noch bakterientödtende Eigenschaften gegen den Cholera-
Vibrio. Die Verfasser sehen sich daher veranlasst, den Vorgang der
Immu nisirung durch Serum-Uebertragung so aufzufassen, dass
unter dem Einflüsse spezifischer, bisher völlig unbekannter
Substanzen, eine Umstimmung des Meerschweinkörpers sich
einstellt, wodurch dieser befähigt wird, sich der eindrin¬
genden Vibrionen rascher zu entledigen.
Die Verfasser warnen zum Schluss schreindringlich vor
zu weitgehenden Hoffnungen, welche von gewisser Seite für die Vor¬
beugung der menschlichen Cholera durch präventive Iminunisirung angefacht
worden sind. Sie weisen nachdrücklich darauf hin, dass menschlicheCho-
lera ganz etwas anderes ist, als der aus Injektion und Intoxi¬
kation gemischte Prozess, den man beim Meerschweinchen
durchinterperitoneale Injektion der Cholerabakterienerzielen
384
Besprechungen.
könne. Gegen Infektion vom Magen aus, nach der bekannten
Koch’scheu Versuchsauordnung erweisen sich die imuiunisirten
M eersch weinohen nicht geschütz t, gleichviel, auf welche Weise die
Immunisirnng vorgeuommen worden war. Die gegenteiligen Angabeu anderer
Forscher siud wohl durch Verwendung alter, unkräftiger Kulturen oder durch
zu geringe Zahl der Versuche zu erklären.
Dr. Lange r ha ns-Celle.
Zur Prophylaxe der venerischen Krankheiten. Deutsche med.
Wochenschrift Nr. 19/1893. Seite 459.
In der Sitzung der Berliner medizinischen Gesellschaft vom 15. Juni v. Js.
ist eine Kommission zur Beratung über Massregeln zur Vorbenguug der Ver¬
breitung venerischer Krankheiten in Berlin gewählt worden, deren Vorsitzender
Geh. Rath Dr Virchow wurde. Die Kommission hat ihre Vorschläge der
Gesellschaft unterbreitet und hat diese die aufgestcllten Thesen sämmtlich
augenommen worden. Sie lauten:
1) Die zur Zeit in Berlin bestehenden sanitären Einrichtungen und Mass¬
regeln zur Verhütung und Behandlung der venerischen Krankheiten sind unzu¬
reichend :
A. In Bezug auf die gewerbsmässige Prostitution:
2) Die nach wie vor gebotene sittenpolizeiliche Untersuchung der gewerbs¬
mässig Prostituirten bedarf einer Verbesserung und zwar sowohl hinsichtlich der
Häufigkeit als der Methode der Untersuchung:
a) Jede Prostituirte ist mindestens zwei Mai wöchentlich zu untersuchen;
b) die Zahl der Untersuchungsstationen ist zu vermehren;
c) es ist anzustreben, dass in zweifelhaften Fällen die mikroskopische
Untersuchung des Urethral-, Vaginal- und Cervicalsecretes auf Gono¬
kokken angeschlossen wird.
3) Jede geschlechtlich krank befundene gewerbsmässige Prostituirte ist
einem von der Behörde zu bestimmenden Krankenhause zu überweisen. Für die
Aufnahme gewerbsmässiger Prostituirter in die genannten Krankenhäuser siud
besondere Abtheiiungeu einzurichton. In gleicher Weise werden die aufgegriffenen
und geschlechtlich krank befundenen Frauenzimmer behandelt.
B. In Bezug auf Geschlechtskranke, welche nicht der
gewerbsmässigen Prostitution angchören: )
4) Für diese ist in grösserem Massstabe als bisher durch Behandlung in
Hospitälern und Ainbulatorieu Sorge zu tragen:
a) Die Hospitalbehandlung dieser Kranken ist durch baldigste Errichtung
von besonderen Stationen für Geschlechtskranke in den öffentlichen
Krankenhäusern zu ermöglichen;
b) in Verbindung mit diesen Stationen sind Ambulatorien für Geschlechts¬
kranke einzurichten.
5) Alle gesetzlichen oder statutarischen Bestimmungen wie solche _z. B.
im KrankcnUassengesetz u. s. w. bestehen, welche Beschränkungen zu Ungunsten
dieser Kranken eingeftthrt haben sind im Interesse einer baldigen und gründ¬
lichen Behandlung derselben zu beseitigen. In diesem Sinne ist speziell auf die
Vorstände der Krankenkassen einzuwirken.
6) Die Wiedereinführung von Bordellen in Berlin ist weder vom hygieni¬
schen noch vom moralischen Standpunkt zu empfehlen.
7) Die Einführung einer einheitlichen Statistik in Bezug auf die venerischen
Krankheiten für Sanitätspolizei, Krankenhäuser, Krankenkassen und Poliklinik
ist dringend erforderlich. — Dr. Israe 1-Medenau (Ostpr.).
Besprechungen
Dr. Ernst Barth, Königl. Preussischer Stabsarzt: Die Cholera
mit Berücksichtigung der speziellen Pathologie und Therapie
Besprechungen.
385
nebst einem Anhänge, enthaltend die auf die Cholera bezügliche
Gesetzgebung und sanitätspolizeilichen Vorschriften für Aerzte
und Beamte. Breslau 1893. Verlag von Preuss & Jünger.
Gross 8°. 252 S.
Der Verfasser hat in dem vorliegenden Werk versucht, eine einheitliche
wissenschaftliche Darstellung der Cholera zu geben, indem er ausser der Epide¬
miologie auch durch Berücksichtigung der speziellen Pathologie und Therapie
dem Bedürfnis» des praktischen Arztes, und durch eine Zusammenstellung der
entsprechenden Gesetzgebung und sanitätspolizeilichen Verordnungen, dem Be¬
dürfnisse des Beamten Rechnung trägt Durch seine Kommandirung zur ärzt¬
lichen Hülfeleistung in einem Hamburger Krankenhause während der vorjährigen
Epidemie hatte der Verfasser den Vorzug, eine grosse schwere Epidemie aus
eigener Anschauung kennen zu lernen und war dadurch in Stand gesetzt, nach
dem Massstab der eigenen Erfahrung das in der medizinischen Presse veröffent¬
lichte Material auf Hauptsächliches und Nebensächliches hin zu sichten.
Nach einer geschichtlichen Einleitung Uber die bis jetzt beobachteten
5 Cholerapandemien und einer kurzen statistischen Schilderung der Cholera-
Mortalität und Morbidität, vorwiegend den Cnningham’scheu und Hirsch’-
schen Aufzeichnungen entlehnt, wendet sich Barth der Epidemiologie der
Cholera zu, um der zeitlichen Disposition, des Einflusses der Temperatur und der
atmosphärischen Niederschläge, wie der örtlichen Disposition zu gedenken bezüg¬
lich des Einflusses des Grundwassers, der Bodenbeschaffeuheit, der Boden¬
erhebungen, der Wasserfläche, der Bodenveruureinigung, der Beschaffenheit des
Wassers und der Luft. Es folgt hierauf das sehr übersichtlich und interessant
geschriebene Kapitel der Aetiologie der Cholera, in welchem der Schilderung
des Cholerabacillus ein weiter Raum gewährt wird und die Morphologie, Züch¬
tung und Biologie des Commabacillus gebührende Berücksichtigung findet. Der
Verfasser steht völlig auf dem Koch'sehen Standpunkt und erinnert die ganze
Eintheilung des Buches lebhaft an die jüngst im Institute für Infektionskrank¬
heiten von Koch und seinen Assistenten gehaltenen Vorlesungen in den epide¬
miologischen Kursen. Bei dem Kapitel „Prophylaxe“ würde ein detaillirteres
Eingehen auf die kommuneile und staatliche Prophylaxe den Werth der Ab¬
handlung entschieden noch erhöht haben, besonders eine eingehendere Schilderung
der Filteranlagen bei Kesselbrunuen wäre am Platz gewesen. Bezüglich der
Desinfektion der Dejcktionen bei Benutzung der Klosets in den Bahnzügen
befindet sich der Verfasser nicht ganz im Einklang mit den von Koch in den
oben erwähnten Kursen den Medizinalbcamten ertheilten Rathschlägen; während
Barth durch das Verspritzen von Choleradejektionen auf dem Bahngeleise das
Entstehen verhängnisvoller Infektionsherde befürchtet und eine Desinfektion der
Kübel unter den Bahn wagen verlangt, hält Koch eine Desinfektion bei Be¬
nutzung der Klosets in Bahnzügen für praktisch nicht durchführbar und belanglos;
denn der Bahndamm ist nach ihm ein für die Weiterentwickelung etwaiger auf
ihm ausgestreuter Cholerakeime ungünstiges Terrain und die Gefahr nicht gross,
dass sie von dort durch einen Regenguss in öffentliche Wasserläufe gelangen.
Ausserdem sei bei Anwendung von Kübeln die Gefahr viel grösser, weil dann
die Dejektionen gesammelt und auf einer Station desinfizirt werden müssen. Zu
bedauern bleibt, dass die Nietlebener Epidemie mit ihren lehrreichen Konse¬
quenzen bezüglich der Wasserversorgung und Verbreitung der Cholera durch
das Wasser, wie die Altonaer Nachepidemie nicht mehr Berücksichtigung in der
sonst so lesenswerthen und übersichtlichen Arbeit gefunden haben.
Hoffentlich bietet eine zweite Auflage dem Verfasser bald Gelegenheit,
die oben angeführten kleinen Mängel abzustellen. Den Medizinalbeamten sei die
Anschaffung des Werkes warm empfohlen!
Dr. D ü t s c h k e - Aurich.
W. R. Gowers: Syphilis und Nervensystem. Autorisirte
deutsche Uebersetzung von Dr. med. G. Lehfeld. Berlin;
1893. S. Karger.
Der Leser findet in der in Gestalt von 3 Vorlesungen gehaltenen geist¬
vollen Abhandlung in kurzen Zügen einen Abriss unserer jetzigen Kenntnisse
386
Tagesnachrichten.
über die Beziehungen der Syphilis za den Erkrankungen des Nervensystems.
Den Praktiker wird vorwiegend die dritte Vorlesung interessiren über die wesent¬
lichsten prognostischen Prinzipien für die syphilitischen Erkrankungen des
Nervensystems und ihren Einfluss auf die spezielle Prognose der wichtigsten
Störungen. Wenn es wahr ist, sagt der Verfasser, dass wir die Syphilis nicht
heilen können, so ist die Ueberlegung sehr wichtig, wie wir sie am besten im
Zaum halten könnnen. Das ist es, warum die Tbatsache der Unheilbarkeit,
wenn sie wahr ist, so grosse Bedeutung hat. Ein falscher Glaube au die Heil¬
barkeit kann dadurch gefährlich werden, dass er prophylaktische Massnahmen
verhindert. Wenn keine Behandlung in der Gegenwart eine Entwickelung in
der Zukunft verhüten kann, so ist es richtig, auf alle Fälle vorzubeugen. Jeder
Syphilitische sollte mindestens 5 Jahre lang nach den letzten Erscheinungen
jährlich zweimal eine dreiwöchentliche Kur durchmachen, während deren er
täglich 1—2 Gramm Jodkalium nimmt. Bei allgemeiner Anwendung dieser
Massregel sollte man von vorneherein glauben, dass dann schwere Erkrankungen
weit seltener vorkämen! Ein Mittel bleibt allein, alt wie die Krankheit selbst,
um sie zu verhüten. Eine Methode, und eine allein, ist möglich, ist sicher, und
diese eine steht Allen offen! Es ist der sichere Schutz, den die nie verletzte
Keuschheit gewährt! Ist die Verbreitung dieses Schutzmittels im Zunehmen? —
Dera.
Tagesnachrichten.
Das Reichs - Seuchengesetz wird nach Mittheilungen aus Berliu
zunächst vollständig umgearbeitet werden, und zwar unter Berücksichtigung der
inzwischen aus ärztlichen Kreisen hervorgegangenen Bedenken. Ob der Entwurf
dann den bestehenden ärztlichen Vertretungen unterbreitet wird, ist noch nicht
entschieden, dagegen wird er voraussichtlich so frühzeitig veröffentlicht, dass
eine allgemeine Kenntnissnahme und Beurtheilung des so wichtigen Gesetzes
ermöglicht wird.
Gelegentlich des XI. internationalen medizinischen Kongresses in
Rom ist eine medizinisch-hygienische Ausstellung in Aussicht ge¬
nommen. Um eine würdige Vertretung der deutschen Medizin auf derselben
herbeizuführen, hat sich in Berlin ein Comite gebildet, das an alle Aerzte und
insbesondere an die Vorstände der wissenschaftlichen Institute die Bitte richtet,
für die Ausstellung geeignete Gegenstände, Zeichnungen, Photographien, Präparate,
Apparate, nach Rom zu senden. Das Kaiserliche Gesundheitsamt hat sich bereit
erklärt, die Sammelstelle für die Ausstellungsgegenstände zu bilden, den Hin-
und Rücktransport, die Verzollung, Versicherung und Aufstellung unter sach¬
verständiger Leitung zu übernehmen. Anmeldungen sind dorthin baldmöglichst
zu richten unter Mittheilung des beanspruchten Platzes (Boden, Wände, Tisch¬
fläche oder Raum in zur Verfügung stehenden Schränken) und unter Beifügung
der für den Ausstellungskatalog bestimmten speziellen Angaben.
Desgleichen ist ein zweites Comit6 zusammen getreten, um auf dem Kon¬
gresse die deutsche medizinische Litteratur in ihrer neueren Entwickelung
bis zur Gegenwart vollständig in Anschauung zu bringen. Der Geschäftsausschuss
dieses, fast nur aus Professoren bestehenden Comit6s besteht aus den Herren
Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Virchow, Geh. San.-Rath Dr. Guttmann, Prof.
Dr. Guttstadt, Dr. Weyl und Privatdozent Dr. Posner in Berlin.
Programm der vom 11.—15. September d. J. in Nürnberg statt-
flndenden 65. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher
und Aerzte.
A. Allgemeine Tagesordnung.
Sonntag, den 10. September, Abends 8 Uhr: Begrüssung in
den obereu Räumen der „Gesellschaft Museum“ (mit Damen).
Tagesnachrichtcn.
387
Montag, den 11. September, Morgens 9 Uhr: I. Allgemeine
Sitzung im Saale des Industrie- nnd Kultur-Vereins. 1. Eröffnung der Ver¬
sammlung; Begrüssungen und Ansprachen; Mitteilungen zur Geschäftsordnung.
2. Geheimrath Professor Dr. v. Bergmann (Berlin): Nachruf auf die Herren
A. W. v. Hof mann und Werner Siemens. 3. Vortrag des Herrn Geh. Rath
Professor Dr. His (Leipzig): Ueber den Aufbau unseres Nervensystems. 4. Vor¬
trag des Herrn Geh.-Rath Prof. Dr. Pfeffer (Leipzig): Ueber die Reizbarkeit
der Pflanzen. — Nachmittags 3 Uhr: Bildung und Eröffnung der
Abthoilungen. — Abends 6 Uhr: Gesellige Vereinigung in der
„Restanratiou des Stadtparkes“ (Einladung der Stadt Nürnberg).
Dicnstag,den 12. September: Sitzungen derAbtheilungen.
— Abends 6 Uhr: Festmahl im Gasthof zum Strauss.
Mittwoch, den 13. September, Morgens 9 Uhr: II. Allgemeine
Sitzung im Saale des Industrie- und Kultur-Vereins. 1. Vortrag des Herrn
Professor Dr. Strümpell (Erlangen): Ueber die Alkoholfrnge vom ärztlichen
Standpunkt aus. 2. Professor Dr. Günther (München): Palaeontologie und
physische Geographie in ihrer geschichtlichen Wechselwirkung. 3. Geschäfts-
Sitzung der Gesellschaft. — Abends 6 Uhr: Gesellige Vereinigung im
Park der Rosenau.
Donnerstag, den 14. September, Sitzung der Abtheilungen.
Abends 8 Uhr: Festball im „Gasthof zum Strauss“.
Freitag, den 15. September, Morgens 9 Uhr: III. Allgemeine
Sitzung im Saale des Industrie- und Kultur-Vereins. 1. Vortrag des Herrn
Geh. Rath Professor Dr. Hensen (Kiel): Mittheilung einiger Ergebnisse der
Plankton-Expedition der Humboldtstiftung. 2. Vortrag des Herrn Professor
Dr. Hüppe (Prag): Ueber die Ursachen der Gährungen und Infektionskrank¬
heiten und deren Beziehungen zur Energetik. 3. Schluss der Versammlung. —
Nachmittags 2 Uhr: Ausflüge nach Erlangen, Bamberg, nach der Krottenseer
Höhle oder nach der Hubirg bei Pommelsbrunn. — Abends 8 Uhr Zusammen¬
kunft in den oberen Räumen der Gesellschaft Museum.
Samstag, den 16. September, Morgens: Ausflug nach Rothen¬
burg zum „Festspiel“ daselbst.
Wer an der Versammlung Theil nimmt, entrichtet einen Beitrag von
12 Mark, wofür er Festkarte, Abzeichen nnd die für die Versammlung bestimm¬
ten Drucksachen erhält. Mit der Lösung der Festkarte erhält der Theilnehmer
Anspruch auf Lösung von Damenkarten, zum Preise von je 6 Mark.
An den Berathungeu und Beschlussfassungen über Gesellschafts-Ange¬
legenheiten können sich nur Gesellschaftsmitglieder betheiligen, welche ausser
dem Theilnehmerbeitrag noch einen Jahresbeitrag von 5 Mark zu entrichten
haben. Als Ausweis dient die Mitgliederkarte. Nach Beschluss der Vorstand¬
schaft gilt die für das Jahr 1892 bereits gelöste Mitgliederkarte auch für das
Jahr 1893, so dass diejenigen Herren, welche für 1892 ihre Mitgliederkarte
schon gelöst haben, heuer von der Beitragsleistung entbunden sind.
Mitgliedskarten können gegen Einsendung von 5,05 Mark vom Schatz¬
meister der Gesellschaft Herrn Dr. C. Lampe-Vischer in Leipzig jederzeit,
Theilnehmerkartcn gegen Einsendung von 12,25 Mark von dem ersten Geschäfts¬
führer der Versammlung in der Zeit vom 24. August bis 7. September bezogen
werden.
Die drei allgemeinen Sitzungen werden im Saale des Industrie- und Kultur-
Vereins (vor dem Walchthor) abgehalten, die Abtheilungs-Sitzungen in den
Räumen der Industrieschule, des Realgymnasiums, der Kreisrealschule und der
Baugewerkschulc, sämmtlich im Banhofe (Seitenstrasse der Königsstrasse unweit
des Frauenthors).
Die Abtheilungen werden dnreh die einführenden Vorsitzenden eröffnet,
wählen sich aber alsdann ihre Vorsitzenden selbst. Als Schriftführer fungirt der
von der Geschäftsleitung aufgestellte Herr und je nach Wunsch der Abtheilung
der eine oder andere besonders zu ernennende Herr. Eine Ausstellung wissen¬
schaftlicher Apparate, Instrumente und Präparate veranstaltet im eigenen Aus-
stelluugsgebände (Marienthorgraben 8) das Bayerische Gewerbemuseum.
Ein Damen-Ausschuss wird es sich zur Aufgabe machen, die fremden
Damen zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt zu führen und für deren Unter-
388
Tagesnachrichten.
haltung während der Abtheilungssitzungen Sorge zu tragen. Die fremden Damen
werden jetzt schon gebeten, sich rechtzeitig in die auf dem Empfangsbureau
aufliegende Damenliste einzuzeichnen, wobei ein Prospekt über die beabsichtigten
Veranstaltungen abgegeben werden wird.
Das Empfangs-, Auskunfts-, und Wohnungsbureau wird im
Prüfungssaal der Kreisrealschulc (Bahnhof) geöffnet sein am Samstag, den
9. September, Nachmittags von 4—8*/* Uhr; am Sonntag, den 10. September,
von 8 Uhr Morgens bis 12 Uhr Nachts; am Montag, den 11. September, von
8 Uhr Morgens bis 8 Uhr Abends.
Voransbestellungeu von Wohnungen in Gasthöfen sowie von
Privat wohn ungen — ohne oder gegen Bezahlung — nimmt der Vorsitzende des
Wohnungsausschusses, Herr Kaufmann J. G a 11 i n g e r (Burgstrassc 8), von jetzt
an entgegen.
Das Tageblatt, welches jeden Morgen im Empfangsbureau ausgegeben
wird, wird die Liste der Theilnehmer mit Wohnungsangabe in Nürnberg, die
geschäftlichen Mittheilungen der Geschäftsführer und des Vorstandes, die Tages¬
ordnung der Abtheilungssitzungen etc. etc. enthalten.
Die Berichte über die gehaltenen Vorträge werden in den Verhand¬
lungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Aerzte veröffentlicht. Die
Herren Vortragenden, sowie die an der Diskussion Betheiligten werden ersucht,
ihre Manuskripte deutlich mit Tinte und nur auf eine Seite der Blätter zu
schreiben und dieselben vor Schluss der treffenden Sitzung dem Schriftführer der
Abtheilung zu übergeben. Berichte, welche dem Redaktionsausschuss nach dem
15. September zugehen, haben kein Recht auf Veröffentlichung.
Alle auf die Versammlung oder die allgemeinen Sitzungen bezüglichen
Briefe (abgesehen von Wohnungsbestellungen) sind an den ersten Geschäftsführer,
Medizinalrath Dr. Merkel (Nürnberg, Josephsplatz Nr. 3) zu richten; alle auf
die Abtheilungen bezughabenden Briefe an die einführenden Vorsitzenden der
einzelnen Abtheilungen.
B. Tagesordnung der einzelnen Abtheilungen.
Innere Medizin (Einführender: Krankenhaus - Direktor Medizinal - Rath
Dr. G. Merkel, Josephsplatz 3; Schriftführer: Hofrath Dr. Stepp, Albrecht
Dürer platz 6): 1. Professor Dr. Moritz (München): Beiträge zur Kenntniss
der Magenfunktionen. — 2. Professor Dr. Ritter vonJackseh (Prag): Thema
Vorbehalten. — 3. Privatdozent Dr. Münzer (Prag): Die Bedeutung der Acet-
essigsäure für den Diabetes mellitus. — 4. Geheimrath Professor Dr. Ebstein
(Göttingen): Ueber die Bestimmung der Herzgrösse. — 5. Prof. Dr. Länderer
(Stuttgart): Ueber die Behandlung der Tuberkulose mit Zimmtsäure. — 6. Prof.
Dr. Rosenbach (Breslau): Ueber Krisen bei akuten Krankheiten. — 7. Prof.
Dr. Unverricht (Magdeburg): Thema Vorbehalten. — 8. Privatdozent Dr.
N i c o 1 a i e r (Göttingen): Thema Vorbehalten. — 9. Geheimrath Prof. Dr. Q u.i n c k e
(Kiel): Thema Vorbehalten. — 10. Professor Dr. v. Me ring (Halle a. S.): Ueber
die Funktion des Magens. — 11. Sauitätsrath Dr. Aufrecht (Magdeburg): Die
Behandlung der akuten parenchymatösen Nephritis. — 12. Professor Dr. S t i n t z i n g
(Jena): Thema Vorbehalten. — 13. Professor Dr. Strümpell (Erlangen):
Thema Vorbehalten. — 14. Geheimrath Professor Dr. Senator (Berlin): Ueber
akute Polymyositis. — 15. Professor Dr. Penzoldt (Erlangen): Thema Vor¬
behalten. — 16. Professor Dr. Leichtenstern (Köln): Ueber Kehlkopf¬
erkrankungen a) im Diabetes mellitus (Furunculosis laryngis), b) bei der
Polyarthritis rheumatica. — 17. Geheimrath Professor Dr. v. Ziemssen
(München): Ueber einige Beziehungen zwischen Lungen- und Nierenerkrankungen.
— 18. Professor Dr. Bauer (München): Thema Vorbehalten.— 19. Privatdozent
Dr. Rieder (München): Thema Vorbehalten. — 20. Professor Dr. Müller
(Marburg): Ein Beitrag zur Kenntniss der Infektionskrankheiten. — 21. Prof.
Dr. Käst (Breslau): Ueber urämische Hautausschläge. — 22. Dr. Rosiu (kgl.
Universität«-Poliklinik Berlin): Ueber Epilepsie im Gefolge von Herzkrank¬
heiten. — 23. Hofrath Dr. Stepp (Nürnberg): Zur Behandlung des Magen¬
geschwüres. — 24. Medizinalrath Dr. G. Merkel (Nürnberg): Die Nürnberger
Staublungen. —
Tagesnachrichten.
389
Chirurgie (Einführender: Krankenhaus - Oberarzt Dr. Gösch el, Josephs¬
platz 6; Schriftführer: Dr. Carl Koch, Lorenzerplatz 17): 1. Privatdozent Dr.
v. Bttngncr (Marburg): Kastration mit Evnlsion des vas deferens. — 2. Dr.
Kronacher (München): Wunddreinage und Dauerverband. — 3. Sanitätsrath
Dr. Heusner (Barmen): Zur Behandlung der Oberarmbrüche. Demonstrationen
orthopädischer Apparate. — 4. Professor Dr. Heinecke (Erlangen): Ueber die
Operation des Mastdarmcarcinoms. Demonstration interessanter Fälle in der
Erlanger Universitätsklinik. — 5. Professor Dr. Länderer (Leipzig): a) Zur
Chirurgie des Magens, b) Zur chirurgischen Plastik. — 6. Professor Dr. Graser
(Erlangen): Unfall als Ursache von Entzündungen und Gewächsen. — 7. Dr.
W. Müller (Aachen): Zur Operation grosser Mesenterialtumoren mit De¬
monstration von Präparaten. — 8. Professor Dr. Bruns (Tübingen): Ueber den
Gehverband bei Frakturen und Operationen an den unteren Extremitäten. —
9. Professor Dr. Riedinger (Würzburg): Zur Frage der Periostitis albuminosa.
— 10. Dr. He in lein, prakt. Arzt (Nürnberg): Beiträge zur Nervenchirurgie. —
11. Professor Dr. Tillmanns (Leipzig): Thema Vorbehalten. — 12. Medizinal¬
rath Dr. Lindner (Berlin): Thema Vorbehalten. — 13. Privatdozent Dr. Hoffa
(Wilrzburg): a) Beiträge zur Lehre und Behandlung des Plattfusses. b) De¬
monstration der Operation der angeborenen Hüftgelcnksluxation. (Operation in
einer hiesigen Klinik.) — 14. Professor Dr. Helfe rieh (Greifswald): Ueber
Kuochenusur. — 15. Dr. Beely (Berlin): Beitrag zur mechanischen Behandlung
des Plattfusses. — 16. Professor Dr. Garr6 (Tübingen): Ueber Acthemarkosen.
— 17. Oberarzt Dr. Göschei (Nürnberg): Thema Vorbehalten. — 18. Dr. Carl
Koch (Nürnberg): Thema Vorbehalten. — 19. Dr. Dörfler, prakt. Arzt
(Wcisscnburg a. S.): Zur Frühoperation des Jleus; Kasuistisches aus der
Landpraxis. —
Gebnrtshülfe nnd Gynäkologie (Einführender: Dr. W. Merkel,
Karlsstrasse 3; Schriftführer: Dr. Simon, Spittlerthorgraben 47): 1. Professor
Dr. Frommei (Erlangen): Thema Vorbehalten —2. Professor Dr. Döderlein
(Leipzig): Thema Vorbehalten. — 3. Dozent Dr. Dührssen (Berlin): Thema
Vorbehalten. — 4. Dozent Dr. Hasenfold (Franzensbad): Ueber Bade- und
Brunnenkuren bei Schwangeren. — 5. Dr. A. Theilhaber (München): Be¬
ziehungen gastro-intestinalen Störungen zu den Erkrankungen des weiblichen
Geuital-Apparates. — 6. Dr. Simon (Nürnberg): Ueber einige seltenere Miss¬
bildungen und ihre Behandlung.
Kinderlieilknnde (Einführender: Hofrath Dr. Cnopf son., Karolinen¬
strasse 29; Schriftführer Dr. R. Cnopf, St. Johanuisstrasse 1): I. Ueber Cholera:
Referent: Dr. Happe (Hamburg); Korreferent Dr. Poza (Hamburg). II. Die
öffentliche Fürsorge für stotternde und stammelnde Kinder: Referent: Dr.
II. Gutzmann (Berlin); Korreferent: Dr. R. Kafcmann (Königsberg i. Pr.).
An einzelnen Vorträgen sind ferner gemeldet: 1. Professor Kassowitz (Wien):
Ueber den gegenwärtigen Stand der Dentitions-Krankheiten. — 2. Dr. R. Fischei
(Prag): Ueber die Aetiologie der Gastrointestinalkatarrhe im Prager Findelhaus.
— 3. Professor Soltmann (Breslau): Thema unbestimmt. — 4. Dr. H. Rehn
(Frankfurt a. M.): Die Influenza-Epidemie von 1890/91 und 1891/92 im Kindes¬
alter. — 5. Dr. Meinert (Dresden): Zur Aetiologie der Chlorose. — 6. Dr.
De ich ler (Frankfurt a. M): Demonstration der Keuchhusten - Protozoen. —
7. Oberstabsarzt Dr. E. Reger (Hannover): Demonstration graphischer Dar¬
stellungen von Epidemien von Infektionskrankheiten. — 8. Dr. Schmid-
Monnard (Halle a. S.): Thema noch nicht bestimmt. — 9. Prof. Dr. v. Ranke
(München): Sammelforschung über Intubation. — 10. Prof. Dr. Wiss (Zürich):
Ueber die Entstehung angeborener Defekte.
Neurologie und Psychiatrie (Einführender: Oberarzt Dr. Schuh,
Obstmarkt 28; Schriftführer: Dr. Stein, Steinbühlerstrasse 10): 1. Privat¬
dozent Dr. Sommer (Würzburg): Anatomischer Befund bei einer in allgemeinem
Spasmus, klonischen Zuckungen und Incoordination sich äussernden Nervenkrank¬
heit sui generis. — 2. Professor Dr. Eulenburg (Berlin): Ueber Erythro-
melalgie. — 3. Professor Dr. Ziehen (Jena): Thema Vorbehalten. — 4. Prof.
Dr. Strümpell (Erlangen): Ueber hereditäre Systemerkrankungen. — 5. Prof.
Dr. Mendel (Berlin): Zur Pathologie der Epilepsie. — 6. Prof. Dr. v. Monakow
(Zürich): Zur Lehre von den sekundären Degenerationen im Gehirn. — 7. Nerven-
390
Tagesnachrichten.
arzt Dr. Szumann (München): a) Thema Vorbehalten, b) Demonstration des
Universalkommutators in Funktion. — 8. Nervenarzt Dr. 0. Stein (Nürnberg):
Thema Vorbehalten. — 9. Oberarzt am Sebastianspital Dr. Schuh (Nürnberg):
Thema Vorbehalten.
Hygiene and Medizinalpolizei (Einführender: Hofrath Dr. Stich,
Adlerstrasse 6; Schriftführer: Prakt. Arzt Dr. Goldschmidt, Weiumarkt 12):
1. Privatdozent Dr. Czaplavski (Tübingen): Ueber Aktinomyces.— 2. Privat¬
dozent Dr. Dcgener (Braunschweig): Ueber den gegenwärtigen Stand der
Abwasserfrage beziigl. der Städte und Industrie. — 3. Landgerichtsarzt Dr.
Dernuth (Frankenthal): Zur Frage des Eiweissbedarfes bei der Ernährung des
Menschen. — 4. Geheimrath Professor Dr. Finkelnburg (Bonn): Ueber
psychiatrische Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege. — 5. Professor
Dr. Hüppe (Prag): Thema Vorbehalten. — 6. Professor Dr. Koch (Brann-
schweig): Die Entwickelung des Jugendspieles in Deutschland. — 7. Dr. Th.
Oppler (Nürnberg): Mittheilungen aus dem Gebiete der Gewerbe-Hygiene mit
Demonstrationen. — 8. Professor Dr. Rosenthal (Erlangen): Ueber Kalorie
metrie an Thieren. Mit Demonstrationen und Versuchen. — Demonstrationen an
Aparaten. (Dieser Vortrag wird in gemeinschaftlicher Sitzung der physiologischen
und hygienischen Sektion am Freitag im physiologischen Institut zu Erlangen
gehalten werden.) — 9. Geheimrath Obermedizinalrath Dr. von Kerschen¬
ste i n e r (München): Die Hygiene der Treppen und des Treppenhauses. —
10. Bezirksarzt Dr. Schäfer (Kaisheim): Mittheilungen über die früheren und
jetzigen Infektions-Krankheiten im Zuchthause Kaisheim. — 11. Geheimer
Sanitätsrath Dr. Wallichs (Altona): Zu den Todesfällen im Wochenbett. —
12. Ministorialrath a. D. Dr. Wasserfuhr (Berlin): Zum Reichsseuchengesetzc.
— 13. Dr. Th. Weil (Berlin): Ueber Müllbeseitigung. — 14. Prof. Dr. Wolff-
h ü ge 1 (Göttingen): Thema Vorbehalten. — 15. Medizinalrath Dr. Wo 11 n e r
(Fürth): Ueber die Fürther Industriezweige und deren Schattenseiten; Queck¬
silber- und Silberbelege, Bronzefabrikation, Spiegelglasschleiferei mit Facetier-
werken. — 16. Seminarlehrer Dr. Stimfl (Bamberg): Die Beziehungen der
Physiologie zur Pädagogik, gemeinsam mit den Abtheilungen 9, 10 und 30 am
Donnerstag Nachmittag 2'/ 9 Uhr. — 17. Professor Dr. C. Fränkel (Marburg):
Thema Vorbehalten — 18. Privatdozent Dr. Prausnitz (München): Thema
Vorbehalten. — 19. Professor Dr. Wolpert (Nürnberg): Ueber Bestimmung
der Luftfeuchtigkeit mit Hülfe der Waage. — 20. Dr. Gold Schmidt (Nürn¬
berg): Ueber Milzbranderkrankungen bei Arbeitern der Pinselindustrie. —
21. Dr. Sigm. Merkel, Physikatsassistent (Nürnberg): Experimentelle Studien
über Milzbrand in der Nürnberger Pinselindustrie. — 22. Geh. Medizinal-Rath
Dr. Krieger (Strassburg i. E.): Theoretische Bemerkungen über die Desinfektion
durch Wasserdampf. — 23. Dr. Niederstadt (Hamburg): a) Die bakteriologi¬
sche Beschaffenheit des Wassers um Hamburg herum; b) Milchversorgung für
grössere Städte. — 24. Sanitätsrath Dr. Biedert (Hagenau i. E.): Demonstration
des Pann witz’sehen Desinfektions - Apparates und Verschlüsse. —
Gerichtliche Medizin (Einführender: Königl. Landgerichtsarzt Dr. Hof¬
mann, Fürtherstrasse 53; Schriftführer: Dr. Steinheimer, Gostenhofer
Hauptstrasse 5): 1. Professor Dr. Seydel (Königsberg): a) Ueber die Er¬
scheinungen an nach Suspension und Strangulation Wiedcrbelebter und deren
Bedeutung für den Gerichtsarzt. — b) Thema Vorbehalten. — 2. Professor
Dr. R e u b o 1 d (Würzburg): a) Demonstration von Schädelbrücheu. b) Bemerkungen
zurGeschichte der gerichtlichen Medizin. — 3. Dr L epp mann (Berlin): Das
Tätowiren in seiner kriminalpsyologischen und krimiualpraktischcn Bedeutung. —
4. Professor Kratter (Graz): Ueber Gewaltsame Todesveranlassuugen. — Kgl.
Bezirksarzt Dr. Maurer (Erlangen): Zur Diagnose postmortaler Verletzungen
an menschlichen Leichen durch Thierc mit Demonstrationen und Abbildungen. —
Medizinische Geographie, Kli i.atologie, Hygiene der Tropen (Ein¬
führender : Dr. B a u ra ü 11 e r, prakt. Arzt, Tuchgasse 1; Schriftführer: Dr.
Schrenk, prakt. Arzt, Fleischbrücke 1): 1. Dr. Be low (Cönnern): Ueber das
Gesetz der äquatorialen Selbstregulirung der Organismen hinsichtlich der Akkli¬
matisation und Artcnbildung. — 2. W. Krebs (Halle a. S.): Grandwasser und
Bodenverhältnisse einiger Städte in gesundheitlicher Beziehung. — 3. Stabsarzt
Dr. Sander: a) Die Viehseuchen in Afrika und Mittel zu ihrer Bekämpfung.
Tugesnachrichton.
301
b) Vorläufige Berichterstattung über die Aussendung der tropenhygienischen
Fragebogen durch die deutsche Kolonial-Gesellschaft.— 4. Stabsarzt Dr. K o hi¬
st ock: Ueber Malariaerkrankungen, ihren Blutbefund und ihre Behandlung.
Militär - Sanitätswesen (Einfahrende: Oberstabs- und Divisionsarzt
Dr. Gassner, Arndtstrasse 4; Oberstabsarzt Dr. Miller, Hübnerplatz 5;
Schriftführer: Assistenzarzt l. Klasse Dr. Webersberger, Praterstrasse 21):
1. Oberstabsarzt I. Klasse Dr. Hasse (Berlin): Thema Vorbehalten. — 2. Ober¬
stabsarzt II. Klasse Dr. Reger (Hannover): a) Der Militärarzt im Dienste der
Epidemiologie, b) Die Fortpflanzung der durch Eiterkokken bedingten Krank¬
heiten. c) Die ewige Krankheit, eine epidemiologische Betrachtung. — 3. Direktor
Dr. J. L. A. Koch (Zwiefalten): Die Bedeutung der psychopathischen Miuder-
werthigkeiten für den Militärdienst. — 4. Assistenzarzt I. Klasse Dr. E. Jacoby
(Würzburg): Demonstration einer selbstkonstruirten (fahrbaren) Tragbahre. —
5. Hessing, Direktor des orthopädischen Instituts (Göppingen): Demonstration
neuartiger Kriegsverbände.
Cholera. Die Nachrichten über das Auftreten der Cholera in Frank¬
reich sind nach wie vor sehr ungenau. Bis Mitte Juli sollen in Südfrankreicb
758 Personen der Seuche erlegen sein, davon in Marseille 278, im Departe¬
ment Herault 193. In Nantes sind vom 1.—10. Juli 25 choleraverdächtige
Erkrankungen mit 13 Todesfälle vorgekommen.
Aus den Niederlanden wird ein Cholerafall in Hertogenbosch ge¬
meldet.
In Oesterreich bezw. Ungarn sind keine der Cholera verdächtigen
Erkrankungen in den letzten Wochen zur Anmeldung gelangt; auch in Spanien
hat die Cholera keine weitere Ausbreitung gefunden und sind speziell in Palu-
frugell neue Erkrankungen nicht mehr vorgekommen. Dagegen wird aus
Italien das Auftreten der Cholera inAlessandria (14 Erkrankungen mit 11
Todesfällen) und Neapel gemeldet.
In Russland hat die Seuche in den Gouvernements Podolien und
Orel entschieden zugenommen. Die Zahl der Erkrankungen betrug in der
Woche vom 9.—15. Juli in Podolien 319 (mit 100 Todesfällen), in Orel 96 (40),
in Saratow 17 (6), in Moskau 15 (3).
In Mekka (Arabien) ist mit dem Abzug der Pilger die Zahl der Cholera-
Todesfälle eine sehr geringe geworden; dagegen erreichte dieselbe in Djeddah
noch in der zweiten Juliwoche die Ziffer 1532. In der asiatischen Türkei,
speziell im Villajet Bassora ist die Seuche scheinbar im Erlöschen begriffen.
Preussischer Medizinalbeamtenverein.
Protokoll
der am 28. Juni d. Js. in Berlin abgehaltenen Sitzung des Vorstandes
des Preussischen Medizinalbeamten-Vereins.
Am 29. Juli d. Js. fand in Berlin eine Sitzung des Vorstandes des
Preussischen Medizinalbeamten-Vereins statt, an welcher sämmtliche Mitglieder
desselben tlieilnahmen.
1. Den ersten Punkt der Tagesordnung bildete die endgültige Ver¬
th eilung der Geschäfte unter die einzelnen Vorstandsmitglieder.
Zum Vorsitzenden wurde Regierungs- und Medizinalrath Dr. Rapmund,
zum Schriftführer Kreisphysikus und Sanitätsrath Dr. Philipp gewählt. Die
Geschäfte des Knsseuführers wurden dem Vorsitzenden mit übertragen.
2. Ausführung der Beschlüsse der 10. Hauptversammlung,
a. Zunächst berichtete der Vorsitzende, dass Sonderabdrücke der Ver-
handlangen des Vereins über das Reichsseuchengesetz
392
Tagesnachrichten.
noch vor der ßerathung desselben im Reichstage sämmtlichen Bundes¬
rathsmitgliedern sowie sämmtlichen Mitgliedern des damaligen Reichs¬
tages zugestellt und dass noch so viele Sonderabdrücke zurückbehalten
sind, um wenigstens den demnächstigen Kommissionsmitgliedern des
neugewählten Reichtags für den Fall, dass dieser in die ßerathung
über das Reichsseuchengesetz eintreten sollte 1 ), je ein Exemplar der
Verhandlungen zusenden zu können.
b. Der Vorsitzende wird beauftragt, dem Herrn Minister die Verhand¬
lungen der diesjährigen Hauptversammlung persönlich zu überreichen
und demselben hierbei gleichzeitig dem von der Versammlung ein¬
stimmig angenommenen Beschlüsse gemäss (cfr. Seite 66 der Verhand¬
lungen) den Dank des Vereins für die den Medizinalbeamten gezollte
Anerkennung auszusprechen und die Ansichten und Wünsche des Ver¬
eins in Bezug auf die Medizinalreform, insbesondere auf die amtliche
Stellung der Kreisphysiker vorzutragen 1 ).
c. Es wird beschlossen, dem Herrn Minister eine Eingabe zu überreichen,
die im Sinne des Beschlusses des Vereins (cfr. Seite 140 der Verhand¬
lungen) die Regelung der Gebührenfrage für Ausstellung von Gut¬
achten über den Gesundheitszustand von Beamten bezweckt.
d. Der weitere Beschluss des Vereins über die den Medizinalbeamten für
Untersuchung von Personen in ihren eigenen Wohnungen zu gewähren¬
den Gebühren wurde durch den Beschluss des Reichsgerichts vom
6. Februar d. Js. als erledigt angesehen.
3. Die Frage, ob im Herbst nochmals eine Hauptversammlung abgehalten
werden soll, wurde einstimmig verneint. Dabei wurde gleichzeitig die Frage in
Erwägung gezogen, ob es nicht zweckmässiger sei, die Hauptversammlungen
immer im Frühjahr, im Anschluss an den Chiurgenkongress, statt im Herbst
abzuhalten. Die Vereinsmitglieder werden gebeten, ihre Ansichten in dieser
Hinsicht dem Vorstande kund zu geben.
4. Seitens des Vereins Deutscher Hebammen war dem Vorstände der Ent¬
wurf einer Petition an den Herrn Minister um organisatorische Aende-
rungen des gesammten Hebammenwesens mit der Bitte zugegangen,
denselben gelegentlich der diesjährigen Hauptversammlung einer Besprechung zu
unterziehen. Da dies wegen der Fülle des Materials unmöglich gewesen war,
so soll dieser Gegenstand auf die Tagesordnung der nächsten Hauptversammlung
gesetzt werden.
5. Auf Antrag des Vorsitzenden wurde die Uebernahme der Kosten für
einzelne Prozesse und für eine Umfrage in Taxangelegenheiten auf die Vereins¬
kasse genehmigt.
6. In Bezug auf die von dem Organisations- Komitee für den XI. inter¬
nationalen, medizinischen Kongress zu Rom ergangene Einladung zum Kongress
hielt der Vorstand eine offizielle Vertretung des Preussischen Medizinalbeamten-
Vereins auf dem Kongresse für dringend erwünscht und da voraussichtlich die
Vorstandsmitglieder Regierungs- und Medizinal-Rath Dr. Wern ich. Geheimer
Sanitäts - Rath Dr. Wallichs, Kreisphysikus und Sanitäts - Rath Dr. Philipp
an dem Kongresse theilnehmen werden, so wurde beschlossen, einen derselben
mit dieser Vertretung zu beauftragen.
Berlin, den 27. Juni 1893.
Dr. Rapmund, Reg.-u. Med.-Rath, Dr. Philipp, Kreisphys. u. San. - Rath,
Vorsitzender. Schriftführer.
*) Das Reichsseuchengesetz ist nicht zur Verabschiedung gelangt.
*) Ist inzwischen geschehen.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W
J. C. C. Bruns, Bachdruckerei, Minden.
6. Jahrg.
Zeitschrift
1893
für
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rathu.gerichtl.Staritphysikus in Berlin. Reg.-und Meduinalrath in Minden.
und
Dr. WILH. SANDER
Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die darehlaufende Petitzeile 46 Pf. nimmt die Yerlagshandlung und Rud. Moese
entgegen.
No. 16.
Erscheint am 1. und 15. jeden Monats.
Preis jährlich 10 Mark.
15. Aug.
Zur Lehre von der Diffusion der Gifte in menschlichen Leichen.
Von Dr. Albin Haberda und Dr. Leo Wachholz.
(Aua dem Institute für gerichtliche Medizin des Herrn Hofrathes
von Hofmann in Wien.)
Strassmann sprach im April d. J. in der Versammlung des
Preussischen Medizinalbeamten-Vereins in Berlin über die Diffusion
von Giften in menschlichen Leichen, und richtete dabei sein Haupt¬
augenmerk auf den Arsenik und die Frage, ob es trotz dieser
Diffusion möglich sei, aus der Vertheilung des Giftes in den ver¬
schiedenen Organen, besonders in jenen, die dem Magen an- oder
zunächstliegen, mit Sicherheit im einzelnen Falle zu entscheiden,
ob das Gift in den lebenden Organismus gebracht und resorbirt
oder der Leiche einverleibt worden und dann diffundirt sei.
Zum Schluss seines Vortrages meint Strassmann mit
vollem Rechte, „dass uns die Lehre von der Diffusion an der
Leiche ein umfangreiches und kaum so leicht zu erschöpfendes
Arbeitsgebiet eröffnet, in dem jede Theilnahme und Unterstützung
auch durch gelegentliche Beobachtungen dankbar zu begrüssen
sein wird.“ Derartige hauptsächlich experimentelle Beobachtungen,
die wir über Anregung unseres hochverehrten Lehrers, des Herrn
Hofrathes von Hofmann, in letzter Zeit gemacht haben, wollen
wir hiermit als kleinen Beitrag zu der vorerwähnten Lehre der
Öffentlichkeit übergeben.
Namentlich im Hinweise auf die Literatur hat Strassmann
nachgewiesen, dass es nicht müssig sei, derartige Untersuchungen
anzustellen, da die daraus gewonnenen Sätze im gegebenen Falle
vor grossen Irrthiimern bewahren können. Liman’s 1 ) Ansicht,
') (Jasper-Liraan: Praktisches Handbuch der gerichtlichen Medizin,
II. Aull., 2. Bd., S. 405.
894
Dr. Haberda.
dass eine Leichen vergiftung weder zufällig noch aus nichts würdiger
Bosheit Vorkommen dürfte und dass die Umstände des konkreten
Falles wohl Licht geben würden, ist durch die von Strass-
mann citirten Fälle von Reese und Prescot längst widerlegt.
Die Frage, ob das Gift sicher noch dem lebenden Organismus
einverleibt worden war, kann eben bei vielen Gelegenheiten auf¬
geworfen werden. Eine derselben erwähnt Kobert in seinem
„Lehrbuch der Intoxikationen“, indem er daselbst S. 83 sagt, dass
es möglich wäre, dass ein Verbrecher, der sein Opfer erwürgt hat,
der Leiche Gift einflösst, um den Schein eines Selbstmordes zu
erwecken. Man kann sich ganz leicht auch noch ähnliche Mög¬
lichkeiten konstruiren und wenn man bedenkt, mit welchen Ein-
würfeu oft der Vertheidiger im Gerichtssaal dem sachverständigen
Gutachten entgegentritt, so erkennt man erst, wie das scheinbar
Unwichtigste in unseren Kenntnissen oft eine entscheidende Rolle
zu spielen Gelegenheit findet.
Dass die Säuren durch die Magen- und Darmwand post mortem
diffundiren, ist schon längst sehr wohl bekannt und dürften sich
in dieser Hinsicht die organischen Säuren wohl den mineralischen
ziemlich gleich verhalten und der Unterschied nur ein gradueller
sein, der von der Stärke der Wirkung der Säure auf das Gewebe
überhaupt abhängt. Ob sich an menschlichen Leichen solche
Diffusionserscheinungen gewöhnlich nach Oxalsäure Vergiftung vor¬
finden, ist uns aus eigener Erfahrung nicht bekannt, da diese Ver¬
giftungen als Selbstmord hier nicht Vorkommen. In dem einzigen
im Wiener gerichtlich - medizinischen Institute secirten Falle einer
zufälligen tödtlichen Vergiftung mit l / 2 Kaffeelöffel Oxalsäure, die
statt Bittersalz einem Kranken gereicht worden war, fand sich
bei der wenige Stunden nach dem Tode gemachten Sektion eine
schwache, doch deutliche, auf Diffusion beruhende Anätzung der
Leber und Milz. In dem Sektionsbefunde heisst es: „Die Unter¬
fläche des linken Leberlappens oberflächlich weissgrau getrübt,
die Milz schlaff, von mittlerem Blutgehalt, an der Innenfläche
leicht getrübt.“ Bei mehreren zu anderen Zwecken mit Oxal¬
säure vergifteten Thieren konnte diese Anätzung der Nachbar¬
organe ungemein deutlich wahrgenommen werden- So an der
Leiche eines nur wenige Monate alten Kaninchens, dem mit¬
telst Schlundsonde etwa 10 g einer starken Oxalsäurelösung
beigebracht worden waren und das der Vergiftung nach 5 Minuten
erlag. Die Sektion wurde 48 Stunden nach dem Tode gemacht
und zeigte neben dem gewöhnlichen Befund am Magen und an
der Speiseröhre, dass die dem Magen anliegenden Leberpartien
sowie die Milz auffallend morsch und kaffeebraun waren; auch das
hinterste Drittel sämmtlicher Lungenlappen war schmutzigbraun
und zunderartig morsch.
Dass die Diffusion auch bei Karbolsäure vorkommt, war uns
nach eigenen Erfahrungen längst bekannt, während Strass mann,
wie er in dem citirten Vortrage sagt, erst einmal einen derartigen
Befund bei Karbolsäure-Vergiftung vorfand und die betreffenden
Organe deshalb auch bei jenem Vortrage demonstrirte. Im hiesigen
Zur Lehre von der Diffusion der Gifte in menschlichen Leichen. 395
Institute kommen Karbolsäure-Vergiftungen sowohl als Selbst¬
morde wie auch als zufällige Vergiftungen in jedem Jahre mehrmals
zur Sektion. Hierbei finden sich nicht selten die Nachbarorgane
des Magens theilweise angeätzt. Wir greifen zuerst den letzten
derartigen Fall heraus: Er betrifft ein 21 Monate altes Kind, das
eine aus Karbolsäure bestehende Wanzentinktur, die unverwahrt
stehen geblieben war, ausgetrunken hatte. Die gerichtliche Sektion
der Leiche wurde am 6. Mai d. J., 40 Stunden nach dem Tode
des Kindes, von Herrn Hofrath von Hofmann vorgenommen,
ln den Brustfellsäcken fanden sich je 100 g einer bräunlichen
klaren Flüssigkeit mit Karbolsäuregeruch. Der Unter lappen
der linken Lunge weissgrau verfärbt, wie gekocht
und stark nach Karbolsäure riechend; derselbe Befund, jedoch
geringer, an der rechten Lunge. Die dem Magen anliegende
Fläche der Leber wie gekocht und grauröthlich verfärbt;
die Milz an der Innenfläche ebenfalls wie gekocht.
Die Nieren waren nicht verändert. Im Magen ergab sich der
typische Befund. —
Zum Beweise unserer Behauptung führen wir nur noch zwei
Fälle aus früheren Jahren an: Bei einer 29 Jahre alten geistes¬
kranken Baronin, die ihre zur Vaginalausspülung bestimmte Karbol¬
säurelösung getrunken und sich überdies aus dem Fenster ge¬
stürzt hatte, zeigte die Sektion, dass die dem Magen anliegende
Fläche der Leber bis auf 1 cm Tiefe wie gekocht und
blassziegelroth war. In gleicher Weise war auch die
Innenfläche der Milz verändert. Das Blut in den Milz-
gefässen erwies sich in eine feste ziegelrothe Masse verwandelt.
Der weitere Fall betrifft einen 41 Jahre alten Geisteskranken,
der in der Irrenanstalt eine aus Nachlässigkeit seines Wärters
unverwahrt gebliebene Flasche mit konzentrirter Karbolsäurelösung
geleert hatte. Bei der gerichtlichen Obduktion wurde gefunden,
dass das Bauchfell an der Unterfläche des linken Leberlappens
und ebenso die darunter gelegene Lebersubstanz auf 3 mm Tiefe
wie gekocht aussah. Der Ueberzug der Milz an deren Innen¬
fläche war bleichgrau getrübt.
In ähnlicher Weise wie Säuren und Alkalien diffundirt auch
das Sublimat. In Fällen, die erst nach einigen Tagen tödten,
findet man auf Diffusion des Giftes basirende Organveränderungen
nicht, wohl aber bei akuten Vergiftungen, v. Hofmann erwähnt
dies in seinem Lehrbuche, indem er anführt, dass er diese Imbi¬
bition an den Leichen zweier Selbstmörder beobachtet hat. Diese
Beobachtung stammt aus dem Jahre 1888 und betrifft die Leichen
einer 58jährigen Frau und ihres Sohnes. Beide haben sich nach
Genuss einer Sublimatlösung durch Schnitte in den Hals und die
Beugeseite der Handgelenke getödtet. In Folge des raschen Todes
fand sich die Giftlösung noch in grosser Menge im Magen vor
und konnte sich daher leicht imbibiren. Die Sektion beider
Leichen wurde 2 Tage post mortem gemacht. Bei der Frau fanden
sich die dem Magen anliegenden Partien der Leber auf 1 mm Tiefe
weissgrau getrübt, wie gekocht; ebenso der Ueberzug der Milz;
396
Dr. Haberda.
bei ihrem Sohne war die Unterfläche des linken Leberlappens
oberflächlich weissgrau getrübt, desgleichen die Innenfläche der
kleinen und schlaffen Milz. Dass es uns auch experimentell gelang,
die Diffusion von Sublimat zu beobachten, soll später erwähnt werden.
Unsere Versuche wurden an frischen Kinderleichen in der
Weise angestellt, dass wir mit einem Längsschnitt in der Mittel¬
linie des Halses die Speiseröhre blosslegten und aufschlitzten und
nun einen dünnen Kautschukschlauch bis in den Magen einführten.
Nunmehr wurde der Magen mit destillirtem Wasser ausgespült
und danach von der betreffenden Lösung so viel eingegossen, dass
sich der gefüllte Magen deutlich im Epigastrium vorwölbte. Dann
wurde die Sonde langsam herausgezogen, die Speiseröhre sorgfältig
ligirt und die Hautwunde vernäht. Anfänglich hatten wir die
Leichen auf Blechtassen im Institut bei Zimmertemperatur liegen,
später bewahrten wir sie, um die Fäulniss zu verzögern, im Eis¬
keller auf und schlugen sie überdies in mit Sublimatlösung be¬
feuchtete Tücher ein. Die Leichen lagen theils auf dem Rücken,
theils suspendirten wir sie am Halse oder an den Füssen, oder
wir fixirten sie in rechter Seitenlage.
Die verwendeten Substanzen waren Cuprum sulfuricum, Sub¬
limat und KaliuÄ chloricum in starken Lösungen, Nitrobenzol und
Phosphor. In einer weiteren Versuchsreihe verwendeten wir saure
Lakmuslösung und wässerige konzentrirte Methylenblaulösung.
Die Kupfervitriollösung diffundirte ungemein rasch, so
dass man schon nach 24 Stunden eine deutliche blaugrünliche Ver¬
färbung der Bauchdecken in der Nähe des Nabels bei einer auf dem
Rücken liegenden Leiche beobachten konnte. Diese breitete sich
immer mehr aus, so dass am dritten Tage die ganze linke Seite
der Bauchdecken von der 7. Rippe bis zur Symphyse und von der
Mittellinie bis zur linken vorderen Skapularlinie bläulichgrün ver¬
färbt war. Die Sektion wurde am dritten Tage gemacht: Im
Bauche war eine geringe Menge einer grünlichen Flüssigkeit, in
welcher sich chemisch Kupfer nachweisen liess. Der Magen ziem¬
lich stark ausgedehnt, seine Wand in der ganzen Ausdehnung grün
und brüchig. Sämmtliche Dünn- und Dickdarmschlingeu mit Aus¬
nahme des Coecums und Rectums grünlich gefärbt. Auch ein 1 cm
langes Stück an der Flexura coli hepatica ungefärbt. Die Leber
nicht nur in dem dem Magen anliegenden linken Lappen, sondern
auch rechts an der Unterseite blassgraugrün und morscher; des¬
gleichen die Milz fast bis zu ihrer Aussenseite. Auch das Pan¬
kreas ist in gleicher Weise verändert. Die ganze linke Hälfte
des Zwerchfells und durch dieses hindurch der Unterlappen der
linken Lunge von der Basis bis auf 1 cm Tiefe brüchig und grün¬
braun. Das Peritoneum der Rückwand und zwar auf beiden
Seiten fast gleich stark grün. Die linke Niere bis aut die laterale
Hälfte der Vorderfläche, die rechte bis auf den unteren
Pol grün. Im Jejunum grünliche Flüssigkeit, die die Kupfer¬
reaktion giebt. Auch die linken untersten Rippen, das Zellgewebe
hinter dem Oesophagus, die Hiluspartien der Lungen sowie die
Hinter-Unterwand beider Herzvorhofe grünlich.
Zu i Lehre von der Diffusion der Gifte in menschlichen Leichen. 397
Ganz ähnlich war das Sektionsergebniss in einem im Mai d. ,T.
von dem einen von uns (Wachholz) in Krakau secirten Falle
von Selbstmord mittelst einer starken Lösung von
schwefelsaurem Kupfer. Die Frau war bald nach der Ein¬
nahme des Giftes an Glottisödem gestorben. Die 24 Stunden nach
dem Tode gemachte Sektion ergab: Der Magen, die ihm anliegen¬
den Darmschlingen und die Innenfläche der Milz grünblau gefärbt;
ebenso die Unterfläche und ein 1—2 cm breiter Randstreifen von
der Oberfläche des linken Leberlappens. Die linke Zwerchfellhälfte
und das Zellgewebe über der Vorderseite der Brustwirbelsäule
waren in gleicher Weise grünlich gefärbt. Die Magenschleimhaut
war trocken, wie gekocht und brüchig; ebenso die Schleimhaut
im Duodenum. Das Blut im Herzen und den Gefässen war flüssig.
Bei den Versuchen mit Sublimatlösung Hessen wir die
Leichen längere Zeit liegen, da wir voraussetzten, dass die Fäul-
niss der mit dem Sublimat in Berührung gekommenen Theile nur
langsam fortschreiten werde. Eine Leiche verbHeb in horizontaler
Rückenlage. Schon am Tage nach der Einführung des SubUmats
trat in Folge Fäulniss eine leichte Grünfärbung der Brust- und
Bauchhaut auf, doch ein halbhandflächengrosser Fleck über und
unter dem linken Rippenbogen, der nach links bis zur hinteren
Axillarlinie, nach rechts nicht ganz bis zur Mittellinie reichte, stach
durch seine grauweisse Farbe ab. In den folgenden Tagen wird
diese Stelle durch den Kontrast gegen die zunehmende Grün¬
färbung der Umgebung noch deutlicher und bleibt es auch, während
sich am vierten Tage bereits Fäulnissemphysem in der umgebenden
Haut zeigt und unter der Leiche stinkendes schmutzigrothes Serum
sich ansammelt. Am 7. Tage wimmeln Mund, Nase und Augen
bereits von Fliegenmaden. An diesem Tage wird die Sektion
gemacht. Sie zeigt, dass die grauweisse Hautpartie durch die
ganze Dicke hindurch die gleiche Farbe zeigt, während die Haut
der Umgebung am Durchschnitt faulgrün gefärbt ist. Der Magen
ist stark gefüllt, seine Wandung überall gleichmässig weissgrau
und wie gekocht, desgleichen die ganze Unterseite des linken
Leberlappens, an welchem ein 1 cm breiter Saum entsprechend
dem seitlichen und vorderen Rande durch die ganze Dicke hindurch
verätzt erscheint. Auch die linke Zwerchfellhälfte sowie ein 1 cm
hohes Stück des basalen Antheiles des linken Lungenunterlappens,
die Spitze des zungenförmigen Lappens und die Unterfläche der
linken Herzkammer sind in gleicher charakteristischer Weise ver¬
ändert. Vom Darm zeigt nur die dem Magen anHegende Wand des
Quercolon sowie eine kleine anliegende DünndarmschUnge weiss¬
graue Verätzung. Die Milz ist vollständig hart, brüchig und
blaugrau, desgleichen der obere Pol der linken Niere. Die rechte
Niere und die sonstigen Organe vollständig unverändert, zum
Theil schon von Fäulnissgasen durchsetzt.
In einem zweiten Versuche mit Sublimatlösung hängten
wir die Leiche an den Füssen auf. Auch da bildete sich in der
Gegend des linken Rippenbogens ein über thalergrosser grauweisser
Fleck, der sich trotz Fäulniss der Leiche erhielt. Entsprechend
398
Dr. Haberda.
der Lage der Leiche wurden Kopf, Hals und Thorax grauschwarz,
aus Mund und Nase entleerte sich blutiger Schaum. Schon nach
einigen Tagen runzelte sich die Epidermis und es traten, zuerst
am Thorax und Kopf, mit blutiger Flüssigkeit gefüllte Blasen auf.
Die nach 9 Tagen gemachte Sektion ergab folgende wesentliche
Befunde: Der Magen fast leer, seine Wand wie gekocht. Der
linke Leberlappen und die Innenseite der Milz wie gekocht, grau¬
gelb, ebenso die linke Zwerchfellhälfte. Der linke obere Nieren-
pol in ganz geringem Umfange grauweiss. Das Quercolon, wo es
dem Magen anliegt, weisslich, die anderen Därme faul. Der ganze
linke Lungenunterlappen auffallend frisch, wenn auch ziemlich
weich. Der Oesophagus grauweiss.
In diesem Falle waren demnach die Veränderungen an den
Brustorganen geringer als im vorigen, wiewohl sie nach der Lage
der Leiche ausgebreiteter zu erwarten gewesen wären. Da der
Magen leer befunden wurde, liegt es nahe anzunehmen, dass seine
Füllung nicht gut gelang, oder die Ligatur des Oesophagus nicht
ganz gut hielt.
Minder deutlich waren die Ergebnisse bei Verwendung einer
Lösung von chlor saurem Kali. In der Gegend des linken
Rippenbogens zeigte die Haut eine deutliche Braunfärbung, die
schon nach zwei Tagen gut ausgeprägt war und sich stark von
der grünen Fäulnissfarbe der Umgebung abhob. Die am fünften
Tage gemachte Sektion erwies an Magen, Leber, Milz und Zwerch¬
fell keine sichtbaren Veränderungen. Das blutige Transsudat im
Peritorealraum und im Pericardium erschien uns bräunlich und
zeigte einen schwachen, verschwommenen Methaemoglobinstreifen
im Spectrum. Dagegen liess sich aus dem linken Lungenunter¬
lappen, der vollständig luftleer, dicht und brüchig (also offenbar
pneumonisch verändert) war und dabei eine grünlich braune Farbe
zeigte, durch Auslaugen mit destillirtem Wasser eine milchkaffee¬
farbige Flüssigkeit gewinnen, die spektroskopisch einen starken
und deutlichen Methaemoglobinstreifen aufwies. Möglicher Weise
verdankt derselbe der Einwirkung der diffundirten Lösung des
chlorsauren Kaliums seine Entstehung; denn die in gleicher Weise
aus dem linken Oberlappen und dem rechten Unterlappen ge¬
wonnenen Flüssigkeiten zeigten eine schmutzigrothe Farbe und
das Oxyhaemoglobinspectrum.
Bei Verwendung von Nitrobenzol konnte eine ganz deut¬
liche Diffusion wahrgenommen werden. Es wurde eine Pseudo¬
emulsion von 8 cm 8 Nitrobenzol in 20 cm 8 Wasser in den Magen
eingeführt. Am zweiten Tage zeigte sich leichte Grünfärbung
der Haut. In der Nähe der Leiche ist deutlicher Bittermandel¬
geruch wahrnehmbar. Am vierten Tage wird die Sektion gemacht.
In den Pleurahöhlen sowie im Peritonealraum findet sich etwas
röthliche Flüssigkeit; letztere zeigt einen deutlichen Methaemoglobin¬
streifen. Der Geruch nach bitteren Mandeln ist besonders bei
Eröffnung des Bauches ungemein deutlich wahrnehmbar. Der
Magen ist stark gefüllt, die wässrige Flüssigkeit in ihm ist mit
reichlichen gelben, stark lichtbrechenden Tröpfchen untermengt und
Zur Lehre von der Diffusion der Gifte in menschlichen Leichen. 399
lässt sich bis auf 50 cm Tiefe in den Dünndarm herab verfolgen.
Die Magenschleimhaut wie gequollen und leicht abstreifbar. Die
dem Magen anlagernden Leberabschnitte stechen durch
ihre hellereFarbe und leichte Quellung deutlich von dem
übrigen Leberparenchym ab. Die konkave Seite der Milz
ist in gleicher Weise verändert. Zwerchfell und Nieren sind
unversehrt. An den Kadavern mehrerer Kaninchen, die zu anderen
Zwecken mit Nitrobenzol vergiftet worden waren, konnten wir auch
jedesmal Diffusion des Giftes beobachten, wenn die Sektion erst
mehrere Stunden nach dem Tode gemacht worden war. Deutlich
stachen in solchen Fällen die dem Magen anliegenden Leber- und
Milzpartien durch ihre gelbgraue Farbe von dem übrigen braun- bis
violettrothen unveränderten Parenchym ab. In einem Falle, wo
die Sektion nicht ganz 12 h p. mortem gemacht worden war, war
auch eine über linsengrosse Stelle am oberen linken Nierenpol
durch Diffusion graugelbweiss gefärbt.
Mit Phosphor stellten wir nur einen Versuch an, der negativ
ausfiel. Wir verwendeten eine Aufschwemmung der Köpfe von ge¬
wöhnlichen rothen Phosphorzündhölzchen. Die Leiche faulte ungemein
rasch, weshalb wir bereits am fünften Tage die Sektion Vornahmen.
Bei der Eröffnung des Magens entwickelten sich reichliche Phosphor¬
dämpfe. Die Organe zeigten nur Fäulnissbefunde. Wir untersuchten
den linken nnd rechten Leberlappen getrennt auf Phosphor, des¬
gleichen jeden Lungenunterlappen, doch war das Resultat negativ.
Die rothe Lakmuslösung diffundirte langsamer als wir er¬
wartet hatten und war besonders eine Färbung der Bauchhaut nicht
oder spät zu bemerken. Die Sektionen wurden am sechsten Tage ge¬
macht. An der Leiche, welche in horizontaler Rückenlage belassen
worden war, war die Imbibition mit der Lakmuslösung *) besonders
an der hinteren Magenwand stark, doch auch die innere Fläche
der Milz und dem Magen anlagernde Theile des Quercolon und
des oberen Jejunum zeigten sie. Die Unterfläche des linken Le¬
berlappens war nur undeutlich roth gefärbt. Eine zweite Leiche
war an den Füssen aufgehängt. In dieser war der Magen zwar
überall, doch besonders deutlich an der kleinen Kurvatur mit Lak-
mus imbibirt. Die Imbibition fand sich auch am Bauchfellüberzug
der vorderen Bauchwand in der Magengegend, sowie an der Un¬
terfläche der linken Zwerchfellhälfte und der Innenseite der Milz.
Eine dritte Leiche wurde am Halse aufgehängt. An derselben
erschien am vierten Tage ein schmutzigrother Streifen in der
Bauchhaut, der vom linken Rippenbogen schräg nach rechts und
unten gegen den Nabel zog. Bei der Sektion war die Bauchwand
im ganzen linken Epigastrium schmutzigroth. Der noch senkrecht
stehende Magen zeigte nur in der unteren Hälfte diese Farbe. Die
obere Hälfte des Dünndarms war mit Lakmuslösung gefüllt und
die Darmwand damit imbibirt. Auch ein Theil des linken Leber¬
lappens und des lobus quadratus, sowie die untere Hälfte der
') Zum Nachweise derselben betupften wir die betreffende Stelle mit Am¬
moniak, um zu sehen, ob Blaufärbung eintrete.
400 Dr. Haberda: Zur Lehre von der Diffusion der Gifte in menschlichen Leichen.
Innenfläche der Milz und das Bauchfell über dem oberen Pol der
linken Niere zeigten Rothfärbung.
Ganz analog fielen die Versuche mit Methylenblaulösung
aus, doch zeigten die Leichen meist schon am zweiten Tage bläu¬
liche Flecken an der Bauchhaut unter dem linken Rippenbogen.
Eine der Leichen blieb auf dem Rücken liegen, eine zweite wurde an
den Füssen, eine dritte am Halse suspendirt. Die Sektionen
wurden am dritten, vierten und sechsten Tage gemacht und erga¬
ben Befunde, die den bei den Versuchen mit Lakmuslösung eben
angeführten ganz analog waren. Wir unterlassen daher ihre aus¬
führliche Wiedergabe. Eine vierte Leiche, in deren Magen wir
Methylenblaulösung einfülirten, befestigten wir in rechter Seiten¬
lage. An derselben fanden sich die Bauchdecken rechts von der
Mitte bläulich gefärbt. Der Magen stand, wie die Sektion erwies,
noch ziemlich senkrecht und war an der kleinen (rechts gelegenen)
Kurvatur tiefblau, an der grossen dagegen nur schwachbläulich
gefärbt. Einige an der kleinen Kurvatur angelagerte Dünndarm¬
schlingen, sowie eine kleine, rechts von der Mitte gelegene Partie des
Quercolon war blau gefärbt. An der Unterfläche der Leber fand sich
auch am rechten Lappen eine deutliche Blaufärbung, desgleichen
an den Mittelpartien des Zwerchfells und an einem kleinen Theil
des linken Rippenbogens nahe dem Ansatz an’s Brustbein. Milz
und Nieren waren ungefärbt.
An einer fünften Leiche reinigten wir durch Druck auf das
Abdomen und durch Wasserklysmen den Dickdarm so gut als
möglich und spritzten nun unter ganz geringem Druck, während
die Leiche an den auseinandergespreizten Füssen gehalten wurde,
Methylenblaulösung in das Rectum ein. Die Leiche blieb durch
3 1 /* Tage an den Füssen aufgehängt. Die nach dieser Zeit ge¬
machte Sektion zeigte dunkelblaue Färbung des Rectums, der
Flexur und des absteigenden und queren Colons. An vielen zer¬
streuten kleinen Stellen waren die Dünndarmschlingen blau gefleckt.
Die Hinterseite des Uterus und seiner Adnexe, das Peritoneum
der Vorderwand unterhalb des Nabels sowie das über der linken
Niere und die Vorderfläche dieser selbst waren blau.
Aus äusseren Gründen war es uns nicht möglich, diese Ver¬
suche zeitlich weiter auszudehnen und eine grössere Reihe von
Substanzen — in Rücksicht auf ihre Fähigkeit zu diffundiren —
in Untersuchung zu ziehen.
Die von uns gewonnenen Resultate, die im Wesen eine Be¬
stätigung der Angaben Strassmanns bilden, könnten mit diesen
vereint kurz in folgende Sätze zusammengefasst werden:
1. Substanzen verschiedenster Art haben das Vermögen, vom
Magen aus in der Leiche zu diffundiren. So verschiedene ätzende
Säuren und Alkalien, dann Sublimat (von Hofmann, Reese
und wir), Ferrocyankalium (Torsellini und Strassmann),
Arsenik (Torsellini, Reese und Strassmann) Antimon
(Reese), Gentianaviolett (Strassmann), Lakmuslösung
und Methylenblau, schliesslich Cuprum sulfuricum, Nitro¬
benzol und wahrscheinlich auch Kalium chloricum. Durch
Dr. Kühn: Seltene Kleinheit der Miln als angeborene Anomalie. 401
Ausdehnen der Versuche auf längere Zeiträume würden sich wohl
noch manche andere Substanzen anreihen lassen.
2. Die Diffusion beginnt zumeist schon in den ersten Tagen
nach der Einführung der Substanz in den Leichenmagen und oft noch
vor Beginn der Fäulniss und schreitet ziemlich rasch fort. Die
Raschheit der Diffusion ist natürlich bei verschiedenen Substanzen
eine verschiedene. Bei ungelösten oder gar schwer löslichen
Substanzen (wie Gentianaviolett in Substanz, Arsenik, Phosphor
u. 8. w.) beansprucht schon ihr Eintritt längere Zeit, noch längere
natürlich ein merkliches Fortschreiten derselben.
3. Zuerst werden stets die dem Magen anliegenden Gewebe,
und zwar die einzelnen je nach der Lage der Leiche in geänderter
Intensität oder selbst Reihenfolge, und bedeutend später erst die
entfernteren von der diffundirenden Substanz erreicht. Die Diffu¬
sion folgt vielfach den Gesetzen der Schwere und geht stets per
continuitatem. Dass der Füllungszustand des Magens von Einfluss
ist, zeigte sich auch bei unseren Versuchen.
4. Selbst bei noch nicht faulen Leichen beweist der chemische
Nachweis von Gift in Leber, Nieren u. s. w. noch nicht, dass das
Gift intra vitam genommen worden sei, wie schon Strassmann
hervorhebt. Nach diesem kann anfänglich die Differential¬
diagnose zwischen vitaler und postmortaler Einfuhr des Giftes
aus der verschiedenen quantitativen Vertheilung des Giftes in der
rechten und linken Niere, dem rechten und linken Leberlappen
gewonnen werden, doch müsste hierbei — nach unseren Versuchen
— allenfalls auch die Lage der Leiche in Betracht gezogen wer¬
den. Später oder gar schon bei weit gediehener Fäulniss kann
die Differentialdiagnose allein von diesen Gesichtspunkten aus
oft nicht mehr gemacht werden.
Seltene Kleinheit der Milz als angeborene Anomalie.
Von Kreisphysikus Dr. Kühn in Uslar.
Während Vergrösserungen der Milz aus den verschieden¬
artigsten Ursachen zu den alltäglichen Sektionsbefunden gehören,
ist eine abnorme Verkleinerung dieses Organs, welche wohl im
hohen Alter, nach Infektionskrankheiten oder als Druck - Atrophie
vorkommt, schon etwas Seltenes. Ganz vereinzelt indess ist der
gänzliche Mangel oder eine Kleinheit der Milz, wie sie bei der
Sektion eines Erhängten im Juli d. J. von mir beobachtet wurde.
Der kleine Körper imponirte auf den ersten Blick als Nebenmilz.
Eine sorgfältigere Untersuchung zeigte indess bald, dass wir das
ganze Organ mit wohl entwickeltem Hilus vor uns hatten. —
Bei der Leiche eines 64 Jahre alten kräftigen Mannes, welcher,
abgesehen von dem ergrauten Haar noch keine erheblichen Alters¬
veränderungen zeigte, fand sich eine normal geformte Milz, deren
Länge 3,5, grösste Breite 2 und deren Dicke kaum 1 cm erreichte.
Die Farbe der Oberfläche dieser Milz war eine grauröthliche, die
Konsistenz eine mittlere. Die Kapsel war glatt und zeigte keine
402
Dr. Reimann.
Verdickungen, welche etwa auf eine im frühesten Alter durch¬
gemachte Perisplenitis hingewiesen hätten. Der Durchschnitt ergrab
ferner, dass normales Milzgewebe mit Pulpa und Lymphknötchen
nur gut den dritten Theil des Organs ausmachte; zwei Drittel
bestanden aus grauröthlichem faserigem Gewebe, also aus einer
fibrösen Entartung des Trabekelgerüstes, in dem entweder von
Anfang an kein sezernirendes Gewebe gebildet war, oder das zum
Untergang der betreffenden Zellkörper geführt hatte.
Das ungewöhnlich kleine Volumen, das Fehlen bekannter
Schrnmpfungsresultate atrophischer Milzen und die Feinheit der
zu- und abführenden Gefässe sprachen in diesem Falle gegen die
Erklärung des Befundes als eines Endproduktes atrophischer Vor¬
gänge bei vorher normalem oder annähernd normalem Volumen
und begründen die Annahme, dass wir es mit einer angeborenen
abnormen Kleinheit als Entwickelungsanomalie zu thun hatten.
Die Nieren waren in dieser Leiche (allerdings Säuferleiche) gross
(12,6, 3V 2 cm). Die auf der konvexen Fläche mehrere parallele
Impressionsfurchen zeigende Leber bot Durchschnittsmaasse.
Zur Stellungsverbesserung der Kreisphysiker.
Von Kreisphysikus Dr. Reimann in Neumünster.
Die Frage der Stellungsverbesserung der Preussischen Me¬
dizinal-Beamten scheint das ruhige Fahrwasser, in dem sich bis¬
her die Erörteruug bewegte, verlassen zu wollen. Ich möchte in
aller Kürze auf einige Gesichtspunkte aufmerksam machen, welche,
abgesehen von der Weitschichtigkeit der Materie an sich, die
Staatsregierung von entschiedenem Vorgehen abhalten dürften.
Die finanzielle Seite der Sache ist meines Erachtens ganz Neben¬
sache; wo ernster Wille war, fand sich in Preussen noch immer
der Weg auch in der Finanz Verwaltung.
Zunächst mag wohl die Bedürfnissfrage für akute Fälle
(Cholera) in den leitenden Kreisen verneint werden angesichts
eines jeder Zeit in überreichem Masse verfügbaren Stabes von
Militärmedizinern. Wünscht doch auch Einer der Unseren, Herr
Medizinal- und Regierungsrath Dr. Wernich in einem sonst recht
empfehlenswerthen Artikel „über systematische Bekämpfung der
Cholera“ (Hygienische Rundschau 1893 Nr. 4) die künftig mög¬
lichst umfassende Verwendung von Aerzten des Reichsheeres für
die Mobilmachung gegen die Cholera. Die weitere Vermehrung
der Militärärzte steht ja in naher Aussicht.
Was sodann die Bekämpfung der perennirenden Seuchen
betrifft, so glaube ich, begegnet wohl zu allermeist die Forderung
eigener Iniative, welche zu diesem Behüte von den Fachgenossen
erhoben wird, in den leitenden Kreisen gewissen Bedenken. Be¬
kanntlich liegen die Wurzeln der Volksseuchen in der Lebens¬
führung des Volkes. Mit dem Aufdecken von Mängeln der
Lebenshaltung werden aber die Seuchen nicht aus dem Felde
geschlagen, die Beseitigung der gefundenen Mängel ist der
Zur Stellungsverbesserung der Kreisphysiker.
403
weit schwierigere Theil der Arbeit. Während das Auffinden der
Mängel der Initiative des von den Fesseln der ärztlichen Praxis
gelösten Gesundheits - Beamten überlassen sein soll, fällt die, wie
die Verhältnisse einmal liegen, so sehr schwierige Exekutive der
Verwaltung anheim. Wie zahlreiche Wünsche indiskreter Art in
Bezug auf Wohnung, Beköstigung, Bekleidung gewisser Bevölke¬
rungsklassen könnten verlautbaren; wie aber stände es mit ihrer
Erfüllung? — Ich will den Gedanken hier nicht austühren. Ein
reichliches Mass von Takt und Geschicklichkeit würde der neue
Gesundheitsbeamte für seine Amtsführung benöthigen, namentlich
auch gegenüber der Oeffentlichkeit. Wie indiskret ist heutzutage
nicht eine gewisse Presse!
Ein weiterer Gesichtspunkt ist der: Was würde die nächste
Folge einer verbesserten Stellung der Zivilgesundheits - Beamten
sein, worunter ich nicht lediglich die geldliche Besserstellung ver¬
stehe, denn diese befriedigt allein uns nicht? Es würde zunächst
ein starker Abfluss von Militärmedizinern in unsere Aemter ein-
treten und demnächst ein Zufluss solcher besser veranlagten Kräfte
zu uns, die jetzt, wie die Dinge bei uns liegen, den militärischen
Dienst bevorzugen.
Die besten Elemente aber will man nun einmal in Preussen
dem Militärwesen Vorbehalten wissen. Diese ganz besondere Be¬
vorzugung 1 ) des Militärwesens mag in der geschichtlichen Ent¬
wickelung unseres Staates begründet sein, sie wird nur mit diesem
zu bestehen aufhören. Daher ein Fachmann als Chef für die
Medizinalabtheilung im Kriegsministerium, während an der Spitze
des Zivildezernats eine Laie genügt! Daher die opulente Aus¬
stattung selbst der kleinsten Militärlazarethe mit Mikroskopen
und anderem ärztlichen Rüstzeug, während der Kreisphysikus für
gerichtliche und hygienische Zwecke sich, wenn er Lust hat, selber
ein Mikroskop kaufen kann, und sich die lediglich im staatsdienst¬
lichen Interesse benöthigten Obduktionsinstrumente anschaffen muss,
um sie dem obduzirenden zweiten Arzt leihen zu können, wofern
dieser nicht Kreiswundarzt ist und als solcher sie selbst besitzt!
Daher die Fortbildungskurse für Militärärzte, während der Kreis¬
physikus seine pathologische Anatomie und gerichtliche Medizin
getrost vergessen mag! Es fragt Niemand darum; ist die Todes¬
ursache bei der gerichtlichen Leichenuntersuchung nicht gefunden,
so wird das Verfahren, wenn sonst nichts entgegensteht, eingestellt.
Bedenken erregen allenfalls die alten Herren mit 50 Berufsjahren
und darüber, doch ihnen winkt, wenn sie still, wie sie gekommen
sind, wieder gehen, ein ideeller Lohn.
Inzwischen sind durch die langjährigen Zusicherungen, welche
von leitender Stelle hinsichtlich der Umgestaltung der Physikats-
ämter gemacht worden sind, immer neue junge Aerzte vertrauens-
*) Die verbesserte Stellung der Militärärzte datirt übrigens erst seit den
Feldzügen 1866 nnd 1870/71. Die hier offen zu Tage getretene Unzulänglichkeit
des ganzen Militär - Sanitätswesens hat die Veranlassung zu gründlichen Reformen
gegeben, deren Durchführung insbesondere der Thatkraft des jetzigen hochver¬
dienten Chefs der Medizinalabtheilung des Kriegsministeriums zu verdanken
ist. Red.
404
Kleinere Mittheilungen and Referate aas Zeitschriften.
selig zur Erlangung der Berechtigung fiir’s Amt durch schwierige
Prüfungen veranlasst worden. Sie geben erwünschten Nachschub,
und so fehlt es — worauf ja auch gelegentlich im Landtage von
hervorragender Stelle hingewiesen worden ist — trotz der schlech¬
ten Stellung nie an Bewerbern. Es wird diesen jungen Aerzten
nicht besser ergehen, wie es Vielen von uns ergangen ist, die
hoffnungsfroh und vom besten Willen erfüllt, in’s Amt getreten
sind: sie werden dieselbe bittere Enttäuschung erfahren, wie wir,
und klug daran thun, frühzeitig Resignation zu üben.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
A. Gerichtliche Medizin.
Die Kriminalität Geisteskranker. Von W. S. Iwanowa. Kowa-
1 ewsky’s Archiv. XIII. Bd., 2. H., S. 95. Referat im Zentralblatt für Nerven¬
heilkunde und Psychiatrie. Juni 1892.
Bei Paranoikern führt I. die Entstehung des Verbrechens darauf zurück,
dass die Idee der That entweder plötzlich bei ihnen auftaucht (impulsiver Zwang)
oder sich stufenweise entwickelt als Folge deliranter Verfolgungsideen. Bei
diesen Kranken sind zum Unterschiede von Epileptikern und Alkoholikern die
Zwangsimpulse immer bewusst, und man müsste mehr von Zwangs-Ideen als
von Zwangshandlungen bei ihnen sprechen. Aus 25 Beobachtungen geht hervor,
dass bei Paranoikern Verbrechen in Folge von Wahnideen häufiger Vorkommen
(23) als solche in Folge von Zwangsideen (3). Die vorwiegende Art sind
Majestätsverbrechen, Blasphemie, Staatsvergehen und Queruliren. Meist litten
die Paranoiker vor Begehung der Tbat an VerfolgUDgsidecn und handelten sie
unter dem Einflüsse dieser Ideen. Das Verhalten der Verbrecher dem be¬
gangenen Verbrechen gegenüber war ein verschiedenes. Diejenigen, welche
unter dem Einfluss von Zwangsideen gehandelt hatten, bekannten ihre That
aufrichtig; die, welche ihr Delir dissimnlirten, verleugneten die That; die den
Schwachsinnigen sich nähernden Paranoiker legen sich keine Rechenschaft über
das begangene Verbrechen ab; eine 4. Gruppe (16 von 25) hielt ihre That für
vollständig gerechtfertigt. — Die Epileptiker stehen vielfach im Gegensatz
zu den Paranoikern. Ihre Verbrechen werden begangen unter dem Einfluss von
Halluzinationen und Bewusstseinsverlust; sie sind ernster Natur und enden mit
Erschöpfung und Schlaf, aus dem der Kranke ohne Erinnerung an das Vorgefallene
erwacht. In der grossen Mehrzahl handelt es sich um Mord, Mordversuche,
schwere Körperverletzung, Prügelei u. s. w. Die meisten können nicht nur ihre
That nicht motiviren, sondern es fehlt ihnen sogar die Erinnerung daran.
Bei den Alkoholikern tiberwiegt keine bestimmte Art von Verbrechen über
die anderen; meist gehen dem Verbrechen alkoholische Exzesse voraus; die Ver¬
brechen werden in Folge einer Verdunkelung des Bewusstseins durch Alkoholvergif¬
tung begangen; die Motive werden gar nicht oder nur zufällig bekannt; nach der
Entnüchterung bekennen die Alkoholiker ihre That aufrichtig. — Bei den Schwach¬
sinnigen tritt vorwiegend Brandstiftung, Mord und Mordversuch auf. Die Ver¬
brechen werden in der gewöhnlichen ruhigen Stimmung oder in einer aus nich¬
tigen Ursachen entstandenen geringen Erregung begangen. Die Motive zur That,
wenn überhaupt solche bestanden, sind Rachedurst, Nascbsucht, Vergnügungssucht.
Das Verhalten der begangenen That gegenüber ist ein völlig gleichgültiges oder
es zeigt sich ein blos formelles Bedauern der That ohne ein Gefühl der Reue oder
Verschuldung.
Was die Unterbringung irrer Verbrecher mit den übrigen Geistes¬
kranken anbetrifft, so unterscheidet sich nach den Erfahrungen des Verfassers
das Verhalten irrer Verbrecher in den Kolonien absolut nicht von dem der
übrigen Geisteskranken; die irren Verbrecher unterwerfen sich ebenso leicht
der Disziplin wie die anderen. Dr. S. Kali s c h e r - Berlin.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
405
Kopfverletzung, anscheinende Heilung, Meningitis nnd Tod nach
3 Wochen. Ursächlicher Zusammenhang. Von Dr. Müller. Friedreichs
Blätter, Heft HI.
Der Bahnarbeiter S. wurde in der Nacht vom 6.—7. November durch
cineu Wurf mit einer schweren Drainirungsröhre über dem linken Auge und
an der Nasenwurzel verletzt, so dass er bewustlos zusaramenbrach. Am 7. No¬
vember übernahm ein Arzt die Behandlung, welcher an der Stirne zwei Wunden
fand, von denen die eine von der Stirnmitte zur Nasenwurzel ziehend, klaffend,
die Weichtheile und die äussere Lamelle des Knochens durehtrennt hatte und
mit der Nasenhöhle kommnnizirte. Mehrere kleine Knochensplitter wurden aus¬
gezogen. Die Heilung der Wunden verlief ohne Störung, am 27. November
war der Verletzte ‘/t Stunde weit gegangen, um den Arzt aufzusuchen. Die
Wunden waren völlig geheilt. In der Nacht vom 27.—28. November trat plötz-,
lieh eine Hirnhautentzündung auf und am 29. starb der Betreffende an derselben
Durch die Sektion wurde festgestellt, dass der vorher beschriebenen Wunde
entsprechend von dem linken Stirnbein am oberen Augenhöhlenrand ein 5,5 cm
langes, 8 cm breites Knochenstück eingedrückt und in mehrere kleine Theile
zersplittert war. An der Innenseite des Schädels ging die Splitterung bis auf
die rechte Hälfte des Stirnbeines, von dem 5 Knochensplitter gesprengt waren.
Unmittelbar nach rechts von der Crista galli des Siebbeines gelangte man
durch ein Loch in der Lamina cribrosa des Siebbeines in die Siebbeinzellen
und von da durch die linke Nasenhöhle zum linken Nasenloch heraus. Das
Loch war mit eitrigen Massen und Gehirnsubstanz erfüllt, in den Siebbeinzellen
war Eiter. Die tiefässe der weichen H “ haut waren stark injizirt, über die
ganze Oberfläche des Gehirnes, an den Seitentheilen, am Kleinhirn unter der
weichen Hirnhaut, lag eine dicke Schicht Eiter, besonders an den beiden Stirn¬
lappen des Gehirns, am stärksten an der rechten Seite in der Nähe des be¬
schriebenen Loches im Knochen. Die unmittelbare Todesursache war demnach
die eitrige Meningitis, welche den Tod durch Gehirnlähmung herbeifiikren musste.
Die eitrige Entzündung war dadurch entstanden, dass Entzündungserreger zuerst
eitrigen Catarrh der Nasenhöhle und der Siebbeinzellen, dann die Meningitis selbst
hervorriefen. Die Verletzung hatte den Knochen zertrümmert, namentlich das Loch
in der Siebbeinplatte bewirkt, durch die eindringenden Knochensplitter waren
Gehirnhäute und Gehirn verletzt und eine Verbindung zwischen Nasen- und
Schädclhöhle geschaffen. Durch diese Pforte drangen die Entzündungserreger
bis zum Gehirn und fanden in dem verletzten Theile den günstigen Nährboden
für die Entzündung. _Dr. R u m p - Osnabrück.
B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Festschrift zuPettenkofer's 50 jährigem Doktor-Jubiläum. Der
17. Band des von Pettenkofor, Hotmann, Förster und Rubner her¬
ausgegebenen, wesentlich den Lehren der Pettenkofer’sehen Schule dienenden
und daher in gewissem Gegensatz zu der von Koch und Flügge redigirten
„Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten“ stehenden „Archiv für
Hygiene“ ist als Jubelband dem Altmeister für Hygiene zu seinem 50jährigen
Doktor-Jubiläum gewidmet. Es ist eine gar stattliche Reihe von Forschern
und unter ihnen viele Namen von gutem Klang in der hygienischen Wissenschaft,
die sich hier vereinigt haben, um ihrem Lehrer und Meister eine Huldigung
darznbringen und, wenn der greise, in seiner Polemik aber so jugendfrische und
streitbare Münchener Forscher diese Ovation als eine Heerschau über die Schaar
seiner Anhänger betrachten will, so muss anerkannt werden, dass es eine recht
stattliche Armee ist, welche mehr oder weniger eifrig zu seinen Fahnen schwört!
Unter den 28 Originalarbeitcn, welche zu dem Jubelbande vereinigt sind, findet
sich natürlich manch Mittelgut, das sich nicht über den Werth gewöhnlicher
Laboratoriumsarbeiten erhebt und bei welchem guter Wille und Fleiss den
Mangel selbstthätiger Gedankenarbeit ersetzen muss. Andererseits enthält der
Band aber doch auch eine Reihe wirklich gediegener Arbeiten, welche an dieser
Stelle demnächst eingehendere Würdigung finden werden. Für heute mag es
genügen, die Namen Rubner, Oertel, Büchner, Erismann, Renk,
Lehmann, Emmerich, Förster, Voit, Gruber, Praussnitz anzu¬
führen, sonst aber soll diese Besprechung nur der Einleitung des Bandes, der dem
Jubilar gewidmeten Huldigungsschrift gelten.
406
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
Es ist in der That ein an rastloser Arbeit und grossartigen Erfolgen
ungewöhnlich reiches Leben, auf welches der Gefeierte zurückblicken kann und
mit überraschender Deutlichkeit führt uns ein Rückblick auf die Geschichte dtr
Hygiene, wie er bei diesem Anlass so nahe liegt, vor Augen, wie viel die
Wissenschaft der Thätigkeit Pettenkofer’s verdankt. Ist doch die ganze
experimentelle Hygiene ausschliesslich die Schöpfung dieses einen Mannes, ist er
es doch gewesen, der auf allen Gebieten dieser umfangreichen Wissenschaft die
grundlegenden Versuche angestellt und damit der Forschung die Bahnen ge¬
wiesen hat! Freilich, wenn in der Huldigungsschrift seiner Schüler die angeb¬
liche Erfahrung Pettenkofer’s über die Abhängigkeit des Typhus und der
Cholera von gewissen Verhältnissen und Vorgängen im Boden, welche dann die
f sog. Örtliche und zeitliche Disposition bilden sollen und die darauf gegründete
„iokalistische Theorie“ als ein Ergebniss gefeiert wird, welches Pettenkofer
einen unvergänglichen Platz in der Geschichte der Medizin sichern soll, so mag
dieser Triumpfgesang in einem Augenblick, wo Pettenkofer seine Anschau¬
ungen doch nur recht mühsam gegen den Ansturm der siegreich vordringenden
modernen Schule vertheidigen kann und der Zeitpunkt nicht fern zu sein scheint,
wo der wankende Bau in sich selbst zusammenfällt, wenig zeitgemäss erscheinen.
Man muss aber die Lebhaftigkeit kennen, mit der Pettenkofer seit vielen
Jahren für diese seine Lieblingstheorie eintritt, wie er es als seine eigentliche
Lebensaufgabe ansieht, dieser Anschauung allgemeine Geltung zu verschaffen,
um es begreiflich zu finden, dass seine Schüler diese Seite seiner Wirksamkeit
nicht mit Stillschweigen übergehen konnten. Aber auch der Gegner kann dem
rüstigen Kämpfer, der mit mannhaftem Muth eintritt für das, was er einmal
für wahr und für segensreich hält, im Kampf gegen Krankheit und Seuche, seine
Sympathie nicht versagen und nur mit hoher Achtung kann man sein Buch:
„Der gegenwärtige Stand der Cholerafrage“ aus der Hand legen, in welchem
die rastlose Arbeit eines Menschenlebens niedergelegt ist und welches eine uner¬
schöpfliche Fundgrube epidemiologischen Wissens bildet, wie in der Literatur
keine zweite enthalten ist. Und wie frisch, wie lebendig liesst sich das Werk
trotz des enormen Stoffes trockener Thatsachen, der darin aufgeführt ist. Dank
der unvergleichlichen Darstellungsgabe, der alle Waffen schlagfertiger Polemik
vom Pathos sittlicher Ueberzeuguug an bis herab zu köstlichster Ironie in
gleicher Weise zu Geboten stehen! Fürwahr, die warme Begeisterung, mit der
sich die engeren Schüler am Tage seiner Jubelfeier um ihren Meister schaaren,
ist sehr begreiflich und sie wird Wiederhall finden weit über die Grenzen des
Vaterlandes hinaus und allerwärts, wo ein Verständniss obwaltet für die theore¬
tischen und praktischen Aufgaben der Hygiene, wird man sich rückhaltlos deu
warmen und herzlichen Wünschen für eine fernere gesegnete Thätigkeit des
Altmeisters der Hygiene anschliesscn. Dr. Langerhans-Celle.
Ueber das Grundwasser von Kiel mit besonderer Berücksichtigung
seines Eisengehaltes und über Versuche zur Entfernung des Eisens aus
demselben. Von Professor Dr. Bernhard Fischer, Direktor des hygieni¬
schen Instituts in Kiel. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten.
XIII. Bd., 2. H.
Mit der Wasserversorgung grosser Stadtgemeinden durch Fluss- oder
sonstiges Oberflächen-Wasser, welches in der üblichen Weise durch Sand¬
filtration gereinigt ist, sind gewisse Missstände in bisher unvermeidlicher Weise
verknüpft, wozu in erster Linie das Hindurchgehen pathogener Organismen durch
die Sandfilter gehört, welches durch das bakteriologische Experiment (Fränkel,
Piefke) als möglich und durch die Erfahrungen bei gewissen Typhusepidemien
in Berlin und Altona als thatsächlich vorkommend erwiesen ist. Der ersten
und wichtigsten hygienischen Aufgabe, unter allen Umständen ein von Krank¬
heitserregern freies Wasser zu liefern, kann also bei dieser Art der Wasser¬
versorgung nicht in dem Masse entsprochen werden, wie bei der Verwendung
des von der Natur bei seinem Durchgang durch den Boden gereinigten Wassers,
des Grundwassers. Verfasser sucht nun an der Hand der in Kiel gemachten
Erfahrungen und der in seinem Institute angestellten Versuche klar zu legen,
wie weit sich die gegen die Grundwasser-Verwendung gerichteten Bedenken
entkräften lassen. Es handelt sich hierbei zunächst um die Befürchtung, dass
die Beschaffung einer für grössere Gemeinwesen ausreichenden Wassermenge
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
407
auf unüberwindliche Schwierigkeiten stossen und dass der dem Grundwasser
häufig eigenthümliche Eisengehalt die Verwendung des Wassers unmöglich
machen könnte. Die Stadt Kiel bezieht ihr Wasser aus zwei getrennten Wasser¬
leitungen, dem Gaardener und Schulenser Wasserwerk, welche beide durch
Kesselbrunnen Grnndwasser schöpfen und der Stadt zuleiten. Die schnelle
Zunahmo der Einwohnerzahl lässt jetzt eine Erweiterung der Wasserwerke
nothwendig erscheinen, welche im Verein mit vielfachen Klagen über die Be¬
schaffenheit des bisherigen Wassers zu der systematischen und gründlichen
Untersuchung Veranlassung gegeben hat, deren Ergebnisse Fischer in dieser
Arbeit vorlegt. Nach den Erhebungen des Kieler Geologen Haas entstammt,
das Grnndwasser, welches zur Speisung der Kieler Wasserwerke benutzt wird,
einem System grossartiger Muldenbildungen, welche sich durch den Osten
Schleswig-Holsteins hiuziehcn und in dem unteren Geschiebemergel durch
Stauchungen des Inlandeises zur Diluvialzeit entstanden sind. Der Nachlass
der durch das Gaardener Werk bezogenen Wassermenge beruht darauf, dass
durch dieses eine kleinere, in sich abgeschlossene Mulde erbohrt worden ist,
während im Uebrigen durch die gewaltige Ausdehnung und den bedeutenden
Wasserreichthum der Mulden die andauernde Lieferung einer überreichlichen
Wassermenge vollständig gesichert erscheint. —
Es ist hier nicht der Platz, auf die sehr sorgfältigen, durch eine Reihe
von Jahren fortgesetzten physikalischen, chemischen und bakteriologischen Prü¬
fungen der verschiedenen Wasserproben näher einzugehen. Dieselben ergaben
allerwärts, wo Verunreinigungen von der Oberfläche nicht in Betracht kamen,
eine typische Beschaffenheit des Grundwassers. Dasselbe besass neben etwas
Schwefelwasserstolfgeruch einen mehr oder minder ausgeprägten moorigen Geruch,
einen deutlichen Tintengeschmack, ebenfalls mit leicht moorigem oder fauligem
Beigeschmack und in allen Fällen alkalische Reaktion. Das Wasser enthielt
stets Eisen und bei einem verhältnissmässig hohen Gehalt an organischen Sub¬
stanzen regelmässig kleine Mengen Ammoniak, während Salpetersäure und
salpetrige Säure fehlten. Diese eigenartige Zusammensetzung verdankt das
Wasser den dort sehr verbreiteten, iu die Wasser führenden Schichten einge¬
sprengten Moor- und Torflagern. Beim Stehenlassen des ursprünglich klaren
Wassers erfolgt sehr schnell eine anfangs milch weise, später dunkler, schliesslich
zur Bildung eines dicken, rostbraunen Bodensatzes von Eisenschlamm führende,
von lebhafter Wucherung von Orenothrix und (’ladothrix begleitete Trübung,
ein Vorgang, der natürlich auch innerhalb der Röhren der städtischen Wasser¬
leitung vor sich ging und hier (wie ancli an anderen Orten; Ref.) bald nach
Eröffnung der Wasserleitung zu den lebhaften Klagen der Konsumenten Ver¬
anlassung gab.
Der Zweck der F i s c h e r’sehen Untersuchung war nun, die Leistungs¬
fähigkeit der inzwischen aufgefundenen Enteisenungsverfahren speziell
für das Kieler Leitungswasser festzustellen. Es waren zwei Methoden, welche
dabei in Betracht kamen, das Verfahren des Oberingenieurs Osten,
welcher das Wasser durch Herabfallenlassen in Gestalt einer
regenartigen Brause „lüftet 1 * und dadurch zur Ausscheidung
des Eisenschlammos veranlasst, der dann durch eine sehr einfache
Filtervorrichtung zurückgehalten wird, und die Methode des bekannten
Wassertechnikers Piefke, welcher das zu reinigende Wasser
über ein Haufwerk faustgrosser Kokes, an denen die Aus¬
scheidung des Eisenschlammes vor sich geht, herabrieseln
lässt und dann ebenfalls filtrirt. Beide Methoden zeigten sich geeignet, den
Eisengehalt soweit zu vermindern, dass der tintenartige Geschmack verschwand
und eine nachträgliche Trübung nicht mehr eintrat; auch schien bei beiden die
Durchführung im Grossen ohne eine zu erhebliche Vertheuerung der Wasser¬
lieferung wohl zu ermöglichen zu sein. Im Ganzen zeigte sich die Kokeslüftung
nach Piefke der einfachen Lüftung bei Weitem überlegen. Zur Filtration
der „gelüfteten“ Wässer scheinen sich die im Worms eingetührten Kunst-Stein¬
filter recht gut zu bewähren. Ders.
Akute psychische Epidemie in einer Mädchenschule. Von Medizinal¬
rath Dr. S. R e m b o 1 d in Stuttgart. Berliner Klinische Wochenschrift 1893; Nr. 28.
Die Mittheilungen von Palmer und Hirt über psychische Schulepidemien
(Seite 47 Nr. 2 dieser Zeitschrift) veranlassten den Verfasser, ebenfalls über
408
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
eine hysterische Epidemie zu berichten, welche er in der Römerschule in Stutt¬
gart im Januar v. J. beobachtete und die sich ätiologisch eng an die zuerst
geschilderten Epidemien anschliesst, sich aber darin wesentlich von denselben
unterscheidet, dass die hysterische Epidemie hier sich nicht allmählich entwickelt
hat, sondern ganz akut auf getreten ist.
Auf die Nachricht hin, dass in der Römerschule ganz plötzlich eine
grosse Anzahl von Kindern heftig erkrankt seien, begab sich Rem bold dorthin
und fand ein eigenthümliches Bild, indem sich durch die halbe Länge des
Korridors aus der Thür des Schulzimraers hinaus und zur Thür des Zeichen-
saales hinein ein Zug aufgeregter, lebhaft gestikulirender, lärmender Mädchen
im Alter von 9—12 Jahren bewegte. Sie waren zu zweien oder dreien grup-
pirt, je eine von einer anderen geführt, oder von zwei anderen geschleppt. Die
Geschleppten hingen meist völlig erschlafft in den Armen ihrer Gefährtinnen,
den Kopf auf die Brust gesenkt, die Beine auf dem Fussboden nachschleifend.
Im Zeichensaal sassen ca. 40 Mädchen auf den Schulbänken herum, die einen
scheinbar völlig bewustlos, mit geschlossenen Augen und schlaff herabhängenden
Gliedern, von Mitschülerinnen mit Mühe aufrecht erhalten, andere laut weinend
und krampfhaft schluchzend, am ganzen Leibe heftig zitternd, der Rest in
staunendem Schrecken die plötzlich erkrankten Genossinnen anstarrend. Nach¬
dem die letzteren in ihre Klasse zurückgeschickt und die aufgeregten Lehrer
und Schulkinder beschwichtigt waren mit dem Aufträge, den Unterricht
wieder aufzunehmen, wurden die 25 der heulenden und zitternden Kinder
unter beruhigendem Zuspruch an die geöffneten Fenster gestellt und zum
tiefen Einathmen der frischen Luft aufgefordert mit dem Versprechen, dass
hierdurch in Kürze das Unwohlsein gehoben werden würde. Zehn auf dem
Fussboden liegenden Kinder boten das Bild tiefsten Schlafes, das Aussehen war
mächtig blass, die Athmung tief und ruhig, die Muskulatur schlaff, Augen ge¬
schlossen, Puls etwas schwach aber von normaler Frequenz. Charakteristisch
war bei Mehreren die zitternde Bewegung des oberen Lides, wie man sie
namentlich bei hypnotischen Versuchen häufig sieht. Beim Eröffnen der Lider
floh das Auge nach oben, bei späterem Einstellen reagirte die Pupille auf Licht.
Anrufen, Schütteln blieb ohne jeden Eindruck; beim Versuch des Aufhebens
blieben die meisten schlaff, wie ein Waschlappen im Arme hängen, nur zwei
wurden dabei steif im Nacken und Rücken. Alle aber blieben scheinbar gleich
bewusstlos. Der Reihe nach erhielt jedes Kind in’s Gesicht */* Liter Wasser
gespritzt und den energischen Befehl, sofort aufzustehen und die dummen Ge¬
sichter zu unterlassen. Diese Therapie war von augenblicklichem Erfolg; halb
erstaunt, halb beschämt fuhren die Kinder vom Boden auf und eilten an das
Fenster, bis auf die zwei oben erwähnten Kinder, welche Steifigkeit gezeigt
hatten und bei denen eine Reiteration nöthig wurde unter der Androhung,
dass die Begiessungen nicht eher aufhören würden, als bis die Dummheiten
beendet wären.
Die befallenen Kinder gehörten mit einer Ausnahme aller einer Klasse
von 9—10jährigen, durchweg den unteren Ständen entstammenden und vielfach
wenig güt genährten Mädchen an. Sie waren Morgens 8 Uhr , / a Stunde in der
Kirche gewesen und dann in die Schule geführt, welche allen hygienischen An¬
forderungen entspricht und nicht überfüllt war. Gleich nach Beginn des Un¬
terrichts war dann ein Kind ohne Ursache bewusstlos über die Bank gefallen
und nun in kürzester Zeit eine ganze Anzahl ebenfalls, im Ganzen etwa ein
drittel der Klasse. Um nicht noch weitere Veranlassung zum Nachahmen der
Anfälle zu geben, wurden keine weitere Nachforschungen angestellt und der
Unterricht mit den Kindern am Nachmittag wieder aufgenommen.
Verfasser erinnert an die Aehnlichkeit des geschilderten Scenen bei öffent¬
lichen Impfterminen, wo beim Anblick eines Impfschnittes oder des Blutes ein
Kind in Ohnmacht fällt und sofort ein paar andere Kinder gleichfalls hinfallen,
ein Zustand ; der als „Autosuggestion“ aufzufassen ist.
Dr. Dütschke-Aurich.
Die Beschlüsse (1er zur Berathung über die Organisation der
öffentlichen Idioten - Fürsorge eingesetzten Kommission. Von Dr. Alter,
Direktor der Provinzial - Irrenanstalt in Leubus. Verein ostdeutscher Irren-und
Nervenärzte. Sitzung vom 12. März 1892.
Für die Begriffsbestimmung der Idioten zu praktischen Zwecken wurde
Besprechungen.
409
folgende Fassung angenommen: „Idioten sind alle Geisteskranken, welche von
Geburt oder früher Jugend an (lauernd schwach oder blödsinnig sind.“ — In
Schlesien sind 962 Idioten und 503 Epileptiker gezählt worden, die als der An¬
staltspflege bedürftig bezeichnet werden und in geeigneten Anstalten noch nicht
untergebracht sind. Nach den vorhandenen Zählungen rechnet man im Allge¬
meinen einen Idioten auf 500 bis 750 Einwohner und nach den Erfahrungen aus
Hannover und Württemberg ist nur etwa der sechste Theil der vorhandenen
Idioteu der Anstaltspflege bedürftig. — Betreffs der Organisation der Anstalts¬
fürsorge für Idioten und Epileptische war man darin einig, dass diese Fürsorge
am sachgemässesten und zweckentsprechendsten nur dann ausgeübt werden
könne, wenn sie in eigenen, von der Provinzialverwaltung selbst eingerichteten
und verwalteten öffentlichen Anstalten stattfindet. Der Schwerpunkt der Idioten-
Anstaltsfürsorge muss in der Erziehung liegen. Idioten und Epileptiker sind
Kranke, deren gesummte Hygiene vom Arzte geregelt werden muss. Die
Trennung von Idioten und Epileptikern, oder von jugendlichen und erwachsenen
Idioten und Epileptikern wurde aus praktischen Rücksichten nicht für nothwendig
erachtet; man gelangte in dieser Beziehung einstimmig zu dem Beschlüsse:
„Der Vereinigung aller Kategorien idiotischer und epileptischer Kranken in
grossen, gemeinsamen Anstalten stehen keinerlei Bedenken entgegen, wenn eine
ärztlich und pädagogisch gut ausgestaltete Erziehungs-Abtheilung für idiotische
und epileptische Kinder den Mittelpunkt und wesentlichsten Theil der neuen
Organisation bildet.“ Dr. S. Kali sehe r-Berlin.
Besprechungen
R. v. Kr afft- Ebing, Professor in Wien: Psychopathia sexualis
mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung.
Stuttgart 1893. Ferdinand Enke. 8. Auflage. 442 Seiten.
Gewiss bat es schon vor v. Krafft-Ebiug nicht an Versuchen gefehlt,
in das Verständuiss der psychopathischen Vorgänge auf dem Gebiet des sexuellen
Fühlens einzudringen. Was sich aber vor dem Erscheinen der vorliegenden
Monographie in den Handbüchern der Psychiatrie nnd der gerichtlichen Medizin
in dieser Beziehung vorfindet, das ist theils zusammenhanglos bei Besprechung
der einzelnen Psychosen und hier oft nur skizzen- und lückenhaft erwähnt, theils
sind es — Einzelnes ausgenommen, z. B. die Lehre der konträren Empfindung —
noch veraltete psychiatrische Lehren, auf die sich oft mit mehr oder weniger
ethischer Entrüstung gewürzte, aber wissenschaftlich blutwenig fördernde Rai-
sonnements stützen.
Das vorliegende Werk will nun durch genaues Studium der neuropathi-
schen und psychischen Eigentümlichkeiten und durch sorgfältige psychopathische
Anamnese der Asccndenz im Einzelfalle zu leitenden Gesichtspunkten gelangen,
welche es ermöglichen, alle sexuellen Abnormitäten auf bestimmte psychische
Anomalien znrückzuführen.
Ob dem Verfasser dies gelungen ist? Der seltene Erfolg des seit seinem
ersten Erscheinen heute in 8. Auflage vorliegenden Werkes giebt uns schon eine
gewisse Anwort auf diese Frage! Das Buch ist von so grundlegender Be¬
deutung, dass ich die Facbgenossen wohl nochmals darauf hinweisen darf, obwohl
dasselbe iu diesen Blättern schon an früherer Stelle von anderer Seite ge¬
würdigt ist.
Dass bei den mannigfachsten, einfachen nnd Degenerationspsychosen die
verschiedensten Sittlichkeitsdefekte und sexuellen Perversitäten beobachtet werden,
dass besonders Manische, Epileptische, Paralytische und andere Blödsinnsformen
zu Vcrstössen gegen die Sittlichkeitsparagraphen neigen, das ist eine alte Er¬
fahrung, die auch in einem eigenen Abschnitt des Buches genügend Erwähnung
findet. Dass es aber eine psychische Anomalie giebt, welche bei sonst intaktem
Fühlen nnd Denken nnd bei oft hoch entwickelter Intelligenz mit unwidersteh¬
licher Gewalt zu sexuellen Scheusslichkeiten führt; das überzeugend nachge¬
wiesen nnd psychiatrisch begründet zu haben, ist das Neue, welches uns das
Werk gebracht hat.
Rekapituliren wir nochmals kurz den wesentlichsten Theil des Inhalts.
410
Besprechungen.
Nachdem der Verfasser auf manche paradoxe Erscheinungen in der Tita
sexualis, auf die sexuellen Erregungen im Kindes- und Greisenalter hingewiesen
und die Anaesthesien, also gewissennassen eine sexuelle Idiotie und ihren
Gegensatz, die cerebral bedingten Formen der Satyriasis und Nymphomanie,
gestreift hat, wenden sich die Ausführungen der Paraesthesie, d. h. der Erreg¬
barkeit des Sexuallebens durch inadäquate Heize zu. Die Untersuchung dieser
Anomalie bildet den Haupttheil des Werkes (S. 59—319). Es giebt nun 4 Haupt¬
typen dieser Anomalie, die vom Verfasser bekanntlich als Sadismus, Masochis¬
mus, Fetischismus und konträre Sexualempfindung auseinander gehalten und yon
ihren leichtesten Andeutungen bis zu ihren grässlichsten Erscheinungsformen
verfolgt werden. Vor uns wird die Akte der Sadisten, also Derer, die nur durch
aktive Grausamkeit und Gewalttätigkeit in wollüstige Erregung geraten
können, von den weniger gefährlichen „Hendlmännern“, den Beissern und Mäd¬
chenstechern an bis zu den sein Opfer zerfleischenden Lustmördern, Anthropo-
phagen und Leichenschändern aufgerollt. Die Verbindung passiv erduldeter
Grausamkeit und Gewalttätigkeit mit Wollust, der Masochismus, wird uns von
seiner ideellen Form an, welche nur im Vorstellungsleben des Kranken bei
sexuellen Vorgängen abspielt, bis zum Aufsuchen schwerer Misshandlungen und
Demütigungen zum Zwecke sexueller Befriedigung gezeigt. Wir sehen Sklaven
des Fetischismus hier für einen Theil des weiblichen Körpers (Hand, Fuss,
Haar etc.) schwärmen und sich durch ihre Leidenschaft (Zopfabschneiden) in
kriminelle Untersuchung verwickeln, dort ihre sexuellen Fetische in Stücken
weiblicher Kleidung finden und zu Dieben der zur sexuellen Aufregung nötigen
Gegenstände werden, und folgen endlich dem Verfasser (S. 186) zu jener Gruppe
unseliger Menschen, welche bei tief herabgesetzter oder ganz fehlender Em¬
pfindung dem anderen Geschlecht gegenüber nur sexuelle Triebe zum eigenen
Geschlecht haben. Wir kannten die konträre Sexualempfiudung allerdings schon
seit WestphaL v. Krafft-Ebing hat unser Wissen über den Gegenstand
aber erst in meisterhafter Weise vertieft und so geklärt, dass wir in diesen
Fällen nicht mehr eine vereinzelt stehende Verirrung oder besondere Psycho¬
pathie sehen, sondern dass sie uns als eine der verschiedenen Erscheinungsformen
gilt, unter denen die angeborene oder erworbene sexuelle Perversion sich äussern
kann. Der Verfasser geht von der passiven und mutuellen Onanie, welche die
Neuzeit als beischlafähnliche Handlungen schon unter den §. 175 des St.-G. -B.
stellt, aus und zeigt, wie leicht von diesen Akten der Uebergang in wirkliche
Verkehrung der Geschlechtsempfindung ist, und wie allmählich auf diese Weise
eine tiefgehende Wandlung der Gefühle und Neigungen zu Stande kommen kann.
Dies kann so weit gehen, dass der so gezüchtete Päderast sich schliesslich als eine
geschlechtlich ganz andere Persönlichkeit fühlt, und dass bei Individuen, welche
zu Psychosen hochgradig disponirt sind, sich ein vollständig ausgebildeter Wahn
vollkommener Geschlechtsveränderung entwickelt. Wir sehen diesen allmählichen
Uebergang an einer Beihe von Fällen, in denen dieselben Handlungen bei den
ersten noch als durch Nichts zu entschuldigende Verbrechen bezeichnet werden
müssen, die bei den letzten als Krankheits-Aeusserungen unheilbar Verrückter
erscheinen.
Dem gegenüber steht die erworbene konträre Sexualempfindung, welche
sich als psychische Hermaphrodisie, also als Libido zum anderen und eigenen
Geschlecht oder als eine ab origine ausschliesslich dem anderen Geschlecht zuge¬
wandte Neigung zeigt. Im letzteren Falle haben wir die Homosexualen oder
sogenannte Urninge.
Von Seite 319—352 wird dann nach kurzen diagnostischen und prophylak¬
tischen Bemerkungen in eine Besprechung der Heilungsmöglichkeit solcher
Urninge eingetreten und hierbei die wichtige Thatsache betont, dass originäre
Urninge absolut unheilbar sind, dass aber aus norma 1 fühlenden Menschen
zu Urningen Umgewandelte der Heilung — durch hypn.Suggestivbehand¬
lung I! — zugänglich sind. Es ist das ja leicht verständlich, aber für die
forensische Beurtheilung der Urninge ein wohl zu merkender Umstand.
Denn wo auch immer die Zurechnungsfähigkeit eines Urnings für inkri-
minirte sexuelle Handlungen in Frage gestellt wird, da werden wir — und
soweit folgen wir noch den Anschauungen des Verfassers, welche derselbe
in dem letzten Abschnitt „das krankhafte Sexualleben vor dem forum“
niederlegt, und die in dem Werke von Moll (siehe nachstehend) eine
weitere Vertretung gefunden haben —, ich sage, da werden wir immer
Besprechungen.
411
selbst bei scheinbar ganz geistesgesanden und intelligenten Individuen, zuerst
klar legen müssen, ob wir eine Verdrehung des sexuellen Empfindens ab origine
konstatiren können. Lässt sich das erweisen, so liegt die Wahrscheinlichkeit
der Degenerationspsychose in einer Form vor, die sich dem grossen Abschnitt der
inoral insanity einfügt. Wir werden dann den psychopathischen Stammbaum der
Familie durchmustern und durch die genaueste Expertise festzustellcu suchen,
ob nicht gewisse andere Sonderbarkeiten, Excentrizitäten, grosse Ungleichheit der
verschiedenen geistigen Fähigkeiten, oder ob nicht gar Zwangsvorstellungen,
Gefühlsidiotismus und andere geistige oder körperliche Degenerationszeichen auf
die Degenerationspsychose hinweisen, deren wesentlichstes Symptom in solchen
Fällen eine originäre Anomalie des cerebralen Zentrums für sexuelles Empfinden
sein kann. Wir haben dann eben einen Menschen vor ans, der für seine per¬
versen sexuellen Handlungen eben so wenig verantwortlich gemacht werden
kann, wie andere moralisch Irre.
Aber die perverse Handlung allein darf uns — und damit kommen wir
in Gegensatz zu dem Verfasser und meines Erachtens nach zu dem schwächsten
Punkt der schönen Arbeit — noch lange nicht unsere anthropologisch klinische
Untersuchungen gleich mit dem Vorurtheil beginnen lassen, dass es sich wahr¬
scheinlich um einen krankhaft veranlagten Menschen handele, der für seine
Handlungen wenig oder wohl gar nicht zurechnungsfähig sei. Ist das Laster
bei einem vorher normal fühlenden Menschen erworben, so sehen wir ja aus den
oben angeführten Erfolgen der Suggestion, die dem Menschen in der Hypnose
doch nur die passende Gegnervorstellung imputirt, dass der Betreffende noch
durch starke Gegenvorstellungen seine perversen Neigungen zurückdrängen kann.
Wir haben also eine durch schlechte psychische Eindrücke erworbene Perversität
vor uns, deren gesetzverletzende Aeusserungen nur dann straffrei sein können,
wenn sich diese Perversität bei einem auch im übrigen Fühlen und Denken
geisteskrank erscheinenden Individuum zeigt.
Au dieser Auffassung ändert meines Erachtens der Umstand sehr wenig,
dass wohl bei fast allen diesen Menschen eine angeborene oder erworbene neu-
ropathische Konstitution oder psychische Anomalie besteht, welche sie gegenüber
dem, auch perversen, Sexualtrieb weniger widerstandsfähig macht, als geistig
ganz normale Menschen. Es mag ja dem Sachverständigen überlassen bleiben,
je nach dem Grad der vorhandenen psychoneurotischen Schwäche im Einzelfalle
mehr oder weniger stark diese Milderungsgründe zu betonen; aber die sexuelle
Perversität ohne Weiteres in milderes Licht zu rücken, oder gar „wegen
Schwierigkeit der Feststellung der Schuldfrage, Vorscüubleistung der Erpressung
oder Chan tage etc.“ den Vorschlag zu machen, mannmännliche Liebe ganz aus
dem Strafgesetzbuch zu streichen (S. 418), dazu reicht selbst die geistreiche Be¬
handlung des Gegenstandes durch v. Krafft-Ebing nicht aus! Denn wäre
dann nicht die gezüchtete Päderastie, sofern sie nur Kinder unter 14 Jahren
verschonte, auch straflos? Und würde man nicht mit demselben Hecht für die
Straflosigkeit aller sexuellen Bestialitäten plädiren können?
Mit dieser Zurückweisung soll der Werth des Werkes aber nicht ver¬
kleinert werden. Es bleibt ihm neben dem wissenschaftlichen Werth auch der prak¬
tische Nutzen, dass es den Richter daran mahnt, bei allen sexuellen Delikten
an Geisteskrankheit zu denken, und dass es dem Sachverständigen in gegebenen
Fällen eine Fundgrube von analogen Fällen bietet. Derselbe wird dann beim
genaueren Studium der Krankengeschichten auch die beruhigende Entdeckung
machen, dass bei den schweren Fällen — und andere kommen wohl sehr selten
zur kriminellen Untersuchung — die psychische Alienation fast immer sehr aus¬
geprägt ist, und das 3 wir viele der in dem Buche als Paraesthesien angeführte
Fälle ohne Weiteres als Verrücktheit, impulsives oder periodisches Irresein, und
besonders als psychische Aequivalente für epileptische Anfälle ansehen und damit
in bekanntere Formen einreihen können. Dr. Kühn-Uslar.
Dr. Albert Moll: Die konträre Sexualempfindung. Zweite
Auflage. Berlin 1893. Fischer’s medizinische Buchhandlung
(H. Kornfeld). Gross 8°; 394 Seiten.
Das mit einem Vorwort von v. Krafft-Ebing versehene Werk Moll’s
ist schon bei seinem ersten Erscheinen in diesen Blättern — Nr. 24 des Jahr-
412
Besprechungen.
gangs 1891 — von Sanitätsrath Dr. Mittenzweig besprochen. Heute liegt
dasselbe in einer um fast 100 Seiten vermehrten neuen Auflage vor. Wird diese
Umfangsvergrösserung hauptsächlich wohl durch Aufnahme von mehr und aus¬
führlicherer Kasuistik bedingt, so haben doch auch die Ausführungen einzelner
Abschnitte nicht unerhebliche Erweiterungen erfahren.
Moll’s Arbeit, welche sich also nur auf die eine, in dem Titel angegebene
Art des perversen sexuellen Fühlens beschränkt, ruht ganz auf den v. Krafft-
Ebing in dem betreffenden Kapitel seiner Psychopathia sexualis entwickelten
wissenschaftlichen Grundanschauungen und ist im Grossen und Ganzen ein aus¬
führlicher Kommentar zu jenem Werke. Man könnte deshalb bei Beurtheilung
dieses weiteren Beitrages zur psychosexueilen Forschung nur auf das vorher
Uber die Psychopathia sexualis Gesagte verweisen. Moll’s Werk geht
aber in seinen Konsequenzen noch über sein Vorbild hinaus. Homosexuelle
Liebe gilt dem Verfasser ohne Weiteres für etwas Krankhaftes; und als Solches
will er diese Perversität überall beurtheilt wissen. Aber damit noch nicht genug.
Er versucht auch die Päderastie und andere Gemeinheiten des mannmännlichen,
die Tribadie und Lesbische Liebe des weibweiblichen Verkehrs als individuelle
Eigenthümlichkeiten hinzustellen, welche von der Gesellschaft geduldet und
deren Berechtigung durch Beseitigung der betreffenden Sittlichkeitsparagraphen
sanktionirt werden müssten!
Mittenzweig hat bei der ersten Erwähnung der Arbeit auf die Ge¬
fahren hingewiesen, welche Versuche, aus wissenschaftlichen Theorien einzelner
Forscher solche praktische Folgerungen zu ziehen, in sich bergen; und ich habe
bei der Besprechung der Psychopathia sexualis die in dieselbe Richtung aber
noch nicht soweit gehenden Ausführungen v. Kr afft -Ebing’s zurückzu weisen
gesucht. Eine derartige Beweisführung, wie sie Moll zur Begründung seiner
Vorschläge zur Beseitigung des §. 175 beliebt, die könnte man auch zur Be¬
gründung von Beseitigungsvorschlägen noch mancher anderer Paragraphen des
St.-G. -B. gebrauchen. Darnach müssten wir ja z. B. die Diebstahlsparagrapben
streichen, weil es viele Diebe giebt, die in Folge psychoneuropathischer Dis¬
position oder weil aus psychisch degenerirenden Familien stammend, sich von
dem durch schlechtes Beispiel und Gewöhnung erworbenen Hang zum Diebstahl
nicht wieder frei machen können!
Doch genug davon. Nur eine allgemeine Bemerkung kann ich bei dieser
Gelegenheit nicht unterdrücken. Es ist ein Fehler, der in der Neuzeit — nicht
zur Förderung der Werthschätzung psychiatrischen Wissens — manchmal ge¬
macht wird, dass wohl unter dem Einfluss der Forschungen Morel’s, Legrand
du Saulle’s, v. Krafft-Ebing’s und u. A. dem Nachweis erblicher Be¬
lastung und dem Vorhandensein dieser oder jener Degenerationszeichen eiue zu
grosse Bedeutung bei der Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit zugeschrieben
wird. Der im Einzelfalle geführte Nachweis, dass eine Entartungsanomalie vor¬
liegt, beweist doch für die Zu- oder Unzurechnungsfähigkeit noch gar nichts.
Alles kommt in konkretem Falle auf den Beweis von dem Vorhandensein eines
für die inkriminirte Handlung oder Unterlassung entscheidenden psychischen
Defekts oder einer die That erklärenden Irreseinsform an.
Kehre ich nun zu dem Moll’sehen Buche zurück, so will ich gern zu¬
geben, dass dasselbe unsere Kenntniss des Uranismus ganz wesentlich gefördert
hat. In einer ausserordentlich fleissigen Sammlung geschichtlicher Thatsachen
führt der Verfasser den Nachweis, dass die Päderastie und andere sexuellen
Perversitäten sich von dem grauesten Alterthum durch die Geschichte hindurch
bis zu unserer Zeit verfolgen lassen; und seine Zahlenangaben über die muth-
massliche Verbreitung des modernen Uranismus in grossen Städten erhärten
leider die traurige Thatsache, dass diese Perversität jetzt bei einem kleinen
Prozentsatz aller Bevölkerungsschichten sich vorfindet. Moll schildert uns das
Leben und Treiben dieser Leute, wie er es in Berlin mit Unterstützung des
dortigen Polizeipräsidiums beobachten und bis in seine geheimsten Schlupfwinkel
verfolgen konnte. Wir treten an der Hemd des Verfassers in Kreise, in denen
moralisch Verkommene, verführte psychische Schwächlinge und wirkliche Geistes¬
kranke — und aus diesen Elementen rekrutiren sich die Anhänger des Uranis¬
mus — sich zur Befriedigung ihres perversen Geschlechtstriebes zusammenfinden.
Wir sehen, dass konträr Sexuale in derselben Liebe zu einander oder zu be¬
sonders schönen sexuell gesunden Exemplaren des eigenen Geschlechts ent¬
brennen, wie wir sie sonst nur zwischen Mann und Weib kennen, und dass
Besprechungen.
413
homosexuelles Fühlen mit Fetischismus, Masochismus und Sadismus komplizirt
sein kann. Ausführliche und durch Beispiele erläuterte Darstellungen rllhrcn
uns weiter die bekannte Thatsache vor, dass das konträre sexuelle Empfinden
nicht selten das ganze Auftreten, die Bewegungen und Kleidung, dass es das
ganze psychische Sein im Charakter des anderen Geschlechts beeinflussen und
ändern kann, dass bei dem Urning sowohl wie bei der Urningin die ganze
Körperbeschaffenheit nicht selten den Typus des anderen Geschlechtes (auch
Kehlkopfbildung?) annehmen kann; aber wir erfahren auch, dass derartige Er¬
kennungszeichen sich durchaus nicht oft oder regelmässig bei den Homosexuellen
finden, und dass wir aus dem Fehlen derselben noch nicht auf das Nichtvor¬
handensein perversen sexuellen Fohlens schliessen dürfen. Endlich werden wir
wieder an die in den neueren Handbüchern der gerichtlichen Medizin ja schon
genügend gewürdigte Thatsache erinnert, dass wir bei den passiven Päderasten
keine dütenförmige Anusbildnng, bei den aktiven keine spitze Glans, und dass
wir bei den Tribaden keine vergrösserte Clitoris zu suchen haben. Wir ge¬
winnen also bei in Frage stehender Päderastie nur selten aus dem Aussehen
und dem körperlichen Befund sichere Anhaltspunkte und sind auf Zufälligkeiten
(Nachweis von Sperma an verdächtigen Partien der Wäsche, etwaige syphilitische
Ansteckung oder dergleichen) angewiesen.
Bücher, wie das vorliegende, müssen einen grossen buchhändlerischen
Erfolg haben. Die Sachverständigen, die sich mit diesen Materien befassen
müssen, und spezialistische Aerzte sind nnr ein verhältnissmässig kleiner Theil
der Leser. Das Hanptabsatzgebiet haben derartige Schriften in den Kreisen
jener Welt, für die der Verfasser eine Lanze eingelegt hat, und die Welt des
Uranismus scheint nach Moll’s Darstellungen ja nicht klein zu sein.
Dcrs.
Dr. Eugen Rehfisch: Der Selbstmord, eine kritische Studie.
Berlin 1893. Fischer’s mediz. Buchhandlung (H. Kornfeld).
Eine Statistik der Verbrechen, der Geisteskrankheiten und des Selbst¬
mordes kann man als einen Gradmesser der geistigen Degeneration eines Kultur¬
volkes ansehen. Englische und nach Esquirol auch viele französische Psychiater
halten alle Selbstmörder für geisteskrank. Den täglichen Erfahrungen gegenüber
erscheinen solche Anschauungen als einseitige und nicht den Thatsachen ent¬
sprechende. Denn nur etwa 30 Prozent aller Selbstmörder gehören zu den aus¬
gesprochen geisteskranken Meuschen. Aber immerhin kann man den abschliessen¬
den Gewaltakt der scheinbar geistesgesunden Selbstmörder als Folge eines
krankhaften Seelenzustandes gelten lassen, einer chronischen oder auch ganz
akut auftretenden Verminderung der psychischen Widerstandsfähigkeit; mag
diese nun durch Alkohol, Leidenschaften oder erschütternde Katastrophen des
Einzeldaseins, mag sie durch die Misere des Lebens oder Schuld und Furcht vor
deren Folgen heraufbeschworen sein.
Nun wird der geistig normale Mensch durch das eben Angeführte nicht
leicht so weit aus seinem psychischen Gleichgewicht kommen, dass er die Selbst¬
vernichtung als einzige Rettung wählt; wohl aber werden psychisch minder-
werthige, erblich belastete Individuen, die zu psychisch degenerirenden Familien
gehören, in des Lebens Missgeschick leicht die Besonnenheit verlieren und, wie
der Geisteskranke, im Angstparoxysmus des Lebens Ende herbeiführen. That-
sächlich gehören denn auch die Selbstmörder mit wenigen Ausnahmen zu den
psychisch Degenerirten. Sie haben also denselben psychischen Boden, aus dem
in anderen Fällen Geisteskrankheit oder das Verbrechen herauswächst.
Selbstmord ist demnach nur eine Erscheinungsform der psychischen
Degenerationsanomalien, und seine soziale Bedeutung kann nur richtig gewürdigt
werden, wenn man seine Statistik in Parallele mit der der Geisteskrankheiten
und der Verbrechen bringt.
Der Verfasser beschränkt sich auf eine grössere, also gewissermassen
internationale Statistik des Selbstmordes. Letztere war (Morselli) bis 1878
414 Besprechungen.
bekannt. In dem vorliegenden Scbriffcchen wird dieselbe für 17 europäische
Staaten 10 Jahre weiter geführt.
Werden durch diese Zusammenstellung — es ist aus amtlichem Material
die respektable Summe von etwa 300 000 Fällen zusammengetragen — auch
wenig neue Gesichtspunkte gewonnen, so hat der ganze Gegenstand für den
Gerichtsarzt doch ein so grosses Interesse, dass ein etwas ausführlicheres Ein¬
gehen auf den thatsäehliehen Inhalt solcher monographischen Arbeiten immerhin
gerechtfertigt erscheinen dürfte.
Aus den einleitenden Worten dieses Referats wird es begreiflich sein,
dass für das Vorkommen und die Verbreitung des Selbstmordes die direkte Erb¬
lichkeit der Selbstmordneigung und die Nachahmung, also eine gewisse psychische
Infektion, eine grosse Rolle spielen müssen. Das böse Beispiel steckt an, d. h.
reizt Personen, deren psychisches Gleichgewicht ein sehr labiles ist, leicht zur
gleichen That. Die Selbstmordmanie der Jungfrauen von Milet, welche uns
Plutarch erzählt, und das Herabstürzen vom Apollotempel einer kanadischen
Insel, „der Verliebtensprung“, von dem Plinius berichtet, sind Beispiele solcher
Selbstmordepidemien aus dem Alterthum; die Wertherzeit ein klassischer Beleg
aus einer uns näher liegenden Zeitperiode.
Die Selbstmordziffer, welche sich in den Jahren 1820—1878 vervierfacht
hatte, steigt von da bis zur Mitte der 80 er Jahre zwar noch weiter an, zeigt
aber seit jener Zeit, wenigstens in den deutschen Staaten eine deutliche Ab¬
nahme. Interessant ist die Bemerkung des Verfassers, dass in besonders be¬
wegten Zeiten — so in den Jahren 1849, 65, 66, 67, 70 und 71 — die an¬
steigende Kurve der Fälle eine deutliche Einsenkung erkennen lässt.
Folgen wir dem Verfasser zu den speziellen Punkten seiner Studie, so
erfahren wir, dass bei 253 000 Fällen im Allgemeinen auf 4 männliche ein weib¬
licher Selbstmörder kommt. Nur grosse Verkehrszentren, wie Berlin (hier 2,8:1)
liefern ein anderes Verhältnis. Wir sehen ferner die Thatsache weiter erhärtet,
dass die Selbstmordziffer — selbst das Kindesalter (1 Proz. der Fälle) ist nicht
ganz verschont — von der Pubertät bis zum dreißigsten Jahre rasch ansteigt,
sich in den Zeiten der grössten Leistungsfähigkeit, von 30—60 Jahren, auf
grösster Höhe hält, dann allmählich sinkt, aber bis zu den äussersten Lebens¬
grenzen verfolgt werden kann.
Ordnet man die Selbstmörder aus dem Zivilstandc nach dem Berufe, so
zeichnet sich nur die dienende Klasse durch Massenhaftigkeit des Vorkommens
aus. Während sich aus anderen Ständen nur etwa von 2—15000 Menschen
einer das Leben nimmt, kommt bei Menschen, die zu persönlicher Dienstleistung
verpflichtet sind, schon auf 223 Personen ein Selbstmord.
Ein eigenes Kapitel wird dem Vorkommen des Selbstmordes beim Militär
gewidmet. Kommen doch hier im Grossen und Ganzen drei Mal so viel Selbst¬
morde vor, als bei der gleichen Altersklasse des Zivilstandes. Aus leicht be¬
greiflichen Gründen prävalirt hier das Erschienen, während im Zivilstande die
bevorzugte Art des Selbstmordes das Erhängen ist, (66,1 Proz. der männlichen
und 44,3 Proz. der weiblichen Selbstmörder in Preussen). Nach dem Erhängen
folgt hier erst das Ertränken und an dritter Stelle steht erst das Erschiessen
Was nun den Einfluss der Jahreszeiten anlangt, so werden wir auch durch
die vorliegende Statistik wieder daran erinnert, dass die Mehrzahl der Selbst¬
morde nicht in die trüben Winterzeiten, sondern in das Sommerhalbjahr fallen.
Und gerade die schönsten Monate, Mai, Juni und Juli, nehmen die meisten Fälle
(31,6 Proz.) für sich in Anspruch. Wenn irgend Etwas, so weist uns gerade
dieser Umstand wieder auf den innigen Zusammenhang des Selbstmordes mit den
Geisteskrankheiten hin. Wie der Verfasser sacbgeuiäss andeutet, fällt in die
heisse Jahreszeit der Ansbruch der bei Weitem grösseren Zahl frischer psychi¬
scher Störungen, und gerade dann werden, wie ich hinzufügen will, die meisten
interkurrenten Verschlimmerungen bei chronisch Geisteskranken beobachtet.
Eine gleiche Verschlimmerung erfährt in der heissen Jahreszeit auch leicht
das psychische Siechthum vieler erblich belasteter Individuen, und da geschieht
es denn leicht, dass solche Paroxysmen die geistig Minderwertigen zu dem
Gewaltakt der Selbstvernichtung treiben.
Der Verfasser schliesst seine Arbeit mit sozial - philosophischen Betrach¬
tungen, welche er in ein Kapitel, „Die Therapie des Selbstmordes“, zusammen-
Besprechungen.
415
fasst. Er hofft zur Abstellung des sozialen Elends auf weitere und umfassendere
Massnahmen, als sie die derzeitigen sozialen Gesetze (Krankenkassen, Unfall¬
gesetze, Altersversorgung) ergreifen. Positive Vorschläge indessen, wie wir die
erhoffte weitere Weltverbesserung erreichen könnten, hat er leider nicht, und so
schliesst die kleine, übrigens ausserordentlich angenehm zu lesende Arbeit mit
frommen Wünschen, die in glänzendem rednerischen Gewände vorgetragen
werden. Derg.
Dr. Roth, Rep. - und Med.-Rath in Köslin: Sechster General¬
bericht über das Sanitäts- und Medizinalwesen im
Regierungsbezirk Köslin, umfassend die Jahre 1889,
18 90, 1891. Kolberg. 1893. 177 S.
Aus dem sehr reichhaltigen Inhalt heben wir Folgendes hervor: Die Ge¬
burtenzifferwar 1889: 37,1, 1891): 37,03, 1891: 37.5, bis 1890 hatte sie, wie
im Gesammtstaat, fortschreitend aligenommen. Noch grösser war die Abnahme
der S ter bl ich k eit s Ziffer, die von 27,4 im Jahre 1886 allmählich auf
20,7 im Jahre 1891 sauk, nur das Influenzajahr 1890 brachte ein kleines An¬
steigen auf 21,5.
Trotz des Geburtenüberschusses von 41253 Personen für 1886—1890
ergab die Volkszählung vom 1. Dezember 1890 eine Abnahme von 9794 Per¬
sonen, eine Folge der steten Auswanderung, ebenso wie das Ueberwiegen der
weiblichen Bevölkerung. Als „Sachsengänger“ verliessen 1890 den Bezirk vor¬
übergehend 2432 Personen, darunter nur 70 unter Bruch des Arbeiterkontrakts.
Der Prozentsatz der Todtgeborenen war 1889/91 3,53, der der unehe¬
lichen Geburten 9,6—9,9. Die Influenza vom Januar 1890 machte sich auch
in der auffallend geringen Gebnrtenfrequeuz im Oktober und November 1890
bemerkbar. Die Zahl der Eheschliessungen ging von 7,2 für 1000 Ein¬
wohner (1886/88) auf 7,0 zurück. Die Sterblichkeit der ländlichen
Bevölkerung war 1889 und 1890 um mehr als 3, 189^ um 5 auf 1000
günstiger als in den Städten, und beim weiblichen Geschlecht erheblich niedriger
als beim männlichen, besonders in den Städten. Die Sterblichkeit der Kinder
im ersten Lebensjahre war in den Städten grösser als auf dem Lande,
besonders unter den unehelich geborenen; der Prozentsatz der Todesfälle im
ersten Lebensjahre auf 100 lebend geborene Kinder schwankte zwischen 18,6 im
Kreise Kolberg und 13,7 im Kreise Dramburg. — Unter den Infektions¬
krankheiten ist hervorzuheben: a) Pocken: 1891 zeigten sich einige leichte
Fälle in 3 Ortschaften des Kreises Bütow, wahrscheinlich aus Westpreussen eiu-
geschleppt. b) Typhus: Auf 1000 Einwohner betrug die Mortalität 0,21, bei
einer Epidemie in Belgard liess sich nachweisen, dass sie durch einen kleinen
Milchhandel ausgebreitet war; die Milch stand in dem einzigen Wohnraum der
Familie, in der der erste Fall vorgekommen war, alle später Erkrankten hatten
dftvon getrunken, c) Diphtherie: Die Mortalität war 2,0 auf 1000 (1886/88
4,24 auf 1000), auf dem Lande war sie doppelt so hoch wie in den Städten. In
der Regel werden die Aerzte gar nicht oder zu spät zugezogen, und da deshalb
keine Anzeige erfolgt, haben auch die Medizinalbeamten keine Handhabe zu
rechtzeitigem Einschreiten. Desinfektionsmassregeln können hier nur empfohlen
werden, es fehlt an einem Personal zur Ausführung und an jeder Kontrole.
d) Scharlach: Die Mortalität betrag nur 0,09 auf 1000, eine kleiue Epidemie
war in Beziehung zu infizirten Lumpen zu bringen, e) Tuberkulose: Mor¬
talität 1,73 auf 1000, und zwar 2,18 in den Städten und 1,56 auf dem Lande,
f) Puerperalfieber: Als im Kindbett gestorben wurden 373 Franen ge¬
meldet, davon bei 113 von den Physikern Puerperalfieber festgestellt, die An-
zcigepflicht seitens der Hebammen wurde im Ganzen gut befolgt.
Auch die folgenden Kapitel, die in der bekannten Anordnung der Sauitäts-
beriehte alles hygienisch Wichtige im Bezirk behandeln, enthalten sehr viele
interessante Einzelheiten, doch eignet sieh das reichhaltige Material nicht zu
einer auszngsweisen Wiedergabe.
Dr. Woltemas-Diepholz.
416
Tagesnachrichten.
Tagesnachrichten.
T ® er .P' international© medizinische Kongress in Rom sowie der
ii, i “ te ™f: t j 0 “ ale Samtäts- Kongress, der vom 8.-10. September d. J. in
SÄtoveÄ«! m “ Mct8ict l “ f die Ciol.mgof.ta bta zum
e if m d . es Ministers des Innern vom 19. Juli d. J. werden
p r ümversitätefenen an den hygienischen Instituten der Universitäten
fflr vllwouf, a ?’ Kö t n,gsberg < , Kiel nnd Marburg 14tägige hygienische Kurse
2Ll e I7n UDg8beam ^ e abgebalten . werden, um den Theilnehmern durch Vor-
rp. f., j ^^o^strationen einen Einblick in die ihren Wirkungskreis berührenden
stände umfassen 1 - 606 M verschaffen. Die Vorträge werden nachstehende Gegen-
«rüHatil* vlt a ^ g . e “ einen , Aufgaben der Hygiene; Mortalitäts- und MorbiditÄts-
Statistik, Krankheitsursachen; die krankheitserregenden Parasiten.
Bnm.oLf.ge“ hLS "“ 1 WM,e " emr *“”* im Filterbetrieb;
v»nH-iatL« W °n“ ng8hy8 i ie , ne , : «wondheitsschädliche Bestandteile der Luft,
Ventilation; Heizung, lokale und centrale Heizanlagen. Spezielle Wohnungs-
Gtefltagnissechulbaüten, KrankenhÄuser, Isolirbaracken, Arbeiterwohnungen,
anlagen * Abfuhrsyste^ der Abfallstoff e; Kanalisation, Rieselwirthsohaft, Klär-
#ui 5 ' Volksernährung, Kost “ öffentlichen Anstalten; Alkoholismus; Ver¬
fälschung der Nahrungsmittel, Fleischschau, Marktpolizei.
6. Die wichtigsten Theile der Gewerbehyiriene.
7. Begräbnisswesen.
8. Die Verhütung der übertragbaren Krankheiten, Desinfektionswesen.
T)_ tt ® en einzelnen Kursen können 15 bis 20 Theilnehmer zngelassen werden.
Das Honorar ist auf 30 Mark und 6 Mark Institutsgebühren festgesetzt
. Nachrichten über den Stand der Cholera lassen keinen Zweifel,
Jahre ist Sltuatl0n eme ebenso ernste ala zn derselben Zeit im vergangenen
Frankreich herrscht die Seuche nicht blos im südlichen Theile der
Republik (in Marseille betrug die Zahl der Erkrankungen vom 10.—24. Juli
Jl 8 o nd ®™ ist auch im westlichen Theile z. B. in Nantes aufgetreten, wo
vom 13.—27. Juli 44 Erkrankungen mit 30 Todesfällen angemeldet sind.
• ,. ^ ebe .T d * e Au8bre | tang der Cholera in Italien liegen zuverlässige Nach¬
richten nicht vor, doch scheint die Krankheit besonders in Piemont eine
grössere Ausbreitung genommen zu haben und auch in Neapel ist eher eine
Zunahme als eine Abnahme zu bemerken (vom 29. Juli bis 7. August 119 Er¬
krankungen mit 68 Todesfällen). ^
• . In.Russland hat sich die Seuche weiter nach Westen ansgebreitet und
ist auch in Polen (Bialystock) ausgebrochen. Bis znm 30. Juli waren daselbst
d Erkrankungen amtlich festgestellt. Die grösste Ausbreitung hat die Cholera
L n ll P ® d . ol * en / vom , 15 - Jttli bi» 6- August 1632 Erkrankungen mit 604
iodesfällen), m Orel nnd Bessarabien. In Moskau betrug die Zahl der
Erkrankungen vom 30. Juni bis 6. August 272 mit 87 Todesfällen; inNischni-
Nowgorod vom 11. 24. Juli 252 bezw. 102. Augenblicklich sind 16 Gouver¬
nements infizirt.
Bedenklich ist ferner das Auftreten der Krankheit in Rumänien und
zwar in den Orten Braila (vom 5.—11. August 46 Erkrankungen mit 17 Todes¬
fällen) und Sulina (vom 6.—8. August 37 Erkrankungen mit 21 Todesfällen).
Auch ans Ungarn und Galizien werden vereinzelte Cholerafälle gemeldet.
Dagegen hat die Zahl der Cholera - Todesfälle in Mekka und Djeddah
we f™ abgenommen und ist von 1076 bezw. 1521 in der Zeit vom 4—13. Juli
auf 98 bezw. 84 in der Zeit vom 14.—19. Juli gesunken.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden LW.
J. 0. 0. Brun«, Bnehdruckerei, Minden.
6. Jahrg.
Zeitschrift
1898;
für
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rathu.gerichtl.Staatphysikus inBerlin. Reg.- und Medi/.inalrath in Minden.
und
Dr. WILH. SANDER
Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitseile 45 Pf. nimmt die Yerlagshandlung und Rud. Moese
entgegen.
No. 17.
Eracheint am 1. and 15. jeden Monat«.
Preis Jährlich 10 Mark.
1 .
Septbr.
Ueber Alter und Ursprung der Menschenblattern.
Von Geh. San.-Rath Dr. Hagemann, Kreisphysikus in Dortmund.
Ueber Alter iyid Ursprung der Blattern gegenwärtig etwas
beibringen zu wollen, nachdem so hervorragende Kräfte wie
Werlhof, LittrG, Moore, Krause, Häser, Hirsch und
Bohn, gestützt auf gründlichstes Quellen-Studium, diesen Gegen¬
stand bereits in ergiebigster Weise bearbeitet haben, dürfte leicht
als Anmassung erscheinen. Von einer solchen aber weiss ich mich
frei und es möge diesem meinem kleinen Versuche nur zur Ent¬
schuldigung dienen, dass die hohe Wichtigkeit des Gegenstandes
und ein besonderes Interesse, welches ich demselben seit längeren
Jahren schon entgegenbringe, mich veranlasst hat, zu versuchen,
auch meinerseits mein bescheidenes Scherflein zu seiner Klar¬
stellung beizutragen.
Betreffs des Ursprungs und Alters der Blattern lesen wir
— wohl auf die Autorität Krause’s und Moore’s gestützt —
weitaus in den meisten bedeutenderen Hand- und Lehrbüchern der
klinischen Medizin, speziell in denen der Hautkrankheiten und in
medizinisch-historischen Werken, dass die Blattern schon in der
„urältesten“ Vorzeit in Ostafrika, namentlich in dem jetzigen
Abyssinien bis in den Sudan hinein, sowie in China und Ostindien
geherrscht hätten.
Hecker beispielsweise führt an, dass sie schon etwa 2000
Jahre vor ihrem ersten Erscheinen in Arabien, in Ostindien und
China bekannt gewesen seien und die Hindus eine besondere
Pockengottheit „Mariatale“, „Patragali“ oder „Guti-ka- Takurani“
verehrt hätten.
Lessing 1 ) behauptet, dass die Krankheit etwa 1500 Jahre
') Lessing: Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. I, S. 161.
418
Dr. Hagemann.
v. Chr. in China und Ostindien ebenso bekannt wie gefürchtet ge¬
wesen sei, und führt als Beweis ein noch vorhandenes ärztliches
chinesisches Werk: „Herzenstraktat von den Pocken“ an, dem
ein Ursprung aus dem Jahre 1120 v. Chr. zugeschrieben wird.
Nach Hecker 1 ) ist das Variolations-Verfahren der Brammen
von „nicht zu berechnendem“ Alter und der Dienst der Pocken¬
göttin im Attharva Veda (dessen Inhalt nach dem Urtheil eng¬
lischer Sanskritforscher bereits aus dem Jahre 2300 herstammt, das
aber nach der Behauptung der Braminen sogar vor dem Jahre
3300 v. Chr. verfasst sein soll) vorgeschrieben, woraus hervorg-ehen
würde, dass in Ostindien die Pocken schon vor nunmehr länger
als 5000 Jahren aufgetreten sein müssten, da sie ja um diese
Zeit bereits eine eigene Schutzgöttin zugewiesen erhielten.
Krause zweifelt nicht, dass Moses bereits die Blattern
gekannt habe und dass eine der von ihm für die Aegypter herauf¬
beschworenen Plagen eben diese Krankheit gewesen sei; er zweifelt
auch nicht daran, dass die Seuche in Athen zur Zeit des Thucydides,
die Lagerseuche in Sizilien im Lager der Karthager, welche
Diodor schildert, Blattern gewesen sei, und dass Hippocrates
dieselben gekannt und beschrieben habe.
Es wird nun darauf ankommen, hier kurz nachzuschauen,
worauf diese Behauptungen von dem fast unendlichen Alter des
Blattern-Vorkommens sich stützen. .
Die beiden Stellen aus der Attharva Veda die nach Häsers *)
Forschungen möglicherweise auf Pocken bezogen werden können,
sprechen (in der lateinischen Uebersetzung) von „tumores febriles
a sanguine bileque orti, alicubi aut ubique in corpore commemorati,
qui pustulae sunt“ und von „maculae aestu et febre efiectae et
pustulae in membris et ore“; das Leiden wird das eine Mal
„Visphotaka“, das andere Mal „Masurika“ genannt.
Häser selbst bemerkt, dass diese Worte auch nicht einmal
mit annähernder Sicherheit auf Pocken bezogen werden könnten
und die Verschiedenheit der Namen auch auf verschiedene Krank¬
heiten hindeute. Die Pockengöttin aber mit ihren verschiedenen
Namen bedeutet eine Seuchen-, oder Beulen-, oder Fieber-Abwen¬
dende, sie gehört zu den Fabelwesen des Trimurtis - Kultus
und ihre Verehrung ist rein mythischer Natur!
Ausserdem ist doch auch hinsichtlich des Alters der Veden
nicht zu vergessen, dass zwar ihre durch Priester - Kastentradition
fortgepflanzten Lehren sicher bis in ein sehr hohes Alterthum
zurückreichen, sie aber in ihrer jetzigen Fassung (nach Kennern
wie Oppert) nicht vor dem 1. bis 2. Jahrhundert unserer
Zeitrechnung entstanden sind.
Die Behauptung Moore’s vom Auftreten der Blattern in
China schon wenigstens 1500 Jahre v. Chr. und dem schon im
Jahre 1122 erschienenen „Herzenstraktat von den Pocken“
(T6ou tchin fu) steht direkt der des genauen Kenners des Chinesi-
J ) Hecker: Geschichte der neueren Heilkunde. Berlin 1839, S. 131.
*) Häser: Geschichte der epidemischen Krankheiten. Jena 1859, S. 26.
Ueber Alter and Ursprang der Menschenblattern.
419
sehen, Pearson, gegenüber, dass in den sonstigen bekannteren
chinesischen medizinischen Schriften erwähnt sei, die Pocken wären
im 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung von Westen her kommend
zuerst in China erschienen.
Wenn man nun noch dazu nimmt, dass in diesem „Herzens¬
traktat“ bereits Andeutungen von Variolation stehen 1 ), die in
China keinesfalls weiter hinaufreicht als in das 11. Jahrhundert
post Christum, so kann der Gedanke ja gar nicht von der Hand
gewiesen worden, dass jenes Buch erst nach dieser Zeit ent¬
standen ist.
Wir kommen nun zu der Hahn-Krause’sehen Behauptung,
dass Moses die Blattern bereits gekannt hat. Diese stützt sich
auf die Stelle im 2. Buch Kap. 7 des Pentateuch in der von
2Axtj cpAuxxtSes die Rede ist, die von Luther allerdings mit „böser
schwarzer Blatter“ übersetzt wird. Dass diese Stelle von ihm,
der genügend Gelegenheit hatte, zu seiner Zeit jene gefürchtete
Krankheit kennen zu leimen, in dieser Weise übersetzt wurde, ist
sehr erklärlich; es liegt aber thatsächlich für uns nicht der min¬
deste Grund vor, die „blasigen Schwären“ als Blattern aufzufassen,
da diese Bezeichnung eine bei den griechischen medizinischen
Autoren häufig vorkommende und ganz allgemeine ist.
Weiter soll die von Thucydides in vorzüglicherWeise ge¬
schilderte Seuche in Athen im Beginne des Peloponnesischen Krieges
eine Blatternepidemie gewesen sein.
Thucydides 2 ) erzählt, dass im Jahre des ersten Einfalls
des Königs Archidamus in Attika (also im Jahre 430 v. Chr.)
unter dem zwischen den schützenden Mauern Athens zusammen-
gedrängten Stadt- und Landbewohnern eine ansteckende und tödtliche
Seuche ausgebrochen sei, die gegen Anfang des nächsten Jahres
aufgehört, aber im 3. (also 428) mit noch grösserer Heftigkeit
wieder begonnen habe und gegen welche ärztliche Hülfe machtlos
gewesen sei.
Er erwähnt, dass sie ihren Ausgang aus Aethiopien 3 ) ge¬
nommen, viele Länder überzogen, zunächst die Bewohner der
Hafenstadt Athens ergriffen habe und durch diese auch nach der
Stadt selbst gebracht sei. Als die ersten Symptome bezeichnet er
heftigen Kopfschmerz, dunkele Röthung der Rachenhöhle und übel¬
riechenden Athem 4 ), ferner nennt er als Krankheitserscheinungen
*) Vielleicht ergebt es auch diesem Werke wie einem anderen chinesischen
Werke „Die Pulslehre 14 , das bis in die Jahre 2700 vor Christo datirt wird und
zum Verfasser den sagenhaften, um jene Zeit genannten Begründer dos chinesi¬
schen Reiches, den Kaiser Hoang-ti und den Arzt Lipe haben soll, bei deren
Altersrechuung aber der kleine Irrthum vorgekommen ist, dass nmn Hoang-ti
als Mitarbeiter angesehen hat, während ihn Lipe nur als göttlichen Schützer
seiner Arbeit anruft und erwähnt.
*) Thucydides: De bello Peloponnesico: Lib. II, Kap. 47 bis 54 und
Lib. m, Kap. 87.
3 ) Lib. II, Kap. 40: f,p;axo 5s xö plv npwxov sj ’A’.lho-Ja^ xrj; Ü 7 t£p
’AiYÖ7ixov.
4 ) Ibidem: ^ ts cpapir^ xai -f) yXwaaa ioD-ög a f .pax cb 5r) Yjv xal TtvsSjia . . .
5ooü)5t]s yjqpisi.
420
Dr. Hagemann.
eine bläuliche Farbe der Hautdecken, auf denen sich kleine Bläschen
und Schwären befunden hätten 1 ), einen so grossen Durst der Er¬
krankten, dass sie in Raserei verfielen und sich selbst in Cisternen
stürzten, ein Fortschreiten der Krankheit auf die Finger and
Zehen, die bei Vielen brandig wurden und sich abstiessen, worauf
diese zu genesen pflegten 2 3 ); er hebt auch die hohe Ansteckungs-
fahigkeit hervor, in Folge deren massenhaft Aerzte und Kranken¬
pfleger gestorben seien.
Der Autor spricht dagegen nirgendwo von Schwindel, von
Kreuzschmerzen, von Schüttelfiost, also von Symptomen, die einem
so sorgfältigen Beobachter gar nicht hätten entgehen können, falls
sie vorhanden gewesen wären; er spricht selbst die Meinung aus,
dass die Krankheit mit Sumpf-Ausdünstungen zusammenhinge.
Erwägt man alles dies und berücksichtigt insbesondere das
Symptom der Raserei, welches die Kranken bewog, sich in’s Wasser
zu stürzen, die Neigung zu brandiger Zerstörung der Finger und
Zehen, sowie den Übeln Geruch des Athems, so deutet die Gesammt-
reihe der Erscheinungen, wie schon Häser und Littr6 bemerkt
haben, denn doch wohl zweifellos mehr auf eine Flecktyphus-
Epidemie als auf Blattern hin.
Der gelehrte Hecker 8 ) will in der Atheniensischen Epidemie
einen Seuchenzug jener Krankheit sehen, die er die „alterthümliche
Pest“ nennt und die — nach seiner Annahme — nach jahrtausend¬
langem Bestehen zu Justinians Zeit in die spätere Bubonen-
Pest übergegangen sein soll, die aber auch nach seiner Ansicht
einen typhösen Charakter gehabt hat.
Wie steht es dann mit der von Diodor 4 ) allerdings nicht
so genau, als dies für Athen von Thucydides geschehen, be¬
schriebenen Seuche im Lager der Karthager, die gegen Ende des
4. Jahrhunderts v. Chr. Syrakus umschlossen hielten, ausge¬
brochen war?
Diodor erzählt, auch diese Seuche sei aus Afrika ge¬
kommen und sehr ansteckend gewesen, so dass meistens die Kranken
hülflos gestorben seien; er nimmt an, dass aus den Sümpfen auf¬
steigende Dünste zunächst die Athmungsorgane in Entzündung ver¬
setzt hätten, neben welcher sich eine eigenthümliche wasser¬
süchtige Halsanschwellung 5 ) gebildet hätte, Fieber und Schmerz¬
haftigkeit in den Sehnen und Schwere in den Gliedern 6 7 ), ruhrartige
Durchfalle und ein Blasenausschlag über den ganzen Körper p ein¬
getreten seien, viele der Befallenen in Raserei verfallen, die Be¬
mühungen der Aerzte nutzlos gewesen und die Kranken schon
am 5. bis 6. Tage meistens gestorben wären.
Wenn man sich hier nicht lediglich auf die Schmerzen steift,
l ) Ibidem: cpXoxTa£vat6 juxpa»g xal SXxsotv.
s ) Lib. II, Kap. 51: iloXXoi cTSptaxdjisvot todtcbv Öiicf’JYOv.
3 ) Ueber die Volkskrankheiten. Rede. Berlin 1832, S. 4.
4 ) Diodor. Lib. XIV., Kap. 69-70.
5 ) Ibidem, Kap. 70: 4<pö*m 0 di ötSrjpaxa rcspl xov ßpoyX ov -
6 ) Ibidem: ttjvol ev vsäpotg.xat ßapu&Tjxeg.
7 ) Ibidem: Soasvxsptat.xat cf Xuxxatvat jitxpat nipi oXovxö cöjia.
Ueber Alter und Ursprung der Menschenblattern.
421
dürfte es doch wirklich recht schwierig sein, aus diesem Krank¬
heitsbilde Blattern herauszukonstruiren. Die Behauptung K r a u s e ’ s,
dass Hi pp o crate 8 die Blattern gekannt und beschrieben habe,
stützt sich auf jene Stelle im 3. Buche von den Landseuchen, an
der vom Ausbruch der <£v3-paxes*) die Rede ist, die auf dem ganzen
Körper erscheinen.
Es werden aber — wie der Inhalt des Kapitels ergiebt —
hier im Allgemeinen fieberhafte, mit Ausschlägen verbundene
Krankheiten geschildert, die zur Annahme von Blattern gar keinen
weiteren Anhalt geben, wobei auch noch besonders zu bemerken
ist, dass <2v8paxes hier wohl nur die Pluralform ist und nur das
Vorkommen von äv5pa£ bei Mehreren bedeuten soll.
Im Uebrigen findet sich bei Hippocrates — nach
Sydenham — keine einzige Stelle, die mit annähernder Wahr¬
scheinlichkeit und ohne Zwang 8 ) auf Blattern bezogen werden
könnte und eben dies giebt dem grossen medizinischen Autor des
17. Jahrhunderts Anlass zu der vorzüglichen Bemerkung, dass,
wenn jene Krankheit damals schon vorgekommen wäre, sie gewiss
von dem sorgfältigsten aller ärztlichen Beobachter jener Zeit ihrer
Wichtigkeit wegen vollständig deutlich und unverkennbar 3 ) be¬
schrieben sein würde. In ganz ähnlicher Weise äussert sich ein
Jahrhundert später der bekannte P. Frank, wenn er sagt 4 ), es
es müsse Verwunderung erregen, wie Sachverständige aus den
Schriften der Alten behaupten könnten, „dass die Pocken älter
seien als es die treuen Beobachtungen jener alten grossen Aerzte
(wie z. B. Hippocrates) schilderten, die doch sonst die Volks¬
krankheiten so treu beschrieben haben und nun gerade die so
wichtigen Blattern so oberflächlich beschrieben haben sollten, dass
man jetzt nicht mehr im Klaren sei, welche Krankheit sie eigentlich
hätten damit bezeichnen wollen.“
Es ist wirklich nicht leicht, so treffenden Bemerkungen die
Zustimmung zu versagen! Wenn aber die Vertheidiger des ur¬
alten Vorkommens der Blattern von den späteren vor Chr. lebenden
Schriftstellern selbst nicht behaupten, dass jene dieselben deutlich
beschrieben hätten und auch bei den vorher Angeführten keine
irgendwie mit Sicherheit oder auch nur mit Wahrscheinlichkeit
und ohne Zwang auf das Vorkommen von Blattern zu deutenden
Beweisstellen aufzufinden sind, möge es mir gestattet sein, für
meine Person zu bezweifeln, dass die Krankheit vor Christi Geburt
bereits in so prägnanter Form sich gezeigt hat, dass man direkt
eine so frühe Existenz der Menschenpocken behaupten dürfe.
Anders freilich stellen sich die Verhältnisse bald nach dem Beginn
unserer Zeitrechnung.
’) Magni Hippocr&tis Co'i Epidamarum Liber tertius (xaxccaxaai;;
Xs'jpwSrjjs ÄvO-paxsg ftoXXal Yiyvovxai xai <2XXa & OYjcp xaX4exou, gxdtfpaxa p.i-fa.AZ,
gfjt7)X££ fiEYäXai.
*) T. Sydenham: Opera omnia, Sigd. Batavor, 1759, S. 240; nisi quis
forte locus difficilima ratiocinatione torqueatur.
3 ) Ibidem: sagacissimam Hippocratem opinor, is nunquam latuisset.
*) P. F r a n k: Behandlung der Krankheiten d. Menschen; übers, v. Sobern-
heim, Theil HI, S. 94.
422
Dr. Hagemann.
Es sclieiiit die Blattern zunächst aus eigener Anschauung der
Israelit Philo 1 ) gekannt zu haben, wenn er in seiner Lebens¬
beschreibung des Moses von plötzlich auftretenden Exanthenen
spricht xaxa oopcc? öc-iziarfa utzo 7:0005 tyovza cpXuxxodvas, so dass
schliesslich der ganze Körper als ein einziges Geschwür vom Kopf
bis zu den Füssen erschien und die Kranken von Fieber und Durst
gequält zu Grunde gingen. Es liegt recht nahe, hierbei an Variola
confluens zu denken.
Aehnlich verhält es sich mit der Stelle des Pneumatikers
Herodot*) zur Zeit Kaiser Trajan’s, die Aelius von Amida
in seinem 5. Buche zitirt und in der von rothen, auf dem ganzen
Körper mit pestartigem Fieber erscheinenden erkennbaren Flecken die
Bede ist (pcoXcoTre? Tiepl 8 Xov tö owjxa, od iXxwSrj ylyvovtat Iv T 0 I 5
XogiwSsat Tiope-ratg), die zu Schwären werden, von denen die gefähr¬
lichsten die sind, die im Gesichte erscheinen, die unter Zunahme des
Fiebers und unter Eiterung tödten, aus epidemischer Ursache ent¬
stehen und von Volk zu Volk wandern. Auch hier sind mit grosser
Wahrscheinlichkeit die Blattern beschrieben und es muss auffallen,
dass Celsus 3 ), der etwa um die nämliche Zeit sein Werk verfasst
hat, ihrer in dem Kapitel über die febres pestilentes aber gar nicht
erwähnt. Bei einer späteren, etwa um das Jahr 125 aufgetretenen
Pest, die Orosius beschreibt und die in Vorderasien, Griechen¬
land und Italien herrschte, bleibt es zweifelhaft, ob dabei die
Pocken gemeint sind, da zwar heftiges Fieber, Kopfschmerzen und
Hautausschläge über den ganzen Körper aufgeführt, die letzteren
aber gar nicht weiter beschrieben werden.
Mit annähernder Sicherheit lässt sich indessen behaupten,
dass der gelehrteste Arzt des Alterthums, Galenus, die Menschen-
Blattern kannte.
Seine Beschreibung von exanthematischen Symptomen jener
grossen Pandemie, die fast 15 Jahre lang (von 165—180 nach Chr.)
dauerte und den Kamen der A 11 ton in’sehen Pest in der Ge¬
schichte führt, lässt kaum einen Zweifel übrig, dass iu den letzten
.Jahren die Seuche in variolöser Form aufgetreten ist.
Nach Ammianus Marcellinus erstreckte sich das da¬
malige Pestgebiet von den Grenzen des Perserreichs bis nach
Gallien, die Ansteckung war eine eminente, die Tödtlichkeit eine
ausserordentliche. Ausgebrochen scheint die Seuche nach der Ein¬
nahme von Seleucia zu sein und die Legionen des siegreichen
A vidi us Gassi us mögen sie auf ihren Märschen nach Westen
hin verschleppt haben. Ihr erlag in seinem Zelte am Donaustrand
im Jahre 180 einer der mächtigsten römischen Kaiser, der ruhm¬
reiche Mark -Aurel, nachdem er selbst seinen Sohn, um ihn vor
Ansteckung zu bewahren, fortgeschickt hatte.
Von Symptomen derselben beschreibt Galen insbesondere
eine Entzündung des Pharynx, der dunkel geröthet erschien, und
einen übelriechenden Atheni; die Haut war nicht heiss anzufülilen,
*) Käser, a. a. 0., S. 24.
*) Ibidem, S. 27.
8 ) A. C. Celsi de mediciua; Lib. III., Kap. 7.
Ueber Alter und Ursprung der Menschenblattem.
423
dabei aber quälte die Kranken heftigste innere Hitze und Durst;
am 7. oder 9. Tage trat Durchfall auf, der röthliche oder schwärz¬
liche Massen entleerte. In den letzten Jahren der Epidemie trat
bei den Meisten am 9. Tage der Krankheit ein Exanthem auf.
Dasselbe stand auf dem ganzen Körper 1 ) dicht bei einander,
war von dunkeier Farbe und pustelförmig, nicht nässend. Später
füllten sich die Pusteln mit Eiter; es bildeten sich oben auf ihnen
Schorfe, die sich später abstiessen *), wonach die Pusteln abtrock¬
neten. Lange Zeit hindurch wurde dieser Ausschlag brandig 3 )
und es starben sehr viele daran.
Liest man diese Schilderung, so ist es doch sehr wahr¬
scheinlich, dass die mit dem Exanthem einhergehenden Erkran¬
kungen Menschenblattern gewesen sind und wenn auch Hecker
diese ganze Epidemie wieder seiner „alterthümlichen“ Pest zu¬
rechnen will, so wird man eher Krause zustimmen, der darin die
Blattern sieht.
Ob in der Pest des Cyprian 4 ), die auch etwa 15 Jahre
andauerte (251 bis 266), aus Aethiopien über Aegypten und das
Mittelmeer nach Europa fortschritt und namentlich Südeuropa
heimsuchte, Beulenpest oder Blattern zu suchen sind, lässt sich
nach H ä s e r nicht mit annähernder Sicherheit feststellen, da unter
den Hauptsymptomen Entzündung der Mund- und Rachenhöhle,
Entzündung der Augen mit öfters zurückbleibender Erblindung,
grosse Ansteckung und Tödtlichkeit genannt, aber weder ein
Exanthem, noch Bubonen beschrieben werden.
Dagegen findet sich in der von Eusebius 5 ) beschriebenen
Pest die zur Zeit des Kaisers Maximinus (also etwa 310 bis 311)
auftrat und insbesondere Griechenland und Italien verheerte, eine
von dem bekannten Xoi|x£>s abweichende Krankheitsform, bei der
<Jv9-paxes pcxpol mit eiterigem Inhalt gefüllte Pusteln über den
ganzen Körper ausbrachen, die gewöhnlich im Gesicht begannen,
die Augen mitbefielen und Blindheit zuriickliessen. Diese kann
man ohne Zwang wieder auf Blattern deuten.
Im 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung findet sich bei den
Autoren nichts auf Pocken bezügliches.
Während nun in der vorchristlichen Zeit mir kein genügender
Beweis für das Vorkommen der Blattern erbracht zu sein scheint,
in den ersten 5 Jahrhunderten unserer Zeitrechnung die Krankheit
epidemisch sehr wahrscheinlich jeweilig geherrscht hat, tritt sie
plötzlich mit zweifelloser Sicherheit im 6. Jahrhundert in die
Geschichte ein. Es geschah dies während jener furchtbarsten
Pest-Epidemie der ersten Jahrhunderte nach Christi - Geburt, in
der zweiten Hälfte des 6. Saeculums zur Zeit des Kaisers
*) CI. Galeni methodns medendi; Lib. V, Kap. 82: egaviWjpaxa piXava
5iä 7tavxög xoö ocopaxoj äupticog äcpalvexo toij uXefaxoi^ pev sXxo>5?j, xccai Se £r ( pa.
*) Ibidem: xd SmTtoXvJs äv£mnxev diug ovopä^ouaiv i^eXLZai.
8 ) CI. Galeni de bonis pravisque elementorum succis, Lib. II, Kap. 1
ctv9-paxcb5y) xal cfaye^cx'.v'.xx.
4 ) Haeser a. a. 0., S. 38ff.
®) C. H. Fachs: Die krankhaften Veränderungen der Haut. 1841,
S. 1113 p. p.
424
Dr. H&gemann.
Justinian,die recht eigentlich die erste Epidemie der orientalischen
Pest mit ihren Brandbeulen und Drüsengeschwülsten gewesen ist.
Was aber schon in der von Eusebius geschilderten Pest
sich anbahnte, gab sich in dieser deutlich kund, nämlich das Selbst¬
ständigwerden einer Krankheitsform ohne Bubonen, dagegen mit
pustulösen Hautausschlägen, bei der dieselben theils in einzelnen
Pusteln nahe bei einander standen, theils zusammenflossen, mit
späterer Bildung von Eiterkrusten, wie dies das Eigentümliche
bei Variola ist.
Nach Procops Schilderung brach jene grosse Pest 541 in
Pelusium aus und breitete sich sowohl ostwärts über das Mittel¬
meer nach Kleinasien, Syrien, Arabien und Persien, als westwärts
über Griechenland, Thrazien, lllyrien, Ungarn und Gallien aus,
während sie zunächst Italien 543 nur flüchtig streifte und nach
Spanien erst im Jahre 584 gelangte.
Dass Südgallien und besonders das Gebiet von Alles vorzugs¬
weise von ihr heimgesucht wurde, finden wir bei einem ihrer gründ¬
lichsten Chronisten, dem gelehrten Bischof Gregor vonTours 1 ),
der uns auch die ausführlichste Schilderung von der später an ihre
Stelle tretenden oder mit ihr abwechselnden Pustularpest (unserer
Variola) hinterlassen hat.
Procop erzählt, dass sie schon im Jahre 542 Konstantinopel
so stark heimgesucht habe, dass auf der Höhe der Epidemie 4000
bis 5000 Menschen täglich daran gestorben seien, dann aber bei
ihren Seuchenzügen, die fast bis gegen das Ende des Jahrhunderts
gedauert zu haben scheinen, dieselbe Stadt nochmals im Jahre 583
ganz besonders befallen und dermassen dort gewüthet habe, dass
es an Händen zur Bestattung der Todten fehlte, man die Sykaei-
schen Doppelmauern abdeckte und ungezählte Leichen zwischen
denselben anhäufte, was dann der Weiterverbreitung wohl erst
recht Nahrung gegeben hat.
Auch an räumlicher Ausdehnung ist sie die bedeutendste
aller früheren Seuchen gewesen; sie hat dem römischen Weltreiche
und den ihm benachbarten Völkern fast J /s sämmtlicher Einwohner
geraubt, blühende Städte in Einöden verwandelt und wesentlich
dazu beigetragen, dass fortan die römische Macht dem Andrängen
urwüchsiger Barbarenschwärme nicht mehr Stand zu halten
vermochte.
So wichtig ein näheres Eingehen auf diese Pest auch sein
mag, darf ich dies nach dem Plane dieser kleinen Arbeit mir doch
nicht gestatten, sondern ich werde mich direkt zu denjenigen
Eigenthümlichkeiten derselben wenden, die für uns hier in Betracht
kommen.
Jene Krankheit mit den geschilderten Hautsymptomen und
ohne die Erscheinung der Bubonen hat wohl als der Erste Marius,
Bischof von Avenches 2 ), mit dem Namen Pusulae, Pustulae, Morbus
*) Gregorii Turonensis: Historia Francorum Lib. IV, Kap. ö: quum per
diversas regiones (lesaeviret et maxime tune Arelatinam provinciam depopu-
laretur.
r ) Fuchs a. a. 0. S. 1115.
Ueber Alter und Ursprung der Menschenblattern.
425
dysentericus cum pusulis oder Lues cum vesicis benannt und von
ihr gesagt, dass sie zuerst 570 in Südfrankreich erschienen sei.
Ihr genauester Schilderer, Gregor von Tours, giebt als
die wichtigsten Erscheinungen an: *) „ein heftiges Fieber als Beginn,
oftmals Erbrechen, Schmerzen im Kopf und in der Kreuzgegend. *)
Alsdann brechen kleine harte brennende Pusteln (fere innumerabilis
copiae) hervor. Diese reifen, platzen und lassen Eiter herab-
fliessen, so dass in schmerzhafter Weise die Bedeckungen an dem
Körper ankleben. Die Pusteln entstehen zunächst im Gesicht, die
Augen werden davon befallen und entzündet, so dass sie oftmals
erblinden. Aerztliche Hülfe wirkte nicht und es starben sehr viele
während der Schorfbildung 3 ) (incrassante veneno).“ Gregor glaubte,
dass durch starkes Hervortreiben des Ausschlages die Krankheit
gemildert werden könnte, indem so das Gift herausgetrieben würde
durch Hautreize verschiedener Art (muscae in scapulis, sive ci uribus
ventosae).
Er führt auch den Volksnamen der Krankheit „Corales“ 4 )
in diesem Sinne an und empfiehlt an einer Stelle Ableitung durch
Kanthariden - Umschläge.
Er erzählt, dass im Jahre 580 die Gemahlin Guntrams
von Burgund, Austrigild, an der Lues cum vesicis gestorben
sei und in ihrem rachsüchtigen Sinne sterbend ihrem Gemahl das
Versprechen abgenommen habe, ihre beiden Aerzte hinrichten zu
lassen, da sie diese vernachlässigt hätten.
Die Aerzte seien auch wirklich getödtet worden, was von
dem Autor als ein „detestabile crimen“ erklärt wird. 6 )
Er bemerkt ausdrücklich, dass so gefährlich diese Lues für
Jedermann war, sie doch am verderblichsten und tödtlichsten für
kleine Kinder gewesen sei, die fast alle, sobald sie von ihr ergriffen
worden, zu Grunde gegangen wären.
Diese Schilderung ist deutlich genug, um Niemand daran
zweifeln zu lassen, dass Gregor die Blattern beschrieben hat;
er selbst unterscheidet ausserdem ganz ausdrücklich diese Lues
von einem Morbus inguinarius der im Narbonensischen Gallien 0 )
herrschte.
Höchst eigenthümlich ist es, dass ungefähr um die nämliche
Zeit, vielleicht 7 Jahre früher, an einem gar weit von Gallien
entfernt liegenden Lande, nämlich an der Westküste Arabiens
zum ersten Mal die Blattern aufgetreten sind, die nach R e i s k e *)
zunächst in poetischer Form von dem im 10. Jahrhundert lebenden
Dichter El. Hamisy und nach diesem von den Historikern
*) Gregorii Turoneusis a. a. 0. Lib. VI, Kap. 14 pp.
*) So glaube ich seinen Ausdruck, Lib. V. Kap. 32, „renum niinius dolor“
deuten zu müssen.
*) a. a. 0. Lib. V, Kap. 32.
4 ) Nach der Bedeutung des altdeutschen Wortes „Koren“: „auswählen
oder absondern“, so dass es pustulae secernentes bedeuten würde.
s ) a. a. 0. Lib. V, Kap. 36.
8 ) a. a. 0. Lib. VI, Kap. 14.
7 ) Reiske: Miscellanen medica ex monumentis Arabum. Tom. I, S. 8—15.
426 Dr. Hagemann.
Massudi und EbnDoreid deutlich und unzweifelhaft beschrieben
wurden.
Der letztere schildert ausführlich die bekannten Symptome
derselben und zwar als die keiner neuen, sondern in Afrika
längst bekannten Krankheit, die nur damals nach Arabien zum
ersten Mal eingeschleppt sei, während für Gregor von Tours
die Eirankheit eine überhaupt neue, noch niemals früher dage¬
wesene ist.
El. Hamisy erzählt, wie in dem sogenannten Elefanten¬
kriege (570 bis 572) der Abessynier-König Abreha mit seinem
tapferen Heer und seinen Kriegselefanten die Araber in blutigen
Schlachten besiegt und nun die in Mekka Eingeschlossenen mit
schwerer Belagerung bedrängt habe, bis unter den Belagerern selbst
eine mörderische Pockenepidemie ausgebrochen sei, die das Heer
aufgerieben und als den letzten den König selbst hingeraflt habe.
Dies Auftreten der Blattern beschreibt er in poetischerWeise so,
dass ein Zug schrecklicher und noch niemals gesehener Vögel mit
grünem Gefieder und gelben Schnäbeln vom Meere her über das
abessynische Lager hingeflogen sei, von diesen Vögeln, „Ababil“ *)
genannt, habe jeder im Schnabel und Klauen kleine Steine in
Erbsengrösse getiagen, die er auf die Belagerer habe herabfallen
lassen; die Steine durchbohrten die stärksten Rüstungen, tödteten
das ganze Heer und zuletzt den übermüthigen König, der es ge¬
wagt hatte, die altheilige Kaaba zu bedrängen.
Eine gleiche Deutung, in dem Sinne, dass jene Seuche die
Strafe Allah’s für den Frevel an dem arabischen Nationalheilig¬
thum gewesen sei, giebt ihr auch der Koran. 2 )
Ausser den Pocken (Dschedry) werden von Massudi noch
andere Krankheiten genannt, die damals in Arabien aufgetreten
sein sollen, z. B. Ilasbah und Nawasel, die von den bisherigen
Forschern als Masern und Scharlach gedeutet sind, denen neuer¬
dings noch Wernher beigepflichtet, während Hirsch die Hasbah
eher als Scharlach angesehen wissen will und die Deutung des
Nawasel unentschieden lässt.
Wenn nun überhaupt niemals bestritten ist, dass die letzt¬
genannten Epidemien echte Blatternepidemien gewesen sind, aber
von Einzelnen die Vermuthung geäussert ist, es möchte die in
Südfrankreich herrschende Krankheit eine eigentliche Pest mit
pustulösen Ausschlägen, also eine dem alten Xoipds analoge
Krankheit gewesen sein, da 581 in Frankreich in der That die
Pest grassirte, und wenn weiter die Betreffenden behaupten, dass
erfahruugsgemäss grosse Seuchen verschiedener Art neben
einander zu herrschen pflegten, so ist die Schilderung Gregor’s
doch zu prägnant, um solchem Zweifel Raum geben zu können
und ausserdem findet sich auch nirgends eine Angabe, dass 580
in Frankreich die Bubonenpest geherrscht hätte. Es ist aber
eine bekannte Erfahrung, dass kurz hintereinander verschieden-
l ) Nach Rciske der älteste persische Name der Blattern.
*) Seite 105. „Weisst Du nicht, was der Herr Dein Gott an dem Führer
der Elefanten gethan hat.“ u. s. w.
Ueber Alter und Ursprung der Menscheublattem.
427
artige grosse Epidemien auftreten können, wie dies die Beobach¬
tungen Volmer’8 bestätigen, dass nämlich im Nil-Delta die
Blattern der Bubonenpest mehrfach unmitteli ar vorausgegangen sind.
So haben wir denn zweifellos in der Lues cum vesicis oder
den Corales im Jahre 580 die Blattern zu sehen, die sich hiermit
in Europa eingeführt haben.
Während übrigens in Europa derselben von den Chronisten
des 7. und 8. Jahrhunderts keine deutliche Erwähnung geschieht,
scheint im Orient die Krankheit seit ihrem Auftreten in Arabien
gar nicht wieder erloschen zu sein und es ist nicht unwahrschein¬
lich, dass die Eroberungszüge der kriegerischen Araberschaaren
die Infektion auf die benachbarten Länder übertragen haben, die
sie mit ihren siegreichen Waffen überflutheten.
Wir finden auch bei ihren Historikein die genauesten Schil¬
derungen der Blattern jener Tage; von denselben seien hier nur
Ahrun, 1 ) Mesue der Aeltere, vor Allem aber der berühmte Arzt
Muhamed Abu Behr aus Rhaj (daher Rhazes gewöhnlich ge¬
nannt), Hali Ab bas und Abu Dschafar, von den abend¬
ländischen Arabisten Gaddesden 2 ) und Gentilis de Fuligno
aufgeführt.
In den Pandekten des Nestorianers Ahrun, die er im Jahre
der Hejra (nach Fuchs 3 ) im Jahre 660) verfasst haben soll und
die sich nur bruchstückweise vorlinden, ist von den Symptomen
und der Heilung der Blattern die Rede, die Ahrun aus ent¬
zündetem Blut und Aufwallen der gelben Galle entstehen lässt.
Mesue, ebenfalls Nestorianer der in der zweiten Hälfte des
8. Jahrhunderts lebte, leitete die Pocken von einer bei allen
Menschen nothwendigen Gährung des Blutes her, hiermit ihr
allgemeines Vorkommen andeutend und erklärend.
Die weitaus wichtigste Schrift über die Pocken aus jenen
früheren Zeiten ist aber unbestritten die von Rhazes gegen das
Ende des 9. Jahrhunderts verfasste, die sich noch vollständig
erhalten hat, sowohl arabisch als in lateinischer Uebersetzung:
„Tractatus de variolis et morbillis“. In ihr ist, offenbar auf
eigene Erfahrungen gestützt, eine vorzügliche Beschreibung
der Krankheit und mancher noch jetzt beherzigenswerther Wink
über die Behandlung gegeben; leider wurden des grossen
Arztes Mahnungen von späteren Aerzten Jahrhunderte lang
vernachlässigt, bis endlich die klare Einsicht eines Sydenham
sie wieder autfrischte.
Nach Rhazes liegt schon der Keim der Krankheit im Blute
des Embryo, weshalb sie durchschnittlich alle Menschen und ins¬
besondere die Kinder befällt und als Reinigung des Blutes anzu¬
sehen ist.
Als Behandlung empfiehlt er durchweg ein kühles Verhalten
und kühles Getränk, sowie Anfangs kühlende Arzneimittel; später
■) C. Sprengel: Versuch einer pragmatischen Geschichte der Heilkunde;
Bil. II, S. 3z8 II.
2 ) Mor'tz: Geschichte der Medizin; Bd. II, S. 115.
3 ) a. a. 0., S. 0^2.
428
Dt. Hagem&nn.
behufs schnellerer Reifung der Pusteln feuchte Wärme; die grösse¬
ren Pusteln sollen mit einer feinen Nadel rechtzeitig geöffnet
werden, um ein Brandigwerden zu verhüten; von allen eingreifen¬
den und reizenden Mitteln soll abgesehen werden.
Noch lebensgefährlicher als die Blattern erscheinen ihm
übrigens die Masern.
Der nicht lange nach Rhazes zu Bagdad lebende Hali
Abbas Magus hält sich betreffs der Therapie der Blattern im
Ganzen an seines Vorgängers Lehren; empfiehlt aber zu Anfang
der Krankheit einen Aderlass und Schröpfköpfe zwischen den
Schultern.
In seinem „Reisehandbuch“ spricht sich Abu Dschafar
Ahmed über Blattern und Masern und den Unterschied in der
Behandlung beider aus. Dies Werk ist von dem bekannten Lehrer
zu Salerno, Constantinus Afer zu Ende des 11. Jahrhunderts
in’s Lateinische übersetzt; dort wird die Krankheit von ihm zuerst
„Variola“ genannt, während der zu Kaiser Manuel’s Zeit lebende
Symesius, dieselbe als oder als <fXuxxatvoöo9] Xeupix^j, die
Masern dagegen als X&rn) xal tojxvtj Xeupix^ bezeichnet.
Von den abendländischen Arabisten spricht der stark dem
Mystizismus zugeneigte Gaddesden in seiner wahrscheinlich im
Jahre 1327 erschienenen „Rosa anglica“ ziemlich ausführlich von
den Blattern und ihrer Behandlung; er erwähnt bei ihnen auch
des Vorkommens von punctilli magni, empfiehlt anhaltende An¬
wendung von Wärme und räth Einnähen des ganzen Körpers in
rothen Wollstoff (scarletum rubrum vel pannum alium rubrum).
Ferner bespricht die Blattern näher der Bologneser Professor
Gentilis de Fuligno im Jahre 1348, der die Eröffnung der
reifenden Pusteln mittelst einer goldenen Nadel anräth.
Seit ihrem historischen Eintritt in Europa haben die Blattern
nun nicht aufgehört, in immer wiederkehrenden Seuchenzügen
diesen Erdtheil heimzusuchen.
Im 8. Jahrhundert wurden sie, wenn auch nur auf beschränk¬
tem Areale, durch die Eroberungskriege der Ommajadischen Kha-
lifen nach Südspanien übertragen. Sie haben sich übrigens damals
nicht nachweislich weit über andere europäische Länder verbreitet.
Als aber der zunächst von Osten her nach Westen fluthenden
mohamedaniscken Völkerwoge die christliche Gegenwoge in Form
der Kreuzzüge gegen Ende des 11. Jahrhunderts gefolgt war, fiel
die Schranke, die bisher den Seuchenkeim des Ostens vom Westen
entfernt gehalten hatte. Schnell verbreiteten sich die Blattern
über das Abendland und schon im 12. Jahrhundert lesen wir bei
den Geschichtsschreibern von Pockenerkrankungen, von Blattern¬
narbigen, von durch Pocken Erblindeten.
Sie wurden seitdem die gefurchteste Volkskrankheit Europas
und neben der orientalischen Pest der gefährlichste Feind des
Menschengeschlechts, deren Verheerungen in dem Masse Zunahmen,
als die Bevölkerung wuchs und der Verkehr zwischen den Völkern
sich mehrte.
Der neuen Welt waren sie vor ihrer Berührung mit den
Ueber Alter and Ursprung der Menschenblattern.
429
Europäern unbedingt fremd; sie sollte sie dann aber auch gleich
in ihrer ganzen Schrecklichkeit kennen lernen, da sie mit der
schrankenlosen Wuth, die sie jedesmal entfalten, wenn sie in noch
nicht von ihnen heimgesuchte Gegenden kommen, in Mexiko (durch
die spanischen Eroberer eingeschleppt) in wenigen Monaten etwa
3 1 /* Millionen Menschen 1 ), in St. Domingo fast sämmtliche Ein¬
wohner, in Grönland von 2000 Erkrankten 1993 tödteten.
Während andere Seuchen der gefährlichsten Art, ja selbst
der schwarze Tod des 14. Jahrhunderts nach Verlauf von Jahren
verschwanden, während die orientalische Pest überhaupt schon im
16. und 17. Jahrhundert vor den Verbesserungen der Civilisation
und (mit ihr) der Sanitätsmassregeln aus dem Abendlande zurück¬
wich und in den Ländern Europas keine Stätte mehr finden konnte,
haben sich die Blattern nicht daran gekehrt. Alle diese Fort¬
schritte sind spurlos an ihnen vorübergegangen. Schrecken, Tod
und Verderben so in die Paläste wie in die Hütten tragend galt
und gilt vor ihnen kein Ansehen der Person; in feindseliger Wuth
ergreifen sie allein den Menschen als solchen, gleichviel welcher
Eace oder gesellschaftlichen Gruppe er angehört, und haben ihre
Verheerungen, an Heftigkeit eher noch zunehmend, als die furcht¬
barste aller Krankheiten fortgesetzt, bis ihnen gegen das Ende
des vorigen Jahrhunderts des grossen Jenner’s Entdeckung das
mächtige Halt gebot und ihnen noch überall dort gebietet, wo
man der segensreichen Entdeckung die Pforten geöffnet hat. Dass
sie selbst aber trotz gegenteilig lautender Phrasen noch immer
genau der alte böse Feind geblieben sind, das lehrt uns noch
jeden Tag ihr Auftreten bei nicht vaccinirten Bevölkerungen, das
lehrt der vor wenigen Jahren erfolgte Tod des ersten und be¬
deutendsten Mahdi, der ihnen auf einem Kriegszuge unweit Om-
durrnan erlag, wie ihnen vor Jahrhunderten der grosse Mark-
Aurel in seinem Lagerzelte an der Donau, der König Abreha
vor Mecca, der mächtige Begründer der Abassiden-Dynastie Khalif
Abul Abbas el Sa ff ah im ragenden Palast zu Damascus, König
Ludwig XV. im Louvre zu Paris erlegen ist.
So viel über das Alter der Blattern.
Ueber ihre eigentliche Heimath lässt sich meines bescheide¬
nen Erachtens etwas Bestimmtes nicht sagen; nur das darf
behauptet werden, dass ihr Ursprung kein europäischer ist, son¬
dern dass sie einem der beiden anderen alten Erdtheile entstammt
sind. Welchem von beiden aber, ist nicht so leicht zu beant¬
worten, zumal die ältesten genaueren Besclireiber der Krankheit,
die arabischen Schriftsteller, selbst entweder nicht wussten, oder
doch nicht angaben, woher sie im 6. Jahrhundert nach Mecca
gekommen sind und Gregor von Tours nichts Besonderes
darüber hinterlassen hat.
Wenn die Behauptung eines Arztes, sie seien schon so alt
als das Menschengeschlecht, ihre Richtigkeit hat, müssten sie frei-
*) Hirsch: Handbuch der historisch - geographischen Pathologie 1889,
Band. I, Seite 218.
430
Apotheken - Revisionen alter Zeit.
lieh schon im biblischen Paradiese g-eherrscht haben und hätten
dann allerdings am ehesten Gelegenheit gehabt, nach China oder
Indien auszuwandem. Da man aber derlei Behauptungen wohl
nicht ernst nehmen wird und das behauptete Vorkommen der
Blattern in Indien und China schon in der „grauesten Vorzeit“
nirgends erwiesen, vielmehr so grau ist. wie alle Theorie, wird
man wohl zugeben können, dass die Krankheit in Asien schon
recht alten Datums ist, aber doch das Faktum festhalten müssen,
dass die ältesten wahrscheinlichen Nachrichten auf Aethiopien als
das Land, in welchem sie erweislich zuerst aufgetreten und wahr¬
genommen sind, hinweisen.
Apotheken-Revisionen in alter Zeit. 1 )
(Aus dem Stadt-Protokoll der Stadt Landsberg a. W. vom 1. Dezember 1G87.)
Es haben Se. Churf. Durchl. zu Brandenburg, Unser gnädigster Herr der
Chur. Landen, zum Besten ein Collegium medicum gnädigst geordnet, welches in
den Städten unter anderen Verrichtungen auch auf die Apotheken fleissige acht
haben und seihte visitiren sol, ob nottürftige und zu den arzneyen tüchtige
spezies undt materialien darinnen vorhanden, wodurch die Patienten recht curiret
werden mögen, gestalt daun desfals am 12. Nov. anno 1685 ein Churfürstl. Edikt
publiciret worden, welches in unterschiedlichen puncten disponirt, wie und
welcher gestalt es in solchen und anderen Dingen gehalten werden solle.
Als nun diesem zufolge die zu dun Newmarkischen undt am Oderstrohm
belegenen Stedten verordnete Visifatores als die hochedlen Grossachtbare undt
Hocbgelahrte Herren H. Irenons Vehre Churf. Brand. Raht und Leib-Medicus
undt H. N. Albinns medicinae doctures undt der medizinischen Facultät zu
Frankfurt an der Oder berühmte Professores publici allhier angelanget sind, des
Vorhabens, mit Zuziehung des Magistrats und des Herrn Stadt-Physici allhier
die Visitation in der hiesigen Apotheken des Herrn Benedicti Salzwedels vor die
Haudt zu nehmen. So ist hierzu im nahmen Gottes der 5. Dezember dieses
jahres hora 8 matut. der anfang gemachet in praesentia ubbemelter beyder
Herren Professoren und von wegen des Rahts alliier Bürgerin. Christoff Kragen,
Herren Bürgerm. Daniel Scheden und des Syndici Johann Conrad Schedens, wie
auch des hiesigen Herrn Medici und Stadtphysici Doct. Johann Joachim Liuckens.
Die beyden Herrn Professores als ad haue actum Duputati haben ihre Per-
sohnen mit einem Churf. gnädigsten Reskript, so an die medizinische Facultät zu
Frankfurt ergangen, legitimiret. Dur Herr Apotheker hat hierauf alle und
jede zu den arzneyen gehörige species, wie dieselben in den Apotheken nach
dem exhibirten Cathalogo vorhanden sindt, produciret, welche die Herrn Yisi-
tatores wohl besichtiget, durch den geruch und gesehmaek probiret und alles
gut und tüchtig befunden. Sie haben mit dieser Visitation vier Tage zugebracht,
wobey dan auch die anderen Herren Collcgen des Rahts zum öfteren gewesen.
Mitler Zeit seimlt Sie gebührlich bewirthet mit guten Speisen undt wein tractiret
und bei endigung dieses Aktus hart E. E. Raht nebst dem Herrn Apotheker
20 Thlr. wegen ihrer Bemühung und 6 Thlr an fuhrlohn und reisekosteu ihnen
offeriret. Und weil sie versprochen, über die Beschutfenhcit der Apotheken ein
*) Das vorstehende Protokoll ist dem 1. Heft der Schriften des Vereins
für die Geschichte der Neumark aus einem Aufsatze von Eckert-Berlin: „Die
Landsberger Stadtsehreiber-Chronik“ entnommen und uns von dem Herrn
Kollegen Bezirksphysikus Dr. Nesemann in Breslau eingesandt, dem wir
hierfür unsern verbindlichsten Dank ausspreehen. Der Inhalt des Protokolls
giebt nach verschiedenen Richtungen hin in origineller Weise Aufschluss, wie
es zu damaliger Zeit, kurz nach Erlass des bekannten churfürstlichen Medizinal¬
edikts vorn 12. November 1685, bei einer Apotheken-Revision zu gegangen ist,
und dürfte sein Inhalt daher auch das Interesse der Medizinal - Beamten
erregen. Red.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
481
Attestatum unter der Fakultät Siegel auszuandtwordten, so wird ihnen hievor
auch die gebührnis gereicht worden müssen. Die allliier aufgewandte Zehrungs¬
kosten haben auf 35 Thlr. 1 gr. 6 Pfg. sich betragen, davon die helffte das
Rathhaus und die andere helffte der Apotheker über sich nehmen müssen.
Endtlich haben die Herren Professores auch die Balbierer und Bader vor sich
fordern lassen und denjenigen, was das Churf. Edikt von Sie fordert, nachzu¬
lesen ihnen angedeutet, absonderlich, dass Sie keine Patienten zu curiren noch
ihnen arzneyen beyzuhringen, sich unternehmen, sondern ihre Privilegie produ-
ciren sollen, damit aus deren inhalt eigentlich erfahren könne, wie und welcher
gestalt ein jeder bey seyner profession sich zu verhalten habe. Womit die Herren
Professores den Actum visitationis beschlossen undt seindt den 9. des Monaths
Decembr. nach eingenommenem Thectrauck und darauf erfolgtem frühstück umb
11 uhr Mittags von hier nachcr Frankfurt wieder abgereiset.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
A. Gerichtliche Medizin.
La teratofobia. Contributo allo Studio della paranoia rudimentale.
II manicomio moderno 1891. Von Venanzio. Referat im Zentralblatt für
Nervenheilkunde und Psychiatrie. Februar 1893.
V. widerspricht der Auffassung Meynerts, dass man alle einzelnen
Phobien unterdrücken soll, um sie als Panphobie zusammenzufassen, da der
Kranke alles fürchten könne und das Angstobjekt von keiner Wichtigkeit sei.
Er beschreibt als Teratophobie den Schrecken vor den Monstren. Es giebt
Individuen beiderlei Geschlechts, mit oder ohne Degenerationszeichen, welche auf
Grund von verschiedenen, das Gehirn schwächenden Ursachen plötzlich von einer
Zwangsvorstellung befallen werden, die sich ihrem Bewusstsein unüberwindlich
aufdrängt; es ist ein erschreckender Abscheu vor allen missgestalteten Menschen,
mögen dieselben lebend oder in Zeichnungen (Witzblättern), Skulpturen (Faunen)
nachgebildet sein. Dieser Abscheu bewegt die Kranken lange nicht aus dem
Hause zu gehen, keine Zeitung zur Hand zu nehmen, um an nichts derartiges
erinuert zu werden Sehen sie einen missgestalteten Menschen, so sind sie ganz
verstört und können sich zu gefährlichen aggressiven Handlungen gegen den¬
selben hinreissen lassen. Die Krankheit ist bei nicht degencrirten Personen
heilbar; sie sei als eine Form der rudimentären Paranoia aufzufassen.
Dr. S. Kali sch er-Berlin.
Cocainismus. Von J. B. Mattisen. The Med. Record. 1892.
Nach gewohnheitsmässigem Cocain-Gebrauch macht sich zunächst eine
stete Abnahme des Appetits bemerkbar. Die Kranken verlieren mehr und mehr
das Nahrungsbedürfniss und magern ab. Diese Abmagerung wird noch dadurch
vermehrt, dass die Thätigkeit der verschiedenen Drüsen durch den Cocainismus
erheblich gesteigert wird. Der anfänglich sich einstellenden Ueberreizuug des
Nervensystems folgt bald die Schwäche; eine eigentümliche Unruhe, hartnäckige
Schlaflosigkeit, Sinnestäuschungen, Verfolgungswahn machen sich bemerkbar;
endlich wird das Fassnngs- und Denkvermögen sowie der Charakter in schlechtem
Sinn verändert. Die Prognose des Cocainismus ist schlechter als die des Mor¬
phinismus. Zur Heilung empfiehlt sich in frischen Fällen die plötzliche Ent¬
ziehung ; doch muss der dann entstehenden Reflexreizung durch Phenacetin
Paraldehyd, Codein, Hyoscin oder sonst ein sicheres Schlafmittel entgegengetreten
werden. In schweren chronischen Fällen ist die plötzliche Entziehung gleichfalls
am Platze, doch ist nach derselben oft eine häufige viele Monate andauernde Nach¬
kur nöthig, bei der es sich hauptsächlich um passende Hygiene, zweckmässige
Behandlung der etwa bestehenden Nervenkrankheit und um entsprechende Auf¬
sicht handelt. — Ders.
B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Untersuchungen über die Giftigkeit der Exspiratiosluft. Von
Julius Beu, approb. Arzt. (Aus dem hygienischen Institut zu Rostock.) Zeit¬
schrift für Hygiene und Infektionskrankheiten; XIV. 1.
432
Kleinere Mittheilnngen and Referate ans Zeitschriften.
Die bekannte Thatsache, dass dnrch das Zusammensein vieler Menschen
in geschlossenem Räume eine Verschlechterung der Luftbeschaffenheit entsteht,
welche Unbehagen, Beklemmung, ja unter Umständen Ohnmächten erzeugt,
harrt noch immer der wissenschaftlichen Erklärung; wenigstens gehen die An¬
sichten darüber, ob es vorwiegend die Zunahme der Temperatur, des Wasser¬
gehaltes oder der Kohlensäure, die Verhinderung der Wärmeausstrahlung ist,
welche für die gesundheitsschädigende Wirkung in Anspruch genommen werden
soll, oder ob in den flüchtigen Ausscheidungen der Lungen, wie Brown-Sdquard
gefunden haben will, organische Bestandtheile von überaus giftiger Beschaffenheit
vorhanden sind, noch sehr weit auseinander und auch die sorgfältigen Unter¬
suchungen Merkel’s (Referat in dieser Zeitschrift Bd. 5 S. 643) haben eine
endgültige Lösung dieser Frage nicht herbeiführen können. Merkel war zu
dem Resultat gekommen, dass die Exspirationsluft gesunder Menschen und
Thiere, wenn auch in äusserst geringer Menge eine, bisher rein nicht darzu¬
stellende, organische Substanz enthält, welche in flüssigem Zustande giftig ist.
B e u ’ s Versuche ergaben ebenfalls das Vorhandensein organischer Substanz und
führten zur Bestätigung der bei der Brown-S6qnard’sehen Versucbsanordnung
auch von Merkel gefundenen Resultate. Wenn man nämlich eine Anzahl
weisser Mäuse in einer Reihe durch Glasröhren luftdicht mit einander ver¬
bundener Glaskäfige unterbringt und nun durch sämmtliche Käfige einen Luft¬
strom aspirirt, so dass die erste Maus in ihrem Käfig reine Aussenluft einathmet,
während jede folgende, durch die Ausathmungen ihrer sämmtlichen Vorgänger
successive in immer höherem Grade verschlechterte Luft bekommt, so bleibt die
erste Maus ganz munter, während alle anderen nach und nach sterben und zwar
um so schneller, je verdorbenere Luft ihnen zugeführt wurde! Die anscheinend
sehr nahe liegende Erklärung dieses auffallenden Verhaltens, nämlich die An¬
nahme einer Giftwirkung der Exspirationsluft will Ben indessen nicht gelten
lassen. Er betont namentlich die grosse Empfindlichkeit weisser Mäuse gegen
nasskalte Luft, die gerade in den letzten, schon nach kurze Zeit von Kondens-
wasser triefenden Glaskäfigen am meisten zur Geltung kommen muss. Die bereits
von Brown-Söquard aufgefundene und in seinem Sinne verwerthete That¬
sache, dass es gelingt, durch Einschaltung eines mit Säure gefüllten Gefässes in die
Luft znführende Röhre die in dem betreffenden Käfig enthaltene Maus am
Leben zu erhalten, würde dann nicht durch Bindung der als. Base gedachten
organischen Giftsubstanz, sondern einfach durch Austrocknung der Luft bei
ihrem Hindurchstreichen durch die Säure ihre Erklärung finden.
Auf Grund dieser Anschauung hält Verfasser die Erklärung der in über¬
füllten Theatern, Konzertsälen und dergl. vorkommenden Ohnmachtsanfälle durch
die Annahme einer akuten Vergiftung für unzulässig, zumal doch immer nur
Einzelne in dieser Art befallen werden. Er glaubt daher, ausser den übrigen,
im Eingänge erwähnten Schädlichkeiten vor Allem eine individuelle Widerstands¬
schwäche gegen die in solcher Luft enthaltenen Ekelstoffe als die eigentliche
Ursache ansehen zu sollen. Dr. Langerhans-Celle.
Zur Erforschung der Typhusätiologie. Von Stabsarzt Professor
Dr. Pfuhl. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten; XIV. Bd., H. 1.
Eine in sich abgeschlossene Typhusepidemie, welche in vier, um einen
recht defekten Kesselbrunnen gruppirten Arbeiterhäusern (in Landsberg a. W.)
mehr als 30 Erkrankungen verursachte, gab dem Institut für Infektionskrank¬
heiten die Veranlassung zu ätiologischen Nachforschungen, welche von Pfuhl
ausgeführt wurden und in vorliegendem Aufsatz kurz berichtet werden. Die
bekannten Schwierigkeiten, des Typhus - Bacillus in der freien Natur oder in der
Umgebung des Kranken habhaft zu werden, machten sich auch in diesem Falle
geltend; es gelang nicht, den Typhus - Bacillus aus dem Trinkwasser oder aus
dem nachweislich verunreinigten Boden nachzuweisen. Dagegen lies die chemische
Untersuchung des Trinkwassers im Vergleich zu dem Wasser eines auf Pfuhl’s
Veranlassung neu angelegten Röhrenbrunnens und der Nachweis des Bacterium
coli commune in dem ersteren keinen Zweifel darüber zu, dass thatsächlich
Fäkalien in den Brunnen hineingelangt waren.
Pfühl glaubt nun, namentlich auf Grund der zeitlichen and örtlichen
Gruppirung der Erkrankungsfälle, verschiedene Arten der Uebertragung annehmen
zu müssen, nämlich Verstaubung der mit Typhusdejektionen verunreinigten ober-
Kleinere Mittheilungen und Referate au* Zeitschriften.
433
flächlichen Bodentheile and deren Verbreitung durch den Wind, ferner Ver¬
unreinigung des Trinkwassers, welche allein geeignet ist, das explosionsartige
Auftreten von 27 Fällen innerhalb eines kurzen Zeitraums zu erklären, schliess¬
lich die direkte Ansteckung durch erkrankte Familienmitglieder.
Durch Desinfektion der verunreinigten Bodeutheile mittelst Kalkmilch,
durch Einrichtung eiues Tonnensystems zur Aufnahme der vorher desinfizirten
Fäkalien, durch die Anlage des erwähnten Röhrenbrunnens und Schliessung des
verunreinigten Kesselbrunnens gelang es, die Quelle für die beiden ersterwähnten
Uebertragungsarten zu verstopfen, während vereinzelte Erkrankungen durch
direkte Ansteckung noch längere Zeit vorkamen. Ders.
Die Einwirkung niedriger T emperatur auf die Virulenz der
Choleraspirillen. Von Dr. Alf. Montefusco in Neapel. Giornale di rnedi-
cina pubblica. XXIV. 6 Mai 1893.
Beitrag zur Biologie des Typlinsbacillus. Von Dr. Alf. Monte¬
fusco in Neapel. Giornale di medicina pubblica. XXIV. 6. Juni 1893.
Bekanntlich vertragen die Cholerabazillen Gefriertemperaturen, ohne ihre
Entwickelungsfähigkeit einzubüssen (nach Untersuchungen von Uffelmann,
Berliner klin. Wochenschr. 1893, Nr. 7 hatten Kältegrade bis —24,8 ? C. in vier
Tagen die Cholerabazillen noch nicht sämmtlich geiödtet, Ref.), dagegen wird
nach M. ihre Virulenz durch die Kälte abgeschwächt resp. vernichtet. Kul¬
turen, die auch nur */» Stunde bei —10° bis 15° gehalten waren, hatten keine
Wirkung mehr auf Meerschweinchen, während eine zweistündige Einwirkung
von —5° nur eine Abschwächung der Virulenz zur Folge hatte. Wurden die
Kulturen nach dem Gefrieren 24 Stunden bei Bruttemperatur gehalten, so er¬
langten sie ihre Virulenz wieder (von grösserem praktischen Interesse wäre die
Feststellung der Mindesttemparatur gewesen, bei der sich die Virulenz wieder
herstellt, da Abwechselungen von Gefrier- und Bruttemperatur ausserhalb der
Laboratoriums kaum Vorkommen, Ref.). Auf das Choleratoxin hatte die Kälte
keinen Einfluss. Meerschweinchen, die Kulturen bekommen hatten, deren Virulenz
durch das Gefrieren verloren gegangen war, zeigten sich noch 70 Tage nachher
immun gegen wirksame Kulturen (wie lange sich die Immunität erhält, ist nicht
untersucht. Ref.).
Anders waren die Verhältnisse beim Typhusbacillus: eben so gut, wie
seine Entwicklungsfähigkeit, bewahrte er seine Virulenz selbst nach sechsstündiger
Einwirkung einer Temperatur von —15 °, und auch bei Abwechselung von Gefrier-
und Bruttemperaturen. Die Versuche werden dadurch erschwert, das3 für Meer¬
schweinchen virulente Typhuskulturen sich nur schwer erhalten lassen, doch
benutzte M. solche von konstanter Wirksamkeit, und dass es sich dabei um eine
wahre Infektion handelte, wurde dadurch bewiesen, dass Impfungen mit der
gleichen oder etwas grösseren Menge sterilisirter Kulturen, in denen die Toxine
ja noch vorhanden waren, unwirksam blieben. Dr. Woltemas-Diepholz.
Wasserfiltration und Cholera. Von Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Koch.
(Aus dem Institut fürj Infektionskrankheiten.) Zeitschrift für Hygiene und
Infektionskrankheiten; XIV. 3.
Es ist eine mit lebhafter Freude zu begrüssende Arbeit, welche in
glänzendster Weise all’ die Vorzüge Koch’ scher JForschungs- und Darstellungs¬
weise zeigt, wie sie uns aus der Zeit vor der unglücklichen Tuberkulin - Aera
geläufig sind. Namentlich die unnachahmliche Klarheit des Gedankenganges,
die bei umfassendster Beherrschung der entlegensten Einzelheiten stets auf das
Ganze gerichtete, nach allen Seiten hin Licht verbreitende Disposition, vor Allem
aber die vornehm sachliche Auseinandersetzung mit wissenschaftlich ebenbürtigen
Gegnern erinnern lebhaft an das Verhalten Koch’s, beispielsweise in der von
Pasteur vom Zaune gebrochenen Milzbrand-Kontroverse, und stechen in erfreu¬
licher Weise ab von der nervösen Gereiztheit, welche den Auslassungen des
grossen Forschers in jüngster Zeit leider eigen war, welche peinlichstes Auf¬
sehen und Austoss selbst bei K o c h ’ s wärmsten Verehrern erregen musste und
434
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
ihn schliesslich in eine, vor Allem im Interesse deutscher Forschung beklagens-
werthe Isolirtheit der Stellung hineingedrängt hat!
Koch protestirt dagegen, dass man ihn einen Wasser¬
fanatiker genannt hat und präzisirt seinen Standpunkt dahin,
„dassnachden bisherigen Erfahrungen dieunmittelbareüeber-
tragung der Cholera von Mensch zu Mensch möglich sei, aber
allem Anschein nach nicht sehr häufig vorkomme, dass dagegen
den indirekten Ucbertragungen durch mancherlei Träger des
Cholerakeimes bei den eigentlichen Epidemien und Massen-
ausbrilchen der Cholera die Haupt rolle zufalle und dass das
Wasser unter diesen Trägern wieder einer der wichtigsten sei. tt
„In der letzten Epidemie, fährt Koch fort, hat allerdings das Wasser,
wie wohl Niemaud bestreiten wird, eine recht bedeutende Rolle gespielt. Trotz¬
dem können wir auch jetzt noch nicht wissen, ob das in Zukunft eben so sein
.wird und es ist gewiss richtiger, mit einem definitiven ürtheil über die Be¬
deutung des Wassers so lange zurück zu halten, bis noch weitere ausreichende
Erfahrungen gesammelt sind.“
Koch erörtert dann das verschiedene Auftreten der Cholera in Hamburg
einerseits und Altona und Wandsbeck andererseits, welche bekanntlich eigentlich
nur eine einzige Stadt bilden und sich hygienisch in Nichts unterscheiden, als
in der Art der Wasserversorgung. Die etwas geschraubten Wendungen, mit
denen die Münchener Schule an die Erklärung dieses Verhaltens herangeht und
welche wenig mehr enthalten als den bekannten, schon so oft als Nothhelfer
benutzten Hinweis auf die „Launenhaftigkeit der Cholera 4 *, beweisen die Unhait-
barkeit ihrer Stellung und wenn Fetten kof er die massenhafte Einführung:
des uufiltrirten Elbwassers nach Hamburg als einen hygienischen Naehtheil gegen¬
über der mit filtrirtem Wasser versorgten Schwesterstadt zwar anerkennt, aber
die eigentliche Schädigung in der Durchseuchung des Bodens durch das einge¬
führte Wasser sucht, so hat Koch allerdings keinen sehr schwierigen Stand¬
punkt, wenn er auf das Gekünstelte dieser Anschauungsweise hinweist. Denn
die Menge der im ungünstigsten Falle durch unfiltrirtes Brauchwasser im Boden
abgelagerten Schmutzstoffe ist eine verschwindend geringe gegenüber den grossen
Mengen, welche der menschliche Haushalt tagtäglich den Wohnungen zuführfc
und welche von Menschen und Thieren fortwährend auf Strassen und Höfen
abgelagert werden. —
Auf jeden Fall hat die Epidemie den Beweis geliefert, dass der Schutz,
wie ihn Altona durch seine Wasserfiltration besitzt, ein für die Praxis aus¬
reichender ist. aber auch nur unter der Voraussetzung, dass die Filtration auch
wirklich so angelegt ist und so beaufsichtigt wird, wie dies in Altona der Fall
war. Freilich einen absoluten Schutz gegen vereinzelte Fälle vindizirt
Koch auch einem solchen Wasserwerk nicht, er lässt vielmehr die Möglichkeit
offen, dass von den etwa 100 Fällen, welche seiner Meinung in Altona selbst,
ohne nachweisbare Einschleppung von Hamburg her entstanden sein mögen,
einige ihren Ursprung solchen vereinzelten, durch das Filter hindurchgeschlüpften
Keimen verdanken mögen. Es sei aber technisch nicht ausführbar, eine noch
langsamere Filtration durchzuführen, womit allerdings ein vollständiger Erfolg
verrnuthlich werde erzielt werden können. Für die Praxis sei indessen der bis¬
her erreichte Schutz ausreichend. —
Leider ist ein solcher Schutz nicht von jedem Filtrationswerk zu erwarten,
vielmehr ist dazu eine in jeder Beziehung vollkommene Konstruktion, sachver¬
ständige Leitung und fortlaufende bakteriologische Kontroie erforderlich. Ohne
diese Bedingungen ist der Schutz vollkommen illusorisch, wie die Cholera in
Nietleben und die kleine Winter-Choleraepidemie in Altona bewiesen haben.
Die Auseinandersetzungen über die Fehler in Anlage und Betrieb des Wasser¬
werkes in Nietleben schliessen mit dem Ausspruch, dass schliesslich nur eine
Filtration dem Namen nach ausgeübt wurde, welche das Wasser so gut, wie
ungereinigt durch die Filter hindurchjagte, ja, dass das Wasserwerk bei
den örtlichen Verhältnissen und bei der fehlerhaften Art des
Betriebes schliesslich geradezu zu einem Fangapparat für In¬
fektionsstoffe werden musste. — Auch in Altona hatten bereits frühere
Beobachtungen über die Häufigkeit der Typhusfälle im Winter, auf die Mög¬
lichkeit einer Insuffizienz des Filterwerkes während eines kalten Winters ge¬
ht; namentlich war es Wallichs, dem das mehrmalige Anschliessen einer
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
435
Typhusepidemie an eine längere Frostperiode aufgefalien war. Die seit dein
Sommer 1890 regelmässig wöchentlich einmal ausgefiihrte bakteriologische Unter¬
suchung hatte in Uebereinstiminung hiermit das Ergebniss geliefert, dass die
Bakterienzahl im filtrirten Wasser, die sonst regelmässig unter 100 blieb, in
solchen Zeiten ganz erheblich — über 1000, ja bis auf 2615 im ccm — anstieg.
Damit war ein Fingerzeig gegeben, dass irgend eine Betriebsstörung bei der
Filtration vorliegen musste und Wallichs wies schon damals auf die Möglich¬
keit hin, dass eine bei der Reinigung der Filter eintretende Vereisung der bios¬
gelegten Sandoberfiäche den Gang der Filtration stören könne. Ein solcher
Fehler wird natürlich nur jedesmal einen kleinen Theil der filtrirunden Ober¬
fläche betreffen und kann daher durch die günstigen Resultate der übrigen, gut
funktionirenden Filter mehr oder weniger verschleiert werden. Demgemäss
weist Koch an der Hand der später für jedes einzelne der 10 Filter getrennt
bestimmten Bakterienzahlen nach, dass die von Zeit zu Zeit einmal vorge-
noimnene Bakterienzählung des Mischwassers werthlos ist, dass nur die getrennte
Untersuchung des von jedem einzelnen Filter gelieferten Wassers einen Anhalt
für die Zuverlässigkeit der Filtration geben kann. Als die Ursache der
mangelhaften Filtration erwies sich thatsächlich die Ver¬
eisung der Sandoberfläche in den offenen, nicht überwölbten
Filtern. Aber auch die Eisbildung auf der Oberfläche des Wassers
kann die rechtzeitige Reinigung der betroffenen Filter unmöglich machen, so dass
unter Umständen den wenigen, als Aushülfe vorhandenen verdeckten Filtern
(wie beim Rummelsburger Wasserwerk) eine tibergrosse Arbeit zugemuthet
werden muss, bei der Unregelmässigkeiten im Betrieb nicht zu umgehen sind.
Uebrigens kommen auch im Sommer Perioden vor, wo bei der Filtration ein
geordneter Betrieb auf grosse Schwierigkeiten stösst. Es ist dies die als
„Wasserblüthe“ bekannte Zeit lebhaften Wachsthums mikroskopischer Wasser¬
pflanzen, welche bei ihrer Massenhaftigkeit und schleimigen Beschaffenheit
schnelle Verschlammung der Filter verursachen. Da diese „ Wasserblüthe“ mit
der Jahreszeit des lebhaftesten Wasserverbrauchs zusammenzufallen pflegt,
können empfindliche Betriebsstörungen entstehen, die sich durch plötzliche Zu¬
nahme der Bakterienzahl im Filtrat zu erkennen geben.
Derartige Insuffizienzen der Filteranlagen brauchen sich natürlich, zumal,
wo sie nur vorübergehender Natur sind, nicht in jedem Falle durch Gesundheits-
Schädigungen des Wasser kousumirenden Publikums kenntlich zu machen, sie
können aber, wenn sie zeitlich zusammenfallen mit dem Vorhandensein reichlicher
Krankheitskeime im Rohwasser die verhäugnissvollsten Folgen haben, wie in
Nietleben und bei der Wintercholera, die sich in Altona an ein paar in Hamburg
nachschleppende Fälle allschloss!
Wenn also die Koch 7 sehe Arbeit das blinde Vertrauen, welches man
bis vor Kurzem auf die Sandfiltration setzte, ganz erheblich wankend machen
muss, so hat sie andererseits das nicht genug zu schätzende Verdienst in klaren,
kurzen Sätzen die Bedingungen festzustellen, unter denen ein solcher Schutz
thatsächlich stattfindet. Diese Schlusssätze lauten:
I. Die Filtrationsgeschwindigkeit von 100 mm in der
Stunde darf nicht überschritten werden. Um dies durchführen
zu können, muss jedes einzelne Filter mit einer Einrichtung
versehen sein, vermittelst welcher die Wasserbewegung im
Filter auf eine gewissse Geschwindigkeit eingestellt und
fortlaufend auf das Einhalten dieser Geschwindigkeit kon-
trolirt werden kann.
II. Jedes einzelne Filterbassin muss, so langeesinThätig-
keit ist, täglich einmal bakteriologisch untersucht werden.
Es soll daher eine Vorrichtung haben, welche es gestattet,
dass Wasserproben unmittelbar nach dem Austritt aus dem
Filter entnommen werden können.
III. Filtrirtes Wasser, welches mehr als 100 entwicklungs¬
fähige Keime im Kubikmeter enthält, darf nicht in das Rein¬
wasserreservoir geleitet werden. Das Filter muss daher so
konstruirt sein, dass ungenügend gereinigtes Wasser ent¬
fernt werden kann, ohne dass es sich mit dem gut filtri r teu
Wasser mischt.
436
Besprechungen.
Diese Leitsätze erfahren allerdings schliesslich noch eine gewisse, durch
die Rücksichten auf die thatsächlichen Verhältnisse, namentlich bei kleinerem
Betrieb, mit Nothwendigkeit diktirte Einschränkung. Die bakteriologische Unter¬
suchung soll, wenn an der Band derselben Erfahrungen über die Leistung der
Eilteraulage gesammelt sind, nicht mehr täglich stattfinden, vielmehr nur
wöchentlich zweimal und zwar nicht in Bezug auf jedes einzelne Filter, sondern
nur auf das Gesammtwasser. Nur in Zeiten besonderer Gefahr, also bei stärkeren
Frostperioden, bei ungewöhnlich in Folge übergrossen Verbrauchs gesteigertem
Betrieb, schliesslich zu Epidemiezeiten hätte die strengere bakteriologische
Untersuchung in Kraft zu treten. Unter dieser Einschränkung würde die Durch¬
führbarkeit ausreichender bakteriologischer Kontrole der Wasserversorgungen,
auch abgesehen von den über technisch durchgebildeten Wassertechniker ver¬
fügenden Grossstädten, gesichert erscheinen, da sie an die Zeit des Medizinal-
Beamteu, dem in den meisten Fällen doch wohl diese Arbeit zufallen würde,
keine übertriebenen Ansprüche stellt. —
Den Schluss der Arbeit bildet eine sehr lebhafte Empfehlung'
der ausgedehnteren Verwendung des Grund was sers, welcher
die Gefahren einer Seuchen Verbreitung naturgemäss nicht
anhaften und welcher, nachdem die Technik die Aufgabe, den
störenden Eisengehalt zu beseitigen, durch die verschiedenen
Lüftungsverfahren gelöst hat, in der That eine grosse Be¬
deutung für die Wasserversorgung gesichert zu sein scheint.
Dr. L anger ha ns-Celle.
Besprechungen
Dr. C. Richter, Kreisphysikus in Gross-Wartenberg (jetzt in Marien¬
burg): Grundriss der Schul-Gesundheitspflege für
Lehrer, Schulleiter, Schulaufsichtsbeamte und an¬
gehende Schulärzte. Mit besonderer Berücksichtigung der
Verhältnisse ländlicher Volksschulen. Berlin 1893. Fischer’s
medizinische Buchhandlung (H. Kornfeld).
Die steigende Werthschätzung der Schulhygiene, die Ueberzeugung, dass
es für die Gesundheit der heranwachsenden Jugend durchaus kein gleichgültiger
Eingriff ist, wenn man dieselbe gerade in denjenigen Jahren, wo der Drang
nach Bewegung am lebhaftesten entwickelt ist, einen grossen Theil des Tages,
ja während der Wintermonate fast während der ganzen Dauer derjenigen
Tageszeit, welche ein Herumtummeln ira Freien gestatten würde, an die Schul-
bauk fesselt, hat das Erscheinen einer nicht unbedeutenden Anzahl von Werken
über Sehulgesundheitspflege zur Folge gehabt, vom dickleibigen, streng wissen¬
schaftlich gehaltenen Lehrbuch an, bis herab zum schmalen Heftchen, welches in
Katechismus-Art nur die wichtigsten und unbestrittensten Lehren der Schul¬
gesundheitspflege den Betheiligten zur Anschauung bringen will. Trotzdem
muss Verfasser unbedingt zugestimmt werden, wenn er in der Vorrede Klage
führt, dass an kurz gefassten und leicht verständlichen, auch einfachere Verhält¬
nisse berücksichtigenden, systematischen Abrissen der Schulgesundheitspflege bis¬
her kein Ueberttuss ist. Der Lehrerkreis, auf den solche Kompendien zuge¬
schnitten sind und der in der Ueberschrift des Rieh ter’sehen Buches annähernd
vollständig gekennzeichnet ist, setzt sich eben aus mannichfaltigen Elementen
zusammen, welche ihrerseits eine ganz verschiedenartige Vorbildung für das
Studium derartiger Werke mitbringen. Der Standpunkt, von welchem aus diese
einzelnen Elemente den weitschichtigen Stoff betrachten, das Interesse, welches
sie bald dieser, bald jener Seite desselben entgegenbriugen, das Alles ist aber
so verschiedenartig, dass es nach Ansicht des Referenten überhaupt unmöglich
ist, innerhalb des Rahmens eines Kompendiums gleichzeitig all’ diesen Ansprüchen
Genüge zu leisten. Ein Kompendium, welches für den Schularzt bestimmt ist,
kann der Lehrer nicht brauchen und umgekehrt! An dieser Klippe hat auch
■■•'s Richter’sehe Werkchen Schiftbruch gelitten —, d. h. insoweit es beab-
Besprechungen.
437
sichtigte, auch für angehende Schulärzte etwas Brauchbares zu schaffen. Es
würde thats&chlich ein trauriger „angehender Schularzt" sein, welcher glauben
sollte, aus den 87 Seiten dieses Kompendiums eine genügende Vorbereitung für
seinen verantwortungsvollen Beruf schöpfen zu können. Verfasser scheint dies
auch selbst gefühlt zu haben; denn in einem, mit vieler Wärme geschriebenen
Schlusswort, wendet er sich ausschliesslich an die Lehrer und zwar an die Lehrer
„auf dem flachen Lande, in ärmlicher Gegend und unter einer rohen und unge¬
bildeten Bevölkerung".
Unter dieser Einschränkung, nämlich, dass es ausschliesslich dazu be¬
stimmt ist. dem Lehrer zumal der älteren Generation, welche von den Gesund¬
heitsschädigungen durch den Schulbesuch keine rechte Vorstellung hatte, einen
Ueberblick über die Errungenschaften und Forderungen der Schulhygiene zu
verschaffen, kann man sich das Werkchen wohl gefallen lassen und wird dem¬
selben gewisse Vorzüge vor ähnlichen Schriften gern zugestehen können. Einigen
Mängeln, welche dem Ganzen entschieden Abbruch thun, könnte bei einer
etwaigen zweiten Auflage unschwer abgeholfen werden.
Zunächst die etwas wunderliche Disposition! Verfasser theilt den Stoff
in drei Abschnitte, von denen der erste „Licht, Luft und Wärme" überschrieben
ist und den genannten Gegenständen je ein kurzes Kapitel widmet. Wenn dieser
Abschnitt eine Art hygienischer Einleitung bilden sollte, so ist nicht recht ver¬
ständlich, warum beispielsweise Boden und Wasser keine Erwähnung gefunden
haben. Es will dem Beferenten aber scheinen, als ob Verfasser ein lebhafteres
Bild geliefert haben würde, wenn er von diesen propädeutischen Vorbemerkungen
überhaupt Abstand genommen hätte und sofort in medias res gegangen wäre,
wenn er mit der Auswahl des Bauplatzes und der Aufstellung des Bauplanes
begonnen und die Wärme bei der Beheizung, das Licht bei der Fensteranord¬
nung, die Luft bei der Baumbemessung in Zusammenhang mit der Ventilation,
besprochen hätte. Wiederholungen, deren Vermeidung bei so knapp bemessenem
Raum von besonderer Wichtigkeit ist und Anseinanderziehung sachlich zusammen¬
gehörender Dinge wäre dann leichter zu vermeiden gewesen.
Der zweite Abschnitt bespricht die „Schulkinderkrankheitcn" und zwar
in je einem Kapitel die nicht ansteckenden und die ansteckenden, während der
dritte Abschnitt „Die Bekämpfung der Schulkinderkrankheiten“ ttberschrieben
ist, aber auch noch Vieles Andere enthält. Die einzelnen Kapitel dieses Ab¬
schnittes lauten: „Bau des Schulhauses, Einrichtung des Schulhauses, Betrieb der
Schulen, besondere Waffen im Kampf mit den Schulkinderkrankheiten, die Des¬
infektion in den Schulen.“ Alle wichtigen Forderungen der Schulhygiene haben
in diesen Kapiteln, dem Zweck des Ganzen entsprechend in apodiktischer Form
ohne eingehendere Begründung gebührende Würdigung gefunden und wenn
Referent über Einzelheiten auch hin und wieder anderer Meinung ist, so mag
dies an lokalen Eigenthümlichkeiten oder auch an Verschiedenheit der subjektiven
Erfahrungen liegen; über viele Fragen ist ja auch das letzte Wort noch nicht
gesprochen! Dagegen erscheint es als ein entschiedener Mangel, dass die ge¬
setzlichen Bestimmungen, wie sie zur Zeit in Kraft sind, so wenig berücksich¬
tigt sind. Das Ganze würde sich viel lebensvoller gestaltet haben, wenn bei¬
spielsweise die „Anweisung zur Verhütung der Uebertragung ansteckender
Krankheiten durch die Schule“ oder auch die „Erläuterungen“ zu den 5 bekann¬
ten Musterentwürten als solche Erwähnung gefunden und wenigstens auszugs¬
weise zum Abdruck gekommen wären. Auch etwas reichlicher bemessene Ab¬
bildungen, namentlich ein paar Grundrisse würden bei einer neuen Auflage
entschieden zu wünschen sein.
Diesen vom Referenten angeführten Mängeln stehen indessen mindestens
eben so viele unbestreitbare und hoch anzuerkenuende Vorzüge gegenüber, zu
welchen in erster Linie des Verfassers offenbare Vorliebe für die Förderung der
Schulhygiene und die dadurch bedingte Wärme, mit der er seine Forderungen
geltend macht, zu rechnen ist. Als ein sehr glücklicher Griff ist es ferner zu
bezeichnen, wenn Verfasser dem Betrieb der Schulen und der Desinfektion je
ein Kapitel widmet. Es ist ihm vollständig Recht zu geben, dass der Betrieb
der Schule und ihrer Einrichtungen, die unausgesetzte, zielbewusste, von hygie¬
nischem Verständniss getragene, die Möglichkeit von Gesundheitsstörungen stets
im Auge haltende und dieselben womöglich verhütende Thätigkeit der Lehrer,
zumal unter den einfachen ländlichen Verhältnissen häufig von grösserer Wich¬
tigkeit ist, als die beste bauliche Einrichtung. Auch die Wirksamkeit einer
438
Tageenachrichten.
etwa nothwendig werdenden Desinfektion wird bei den genugsam bekannten
Schwierigkeiten der Desinfektion auf dem Lande vorläufig im Wesentlichen von
dem guten Willen und dem Verständnis« des Lehrers abhängen und es ist daher
sehr richtig, dass er diesem eine kurze Anleitung an die Hand giebt.
Dr. Langerhan s-Celle.
Tagesnachrichten.
Zur Medizinalreform. Nach dem Vernehmen der Berliner „Post“
werden für die nächste Session des Landtags zwei Vorlagen vorbereitet, die
Entwürfe eines Medizinalgesetzes und eines Gesetzes zur Regelung des
Apothekenwesens. Die Bearbeitung der Gesetze ist den Geheimräthen
Dr. Scrzeczka und Dr. Pistor übertragen, während die juristische Seite
der Materie durch Geheimrath Löwenberg wahrgenommen wird.
Nach den bisherigen Erfahrungen wird es sich empfehlen, derartigen Mit¬
theilungen gegenüber etwas skeptisch zu sein; die Medizinalbeamten insbesondere
sind schon so oft in ihren Hoffnungen getäuscht worden, dass man es ihnen nicht
verdenken wird, wenn sie nicht eher wieder solchen Botschaften Glauben
schenken werden, als bis der lang versprochene Gesetzentwurf thatsächlich dem
Landtage vorgelegt ist.
In den politischen Zeitungen sind in jüngster Zeit verschiedentlich Mit¬
theilungen über die bevorstehende gesetzliche Regelung des Giftverkehrs
gebracht. Aus denselben scheint so viel mit Bestimmtheit hervorzugeheu, dass
man an massgebender Stelle davon Abstand genommen hat, diese Regelung durch
ein für das ganze Deutsche Reich zu erlassendes Gesetz oder durch eine Kaiser¬
liche Verordnung zu bewirken; sondern man beabsichtigt denselben Weg einzu¬
schlagen, wie beim Erlass der Vorschriften über die Abgabe scharf wirkender
Arzneien. Bekanntlich haben die Bestimmungen über den Giftverkehr vor
längerer Zeit einer im Kaiserlichen Gesundheitsamte zusammeugetretenen
Sachverständigen-Kommission zur Berathung Vorgelegen; nunmehr sind sie
dem Bundesrathe zur Beschlussfassung unterbreitet und werden, nachdem sie die
Genehmigung desselben gefunden haben, demnächst den einzelnen Bundesstaaten
zur gleiehmässigen Durchführung empfohlen werden. Ob sich dieser Weg hier
ebenso bewähren wird, wie bei den Vorschriften betreffend die Abgabe scharf
wirkender Arzneien in den Apotheken, dürfte übrigens etwas zweifelhaft sein;
denn in verschiedenen Bundesstaaten ist der Giftverkehr durch Gesetz geregelt
und müssen diese Gesetze erst aufgehoben werden, ehe die neuen Vorschriften
in Kraft treten können, während dies bei Erlass eines Reichsgesetzes nicht
nothwendig gewesen wäre. Zweckmässig wäre es übrigens gewesen, wenn der
Entwurf in extenso vor seiner Genehmigung durch den Bundesrath veröffentlicht
wäre, als dass jetzt in den politischen Blättern der Inhalt, desselben auszugsweise
gebracht wird und es sieh nicht beurtheilen lässt, ob diese Auszüge auch that¬
sächlich dem Inhalte entsprechen oder nicht Eine Geheimhaltung derartiger
Gesetzentwürfe hat sich bisher stets als verfehlt erwiesen.
Politischen Blätt ern zu Folge soll der §. f>98 der Zivil - Prozess - Orrdnung
das Verfahren der Entmündigung betreffend abgeändert werden und zwar
nach der Richtung, dass künftighin in jedem Falle eine Vernehmung des an¬
geblichen Geisteskranken vor dessen Entmündigung zu erfolgen habe, damit sich
der Richter unter der Beihülfe gerichtlicher Sachverständigen auch auf Grund
eigener Wahrnehmungen ein Unheil bilden könne. Von ärztlicher Seite wird
hierzu in Nr. 397 der Vossischen Zeitung geschrieben: „Der wesentliche Unter¬
schied des jetzigen Zustandes von dem neu angestrebten würde darin bestehen,
dass die Vernehmung des Kranken jetzt gewissermassen fakultativ ist, während
sie in Zukunft obligatorisch sein würde. Gegen diese Neuerung ist kanm etwas
i
Tagesnachrichten.
439
einzuwenden. Jedoch muss vor Allem daran festgehalten werden, dass an letzter
Stelle nicht das Unheil, das der Richter sich bildet, entscheidend sein darf.
Die Erscheinungen, durch die eine geistige Erkrankung kenntlich wird, sind
nicht immer handgreiflich: Einem s'dir geübten Irrenärzte fällt es wohl gemein¬
hin nicht schwer, auch in schwierigen Fällen bei einer Exploration in Gegenwart
des Richters das Vorhandensein einer Geisteskrankheit unzweideutig vorzuführen.
Aber nicht immer sind geübte Irrenärzte zur Hand, die als Sachverständige hin¬
zugezogen werden können. Ein weniger geübter wird oft mit Bestimmtheit bei
sieh entscheiden können, dass eine Geisteskrankheit vorliegt; er wird aber ausser
Stande sein, den Kranken bei der Vernehmung zu so markanten Aeusserungcu
zu veranlassen, dass auch einem Laien in psychiatrischen Dingen, wie es doch
der Richter ist, die gestörte geistige Funktion deutlich erkennbar wird. Weiter¬
hin wäre es gut, wenn von vornherein gesetzlich bestimmt würde, dass die Ver¬
nehmung des zu Entmündigenden unter allen Umständen in seiner Behausung
oder in der Heilanstalt, in der er sich gerade befindet, und nicht an der Ge-
riehtsstelle vorzunehmen ist. Es ist eine alte Erfahrung der Irrenärzte, dass die
Untersuchung eines Kranken in seiner gewöhnlichen Umgebung am vorteil¬
haftesten ist. Im Uebrigen sei daran erinnert, dass die obligatorische Ver¬
nehmung des zu Entmündigenden in Preussen bereits früher in Brauch war.
Nach der ,, Allgemeinen Gerichtsordnung“ hatte eine persönliche Vernehmung des
zu Entmündigenden vor einem Geriehtsdeputirten unter Zuziehung von mindestens
zwei promovirten Aerzten zu erfolgen. Mit Einführung der Reichs -Zivilprozess¬
ordnung nahm das Entmündigungsverfahren seine jetzige minder strenge Form
an. Diese hat bereits vor Jahren in Preussen zu Bedenken Anlass gegeben.
Oeffeutlich ausgesprochen wurden diese Bedenken in einem Ministerialerlass des
Justiz-Ministeriums vom Mai 1887. Es wurde darin der früheren Einrichtung
Lob gespendet. Sodann wurden noch einige Regeln zur Sicherung des Ent¬
mündigungsverfahrens festgesetzt, wie die vollständige Aufnahme des ärztlichen
Gutachtens zu den Akten, die Heranziehung von Psychiatern von Ruf zur Be¬
gutachtung der zu Entmündigen, so weit angäugig, und wenn die persönliche
Vernehmung des zu Entmündigenden unterbleibt, die Angabe des Grandes dafür.
Die beste Sicherung des Entmündigungsverfahrens liegt ohne Zweifel in einer
guten psychiatrischen Durchbildung der Aerzte. Nöthig wäre
eine Ergänzung der Bestimmungen für die Physikatsprüfungen, wonach
ein jeder Pkysikatskandidat eine irrenärztliche Beschäftigung von bestimmter
Dauer nachzuweisen hätte. Vorschläge, wie man mehr als jetzt, die Aerzte
mit dem irrenärztliehen Dienste vertraut machen könnte, sind von Professor
Pelmann in Bonn gemacht worden.“
Am 27. v. M. ist der älteste, noch im Amte befindliche preussische
Ereisphysi kus, Geh. Sanitätsrath Dr. Beck haus in Bielefeld, gestorben
Im nächsten Jahre wäre es ihm vergönnt gewesen, sein 50 jähriges Dienstjubiläum
als Kreisphysikus und gleichzeitig sein 00 jähriges Doktor - Jubiläum zu feiern,
zwei Jubiläen, deren Feier wohl selten Jemand heschieden sein dürfte. Bis in
sein hohes Alter hatte er sich eine seltene körperliche Rüstigkeit und geistige
Frische bewahrt und konnte nicht nur als Arzt, sondern vor allein auch als Phy-
sikus in Bezug auf Pflichttreue, Thatkraft und wissenschaftliches Streben jedem
jüngeren Kollegen als uaehahmuugswerthes Beispiel gelten. Ehre seinem
Andenken!
Die Cholera hat in den letzten Wochen ihren Einzug in Deutschland
gehalten; glücklicher Weise sind die Erkrankungen aber bisher nur vereinzelt
geblieben. In der zweiten Augustwoche kamen unter der polnischen Arbeiter¬
schaft im Osten von Berlin mehrere Fälle von Brechdurchfall vor, von denen
sich drei als Cholera erwiesen. Nach den Angestellten Ermittelungen scheint die
Ursache auf Einschleppung durch Esswaaren aus verseuchten Gegend« n von
Russisch - Polen zurückzuführen zu sein. Von den Erkrankten sind zwei ge¬
storben. Am 23. August wurden wieder zwei im Zusammenhang stehende Cholera¬
fälle in Berlin festgestellt. Ferner sind auf drei im Erttkanal bei Neuss
liegenden Schiffen 4- Personen an Cholera erkrankt, und drei davon gestorben;
desgleichen ist ein in Duisburg am Ruhrorthafen beschäftigter Baggermeister
440
Tagesnachrichten.
der Seuche zum Opfer gefallen. Auch aus Homberg (Kreis Mörs) und Em¬
merich wird je ein Cholera - Todesfall gemeldet; desgleichen aus Donau-
eschingen; hier handelte es sich um einen Gymnasiasten, der aus Marseille
zurückgekehrt war und sich dort jedenfalls infizirt hatte.
In Oesterreich hat die Cholera im östlichen Theile von Galizien
eine grössere Ausdehnung genommen. Bis zum 23. August waren in 8 Bezirken
(Brezesko, Horodenka, Kolomea, Limanosa, Nadworna, Bawaruska, Suratyn und
Sokal) 22 Gemeinden infizirt und 130 Personen erkrankt. Von den Erkrankten
sind 33 gestorben. Am meisten heimgesucht ist der Bezirk Nadworna und die
in diesem liegenden Ortschaften Delatyn (34 Erkrankungen mit 23 Todesfällen),
Mikuliczyn (28 Erkrankungen mit 17 Todesfällen) und Dobrotow (22 Erkrankungen
mit 15 Todesfällen). Ausserdem sind noch zwei vereinzelte Cholerafälle in der
Buckowina und zwar in Horecza, der Vorstadt von der Landeshauptstadt
Czernowitz, vorgekommen.
Eine noch grössere Ausbreitung hat die Seuche in dem nordöstlichen
Theile von Ungarn genommen. Die von den ungarischen Behörden gebrachten
Nachrichten lassen allerdings an Zuverlässigkeit zu wünschen übrig, jedoch wird
jetzt die Verbreitung der Cholera in acht Komitaten (darunter Marmaros, Bereg,
Szolnock, Szabolcs, Szatmar, Ugocsa) und 67 Gemeinden zugegeben. Im Komitat
Szolnock sind bis zum 23. August unter 102 Erkrankungen 79 tödtlich verlaufen,
im Komitat Marmaros von 42 Erkrankten 11 gestorben. Auch aus Klausenburg
(Siebenbürgen) wurden Cholerafälle gemeldet.
Etwas günstiger scheinen sich die Verhältnisse in Rumänien zu gestalten,
wenigstens hat die Zahl der Erkrankungen in den infizirten Orten Braila, Galatz,
Czernawoda, Sulina, Festeti, Tulesa, Kalarasi während der letzten Woche eher
eine Abnahme, als eine Zunahme erfahren.
Aus Frankreich wird eine grössere Ausdehnung der Cholera in Nantes
gemeldet (täglich 25 Erkrankungen), auch in Holland (Rotterdam, Leerdatn
und Delft) scheint dieselbe festen Fuss setzen zu wollen. In Italien ist eine
Abnahme der Seuche in Piemont festgestellt; in Neapel hält sich dieselbe in
mässigen Grenzen (vom 8.—24. August 148 Erkrankungen mit 79 Todesfällen),
ist aber von hier aus in die umliegenden Provinzen, insbesondere nach der
Provinz Campobasso verschleppt. Auch aus Palermo werden Cholera-Er¬
krankungen gemeldet.
In Russland macht sich ein Fortschreiten der Seuche nach Westen zu
immer mehr bemerkbar. Für Deutschland bedenklich ist besonders der Ausbruch
der Cholera im Gouvernement Kalisch und in den an der Warthe belegenen
Orten Kolo und Konin, sowie in dem unmittelbar an der Grenze belegenen Orte
Staw. In der Zeit vom 13.—19. August sind in diesem Gouverment 111 Per¬
sonen erkrankt und 40 gestorben. Auch in dem Gouvernement Lomza ist die
Zahl der Erkrankungen während der Zeit vom 13.—16. August auf 52 mit 22
Todesfällen gestiegen, in Bialystock vom 31. Juli bis 4. August auf 114 mit 30
Todesfällen und im ganzen Gouvernement Grodno vom 30. Juli bis 12. August auf
197 mit 49 Todesfällen. Am meisten herrscht die Krankheit noch immer in den
Gouvernements Orel (vom 30. Juli bis 19. August: 2494 Erk. und 948 Todesf.),
Podolien (vom 30. Juli bis 12. Aug.: 1178 Erk. und 423 Todesf.), Kiew (vom
30. Juli bis 19. Aug.: 1968 Erk. und 818 Todesf.), Dongebiet (während derselben
Zeit: 1169 Erk. und 504 Todesf.), Tula (vom 13.—19. Aug.: 653 Erk. und 139
Todesf.). In der Stadt Moskau sind vom 30. Juli bis 22. Aug. 583 Erkrankungen
mit 247 Todesfällen gemeldet.
Die grössere Ausbreitung der Cholera in Russisch - Polen hat den Re¬
gierungspräsidenten der Reg.-Bez. Posen, Bromberg und Oppeln Veranlassung
gegeben, den Greuzverkehr mit Russland zu sperren und den Uebergang über
die Grenzen nur an bestimmten Orten nach zuvoriger ärztlicher Untersuchung
zu gestatten. Desgleichen sind für das Stromgebiet der Weichsel und
Warthe, der Elbe (speziell der Spree und Havel) und des Rheins wieder
Reichskommissare in Thätigkeit getreten und ärztliche Untersuchungssta¬
tionen behufs Ueberwachungdes Schiffsverkehrs eingerichtet.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W.
J. C. C. Bnu, Buchdrucker ei, Minden.
6. Jahrg.
Zeitschrift
für
1893.
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rath u. gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medi/inalrath in Alindt n.
und
Dr. WILH. SANDER
Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserat«, die durchlaufende Petitseile 45 Pf. nimmt die Yerlagahandlung und Rud. Mosas
entgegen.
No. 18 .
Erscheint am 1. und 15. Jeden Monats.
Preis jährlich 10 Mark.
15. Septbr.
Welche hygienischen Massregeln sind bei Choieragefahr im
Eisenbahnverkehr zu treffen. 1 )
Vortrag gehalten am 7. August in der Versammlung des Vereins der Bahnärzte
der Ostbahn zu Stettin von Kreisphys. Dr. Matthes - Obornick.
Mit der Zunahme des Weltverkehrs durch die Eisenbahn ist
die Gefahr der Verschleppung der Seuchen eine grössere geworden.
Während früher 100 Meilen eine gute Beruhigung abgaben
für die von einem Seuchenherd fern wohnende Bevölkerung, ist
heute ein weit entferntes Land nicht sicher, dass es in den
nächsten Tagen infizirt ist, ja das nächstgelegene wird verschont
und das weiter gelegene betroffen.
Ebenso ist die Schnelligkeit der Ausdehnung von einem
Seuchenherd nach allen Himmelsrichtungen in wenig Tagen nicht
ohne Grund dem Eisenbahnverkehr zugeschrieben worden.
Die Eisenbahnstationen aber sind bei der heutigen Zeit die
Einfallsthore einer Seuche im Laudverkehr für den Ort, den Kreis,
den Staat; jeder andere Verkehrsweg kommt bei den heutigen
Verhältnissen viel weniger in Betracht, daher sind hier auch die
Massregeln vorzusehen, von denen man sich Schutz verspricht.
Es unterliegt keiner Frage, dass eine absolute Aufhebung
des Verkehrs zwischen der verseuchten und der zu schützenden
Gegend das aller sicherste Mittel wäre, der Verbreitung einer
Seuche vorzubeugen, wenn diese Aufhebung des Verkehrs gleich-
mässig auf Personen wie Sachen Anwendung findet.
Eine solche Aufhebung des Verkehrs hebt alle Beziehungen
auf und muss, wenn sie wirksam sein soll, so lange aufrecht er¬
halten werden, bis die Seuche an allen Punkten, von denen aus
*) Das Thema war von der Königl. Direktion der Ostbahn zu Bromberg
zum Beferat gestellt worden.
442
Dr. Matthes.
überhaupt die Gefahr der Einschleppung droht, vollständig er¬
loschen ist.
Die Ausführung einer solchen Massregel ist aber nur denk¬
bar, wenn der abgesperrte, der zu schützende Distrikt, von der
Nachbargegend so unabhängig ist, dass die Bevölkerung ohne er¬
hebliche Schädigung ihrer Existenz die Verkehrsaufhebung für die
Dauer der Gefahr ertragen kann.
Manche abgelegene Insel kann vielleicht diesen Vorbe¬
dingungen entsprechen, im Allgemeinen aber ist dies von vorne-
herein unmöglich, man hat daher in früheren Jahren den Verkehr
auf gewisse Punkte zu vereinigen gesucht, sogenannte Quarantäne¬
stationen errichtet, auf denen allein der Eintritt aus einem
verseuchten Gebiet gestattet war, nachdem eine mehrtägige
Beobachtung die Ungefährlichkeit des Reisenden resp. der Waaren
bestätigt hatte.
Es sind kaum 10 Jahre her, als man diesen Massregeln zu
Cholerazeiten grossen prophylaktischen Werth beilegte, wenn es
auch schon damals Stimmen gab, die nicht daran glauben wollten.
Die erheblichen Schwierigkeiten, namentlich in der prakti¬
schen Durchführung, der Umstand, dass mit allen erdenklichen
Mitteln es doch nicht verhindert werden konnte, dass der engste
Kordon durchbrochen wurde, und die enorme Schädigung der
materiellen Volksinteressen, die sich nicht vermeiden liess, schliess¬
lich aber auch der Umstand, dass eine Anhäufung von Menschen¬
massen an einzelnen Punkten zu Seuchenzeiten an sich eine Gefahr
mit sich bringt, führte dazu, dass man die Grenzsperren zu
Lande als werthlos bezeichnete und als hygienische Massregel
verwarf, während man sich auch heute noch einen Nutzen ver¬
spricht, und dies wohl mit Recht, durch eine Kordonirung der Küste
mit Anlage von Quarantänen in den Hafenstädten.
Gleichwohl war bisher durch diese Massregeln den Epide¬
mien wenig Einhalt gethan und jeder suchte sich, war die Seuche
einmal im Lande, so gut wie möglich zu helfen. Die rigorosesten
Massregeln wurden noch im vorigen Jahre angewandt, jedem aus
Hamburg Kommenden der Eintritt verwehrt, Himmel und Erde
desinfizirt, rücksichtslos das Gepäck der Reisenden zerstört, der
Waarenverkelir zum grossen materiellen Nachtheil des Landes ver¬
boten und beschränkt.
Dank der eingehenden Studien über die Biologie des Cholera¬
erregers sind wir in der Erkenntniss der Wege, welche die Seuche
zu ihrer Verbreitung wählt, nicht mehr im Unklaren, wie in
früheren Jahren.
Es handelt sich nicht um eine miasmatische Krankheit —
auch kann von einer Ubiquität des Krankheitserregers keine Rede
sein, ebenso wenig wie er sich über ein Land, dem Staube gleich,
durch Luft und Wind verbreitet.
Die Verbreitungsweise der Cholera ist auch eine durchaus
verschiedene von der der exanthematischen Krankheiten; nicht
ein flüchtiges, dauerhaftes, überall eindringendes Gift ist es, son-
Welche hygienischen Hassregeln sind bei Choleragefahr etc.
443
dem ein, in seiner Lebensfähigkeit, sehr abhängiger Krankheits¬
erreger, der nur durch direkte Berührung Gefahr bringt.
In diesem Sinne können wir heute gar nicht mehr davon
sprechen, dass die Cholera eine ansteckende Krankheit wäre, vor
der man sich nicht schützen könnte.
Hierfür sprechen nicht nur die seltenen Erkrankungsfälle
unter Aerzten und dem Pflegepersonal während der Hamburger
Epidemie, sondern auch die sehr seltenen Infektionen bei der
grossen Anzahl derer, die mit Reinkulturen arbeiten, wo es doch
nichts Seltenes ist, dass ein Glas zerbricht oder sonst ein Aus¬
schütten von Kulturen sich ereignet und es wird wohl Manchem,
der sich damit beschäftigt, so gehen, dass er aus Mangel eines
anderen Raumes sein Sprechzimmer verwenden muss.
Alle Schutzmassregeln werden sich anschliessen müssen an die
Biologie des Choleraerregers und werden nur wirksam sein, wenn sie
der eigenthümlichen Lebensweise Rechnung tragen. Mit Recht aber
kann man verlangen, dass alle anderen Massregeln, die nur Schein-
massregeln sind und zu Seuchenzeiten nur zur Belästigung und
Beunruhigung der an und für sich aufgeregten Bevölkerung dienen,
weggelassen werden.
Zielbewusst und frei von unnöthigem Beiwerk sind die Mass¬
nahmen, welche das preussische Ministerium in vorigem Jahre
getroffen hat, die auf der Dresdener internationalen Konferenz im
Wesentlichen anerkannt und die durch das Rundschreiben des
Reichskanzlers vom 27. Juni d. J. erweitert und verbessert sind.
Wir befinden uns noch in einem Uebergangsstadium, erst die
weiteren Erfahrungen bei künftigen Epidemien werden zu ent¬
scheiden haben, wie weit die wissenschaftlichen Erfahrungen sich
decken mit den Vorkommnissen im grossen Verkehr.
So viel aber können wir heute Voraussagen, dass es ein
vergebliches Bemühen ist, durch Verkehrssperren Cholera - Epide¬
mien zu bekämpfen, dass es vielmehr darauf ankommt, bei den
heutigen grossen Verkehrsmitteln auch den allgemeinen sanitären
Verhältnissen in den Kulturstaaten mehr Rechnung zu tragen, als
dies bisher der Fall gewesen ist. Wie gewaltig ist der Um¬
schwung in allen Verkehrsverhältnissen, wie gewaltige Dimensionen
hat er im Verhältniss vor 40—50 Jahren angenommen, und die
Fortschritte in der Hygiene haben sich auch weiter entwickelt,
aber eigentlich nur theoretisch, wir haben bedeutende Lehrer, wir
haben grosse Institute für Hygiene, aber für das Gros der Be¬
völkerung sind diese Errungenschaften so gut wie nicht vorhanden.
Wir können kaum davon sprechen, dass wir eine Gesundheits¬
polizei besitzen, die in seuchenfreier Zeit praktisch etwas leistet,
dazu fehlen uns in Preussen noch die Organe mit der nöthigen
Initiative.
Durch keine Massregel wird sich im Landverkehr eine
absolute Sicherheit eines Landes einem verseuchten gegenüber
hersteilen lassen, die nicht von ungeheueren wirtschaftlichen
Schädigungen begleitet und in sanitärer Beziehung einen unsiche¬
ren Nutzen gewährt.
444
Dr. Matthe«.
Es kommt auch gar nicht darauf an, ein Land gewisser-
massen pilzdicht machen zu wollen, und es erscheint von vorne-
herein ausgeschlossen, dass es sich erreichen liesse, jeden Cholera¬
fall abzuwehren, gerade so wenig wie wir es unternehmen,
Scharlach und Diphtherie auszurotten; es handelt sich vielmehr
allein darum, dem epidemischen Auftreten entgegen zu treten
und die Ausbreitung zu hindern.
Anzuwenden werden aber nur diejenigen Massregeln sein,
die einen direkten Nutzen versprechen; es wird zu erwägen sein,
wie dieselben ohne grosse materielle Schädigung durchzuführen
sind, welche Massregeln unterlassen werden können, weil ent¬
weder die Wahrscheinlichkeit einer allgemeinen Schädigung sehr
gering, oder der zu erwartende Nutzen problematisch ist.
Der Hauptfaktor für die Uebertragung der Cholera ist der
Mensch, die Verbreitung der Seuche im Eisenbahnverkehr ist fast
ausschliesslich im Personenverkehr zu suchen, im Vergleich zu dem
der Warenverkehr als Mittelglied für die Seuche fast kaum in
Betracht kommt. Dieser Erfährungssatz ist ausgesprochen auf
Grund der Erfahrungen und Beobachtungen, die seit der Ent¬
deckung Koch’8 vielfach gemacht worden sind.
Es ist Ihnen bekannt, dass durch ein krankes Kind die Cholera
vom schwarzen Meer nach Sachsen gebracht wurde, während in
Deutschland kein Fall von Cholera bekannt war, und hier eine
Epidemie veranlasste; es ist Ihnen bekannt, wie im vorigen Jahre
in wenig Tagen die ganze Umgebung von Hamburg kleinere
Seuchenherde hatte. Der erkrankte Mensch ist sowohl im Nah- wie
im Fernverkehr gleich gefährlich, auf ihn werden sich alle Mass¬
regeln konzentriren, um der Weiterverbreitung Einhalt zu thun.
Den Reisenden, welche in grossen Massen zu reisen pflegen, den
Auswanderer- und Arbeiterzügen, die Personen aus infizirten
Gegenden befördern oder aus Gegenden, die schon erfahrungs-
gemäss, wie für uns Russland, die Seuche zu uns bringen, solchen
Reisenden wird man ein erhöhtes Interesse zuwenden müssen.
Wenn der erkrankte Mensch allein die Gefahr der Weiter¬
verbreitung in sich birgt, so kommt es darauf an, diesen möglichst
früh zu isoliren, dem allgemeinen Verkehr zu entziehen.
Um ihn im Eisenbahnverkehr schnell aufzufinden, wird es
nothwendig sein, dass zu solchen Zeiten der Verkehr auf den
Bahnhöfen möglichst übersichtlich ist, dass nur den Reisenden
selbst Zutritt gewährt wird und alle überflüssigen Menschenan¬
sammlungen unterbleiben.
Es ist dies eine Massregel, mehr geeignet, den allgemeinen
Verkehr zu fördern, als einzuschränken und ich glaube nicht fehl
zu gehen, wenn dieselbe in diesem Sinne auch für die seuchenfreie
Zeit allgemeine Ausdehnung finden soll.
Eine strenge ärztliche Ueberwachung der Reisenden hat man
im Allgemeinen für unnöthig gehalten, abgesehen von einigen
Grenzstationen; es soll vielmehr der Arzt erst dann eingreifen,
wenn seine Hülfe von dem erkrankten Reisenden beansprucht
Welche hygienischen Massregeln sind bei Cholcragefahr etc.
445
wird, oder wenn ihm eine Mittheilung über einen Erkrankungsfall
oder Krankheitsverdacht zugeht.
Es muss zugegeben werden, dass die ärztliche Revision von
Reisenden, die mit einem Zuge ankommen, von nicht zu grossem
Werthe ist, insofern als die schwer Erkrankten auch dem Zug¬
personal und den Mitreisenden auffallen, die leichter Erkrankten aber
auch dem Auge des Sachverständigen entgehen können. Indessen
weiden gerade die ersten eingeführten Cholerafalle von dem Per¬
sonal nicht als solche erkannt und der leichte Fall, der der
ersten ärztlichen Revision entgangen ist, fällt in wenig Stunden
der nächsten anheim.
Gar nicht zu entbehren sind diese ärztlichen Revisionen auf
den Grenzstationen, wo das Fahrpersonal wechselt, in Massen¬
arbeiterzügen, die von vorneherein verdächtig zu behandeln sind,
und deshalb mit besonderer Gründlichkeit beobachtet werden
müssen. Da diese ärztliche Besichtigung auf grossen Eisenbahn¬
zentren ohne besondere Verkehrsstörung ausgeführt werden kann
und das Fahrpersonal kaum als Kontrole dienen kann, ohne seinen
Dienst zu vernachlässigen, so würde ich es für empfehlenswerth
halten und nicht ohne Nutzen, wenn auf denjenigen Strassen, auf
denen die Verseuchung zu erwarten ist, eine ärztliche Revision
beim Ankommen der Züge im Koupee vor sich geht.
Zu derartigen schnellen Revisionen, wo es fast auf einen
Blick der Sachverständigen ankommt, zu erkennen, gehören aber
auch geschulte Aerzte. Ich kann nicht umhin, es hier auszu¬
sprechen, und ich glaube, dass Sie mir beistimmen werden, wie
wenig es geeignet ist, zu diesem wichtigen Posten, gerade die
jüngsten Kräfte heranzuziehen, die eben durch das Staatsexamen
gelaufen sind.
l $£^|Ohne dem guten Willen dieser Herren Abbruch zu thun,
kann man sich doch nicht verhehlen, dass die Ursache dafür ledig¬
lich darin zu suchen ist, dass dem Staate geeignete Personen
nicht zur Verfügung stehen.
So recht offen zu Tage sind auch hier mal wieder die
Schäden getreten, die schon längst einer Reform bedürfen, die sich
wie eine Seeschlange schon Jahrzehnte hinschleppen.
Im Grenzverkehr kann diese ärztliche Besichtigung, wie dies
auch in der Denkschrift der Dresdener internationalen Versamm¬
lung vorgesehen ist, sehr wohl mit der Zollrevision vereinigt werden.
Im engen Zusammenhänge mit der Absonderung der Kranken
und Verdächtigen stehen die Massregeln, die für die Beförderung
und Unterbringung derselben auf den Krankenübergabestationen
und Untersuchungsstationen zu treffen sind.
Hier ist Sorge zu tragen, für besondere Räume zur Unter¬
suchung, für Krankenträger, Wagen und Bahren und alle Mittel,
die für die erste Hülfe in solchen Fällen dem Arzte zur Hand
sein müssen. Es sind Baracken in der Nähe der Bahnhöfe zu
etabliren, wo es an geeigneten Krankenanstalten fehlt, in denen
besondere Vorkehrungen getroffen werden müssen, um nicht Ver¬
dächtige ohne Weiteres mit Kranken zusammenzusperren.
446
Dr. Matthes.
Während der Fahrt ist es Sache des Zugpersonals für die
Kranken zu sorgen, Kranke und Verdächtige nur an den Kranken¬
übergabestationen aussteigen zu lassen und ihnen bis dahin nach
Möglichkeit zu helfen. x )
Dass das Reisegepäck von Cholerakranken der Desinfektion
unterworfen wird und dass diese Desinfektion möglichst ohne Ver¬
zug vor sich gehe, ist eine nur berechtigte Forderung. Es wird
auch hier genügen, besonders Kleider und Wäsche zu desinfiziren,
jedenfalls aber nicht in der Weise zu verfahren, dass ohne Rück¬
sicht auf den Inhalt die Desinfektion einer Zerstörung gleich¬
kommt. Zur Desinfektion sind geeignete Dampfapparate auf
grösseren Verkehrszentren aufzustellen.
Welche Massregeln aber sind auf diejenigen Reisenden anzu¬
wenden, welche aus verseuchter Gegend stammend, keinen
Krankheitsverdacht erregen? Zugegeben werden muss, dass eine
Uebertragung durch den Anzug im Nahverkehr denkbar wäre,
gross ist die Wahrscheinlichkeit hierfür nicht. Sehr gering aber
erscheint der Nutzen, den Anzug zu desinfiziren, wenn der Körper
vielleicht in sich den Keim enthält, wenn er auch vorläufig noch
keine Erscheinungen macht. Die einzige Massregel, die von
Nutzen sein kann, ist diejenige, dass über die Personen, die aus
verseuchten Gegenden kommen, in der Weise eine Kontrole aus¬
geübt wird, dass sie 5 Tage beobachtet werden. Zu diesem
Zwecke muss von den Verwaltungsbehörden den Eisenbahnbeamten
jeder Reisende bezeichnet und von diesen beim Abgänge von der
Bahn den Verwaltungsbehörden dieselben weiter gemeldet werden,
auch ist den Reisenden selbst die Meldepflicht aufzuerlegen.
Was das Reisegepäck anbetrifft, so soll nach der Denkschrift
der internationalen Sanitäts - Konferenz zu Dresden (vergl. Rund¬
schreiben des Reichskanzlers) in allen Fällen der Desinfektion
unterworfen werden: schmutzige Wäsche, alte und getragene
Kleidungsstücke und sonstige Gegenstände, welche zum Gepäck
eines Reisenden oder zum Mobiliar eines Umziehenden als Um¬
zugsgut gehören, wenn sie aus einem verseuchten Bezirk stammen,
sofern dieselben nach der Ansicht der lokalen Gesundheitsbehörde
als mit Choleraentleerungen beschmutzt zu erachten sind.
Wer wird an einem grossen Verkehrspunkte noch Zeit finden
zur Untersuchung, was mit Choleraentleerungen beschmutzt zu
erachten ist und was nicht, und wie soll man sich überhaupt vor¬
stellen, dass eine solche Entscheidung getroffen werden soll? Es
ist dann wohl richtiger zu sagen, dass getragene Wäsche und
Kleider eines jeden Reisenden am Endpunkte der Desinfektion
unterliegen sollen.
Züge mit russischen Auswanderern oder von der galizischen
! ) Das Rundschreiben des Reichskanzlers vom 27. Juli d. J. sagt jedoch:
Anlage III b. Will der Erkrankte den Zug vor der nächsten Uebergabestation
verlassen, so ist er hieran nicht zu hindern, doch ist er als erkrankt der
nächsten Ihdizeibehürde zur Beobachtung mitzuthcilcn. Das Rundschreiben ver¬
bietet auch die Abgabe von Opiumtropfen an Cholerakranke als schädlich, mit
denen bisher das Fahrpersoual ausgerüstet war.
Welche hygienischen Massrcgeln sind bei Choleragefahr etc.
447
Grenze, die für uns besonders in Betracht kommen, werden nach
strenger Grenzkontrole so schnell wie möglich durch das Land zu
befördern sein, ohne dass ihnen viel Gelegenheit geboten wird
zum Verkehr auf der Reise; oder sollte es überhaupt einen
materiellen Schaden für unser Land bedeuten, wenn derartigen
Massentransporten der Durchgang für die Zeit der Seuche ver¬
wehrt würde und ihnen andere Wege durch das eigene Land ge¬
wiesen würden P
Arbeiterzüge im Inlande wird man strengen Kontrolen unter¬
werfen, sie aber nicht gut aufheben können.
Die Personenwagen, in denen Cholerakranke ermittelt sind,
sind so bald wie möglich aus dem Verkehr zu bringen, auf der
Fahrt sind die Gesunden aus den Abtheilungen zu trennen und
die Wagen der Desinfektion zu unterwerfen.
Es sind Ihnen allen die Vorschriften bekannt, die in der
Dienstanweisung vom 7. September 1892 enthalten sind und sich
im Rundschreiben des Reichskanzlers wiederholen; sie sind zweck¬
entsprechend und den heutigen wissenschaftlichen Erfahrungen
Rechnung tragend. Die Dienstanweisung schreibt auch zweck¬
mässig vor, dass bei Massentransporten die Desinfektion der
Wagen vor sich geht, ohne dass eine Erkrankung festgestellt
ist. Auch sollen regelmässig die Klosets und Trinkbecher desin-
fizirt und gereinigt werden. — Besondere Vorschriften sind er¬
lassen für die Desinfektion der Schlafwagen, wie Ihnen bekannt ist.
Zu wünschen bleibt nur übrig, dass zu diesen Arbeiten die
richtige Auswahl und Unterweisung der Leute getroffen wird,
damit die Desinfektion sachgemäss, ohne Vergeudung der Des¬
infektionsmittel vor sich geht. — Der besonderen Reinlichkeit in
den Personenwagen, wie sie in dem vorigen Jahre zur Seuchenzeit
durchgeftihrt wurde, kann man nur einen dauernden Bestand
wünschen.
Es ist in der Literatur (Deutsche Med. Wochenschr Nr. 37
1892) darauf hingewiesen, dass die Kloseteinrichtungen auf der
Fahrt durch die Benutzung von Cholerakranken Veranlassung
werden könnten zu Uebertragung und zur Weiterverbreitung der
Seuche, wenn Choleraentleerungen auf die Strecke gelangen, und
man hat vorgeschlagen, Kübel anzuhängen, damit diese die Ent¬
leerungen auffangen und so die Keime in ihnen vernichtet werden
könnten. Abgesehen davon, dass es sich wohl kaum vermeiden
lassen würde, dass bei dem Schwanken der Wagen nicht doch
Entleerungen nebenbei auf den Erdboden gelangen und das Ab¬
hängen dieser Kübel, die auch von aussen beschmutzt, die Arbeiter
in direkte Gefahr bringen, halte ich es für sehr unwahrscheinlich,
dass auf jene Weise eine Weiter Verbreitung stattfindet. Dass
sie möglich ist, beweisen wohl die letzten Versuche Uffelmann’s
(Berl. klin. Wochenschr. Nr. 26); meist aber werden die Keime
unter dem Einfluss der Sonne sehr bald absterben.
Auf den Bahnhöfen ist ja die Benutzung der Wagenklosets
untersagt, gleichwohl wird es sich empfehlen, dort, wo Personen¬
züge ankommen, den Boden zwischen den Geleisen mit Ka lkmil ch
448
Dr. Matthes.
zu besessen, was auch im Rundschreiben des Reichskanzlers
Aul. III, Nr. 11 angeordnet wird.
Besondere Sauberkeit ist auf den Aborten der Bahnhofssta¬
tionen nothwendig, dagegen soll die Desinfektion nur auf den¬
jenigen Stationen erfolgen, wo die Cholera ausgebrochen und auf
solchen Stationen, wo dies ausdrücklich angeordnet wird. Dies
wird geschehen müssen auf Stationen, an denen die Auswanderre-
züge halten.
Es ist nun aber auch Aufgabe der Verwaltung den Nah¬
rungsmittelverkehr auf den Bahnhöfen zu überwachen. Dafür zu
sorgen, dass zu Seuchenzeiten auf den Stationen den Reisenden
die Nahrungsmittel in gutem, unverdächtigen Zustande gereicht
werden.
Hierzu gehört zunächst eine Ueberwachung der Brunnen.
Wenn es sich schon empfiehlt zu seuchenfreien Zeiten jähr¬
lich 1 bis 2 Mal Wasseruntersuchungen der Stationsbrunnen zu
machen, so wird dies erst Recht zu Cholerazeiten nothwendig sein.
In verseuchten Gegenden und auf Strecken, die besonders von
Massentransporten befahren werden, wird es auch zweckmässig
sein, die an den Brunnen befindlichen Trinkbecher zu entfernen
und Jeden zu zwingen, sein eigenes Trinkgefäss zu benutzen.
Milch ist nur sterilisirt zuzulassen. Alle anderen Getränke, Bier,
Wein, Kognak, Kaffee, Thee sind für eine Uebertragung kaum in
Betracht zu ziehen, doch wird es sich empfehlen, dieselben nicht
zu kalt zu reichen, um den Reisenden keine Indispositionen ihrer
Verdauungswege zu verursachen.
Dass die Bahnwirthschaften ihre Lebensmittel nicht aus
Cholerahäusern beziehen sollen, ist eine durchaus gerechtfertigte,
aber schwer zu überwachende Massregel; man wird aber nicht
umhin können, in dieser Beziehung der Gewissenhaftigkeit des
Wirthes und dem Selbstschutz des Reisenden alles Uebrige
anheim zu stellen. Ohne Weiteres liesse sich dagegen auf Sta¬
tionen verseuchter Ortschaften der Verkauf frischen Obstes ver¬
bieten. So gering auch die Möglichkeit der Uebertragung hier¬
durch erscheint, so muss andererseits doch in Betracht gezogen
werden, dass das frische Obst eine ganze Reihe von Händen passirt,
die nicht immer die saubersten sind, ehe es an den Mann kommt;
schliesslich lässt es sich als Genussmittel auf der Reise sehr
gut entbehren und das Verbot enthebt manchen Reisenden einer
Darmstörung und einer Disposition für die Seuche.
Leicht durchführbar aber auch wäre es, auf Stationen in
Seuchengegenden den Gebrauch leinener Servietten, die in feuch¬
tem Zustande mehreren Personen nach einander gegeben zu werden
pflegen, zu verbieten und allgemein Papierservietten einzuführen.
Nicht minder wichtig für die Hygiene ist die Frage, wieweit
durch den Waarenverkehr auf dem Landwege speziell durch Eisen¬
bahntransporte eine Weiterverbreitung der Cholera möglich ist.
Es liegt in der Natur der Sache, dass exakte Beobachtungen
dieser Art sehr schwierig sind, da Nebenumstände nicht immer
einen anderen Weg der Uebertragung ausschliessen lassen werden.
Welche hygienischen Massregeln sind bei Choleragefahr etc. 449
Es ist Ihnen bekannt, dass man in dieser Beziehung aus
Furcht so weit gegangen ist, jeden Brief aus der Choleragegend
als verdächtig anzusehen und zu desinflziren. Andererseits hören
wir einen Hygieniker der Neuzeit es aussprechen, dass Beispiele
einer Verschleppung der Cholera durch Briefe und Waaren von
Land zu Land, so lange wir die Seuche kennen, noch nicht be¬
kannt geworden sind.
Dass durch leblose Dinge Keime Weiterverbreitung finden
können, dafür Beispiele anzuführen, wie sie Hirsch in seinem
Bericht über die Choleraepidemie vom Jahre 1873 beibringt, dürfte
heute überflüssig erscheinen, wo es uns bekannt ist, dass der
Cholerabacillus unter bestimmten Bedingungen sich eine Zeit lang
konservirt. Auch dafür, dass durch Lebensrnittel, die von
gesunden Menschen in seuchenfreie Gegenden gebracht wurden,
Weiterverschleppungen der Cholera stattgefunden haben, finden
wir in der vorjährigen Literatur Beispiele angeführt (Mediz.
Wochenschr. Nr. 45 und 47 1892), wo speziell durch Butterbrode,
aus Seuchengegenden mitgebracht, Personen erkrankten, während
zur Zeit kein Fall von Cholera am Orte herrschte und die Per¬
sonen gesund blieben, die diese Lebensmittel mitgebracht oder
nicht genossen hatten. Bei dem heutigen gültigen Standpunkte
wird es vielmehr darauf ankommen, zu erwägen, unter welchen
Bedingungen eine Weiterverbreitung der Cholera durch Waaren
stattfindet und welche Faktoren die Uebertragung begünstigen.
Von vorneherein werden wir in dieser Beziehung berücksichtigen
müssen, das ein Unterschied zu machen ist zwischen dem Waaren-
transport im Nah- und im Fernverkehr.
Jeder, der sich mit Cholerauntersuchungen eingehender be¬
schäftigt hat, weiss, wie die Cholerakeime von Feuchtigkeit und
ungehindertem Luftzutritt, Sonne und Trockenheit beeinflusst werden,
und wie die Dauer der Einwirkung dieser Faktoren die Lebens¬
fähigkeit und die Möglichkeit der Uebertragung verändert. Anderer¬
seits, dass die hermetische Verpackung in Blechkästen und die
feste Zusammenpressung der Kollis eine Verschleppung von Keimen
verhindert oder sehr unwahrscheinlich macht.
Es ist auch in Betracht zu ziehen, wieweit den zu versen¬
denden Waaren überhaupt Gelegenheit geboten war, Keime auf¬
zunehmen und welchen Kulturboden sie abgeben für die Vegetation
der zu übertragenden Keime. In ersterer Beziehung werden Fabrik¬
produkte, Kornsendungen niemals Beanstandung finden und in
letzter Beziehung haben die Untersuchungen des Reichsgesund¬
heitsamtes festgestellt, dass die meisten Waaren und Lebensmittel
einen weit ungünstigeren Nährboden abgegeben, als man früher
angenommen hat und dass sie im Fernverkehr kaum in Betracht
kommen können als Vermittler der Seuche. Ich verweise Sie in
dieser Beziehung auf die Untersuchungen des Reichsgesundheits-
Amtes vom vorigen Jahre, die auch Petri in seinem Cholerakurs
kurz zusammen gestellt hat und auf denen die Beschlüsse der
internationalen Sanitäts-Konferenz zu Dresden, sowie das Rund¬
schreiben des Reichskanzlers vom 27. Juni d. J. basiren.
450 Dr. Matthea: Welche hygienischen Massregeln sind bei Choleragefahr etc.
Als unzweifelhaft auszuschliessen vom Verkehr dürften da¬
gegen sein alte Wäsche und Kleidungsstücke die in direkte Be¬
rührung mit Cholerakranken gekommen sind. Nicht ohne Weiteres
im Verkehr zuzulassen sind getragene Kleider, die als Gepäck¬
stücke aus verseuchten Gegenden kommen oder als Handelsob¬
jekte die Grenze passiren.
Ich weiss nicht, welche Erkennungsmittel Petri an ge¬
tragenen Kleidungsstoffen, deren Transport er mit Ausnahme der¬
jenigen, die unmittelbar vom Leibe Cholerakranker kommen, für
harmlos hält, dafür hat, dass dieselben nicht von Kranken direkt
herrühren, oder dass sie genügend lange dem Gebrauche entzogen,
eine Garantie dafür abgeben, dass die Keime nicht mehr lebens¬
fähig sind.
Wir wissen doch ganz genau, dass gerade alte Sachen im
Osten einen ziemlich grossen Handelsartikel bilden und dass der
Vortheil der Händler zu Seuchenzeiten in dem billigen Einkäufe
diese Geschäftsbranche besonders zur Blüthe bringt.
Auch die Harmlosigkeit der Lumpen, wie sie befürwortet
wird und auch die Denkschrift über die Cholera in Preussen vom
Jahre 1892 anzuerkennen scheint, indem sie den Verkehr mit
Lumpen vorzugsweise nur in der Absicht einer Beruhigung des
Publikums nachgebend, verboten hat, kann ich nicht befürworten.
Dass Hadern und Lumpen als Abfälle der Industrie unverdächtig
sind, ist ohne Weiteres anzuerkennen. Die Lumpentransporte aber,
die im Osten Preussens nicht unerheblich sind, nehmen ihr Material
nicht aus diesen Quellen, sondern sind Abfälle der Wäsche und
Kleidung und auch hiermit ist der Handel zu Zeiten einer Epidemie
in ländlichen Kreisen eher ein grösserer als sonst.
Nun mag es ja richtig sein, dass wenn diese Lumpen längere
Zeit gelagert haben, sie gewiss an Gefährlichkeit einbüssen, in¬
dessen wer will die Garantie übernehmen dafür, dass der letzte
Frachtwagen nicht erst vor wenig Tagen aus Cholerahäusern auf¬
gekauft ist? Es liegt auch kein Grund dafür vor, dass man diesen
Handelsartikel auch zu solchen Zeiten ungehindert passiren lässt,
so gross ist der materielle Schaden nicht, auch ist eine feste, ge¬
presste Verpackung ohne grosse Kosten auszuführen und dann
dürfte allerdings die Möglichkeit der Uebertragung sehr gering
sein Die Denkschrift der Dresdener internationalen Konferenz
bezeichnet als einzige Gegenstände oder Waaren, welche Träger
des Ansteckungsstoffes sein können, Leibwäsche, alte und getragene
Kleidungsstücke, ferner Hadern und Lumpen; während sie für die
ersteren Gegenstände jedoch ein unbeschränktes Verbot zulässt
für die Ein- und Durchfuhr, darf die Einfuhr von Hadern und
Lumpen nicht verboten werden, wenn sie hydraulisch zusammen¬
gepresst in eisenbeschlagenen Ballen im Grosshandel versendet
werden und mit Ursprungsmarken, die ihre Unverdächtigkeit
kennzeichnen, versehen sind, ferner wenn sie aus Abfällen be¬
stehen, welche direkt aus Spinnereien, Webereien, sowie aus Kon¬
fektions- und Bleichanstalten kommen, oder wenn sie aus Kunst-
wolle und neuen Papierschnitzeln bestehen.
Ans Versammlungen und Vereinen.
451
Im Nahverkehr kommt noch in Betracht die Versendung von
Milch, die als guter Kulturboden der Cholerakeime aus verseuchten
Ortschaften verboten werden sollte und Butter, auf der anscheinend
wie auf frischem Käse sich der Krankheitserreger der Cholera
lange lebensfähig erhält.
Wir sehen hieraus, dass im Waarenverkehr kaum wesentliche
Beschränkungen nothwendig sind.
Aus Versammlungen und Vereinen.
111, Versammlung d« r Nedizinalbeamten des Regierungs-
Bezirks Stade am 16« August in Harburg.
Anwesend waren die Herren Kreisphysiker Dr. H e r y a - Otterndorf,
Dr. Noeller -Buxtehude, Dr. Vogel-Freiburg, Dr. Ritter-Bremervörde,
Dr. Andr6e-Neuhaus, Dr. Rusak-Stade, Dr. Engel mann-Achim, Dr.
R o e h r s - Rotenburg, Dr. Westrum-Geestemünde.
In Abwesenheit des Herrn Vorsitzenden Reg.- und Med.-Rath Dr. Bohde
wurde die Sitzung vom Unterzeichneten eröffnet und nahm die Versammlung
nach Erledigung der regelmässigen geschäftlichen Angelegenheiten zunächst die
Neuwahl eines Vorstandes vor. Durch Akklamation wurde der alte Vorstand
wiedergewählt und hierauf zum ersten Punkt der Tagesordnung geschritten:
Die Stellung der preussi9chen Kreisphysiker. Der Referent, Kreis-
Physikus Dr. Rusak sprach im Eingang seiner Darlegungen aus, dass er
nicht nur überzeugt sei, mit der Anregung zu einer Besprechung über die
Stellung der preussischen Kreisphysiker ein Thema zu berühren, welches für die
Anwesenden das grösste Interesse habe, sondern dass er auch hoffe, dass die
Anwesenden mit ihm darin übereinstirnmeu würden, dass zur endlichen Aenderung
der Stellung der Physiker von jedem derselben mehr gethan werden müsse, als
bisher geschehen sei.
Referent besprach dann kurz, aus welchen Gründen die Kreisphysiker
eine Aenderung ihrer amtlichen Stellung und Befugnisse sowie eine Erhöhung
ihres Einkommens erstrebten. Wohl keiner sei Sanitätsheamter geworden, weil
ihn die Stellung oder das Einkommen der jetzigen Kreisphysiker verlockte,
sondern weil er der Ueberzeugung war, dass die seinen Vorgängern schon lange
versprochene Medizinalreform nun endlich kommen müsse und die Physiker als
wirkliche und auskömmlich besoldete Sanitärsbeamte eine befriedigende Wirk¬
samkeit in dem weiten Gebiet des öffentlichen Gesundheitswesens finden würden.
Statt dessen sehen die Physiker sich immer noch von den Schranken umgrenzt,
welche schon ihre Vorgänger an einer ersprießlichen amtlichen Thätigkeit ge¬
hindert haben; noch immer ist es ihnen immöglich gemacht, die Fortschritte
ihrer Wissenschaft in einer für den einzelnen wie für den Staat nützlichen
Weise in der Prophylaxe zu verwerthen. Dabei sind sie nach wie vor in erster
Linie praktische Aerzte, für ihren Lebensunterhalt auf den Erwerb durch die
Praxis hingewiesen. Zu welchen Konflikten dieses Verhältnis führt, braucht
auch nicht weiter erörtert zu werden, da jeder dieselben genügend aus seiner
eigenen Thätigkeit kennt.
Dass unter solchen Verhältnissen die Kreisphysiker besonders nach (len
Ereignissen des vorigen Sommers mit Spannung die Bekanutgebung der Höhe
der Forderungen für den Medizinaletat erwarteten, ist begreiflich, ebenso be¬
greiflich aber auch die grosse Enttäuschung derselben, als auch dieses Mal wieder
nichts für die Medizinalreform übrig geblieben war und als sie aus dem Munde
des Herrn Ministers hören mussten, dass noch mancher Tropfen Wasser den
Berg hinunterlaufen müsse, ehe ein so tiet eingreifendes und kostspieliges Projekt,
wie das der Medizinalreform, in das Leben gerufen würde, ferner dass die Vor¬
bedingung der ganzen Medizinalreform die umfassendere Vorbildung der künfti¬
gen Medizinalbeamten sei.
Aus diesen Worten des Herrn Ministers ist nur das mit Sicherheit zu
entnehmen, dass mau die Medizinalreform auf unbestimmte Zeit zurückgestellt
452
Aus Versammlungen und Vereinen.
hat. Ist das der Fall, so haben die jetzt angestellten Physiker wenig Aussicht,
die Reform noch zu erleben, wenn sie sich nicht ermannen und endlich anfangen,
ihre Interessen kräftig und nachdrücklich in jeder für einen Beamten zu¬
lässigen Weise zu vertreten.
Die Kreisphysiker haben bislang geschwiegen, wenn ihre Angelegenheiten
in der Presse oder im Abgeordnetenhause verhandelt wurden. Wenn sie aber
die politischen Vorgänge der letzten 10 Jahre im Reiche und in Preussen ver¬
folgen, so werden sie erkennen, dass dieses resignirte Schweigen das verkehrte
Verhalten war. Denn nur diejenigen Erwerbsklassen, ferner nur diejenigen
Beamtenkategorien haben in den letzten Jahren eine Berücksichtigung ihrer
Interessen erfahren, welche diese Interessen und Wünsche gehörig laut äusserten
und sie vor allen Dingen in der Presse und in den Parlamenten mit allen
Gründen wieder und wieder zur Sprache brachten. Damit ist den Kreisphysikern
der Weg gezeigt, den auch sie gehen müssen, denn unter den jetzigen Verhält¬
nissen haben sie gar keine Aussicht, ihre berechtigten Wünsche erfüllt zu sehen,
wenn sie nicht mit der alten üblen Tradition brechen und für das, was sie nicht
nur als recht und billig, sondern auch für das Allgemeinwohl als
förderlich und nöthig erkannt haben, öffentlich und entschieden eintreten.
Nun fragt es sich:
I. Was haben die Kreisphysiker zu thun, um die Medizinalreform zu
fördern? und
II. welche Forderungen sollen sie in Bezug auf ihre künftige Stellung
aufstellen ?
Referent legte bezüglich dieser Fragen der Versammlung die folgenden
Thesen vor. Er begründete die einzelnen Thesen und bat dann, dieselben zu
diskutiren und event. ihnen beizutreten.
Thesen ad L
1. Es ist nöthig, dass die Physiker in der medizinischen wie in der politi¬
schen Presse für die Einführung der Medizinalreform einzutreten sich ent-
schliessen. In der medizinischen Presse, einmal um die massgebenden
Behörden von der absoluten Nothwendigkeit der Reform zu überzeugen, ferner
um durch die kundgegebenen Vorschläge den Behörden Kenntniss von den An¬
sichten und Wünschen der beamteten Aerzte in Bezug auf diese Reform zu
verschaffen. In der politischen Presse, um weitere Kreise deä Volkes
mit der Lage der Kreis-Medizinalbeamten bekannt zu machen und sie für deren
Bestrebungen, welche ja zugleich auf die Förderung des Allgemeinwohls gerichtet
sind, zu interessiren.
2. In zweiter Linie scheint es geboten, dass die Medizinalbeamten mehr
als bisher mit den Abgeordneten Fühlung zu erlangen suchen und sie zum Ein¬
treten für die Bestrebungen zur Einführung der Medizinalreform gewinnen.
3. Es ist dahin zu wirken, dass die den Aerztekammern als Mitglieder
angehörenden Medizinalbeamten die Kammern zu entschiedenerem Eintreten für
die Medizinalreform bewegen.
These ad n.
Als Thesen, welche die hauptsächlichsten Forderungen der Kreisphysiker
bezüglich der Aenlerung ihrer Stellung enthalten, stellte Referent die bereits in
dem Artikel der Nr. 15 der Zeitschrift für Med.-Beamten vom 1. August d. J.
veröffentlichten auf (s. S. 371 d. Zeitschr.).
In der sich anschliessenden lebhaften Debatte erklärten sich fast sämmt-
liehe Anwesenden mit den Ausführungen des Referenten vollständig einverstanden
und gaben verschiedene Theilnehmer der Versammlung frei und offen ihrer Un¬
zufriedenheit über die gegenwärtige Lage der Medizinalbeamten entsprechenden
Ausdruck. Die unselbstständige und unbestimmte Stellung, die äusserst mangel¬
hafte Besoldung, die vielen Täuschungen nach fast jeder Richtung, welche den
Medizinalbeamten in den letzten Jahren geworden sind, die Thatsache, dass diese
Täuschungen unschwer hätten vermieden werden können, wenn die Staats¬
regierung ernsten Willen gehabt hätte — alle diese trüben Bilder wurden im
Laufe der Debatte nochmals vorgeführt. Auch gaben verschiedene Herren ihren
Unwillen darüber kund dass trotz der Gewissenhaftigkeit und der fast allgemein
anerkannten dienstlichen Arbeitsfreudigkeit, wie sie gerade von einem Medizinal¬
beamten gefordert werden müssen, und trotz dvr Opfer, welche von diesen
Beamten unter Hintansetzung aller sonstigen Interessen, sogar Gesundheit und
Aus Versammlungen und Vereinen.
453
Leben so oft und violfach gebracht werden, dennoch für alle diese Leistungen
die Staatsregierung keinerlei Aequivalent biete, obwohl schon seit Jahren von
verschiedenen Seiten im hohen Hause der Abgeordneten hierzu offen die Hand
geboten wurde und auch sogar bereits ein bezüglicher Antrag in Aussicht ge¬
stellt worden ist. Die vom Eeferenten vorgeschlagenen Thesen wurden ein¬
stimmig angenommen.
lieber den zweiten Punkt der Tagesordnung „Desinfektoren und Des¬
infektionen auf dem platten Lande“ referirte kurz Herr Kreisphysikus
Sanitätsrath Dr Rohrs (Rotenburg) und führte hierbei aus, was unter heutigen
Verhältnissen thatsächlich nach dieser Richtung geschehen sei und was wohl
hätte geschehen können. Man wurde bezüglich dieses Punktes darüber einig,
dass die Gemeinden für sanitäre Zwecke eben so wenig die erforderlichen Geld¬
mittel bereit stellen, wie dies seitens des Staates geschehe; würde nach dieser
Richtung hin Abhülfe geschaffen und mit entsprechender Energie vorgegangen,
dann sei nach den bislang gemachten Erfahrungen eine Desinfektion auf dem
platten Lande ebenso durchführbar wie in den Städten. Dass dieselbe durchaus
nothwendig sei, wurde allseitig anerkannt.
Nachdem für das nächste Jahr Bremen zum Versammlungsort ausgewählt
war, wurde die Versammlung geschlossen und vereinigten sich sämmtliche Thcil-
nehmer zu einem gemeinsamen Mittagessen.
Dr. Westrum -Geestemünde.
Im Anschluss an den vorstehenden Bericht bringen wir nachstehend einige
Bemerkungen eines Theilnehmers der obigen Versammlung, des Kreisphysikus
San.-Rath Dr. Ritter in Bremervörde, die dieser der Redaktion zur Veröffent¬
lichung zugeschickt hat. Dieselben lauten wie folgt:
„Die Arbeit des Physikus lässt sich nach der faktisch geleisteten nicht
beurtheilen, sie ist eine viel grössere. Seit ich mein Physikat verwalte, habe
ich trotz geringer Amtsgeschäfte die medizinischen Studien fast ganz an die
Seite schieben müssen. Die Studien über Hygiene und gerichtliche Medizin haben
sie ganz verdrängt. Das herbe Urtheil, welches in dem Kursus in Berlin über
die Physiker gefällt ist und welches ein pietätsvoll gehegtes Bild zu Grabe
trägt, kann un9 nicht wankend machen in den Aufgaben, welche uns gestellt
sind. Auch wenn uns die Choleradiagnose genommen ist, müssen wir doch im
Stande sein, sie zu machen. Dazu gehört aber stetige Arbeit, in welcher wir
um so weniger erlahmen dürfen, da unsere Forderungen eine bis dahin nicht
ausgesprochene Höhe annehmen. Die Studien für das Physikat verdrängen die
medizinischen; wer ein Physikat verwaltet, muss die medizinischen Studien auf¬
geben, er bleibt in ihnen zurück und ist für die Praxis nicht mehr tauglich.
Wer Physikus werden will, muss auf die Praxis verzichten.
Die dringende Nothwendigkeit einer Medizinalreform erkenne ich ebenso
wie jeder Kreisphysikus an, gegen die Form der vom Kollegen Ru sack auf¬
gestellten Thesen habe ich aber doch einige Bedenken.
Die Medizinalreform kann meines Erachtens nicht übereilt gelöst werden;
es muss vielmehr eine vorläufige Lösung gesucht werden. Die Rede des Herrn
Ministers, welche unsere so nahe scheinenden Hoffnungen völlig auf die Seite
schob, ist sachlich leider, vollauf begründet. Wie kann eine Reform geschehen,
wo man überall in Versuchen steckt? Vor 18 Jahren sind in Hannover Kreis¬
wundärzte in grossen Physikaten eingerichtet, nach 10 Jahren wurden die Kreis¬
wundärzte abgeschafft und kleine Physikate gebildet. In anderen Provinzen
sind die Kreiswundärzte und die grossen Physikate geblieben. Diese Frage
wäre zuerst zu entscheiden und zu dieser Entscheidung findet sich bis jetzt
keine Spur des Anfanges.
Ferner ist zu entscheiden, ob zu Physikern Aerzte in jüngerem oder
höherem Alter auszusuchen sind. Diese Entscheidung muss fallen, ehe die Reform
eintritt. Für den beanspruchten Gehalt sind junge völlig ausgebildete Aerzte
nicht zu haben, schlechtere würden nicht genügen. Ich verzichte darauf diesen
Gedanken weiter auszuführen, da es zu weitläufig wäre; spreche aber meine
Meinung dahin aus, dass ein reiferes Alter die richtige Verwaltung des Amtes
gewährleistet.
Nach meiner Meinung steht also die Medizinalreform noch in weitem
Felde, aber einzelne Forderungen lassen sich schon vorher lösen. Zunächst die
454
Kleinere Mitteilungen und Referate aus Zeitschriften.
Abhängigkeit vom Landrathe, welche bei dem häufigen Wechsel dieser meist
jungen Beamten das Amt völlig lähmt. Den Beweis werden mir die Leser
dieser Zeitschrift erlassen. Vor Allem ist aber die Feststellung der Staatsdiener¬
stellung und eine Erhöhung des jetzigen kümmerlichen Gehalts notwendig, von
dem ausserdem, sehr mässig geschätzt, ein Drittel für die sachlichen Ausgaben
des Physikatcs: Bücher, Instrumente etc., verlustig geht. Durch Gewährung
eines entsprechenden Gehaltes muss von Seiten des Staates aber ausgedröckt
werden, dass das Amt eines Physikus den ganzen Mann, nicht den sechsten Theil
desselben verlangt.
Nach den jüngsten Mittheilungen in den politischen Blättern scheinen
manche erwartete Reformen, zu denen der preussische Etat die Mittel bieten
sollte, mit Rücksicht auf die Finanzlage im nächsten Etatsjahre nicht zur Aas¬
führung zu kommen. Dass die Medizinalreform zu diesen gehören wird, steht
nach den bisherigen Erfahrungen leider zu befürchten.“
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
A. Gerichtliche Medizin.
Atypische Lage der Einschussöffnung beim Selbstmord durch
Schuss in den Kopf. Von Dr. Albin Hab erd a, Assistenten am Institut für
gerichtliche Medizin des Herrn Hofrathes Prof. E. von Hoffmann in Wien.
Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin, 3. Folge, V. 2.
Bei der gerichtsärztlichen Beurtheilung von Schüssen in den Kopf ist
man gewöhnt, neben der Berücksichtigung der ermittelten Umstände besonders
die Eingangsöffnung zu beachten und an Selbstmord zu denkeu, wenn die Ein-
gangsöffnung sich an bestimmten, typischen Stellen befindet und es sich gleich¬
zeitig um einen Naheschuss handelt. Die typischen Stellen sind: Schläfe, Stirn,
Mund und Kinn. Dass aber auch Abweichungen der sonderbarsten Art Vor¬
kommen, beweisen die vom Verfasser zusammengestellten Fälle von ungewöhn¬
lichem Sitze der Verletzung bei Selbstmord, von denen nachstehende hervorgehoben
werden sollen:
1. Einschussöffnung im linken Scheitelbein nahe dem Winkel zwischen
dem hinteren Ende der Pfeilnaht und der Spitze des Hinterhauptbeines.
2. Dem Einschuss entsprach eine Knochensplitterung im linken Scheitel¬
beine entsprechend der Pfeilnaht und 15 mm über der Spitze der Lambdanaht.
Dieser Schuss wirkte nicht tödtlich, der Tod wurde durch einen zweiten in die
linke Brust abgegebenen Schuss herbeigeführt.
3. Am Hinterkopfe unter dem Haarwirbel eine rundliche, für die Fingerkuppe
passirbare Oeffnung; hierbei war der Sektionsbefund folgender: Am Vereinigungs¬
punkt der Pfeil- und Lambdanaht eine unregelmässig rundliche,aussen scharfrandige
und nach innen abgeschrägte, bis 12 mm weite stark geschwärzte Oeffnung. Schädel¬
dach fast vollständig abgesprengt und zwar entsprechend jener Circumferenz, in
der man es bei Sektionen aufzusägen pflegt.
4. Einschussöffnung im vorderen oberen Winkel des rechten Scheitelbeines,
1 cm nach aussen von der Pfeilnabt und 3 mm hinter der rechten Kranz¬
nahthälfte.
5. Einschussöffnung am rechten Tuber parietale.
6. 7—8 mm weite nach innen abgeschrägte Schusswunde gerade hinter
der Basis des rechten Warzenfortsatzes.
Diese Fälle beweisen zur Genüge, dass es eigentlich keine Stelle am
Kopfe giebt, an welcher der Selbstmörder nicht, allerdings mit koraplizirten
Handgriffen, die Waffe mit Erfolg abfeuern könnte. Die Kenntniss dieser That-
sachen ist aber für den Gerichtsarzt wichtig, weil man bei sonstigem Fehlen
von Nebenumständen sich sehr hüten wird, die Schuld eines Dritten anzunehmen,
den Selbstmord also auszuschliessen, so bald sich etwa die Einschussöffnung nicht
an den oben bezeichneten typischen Stellen befindet.
Dr. Israel-Medenau (Ostpr.).
Selbsterdrosselnng eines Alkoholikers. Von demselben. Ebendaselbst.
Ein 34 Jahre alter Alkoholiker hatte auf der psychiatrischen Klinik des
allgemeinen Krankenhauses in Wien sich selbst erdrosselt, indem er dazu einen
Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften.
455
aus dem Rückentheil seines durch Urin ganz durchnässten Spitalhemdes gerisse¬
nen breiten Streifen benutzte, der nicht geknüpft, sondern mittelst einfacher
Schlinge zugezogen vorgefunden wurde. Der gleich darauf hinzugerufene Arzt
fand neben Ecchymosen an den Bindehäuten, Blut vor Nase und Mund, am Halse
eine deutliche, ganz frische, offenbar von einem breiten Umschnürungsmittel
herrührende Strangfurche. Bei der Sektion war die Haut am Vorderhalse
zwischen den Kopfnickern unterhalb der halben Halshöhe in’s Grauviolette ver¬
färbt; rechts rückwärts über dem M. cucullaris ein fingerbreiter, nicht ver¬
tiefter blasser Streifen. Unter der Halshaut und zwar unter dem rechten Unter¬
kieferwinkel eine kreuzergrosse Unterlaufung mit geronnenem Blute. Eine
weniger intensive Blutung ferner unter der Scheide des rechten M. sternothyreoi-
deus und in beiden Mm. cricothyreoideis. Auf beiden Seiten des Ringknorpels
unter dem Perichondrium ein flacher, über linsengrosser Blutaustritt, unter dem
sich beiderseits je ein 1 cm langer, zackiger von aussen oben nach innen unten
schräg verlaufender Sprung im Ringknorpel vorfand. Rechts im Zellgewebe
über der Vorderseite der Halswirbelsäule ein kleiner flacher Blutaustritt. Im
Gesicht ausgesprochene Zeichen des Erstickungstodes, der in diesem Falle
zweifellos durch Selbsterdrosselung erfolgt ist. Auch hier fanden sich also, wie
dies beim Erdrosseln ja häufig vorkommt, Verletzungen der Halsorgane. Ders.
Ein Fall von Salpetersäure Vergiftung. Von Dr. Carl Ipsen,
Assistenten am Institut für gerichtliche Medizin in Graz. (Mit 2 Tafeln.) Viertel¬
jahrsschrift für gerichtliche Medizin 1893, Band VI, 3. Heft.
Einen willkommenen Beitrag zur Lehre von der Salpetersäurevergiftung
liefert Ipsen durch die Beschreibung eines von ihm obduzirten Falles, an den
sich eingehende Untersuchungen über die Blutbeschaffenheit anschlossen. Ausser
den hierbei gewonnenen Beobachtungen über die Vertheilung der Säure im
Organismus und die durch sie bewirkten Veränderungen der Alkalinität des
Blutes, ist der Fall noch dadurch bemerkenswerth, dass die mikroskopische
Untersuchung der Organe neue Anschauungen über die Wirkung der Mineral¬
säuren auf die Nieren zu Tage förderte.
Eine 65 jährige, hereditär schwer belastete Person, hatte 4 Stunden nach
dem Frühstück, das aus einer kleinen Tasse Milch mit einem Stückchen Semmel
bestanden, also auf vollkommen leeren Magen, 125 ccm rauchende kon-
zentrirte Salpetersäure in selbstmörderischer Absicht geleert. Drei
Stunden nach Einverleibung des Giftes erfolgte der Tod; bei dem ausgesproche¬
nen Kollaps, der starken Dyspnoe und Cyanose war von der Einwirkung von
Magnesia usta und Magenausspülung abgesehen worden. 19 Stunden p. m. wurde
die Sektion vorgenommen. Indem bezüglich der Einzelheiten des Obduktions¬
resultates und der weiter angestellten Untersuchungen auf das Original ver¬
wiesen wird, mag hier nur noch hervorgehoben werden, dass Ipsen zu folgenden
Schlüssen gelangt:
1. Das anatomische Bild der Salpetersäurevergiftung wird durch post¬
mortale Vorgänge wesentlich beeinflusst. Wichtig ist insbesondere die durch
Diffusion der Säure auch bei unverletzter Magen wand erfolgende Anätzung der
Nachbarorgane und Erstarrung des Blutes im Herzen und in den grossen Gelassen.
2. Uebereinstimmend mit den Resultaten der Thierexperimente findet sich
auch beim Menschen selbst nach grosser Säurezufuhr die Alkalinität des Blutes
erhalten, wenngleich die Verarmung des Blutes an Alkalien eine sehr be¬
deutende ist.
3. Der Tod erfolgt bei den rasch verlaufenden Fällen der Säurevergiftung
noch vor dem Umschlagen der alkalischen in die sauere Reaktion in Folge der
grossen Alkalientziehung aus den plasmatischen Körperflüssigkeiten, die von
Störungen der Athmung und Cirkulation begleitet ist.
4. Nächst den lokal affizirten Stellen des Digestionsrohres zeigen die
Nieren sehr schwere Veränderungen im Bereiche der Epithelzellen, die das
Bild weitgediehener Koagulationsnekrose darbieten. Dr. Dütschke-Aurich.
B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Die Cholera. Von Prof. Dr. Gaffky. Referat auf dem diesjährigen
zwölften Kongress für innere Medizin.
Es ist natürlich nicht möglich, dass im Rahmen eines derartigen Referates
456
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
alle Seiten der weitschichtigen Cholerafrage in gleicher Weise zu ihrem Recht
kommen; und in der That nimmt Gaffky auch nur einigen dieser engeren
Fragen gegenüber Stellung, während andere nur obenhin gestreift werden, andere
gar keine Erwähnung finden. Im Uebrigen wird dem Bericht sowohl durch die
Versammlung, der derselbe erstattet wurde, als auch durch die Person des Be¬
richterstatters ein hoher Werth gesichert, welcher ihm auch thatsächlich eigen
ist. Gaffky nimmt vielfach Bezug auf Griesinger, den er häufig wörtlich
anführt — mit vollem Recht! Denn auch heute noch ist das Griesing er’sche
Werk über Infektionskrankheiten, welches in 1. Auflage bereits 1857 als Theil
des Virchow’sehen Sammelwerkes erschien, immer noch das Beste und Ge¬
diegenste, was die deutsche Literatur auf diesem Gebiete besitzt! Es ist in
hohem Grade interessant und eine sehr wesentliche Stütze der mit Unrecht von
Pettenkofer konsequent als die „kontagionistische“ bezeichneten Schule, dass
scharfe Beobachter, wie Griesinger dem von ihnen nicht gekannten, aber mit
Bestimmtheit vorausgesetzten „Cholerakeim“ lediglich auf Grund klinischer und
epidemiologischer Forschung genau diejenigen Lebenseigenschaften zusprechen
konnten, welche ein Menschenalter später die Bakteriologie an dem Cholera-
Bacillus thatsächlich entdeckte. Beispielsweise ist sich Griesinger der grossen
Bedeutung sehr wohl bewusst, welche gerade den leichten und leichtesten
Cholerafällen für die Verschleppung der Seuche zukommt und es ist ihm eine
ausgemachte Thatsache, dass Personen, die anscheinend ganz gesund sind, den
spezifischen Keim mit ihren Ausleerungen gerade so verbreiten können, wie die
schwersten Fälle asphyktischer Cholera. Die bakteriologische Forschung hat für
diese, aus Beobachtungen epidemiologischer Thatsachen logisch gefolgerten
Schlüsse des scharfsinnigen Klinikers, den exakten, naturwissenschaftlichen Beweis
geliefert. Der Nachweis, dass ganz gesund erscheinende Personen in ihrem
Darmkanal den Cholerabacillus beherbergen und demgemäss auch Verschleppen
können — so viel mir bekannt, zuerst von Flatten erbracht — ist ein recht
werthvolles Ergebniss vorjähriger Choleraforschung! Gaffky liefert dazu ein
paar sehr lehrreiche Beispiele aus der Hamburger Epidemie. Von dem spani¬
schen Dampfer Murciano, auf welchem im Januar 1893 im Hamburger Hafen
zwei Matrosen an Cholera erkrankten, wurde die übrige, 24 Köpfe starke
Mannschaft zur Beobachtung ihres Gesundheitszustandes isolirt und wurden ihre
Ausleerungen bakteriologisch untersucht. Bei drei Leuten, welche täglich einmal
dünnen Stuhlgang hatten und im festen Stuhlgang eines vierten fanden sich
reichliche Cholerabakterien, während die Leute sich andauernd vollständig wohl
befanden. Dasselbe Resultat ergab sich bei der farbigen Mannschaft des zu
gleicher Zeit und zweifellos vom Murciano aus infizirten Dampfers „Gret-
chen Bohlen“. Auch hier erkrankten zwei Mann an Cholera, während in dein
Stuhlgang von vier, sonst gar nicht erkrankten Leuten das Kulturverfahren
Cholera - Bazillen nachwies.
Diese Thatsache, deren Konsequenzen in praktischer Beziehung von weit-
tragendster Bedeutung sind, erklärt in voll ausreichender Weise den angeblich
negativen, sehr mit Unrecht so aufgebauschten Ausfall der bekannten P e 11 e n-
kofer - Ein m erich’schen Selbstexperimente und weist beiden Er¬
krankungsfällen ihre Stelle unter der sepezifiseken Cholera-Diarrhoe an. Von
demselben Standpunkt aus sind auch die von Hasterlik in Wien an vier
Versuchspersonen angestellten, übrigens nach Gaffky zum Theil nicht einwand¬
freien Selbstinfektionsversuche, sowie die bekannten beiden Fälle von unbeab¬
sichtigter „Laboratoriumscholera“ zu betrachten.
Die zunächst recht blendend erscheinende Hypothese Hüppe’s, wonach
der Cholera-Bacillus im Darm in Folge der ihm dort aufgezwungenen Anaerobiose
geschwächt und zu unmittelbarer Infektion nicht tauglich sein, aber durch
saprophytisches Wachsthum in der freien Natur in kurzer Zeit die nüthige
Lebenskraft zur Ueberwinduug der natürlichen Widerstandskraft des mensch¬
lichen Organismus erlangen soll, hält Gaffky durch die schwere, bei strengster
Winterkälte durch infizirtes Wasser verursachte Nietlebener Epidemie für voll¬
ständig widerlegt. Allerdings glaubt auch Gaffky, dass es unter besonders
günstigen äusseren Umständen auch ausserhalb des Körpers, besonders im Wasser
und auf Nahrungsmitteln gelegentlich zu einer saprophytischen Vermehrung
kommt; nothweudig aber — und darauf komme es an — sei ein solches sapro¬
phytisches Wachsthum für das Entstehen einer Choleraepidemie nicht. „Nicht
die saprophytische, sondern die parasitische Vermehrung der
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
457
Cholera-Vibrionen ist, wenigstens für unsere Breiten, zweifel¬
los die Regel!“
Sehr interessant und treffend sind die Bemerkungen über die Wasserfrage
und es ist sehr bedauerlich, dass Gaffky bei diesem so wichtigen Thema nicht
länger verweilen konnte. Mit Recht hebt er hervor, dass, im Wasser aufge¬
schwemmt, die Cholera-Vibrionen besonders leicht den Magen ungefährdet
passiren können, danach den Ewald ’ sehen Versuchen in den nüchternen Magen
eingeführtes Wasser, ohne saure Reaktion angenommen zu haben, in den Dünn¬
darm übertreten kann. „Ein Krankenwärter, der seine mit Cholera-
dejektionen beschmutzten Hände zum Munde führt und dabei
Cholera-Vibrionen verschluckt, ist offenbar ausserordentlich
viel weniger gefährdet, als ein Schiffer, welcher dieselbe
Menge von Infektionskeimen mit einem reichlichen Trunk
infizirten Flusswassers in seinen leeren Magen hineinbringt.“
Diese bisher noch lange nicht genug gewürdigten Verhältnisse seien
auch heranzuziehen zur Erklärung des zeitlichen Verhaltens der
Cholera in unseren Breiten; denn es sei naturgemäss, dass die Infektion
durch die Aufnahme relativ grosser Wassermengen in den nüchternen Magen
gerade in derjenigen Jahreszeit, wo das Bedürfniss nach ausgiebigem Wasser¬
genuss sich am Meisten geltend mache, also im Spätsommer und im Frühherbst,
am häufigsten zu epidemischer Ausbreitung führen müsse. Erst indirekt und
zwar in anderer Weise, als Pettenkofer annahm, könne auch eine relativ
geringe Menge atmosphärischer Niederschläge der Verbreitung der Krankheit
Vorschub leisten. Dr. Langerhans-Celle.
Die Cholera asiatica, eine durch Cholerahazillen verursachte Ni¬
tritvergiftung. Von Prof. Dr. Rud. Emmerich und Prof. Dr. Tsuboi.
Münchener medizinische Wochenschrift 1893; Nr. 24, 26 u. 32.
Die bisherigen Arbeiten über die Giftsubstanzen der Kommabazillen sind
nach Ansicht der vorgenannten Forscher für die Pathogenese der Cholera asiatica
beim Menschen nicht verwerthbar; denn im Choleradarm handelt es sich nicht
um ein Absterben der Kommabazillen, sondern um eine üppige Weiterent¬
wicklung und Vermehrung derselben. Alle in Kulturen u. 8. w. nachweisbaren,
aus der Zellensubstanz abgestorbener Kommabazillen stammenden giftigen Ei¬
weissstoffe können somit als Ursache der charakteristischen Vergiftungserschei¬
nungen bei Cholera nicht in Betracht kommen, und um so näher lag daher die
Frage, ob jene Erscheinungen nicht etwa aus der Wirkung anderer, schon be¬
kannter Produkte der Lebensthätigkeit der Cholerabazillen erklärt werden
könnten.
Es ist bekannt, dass Kommabazillen in künstlichen Kulturen ansehnliche
Mengen Nitrit produziren und dass ihnen dieses Vermögen, aus Nitraten sal¬
petrige Säure zu bilden, mehr als anderen Bakterien zukommt. Es ist weiter
durch die Versuche von Oskar Löw erwiesen, dass jede Substanz, die bei grosser
Verdünnung entweder in Aldehyd- oder in Ainidogruppen einzugreifen vermag, auch
ein Gift für alles Lebende sein muss und dass sich diese Folgerung auch mit
Bezug auf die salpetrige Säure als zutreffend bestätigt hat. Es galt demnach
zunächst festzustellen, in welchen Mengen die salpetrige Säure bezw. Nitrite
giftig wirken und ob und inwiefern die Vergiftungssymptoine mit den bei der
Cholera beobachteten übereinstimmen. Die von Emmerich und Tsuboi bei
Meerschweinchen, Kaninchen und Hunden Angestellten zahlreichen Versuche haben
nun eine vollständige Ueber einst i in m un g des Krankheitsbildes der
Nitritvergiftung mit denjenigen der Cholera in allen seinen Ein¬
zelheiten (auch pathologisch - anatomisch) ergeben. Ueber Nitritvergiltungen
beim Menschen liegen allerdings bis jetzt nur wenige Beobachtungen vor, aber
auch diese lassen bis auf wenige unbedeutende und leicht erklärliche Ab¬
weichungen eine auffallende IJebereiustimmung der Iutoxikationserscheinungen
mit deu Ivrankheitserscheinungen der Cholera erkennen, besonders in Bezug auf
diu ilauptsyiuptome: Schwindel, Erbrechen, Diarrhoe, subnormale Temperatur-
Cyanose des Gesichts, der Lippen und Hände, Kälte der Extremitäten, Vermin¬
derung der Harnabsonderung u. s. w. Nur die Reiswasser ähnlichen Stühle
fehlen zuweilen bei der akuten Nitritvergiftung; das erklärt sich zum Theil aus
dem raschen Verlauf, grösstentheils aber daraus, dass die grösste oder die ge¬
summte Menge des Nitrits schon im Magen resorbirt wird, während bei der
458
Kleinere Mittheilnngen und Referate aus Zeitschriften.
Cholera die salpetrige Säure nicht ira Magen, sondern ganz allmählig im Darm
gebildet wird, hier das Darinepithel abtödtet, und dadurch den Flüssigkeitserguss
in’s Darmlumen, die Reiswasserstühle, hervorruft.
Beweisend für die Annahme einer Nitritvergiftung bei Cholera halten die
Verfasser ferner das übereinstimmende Auftretenvon Methämoglobin im
Blute. Dasselbe lässt sich spektroskopisch nach weisen (namentlich durch den
charakteristischen Absorptionsstreifen ira Roth zwischen C und D) und dieser
Streifen fehlt weder bei der Nitritvergiftung, noch im Blute der an Cholera ver¬
endeten Meerschweinchen. Allerdings giebt es ausser der salpetrigen Säure noch
eine Reihe anderer chemischer Substanzen, die zur Bildung von Methämoglobin im
Blute führen, alle diese Stoffe kommen aber für die vorliegende Frage nicht in
Betracht, da ihre Intoxikationserscheinungen wesentlich von denen der Cholera
abweichen. Desgleichen reduziren alle anderen nitritbildenden Bakterien nicht
allein die Nitrate viel langsamer und in viel geringerer Menge, sondern es man¬
gelt ihnen auch sämmtlich das Vermögen, im menschlichen Darm zu vegetiren
oder sich wenigstens hier in dem Masse wie die Cholerabazillen zu vermehren.
Ausserdem vermögen die Cholerabazillen neben Nitrit zugleich auch Säure (Milch¬
säure) aus Kohlenhydraten zu produziren, eine Fähigkeit, die, soweit bekannt,
anderen Nitrit bildenden Bakterien nicht zukommt und die andererseits für das
Zustandekommen der Sapetersäure-Vergiftung nothwendig ist.
Als weiteren Beweis für ihre Theorie führen die Verfasser das Vorkommen
von reichlichen Nitratmengen im Trinkwasser und in den vegetabilischen Nahrungs¬
mitteln des Menschen an, wodurch die Produktion von für die Vergiftung aus¬
reichenden Mengen von Nitrit im Darm ermöglicht wird. Daraus erklärt sich,
dass die hauptsächlich auf vegetabilische, nitratreiche Nahrungsmittel angewie¬
sene ärmere Bevölkerung von der Cholera weit mehr als die besser situirten
Klassen heimgesucht wird. Andererseits sei daraus der Schluss gerechtfertigt,
in Cholerazeiten vor den Genuss von derartigen Nahrungsmitteln wie Salat, Ge¬
müse u. s. w. zu warnen und auch den Genuss von Kohlenhydraten, wie Kar¬
toffeln, Reis u. s. w. thunlichst einzuschränken, da diese der Bildung von Milch¬
säure Vorschub leisten. Auch beim Meerschweinchen wird durch nitratreiche
Nahrung (Rübenfütterung) die Cholerainfektion begünstigt und deren Verlauf
beschleunigt.
Es wird ferner darauf hingewiesen, dass Cholerabazillen die vorhandenen
Nitratmengen sehr schnell zu Nitrit reduziren und dadurch in wenigen Stunden
eine höchst akute Vergiftung herbeiführen können, und zwar beim Menschen
um so mehr, als dieser merkwürdiger Weise empfindlicher gegen Nitrite
sei als alle lebenden Wesen, insbesondere auch als alle anderen Säuge-
thiere; denn die Menge Nitrit (0,2 gr), welche nüthig sei, um ein Kaninchen
von 2 Kilo Gewicht zu tödten, genüge schon, um bei einem 70 Kilo schweren
Menschen die schwersten Vergiftungserscheinungen hervorzurufen. Endlich spräche
auch die Beobachtung für die in Rede stehende Theorie, dass Cholerabazillen,
die ein grösseres Reduktionsvermögeu besitzen, eine intensivere Infektion beim
Meerschweinchen bewirken, als solche mit geringerem Nitritbildungsvennögen.
Wie nicht anders zu erwarten war, ist die von Emmerich und Tsuboi
aufgestellte Hypothese, dass die Cholera als eine Nitritvergiftung zu betrachten
sei, von anderer Seite als irrthümlich angegriffen worden. Insbesondere hat
Klemperer in Nr. 31 der Berl. Klin. Wochenschrift versucht, dieselbe zu
widerlegen. Er betont zunächst, dass die Uebereinstimmung der Krankheits¬
symptome und die pathologisch • anatomischen Veränderungen bei Cholera asiatica
und Nitritvergiftung keineswegs ausreiche, um die Thatsache zu beweisen, das die
salpetrige Säure das Gift der Cholerabazillen sei; denn auch bei anderen Krank¬
heiten werden, obwohl sie durch verschiedene Gifte hervorgerufen sind, klinisch und
anatomisch dieselben Symptome beobachtet. Um die salpetrige Säure als Cholera¬
gift annehmen zu können, müsse erst bewiesen werden, dass die Virulenz der Cholera¬
bazillen thatsäehlich mit ihrer nitritbildenden Kraft parallel gehe; das sei aber
nach seinen Versuchen keineswegs der Fall, denn die typischen Erscheinungen
der Choleravergiftung werden ebenso gut von Cholerabazillen ausgelöst, denen
durch Erwärmung die nitritbildende Fähigkeit genommen ist, und umgekehrt
kann die Giftigkeit der Cholerabazillen abgeschwächt sein, ohne dass gleich¬
zeitig ihre Fähigkeit, Nitrite zu bilden, eine Abnahme erfahren hat. Ausserdem
habe ein Bakteriengift die spezifische Eigenschaft, durch Einimpfen gewisser
Mengen den thierischen Organismus gegen dieses Gift zu immunisiren; diese
Kleinere Mittheilungen und Referate atu» Zeitschriften.
459
Eigenschaft fehle aber der salpetrigen Säure und deren Salzen, da mit Ni¬
triten geimpfte Meerschweinchen nach einer tödtlichen Gabe von Kaliumnitrat
schutzlos zu Grunde gehen. Auch die Uebereinstimmung in Bezug auf die Bil¬
dung von Methämoglobin bei Cholera- und Nitritvergiftung sei ohne Werth; denn
einmal werde der Methämoglobinstreifen nach Choleravergiftungen keineswegs
immer regelmässig gefunden, andererseits komme er auch bei anderen schwereren
Intoxikationen und Infektionskrankheiten als Folge der Giftwirkung auf die
rothen Blutkörperchen vor und könne somit auch bei Cholera die Möglichkeit
seiner Bildung ohne Hilfe salpetrigsaurer Salze nicht bestritten werden.
Demgegegentiber halten Emmerich und Tsuboi an ihrer Hypothese
fest und weisen darauf hin, dass die von ihnen hervorgehobene Uebereinstim-
mung von Cholera- und Nitritvergiftung in Bezug anf die Krankheitserschei¬
nungen und die Methämoglobinbildung doch nur ein nothwendiges Glied in der
Kette ihrer Beweise bilde, die sich noch auf eine grosse Anzahl anderer Beob¬
achtungen und Erfahrungen stützen Am wesentlichsten falle dabei in’s Ge¬
wicht, dass Cholerabazillen viel rascher und in viel grösseren Mengen Nitrit
bilden, als alle anderen nitritbildenden Bakterien. Auch der von Klemperer
gemachte Einwand, dass erhitzte Cholerakulturen, bei denen von Nitritbildung
und Nitritvergiftung nicht die Rede sein könne, trotzdem interperitoneal iujizirt,
einen tödtlichen Ausgang bewirken, sei völlig belanglos; denn dies lasse sich
auch mit abgetödteten oder sehr alten Kulturen des Vibrio Me tsc hniko w oder
Finkler Prior’ sehen Kommabazillen erzielen. Der Tod der Meerschweinchen
erfolge aber hier, wie dies schon längst von Pfeiffer gezeigt sei, hauptsäch¬
lich durch die Resorption des in der Zellsubstanz der Bakterien enthaltenen
eiweissartigen Giftstoffes, bei der Cholera des Menschen handele es sich jedoch
nicht um einen Zerfall von Kommabazillen, sondern um eine üppige Vermehrung
derselben. Die menschliche Cholera werde eben durch Gifte verursacht, die von
den Cholerabazillen aus dem Substrat (Darminhalt) gebildet werden.
Zur Entscheidung der Frage, ob der Tod bei menschlicher Cholera durch
Nitritvergiftung erfolgt, komme es lediglich darauf an, 1) ob die Cholerabazillen
auch innerhalb des menschlichen und thierischen Darmes in kurzer Zeit solche
Mengen von Nitrit bilden, dass hierdurch Vergiftung erfolgen muss, und 2) ob mit
der Nahrung des Menschen thatsächlich hierfür ausreichende Nitratmengen in den
Darm eingeführt werden ? Für die Bejahung der ersten Frage sprechen die von
Emmerich und Tsuboi an Hunden gemachten Versuche, die den Beweis
erbracht haben, dass bei Einführung von Cholerabazillen in den Magen nach
vorausgegangener Neutralisirung des Magensaftes die gleichzeitig eingeführten
Nitrate innerhalb weniger Stunden in so grosser Menge zu Nitrit reduzirt werden,
dass selbst bei grossen, kräftigen und gut genährten Hunden hochgradige
Cyanose, Beschleunigung der Respiration uud massenhafte Bildung von Methämo¬
globin im Blute zu Stande kommen. Diese Versuche haben ausserdem den Be¬
weis geliefert, dass die Vermuthung Klemperer’s, die Methämoglobinbildung
bei Cholera könne durch noch unbekannte chemische Substanzen bedingt sein,
unrichtig sei. Betreffs der zweiten Frage, ob mit der täglichen Nahrung des
Menschen regelmässig oder meistens grosse Mengen von Nitraten in den Darm
gelangen, wird darauf hingewiesen, dass das Brunnenwasser der Städte selten
unter 0,1 gr Salpetersäure, also 0,2 gr Kaliumnitrat im Liter enthalte. Mit
einem Liter derartigen Wassers werden aber schon so grosse Mengen von Ni¬
traten eingeführt, dass in Folge der Reduktion derselben durch Cholerabazillen
schwere Vergiftungserscheinungen durch salpetrige Säure entstehen müssen.
Dazu komme, dass durch andere Nahrungsmittel (Suppe, Bier, Kaffee, Salat,
Gemüse, Pökelfleisch, Schinken u. s. w. nicht zu unterschätzende Nitratmengen
aufgenommen werden. Rpd.
Ein neuer Kommabacillus, Vibrio Berolinensis, ist von Prof. Dr.
Rubner nach einer Mittheilung in Nr. 16 der hygienischen Rundschau bei den
während dieses Sommersemesters vorgenommenen Untersuchungen des vorzugs¬
weise aus den Stralauer Wasserwerken gelieferten Leitungswassers des Berliner
hygienischen Institutes entdeckt worden, der eine so weit gehende Aehnliehkeit
mit dem Bazill der Cholera asiatica hat, dass seine Dift’erenziruug nicht uner¬
hebliche Schwierigkeiten bietet, im Gegensatz zu den übrigen in jüngster Zeit
aus Wasser oder diarrhöischeu Stühlen von Günther, Weibel, Bujwid,
460
Besprechungen.
Löffler, Fischer, Vogler u. s. w. gezüchteten, mit den Cholerabaziilen
gleichfalls eine gewisse Aehnlichkeit besitzenden Vibrionen. Der von Rubner
entdeckte Vibrio unterscheidet sich morphologisch garnicht von demjenigen
der Cholera asiatica; er zeigt wohl ausgebildete Kommaformen, Spirillen fanden
sich neben lnvolutionsformen nur auf älteren Agarkulturen. Er besitzt eine
polare Geissei und entfärbt sich nach Gram.
In der Gelatinestichkultur bleibt der V. Berolineusis gegenüber
demjenigen der Cholera asiatica etwas zurück; auf Agar und Glycerinagar ist
kein Unterschied zwischen beiden bemerkbar. Ebenso bildet er auf alkalischer
Bouillon, Pankreasbouillon, Peptonkochsalzwasser Häutchen, wenn auch etwas
schneller als der echte Choleravibrio. Vor allem zeichnet er sich aber durch
eine prächtige Nitrosoindolreaktion aus, die sich in keiner Weise von der¬
jenigen dos Cholerabazills unterscheidet. Auch für Meerschweinchen ist er hoch¬
gradig pathogen. Dagegen lässt er sich durch die Gelatineplattenkultur
recht gut von dem Vibrio der echten Cholera unterscheiden. Hier bildet er
nach 24 Stunden kleine kreisrunde, farblose, feingranulirte Kolonien, die nach
48 Stunden makroskopisch nocli nicht zu sehen sind uud auch an den nächsten
Tagen nicht erheblich an Grösse zunehmen. Ihre Unterscheidung von den
charakterischen Cholerakolonien bietet keine Schwierigkeiten. Rpd.
Besprechungen
Dr. Petri, Regierungsrath und Mitglied des kaiserlichen Gesundheits¬
amtes in Berlin: Der Cholerakurs im kaiserlichen Ge¬
sundheitsamte. Vorträge und bakteriologisches Praktikum.
Mit zwei in den Text gedruckten Abbildungen und vier Mikro¬
photogrammen. Berlin 1893. Verlag von Richard Schoetz.
Broch. 8°, 259 S.
Wir stehen in diesem Jahre unter dem Zeichen der Cholera und da ist
es nicht zu verwundern, wenn die Literatur über diese Volksseuche von Tag zu
Tag wächst und auf dem Gebiete der Bakteriologie und Hygiene in gleicher
Weise in den Vordergrund tritt, wie die unzähligen Choleraverfügungen auf
demjenigen der Sanitätspolizei und Medizinalgesetzgebung. Für den Medizinal¬
beamten kann es unter diesen Umständen nur angenehm sein, wenn ihm in dem
vorliegenden Werke alles dasjenige zusammengefasst geboten wird, was die
jüngsten Forschungen in Bezug auf die Aetiologie und Epidemiologie der Cholera,
sowie in Bezug auf ihre Feststellung und auf die zu ihrer Bekämpfung erforder¬
lichen Massnahmen festgestellt haben. Wir müssen daher dem Autor dankbar
sein, dass er dem Wunsche der Theilnehmer der von ihm im kaiserlichen Ge¬
sundheitsamte abgehaltenen Cholerakurse Rechnung getragen und den Inhalt
seiner in diesen Kursen gehaltenen Vorträge durch deren Veröffentlichung auch
weiteren Kreisen zugänglich gemacht hat.
Dass Petri vollständig auf dem Standpunkt der Koch’schen Schule
steht, braucht den Lesern dieser Zeitschrift gegenüber wohl kaum erst besonders
erwähnt zu werden; seine Anschauungen betreffs der Aetiologie, Verbreitung,
Diagnose u. s. w. der Cholera stimmen mit denjenigen K o c h ’s völlig überein,
sie werden nur nicht mit der Schärfe vorgetragen, wie dies in jüngster Zeit von
Koch und auch zum Theil von seinen Schülern leider geschieht. Petri ver¬
meidet thunlichst eine prononcirt polemische Haltung, wohl auch mit Rücksicht
auf seine amtliche Stellung; sein Buch hat aber dadurch speziell für den prak¬
tischen Gebrauch nur an Werth gewonnen. Es zerfällt in zwei Theile, einen
bakteriologischen und epidemiologischen. In dem ersten, in 12 Tagewerken
abgetheilfeu Abschnitt werden in systematischer und ausführlicher Weise die
erforderlichen Anweisungen zur bakteriologischen Diagnose der Cholera gegeben,
unter Beiseitelassen alles nicht für diesen Zweck unbedingt Nothwendigen;
während der zweite Abschnitt des Buches in 8 Vorträgen eine umfassende Dar¬
stellung der Aetiologie und Epidemiologie der Cholera (die Aetiologie des ein¬
zelnen Choleralälles, Naturgeschichte uud Biologie des Cholerabacillus, Verbreitungs¬
weise der Cholera und ihre pandemischen Züge, Bedeutung der verschiedenen
Verkehrswege und sonstigen Momente für die Verbreitung der Seuche u. s. w.)
Besprechungen.
461
bringt unter Anschluss einer eingehenden Besprechung der zu ihrer Bekämpfung
nothwendigen hygienischen und sanitätspolizeilichen Massregeln. Als Anhang
sind die diesbezüglichen amtlichen Verfügungen u. s w. aufgenommen.
Ein näheres Eingehen auf den reichen und interessanten Inhalt deB
Werkes würde den Rahmen eines kurzen Referates überschreiten. Aus dem
zweiten Theile werden besonders diejenigen Erfahrungen interessiren, die bei
der vorjährigen Choleraepidemie gesammelt und die von dem Verfasser ge¬
bührend berücksichtigt sind. Derjenige Medizinalbeamte aber, der, trotzdem er
jetzt mit der bakteriologischen Choleradiagnose amtlich nichts mehr zu thun hat,
dem Petri’schen Rathe folgen und sich auch ferner an diese angeblich
so „schwierige“ Aufgabe heran „wagen“ will, wird in dem bakteriolo¬
gischen Theile des Buches einen absolut zuverlässigen und unentbehrlichen
Rathgeber finden.
Die Anschaffung des vorzüglich ausgestatteten Buches sei allen Medizinal¬
beamten aufs Wärmste empfohlen! Rpd.
Dr. Hermann Lenhartz, Professor in Leipzig: Mikroskopie und
Chemie am Krankenbett. Leitfaden bei der klinischen
Untersuchung. Für Aerzte und Studirende. Mit zahlreichen,
in den Text gedruckten Abbildungen und drei lithographischen
Tafeln. Berlin 1893. Verlag von Jul. Springer. Gr. 8°, 292 S.
Verfasser hat in dem vorliegenden Buche diejenigen klinischen Unter¬
suchungsmethoden behandelt, die leider nicht selten von den Aerzten während
der Studienzeit etwas vernachlässigt werden. Nach einer kurzen Einleitung über
die Einrichtung, Auswahl und Handhabung des Mikroskopes und die bei dem
Gebrauche desselben erforderlichen Reagentien, Farbstoffe und Hülfsgeräthe
werden im ersten Theile des Leitfadens zunächst die pflanzlichen und thierischen
pathogenen Parasiten erörtert. Dass hierbei die „Bakterien“ nicht so eingehend
besprochen sind, um dem Arzte wie dem Studirenden ein besonderes Lehrbuch
über Bakteriologie zu ersetzen nnd ihn zum selbstständigen Arbeiten auf diesem
Gebiete zu befähigen, ist bei dem Umfang des Werkes nicht zu verwundern.
Recht ausführlich und völlig erschöpfend sind dagegen die übrigen Abschnitte
über die Untersuchung des Blutes bei Kranken und Gesunden (llj, des Aus¬
wurfs (DI), des Mundhöhlensekrets, der Magen- und Darmentleerungen (HI),
des Harns (IV) und der Punktionsflüssigkeiten (V). Hier hat es der Verfasser
trotz des überaus reichen Stoffes verstanden, in knapper und ungemein klarer
Darstellungsweise sowie an der Hand seiner eigenen reichen Erfahrungen als
Arzt und Lehrer alles Wissenswerthe auf diesem Gebiete zusammenzufassen
nnd alle wichtigeren für den Arzt, auch für den Gerichtsarzt, nothwendigen
Untersuchungsmethoden zu berücksichtigen.
Verfasser hat das Bestreben gehabt, den Aerzten und Studirenden ein
Leitfaden zu bieten, um diese sowohl Uber die klinisch - mikroskopischen und
chemischen Untersuchungsmethoden, als über deren diagnostische Verwerthung
in der Praxis zu unterrichten. Diesen Zweck hat er im vollsten Masse erreicht
und ist dabei durch die Verlagsbuchhandlung in anerkennenswerther Weise
unterstützt worden. Das Buch zeichnet sich durch eine vorzügliche Ausstattung
aus, insonderheit lässt die Ausführung der zahlreichen, vorwiegend nach Origi¬
nalien gezeichneten, höchst instruktiven Abbildungen nichts zu wünschen übrig.
Dasselbe gilt betreffs der beigefügten drei lithographischen Tafeln, mit ihren
vortrefflichen farbigen Darstellungen der hauptsächlichsten pathogenen Bakterien,
der linealen Leukämie u. s. w. Ders.
Dr. Fritz Elsner: Die Praxis des Chemikers bei Unter¬
suchung von Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegen¬
ständen, Handelsprodukten, Luft, Boden und Wasser
bei bakteriologischen Untersuchungen sowie in der
gerichtlichen und Harn-Analyse. Ein Hülfsbuch fü.i
Chemiker, Apotheker und Gesundheitsbeamte. Fünfte, umge¬
arbeitete und vermehrte Auflage. Mit zahlreichen Abbildungen
462
Tagesnachrichten.
im Text. Hamburg und Leipzig 1893. Verlag von Leopold
V o 8 s. 6.-8. Lieferung.
Das Werk liegt jetzt vollständig vor und hat im Vergleich zu der vor¬
hergehenden Auflage eine Vermehrung von nicht weniger als sieben Bogen
erfahren, obwohl der Verfasser bemüht gewesen ist, alles Ueberflüssige zu
streichen und den Inhalt auf den nothwendigsten Raum zusammenzudrängen.
In den letzten Lieferungen (6—8) tritt diese Vermehrung hauptsächlich in dem
Abschnitt „hygienische Untersuchungen“ (Bakteriologisches, Luft und Wasser)
zu Tage, weniger in den Abschnitten über gerichtliche Chemie und Harnunter¬
suchungen, die allerdings ebenfalls eine den Fortschritten der Wissenschaft
entsprechende Umarbeitung erfahren haben.
Ebenso wie in den ersten Lieferungen des Werkes (besprochen in Nr. 11
dieser Zeitschrift, 8. 274) hat es Verfasser auch in den Schlusslieferungen ver¬
standen, den Inhalt der einzelnen Abschnitte mit dem jetzigen Stande der
Wissenschaft in Einklang zu bringen und dem neuesten Forschungs - Ergebnissen
auf dem Gebiete der Nahrungsmittelchemie, der hygienischen und gerichtlich¬
chemischen Untersuchungsmethoden Rechnung zu tragen. Wenn auch in erster
Linie für Chemiker geschrieben, so kann das Werk doch auch dem Medizinal¬
beamten mit Rücksicht auf seine sanitätspolizeiliche und gerichtsärztliche Thätig-
keit als zuverlässiger und praktischer Rathgeber dienen. Es sei daher nochmals
warm empfohlen! Ders.
Brockhaus: Konversations-Lexikon; 14. vollständig neu
bearbeitete Auflage. 16 Bände von je 64 Bogen. Gr. Lexic. 8°
mit gegen 9000 Abbildungen und Karten. Leipzig 1893, Bd. 4
bis 7, H. 44 bis 112.
Den in Nr. 15 des vorjährigen Jahrganges besprochenen ersten drei
Bänden der neuesten Auflage des Brock haus’sehen Konversations-Lexikons
sind seitdem in ziemlich rascher Folge vier weitere ebenso vorzüglich ausge¬
stattete Bände (bis zum Buchstaben G) gefolgt, die an wissenschaftlichem Werth,
an Gediegenheit, Mannigfaltigkeit und Reichhaltigkeit ihres Inhalts den vorher¬
gehenden Bänden nicht nachstehen. Den Arzt, speziell den Medizinalbeamten
werden hauptsächlich die zahlreichen Artikel aus dem Gebiete der Medizin,
Hygiene, Pharmakologie, Botanik, Chemie, Physik u. s. w., wie Cholera, Des¬
infektion, Diphtherie, Gifte, Giftpflanzen, Geheimmittel, Dampf, Elektrizität u.s. w.
interessiren, deren gediegene Abfassung säramtlich die sachkundige Hand er¬
kennen lassen. Ders.
Tagesnachrichten.
Die neueste Nummer der Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesnudheits-
amtes (Nr. 36 vom 6. September) bringt den Wortlaut des dem Bundesrathe
unter dem 31. Juli d. J. vorgelegten Eutwurfs von Vorschriften, betreifend
den Verkehr mit Giften. Es war nicht mehr möglich, denselben in der
heutigen Beilage zum Abdruck zu bringen; cs wird in der Beilage der nächsten
Nummer geschehen und dann gleichzeitig der Entwurf einer Besprechung unter¬
zogen werden.
Der Vorstand Deutscher evangelisc 1 er Irrenseelsorger hat jüngst
in Halle a. S. getagt und bei dieser Gelegenheit die seiner Zeit von dem Verein
Deutscher Irrenärzte angenommenen Thesen zu der Frage „Psychiatrie und
Seelsorge“ (Nr. 12 der Zeitschrift Seite 302) durch nachfolgende Thesen
beantwortet:
„1. Die Konferenz Deutscher evangelischer Irrenseelsorger hat sich
keine andere Aufgabe gestellt als die, das Gebiet der Irrenseelsorge theoretisch
zu bearbeiten und für die praktische Ausübung derselben nützliche Anregungen
zu geben.
2. Auch die Konferenz sieht die Irren als Kranke an, welche wie andere
Kranke ärztlich zu behandeln sind. Zugleich betont sie aber, dass die Geistes¬
kranken auch den Anspruch auf volle seelsorgerische Pflege haben. Die Konfe-
Tagesnachrichten.
468
renz erkennt dankbar an, was ärztlicherseits znr Einführung der Seelsorge an
Irrenanstalten geschehen und gestattet ist. Sie erstrebt, dass, was noch nicht
der Fall ist, den berufenen Anstaltsgeistlichen das Recht freier Ausübung der
Seelsorge an den Kranken gewährleistet werde. Insbesondere erstrebt die
Konferenz:
a) dass, so weit irgend thunlich, an grösseren Irrenanstalten ein eigener
Hausgeistlicher angestellt werde;
b) dass, wo dieses nicht möglich ist, doch für regelmässigen Gottesdienst
sowie seelsorgerische Pflege der einzelnen Sorge getragen werde;
c) dass dem Geistlichen grundsätzlich der Zutritt zu allen Kranken frei¬
stehe und eine Einschränkung nur da eintrete, wo es die Rücksicht
auf den Zustand des Kranken gebietet.
3. Für die von einzelnen Mitgliedern in den Versammlungen der Konferenz
vorgetragenen theologischen, psychologischen und psychiatrischen Anschauungen
ist die Konferenz als solche keineswegs verantwortlich. Sie hat über solche
Anschauungen auch nie Beschlüsse gefasst. Sie überlässt es den in den Thesen
der deutschen Irrenärzte angegriffenen Personen, Anstalten und Korporationen,
ihre Anschauungen zu vertreten.
4. Der Konferenz ist es einzig und allein um das Wohl der Kranken zu
thun. Sie bedauert den entstandenen Streit und erstrebt ein einträchtliches
Zusammenwirken mit den Irrenärzten und rechnet bei Erfüllung ihrer Aufgaben
ebenso auf deren Unterstützung, wie sie ihrerseits jede nur mögliche Unter¬
stützung des ärztlichen Wirkens zur Pflicht macht.“
Die Herren scheinen doch eingesehen zu haben, dass sie bei ihren Be¬
strebungen auf dem Gebiete der Irrenseelsorge über das Ziel hinausgegangen
sind; jedenfalls lassen die Thesen ein Einlenken in vernünftigen Bahnen er¬
warten, was im Interesse der Sache selbst nur dringend zu wünschen ist.
In Tilsit ist eine grössere Ruhr - Epidemie zum Ausbruch gekommen.
Bis zum 12. September waren 164 Erkrankungsfälle gemeldet. Von den Er¬
krankten sind 104 genesen; 16 gestorben und 44 noch in ärztlicher Behandlung.
Nach einer Bekanntmachung des fürstlich Reussischen Ministeriums im
Reichsanzeiger sind in Gera die Pocken aus Böhmen eingeschleppt. Bis zum
25. v. M. waren 14 Personen (7 Erwachsene und 7 Kinder) in sechs verschiede¬
nen Häusern erkrankt und zwar wesentlich Personen mit fehlendem oder
mangelhaftem Impfschutze.
Die Cholera ist in Deutschland bisher nur noch auf vereinzelte Fälle
beschränkt geblieben. Die Gesammtzahl derselben betrug in der Zeit vom 15.
bis 81. August 17, darunter 12 Todesfälle; in der Zeit vom 1.—12. September
31 mit 13 Todesfällen. 13 Fälle sind in Berlin zur Anmeldung gelangt, je ein
Fall in Schulitz und Kurzebrack (Weichselgebiet), in Donaueschingen und Hamburg
(unter der Mannschaft eines von Rotterdam eingelaufenen englischen Schiffes), und
die übrigen im Gebiet des Rheines: Neuss (4), Emmerich (1), Meiderich (1), Neuwied
(2), Duisburg (2), St. Goarshausen (1), Köln (2), Audemach (3), Ruhrort (1), Pa¬
piermühle bei Solingen (11), Kohlfurt und Sud borg (je eine in der Solinger Papier¬
mühle beschäftigte Arbeiterin), Mannheim (1) aufgetreten. Der Ueberwachungs-
dicnst des Schiffsverkehrs im Stromgebiet der Spree und Havel, Weichsel und Rhein¬
gebiet ist bereits vollständig geregelt und sind Untersuchungsstationen in Berlin,
Potsdam, Eberswalde und Finsterwalde (für Spree und Havel), in Kulm, Grsu-
denz, Kurzebrack, Pieckei, Dirschau, Kaesemark, Plehnendorf und Danzig
(Weichsel), sowie in Emmerich, Wesel, Ruhrort, Duisburg, Düsseldorf, Köln,
Koblenz, St. Goar und Mainz (Rhein) errichtet, die selbstverständlich, ebenso wie
im Vorjahre, fast ausnahmslos mit Militärärzten besetzt sind. Es scheint jedoch,
als ob die znr Verfügung stehenden militärärztlichen Kräfte bei einer epidemischen
Ausbreitung der Cholera nicht ausreichen dürften, um alle an den Binnenschiff-
fahrtsstrasseu zur gesundheitspolizeilichen Ueberwachung der Schiffsbevölkerung
und zur Desinfektion der Fahrzeuge eiuzurichtenden Stationen zu besetzen, we¬
nigstens werden durch Bekanntmachung des Kultusministeriums vom 4. d. M.
rüstige Aerzte aufgefordert, sich für derartige Stellen bei dem Regierungsprä-
464
Tagesnachrichten.
sidenten ihres Wohnbezirks zu melden. Als Vergütung für die Dienstleistung
sind 20 Mark pro Tag festgesetzt.
In Galizien hat die Seuche sich über 15 politische Bezirke und 32 Ge¬
meinden ausgebreitet; die Zahl der Erkrankungen betrug in der Zeit vom 22.
bis 28. August 115 mit 72 Todesfällen, vom 29. August bis 5. September 141
mit 62 Todesfällen; seit dem ersten Auftreten 386 mit 230 Todesfällen. Am
meisten infizirt ist noch immer der Bezirk Nadworna (vom 22. August bis
5. September: 123 Erkrankungen und 57 Todesfälle), auch in dem Bezirk Kolomea
ist während desselben Zeitraumes die Zahl der Erkrankungen auf 52 mit 22
Todesfällen gewachsen. Sonst sind in Oesterreich nur noch 2 vereinzelte
eingeschleppte Cholerafälle in Wien und 1 Fall in Czernowitz zur Beobachtung
gekommen.
Erheblich ungünstiger als in Galizien liegen die Verhältnisse in Bezug auf
die Ausbreitung der Cholera iu Ungarn. Bis zum 22. August waren dort 450
Erkrankungen mit 240 Todesfällen aus 8 Komitaten und 67 Gemeinden gemeldet,
seitdem hat sich die Zahl der Erkrankungen in der Zeit vom 23.—29. August
auf 824 mit 440 Todesfällen und vom 30. August bis 3. September auf 502 mit
284 Todesfällen und diejenige der verseuchten Komitate und Gemeinden auf 28
bezw. 216 gesteigert. Am meisten von der Cholera heimgesucht sind die Ko¬
mitate Szabolsk, Szathmar, Kun - Szolnock, Bereg, Marmaros, Zemplin und Szol-
nock - Dobocka, sämmtlich im nordöstlichen Theilc Ungarns (Theiss- und Szamos-
Gebiet) gelegen.
In Rumänien betrug die Zahl der Erkrankungen in den infizirten
Orten Galatz, Sulina, Czernawoda, Calarasi, Tulesa vom 21. August bis 1. Sep¬
tember 343 mit 217 Todesfällen; es ist somit eine weitere geringe Abnahme der
Seuche bemerkbar.
Aus der Türkei wird der Ausbruch der Cholera im Irrenhause zu Sku-
tari bei Konstantinopel gemeldet. Die Zahl der Erkrankungen beläuft sich bis
jetzt auf 97, die der Todesfälle auf 53.
Die Nachrichten über die Ausbreitung der Cholera in Frankreich sind
nach wie vor unzuverlässig; in Nantes und Umgegend sollen bis Ende
Juli 302 Erkrankungen und 196 Todesfälle, vom 10.—22. August 109 Erkran¬
kungen und 58 Todesfälle vorgekommen sein; über den weiteren Verlauf fehlen
amtliche Mittheilungen.
In Belgien (Antwerpen) hat die Seuche bis jetzt keine weitere Aus¬
breitung. genommen; auch in Holland ist es immer noch bei vereinzelten
Erkrankungen geblieben (in Rotterdam vom 21. August bis 10. September
28 Erkrankungen und 17 Todesfälle, in Leerdam 35 Erkrankungen und 16 Todes¬
fälle, ausserdem einzelne Fälle in Haus wert, Deveuter, Utrecht, Eiden u. s. w.
Aus England wird das Auftreten der Cholera in Grymsby (bis 5. Sep¬
tember: 29 Erkrankungen), Hüll (3 Erkrankungen) und London (die Scheuer¬
frau im Parlamentsgebäude und deren Tochter) gemeldet.
In Italien herrscht die Cholera noch immer in Neapel, in Palermo,
wenn auch in massigem Umfange. Die Zahl der täglichen Erkrankungen schwankt
zwischen 8—18, diejenige der Todesfälle zwischen 5-11. Auch aus Livorno und
Rom werden vereinzelte Erkrankungen gemeldet.
Aus Russland wird eine Abnahme der Cholera in Russisch - Polen ge¬
meldet ; während in den übrigen Gouvernements eine solche nicht zu Tage tritt.
In der Stadt Petersburg sind vom 24.—31. August 40 Personen erkrankt und
15 gestorben, vom 1.—10. Septbr. 120 bezw. 52; in Moskau vom 24.—31. Aug.
210 bezw. 115, vom 1.—8. September 157 bezw. 73. Am meisten herrscht die
Seuche noch in den Gouvernements Podoüen (vom 13. Aug. bis 2. Sept.: 2687 Er¬
krankungen und 908 Todesfälle), Kursk vom 13.—26. Aug.: 1271 Erkrankungen
und 491 Todesfälle), Kasan (während derselben Zeit: 707 Erkr. und 250 Todes¬
fälle), Kiew (vom 20. Aug. bis 2. Sept.: 1569 Erkr. und 578 Todesfälle), Orel
vom 20.—26. Aug.: 689 Erkr. u. 243 Todesfälle), Nischni-Nowgorod (vom 23. Aug.
bis 9. Sept.: 1465 Erkr. und 728 Todesfälle) und im Dongebiet (vom 20. August
bis 2. Septbr.: 858 Erkr. und 423 Todesfälle). In dem Gouvernement Kalisch
sind vom 20. bis 26. August 114 Erkr. und 61 Todesfälle amtlich gemeldet, in
dem Gouvernement Grodno vom 20. Aug. bis 2. Sept.: 434 bezw. 129.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- xl Med.-Rath L Minden L W.
J. 0. 0. Brune, Buohdruckurut, Hindun.
6. Jahrs.
Zeitschrift
für
1893.
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rath u. gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Mediiinalrath in Minden
und
Dr. WILH. SANDER
Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die darehlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Yerlagshandlung und Rud. llosse
entgegen.
No. 19.
Krscheint am 1. und iS. Jeden Sonate.
Preis jährlich 10 Mark.
1. Oktbr.
Der Entwurf von Vorschriften betr. den Verkehr mit Giften
und die Revisionen der Gift- und Farbenhandlungen. 1 )
Von Kreispbysikns Dr. Jacobson - Salzwedel.
Dass der Verkehr mit Giften einer anderen, als der bisher
üblichen, was so viel sagen will als gar keiner, Kontrole bedarf,
kam durch den Bunderlass des Herrn Ministers der Medizinal¬
angelegenheiten vom 7. Juni d. J. und durch die darauf gegründe¬
ten Verfügungen der Herren Regierungs - Präsidenten nicht uner¬
wartet zur Kenntniss. Für diejenigen aber, welche sich mit dieser
Kontrole doch zu befassen Veranlassung gehabt haben, ist es
nicht weniger klar, dass die jetzt gültigen, den Giftverkehr be¬
treffenden und die Kontrole bedingenden Bestimmungen den Sach¬
verständigen häufig im Stich lassen. Von diesen wird der Ent¬
wurf von Vorschriften betr. den Verkehr mit Giften, welcher
unterm 31. Juli d. J. seitens des Reichskanzlers dem Bundesrath
vorgelegt worden ist, besonders freudig begrüsst werden. Da es
kaum zweifelhaft ist, dass der Entwurf am 1. April 1894 gesetzliche
Vorschrift werden wird, so dürfte es nicht unangemessen erschei¬
nen, auf die Bestimmungen desselben etwas näher einzugehen.
Der Entwurf bildet gewissermassen eine Ergänzung zu der
Allerhöchsten Kabinets - Ordre vom 27. Januar 1890, betr. den
Verkehr mit Arzneimitteln. Während diese bestimmt, welche Gilte
und in welcher Form dieselben dem allgemeinen Kleinhandel über¬
lassen, und welche dem Verkehr in den Apotheken Vorbehalten werden
sollen, trifft jener darüber Anordnung, wie die Gifte in den Gift¬
handlungen bezeichnet, aufbewahrt und abgegeben werden sollen.
Der Entwurf bezeichnet als „Gifte“ die in der Anlage I an¬
geführten Substanzen, welche ungefähr dem entsprechen, was wir als
„Venena und Separanda“ zu bezeichnen gewohnt sind. Abweichend
von den einschlägigen Polizei-Verordnungen — es liegen mir als
*) Abgedruckt in der Beilage der heutigen Nummer.
466
Dr. Jacobson.
Paradigmen diejenigen für den Regierungsbezirk Magdeburg" vom
20. März 1879 und für die Provinz Pommern vom 14. Mai 1879 vor —
theilt der Entwurf die Gifte nicht in zwei, sondern in drei Abteilungen.
Abtheilung 1 umfasst ungefähr dieselben Substanzen wie die
erste Gruppe der Polizei-Verordnungen, nämlich die heftiger
wirkenden Alkaloide, die Arsenikalien, Mercurialien, Blausäure¬
präparate und Phosphor. Hinzugefügt sind Nitroglycerinlösungen,
Pikrotoxin und lösliche Uransalze. Wie der ganze Entwurf, so
bringen auch die Bestimmungen, betreffend Abtheilung 1, hinsicht¬
lich der Aufbewahrung, der Bezeichnung und der Abgabe dieser
Gifte für den Geschäftsinhaber viel mehr Erleichterungen als Er¬
schwernisse. Bezüglich der Gifte dieser Gruppe, welche nur
gegen Giftschein abgegeben werden dürfen, bestimmen:
die Polizeiverordnungen:
1. Bezeichnung der dicht verschlossenen
Gefässe mit einer dem Inhalteent¬
sprechenden, in Oelfarbe ausge¬
führten oder eingebrannten Signatur
(auch lackirte Papierschilder können
hierzu benutzt werden — P.-V. für
Pommern), die von den übrigen
Signaturen verschieden, un¬
ter sich aber gleich sein muss.
2. Aufbewahrung in der Giftkammer,
in der sich andere Waaren nicht
befinden dürfen.
3. Aufbewahrung jeder Gruppe in
einem besonderen Giftschrank.
Für jede Gruppe besondere
Waagen, Mörser, Löffel u. dgl. Be¬
zeichnung der letzteren mit Namen
der Gruppe in den Farben der Ab¬
theilung.
Abtheilung 2 und 3 des Entwurfs enthalten ungefähr die¬
jenigen Gifte, welche durch die Polizei- Verordnungen als indirekte
bezeichnet und in Gruppe II derselben angegeben sind. Zwischen
den beiden Abtheilungen wird ein Unterschied derart gemacht,
dass die zu 2 gehörenden Gifte in dichten, festen Gefassen, welche
mit festen, und gut seiiliessenden Deckeln oder Stöpseln versehen
sind, aufbewahrt werden müssen und nur gegen Giftschein verab-
fulgt werden dürfen, während die zu Abtheilung 3 gehörenden
festen Steife (sowie alle Farben jeder Abtheilung) auch in Schieb¬
laden aufbewahrt werden können, sofern diese mit Deckeln ver¬
sehen, von festen Füllungen umgeben und so beschaffen sind, dass
ein Verschütten oder Verstäuben des Inhaltes ausgeschlossen ist,
und dass sie ohne Giftschein abgegeben werden.
Was das unterscheidende Merkmal dafür gewesen ist, dass
ein Gift zu der zweiten oder dritten Abtheilung gezählt ist, bin
ich ausser Staude festzustellen; denn mir will es scheinen, als
wenn z. B. mit Schwefelsäure eben so viel Unheil angerichtet
werden kann wie mit Aetznatron oder Aetzkali, mit Oxalsäure
oder Pikrinsäure nicht weniger als mit Bleizucker oder Brech¬
weinstein. Wenn also, wie mir scheint, mit dieser doppelten Ein-
der Entwurf:
1. Bezeichnung der mit gut schließen¬
den Deckeln oder Stöpseln versehe¬
nen Gefässe in deutlicher and dauer¬
hafter weisser Schrift auf
schwarzem Grunde unter aus¬
schliesslicher Anwendung
der in der Anlage enthalte¬
nen Namen und dem Zusatz „Gift*.
2. Aufbewahrung in der Giftkammer, in
der sich nur Gifte (also auch die
der übrigen Abtheilongen) befinden
dürfen. Die Giftkammer muss durch
Tageslicht genügend erhellt sein.
3. Aufbewahrung in einem Gift-
schrauk, der einen Tisch oder Tisch¬
platte haben muss. Waagen, Mör¬
ser, Löffel n. dergl. für die ganze
Abtheilung. Bezeichnung derselben
mit „Gift“ in weiss auf schwarz.
Der Entwurf Ton Vorschriften, betr. den Verkehr mit Giften etc. 467
theilung sowohl dem Geschäftsinhaber, als auch dem revidirenden
Sachverständigen die Nothwendigkeit aufgedrängt wird, wenigstens
für längere Zeit mit dem Zettel in der Hand seine Geschäfte zu
besorgen, so ist doch nicht zu übersehen, dass der Entwurf manche
Erleichterung auch hier schafft.
Es bestimmen fttr die Gruppe 2 für die Abteilungen 2 u. 3
die Polizeiverordnungen: der Entwurf:
1. Die q. Gifte müssen sowohl in den 1. Müssen übersichtlich geordnet, von
Lager-, als in den Verkausrüumen anderen Waaren getrennt, und dür-
wohl geordnet, von den übrigen fen weder über, noch unmittelbar
Warenbeständen durchaus getrennt neben Nahrungs- oder Genussmitteln
in besonderen verschlösse- auf bewahrt werden.
nen Schränkchen oder Ver¬
schlügen (in besonderen Behält¬
nissen oder auf besonderen Reposi-
torien P.-V. f. Pommern), in f e s t e n
Gefässen aufbewahrt werden.
2. Die Gefässe müssen mit einer 2. Die Gefässe müssen mit Aufschrift
in Oelfarbe ausgeführten oder „Gift“ und die Angabe des Inhaltes
eingebrannten(auchgutlackirte unter ausschliesslicher An-
Papierschilder können hierzu benutzt wendungderiuAnlagel e n t -
werden — P.-V. fttr Pommern)Sig- haltenen Namen in rother,
natur, welche fttr alle Waaren dieser deutlicher und dauerhafter
Gruppe gleich, abervon allen Schrift auf weissem Grunde
anderen verschieden sein muss, versehen sein.
VPrflphpTl HAITI
3. — 3. Für die Gifte der Abteilungen 2
und 3 muss ein Satz Gewichte, Waa¬
gen etc. vorhanden sein, der die
Aufschrift „Gift 44 in rother Schrift
auf weissem Grunde enthält.
4. Unverdünnte Schwefelsäure, Salpeter- 4. Die Gifte der Abteilung 2 dürfen
säure, Salzsäure u.konzentrirte Aetz- nur gegen Giftschein verabfolgt
lauge dürfen in kleinen Quantitäten werden.
nur geg. Giftschein verabfolgt werden.
Wesentlich von den jetzigen Polizei - Verordnungen ab¬
weichende, aber den Verhältnissen durchaus entsprechende Be¬
stimmungen enthält der Entwurf bezüglich der Bedingungen, unter
welchen Gifte gegen und ohne Giftschein abgegeben werden sollen.
Auch die Vorschriften über die Gefässe und die Verpackung, in
denen die Gifte nur verabfolgt werden dürfen, scheinen mir ganz
angemessen. Dagegen will es mir Vorkommen, als wenn es zu
viel oder zu wenig verlangt ist, dass die Gefässe, resp. Um¬
hüllungen, in welchen das verkaufte Gift dispensirt ist, ausser mit
dem Namen des abgebenden Geschäftes auch mit dem in A n 1 a g e I
des Entwurfs angegebenen Namen des Giftes versehen
sein sollen. Man denke sich das Erstaunen, ja die Verlegenheit
des Landmanns, der zur Weizensaatzeit für 10 Pfennig Galitzen-
stein vom Materialisten holt — und fast jeder Materialwaaren-
händler in einer kleineren Stadt ist genöthigt zur Saatzeit einen
Gifthandel mit 2—3 Kilo Galitzenstein zu treiben — man denke
sich, sage ich, seine Verlegenheit, wenn er zu Hause sein Päckchen
besieht und findet den Inhalt als „schwefelsaures Kupferoxyd“ be¬
zeichnet. Oder man erwäge die Verlegenheit eines sparsamen Haus¬
vaters, welcher irgend eine Tüncherarbeit selbst verrichten will,
und der, nachdem er „Silberglätte“ gefordert hat, ein Päckchen mit
„Bleioxyd“ erhält. Ich meine, dass es zweckentsprechender wäre, die
468
Dr. Jacobson.
Verpackung mit dem ortsüblichen Namen (event. neben dem in der An¬
lage I des Entwurfs angegebenen) des Giftes und dem Vermerk „Gift“
zu versehen. Da die Angabe der ortsüblichen Bezeichnung auf der
Verpackung nicht verboten ist, so wird der findige Geschäftsmann sich
wohl auch sehr bald damit helfen, dass er beide Namen anbringt.
Anders und schwieriger stellt sich aber die Sachlage bei
der Signatur der Gefasse im Geschäfte. Für diese ist die aus¬
schliessliche Anwendung der in der Anlage I angege¬
benen Namen vorgeschrieben. Besonders sind es die Farben, bei
denen in Folge dieser Vorschrift manche unangenehme und uner¬
wartete Verwechselung Vorkommen dürfte. Wie viele Geschäfts¬
leute wissen denn, dass Auripigment ein Arsentrisulfid, Scheel’-
sches Grün, arsenigsaures Kupfer oder dass Arnaud’s Grün phos¬
phorsaures Chrom ist? Noch viel weniger dürfte es als auch
in Geschäftskreisen allgemein bekannt vorausgesetzt werden, dass
z. B. mangansaures Baryt dasjenige ist, was als Rosenstiehl’s
Grün verkauft zu werden pflegt. Und in wie vielen Fällen ist
der Kaufmann gar nicht in der Lage den Bestimmungen des Ent¬
wurfs nachzukommen, weil die Zusammensetzung der Farbe Ge-
schäftsgeheimniss des Fabrikanten ist! Es würde, so meine ich,
nicht nur zweckentsprechend, sondern auch genügend sein, wenn
bei Farben nur verlangt würde, dass die Signatur der Gefässe den
ortsüblichen resp. den Handelsnamen enthält mit dem Zusatz
„arsenhaltig“, „kupferhaltig“ u. s. w. Die Farbenfabrikanten aber
sollten durch einen Zusatz in dem Entwurf verpflichtet werden, ihre
Produkte nur mit der Deklaration in den Handel zu bringen, dass die¬
selben „frei sind von Giften der Anlage I des Entwurfs resp. der Ver¬
ordnung vom ...“, oder dass dieselben enthalten z. B. „Arsen, Gift, Ab¬
theilung 1, Anlage I des Entwurfs resp. der Verordnung vom ...“
Was den Begriff der giftigen Farben angeht, so hat der
Entwurf sich genau den im §. 2 des Gesetzes vom 5. Juli 1887
(betreffend die Verwendung gesundheitsschädlicher Farben bei der
Herstellung von Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauchs¬
gegenständen) gegebenen angeeignet, nur Korallin (Rosolsäure) ist
ausgelassen. Danach gehören sämmtliche giftige Farben, mit Aus¬
nahme der Arsen-, Quecksilber- und Uranfarben, welche der Ab¬
theilung 1 angehören, zur Abtheilung 3.
Im Grossen und Ganzen ist der Entwurf ein bedeutender
Fortschritt. Er ist präcise in seinen Ausdrücken und Anordnungen
und lässt Nichts zweifelhaft, und das ist viel werth für den Ge¬
schäftsmann sowohl, als auch für den revidirenden Sachverständigen.
Vielleicht nimmt der hohe Bundesrath auch noch Veranlassung,
die von mir bemängelte Härte abzuändern. Ob so oder so, jeden¬
falls wird dem Sachverständigen die Rubrizirung der Farben die
grösste Schwierigkeit bereiten, theils weil dieselben Stoffe mehrere,
oft recht viele Handelsnamen führen, theils weil mit demselben
Handelsnamen verschiedene Stoffe bezeichnet werden. Dieser Sach¬
lage wegen habe ich mir schon vor Jahren eine Liste der gangbarsten
Farben angelegt, die, den Bestimmungen des Entwurfs angepasst,
unvollständig wie sie auch ist, den Kollegen vielleicht doch gelegent¬
lich angenehm sein möchte, und die ich deshalb hie veröffentliche:
Der Entwurf von Vorschriften, betr. den Verkehr mit Giften etc. 469
Gehört zu
Namen der
Farbe.
Synonyme.
Bestandtheile.
Anlage I,
Ab¬
teilung
&
’S®
ja
«
Be¬
merkungen.
ü
1 3
a
Aldehydgrün
cfr. Anilinfarben
.
_
ja
Kann Arsen und
Alexandergrün
cfr. Kupfergrün
—
ja
Quecksilber enth.
Alkaliblau
cfr. Anilinfarben
—
ja
ja
Kann Asu.Hg
Amaranth
cfr. Anilinfarben
—
—
Desgl. enth.
u. Lackfarben
Amerikan. Gelb
cfr. Chromgelb
—
ja
—
Amerikanergrün
cfr. Chromgrün
—
evt.ja
ja
Anilinfarben
Derivate d. Stein-
—
—
ja
Können As u.
kohlentheers
Hg enthalten
Antimongelb
Neapelgelb, Wismuth
Antimons. PI. u.
—
ja
—
gelb
Bi.
Antimonorange
Desgl.
—
ja
—
Antimonzinnober
oxydirtes Schwe-
—
ja
—
felantimon
Apollogrün
cfr. Kupfergrün
—
ja
—
Arnaud’s Grün
Mittlers-, Panne-
Phosphors. Chrom
—
ja
—
tier’s-, Plessy’s-,
Schnitzers-, Sma¬
ragdgrün
Arsenglas, gelbes
cfr. Auripigment
ja
—
—
Arsenglas, rothes
cfr. Realgar
ja
—
—
Arsenikrubin
•
Desgl.
ja
—
—
Aschengrün
cfr. Scheel’sches
ja
—
—
Grün
Asphaltbraun
Mumienbraun
Erdfarbe
—
—
ja
Auripigment
Arsenglas gelbes, Kö¬
Arsentrisulfid
ja
—
nigsgelb, Opper-
ment, Persisch-,
Spanisch-Gelb
Azulin
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Kann As u. Hg
Azurblau
cfr. Kobaltglas u.
—
—
ja
enthalten
Ultramarin
Barytgelb
Ultramaringelb
chroms. Ba.
—
ja
—
Barytweiss
Lithopon-, Mineral-,
Schwefels. Ba.
—
ja
Neu-, Permanent-,
Schneeweiss
Bergblau
cfr. Kupferblau
—
ja
—
Berggrün
cfr. Kupfergrün
—
ja
—
Berlinerblau
Erlanger-, Louisen-,
Mineral-, Neu-, Oel-,
Pariser-, Preuss.-,
Raymund-, Sachs.-,
Wasch-, Wasserblau
Ferrocyaneisen
ja
Berlinerbraun
cfr. Eisenbraun
—
—
ja
ja
Berlinergrün
Ferrocyankobalt
—
—
Berlinerroth
cfr. Oxydroth
—
—
ja
Berliuerweiss
cfr. Bleiweiss
—
ja
Bismarkbraun
cfr. Anilinfarben
—
ja
ja
Kann As u. Hg
Bisterbraun
cfr. Manganbraun
—
—
[enthalten
Blaufarbenglas
cfr. Kobaltglas
—
—
ja
Bleibraun
Flohbraun
Bleisuperoxyd
—
ja
Bleigelb
cfr. Chromgelb
—
ja
—
Bleiglätte
Glätte, Goldglätte,
Bleioxyd
—
ja
—
Massikot, Silber¬
glätte
Bleiroth
Mennige, Pariserroth
Bleioxyd u. Blei¬
—
ja
—
superoxyd
470
Dr. Jacobson.
Namen der
Farbe.
Bleischwarz
Bleiweiss
Büttger’s Grün
Bologtiesererde
Borgrün
Braun
Braunschweiger-
grün
Braunsteinbraun
Braunsteinweiss
Breinerblau
Breslauerbraun
Brillantgrün
Cadmiumgelb
Cappabraun
Caputmortuum
Carminblau
Carminlack
Carminroth
Carthamin
Cerise
Chemischbraun
Chinesergelb
Chinesischroth
Chrombronce
Chromgelb
Chromgrün
Cbromocker
Chromorauge
Chromroth
Citroncugelb
Cochenillelack
Cochenilleroth
Synonyme.
Bestandteile.
Oe
Ae
th
1
hört zu
ilage I,
Ab¬
teilung
3
Nicht giftig
Be¬
merkungen.
Pottloh, Wasserblei
Schwefelblei
_
ja
_
Berliner-,Deck-,Ham¬
kohlens. Blei mit
—
ja
—
burger-,Holländer-,
Bleioxydhydrat.
Kemnitzer-, Krem¬
ser-,Perl-, Schiefer-
Schnee-, Silber-, Ve-
netianerweiss
cfr. Maugangrün
—
ja
—
cfr. Kreide
—
—
ja
giftfreies Kupfer¬
bors. Kupfer
—
ja
grün, Kupfergrün
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Kann As u Hg
cfr. Seheel’sches
ja
—
enthalten
Grün
cfr. Manganbraun
—
—
ja
cfr. Manganweiss
—
—
ja
cfr. Kupferblau
—
ja
—
cfr. Kupferbraun
—
ja
—
cfr. Anilinfarben
—
ja
Kann As u. Hg
Schwefelcadmium
—
—
ja
enthalten
cfr. Umbra
—
—
ja
cfr. Oxydroth
—
—
ja
cfr. Indigo
—
—
ja
cfr.Cochenillelack
—
—
ja
Kann As enth.
Desgl.
—
—
ja
Desgl.
Saflorcarmin, Saflor-,
Pflanzenfarbstoff
—
—
ja
Tassen-, Tellerroth
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Kann As u. Hg
cfr. Kupferbraun
—
ja
enthalten
cfr. Ocker
—
—
ja
cfr. Zinnober
—
—
ja
Permanent-, Tape-
Chromchlorid
—
ja
tenbronce
Amerikanisch-, Blei-,
chroms. Blei
—
ja
—
Citronen-, Haut-,
Kölner-, Koenigs-,
Leipziger-, Pari¬
ser-, Ultramarin-,
Zwickauergelb
Amerikaner-, Deck-,
Chromoxyd mit
evt.ja
ja
Dieselben Na¬
Gothaer-, Laub-,
Chromoxydhy¬
men werden
Myrrtlien-, Natur-,
drat
einer Misch-
Neapel-, Perma¬
nug von Ber¬
nent-, Seiden-, Sma¬
linerblau mit
ragd-, Türkisch¬
Chromgelb
grün, giiner Zinn¬
beigelegt.
ober
cfr. Ocker
—
evt.ja
ja
Oft in. Chrom¬
cfr. Chromroth
—
ja
gelb gemischt.
Chromorange
halbcbroms. Pb.
—
ja
—
cfr. Chromgelb
—
ja
—
Carinin-, Florenti¬
cfr. Lackfarben
—
—
ja
Kann As ent¬
ner-, Münchener-,
halten.
Pariser-, Wiener¬
lack, Carmin-, Co¬
chenilleroth
cfr.Cochenillelack
—
—
ja
Kann As enth.
Der Entwurf von Vorschriften, betr. den Verkehr mit Giften etc. 471
Namen der
Farbe.
Synonyme.
Bestandtheile.
Ge
Ad
th
1
hört zu
ilage I,
Ab-
eilung
8
ix
d
Cr
J3
O
z
Be¬
merkungen.
Coeruleum
cfr. Kobaltblau
_
_
ja
Corallin
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Kann As ent¬
Colaothar
cfr. Oxydroth
—
—
ja
halten
Cudbear
Pflanzenfarbstoff
—
—
ja
Dahlia
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Kann As u. Hg
Deckgrün
cfr. Chromgrün
-
evt.ja
ja
enthalten
Deckweiss
cfr. Bleiweiss
—
ja
—
Deutschroth
cfr. Oxydroth
—
ja
Echtbraun
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Kanu As u.Hg
Echtgelb
Desgleichen
-
—
ja
Desgl. enth.
Eisenbraun
Berliner-, Ocker-, Si-
Eisenoxyd hydrat
—
—
ja
enna-, Vandykbrauu
Eisenmennige
cfr. Oxydroth
—
—
ja
Eisensafrau
Desgleichen
—
—
ja
Elsner’s Grün
cfr. Kuhlmann’s
—
ja
—
Grün
Emailweiss
cfr. Zinnweiss
—
—
ja
Engelrüth
cfr. Oxydroth
—
—
ja
Euglischblau
cfr. Indigolack
—
—
ja
Kann As ent¬
Englischgelb
cfr. Kasselergelb
—
ja
halten.
Englischgrüu
cfr. Schweinfur-
ja
—
tergrün
Englischrotb
cfr. Oxydroth
—
—
ja
Eosin
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Kann As u.Hg
Erde, gelbe
cfr. Ocker
—
—
ja
enthalten
Erdgrün
cfr. Scheel’sches
ja
—
Grün
Erlangerblau
cfr. Berlinerblau
—
—
ja
Esche!
cfr. Kobaltglas
—
—
ja
Euchron
cfr. Umbra
—
—
ja
Ewigweiss
cfr. Zinkweiss
—
ja
Fayenceblau
cfr. Indigolack
—
—
ja
Kann As enth.
Feruambukholz-
cfr. Rothholzlack
—
—
ja
Desgleichen
lack
Flohbraun
cfr. Bleibraun
—
ja
—
Florentinerlack
cfr.Cochenillelack
—
ja
Desgleichen
u. Rothholzlack
Fuchsin
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Desgleichen
Garaneinkarmin
cfr Krappkarmin
—
—
ja
Desgleichen
Gentöle’s Grün
cfr. Zinngrün
—
ja
—
Giftfreies Grün
cfr. Kuhlmann’s
—
ja
—
Grün
Giftfreies Kupfer¬
cfr. Borgrün
—
ja
—
grün
Glätte
cfr. Bleiglätte
—
ja
—
Glanzgrün
cfr. Kupfergrün
—
ja
—
Goldglätte
cfr. Bleiglätte
—
ja
—
Gothaergrün
cfr. Ohromgrün
—
evt.ja
ja
Grenade
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Kann As u. Hg
Grüner Zinnober
cfr. Chromgrün
—
evt.ja
ja
enthalten
Grünspan
essigs. Kupfer
—
ja
—
Gummigutti
Pflanzenextrakt
—
ja
—
Hamburgerblau
cfr. Kupferblau
—
ja
—
Hamburgerweiss
cfr. Bleiweiss
—
ja
—
Hatchettsbraun
cfr. Kupferbraun
—
ja
—
Hautgelb
cfr. Chromgelb
—
ja
—|
Holländerblau
cfr. Indigolack
—
—
ja
Kanu As enih.
472
Dr. Jacobson.
Namen der
Farbe.
Synonyme.
Bestandtbeile.
Gehört zu
Anlage I,
Ab¬
theilung
£
’S©
3
Be¬
merkungen.
H 3
£
Holländerweiss
Jaune Indien
Jodgelb
Jodgrün
Jodin roth
Jodmethylgrün
Jodviolett
Indigo
Indigoblau
Indigokarmin
Iudigolack
Indischroth
Indisin
Kaiserblau
Kaiserroth
Kalkblau
Kasselerblau
Kassclererde
Kasselergelb
Kastanienbraun
Kobaltblau
Kobaltgelb
Kobaltglas
Kobaltgrün
Scharlachroth
Indigoblau, Indigo-
karmin
Engl isch-, Fayence-,
Holländer-, Neu-,
Waschblau-, Tafel¬
indigo
Kobaltrosa
Kobaltultramarin
Königsblau
Königsgelb
Königsroth
Kölnergelb
Kölnische Erde
Krappkarinin
Krapplack
Englisch-, Mineral-,
Montpellier’s-, Pa¬
tent-,Veronesergelb
Coeruleum, Kobaltul¬
tramarin, Königs-,
Leithner-, Leyde¬
ner-, Thenard’s-,
Wienerblau
Azur-, Kaiser-, Kö¬
nigs-, Sächsisch-,
Streublau, Blaufar¬
benglas, Eschel,
Sraalte
Rinnmanns-, Zink¬
grün, permanenter
grüner Zinnober
cfr. Bleiweiss
cfr. Pur£e
cfr. Jodblei
cfr. Anilinfarben —
Quecksilberjodid ja
cfr. Anilinfarben —
Desgleichen —
Pflanzenfarbstoff —
cfr. Indigo
Desgleichen
cfr. Lackfarben —
cfr. Oxydroth
cfr. Anilinfarben
cfr. Kobaltglas
cfr. Oxydroth
cfr. Kupferblau
Desgleichen
Erdfarbe
Bleioxychlorid
cfr. Manganbraun
Kobaltoxydul mit
Thonerde
— ja Kann As u. Hg
— — [enthai
_ j a K. Pikrins. enth.
— ja Kann As ent-
— ja [halten
— ja
— ja
— ja Desgleichen
ja Kann As u. Hg
ja [enthalten
ja
— ja
— ja
«alpet rips. Kobalt
kali
Kobaltkalisilikat
- - J»
Garancinkarmin
Laek-Dye,Lack-Lack
Wienerlack, Ofen-
heimerroth
Kobaltoxydul- —
Zinkoxyd
phosphors. u. ar- ja
sensKobaltoxydul
cfr. Kobaltblau —
Dcsgl. u. Kobalt-
glas
cfr. Auripigment, ja
Chromgelb und
Mercurgelb
cfr. Oxydroth —
cfr. Chromgelb —
cfr. Kreide und —
Umbra
cfr. Lackfarben —
Desgl. —
- J a
— ja
— ja
evt.ja —
— ja
ja -
— ja
— ja, Kann As enth.
— ja Desgleichen
Der Entwarf von Vorschriften, betr. den Verkehr mit Giften etc. 473
Namen der
Farbe.
Synonyme.
Bestandtheile.
Ge:
An
th
1
hört zu
läge I,
Ab¬
eilang
1 3
nicht giftig
i
Be¬
merkungen.
Krappviolett
Kreide
Bologneser-, Kölni-
Pflanzenfarbstoff
kohlensaur. Kalk
—
—
ja
ja
Kemnitzerweise
Kremserweiss
Kugellack
sehe Erde, Rouener
Weiss
(Mischung von
Kalkerdehydr.
u. gepulvertem
Marmor)
«fr. Bleiweiss
Desgl.
cfr. Rothholzlack
—
ja
ja
Kann As ent-
Knhlmann’s Grün
EUner’s-, giftfreies
Kupferoxychlo-
—
ja
halten
Kupferblau
Grün
Berg-, Bremer-,Ham-
rid
kohlens. Cu und
_
ja
_
Kupferbraun
burger-, Kasseler-,
Kalk-, Mineral-,
Neu-, Neuwieder-,
Oel-, Steinblau
Breslauer-, Chem.-,
Kupferoxydhy¬
drat
Ferrocyanknpfer-
ja
Kupferbraunroth
Hatchettbraun,
Kupferbraunroth
Kupferbraun
kali, cfr. auch
Kupferbraunroth
Kupferoxyd, Ei-
ja
Kupfergrün
Alexander-. Apollo-,
senoxyd u. Thon¬
erde, cfr. auch
Kupferbraun
Kohlens. Kupfer
ja
Kupferschwarz
Lackbraun
Lack-Dye
Berg-, Glanz-, Ma¬
lachit-, Mineral-,
Oel-, Schiefer-,
Staub-, Tyroler-,
Ungarisch-, Was¬
ser-, Wiesengrün
cfr. auch Borgrün
Schwefelkupfer
Braunkohle
cfr. Krapplack
—
l
ja
ja
ja
Kann As enth.
Lackfarben
Verbindung meist
—
—
ja
Können As
Lack, gelber ital.
Lack - Lack
pflanzlich. Farb¬
stoffe mit Thon¬
erde, Zinnoxyd
u. s. w.
cfr. Ocker
cfr. Krapplack
ja
ja
enthalten
Kann As ent¬
Laubgrün
cfr. Chromgrün
—
evt.ja
ja
halten
Lazurblau
Leipzigergelb
Leipzigerlack
cfr. Ultramarin
cfr. Chromgelb
cfr. Rothholzlack
—
ja
ja
ja
Desgleichen
Leithnerblau
Leydenerblau
Lichtgrün
cfr. Kobaltblau
Desgleichen
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
ja
ja
Kann As u.Hg
Lithoponweiss
cfr. Barytweiss
—
—
ja
enthalten
Lo-Kao
Louisenblau
Malachitgrün
Manganbraun
Bister-, Braunstein-,
Chines. Farbstoff
cfr. Berlinerblau
cfr. Kupfergrün
Manganoxyd
—
ja
ja
ja
ja
Mangangrün
Mineral-, Kasta¬
nienbraun
Böttger’s-, Rosen-
stiehl’s Grün
Nümbergerviolett
u. Mangansuper-
oxyd
Mangans. Baryt
ja
Mangan violett
Phosphors. Mang.
—
ja
474
Dr. Jacobson.
Namen der
Farbe.
Synonyme.
Bestandtheile.
Gehört zu
Anlage I,
Ab¬
theilung
1| 3
Nicht giftig
Be-
markuDgen.
Manganweiss
Braunsteinweiss
Manganoxydul
—
—
ja
Marineblau
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Kann As u. Hg
Marron
Desgl.
—
—
ja
Desgl. entli.
Marsroth
cfr. Oxydroth
—
—
ja
Massikot
cfr. Bleiglütte
—
ja
Mennige
cfr. Bleiroth
—
ja
—
Mercurgelb
Künigsgelb, mine-
basisch Schwefels.
ja
—
—
ralischer Turpeth
Hg
Methylblau
cfr. Anilinfarben
—
- l
ja
Desgleichen
Methylgrün
Desgl.
—
—
ja
Desgleichen
Methylviolett
Desgl.
—
—
ja
Desgleichen
Mineralblau
ctr. Berlinerblau
—
evt.ja
ja
u. Kupferblau
Mineralbraun
cfr. Mauganbraun
—
—
ja
Mineralgelb
cfr. Kasselergelb
—
ja
—
Mineralgrün
cfr. Kupfergrün u.
ev
Scheel’sches Grün
ja
J a
Mineralweiss
cfr. Barytweiss
—
ja
Mitisgrün
cfr. Schweinfur-
ja
—
ter Grün
Mittler’« Grün
cfr. Arnaud’s
ja
—
Grün
Montpellier’sgelb
cfr. Kasselergelb
—
ja
—
Münchenerlack
cfr.Cochenillelack
—
ja
Kann Asenth.
u. Rothliolzlack
Mumienbraun
cfr. Asphaltbraun
—
—
ja
Mussivgold
Zweifach Schwe¬
—
—
ja
felzinn
Myrrthengrün
cfr. Chromgrün
—
evt.ja
ja
Nachtgrün
Erdfarbe
—
evt. ja
ja
A. a. Anilinfarben
Nankingelb
Rostgelb
Eisenoxydhydrat
—
—
ja
u.Pikring.hergeßt.
Naphthalin
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Kann Asu.Hg
Naturgrün
cfr. Chromgrün
—
evt.ja
ja
enthalten
Neapelgelb
cfr. Antimongelb
—
ja
—
Neapelgrün
cfr. Chromgrün
—
evt.ja
ja
Neapelroth
cfr. Oxydroth
—
—
ja
Neu blau
cfr. Berlinerblau,
—
evt.ja
ja
Indigolack und
Kupferblau
Neugrün
cfr. Schweinfur-
ja
—
—
tergrün
Neuviolett
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Kann As u. Hg
Neuweiss
cfr. Barytweiss
—
—
ja
enthalten
Neuwiederblau
cfr. Kupferblau
—
ja
Neuwiedergrün
cfr. Scheersches
ja
—
Grün
Nigrosin
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Desgleichen
Nosein
Desgl.
—
—
ja
Desgleichen
Nürnberg. Violett
cfr.Manganviolett
—
—
ja
Ocker
Chiuesergelb, gelbe
Erdfarbe
—
—
ja
Erde, gelber ita¬
lienischer Lack
Ockerbrauu
cfr. Eisenbraun
—
—
ja
Oelblau
cfr. Berlinerblau
—
evt.ja
ja
u. Kupferblau
Oelgrün
cfr. Kupfergrün
—
ja
—
Ofenheimerroth
cfr. Krapplack
—
ja
Kanu Asenth.
Der Entwarf von Vorschriften, betr. den Verkehr mit Giften etc. 475
Namen der
Farbe.
Synonyme.
Bestandtheile.
Ge
Ad
th
hört za
lftge I,
Ab-
eilung
3
nicht giftig
. Be¬
merkungen.
Olivgrün
Erdfarbe
_
_
ja
Häufig m. Chrom¬
Opperment
cfr. Auripigment
ja
—
grün gemischt
Orange
cfr. Anilinfarben
—
ja
Kann As n. Hg
Orseille
PflanzenfarbstofF
—
—
ja
enthalten
Oxydroth
Caputmortuum, Co-
Eisenoxyd in ver¬
—
—
ja
laothar-, Eisenmen¬
schiedenen For¬
nige, Eisensafran,
men u. mit ver¬
Berliner-, Deutsch-,
schiedenen er-
Engel-, Englisch-,
dischen u. me¬
Indisch-, Kaiser-,
tallischen Bei¬
Königs-, Mars-, Ne¬
mischungen
apel-, Persisch-, Po-
lir-, Pompejanisch-,
Schleif-, Spiegel-,
Todtenkopf-, Vene-
tianerroth
Pannetier’s Grün
cfr. Arnaud’s
—
ja
—
Grün
Papageigrttn
cfr. Schweinfur-
ja
—
—
•
tergrün
Pariserblau
cfr. Berlinerblau
_
—
ja
Parisergelb
cfr. Chromgelb
—
ja
Parisergrün
cfr. Schweinfur¬
ja
—
ter Grün
Pariserlack
cfr.Cochenillelack
_
—
ja
Kann As ent*
Pariserroth
cfr. Bleiroth
—
ja
halten
Parma
cfr. Anilinfarben
—
ja
Kann As u. Hg
Patentgelb
cfr. Kasselergelb
—
ja
enthalten
Patentgrün
cfr. Schweinfur¬
ja
—
ter Grün
Patentroth
cfr. Zinnober
—
—
ja
Patentweiss,engl.
cfr. Pattisonweiss
—-
ja
Pattisonweiss
Patentweiss, engl.
bas. Bleioxy-
—
ja
—
chlorid
Perlweiss
cfr. Bleiweiss u.
—
evt.ja
ja
Wismuthweiss
Permanentbronce
cfr. Chrombronce
—
ja
—
Permanentgrün
cfr. Chromgrün
—
evt.ja
ja
Permanenter grü¬
cfr. Kobaltgrün
—
—
ja
ner Zinnober
Permanentweiss
cfr. Barytweiss
—
—
ja
Persio
Pflanzenfarbstofif
—
—
ja
Persischgelb
cfr. Auripigment
ja
—
Persischroth
cfr. Oxydrüth
—
ja
Phosphin
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Kann Asu.Hg
Pikrinsäure
Welter’sches Bitter
Organische Säure
—
ja
enthalten
Plessy’s Grün
cfr.Arnaud’s Grün
—
ja
—
Polirroth
cfr. Oxydroth
—
ja
Pompejanischroth
Desgl.
—
—
ja
Ponceau
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Desgleichen
Pottloh
cfr. Bleischwarz
—
ja
Pourpre francais
jPflanzenfarbstolT
—
ja
Preussischblau
jcfr. Berlinerblau
—-
—
ja
Püree
Jaune Indien
cfr. Lackfarben
—
—
ja Kann As enth.
Purpurin
cfr. Anilinfarben 1 —
—
ja
Desgleichen
Rauschgelb
cfr. Realgar
ja
—
Raymundblau
cfr. Berlinerblau
I
i
j a
476
Dr. Jacobson.
Namen 4er
Farbe.
Synonyme.
Bestandtheile.
Gehört zu
Anli^e I,
Ab¬
theilung
1| 3
u
E
u
«•
ja
o
c
Be-
merkungen.
Realgar
Arsenglas rothes, Ar¬
Arsendisulfid
ja
—
—
senikrubin, Rausch¬
gelb, Rubinschw'efel
Resedagrün
cfr. Schweinfur¬
ja
—
—
ter Grün
Rinnmanusgrün
cfr. Kobaltgrün
—
—
ja
Rosanilin
cfr. Anilinfarben
! — i
—
ja
Kann As u. Hg
RosenstiehlsGrün
cfr. Mangangrün
—
ja
enthalten
Rostgelb
cfr.Nangkinggelb
—
ja
Rother Indigo
Pflanzenfarbstoff
—
ja
Rothholzlack
Fernambukholz-,Flo¬
cfr. Lackfarben
—
ja
Kann As ent¬
rentiner-, Kugel-,
halten
Leipziger-, Mün¬
chener-, Wienerlack
Rouenerweiss
cfr. Kreide
i
—
ja
Rubin
cfr, Anilinfarben
—
ja
Kann Asu. Hg
Rubinschwefel
cfr. Realgar
ja
—
—
enthalten
Sächsischblau
cfr. Berlinerblau
_|
—
ja
u. Kobaltglas
Säuregriin
cfr. Anilinfarben
' —
—
ja
Desgleichen
Saflorkarinin
cfr. Carthamin
—
—
ja
Saflorroth
Desgl.
—
—
ja
1
Safranin
cfr. Anilinfarben
_
—
ja
Desgleichen
Saftgrün
Pflanzenfarbstoff
—
—
ja
Scharlach
cfr. Anilinfarben
i
—
ja
Desgleichen
Scharlachrot!]
cfr. Jodinroth
ja
—
Scheel’sches Grün
Aschen-, Braunschw.-,
arsenigs. Kupfer
ja
—
Erd-, Mineral-,Neu-
wieder-,Schwedisch
grün
Schiefergrün
cfr. Kupfergrün
—
ja
—
Schieferweiss
cfr. Bleiweiss
—
ja
—
Schleifroth
cfr. Oxjdroth
—
ja
Scbminkweiss
cfr Wismuthweiss
—
—
ja
Schneeweiss
cfr. Barytweiss,
evt.ja
ja
Bleiweiss und
Zinkweiss
Schnitzer’s Grün
cfr. Arnaud’s Grün
ja
Schüngelb
cfr. Ocker
—
ja
Kann As ent-
Schüttelgelb
cfr. Lackfarben
—
—
ja
IV U11 li XV»7 vil V
Vi n 1 ten
Schwarzer Zinn¬
schwarzes Schwe¬
—
—
ja
11(11 icu
ober
felquecksilber
Schwedisches
cfr. Scheelschcs
ja
—
—
Grün
Grün
Schweinfurter
Englisch-, Mitis-,
Essig - arsenigs.
>
—
Grün
Neu-, Papagei-, Pa¬
Kupfer
riser-, Patent-, Re¬
seda-, Wiesengrün
Seidengrün
cfr. Chromgrüu
,—
evt.ja
ja
Siennabraun
cfr. Eisenbraun
—
—
ja
Silberglätte
cfr. Bleiglätte
—
ja
Silbergrau
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Kann Asu.Hg
Silberweiss
cfc. Bleiweiss
—
ja
enthalten
Smaragdgrün
cfr. Arnaud’s u.
io
ev
Chromgrün
ja
ja
Spanischgelb
cfr. Auripigment
ja
—
i
Spanischweiss
cfr. Wismuthweiss;
—
—
ja
Der Entwurf von Vorschriften, betr. den Verkehr mit Giften etc. 477
Namen der
Farbe.
Synonyme.
Bestandtheile.
Gehört zu
Anlage I,
Ab¬
teilung
1| 3 j
bp
3
'S'
■**
O
*C
Be¬
merkungen.
Spiegelroth
cfr. Oxydroth
_
_
ja
Staubgrün
cfr. Kupfergrün
—
ja
Steinblau
cfr. Kupferblau
—
ja
--
Streublau
cfr. Kobaltglas
—
ja
Tafelblau
cfr. Indigolack
—
—
ja
Tapetenbronce
cfr. Chrombronce
—
ja
Tassenroth
cfr. Carthamin
—
ja
Tellerroth
Desgl.
—
—
ja
Thenard’sblau
cfr. Kobaltblau
—
—
ja
Todtenkopfroth
ctr. Oxydroth
—
—
ja
Türkisgrün
cfr. Chromgrün
—
evt.ja
ja
Turpeth, mine-
cfr. Merkurgelb
ja
—
—
ralischer
Turnbull’sblau
Ferridcyaneisen
—
—
ja
Tyrolergrün
cfr. Kupfergrün
—
ja
—
Ultramarin
Azurblau, Lazurblau
ausThonerde, Kie¬
—
ja
selsäure, Natron,
Schwefel u. Kalk
hergestellter
Farbstoff
Ultramaringelb
chroms. Ba., cfr.
—
ja
—
auch Chromgelb
Umbra
Cappabraun, Euchron
Erdfarbe
—
—
ja
Kölnische Erde
Ungarischgrün
cfr. Kupfergrün
—
ja
—
Uranin
cfr. Anilinfarben
—
i —
ja
Kann As u. Hg
Vandykbraun
cfr. Eisenbraun
—
—
ja
enthalten
Yenetianerroth
cfr. Oxydroth
—
—
ja
Yenetianerweiss
cfr. Bleiweiss
—
ja
Yermillon
cfr. Zinnober
—
ja
Yeronesergelb
cfr. Kasselergelb
—
ja
Vesuvin
cfr. Anilinfarben
—
—
ja
Desgleichen
Victoria
Desgl.
—
—
ja
Desgleichen
Victoriagrün
Desgl.
—
—
ja
Desgleichen
Violet
Desgl.
—
—
ja
Desgleichen
Violetter Lack
chroms. Zink
—
ja
—
Yitriolbleiweiss
Schwefels. Blei
—
ja
—
Waschblau
cfr. Berlinerblau
—
ja
u. Indigolack
Wasserblau
cfr. Berlinerblau
—
—
ja
Wasserblei
cfr. Bleischwarz
—
ja
Wassergrün
cfr. Kupfergrün
—
ja
—
Waulack
cfn Lackfarben
—
—
ja
Kann As ent¬
Weisses Nichts
cfr. Zinkweiss
—
—
ja
halten
Welter'sches
cfr. Pikrinsäure
—
ja
Bitter
Wienerblau
cfr. Kobaltblau
—
—
ja
Desgleichen
Wienerlack
cfr.Cochenillelack
Krapplack und,
Kothholzlack
ja
evt.ja
—
Wiesengrün
cfr. Kupfergrün
u. Schweinf.Grün
Wismuthgelb
chroms. Wismuth,
—
ja
—
,
;
cfr. auch Anti¬
1
mongelb
Wismuthweiss
.Perl-,Schmink-, Spa-
bas. Salpeters.
—
—
ja
1 nischweiss
Wismuth
478 Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf, betr. den Verkehr mit Giften.
i
Namen der
Farbe.
Synonyme.
Bestandtheile.
Ge
Ai
tb
ihort zu
ilmgel,
Ab¬
teilung
3
U
5
*s>
4 »
|
d
Be¬
merkungen.
Wnnderblau
Zinkblau
Wunderblau
cfr. Zinkblau
Berlinerblau und
—
—
ja
ja
Zinkblumen
Zinkgelb
Zinkgrün
Zinkweiss
Ewigweiss, Schnee-
Zinkoxyd
cfr. Zinkweiss
chroms. Zink
cfr. Kobaltgrün
Zinkoxyd
—
ja
ja
ja
ja
Zinngrün
weies, weiss. Nichts,
Zinkblumen
Gentfele’s Grün
Zinns Kupfer
ja
Zinnober
Chinesisch-, Patent-
Quecksilbersulfid
—
ja
Zinnweisa
roth, Vermillon
Emailweiss
Zinnoxyd
_
ja
Zwickauerblan
Zwickauergelb
cfr. Berlinerblau
cfr. Chromgelb
—
ja
ja
Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf betreffehd den
Verkehr mit Giften.
Der Ansicht des Kollegen Jacobson, dass der dem Bundes-
rathe vorgelegte Entwurf betrettend den Verkehr mit Giften als
ein grosser Fortschritt zu begrüssen sei, kann sich die Redaktion
nicht anschliessen. Eine einheitliche Regelung des Giftverkehrs
ist allerdings dringend erwünscht, aber dabei soll doch gleichzeitig
eine Verbesserung der bisherigen Verhältnisse erzielt werden und
diese dürfte kaum zu erwarten stehen, wenn der Entwurf in seiner
jetzigen Fassung zur Durchführung gelangen sollte.
Zunächst kann es nicht als zweckmässig erachtet werden,
dass die Vorschriften des Entwurfs, wenigstens zum Theil, auch
auf die Apotheken gelten sollen. Der Entwurf hat in Folge dessen
eine Anzahl Ausnahmebestimmungen erhalten, die seine Ueber-
sichtlichkeit und spätere praktische Handhabung um so mehr be¬
einträchtigen, als seine Fassung keineswegs so klar ist, um sofort
erkennen zu lassen, welche Vorschriften auch auf die Apotheken
Anwendung finden sollen oder nicht. Dazu kommt, dass die Auf¬
bewahrung und Abgabe der Gifte in den Apotheken — abgesehen
von denjenigen im Handverkauf — bereits durch das deutsche
Arzneibuch bezw. durch die Einführungsverordnungen desselben,
ferner durch die Vorschriften über die Abgabe starkwirkender
Arzneimittel einheitlich geregelt ist und dass sich der Entwurf
mit diesen Vorschriften zum Theil in Widerspruch setzt. So
würden z. B. nach Anlage I des Entwurfes (Abth. 2 und 3) Herba
Lobeliae, Bulbus und Tinctura Scillae, Secale cornutum, Extr.
Secal. cornut., Kalium chloratum, Acid. carbol. crudum unter den
Separanden aufbewahrt werden müssen, während sie nach dem
Deutschen Arzneibuch zu den indifferenten Stoffen gehören; anderer-
Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf, betr. den Verkehr mit Giften. 479
seits fehlen unter den in Anlage I aufgeführten Giften einzelne
Arzneimittel, wie Coffein, spanische Fliegen, Gutti und Phenacetin,
die nach dem Arzneibuche den Giften zugerechnet werden
müssen. Es würde ferner in den Apotheken nach §. 3 Abs. 1
verboten sein, Gifte der Abtheilung 1 und 2 in Schiebladen mit
vollen Füllungen aufzubewahren, obwohl solche jetzt noch vielfach,
besonders für die narkotischen Kräuter gebräuchlich sind und kein
Grund vorliegt, in dieser Hinsicht eine Aenderung eintreten zu
lassen. Auch die Bestimmungen des Entwurfs über den Gift¬
schrank (§. 6) stimmen nicht mit denen der meisten Einführungs¬
verordnung des Deutschen Arzneibuches überein; hier wird eine
Trennung der einzelnen Giftarten der Tab. B. in besonderen ver-
schliessbaren Abtheilungen des Giftschrankes, also ein doppelter
Verschluss, verlangt, während im Entwürfe nur ein einfacher Ver¬
schluss, ohne Trennung der Giftarten vorgesehen ist, übrigens eine
Vorschrift, die, wie hier gleich bemerkt sein möge, als eine Ver¬
besserung bezeichnet werden muss, ebenso wie die im §. 8 des
Entwurfs getroffene Bestimmung, dass nicht für jede Giftart, wie
bisher, sondern für die verschiedenen Giftarten der Abtheilung 1
zusammen besondere Dispensirgeräthe vorhanden zu sein brauchen.
Dass dagegen künftighin in den Apotheken auch für die Separanden
(Abth. 2 und 3) besondere Waagen, Mörser u. s. w. verwandt
werden sollen, erscheint keineswegs nöthig; denn die Apotheken
können in dieser Beziehung doch nicht auf dieselbe Stufe mit den
Drogenhandlungen gestellt werden, in denen meistens die ver¬
schiedenartigsten Waaren geführt werden. Für diese Geschäfte
ist allerdings jene Bestimmung dringend geboten, damit die zum
Abwiegen u. 8. w. von Nahrungs- oder Genussmitteln dienenden
Geräthe nicht auch beim Verabfolgen von Giften benutzt werden.
Unseres Erachtens wird es daher dem Entwürfe nur zum
Vortheile gereichen, wenn in demselben der Verkehr mit Giften
in den Apotheken unberücksichtigt und es den Landesregierungen
überlassen bleibt, durch entsprechende Ergänzungsverfügungen zu
den einzelnen Apothekerordnungen u. s. w. die für die Apotheken
bisher gültigen Vorschriften in Bezug auf die Abgabe von Giften
im Handverkauf — denn nur diese kommt hierbei in Frage —
mit denen des Entwurfes in Einklang zu bringen.
Weiterhin halten wir es für nothwendig, dass der Klein¬
handel mit Giften ausserhalb der Apotheken lediglich
auf die zu gewerblichen und wirtschaftlichen
Zwecken dienenden Gifte beschränkt wird; und dass
diese Gifte in der Anlage des Entwurfes (etwa durch
einen Stern) bestimmt bezeichnet werden. Im Kleinhandel
(ausserhalb der Apotheken) auch die Abgabe von Giften zu wissen¬
schaftlichen Zwecken (s. §.11 des Entwurfs) zu gestatten, geht viel
zu weit; eine derartige Bestimmung würde ausserdem nur eine
Möglichkeit mehr schaffen, um sich bei Uebertretungen der Vor¬
schriften über den Verkehr mit Arzneimitteln straffrei zu halten.
Die Zahl der giftigen Stoffe, die zu wirtschaftlichen und gewerb¬
lichen bezw. künstlerischen Zwecken gebraucht werden, ist, wenn
4S0 Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf, bctr. den Verkehr mit Giften.
man von den giftigen Farben absieht, eine verhältnissmässi?
geringe; von den in der Anlage I, besonders in den Abtheilungen
1 und 2, aufgefiihrten Giften dürfte kaum der zehnte Theil dahin
gerechnet werden können und eine Bezeichnung derselben auch
keine nennenswerthen Schwierigkeiten machen. Jedenfalls würde
aber durch eine solche Beschränkung gleich von vornelierein
etwaigem Unfuge in dem Kleinverkehr mit Giften ein wirksamer
Riegel vorgeschoben und vor Allem die Kontrole des Gifthandels
wesentlich erleichtert und vereinfacht werden. In denjenigen
Bundesstaaten, in denen durch Landesgesetzgebung der Handel
mit Giften an die Ertheilung einer besonderen Konzession gebunden
ist, könnte dieser allerdings in der Konzession ausdrücklich auf be¬
stimmte Gifte beschränkt werden, wenn aber einmal die wünschens-
werthe einheitliche Regelung des Giftverkehrs angestrebt werden
soll, dann erscheint es zweckmässiger, in den neu zu erlassenden
Vorschriften auch nach dieser Richtung hin eine generelle Be¬
stimmung autzunehmen und zwar um so mehr, als gewerbliche
Interessen dadurch keineswegs geschädigt werden, da das Ver¬
zeichniss der im Kleinhandel zulässigen Gifte jederzeit dem Be-
diirfniss entsprechend abgeändert werden kann und auch in der
Zwischenzeit es den betreifenden Gewerbetreibenden u. s. w. nicht
schwer fallen wird, ihren Bedarf an einem bis dahin noch nicht
im Kleinhandel freigegebenen giftigen Stoffe im Grosshandel zu
beziehen.
In Bezug auf die einzelnen Bestimmungen des Entwurfes ist
noch Folgendes zu erwähnen:
Aufbewahrung der Gifte: Im §. 1 heisst es: als Gifte
u. s. w. gelten die in Anlage I aufgeführten „Drogen“ und „Zu¬
bereitungen“. Diese Fassung ist mit Rücksicht auf die weder zu
den Drogen noch zu den Zubereitungen gehörenden Gifte (Chemi¬
kalien u. s. w.) inkorrekt und bedarf daher einer Abänderung
(„aufgeführten Drogen, chemischen Präparate. Zubereitungen u.s.w.“),
wenn man es nicht vorzieht, den Abs. 2 ganz fallen zu lassen und
zu sagen: „Der gewerbsmässige Handel mit den in der AnlageI
aufgeführten Giften unterliegt u. s. w.“
Nach §. 2 sind Schiebladen, die in vollen Füllungen laufen,
zur Aufbewahrung von Giften der Abth. 1 und 2 nicht zulässig
und für die Farben und übrigen Gifte nur dann, wenn sie ausser¬
dem mit Deckeln versehen sind. Diese Vorschrift ist, wie schon
vorher erwähnt ist, viel zu weitgehend und ausserdem, was die
Forderung der Deckel anbetrifft, unpraktisch, denn wer Farbe-
waaren- und Drogenhandlungen revidirt hat, der wird sich oft
genug überzeugt haben, dass die Deckel auf den Schiebladen nicht
nur für den Geschäftsbetrieb hinderlich sind, sondern auch das
Verschütten des Inhalts der Kästen eher begünstigen als verhüten,
besonders wenn sie, wie dies meist der Fall ist, lose aufliegen.
Unseres Erachtens genügen dichte, gut schliessende und in vollen
Füllungen laufende Schiebladen durchaus zur Aufbewahrung von
Giften und sollten daher uneingeschränkt oder wenigstens für die
giftigen Farben und vegetabilischen Stoffe zugelassen werden und
Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf, betr. den Verkehr mit Giften. 481
zwar ohne dass sie noch mit besonderen Deckeln zu versehen sein
brauchen.
Der Absatz 3 im §. 3 ist überflüssig; dass sich kein Gift
ausserhalb der Vorrathsgefässe befinden darf, geht aus der Vor¬
schrift in Abs. 1 bestimmt hervor.
Im §. 4 fehlt eine Frist, bis zu welcher die Signaturen der
Vorrathsgefässe der hier gegebenen Vorschrift gem&ss abgeändert
sein müssen; da zur Zeit nur in wenigen Handlungen die Auf¬
schriften der Gefässe den in der Anlage I aufgeführten Bezeich¬
nungen entsprechen dürften, darf diese Frist nicht zu kurz be¬
messen werden. Die vom Kollegen Jacobson vorher geäusser-
ten Bedenken über die Unzweckmässigkeit der ausschliess¬
lichen Anwendung der in der Anlage I angegebenen Namen
erscheinen gerechtfertigt.
Die Vorschriften der §§. 5—8 über die Einrichtung der
Giftkammer und des Giftschrankes sind, wie schon vorher
hervorgehoben ist, durchaus zweckmässig und gegen die bisherigen
Bestimmungen eine wesentliche Verbesserung. Im Absatz 2 des
§. 8 würde es sich nur empfehlen, auch für den Fall besondere
Dispensirgeräthe nicht zu verlangen, wenn die im Kleinhandel
vorräthig gehaltenen Gifte gleich abgefasst vom Grosshändler be¬
zogen und nur in dieser Form abgegeben werden, wie dies viel¬
fach bei manchen Ungeziefermitteln, z. B. Phosphorpillen und bei
Farben u. s. w. gebräuchlich ist.
Abgabe der Gifte: Die Führung eines Giftbuches (§. 10)
und die Ausstellung von Giftscheinen (§. 12) auch für die Verab¬
folgung der in Abth. 2 aufgeführten Gifte ist eine grosse Be¬
lästigung für die Kaufleute wie für das Publikum und sollte daher
nur wie bisher für die Abgabe der direkten Gifte (Abth. 1)
verlangt werden. Es ist auch schwer verständlich, warum z. B.
Bleizucker, Aetzkali, Chloroform u. s. w. nur gegen Giftschein
abgegeben werden sollen, während bei Abgabe von Kleesalz,
Kali- oder Natronlauge, Karbolsäure u. s. w. ein solcher nicht
erforderlich ist. Die betreffende Vorschrift hat sich schon
jetzt, wo sie sich nur auf die Gifte der Abth. 1 erstreckte, als
schwer durchführbar erwiesen; wird sie noch mehr ausgedehnt,
so bleibt sie erst recht unbeachtet und man sollte sich hüten,
Bestimmungen zu treffen, von denen man sich gleich im Voraus
sagen muss, dass sie doch nur auf dem Papiere stehen bleiben.
Dass auf den Gefassen, in denen Gifte abgegeben werden,
ausser der Bezeichnung „Gift“ auch der Name des betreffenden
Giftes verzeichnet und die Bezeichnung in vorschriftsmässiger
Farbe ausgeführt sein muss (§. 13 des Entwurfes) ist durchaus
zweckentsprechend, nicht so pracktisch dagegen die Vorschrift,
dass der Name des Giftes dem in der Anlage I angegebenen ent¬
sprechen muss, wie dies vorher schon in zutreffender Weise vom
Kollegen Jacobson hervorgehoben ist. Auch die in §.13 Abs. 3
vorgesehene Ausnahmebestimmung erscheint nicht gerechtfertigt;
denn sowohl für die Wiederverkäufer wie für technische Gewerbe¬
treibende, Untersuchungs- und Lehranstalten ist es, um unan-
482 Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf, betr. den Verkehr mit Giften.
genehme Verwechselungen zu vermeiden, erwünscht, dass auch
sie die vom Grosshändler gekauften Gifte vorschriftsmässig bezeich¬
net erhalten. Dass übrigens Arsen-, Quecksilber- und Uranhaltigen
Farben, sowie die verschiedenen Drogen der Abth. 2 in dichten,
fest und gut verschlossenen Gefässen abgegeben werden müssen
(§. 13, Abs. 1), geht unseres Erachtens zu weit; für die Abgabe
dieser Gifte sind dauerhafte, ein Verschütten oder Verstäuben des
Inhalts ausschliessende Umhüllungen ebenso ausreichend wie für die
festen Gifte der Abth. 3.
Recht zweckmässig ist die im §. 14 getroffene Bestimmung,
dass Gifte in Trink- oder Kochgefassen nicht verabfolgt werden
dürfen; man hätte nur noch einen Schritt weiter gehen und zur
Abgabe von Giften in f lüssiger Form zumäuss eren Gebrauch,
zu wirtschaftlichen u. s. w. Zwecken die Verwendung sechs¬
eckiger Gläser vorschreiben sollen, dann wäre die jetzt bestehende
Ungleichheit, dass jene Gläser nur für äussere Arzneien in der
Rezeptur Verwendung finden, im Handverkauf der Apotheken und
im Kleinhandel der Drogenhandlungen dagegen nicht, wenigstens
für die Abgabe der flüssigen scharfwirkenden und giftigen Stoffe
beseitigt, die leider nur zu oft zu Vergiftungen in Folge ver-
hängnissvoller Verwechselung Veranlassung geben; es möge in
dieser Hinsicht nur an die nicht selten vorkommenden Vergif¬
tungen durch irrtümliches Trinken von Salzsäure, Schwefelsäure,
Karbolsäure u. s. w. erinnert werden. —
Ungeziefermittel: In §. 27 Abth. 2 wird das Feilhalten
und die Abgabe von arsenhaltigem Fliegenpapier verboten; ein
Grund dafür ist nicht ersichtlich, wenn man andere viel gefähr¬
lichere arsenhaltige Ungeziefermittel freigiebt.
In §. 18 des Entwurfs ist man bemüht gewesen, eine Defi¬
nition von „Kammerjäger“ zu geben, die keineswegs glücklich
genannt werden kann. Was unter einem „Kammerjäger“ zu ver¬
stehen ist, darüber dürfte wohl nirgends ein Zweifel herrschen;
ein solcher kann nur durch eine derartige verunglückte Definition
entstehen und daher ist es besser, wenn diese ganz wegfallt.
Was endlich das Verzeiclmiss der Gifte in Anlage I anbetrifft,
so empfiehlt es sich, dieses thunlichst in Uebereinstimmung mit
der Tab. B. und C. des deutschen Arzneibuches zu bringen
und dementsprechend die dort nicht unter den Separanden aulge¬
führten Drogen, Chemikalien u. s. w. als Herba Lobeliae, Bulbus
Scillae, Acid. carbol. crudum, Secale cornutum u. s. w. zu streichen;
dagegen Coffeinum, spanische Fliegen, Phenacet in, Gutti u. s. w. aufzu¬
nehmen. Ausserdem ist eine Trennung der indirekten Gifte (Abth. 2
und 3) völlig unnöthig und unpraktisch; diese giftigen Stoffe werden
zweckmässiger ebenso wie bisher unter einer Abtheilung aufgeführt
und den gleichen Bestimmungen in Bezug auf Aufbewahrung und
Abgabe unterworfen, wie dies schon vorher betont ist.
Die jetzt erfolgte Veröffentlichung des Gesetzentwurfes
berechtigt zu der Hoffnung, dass eine Abänderung desselben vor
seiner Genehmigung durch den Bundesrath nicht ausgeschlossen
ist. Hoffentlich finden dann auch noch die vorstehenden Aus-
Aus Versammlungen und Vereinen.
483
führungen Berücksichtigung. Jedenfalls hat der Entwurf neben
manchen Vorzügen auch erhebliche Mängel, die sich bei seiner
Durchführung sehr bald geltend machen und die NothWendigkeit
einer Abänderung ebenso zu Tage treten lassen werden, wie bei
den Vorschriften über die Abgabe stark wirkender Arzneimittel,
von denen allerdings in der Begründung des Entwurfs behauptet
wird, dass sie sich eingelebt und bewährt hätten, eine Ansicht,
die in den betheiligten Kreisen wohl kaum als zutreffend anerkannt
werden dürfte. Epd.
Aus Versammlungen und Vereinen.
Bericht über die vom 11. bis 16. September d. J. In Nürn¬
berg stattgehabte 65. Versammlung Deutscher Natur¬
forscher und Aerzte.
(Berichterstatter Dr. Leppmann, Berlin - Moabit).
Die Versammlung war im Allgemeinen nur mittelstark besucht und na¬
mentlich war die Betheiligung der Medizinalbeamten, wie dies bei dem Wieder¬
auftreten der Cholera nicht anders zu erwarten war, eine geringe. Es war dies
im Interesse der Ferngebliebencn zu bedauern, denn Nürnberg kam seinen
Gästen mit aufopfernder Gastfreundschaft entgegen, alle Veranstaltungen waren
gut vorbereitet und gingen wohlgeordnet von Statten. Sehenswerthes bot sich
in überreicher Fülle und besonders lehrreich war der Einblick in die eigenartige
Nürnberg -Fürther Industrie, bei welchem Med.-Rath und Bez.-Arzt Dr. W o 11 ne r-
Fürth und Dr. Goldschmidt-Nürnberg in liebenswürdiger Weise das Führer¬
amt übernommen hatten.
Die gerichtsärztliche Sektion war demgemäss klein, zumal das In¬
teresse für die Hygiene ihr auch Abbruch that. Sie erledigte unter dem Vor¬
sitze des Landgerichtsarztes Dr. Hoff mann- Nürnberg mit Eifer ihre Aufgaben.
Bei den Wahlen zum wissenschaftlichen Ausschuss entsandte
sie zunächst 3 Wahlmänner (Hoffmann, Leppmann, Seydel) zu dem
gemeinsamen Koraitö. Diese bildeten mit der hygienischen, militärärztlichen,
medizinisch-geographischen und veterinärärztlichen Sektion eine Gruppe zur
Wahl von 4 Ausschussmitgliedern. Nach gemeinsamer Vereinbarung unter dem
Vorsitze des Herrn Geh. Rath Spiuola wurde der gerichtlichen Sektion in der
Person des Herrn Prof. Seydel-Königsberg ein Mitglied zugestanden.
Vielleicht wird dieser engere Verband deutscher Naturforscher und Aerzte
es ermöglichen, dass die gerichtsärztliche Sektion 1894 in Wien durch Referate
und Diskussion über langzeitig vorbereitete umfangreichere Themata ihre Le¬
bensfähigkeit aufs Neue beweist.
Herr Prof. Seydel wird gewiss gern bereit sein, etwa ihm zugehende
Vorschläge an geeigneter Stolle zu vertreten.
Ans den Hauptversammlungen.
Prof. Dr. Strümpell (Erlangen): Ueber die Alkoholfrage vom ärzt¬
lichen Standpunkt ans. Nicht mit Unrecht sehen viele eine gedeihliche Zu¬
kunft der Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in einer grösseren
Ausdehnung und stärkeren Betonung der allgemeinen Vorträge. In die Haupt¬
versammlungen solle der Schwerpunkt gegenüber den Fachkongressen gelegt
werden. Dort sollen die wichtigsten Tagesfragen aus den Spezialwissenschaften
in einer für jeden naturwissenschaftlich Gebildeten, ja wenn möglich auch für
den allgemein gebildeten Laien verständlichen Form von den beratendsten
Kräften erörtert werden.
In dieser Beziehung war oben bezeichneter Vortrag mustergültig. Er
war inhaltsreich und dabei von klarer Einfachheit, er regte an bald zum Wider¬
spruch, bald zur Zustimmung und auch die mit der viel erörterten Materie
Vertrauten fanden neue Gesichtspunkte.
Vortragender ging in seinen Ausführungen von den Verhältnissen seiner
engeren Heimath aus und betonte, dass die Alkoholfrage mit dem Ersatz kon-
zentrirter und fuselreicher spirituöser Getränke durch leichtere nicht gelöst sei,
wenn Landessitte, Mangel an Belehrung und Indolenz die Menge des täglich ein-
484
Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften.
geführten Genussmittels so gross werden lassen wie in Bayern, wo das mittlere
Tagesquantum für den Arbeiter 3 Liter beträgt, viele aber, ans allen St&nden,
theiis ans süsser Gewohnheit oder in Folge ihrer Beschäftigung über dieses Maas
hinausgehen, ohne eine Ahnung davon zu haben, dass sie Trunkenbolden gleich*
werthig sind.
Die Schädlichkeit dieser übermässigen Einfuhr besteht:
1. ln der toxischen Wirkung der an und für sich geringen Alkohol-
mengen, welche sich dadurch summirt, dass die einzelnen Körpergewebe auch
nach Eliminirung des Stoffes den durch ihn gesetzten Reiz mit einer Art „Ge¬
dächtnis der Materie“ festhalten.
2. In der Ueberernährung. In 3 Litern Bier nimmt der Trinker, der
nebenbei ein normaler oder sogar starker Esser ist, 240 g Kohlehydrate und
230 g Eiweiss zu sich.
3. In der Ueberanstrengung des HerzenB und des Gefässsystems durch
die Ueberlastung mit Flüssigkeit.
Die schädlichen Erscheinungen am Nervensystem (Delirium, Neuritis) treten
(dies gilt wohl auch nur für biertrinkende Gegenden? Ref.) in den Hintergrund
gegenüber der nachtheiligen Wirkung auf Herz, Nieren und Gefässsystem. Es
entsteht Erschlaffung des Herzens mit muskulärer Erkrankung und, allerdings
oft durch andere Ursachen komplizirt, Gefässentartung. Von Nierenleiden finden
sich durch Sekretionsüberbürdung und toxisch bewirkten Zellentod zwei Formen
von Erkrankung 1. die bekanntere auf allmählicher Epithelentartung beruhende
Schrumpfniere, 2. die akute alkoholische Nephritis, die zwar seltener, aber vom
Vortragenden reichlich oft beobachtet ist.
Eine zweite Reihe von Krankheiten, die der übermässige Biergenuss
erzeugt, beruhen auf Herabsetzung der chemischen Leistungsfähigkeit der Organ¬
zellen. Bekannt sind in dieser Beziehung die Störungen des Eiweissumsatzes,
welche zur Gicht and die des Fettumsatzes, die zur Fettleibigkeit nicht blos
durch die Ueberernährung, sondern auch durch die langsame Verbrennung führen.
Weniger bekannt dürfte der Diabetes sein, welcher durch Beeinträchtigung des
Stoffwechsels der Kohlenhydrate beim Alkoholisten entsteht und den Vort. im
Verein mit Polyneuritis, Nephritis, Arthritis und Fettleibigkeit sah.
Ein Abwehrmittel ist in erster Reihe die Belehrung, zu welcher vor Allem
der Arzt berufen ist. Deshalb müsse gerade diese Aetiologie der Herz- und
Nierenkrankheiten mehr in das Bewusstsein der Mediziner übergehen. Besonders
sei der Verabreichung geistiger Getränke im Kindesalter Einhalt zu thun.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
A. Gerichtliche Medizin.
Ueber die Ursachen des Flüssigbleibens des Blutes bei der Er¬
stickung und anderen Todesarten. Von Dr. Gabriel Cor in aus Lüttich.
Vierteljahrsschrift für gerichtl. Medizin 1893, V. Band, 2. Heft.
Der Autor ist im Institut für Staatsarzneikunde in Berlin bestrebt ge¬
wesen, die Frage über die Ursachen des Flüssigbleibens des Blutes bei der
Erstickung und anderen Todesarten an der Hand eines reichen Leichenmaterials
experimentell zu klären und gelangt hierbei zu den nachfolgenden Resultaten.
Bei der Leiche tritt im Blute nur insofern Gerinnung ein, als in demselben
schon während des Lebens Ferment vorhanden war; die Ausdehnung der bei
der Obduktion gefundenen Gerinnsel ist direkt von der Menge des vitalen Fer¬
mentgehaltes abhängig. Eine weitere Erzeugung dieses Fermentes nach dem
Tode findet nicht mehr statt, wenn auch im Blute die unwirksame Vorstufe
desselben besteht. Die Gegenwart dieser Vorstufe ist aber die Ursache einer
weiteren Gerinnung, wenn das Blut früh aus den Gefässen gelassen wird, und
zwar in Folge der abspaltenden Wirkung, welche gewisse Blutbestandtheile auf
diese Vorstufe austiben. Später aber entsteht im Blute — und offenbar nicht
aus dem Blute, sondern aus den Gefässwänden — ein Körper, welcher die Eigen¬
schaft hat, die Gerinnung zu hemmen resp. die Thätigkeit der fermentabspalten¬
den Substanzen zu unterdrücken. Dieser Körper ist höchstwahrscheinlich identisch
mit dem von A. Schmidt beschriebenen Cytoglobin und besonders mit dem in
der Leber gefundenen Cytoglobin. Die Gefässwände spielen daher bei der Leiche
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften«
485
eine doppelte Rolle dem Blute gegenüber: im Anfänge nämlich halten sie das
Blut flüssig, d. b. verhindern sie eine Fermentproduktion, indem sie keine Er¬
regung auf die Leukozyten, die Erzeuger dieses Fermentes, austiben. Später
aber verhindern sie die Gerinnung auch durch eine Absonderung gerinnungs¬
hemmender Substanz. Zwischen dem Blute des Erstickten resp. des plötzlich
Gestorbenen und demjenigen des langsam Gestorbenen giebt es nur einen rela¬
tiven Unterschied, weicher durch den verschiedenen Fermentgehalt zu erklären
ist. In keinem Falle entsteht nach dem Tode in den Gefässhöhlen eine voll¬
kommene Gerinnung, wie es in dem aus dem lebenden Körper gelassenen Blut
geschieht. Immer bleibt neben dem Fibrin ein mehr oder weniger beträchtlicher
Ueberschuss gelösten Fibrinogens. Dieses Fibrinogen ist während der ersten
Zeiten nach dem Tode noch gerinnungsfähig, wird aber später ungerinnbar, weil
die Fermenterzeugung unmöglich wird.
Für den Gerichtsarzt ergiebt sich aus den Cor in’sehen Versuchen ein
zweifaches Ergebniss: einmal kann er der flüssigen Beschaffenheit des Blutes
eine Bedeutung für die Diagnose des akuten Erstickungstodes
gegenüber anderen akuten Todesarten gesunder Personen nicht einräumen;
sodann sprechen die Versuche dafür, dass entsprechend der alten Lehre, der
geronnenen Beschaffenheit des Blutes in Extravasaten eine gewisse Bedeutung
für die vitale Natur der betreffenden Verletzungen zukommt, insofern bei Ver¬
letzungen, die erst einige Zeit nach dem Tode erzeugt werden, eine Ge¬
rinnung des ausgetretenen Blutes nicht mehr stattfindet.
Dr. Dütschke-Aurich.
Die Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlichen Stand¬
punkt. Von Dr. Adolf Mantzel in Elberfeld. Ebendaselbst.
Verletzungen des Mastdarmes kommen nicht gerade häufig zur Beurtheilung
durch den Gerichtsarzt. Als solche sind anzusehen: Wunden, Zcrreissungen,
Verbrennungen, Verätzungen, sowie unter gewissen Umständen auch Lähmung
des Schliessmuskels und Vorfall.
Die Untersuchung am Lebenden geschieht nach den Regeln chirurgischer
Diagnostik, für genauere Untersuchungen ist die Steinschnittlage oder die Seiten¬
lage anzuwenden. An der Leiche wird der Mastdarm nach der im §. 13 und 21
des preussischen Regulativs für das Verfahren der Gerichtsärzte vorgeschriebenen
Weise untersucht, wobei man beachten sollte, dass blosses Offenstehen des Afters
und Ausfliessen von Koth ein alltäglicher Befund bei Leichen ist, also für die
Diagnose einer Mastdarmverletzung auch nicht den geringsten Werth besitzt.
Der Mastdarm ist Verletzungen ausgesetzt:
1. Bei sexuellen Akten, sei es, dass der Penis den Weg in den
Anus nimmt und das Hymen erhalten bleibt, sei es, dass das Septum recto-
vaginale durchbohrt wird. Dagegen kommen bei der habituellen Paederastie
Verletzungen des Mastdarms ziemlich selten vor, während die Erschlaffung des
Sphincter ani, mehr oder weniger vollständige Lähmung des Schliessmuskels,
verbunden mit Kothinkontinenz und Prolapsus ani öfter beobachtet wird.
Häufiger entstehen Mastdarmverletzungen beim zum ersten Male ausgeübten
päderastischen Akte, wenn Gewalt angewendet wird, oder wenn, bei widernatür¬
licher Nothzucht an Kindern, ein Missverhältnis zwischen den beschädigten
Theilen und dem Penis besteht. Auch bei päderastischer Onanie und unzüchtigen
Fingermanipulationen werden Laesionen beobachtet.
2. Durch Fremdkörper; dieselben können von oben, von unten oder
von der Seite her in den Mastdarm dringen. Diese Fälle bieten verhältnissmässig
selten ein unmittelbares forensisches Interesse dar.
3. Verwundungen schwerster Art kommen dann zu Stande, wenn
Menschen auf spitze Gegenstände fallen und diese in den Mastdarm eindringen.
4. Wirkliche Stich - und Schnittwunden kommen selten zur Kog¬
nition des Gerichtsarztes.
5. Ebenso selten unterliegen Schusswunden des Mastdarmes der ge rieh ts-
ärztlichen Beurtheilung. Die Gefahr liegt bei den Schussverletzungen haupt¬
sächlich in den Nebenverletzungen, insbesondere ruft die Eröffnung des Bauch¬
fellsackes fast immer tödtliche Peritonitis hervor. Am Mastdarm selbst werden
als Folgezustäude beobachtet: Zurückbleiben von Geschossen, Kothinfiltrationen,
Abszesse und Verjauchungen des Zellgewebes, langwierige Fistelzustände, wieder-
486
Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften.
holte Blutungen aus den Häraorrhoidalvenen, Lähmungen der Sphincteren und
narbige Strikturen.
6. Verbrennungen, meist bei Anwendung des Glüheisens oder Ther¬
mokauters zu therapeutischen Zwecken hervorgerufen, ferner durch ätzende
Flüssigkeiten, die Klystieren zugesetzt worden waren.
7. Laesionen durch kunstwidriges Heilverfahren: a) durch
fehlerhafte Applikation von Klystieren, b) durch unvorsichtige Einführung von
Bongies bei der Strikturenbehandlung, c) bei der Exploration des Rectum nach
Simon, also bei Einführung der ganzen Hand, d) durch ein gewaltsam und
fehlerhaft applizirtes Scheidenpessar, endlich e) Dammrisse bei der Geburt.
Der Gerichtsarzt muss aber auch daran denken, dass schon gewaltsames
Hervordrängen harter Kothmassen aus dem After genügt, um mehr oder minder
beträchtliche Zerreissungen 'des Mastdarms zu bewirken. Auf diese Weise hat
man nicht nur Einrisse in den After gesehen, sondern auch bedeutende trans¬
versale Einrisse in das Rectum oberhalb des Sphincter internus.
Die Folgen der Verletzungen des Mastdarms für Leben und
Gesundheit des Beschädigten beschäftigen den Gerichtsarzt mehr als die Diagnose
der Verletzung selbst. Als Folgen können auftreten: Tod, längeres Kranken¬
lager, Verfall in Siechthum. Der letale Ausgang kann eintreten durch
Shock, Verblutung, Thrombose und Entzündung der Mastdarmvenen, Pyämie und
Septicämie, hauptsächlich durch die periproctale Phlegmone und nachfolgender
Peritonitis. Der Fall des „Verfall in Siechthum“ liegt vor, sobald nach
Perforationen und ausgedehnten Zerreissungen narbige Verengerungen Zurück¬
bleiben, die schliesslich durch Kothverhaltung und Marasmus zu Tode führen
können. Um Siechthum handelt es sich aber auch, wenn in Folge Zerreissung
des Sphincter ani Koth und Darmgase unfreiwillig abgehen; dagegen stellt der
Mastdarm Vorfall nur dann einen siechen Zustand dar, wenn der Vorfall nach
jeder Reposition sogleich wieder zum Vorschein kommt oder überhaupt nicht
mehr zurückzubringen ist, so dass dauernde Kothinkontinenz ein tritt. Auch eine
Mastdarm - Scheidenfistel bedingt Siechthum nur dann, wenn selbst fester Koth
durch die Scheide abgeht. Gewöhnliche Mastdarmfisteln werden wohl nie als
„Verfall in Siechthum“ angesehen werden können.
Dr. Israel-Medenau (Ostpr.).
B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Die Cholera in Deutschland während des Winters 1892 bis 1893.
Von Prof. Dr. Rob. Koch. Aus dem Institut f. Infektionskrankheiten. Zeitschr.
für Hygiene und Infektionskrankheiten. XV. 1.
Koch’sehe Arbeiten in ein kurzes Referat zusammen zu fassen, ist eine
undankbare Aufgabe! Der Gedankenreichthum und die knappe, klare Dar-
stellungsweiso schliessen die Möglichkeit einer Kürzung eigentlich vollständig
aus uud so wird auch dieser Auszug nur ein recht dürftiges Bild der schönen
Arbeit geben können, welche hoffentlich in Gestalt einer Sonderausgabe weiteren
Kreisen zugänglich gemacht werden wird. —
Koch’s Besprechung streift nur ganz kurz die verhängnisvolle Sommer-
epidemie in Hamburg, sie beschränkt sich im Uebrigen auf die Winterepidemie
in Altona, auf den heftigen Ausbruch in der Irrenanstalt in Nietleben und auf
die Nachepidemie in Hamburg, welche am 6. Dezember beganu uud 64 Er¬
krankungen mit 18 Todesfällen verursachte. Unter Hinweis auf die gleichzeitige,
explosionsartig auftretende Epidemie in Nietleben will Koch klimatische Ein¬
flüsse als Erklärung dafür nicht zulassen, dass die Krankheit jetzt in Hamburg
nur so geringe Ausdehnung gewann. Er zeigt, dass die Cholera die Eigentüm¬
lichkeit hat, in zwei ganz verschiedenen Typen aufzutreten, deren einer gekenn¬
zeichnet ist durch explosionsartigen Ausbruch und graphisch darstellbar ist in
Gestalt einer Kurve mit steil ansteigendem, hoch hinauf ragendem ersten
Schenkel uud fast ebenso steil abfallendem zweiten Schenkel. Im Gegensatz
dazu erscheint der zweite Typus wie eine, sich nur wenig über die Grundlinie
erhebende Kurve. Die Sommerepidemie in Hamburg und die Nietlebener Winter¬
epidemie gehören dem ersten Typus an, während die Winterepidemie in Hamburg
dem zweiten Typus folgt.
Doch ist es nicht nur das Bild der Kurve, durch welche sich der zweite
Typus von dem ersten unterscheidet, sondern auch andere Eigentümlichkeiten,
Kleinere Mittheilnngen und Referate aus Zeitschriften.
487
namentlich die dem zweiten Typus eigenthttmliche Herdbildung. An einem
solchen Herde entstehen nicht plötzlich viele Fälle, sondern sie folgen einander,
sie bilden gewisserraassen Ketten und es lässt sich sehr oft ein unmittelbarer
Zusammenhang zwischen den einzelnen Fällen ermitteln. Von einem solchen
Herde aus können durch Verschleppung neue Herde in anderen Stadttheilen, in
benachbarten Orten ausgeheu, in denen dann wieder kettenförmig aneinander
gereihte Fälle eine mehr oder weniger ausgebreitete Gruppenerkrankung aus¬
machen.
Beide Typen bleiben häufig nicht rein, sondern kombiniren sich in mannich-
facher Weise, namentlich wird der erste Typus vielfach zu Herdbildung führen
und schliesslich ganz in den zweiten Typus übergehen, aber auch bei diesem
kann jeder Zeit, so bald der Infektionsstoff seinen Weg in das Wasser findet,
ein explosionsartiger Ausbruch erfolgen, dessen Umfang sich nach der Art der
Wasserversorgung richten wird.
Die Hamburger Winterepidemie gehört fast ausschliesslich dem zweiten
Typus au; sie betrifft nur Angehörige der untersten und alleruntersten Volks¬
klassen, arbeits- und obdachlose Menschen, Alkoholiker, welche in Bettlerherbergen
und Brauntweinsckänken hausten uud umherziehende Händler, die in solchen
Lokalen ihr Gewerbe betrieben. Fast in allen Fällen gelang es den sorgsamen
Nachforschungen der Sanitätspoiizei den Zusammenhang der einzelnen Fälle
unter einander aufzuhellen. Uebrigens kam es gelegentlich auch bei dieser
Epidemie zu einer Mitbetheiligung des Wassers und zwar auf den beiden
Dampfern „Murciano“ und „Gretchen Bohlen“. Bekanntlich hat die Untersuchung
der unter Quarantäne gestellten Maunschaft der beiden Schiffe zu dem Ergebniss
geführt, dass unter den klinisch Unverdächtigen, aber ätiologisch Verdächtigen
eine ganze Anzahl Cholera-Infizirter war. Koch ertheilte daher den Rath, die
Evakuirung und bakteriologische Untersuchung nicht nur auf die offenbar Er¬
krankten zu beschränken, sondern derselben Alle diejenigen zu unterwerfen,
welche sich vermuthlich in gleicher Weise, wie diese infizirt haben konnten.
Wie der Chirurg, wenn er eine bösartige Geschwulst sicher entfernen wolle, im
Gesunden schneiden müsse, so müsse auch die Exstirpation des Cholerakeimes
gewissermassen im Gesunden geschehen.
Einen ganz anderen Charakter zeigt die etwa gleichzeitig auftretende
Winterepidemie in Altona. Die Fälle waren durch die ganze Stadt gleichmässig
zerstreut und kamen in allen Bevölkerungsklassen, bei Personen, die weder mit
Cholera - Kranken, noch unter einander in Berührung gekommen waren, gleich¬
mässig vor. Es musste also eine gemeinsame Infektionsquelle vorliegen, als
welche sich denn auch die Wasserleitung herausstellte, wie Koch in dem
früheren Aufsatz „Wasserfütratiou und Cholera“ bewiesen hat (Referat in Nr. 17
dieser Zeitschrift). Sehr interessant ist die Schilderung einiger sekundärer Herd¬
bildungen, namentlich in dem sog. „langen Jammer“, einer von Proletariat
bewohnten, nicht an die Wasserleitung angeschlossenen, sondern auf einen
Brunnen angewiesenen Häusergruppe. Die Schmutzwasserleitung, welche im
Sommer wohl genügt haben dürfte, um den Brunnen vor Infektion zu schützen,
versagte, da die Gullies eingefroren waren und der metertief gefrorene Boden
leitete die Schmutzwässer auf seiner Oberfläche direkt nach dem an der tiefsten
Stelle liegenden, mangelhaft abgedeckten Brunnen, in dessen Wasser der Cholera-
Bacillus nachgewiesen wurde.
Der grösste Theil der Koch’sehen Arbeit beschäftigt sich mit der
Epidemie in Niet leben, welche als ein Ausläufer der Hamburger Winter-
Epidemie angesehen werden muss. Die Einschleppung ist vermuthlich durch
neu angestelltes Wartepersonal verursacht worden. Die durch Karten und
Profile erläuterte Beschreibung der Anstalt lässt die bemerkenswerthe Thatsache
erkennen, dass hier von dem durchläsigen Boden, den die Pettenkofer’sche
Theorie verlangt, gar nicht die Rede sein kann; die Anstalt liegt auf einer aus
Porphyr bestehenden Hügelkuppe und sämmtliehe Gebäude sind direkt auf dem
Felsen fundamentirt. Die übrigen Verhältnisse, namentlich die Wasserleitung,
welche das Wasser der „wilden Saale“ unmittelbar unterhalb der Einmündung
des „Saugrabens“, welcher die Abwässer der Rieselfelder mit sich führt, entnahm
und in ganz ungenügender Weise filtrirte, sind bekannt. Die Anstalt ist bereits
zwei Mal und zwar vor Einführung zentraler Wasserversorgung von der Cholera
heimgesucht worden, welche aber beide Mal dem zweiten Typus folgte, an
einer bestimmten Stelle, einem Saal oder einem Korridor sich einnistete und von
488
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
da aus weiter kroch. Die Krankenliste der Anstalt weist zwar im Oktober,
also '/< Jahr vor Ausbruch der Epidemie viel Diarrhöen auf, dagegen kurz vor¬
her durchaus keine Häufung der Durchfallskrankheiten, wie denn Koch über¬
haupt nicht daran glaubt, dass vor einer Cholera-Epidemie eine derartige
Aeusserung des Genius epidemicus sich zn erkennen gäbe. Am 14. Januar kam
der erste Cholerafall in der Anstalt vor. Ihm folgten am nächsten Tage 6 Fälle,
dann 11, dann 15, 8, 7, 16, 9, 12, 8, 13, 5, 3, 2, 1, 1, 1, 1, 1, 1, — Summa
122 Fälle, von denen 62 tödtlich verlaufen sind! Es erkrankten 63 Männer,
davon 3 Aerzte, und 59 Frauen, davon 7 Wärterinnen und 3 Beamtenfrauen.
Ganz ira Gegensatz zu den Epidemien von 1850 und 1866, wo die Cholera
an einem bestimmten Punkt eingesetzt hatte und erst allmählich auf benachbarte
Räume und Abtheilungen fortgekrochen war, erschien diesmal die Seuche sofort
an den verschiedensten Stellen, sowohl auf der Männer- wie der Frauen - Seite.
Die 18 Fälle der ersten drei Tage vertheilen sich auf 11 verschiedene Ab¬
theilungen in 10 verschiedenen Gebäuden! Die gleichmässige Vertheilung zwingt
zu dem Schluss, dass die ursächlichen Momente nur solche sein konnten, welche
nicht einzelne Gebäude oder einzelne Gruppen unter den Bewohnern der Anstalt,
sondern die Anstalt im Ganzen getroffen batten. Solchen gemeinschaftlichen
Einfluss konnten nur Boden oder Wasser oder Nahrungsmittel geäussert haben.
Der Boden kann nach dem oben Gesagten von vorneherein ausgeschlossen
werden. Uebrigens verdient Erwähnung, dass das einzige Haus, welches nicht
auf Porphyr, sondern auf lockerem Alluvium stand, die Gärtnerwohnung, keinen
einzigen Cholerafall hatte. Auch die Nahrungsmittel können nicht beschuldigt
werden, da dieselben Lieferanten auch die Hallenser Kliniken, welche vollständig
verschont blieben, versorgten.
Es blieb nur das Wasser übrig, aber es schienen gegen diese Annahme
gewichtige Gründe zu sprechen, wurde doch das Schmutzwasser, dem die In¬
fektionsstoffe augenscheinlich entstammen sollten, durch eine Rieselanlage und
das Trinkwasser durch Sandflltration, den Forderungen der Hygiene entsprechend,
gereinigt! Aber ebenso gewichtige Fehler, wie Koch beim Betrieb der Wasaer-
filtration nachweisen konnte, traten auch bei der Rieselwirthschaft zu Tage.
Nach Koch’s Ansicht wäre selbst in dem strengen Winter 1892/93 bei sach¬
kundiger Leitung, namentlich bei genügender Ausnutzung der an Stelle von
Staubassins fungirenden umwallten Felder, richtige Funktionirung der Anlage zn
ermöglichen gewesen. Es verstand aber von den betheiligten Personen Niemand
die richtige Behandlung einer Rieselwirthschaft — genau wie bei der Filter-
anlagn! Th&tsächlich floss das Schmutzwasser, welches mit 400000 Keimen
beladen die Anstalt verliess aus dem Hauptdrainrohr der Rieselfelder mit
470000 Keimen durch den Saugraben in die wilde Saale zu der Schöpfstelle für
die Wasserleitung. So konnte der Infektionsstoff mit dem Flüssig¬
keitsstrom ungehindert seinen verhängnissvollen Kreislauf
durch die Anstalt vollenden! Dafür, dass dies geschehen,
lieferte die bakteriologische Untersuchung den unumstöss-
lichen Beweis, denn die Cholera-Bakterien wurden gefunden
im Schmutzwasser bei seinem Eintritt in das Rieselterrain,
auf den Rieselfeldern selbst und in dem Wasser des Haupt¬
drains beim Austritt aus dem Rieselterrain. Sie wurden ferner
gefunden im Wasser der wilden Saale, im filtrirten Wasser
des einen Filters und in dem Wasser, welches einem Leitungs¬
hahn innerhalb der Anstalt entnommen war.
Auch in dieser Epidemie blieb es nicht bei der Wasserinfektion; es kamen
vielmehr häufig sekundäre Infektionen, namentlich in den Pflegeabtheilungen
mit ihren unreinlichen Kranken vor.
Natürlich war sofortige Schliessung der Wasserleitung erforderlich, aber
nicht so leicht dnrehzuführen. Namentlich stiess der Versuch, als Trinkwasser
das von der Stadt Halle in Tonnen herbeigefahrene Leitungswasser zu verwenden,
für die gewaltige Menge des erforderlichen Brauchwassers aber das eigene
Leitungswasser weiter zu verwenden, auf unüberwindliche Schwierigkeiten, die
theils durch sich selbst, theils durch den Charakter der Anstalt bedingt sind.
Wurden doch wiederholt Kranke betroffen, die das Spülwasser der Klosets mit
den Händen schöpften und tranken! Erst die Verlöthung sämmtlicher Auslässe
konnte diesen Missständen dauernd abhelfen.
Bekanntlich traten im Anschluss an die Nietlebener Epidemie vereinzelte
Besprechungen.
489
Choleraherde in der Nähe and «war in Trotha and einigen anderen, fluasabwärta
gelegenen Ortschaften auf. Die Schilderang dieser kleinen sekundären Seuchen¬
herde bietet gerade wegen der Uebcrsichtlichkeit des Zusammenhanges sehr viel
Interessantes and viele schlagende Beweise für die Infektion durch den Wasser-
gennss, so dass Koch mit B«cht sagen-kann: Wer hier noch leugnen
will, dass das Wasser der Träger des Cholera-Infektions-
stoffe« sein kann, der ist für die Logik der Thatsachen über¬
haupt nicht zugängig!
An diesen Ausspruch schliesst sich die aus den politischen Zeitungen
genügsam bekannte Auseinandersetzung mit Pettenkofer und die in viel
lebhafterem Ton gehaltene scharfe und schlagende Abfertigung Liebreich’s.
Dr. Langerhans-Celle.
Besprechungen
Dr. Pactet: Aliönös möconnus et condamnös par les tri-
bunaux. Paris. G. Steinkeil. 1893. 8°. 72 S. 1
Der Verfasser stellt eine Reihe von Krankengeschichten verurtheilter
Geisteskranker, welche er als Irrenarzt in den Asiles de la Seine und als Ge-
fängnissarzt an dem Depot der Pariser Polizeipräfektur beobachten konnte, zu¬
sammen. Es sind 23 Paralytiker, welche durch einfaches Forttragen von Gegen¬
ständen, Vagabondage oder läppische Fälschungen und Betrügereien mit dem
Gesetz in Konflikt gerathen waren, 4 Verrückte, die im Verfolgungswahn die
inkriminirten Handlungen begingen, und 3 Fälle, welche zu den sexuellen
Psychosen gehören, Beispiele für den Taschentuch-, Schürzen- und Haarfetischismus.
Das ist eine kleine Zahl aus der grossen Masse von Geisteskranken, welche
in den Kulturstaaten tagtäglich wegen Gesetzesübertretungen statt in den Irren¬
anstalten in die Gefängnisse geschickt werden; und ich würde bei der mehr¬
fachen Bearbeitung, welche der Zusammenhang der Geisteskrankheiten mit den
Gesetzesübertretungen und die darauf zurückzuführenden thatsächlichen Uebel-
stände bei uns im letzten Jahrzehnt gefunden haben, die kleine französische
Arbeit auch kaum erwähnt haben.
Aber immerhin ist es nicht ohne Interesse, dass der Verfasser im Kapitel
IV, S. 60 ff. ganz zu denselben Anschauungen und Vorschlägen zur Abhülfe
gelangt, wie sie von mir kurze Zeit vorher am Schluss einer Bearbeitung der
Geisteskrankheiten der Korrigenden — Archiv für Psychiatrie und Nervenkrank¬
heiten, Bd. XXU, Heft 2 und 3 — veröffentlicht waren.
Weshalb werden denn so viele Geisteskranke wegen strafbarer Hand¬
lungen verunheilt? Doch wohl nur deshalb, weil unser heutiges Strafverfahren
die Zurechnungsfähigkeit jedes nicht vorher als geisteskrank erklärten Gesetzes¬
übertreters präsumirt, und es dem Zufall überlässt, ob Zweifel an der Zurech¬
nungsfähigkeit bei dem Richter entstehen oder von der Vertheidigung erhoben
werden. Ist das nicht der Fall, und hält sich der Inhaftirte oder Vorgeführte
ruhig, beantwortet die vorgelegten Fragen und benimmt sich nicht ganz auffällig,
so erfolgt der Urtheilsspruch. Nun giebt es eine Unzahl Verrückter, leicht De¬
menter und viele fnnktionell Gestörte, welche diesen Voraussetzungen ebenso
entsprechen werden, wie Paralytiker im Anfang der Krankheit, psychisch Epilep¬
tische in ruhigen Zeiten und andere. Dass sich deshalb unter den Verurtheilten
ein verhältnissmässig grosser Prozentsatz dieser Leute finden muss, ist selbst¬
verständlich.
Wie ist dem aber abzuhelfen?
Ich meinte a. a. 0. „Man führe einfach eine psychiatrische Kontrole aller
Inhaftirten durch psychiatrisch gebildete Gefäugnissärzte ein und lasse das
Resultat jedes Mal zu den entsprechenden Akten geben. Das kann bei in Frage
stehenden Uehertretuugen oder Vergehen eine summarische Notiz sein, bei Unter-
suchungsgefangencn müsste ein kurz motivirtes Gutachten obligatorisch sein.
Diese Feststellung der Zurechnungsfähigkeit müsste ein integrirender
Theil des Vorverfahrens in jeder Strafsache werden. 44
Pactet schreibt etwa ein halbes Jahr später (S. 65 und 66): „Le seul
moyen, veritablement eflieace, d’eviter tous les inconvSnients graves de l’6tat de
490
Tagesnachrichten.
cboses actuel, serait de sonmettre le prövenn, apräs son arrestation, & la visite
d’nn mMecin; en d’autres termes, 1’ ezamen mldical devrait etre la premiere
6tape de l’instraction de tonte affaire d (51ictueu.se an criminelle. Cette opinion,
qui aujourd’hui peut paraitre, une ntopie sera sans doute la banalit6 de demain.*
Kühn- Uslar.
Tagesnachrichten.
Zum ersten Male ist von einer politischen Partei die Reform des staat¬
lichen Medizinalwesens in ihr Wahlprogramm aufgenommen worden. In dem
Wahlaufruf der nationaliiberalen Partei vom 24. September d. J. heisst
es: „Bei Beobachtung weiser Sparsamkeit in allen Dienstzweigen der staatlichen
Verwaltung müssen auch ohne neue Steuerbelastung die Mittel gefunden werden,
um unerlässliche Aufgaben zu erfüllen, wie wir sie.in der Reform
des staatlichen Medizinalwesens erblicken.“ Möge es dem thatkräftigen Vor¬
gehen der nationalliberalen Landtagsmitglieder gelingen, die Reform endlich zur
Durchführung zu bringen!
Auf der diesjährigen am 6. und 7. September in Frankfurt a. M. abge¬
haltenen 29. Hauptversammlung des Deutschen Apothekervereins
stand auch die Konzessionsfrage der Apotheken auf der Tagesordnung und
hat sich die Versammlung dem Anträge ihrer Kommission gemäss, wie nicht
anders zu erwarten war, fast einstimmig für die Realkonzession entschieden.
Der betreffende Antrag lautet wie folgt:
„Es entspricht den Interessen der allgemeinen Volkswohlfahrt sowie
der gedeihlichen Entwickelung der Pharmazie und des Apotheken¬
betriebes in Bezug auf die Versorgung des arzneibedürftigen Publikums
am besten, wenn die frei gewerbliche und veräusserliche Betriebs¬
berechtigung für die Apotheken auch für die Zukunft zur Grundlage
gesetzlicher Massnahmen genommen wird.
Jedes System, welches sich auf anderen Prinzipien aufbaut, würde
eine Erschütterung und Entwerthung der soliden bewährten Grund¬
lagen unseres Standes und unfehlbar eine Schädigung des Allgemein¬
wohls herbeiftihren.“
Ausserdem wurde auf der Versammlung die Wichtigkeit und Nothwendig-
keit einer Standesvertretung anerkannt und die Bestrebungen des Vorstandes
nach dieser Richtung hin gut geheissen.
Dem Bundesrath ist ein Gesetzentwurf zugegangen, wodurch der §. 33
der Gewerbeordnung dahin geändert werden soll, dass der Handel mit Drogen
und chemischen Präparaten untersagt werden kann, wenn Thatsachen vor¬
liegen, welche die Unzuverlässigkeit der Gewerbetreibenden auf diesem Gewerbe¬
betrieb darthun; und dass eine Wiederaufnahme dieses Gewerbebetriebes nur
gestattet werden darf, wenn seit der Untersagung mindestens 5 Jahre verflossen
sind. In der Begründung zu diesem Entwurf heisst es:
„Bei Durchführung der Kaiserlichen Verordnungen vom Januar 1875 und
27. Januar 1890 über den Verkehr mit Arzneimitteln haben sich schwere Uebel-
stände ergeben. Die auf Grund eingehender Beaufsichtigung gewonnenen Er¬
fahrungen haben gelehrt, dass bei vielen Inhabern von Drogeuhandlungen eine
starke Neigung besteht, den Vorschriften, welche den Vertrieb von Arzneimitteln
von dem Geschäftsverkehr der Drogisteu ausschliessen, beharrlich zuwiderhandeln.
Diese Uebertretungen beschränken sich in einer sehr grossen Zahl von Fällen
nicht auf die Abgabe der für den täglichen Verkehr bereitstehenden Arzneimittel
und Zubereitungen, sondern erstrecken sich auch auf die Anfertigung jedweder
Arzneiverordnung (Rezept), und zwar ohue Rücksicht darauf, ob diese direkte
oder indirekte Gifte enthält oder nicht, so dass der Volksmund thatsächlich nicht
im Unrecht ist, wenn er die Drogenhandlungen mit dem Namen „wilde
Apotheken“ belegt.
Die Gefährlichkeit, welche dieses gesetzwidrige Treiben schon an sich
Tagesnachrichten.
491
für die gesundheitlichen Interessen des grossen Publikums im Gefolge hat,
erhöht sich wesentlich dadurch, dass, wie vielfach angestellte Ermittelungen
ergeben haben, das in den Drogenhandlungen beschäftigte Personal, welches mit
der Zubereitung der Medikamente befasst ist, zum weitaus grössten Theile
jeglicher sachverständigen Schulung entbehrt und vielfach sogar der lateinischen
Sprache, in welcher die Rezepte abgefasst sind, nicht mächtig ist.
Es kommt überdies hinzu, dass die Zubereitung der Arzneimittel in den
Drogenhandlungen ans naheliegenden Gründen in der Regel im Geheimen vor¬
genommen wird und zu diesem Behufe in möglichst abgelegenen Privaträumen,
Schlafzimmern, Alkoven und sonstigen den beaufsichtigenden Beamten nicht
zugängigen Gelassen erfolgt, in denen die zur Rezeptur erforderlichen Mittel
und Sondergeräthe in durchaus unzulänglicher Weise, oft im wilden Durchein¬
ander (Gifte, wie Sublimat, Morphium, Quecksilberjodid, Opiumtinktur neben
Ammonium choleratum pulverat., Goldschwefel, Rhabarbertinktur u. s. w.) auf¬
bewahrt werden.
Der im weitesten Umfange gemachte Versuch, durch Ausübung einer
scharfen Kontrole und Herbeiführung der Bestrafung der den bestehenden
Vorschriften Zuwiderhandelnden diesem Unwesen zn steuern, ist ergehnisslos
geblieben.
Die Ursache dieses Misserfolges liegt in der Unzulänglichkeit der den
Behörden nach der geltenden Gesetzgebung zustehenden Befugnisse und nament¬
lich darin, dass die dreistesten Uebertretungen auch bei mehrfachen Wieder¬
holungen nur mit einer verhältnissmässig geringen Geldstrafe oder kurzen Haft¬
strafe geahndet werden, erstere aber durch die Einnahmen aus den begangenen
Uebertretungen bereits gedeckt ist oder doch bald durch neue Uebertretungen
gedeckt werden kann und letztere erfahrungsgemäss auch noch des genügenden
Nachdrucks entbehren, um abschreckend zu wirken.
Es erübrigt daher nur, die Rechtsnachtheile, welche gegenwärtig an die
Uebertrctung der fraglichen Bestimmungen geknüpft sind, erheblich zu ver¬
schärfen und einschneidender zu gestalten; zu diesem Behufe erscheint es am
zweckmässigsten, diejenigen Personen, welche den Handel mit Drogen und
chemischen Präparaten betreiben, in die Zahl solcher Gewerbetreibender aufzu¬
nehmen, welche den Bestimmungen des §. 35 der Gewerbeordnung gemäss bei
Eröffnung ihres Geschäftsbetriebes der zuständigen Behörde hiervon eine be¬
sondere Anzeige zu machen haben und denen von dieser die Fortsetzung des
Gewerbebetriebes untersagt werden kann.“
Cholera. Aus Deutschland ist leider der Wiederausbruch der Cholera
in Hamburg zu melden. Die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle hat sich
allerdings bisher in massigen Grenzen gehalten und betrug vom 15.—18. Sep¬
tember; 9 (5), am 19. Sept.: 6 (2), am 20. Sjpt.: 10 (3), am 21. Scpt: 12 (2),
am 22. Sept.: 17 (3), am 23. Sept.: 14 (4), am 24. Sept.: 7 (9), am 25. Sept.: 8 (4),
am 26. Sept.: 5 (1), am 27. Sept.: 6 (0), zusammen: 94 Erkrankungen und
33 Todesfälle. Als Ursache wird eine Verschlechterung des Leitungswassers
bezeichnet, hervorgerufen durch Zufluss von unflltrirtem Elbwasser in Folge einer
unvermuthet eingetretenen Bodensenkung im alten Schöpfkanal.
Auch in Altona sind in der Zeit vom 15.—27. September 11 Cholera-
Erkrankungen mit 5 Todesfällen vorgekommen; ausserdem in Itzehoe: 2 (—),
in Kiel: 1 (—), in Berlin: 3 (1), in Emmerich: 1 (1), in Wauhein bei Duis¬
burg : 1 (1), in Heerdt (Kreis Neuss): 1 (—), in Ruhrort: 1 (—), in Bodenwerder
bei Hameln: 2 (1), in Lauterbach (Eisass): 2 (1), auf einem Oderschiffe zwischen
Siettin und Schwedt: 1 (1), in Stettin selbst: 1 (1), zusammen 27 Erkrankungen
und 14 Todesfälle.
Die gesundheitspolizeiliche Ueberwachnngen im Stromgebiet der Elbe ist
durch Einrichtung von Schiflfskontrolstationen in Altona, Hamburg, Lauenburg
und Hitzacker erweitert.
In Oesterreich ist eine geringere Ausbreitung der Seuche in Galizien
noch nicht ersichtlich; vom 6.—12. September sind aus 26 Gemeinden
107 Erkrankungen und 77 Todesfälle, vom 13.—19. September 149 bezw. 84
492
Tagesnachrichten.
gemeldet, zusammen 256 Erkrankungen und 161 Todesfälle gegen 256 bezw.
134 in dem vorhergehenden vierzehntägigen Zeitraum. Auch in Lemberg sind
in neuester Zeit Choleraf&lle (33 Erk. und 11 Todesf.) vorgekommen. Am
meisten infizirt ist noch immer der Bezirk Nadworna (vom 6.—19. Sept.: 104 ErL
und 43 Todesf.), ausserdem noch der Bezirk Sanock (57 Erk. und 16 Todes!.).
Die Gesammtzahl der Erkrankungen stellt sich seit dem ersten Auftreten der
Krankheit in Galizien auf 649 mit 400 Todesfällen in 78 Gemeinden, davon in
den Bezirken Nadworna 318 (192), Kolomea 95 (51), Sanock 55 (28).
Eine wesentliche Abnahme hat dagegen die Ausbreitung der Cholera in
Ungarn erfahren, denn die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle ist von 633 bezw.
429 in der Woche vom 30. Aug. bis 8. Sept. auf 235 bezw. 160 in der Woche
vom 6.—12. Sept. gefallen, und die Zahl der infizirten Komitate von 29 auf
20, diejenigen der infizirten Gemeinden von 216 auf 107. Am meisten herrscht
die Cholera noch immer in den Komitaten Marmaros (vom 30. Aug. bis 11. Sept.:
242 Erk. und 111 Todesf.), Scalbolsk, Szathmar, Kun-Szolnock und Bereg.
In Rumänien betrug die Zahl der Cholera - Erkrankungen vom 1. bis
7. Sept. 182 mit 118 Todesfällen, davon 59 (42) in Braila, 21 (5) in Galatz,
19 (15) in Sulina, 4 in Buckarest u. s w.; vom 8. bis 17. Septbr.: 150 (91),
davon 42 (31) in Braila, 10 (5) in Galatz, 5 (3) in Sulina u. s. w. ; es hat somit
eine geringe Abnahme der Seuche stattgefunden.
Die in der Irrenheilanstalt zu Skutari (Türkei) ausgebrochene Cholera-
Epidemie ist im Erlöschen begriffen; in den letzten Wochen sind nur noch
wenige Erkrankungen vorgekommen. Dagegen ist die Seuche in der Stadt
selbst aufgetreten, bisher allerdings nur in massigem Grade (21 Erk. u. 5 Todesf.).
Etwas stärker scheint sie in Smyrna verbreitet zu sein; vom 6.—14. Sept.:
55 Erk. und 45 Todesfälle.
Aus Frankreich wird der Ausbruch der Cholera in Brest und Umgegend
(vom 16.—22. Sept.: 126 Todesf.) und Charleroi gemeldet; in Nantes belief sich
die Zahl der Erkrankungen vom 33. Aug. bis 13. Sept. auf 228 mit 150 Todes¬
fällen. Von Frankreich aus scheint die Seuche nach Spanien verschleppt zu
sein und zwar nach Bilbao und Umgegend; die Zahl der Erkrankungen bis
zum 18. Sept. betrug 17 mit 4 Todesfällen.
In Belgien sind seit dem Auftreten der Seuche bis zum 9. September
zusammen 132 Erkrankungen und 98 Todesfälle in 46 Ortschaften vorgekommen;
die meisten davon in Antwerpen (78 bezw. 51).
In Holland sind in den letzten Wochen nur vereinzelte Erkrankungs¬
und Todesfälle aus 25 verschiedenen Gemeinden angemeldet; darunter aus Rot¬
terdam 5 (3), aus Amsterdam 1 Todesfall.
In England sind zwar an verschiedenen Orten (Leicester, Ashbourne,
New-Castle, Grimsby, Hüll, Leeds u. s. w.) einzelne Cholera-Erkrankungen be¬
obachtet, zu einer epidemischen Ausbreitung der Krankheit ist es aber nirgends
gekommen.
In Italien hat die Cholera in Neapel nachgelassen, in Livorno und
Palermo dagegen zugenommeu. Vom 14.—26. September sind in Livorno
104 Erkrankungen mit 39 Todesfällen, in Palermo vom 17.—26. Sept.: 148 Er¬
krankungen mit 83 Todesfällen gemeldet (seit Ausbruch der Seuche 339 Erk.
mit 183 Todesfällen).
In Russland tritt im Allgemeinen eine Abnahme der Seuche zu Tage,
besonders in den Gouvernements Moskau, Orel, Tula, Grodno, Lomsha, Kursk
u. s. w. Dagegen macht sich eine solche in Petersburg nicht bemerkbar; auch
in Wilna und Umgegend ist die Seuche aufgetreten. Die Zahl der Erkrankungen
bezw. Todesfälle betrug in der Zeit vom 11.—26. Sept. in Petersburg: 756(320),
in Moskau: 82 (50), in der Zeit vom 27. Aug. bis 16. Sept. in den Gouverne¬
ments Lomsha: 295 (168), Orel: 1259 (452), Tula: 1014 (360), Minsk: 262 (104)
Grodno: 436 (184), vom 27. Aug. bis 9. Sept. in Podolien: 2362 (777), Kursk:
1045 (376), vom 3.—16. September im Gouvernement Moskau 516 (236), Woro-
nesh: 858 (461).
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden L W.
J. 0. C. Brnni, Baehdrackeret, Minden.
==* Zeitschrift —
für
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG
San.-Rath u.gerichtl.Staatphysikus in Berlin.
Dr. OTTO RAPMUND
Reg.- und Meduinalrath in Mindrn
und
Dr. WILH. SANDER
Medi/inalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer's mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlung und Rad. Mosse
entgegen.
No. 20.
Erncheint am 1« and 15. Jeden Monats.
Preis jährlich 10 Mark.
15. Oktbr.
Ueber Aggravation bei Augenverletzungen.
(Amblyopia vera et spuria.)
Von Dr. Ohlemann in Minden, früher Kreiswundarzt des Kreises Osterholz.
In den klinischen Monatsblättern ttir Augenheilkunde von
Zehender, 31. Jahrgang, Aprilheft, pag. 134, schreibt Sanitäts¬
rath Dr. Wicherkiewicz: „Die zur Hebung der sozialen Lage
unserer Arbeiter in dem letzten Decennium promulgirten Gesetze
haben in einer fast ungeahnten Weise dazu beigetragen, dass die
Zahl der Simulanten, welche das Gesetz zu ihrem Vortheil miss¬
brauchen möchten, sehr stark zunimmt.“ — Aehnliche Aeusse-
rungen finden sich auch in den politischen Tagesblättern. So
berichtet ein Referent in den Berliner Neuesten Nachrichten zu
Anfang dieses Jahres, dass die Zahl der Simulanten durch die
Unfall - Versicherungs-Gesetzgebung einen ungemein hohen Grad
erreicht habe, und dass es leider der medizinischen Wissenschaft
noch nicht geglückt sei, die Entlarvung derselben so herbeizu¬
führen, dass die richterlichen Entscheidungen zu ihren Ungunsten
ausfielen, fast immer gelinge es ihnen in den höheren Instanzen
ihre Ansprüche durchzusetzen. Solche Erfahrungen lassen es noth-
wendig erscheinen, die Kasuistik derartiger Fälle mehr als bis
jetzt zu berücksichtigen, damit der attestirende Arzt in seinen
geriehtlicherseits erforderten motivirten Gutachten in der Literatur
ein Unterstützungsmittel für seine Begutachtungen findet.
Von Interesse dürften deshalb besonders solche Fälle sein,
die einmal, was die Augenverletzungen anlangen, die Grenzgebiete
der Amblyopie und Asthenopie betreffen, und in denen kein oder
nur geringer ophthalmoskopischer Befund vorhanden ist, anderer¬
seits eine Modifikation der bekannten Entdeckungsmittel von Simu¬
lation und Aggravation nöthig machen. Denn gleichzeitig mit der
Zahl der Simulanten hat auch deren Spitzfindigkeit und Ver-
*) Sch in i dt-Rim p ler: Augenheilkunde, 1887, S. 159.
494
Dr. Ohlemann.
schlagenheit zugenommen, und mit den Methoden der Handbücher
reicht der praktische Arzt nicht immer aus; häufig genug muss er
zur List greifen, um der Verschlagenheit Herr zu werden. Schwer
genug wird es ihm wahrlich, bringt doch sein Beruf es mit sich,
in einem ihn Konsultirenden zunächst und nur einen Hülfesuchen-
den zu erblicken; es kommt ihm nicht in den Sinn, daran zu
denken, dass seine Hülfe gemissbraucht werden könne, dass dem
Hülfesuchenden es gar nicht um Rath und Hülfe zu thun ist, dass
dieser nur nach einem Atteste angelt. Bona ftde glaubt er einem
ihm wildfremden Menschen, der ihm erzählt, wie er bei der Arbeit
eine Contusio bulbi erlitten habe, wie er nicht mehr sehen könne
und bescheinigt ihm nachher eine Verletzung, die entweder gar
nicht stattgefunden hat oder aufs massloseste übertrieben ist oder
sich in anderer Weise zutrug. Wo es sich also um derartige
Attestirungen von Verletzungen handelt, ist der Arzt wohl be¬
rechtigt, seinen Patienten auch auf seine allgemeine Glaubwürdig¬
keit hin zu prüfen und sich dazu Methoden zu bedienen, deren
Zweck dem Konsultirenden verborgen ist.
Die meisten Schwierigkeiten machen hierbei dem Praktiker die
Fälle von simulirter Amblyopie oder Asthenopie oder eine Aggra¬
vation derselben und wird es ihm mitunter schwer fallen, im gegebe¬
nen Momente die Diagnose richtig zu stellen und den Fall in die
richtige Kategorie zu bringen. Es dürfte daher nicht überflüssig
erscheinen, die einzelnen Arten der Schwachsichtigkeit zusammen-
zustelleu, an die der Arzt denken muss, wenn ein angeblich Ver¬
letzter ihn konsultirt mit der Klage, er könne nicht mehr ordent¬
lich sehen. Es sei hier abgesehen von Trübungen der brechenden
Medien, von Refraktionsanomalien; denn solche machen ebensowenig
Schwierigkeiten, wie Erkrankungen mit deutlichen Veränderungen
am Augenhintergrunde, sondern es interessiren nur die zweifelhaften
Fälle mit geringem oder ohne Befund. Es kommt z. B. ein Arbeiter
mit der Klage, seine Verletzung sei wieder geheilt, aber er könne
noch nicht ordentlich sehen, nach wenigen Minuten der Arbeit
fange sein Auge an zu thränen, es werde ihm dunkel vor den
Augen, er müsse die Arbeit niederlegen. Man denkt da zunächst
an Asthenopie. Die muskuläre Form derselben sowie die accomo-
dative wären, je nach der Art der Arbeit meist, wenn auch nicht
immer, auszuschliessen. Die erstere Art, besser charakterisirt als
Insufiicienz der recti interni, kommt wohl vorwiegend nur beim
Lesen und Schreiben vor und lässt sich bei der Prismauntersuchung
durch gekreuzte Doppelbilder nachweisen. Ist z. B. der Muse,
rectus int. sin. insufficient, so ist Folgendes der Beweis: Man
hält vor das linke Auge ein Prisma von etwa 10—15°, Basis nach
unten, und lässt mit beiden Augen einen Punkt auf 30 cm Ent¬
fernung fixiren. Bei normalen rectis internis sieht man dann zwei
Punkte, die gerade übereinander stehen, bei der Insufficienz des
internus rückt der Punkt, der dem linken Auge angehört, nach
rechts herüber, es ist der höher stehende. Die letztere, die acco-
modative Asthenopie, ist meist Begleiterin von Hypermetropie und
Myopie und so durch das Refraktionsophthalmoskop nachzuweisen.
Ueber Aggravation bei Angenverletzongen.
495
Schwieriger dürfte es sein, asthenopische Beschwerden bei Acco-
modationskrampf und abnormer Accomodationsspannung ohne Re¬
fraktionsanomalien zu erkennen, wenn Jemand behauptete, es
rührten seine Beschwerden von einer Verletzung her. Schmidt-
Rim pl er (pag. 118) führt Fälle von v. Graefe aus Berlin an,
wo kleinere Verletzungen die Ursache abgegeben hatten, besonders
Kontusionen des Bulbus. Allein hier findet sich meist Myosis, die
Prognose ist günstig und betrifft wohl meist nur jugendliche Personen.
Es käme dann in Betracht die nervöse Asthenopie, oder
Asthenopia retinae. Dieser Zustand veranlasst in der That Be¬
schwerden bei anhaltendem Arbeiten mit Verschwimmen der Gegen¬
stände und Dunkelwerden vor den Augen. Selbst Stirnschmerzen
können bestehen und starke Empfindlichkeit gegen Licht. Nicht
unähnlich sind diese Beschwerden denen von Anaesthesia und
Hyperaesthesia retinae, Formen, welche von der Asthenopie
hinüberleiten in das Grenzgebiet der Amblyopie. Bei der Anae¬
sthesia retinae findet sich neben der Schwachsichtigkeit eine
konzentrische Gesichtsfeld - Einengung, bei der Hyperaesthesie
neben den nervösen Klagen eine auffällige Besserung der Seh¬
schärfe bei herabgesetzter Beleuchtung. Wie soll man da einem
derartig Klagenden nachweisen, wo die Grenze seiner Beschwerden
liegt, wo die Aggravation anfängt? Nun da müssen wir an die
Aetiologie denken. Sämmtliche Formen dieser Art, wenn auch
Traumen die Ursache sein können, kommen doch meist bei Frauen
und Kindern vor, meist handelt es sich dabei um neurasthenische
oder anämische Personen bei Genitalerkrankungen oder konstitutio¬
nellen Anomalien.
Ferner findet sich schon im Handbuche für Augenkrankheiten
vou Schweigger aus dem Jahre 1871 p. 521 ein ganz vorzüg¬
liches diagnostisches Erkennungsmittel. Bei den Sehprüfungen
nämlich ermüden die wirklich Kranken binnen wenigen Minuten
derart, dass die Untersuchung abgebrochen werden muss. Jn der
neuesten Auflage von Schweigger’s Ophthalmologie von diesem
Jahre p. 494 heisst es, dass, während das Gesichtsfeld beinahe
auf den Fixirpunkt beschränkt angegeben wird, die freie Orien-
tirung beim Gehen auf der Strasse durchaus nicht beschränkt oder
beeinträchtigt sei. Die Entwickelung dieses Zustandes der Seh¬
störung geht ziemlich rasch unter gleichzeitigem Auftreten der
bereits erwähnten asthenopischen Beschwerden. Es tritt rasche
Ermüdung beim Arbeiten ein, gefolgt von Schwachsichtigkeit und
dieser Gesichtsfeldverengerung.
Bei den einseitigen, durch Trauma entstandenen Formen ist
die Sehschärfe nur mässig herabgesetzt, selten geringer als l j 4 der
normalen. Aber auch hier besteht keine Regel, denn auch erheb¬
lichere Ausfälle kommen vor. Die Schwierigkeit der Diagnose
wird vermehrt dadurch, dass sich die einzelnen Angaben des
Patienten widersprechen können, ohne dass man an Simulation zu
glauben braucht. Da kommt es denn auf die ganze Anamnese an
und auf die übrigen Proben hinsichtlich der Glaubwürdigkeit,
um sich ein richtiges Urtheil zu bilden. Schliesslich ist auch der
496
Dr. Ohlem&nn.
Verlauf von Wichtigkeit für die Auffassung. Die Prognose ist
eine günstige, eine Heilung in einigen Wochen bis Monaten
meist zu erreichen.
Besonders in Erwägung zu ziehen ist die reflektorische
und traumatische Amblyopie. Es sind nicht die Fälle gemeint,
welche als Folgezustände eines vorher am anderen Auge Ver¬
letzten Vorkommen und als sympathische Neurose beschrieben sind,
sondern es sind die Fälle gemeint, wo Schwachsichtigkeit, ja Er¬
blindung in Folge von Kontusionen des Auges und selbst seiner
Umgebung eintrat, wie Stoss gegen den Unterkiefer. Trifft eine
Kontusion den Bulbus selbst, ohne äusserlich eine Spur zu hinter¬
lassen, so kann doch intraokular eine Einwirkung vorhanden sein —
ich betone immer wieder, dass die Fälle, in denen Veränderung
wahrnehmbar sind, wie z. B. Netzhautablösung, Netzhauttrübung,
meist als wohl charakterisirbar hier ausgeschlossen sind, — es
kann eine Trübung des Glaskörpers eintreten mit Herabsetzung
der Sehschärfe, ja es kann selbst Erblindung erfolgen. Allein wie
ist der Verlauf solcher Fälle? Die Prognose ist günstig, wenn
nicht Netzhautablösung vorliegt, selbst Amaurose kann wieder
zurückgehen, die Trübung der Retina verliert sich bereits nach
einigen Tagen; aufgetretene periphere Gesichtsfelddefekte gehen
bald zurück. An eine Aggravation kann man dann wohl denken,
wenn ein Arbeiter nach leichter Kontusion permanent bei seinen
Klagen bleibt, ohne dass man ophthalmoskopisch irgend einen Be¬
fund hat. Wenn wohl Grund vorhanden ist, an Simulation zu
denken, so bliebe zu prüfen, so bald über Schwachsichtigkeit nach
Verletzungen geklagt wird, ob die Schwachsichtigkeit eine zentrale
oder periphere ist, oder ob keine Beschränkung des Gesichtsfeldes
ohne Skotom besteht, also eine einfache Herabsetzung der Seh¬
schärfe. Gar manche als Folge von Contusio bulbi angesehene
Amblyopie kann beruhen in den diätetischen Verhältnissen und
der Lebensweise des Kranken. Schweigger nennt Verdauungs¬
beschwerden, Unregelmässigkeiten der Blutzirkulation, besonders
anhaltende Kälte der Unterextremitäten, unregelmässigen Schlaf,
übermässige Anstrengung der Augen, übermässiges Rauchen und
— by no means least — abusus spirituosorum. Hieraus erklärt sich,
dass diese Form der Amblyopie, kurzhin Intoxikationsamblyopie
genannt, vorzugsweise bei den Männern vorkommt. Allein bei
diesen Formen der wahren Amblyopie findet man zentrale Skotome
mit Herabsetzung des Fabensinnes innerhalb derselben, so zwar,
dass Roth undeutlich, dunkel wird, Grün grau erscheint, Gelb
bräunlich. Die Erkennung von Blau bleibt meist erhalten.
Die noch übrigen Amblyopien, wie kongenitale, die A. ex
Anopsia, Hemianopsie, Hemeralopie, Nyktalopie, das Flimmerskotom,
sind klinisch zu wohl charakterisirt, als dass sie Schwierigkeiten
bei der Beurtheilung von Verletzungen oder angeblichen Ver¬
letzungen bildeten. Dasselbe gilt von einigen besonderen patholo¬
gischen Fällen: Amblyopien bei Uraemie, Intoxikationen bei Blei-
und Chininpräparaten, nach grösseren Dosen von Salicylsäure, Kar¬
bolvergiftung, nach Haemorrhagien irgend welcher Art. Auch bei
Lieber Aggravation bei Augcnverletzungcn. t J97
Arbeitern in Guttaperchafabriken soll durch Einwirkung' des
»Schwefelkohlenstoffes eine Amblyopie beobachtet sein.
Was für Hülfsmittel besitzt nun der Arzt, um die Frage der
Simulation oder Aggravation zu entscheiden? Da giebt es ein¬
fache, aber auch komplizirte Fälle, je nachdem absolut das Sehen
simulirt. d. h. absolute Amaurose angegeben oder nur Schwach¬
sichtigkeit vorgeschützt wird, dann wieder, je nachdem das zweite
Auge als ganz gesund mit normaler Sehschärfe vorhanden oder
dieses ohne irgend eine Verletzung durch eine andere Ursache
bereits amblyopisch ist. Solche letztere Fälle sind die schwie¬
rigsten und sind in der Kasuistik auch am wenigsten vertreten.
Da wo S = 0 sein soll auf einem Auge sind die Prisma¬
prüfungen die besten Mittel, bald führt die Welz’sehe Probe,
bald die von Alfred Graefe zum Ziel. In neuerer Zeit hat
Burchardt eine Methode mittels Stereoskopen angegeben; eine
eben solche, kombinirt mit Prismen, findet sich im Flöes’sehen
Apparat, wobei bald farbige Gläser, bald die Stilling’sehen
Farbentafeln benutzt werden, deren Prinzip darin beruht, dass der
zu Untersuchende mittelst der Prismen nicht weiss, welches Bild
dem gesunden und welches dem angeblich blinden gehört. 1 )
Schwieriger ist der Nachweis einseitiger übertriebener
Schwachsichtigkeit. Hat man nach genauer Untersuchung keine
anatomische Ursache der behaupteten Schwachsichtigkeit gefunden,
hat man nichts übersehen, auch auf Astigmatismus, Ablenkung der
Augenaxen geachtet, ebenso auf die Klarheit der brechenden
Medien, hat man sich aller der verschiedenen Formen von Am¬
blyopie, die im Vorstehenden kurz skizzirt sind, erinnert, so geht
man kaltblütig zunächst an die Sehprüfung, deren Resultat man
sich notirt. Man bedient sich dabei am Besten der Sehproben für
die Nähe und Ferne von Schweigger und achtet auch darauf,
ob ein erhebliches Missverhältniss zwischen beiden Prüfungen vor¬
handen ist. Häufig sind jedoch Simulanten so schlau, dass man
dabei keine genügenden Anhaltspunkte findet, dann benutzt man
die gewonnenen Resultate zu späteren Vergleichungen. Dies ist
auch deshalb um so wichtiger, als die Unfalls-Versicherungs-
Behörde den genauen Prozentsatz des Verlustes zu wissen wünscht.
Ist ferner eine gewisse Zeit vergangen nach dieser Untersuchung
und prüft man dann wieder, so kann man nicht unerhebliche
Schwankungen in den Angaben erhalten, die dann natürlich ver¬
schärfte Aufmerksamkeit wachrufen. Alsdann prüft man auf andere
Weise die Glaubwürdigkeit des zu Untersuchenden. Dazu giebt
es mehrere Wege. Schmidt-Rimpler empfiehlt die Prüfung des
Gesichtsfeldes in verschiedenen Entfernungen. Das Gesichtsfeld
ist in geringeren Entfernungen, z. B. 1 Fuss kleiner als in 1 m.
Giebt Jemand, den man auch aus anderen Gründen kein rechtes
Vertrauen auf seine Aussagen schenken kann, das Gesichts¬
feld für verschiedene Distanzen gleichmässig an, so ist damit
eine absichtliche Unwahrheit nachgewiesen. Sollte man mit dieser
‘) Schmidt-Rimpler: Augenheilkunde; pag. 154—159.
498 .
Dr. Ohlemann.
Methode nicht auskommen können, weil eine Unbestimmtheit in
den Angaben oder in der Deutung liegen kann, da es ja auch
schon eines gewissen guten Willens seitens des zu Untersuchenden
bedarf, um das Gesichtsfeld richtig prüfen zu können, wobei auch
unbeabsichtigte Irrthümer bei der zentralen Fixation und der peri¬
pheren Bewegung der Hand mit unterlaufen können, so ist das Ver¬
fahren empfehlenswerth, welches gleichfalls schon von Schmidt-
Rimpler erwähnt (pag. 158) von Wicherkiewicz neuerdings
wieder mehr empfohlen wird. Die Methode besteht in dem Vor¬
setzen eines starken Konvexglases, etwa 20 D, vor das gesunde
Auge, mit dem man sich allein zu beschäftigen den Anschein giebt.
Vor das angeblich amblyopische Auge setzt man dagegen ein ganz
schwaches Konvexglas, etwa 1 D (Nr. 40), und lässt dann in 5 bis
6 Meter nach den Schweigger’sehen Tafeln sehen. Nach den
Erfahrungen, die W. damit gemacht hat, ist es ihm gelungen,
Simulanten auf diese Weise zu entlarven. Allein Schmidt-
Rim p ler bemerkt schon, dass einigermassen unterrichtete Simu¬
lanten sich hierdurch nicht fangen lassen, auch W. giebt dies zu,
und hat sein „aber“ bei der Sache: „man dürfte dem zu Unter¬
suchenden keine Zeit lassen und müsse ihn ansporen, die Probe¬
buchstaben rasch zu nennen.“
Wicherkiewicz erwähnt auch noch ein Verfahren bei
Simulation völliger Amaurose, bei dem es sich aber nur um den
Nachweis von Lichtschein handelt und das vielleicht nur verwendbar
ist bei noch vorhandener Pupillarreaktion. Der Arzt drückt gelbst
die Lidspalten beider Augen zu, während er mit dem Augenspiegel
das Licht bald auf das eine, bald auf das andere geschlossene
Auge im raschen Wechsel fallen lässt und nun nach hell und dunkel
fragt. Sehr bald soll der Simulant das Aufleuchten vor dem an¬
geblich gänzlich blinden Auge verrathen.
Ohne den Anspruch zu erheben, eine neue Methode gefunden zu
haben, hat mir folgendes Verfahren zu einem raschen Eingeständniss
des Simulanten geführt. Und darauf möchte ich den Hauptwerth
legen, dass der zu Untersuchende auch zugiebt. worauf es an¬
kommt, man möchte beinahe sagen in höchst naiver Weise, wobei man
keineswegs rasch zu arbeiten braucht, aber doch sich so verhalten
muss, als ob man keinen Zweitel in die Angaben des zu Untersuchen¬
den setzt. Es ist ein Prismaversuch. Ich schicke zur Orientirung
voraus, dass, wenn man irgend ein Prisma etwa 10 0 vor ein Auge
mit der Basis nach unten hält, ein in einigen Metern Entfernung
aufgestelltes Licht bekanntlich doppelt gesehen wird, ein oberes
und ein unteres, wenn man nun vor das zweite Auge ein eben
solches und ebenso Basis nach unten hält, dann sieht man wieder
nur ein Licht. Durch eine leichte, irgend beliebige Drehung
eines Prisma’s nur ist man im Stande, sofort wieder Doppelbilder
hervorzurufen. Ich operirte nun folgendermassen: Ich hielt dem
zu Untersuchenden, dessen Angaben über seine angeblich noch
nicht wiedererlangte Arbeitsfähigkeit in Zweifel kamen, ein Prisma
von 10° in der eben angedeuten Weise vor ein Auge, stellte ein
Licht in 4 Meter auf und fragte, wie viel Lichter er sehe. Er
lieber Aggravation bei Augenverletzungen.
499
antwortete ganz richtig: ich sehe zwei. Nun nahm ich das Prisma
weg und hielt es vor das andere Auge, fragend, und wieviel nun ?
wiederum Antwort richtig: 2; darauf, indem ich wie beiläufig be¬
merkte, das macht zusammen 4, hielt ich nun vor jedes Auge ein
Prisma von IO 0 , Basis unten und fragte dann, wieviel sehen Sie
nun? Da kam die überraschende Antwort: 4, alsdann gab ich
dem einen Prisma eine kleine Drehung und fragte wieder, wieviel
jetzt? Wiederum Antwort: 4; ich drehte beide Prismen beliebig,
jedesmal kam dieselbe Antwort: 4 Lichter. Nach Schluss des
Versuches erst sprach ich mein Bedenken aus über die Richtigkeit
der Angaben, darauf sagte der Mann: „Sie haben mir ja aber
auch vor jedes Auge ein Glas gehalten! Dabei blieb er auch, als
ich einige Wochen später ihn selbst in Gegenwart von Zeugen
auf diese Aussage aufmerksam machte. Selbstredend wurde er
nicht aufgeklärt, wohl aber das zuständige Königl. Amtsgericht.
Dass ihm seitens des Untersuchers eine falsche Angabe gewisser-
massen suggestionirt wäre, wird man wohl kaum annehmen können,
besonders wenn man die Ueberlegung des Mannes bedenkt, die er
bei seinem Einwande dokumentirte. Der Mann kalkulirte offenbar,
er müsse 4 Bilder sehen oder er verrathe sich, daher auch die
wiederholte naive Ausrede, er habe ja vor jedem Auge ein Glas
gehabt. Auch das langsame Prüfen unterstützt die Sache, veran¬
lasst man den Simulanten zu raschem Antworten, so merkt er eher,
dass man ihm eine Falle stellen will, und er wird leichter kopfscheu.
In überraschender Weise wurde das Sehvermögen eines
Mannes auf andere, eigentlich nicht erwartete Weise rasch ge¬
bessert : Auf Treu und Glauben wurde bei einem Streckenarbeiter
angenommen, dass er trotz Drahtschutzbrille durch Steintrümmer
beim Steinklopfeu eine Contusio bulbi davongetragen habe mit
S= l /s 6 —V 24 ) so weit ich erinnere. Ophthalmoskopisch fand sich
leichte Trübung des Augenhintergrundes, doch sehr an der Grenze
des normalen. Da die Chorioidea stark pigmentirt war, hätte man
den Befund, wenn keine Verletzung angegeben wäre, wohl normal
halten können. So hatte es den Anschein, als ob die Verletzung
zu jenen Formen der Folgen einer Kontusion gehört, die als
Commotio retinae beschrieben, sich als eigenthümliche ödematöse
Trübung der N etzhaut charakterisirt (Schmidt-Rimpler pag. 273).
Eben so gut hätte man aber auch das ophthalmoskopische Bild
für leichte Glaskörpertrübung ansehen können. Eine Netzhaut¬
ablösung war nicht erkennbar. Das nicht verletzte Auge hatte
S = ti / 24 . Die betreffende Behörde sandte den Mann in das Kranken¬
haus. Die Behandlung sollte eingeleitet werden mit Heurteloup,
Diaphorese und Jodkalium. Schon beim Heurteloup aber fing der
Mann an renitent zu werden, „det will ik nich hebben“ rief er
energisch, und schüttelte mit dem Kopfe den Heurteloup ab. Am
6 . Tage kam er unter irgend einem Vorwände, er müsse nach
Hause, er wolle untersucht werden. Der Gefalle wurde ihm ge-
than, er gab mit dem verletzten Auge S = 6 / 1R an, mit dem nicht
verletzten wie früher 6 / 24 . Ein zentrales Skotom war nicht nach¬
weisbar.
500 Dr. Ohlemann: Ueber Aggravation bei Augenverletzungen.
In einem anderen Falle, betreffend einen eingezogenen Re¬
kruten aus dem Eisass, welcher mir durch einen der Herren
Stabsärzte überwiesen war, und der hochgradige Amblyopie beider
Augen angab, fand sich ophthalmoskopisch */» D* Myopie, brechende
Medien klar, kein Astigmatismus, kein Strabismus, kein intraoku¬
lares Leiden. Der Mann wurde in’s Lazareth geschickt, und ge¬
lang es ohne weitere Behandlung ihn dort zum Sehen zu bringen,
die Lazarethkost allein hatte ihn mürbe gemacht, jedoch dauerte es
6 Wochen.
Solche Fälle lassen die Frage aufwerfen, ob es gerechtfertigt
ist, da, wo man Amblyopie glaubt simulirt zu finden, sie ebenso
zu behandeln wie wahre, beispielsweise Intoxikation - Amblyopie,
d. h. mit Blutentziehungen, Schwitz- und anderen Mitteln, vor
Allem in einer Anstalt, wo möglich mit Injektionen von Pilokarpin.
Handelt es sich um eine Amblyopia vera, dann ist die Be¬
handlung einwandfrei, ist sie aber eine Amblyopia spuria, so würde
eine solche Behandlung sicher zur Klärung der Diagnose beitragen,
sie würde ganz besonders gerechtfertigt sein, wenn man zu Gunsten
des zu Untersuchenden eine genuine Schwachsichtigkeit annehme.
Wie vorsichtig man im Glauben an die dem Arzte gemachten
Angaben sein muss, lehrt auch noch folgender Fall: Zu mir kam
ein Mann vom Lande mit einer frischen Augenverletzung. Die
Diagnose ergab Linsenluxation. Er wünschte ein Attest darüber
und gab an, dass die Verletzung durch ein Stück Holz bei der
Arbeit erfolgt sei. Er bekam dasselbe anstandlos, es wurde ihm
geglaubt. Einige Zeit nachher erhielt ich ein Schreiben der
Königl. Staatsanwalt aus Verden, worin ich aufgefordert wurde,
mich gutachtlich zu äussern, ob die Verletzung dieses Mannes
durch einen Schneeball hervorgerufen sein könnte. Da der Mann
die Verletzung als Unfall bei der Arbeit angemeldet hatte, wurde
von der betr. Behörde recherchirt und in Erfahrung gebracht, dass
dem Manne an einem Sonntag Nachmittage' durch einen Jungen
ein Schneeball in’s Auge geworfen worden war. Da solche Fälle
bereits vorgekommen sind, dass ein Schneeballwurf gegen das
Auge Linsenluxation hervorbrachte, so musste in dem Sinne die
Antwort natürlich ausfallen. Irrthümer in der Auffassung sind
daher nicht ausgeschlossen, sie können ferner entstehen durch die
verschiedenen Aussagen des zu Untersuchenden bei derselben
Untersuchung oder späteren Nachprüfungen, bei dem gleichzeitigen
Vorhandensein pathologischer Veränderungen, wie beispielsweise
von Netzhauttrübungen bis zu Netzhautablösungen bei vorge¬
kommenen oder angeblichen Kontusionen, sie können da sein bei
Untersuchungen zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen
Beobachtern. Dasselbe gilt bei der Untersuchung Militärpflichtiger,
bei denen man ophthalmoskopisch geringere oder höhere Grade von
Refraktionsanomalien findet, die für die Nähe feinste Schrift lesen,
aber mit dem korrigirenden Glase noch nicht einmal S = 6 / 36 haben
wollen. Gewiss kann man sich die Sache leicht machen, man hat
nur nöthig dem zu Untersuchenden Glauben zu schenken und sich
damit jeden Konflikt zu sparen, der zu Schreibereien und Unbe-
t)r. Nauck: Was hindert das Zustandekommen der Medizinaireform ? 501
quemlichkeiten mancherlei Art, auch zu gerichtlichen Terminen,
führt. Allein sind verdächtige Umstände vorhanden, welche zu
Zweifeln Anlass geben, stimmen dieselben mit Beobachtungen
überein, die anderweitig, etwa behördlicherseits ermittelt, die Zweifel
mehren, und kann man dieselben begründen, so sollte man doch
unter allen Umständen seiner Ueberzeugung Ausdruck geben. Er¬
leichtert würde die Klarstellung solcher zweifelhafter Fälle, wenn
die Untersuchung von 2 von der Behörde ernannten Aerzten zu
einer Zeit gemacht würde, nicht wie bis jetzt, wo heute der eine,
in 6 Wochen etwa ein anderer allein den Fall sieht. Was fiir
Umstände können da nicht eintreten, und welche Verhältnisse
nicht vorliegen, dass beide Experten zu verschiedenen Resultaten
gelangen, die für die Behörden dann keineswegs angenehm sind.
Noch ein anderer Punkt würde dafür sprechen. Solche,
denen es auf Uebertreibungen ankommt, lernen immer etwas bei
wiederholten Untersuchungen, sie können sich leicht merken,
worauf es ankommt und danach ihre Antworten einrichten. Merken
sie z. B., dass es dem Arzte darauf ankommt, zu konstatiren, dass
im gegebenen Falle die Sehschärfe 6 I IS ist, so geben sie bei einer
späteren Untersuchung vielleicht nur 6 / 3r , oder noch weniger an.
Von grossem moralischen Eindrücke würde es auch sein, wenn
man in Gegenwart eines Zeugen unrichtige Angaben nach-
weisen könnte. Endlich müssten die medizinischen Experten, wo
es geht, behördlicherseits in den Recherchen über die angegebenen
Unfälle unterstützt werden, damit sie nicht auf die subjektiven
Angaben des Verletzten allein angewiesen sind, die fast immer
darauf ausgehen, sich zu einem Vortheile zu verhelfen. 1 )
Was hindert das Zustandekommen der Medizinalreform?
Von Kreispbysikns Dr. Nauck zu Bredstedt.
Es scheint mir nicht unzweckmässig der von R ei mann in
Nr. 16 der Zeitschrift für Medizinalbeamte dieses Jahrganges ge¬
gebenen Anregung einer Erforschung der Gründe, die die Staats¬
regierung von entschiedenem Vorgehen in der Medizinalreform
abhalten, Folge zu geben. Es dürfte sich aber auch verlohnen
auf einige im Parlament und in der Presse sich bemerkbar
machende Anschauungen aufmerksam zu machen, weil dieselben
vielleicht nicht ohne Einfluss auf die Entschliessungen der Staats¬
regierung sind, und weil neuerdings vonRusak in der Versamm¬
lung der Medizinalbeamten des Regierungsbezirks Stade (siehe
Zeitschr. f. Med.-B. Nr. 18 d. J.) eine Einwirkung auf die Presse
und auf die Abgeordneten empfohlen wird. Ich kann die öffent¬
liche Meinung nicht durchweg einer Medizinalreform günstig ge¬
stimmt erachten! Den Ausführungen Reimann’s vermag ich
nicht in allen Punkten beizutreten, wie aus dem Folgenden her-
*) Erst narb dem Drucke dieser Arbeit wurde mir durch die Zehend er 1 -
srlit* Monatsschrift (.Juliheft) die Arbeit Nieden’s über Simulation bei Augenvor-
letznntfeu bekannt. Dieselbe konnte daher leider nicht mehr benutzt werden.
502
Dr. Nauck.
vorgehen dürfte, möchte aber zunächst nur hervorheben, dass auch
mir, wie dem Redakteur t vergl. die Anmerkung in Nr. 16) die
Ueberflügelung des Zivilmedizinalwesens durch das Militärmedizinal¬
wesen erst neueren Datums zu sein scheint, nämlich seitdem es
einer Reihe von Militärärzten vergönnt gewesen war mit Robert
Koch gleichzeitig im Reichsgesundheitsamt zu arbeiten und seit¬
dem der jetzige Chef des Militärmedizinalwesens in richtiger
Würdigung der Bedeutung der Bakteriologie der Ausübung der¬
selben innerhalb des Sanitätsoffizierkorps die weiteste Verbreitung
verschafft hat. Indessen hat ja der Herr Kultusminister in seiner
Beantwortung der Interpellation des Grafen Douglas vom 4. Juli
des Jahres (s. Z. f. M. Nr. 14) das Versprechen gegeben: Wir
werden darauf Bedacht zu nehmen haben, dass unsere Medizinal¬
beamten mindestens gleichwertig auch nach dieser Richtung (d. i.
in Bezug auf die von militärischer Seite gewährte Hülfe) ausge¬
bildet sind und auch ausgerüstet werden, wie es jetzt beim Mili¬
tär der Fall ist.“
Bei Besprechung der einzelnen der Medizinalreform entgegen¬
stehenden Hindernisse glaube ich am besten der Disposition des
Herrn Ministers in seiner eben gedachten Rede vom 4. Juli folgen
zu sollen. Sie liegen hiernach kurz gefasst in der Vorbildung der
Medizinalbeamten, ihrer Kompetenzerweiterung und ihrer Gehalts¬
regelung.
1. Die ungenügende Vorbildung der Medizinalbeamten:
Der Herr Minister hat in seiner Rede vom 4. Juli als Vor¬
bedingung der ganzen Medizinalreform die bessere Vorbildung der
künftigen Medizinalbeamten, namentlich hinsichtlich der neuerdings
gewonnenen wissenschaftlichen Ergebnisse auf den Gebieten der
öffentlichen Gesundheitspflege: Hygiene, Bakteriologie, Epidemio¬
logie, Assanirung der Wohnungen, Wasserfrage u. s. w. bezeichnet.
Gemäss dieser an massgebender Stelle herrschenden Ansicht (ver-
muthlich auf Koch’s Anregung, s. den Artikel in Nr. 15 der
Z. f. M.) sind die Physiker der amtlichen Verpflichtung zur bak¬
teriologischen Feststellung der Choleradiagnose enthoben worden. 1 )
Es ist ferner sowohl im Reichstag wie im Abgeordnetenhaus von
mehreren Abgeordneten der Ueberzeugung einer ungenügenden
Ausbildung der Physiker namentlich in bakteriologischer Hinsicht
Ausdruck gegeben worden. Das Gleiche ist in der Presse ge¬
schehen (Vossische Zeitung). Den Lesern dieser Zeitschrift sind
die gegen diese Anschauungen gerichteten Ausführungen des
Redakteurs in Nr. 12 und 14 des Jahrganges bekannt. Ich kann
auf dieselben hiermit verweisen, zumal da ich nichts hinzuzufügen
') Es ist unter deu Medizinalbcamteu noch vielfach die Ansicht verbreitet,
dass die Anordnung betreffs Vornahme der bakteriologischen Untersuchungen
durch dii! Uuiversitäts-Institute u. s. w. nur in Prcussen getroffen sei. Dem¬
gegenüber möge hier betont werden, dass diese Anordnung auf Veranlassung
eines Rundsehreibens des Reichsamts des Innern und eines diesem Schreiben
boigi fügten Berichts des Direktors des Reichsgesundheitsamtes erfolgt ist und
zwar nicht nur in Prcussen, sondern in allen anderen deutschen Bundes¬
staaten. Rpd.
Was hindert das Zustandekommen der Medizinalreform ?
503
habe, ausser vielleicht, dass mittlerweile an den übrigens bisher
nicht obligatorischen Fortbildungskursen, durch die die gewünschte
bessere Ausbildung erzielt werden soll, schätzungsweise schon über
die Hälfte der Physiker Theil genommen hat, dass die bakteriolo¬
gische Choleradiagnose auch nicht von den Militärärzten, soweit
sie nicht zu den Sanitätsämtern kommandirt sind, verlangt wird,
und dass das jetzige ultimum refugium schwieriger Fälle der
Dia guosenstel lung, der Thierversuch sich ohne Beihülfe eines Sub¬
stituts, das dem „bakteriologisch ausgebildeten Lazarethgehülfen“
der militärisch besetzten SehitFskontrolstationen (siehe Dienstan¬
weisung für die Vorstände der ärztlichen Schiffskontrolstationen
Z. f. M. 1892, Seite 145 und 136) kaum ausführen lassen dürfte.
Wie ist nun dieses erste von massgebender Seite besonders
hervorgehobene Hinderniss der Medizinalreform, nämlich die unge¬
nügende Vorbildung der Medizinalbeamten, zu heben?
Nach den Erklärungen des Herrn Ministers (siehe oben) ist
anzunehmen, dass unsere Ausbildung den beim Militär bestehenden
Einrichtungen gemäss in weiteren Fortbildungskursen gefördert
werden soll, obgleich die dauernde Einrichtung dieser Kurse ur¬
sprünglich nicht beabsichtigt war (Erlass des Ministers vom
11. Nov. 1891), sondern jedem Medizinalbeamten nur einmal Ge¬
legenheit gegeben werden sollte, einen solchen Kursus mitzu¬
machen. Es wäre diese fernere Förderung, wie überhaupt jede
Gelegenheit zum Lernen mit Freuden zu begrüssen und nur zu
wünschen, dass die Kurse, abgesehen von der Aufhebung der
Kursusgelder, nicht mit Geldopfern für uns verbunden sind, so dass
sie obligatorisch für jeden von uns, auch für die „älteren Herren“
gemacht werden können.
Zu unserer weiteren Ausbildung würde es aber vor allen
Dingen dienen, dass uns schon jetzt Gelegenheit gegeben werde,
uns in den sonstigen Untersuchungsmethoden, in denen wir in den
Kursen unterwiesen worden sind, zu üben. Das bakteriologische
Verfahren zur Feststellung der Choleradiagnose ist bekanntlich
nachträglich von Koch modifizirt worden. Die übrigen hygieni¬
schen Untersuchungsmethoden gelten aber heute noch zu Recht,
und es kann doch nicht angenommen werden, dass wir gar nichts
in den Kursen gelernt haben sollten, dass der preussische Staat
jährlich 20 000 Mark vergeudet haben sollte! Mir will es scheinen,
dass wir immerhin im Stande sind, Trinkwasser auf seine Brauch¬
barkeit, die Luft der Schulräume auf ihre Schädlichkeit, die Milch
auf ihren Fettgehalt u. s. w. mit einer für praktische Zwecke
genügenden Genauigkeit zu prüfen, und uns daher für diese
Untersuchungen zur Verfügung stellen können. Es unterliegt
keinem Zweifel, dass unter Anderm eine chemisch-bakteriologische
Untersuchung der Brunnenwässer in weit umfassenderem Mass-
stabe geschehen müsste, als dies mit Hülfe der wenigen Unter¬
suchungsämter bezw. hygienischen Institute möglich ist, und der
örtliche Gesundheitsbeamte dürfte in erster Linie hierzu geeignet
sein. Ja ich glaube sogar, ohne dies Verfahren zur Norm erhoben
wissen zu wollen, dass einer blos qualitativ-chemischen und einer
504
Dr. Nauck.
sich auf die Anfertigung einiger Es mar ch’scher Rollrühichen
beschränkenden bakteriologischen Untersuchung eines Brunnen¬
wassers durch den örtlichen Gesundheitsbeamten schliesslich ein
höherer Werth beizulegen ist, als der gründlichsten und exaktesten
quantitativ - chemischen und die einzelnen Spezies berücksichtigen¬
den bakteriologischen Untersuchung durch ein hygienisches Institut,
weil der örtliche Medizinalbeamte zugleich in der Lage ist, die
sehr wichtige Lokal - Inspektion des Brunnens vorzunehmen. Der
von Koch in seiner Beschreibung der Cholera - Nachepidemie von
Altona geschilderte Brunnen des „langen Jammers“ (Zeitschr. für
Hygiene, 1. Heft, XV. Band, S. 116) hätte nach Koch’s eigener
Ansicht noch kurz vor dem Ausbruch der Epidemie möglicher
Weise ein chemisch - bakteriologisch günstiges Wasser gegeben,
während auf Grund der lokalen Inspektion gegen die Zulässigkeit
des Brunnens schwere Bedenken hätten erhoben werden müssen.
Die hygienischen Institute scheinen mir auch gar nicht in der
Lage zu sein, die für die einzelnen Landstriche verschiedenen, zur
Beurtheilung der Brauchbarkeit eines Trinkwassers jetzt erfordert
lieh geltenden Durchschnittswerthe der chemischen Beschaffenliei-
zu gewinnen. Beim Militär wird Trinkwasser und Milch auch
in den Garnisonlazarethen, nicht blos in den Korps - Sanitätsämtern
untersucht.
Ich komme also zu dem Schlüsse, dass, wie durch den Kultus¬
minister im vorigen Herbste die Behörden auf unsere Fähigkeit,
Choleradejektionen untersuchen zu können, aufmerksam gemacht
worden sind, dies auch hinsichtlich unserer Verwendbarkeit zu
den gedachten hygienischen Untersuchungen jetzt noch geschehen
sollte. In meinem Regierungsbezirke sind die Gesundheits¬
kommissionen angehalten, die Brunnenuntersuchungen durch Sach¬
verständige (die nicht näher bezeichnet sind) „mit Energie“ zu
fördern. Ich würde es für zweckmässig erachten, wenn wir als
solche Sachverständigen bezeichnet würden. Wir würden dann
auch eher in der Lage sein, einzugreifen, wo die Energie der
Gesundheitskommissionen erlahmen sollte.
Es dürfte aber auch nothwendig sein, dass wir für derartige
Untersuchungen mit den nüthigen Apparaten ausgerüstet und, auch
wenn sie im allgemeinen staatlichen Interesse vorgenommen werdeu,
besonders entschädigt werden, so lange unser Gehalt nicht genügend
aufgebessert ist. Der §. 1 des Gebührengesetzes vom 9. März
1872 war durch den Ministerialerlass vom 17. Oktober v. Jahres
wenigstens für die Cholerauntersuchungen aufgehoben mit der Be¬
gründung, dass diese nicht für medizinal- oder sanitätspolizeiliche
Verrichtungen im Sinne des §. 1, sondern als wissenschaftliche,
zur Begründung solcher Verrichtungen erforderliche Vorarbeiten
anzusehen seien. Nun, ich glaube, als solche können auch die oben
gedachten Untersuchungen aufgefasst werden. 1 )
*) Auf dieser meiner Ansicht der Nothwendigkeit der Brunnen-, Sehnl-
luft-, Milch- und ähnlicher Untersuchungen durch den Kreismedizinalbeamten
M«mIic ich beharren, auch nach nachträglicher Kenntnisnahme des Erlasses der
Mijusicr des Innern und der Medizinal-Angelegenheiten vom 26. Juli d. J. betr.
Was hindert das Zustandekommen der Medizinalreform P
505
2. Die Kompetenz der zukünftigen Kreisärzte:
Der Herr Minister weist in seiner Rede vom 4. Juli darauf
hin, dass zur Medizinalreform auch gehöre „eine Regelung der
gesammten Stellung der Medizinalbeamten im Rahmen der Ver¬
waltung, ihrer Stellung zu den Regiminalbehörden, ihrer Initiative
u. s. w.“ und dass dieser Punkt, sowie man ihm näher trete, eine
ganze Reihe organisatorischer (und finanzieller) Fragen ergäbe,
deren Lösung die allergrössesten Schwierigkeiten biete. Ein Theil
dieser Fragen dürfte allerdings verwaltungstechnischer Natur und
nicht von unserm Standpunst allein zu lösen sein. Es sei aber
gestattet in Erörterung zu treten über die sachlich wichtigste
unter diesen Fragen, nämlich über das Mass der Initiative bezw.
eventuellen Exekutive, das uns dereinst zu Gebote stehen soll.
Unsere Wünsche haben in dieser Beziehung ihren noch heute
gültigen Ausdruck gefunden in der These III, die die 4. Haupt-
Versammlung des Preussischen Medizinal-Beamten-Vereins am
17. September 1886 angenommen hat. Eine Exekutive wünschen
wir danach nur in dringenden Fällen unter dem Beding, dass so¬
fort eine nachträgliche Genehmigung eingeholt wird. Wir glauben
uns in dieser Beziehung auch in Uebereinstimmung mit den Staats¬
behörden zu finden; denn der später allerdings unter dem Drucke
entgegenstehender Strömungen abgeschwächte Entwurf zur Be¬
kämpfung gemeingefährlicher Krankheiten hatte im Allgemeinen
unserer Auffassung entsprochen (vergleiche Verhandlungen der
diesjährigen Hauptversammlung).
Die Aufnahme, die dieser Entwurf, der nach Finckelnburg
(siehe Deutsche med. Wochenschr. 1893, Nr. X) einmal alles zu¬
sammenfasste, was dem Arzt zur Bekämpfung ansteckender Krank¬
heiten wichtig erscheint, in der öffentlichen Meinung gefunden hat,
ist für unsere Frage nach den Hindernissen, die sich einer Kom¬
petenzerweiterung der Medizinalbeamten entgegenstellen, lehrreich.
Es ist bekannt, dass der Entwurf schon im Bundesrath auf die
exotischen Krankheiten beschränkt wurde, dass er nach endloser
Verschleppung nicht zur Verabschiedung gelangt ist, und vorläufig
ersetzt ist durch das Rundschreiben des Reichskanzlers vom
27. Juni 1893, in welchem der beamtete Arzt nur Erwähnung
findet, einmal die Ueberführung cholerakranker Personen in ein
Krankenhaus unter Umständen gegen ihren Willen zu veranlassen,
ein andermal in dem Zusammenhänge, dass bereits vor Eintreffen
des beamteten Arztes Choleradejektionen vom behandelnden Arzte
fortgeschickt werden dürfen. Auf Grund der Verhandlungen im
Einrichtung öffentlicher Untersuchuugsanstalten zur Durchführung des Nahrungs¬
mittelgesetzes. Die genannten Untersuchungen werden eben nach meinem Da¬
fürhalten bei weitem am zweckmäßigsten durch den örtlichen Gesundheitsbe¬
amten vorgenommen und es ist andererseits keine Aussicht vorhanden, dass
jemals in jedem Kreise ein Untersuchungsamt zu Stande kommt. Dieselben
in zu grosser Anzahl würden sich selbst ihre Existenzfähigkeit untergraben.
Ich vermisse aber auch in diesem Erlasse, dass wenigstens für die kleineren
Anstalten der Kreiskommunal verbände nicht der Medizinalbeamten als zu den
Untersuchungen geeigneter Personen Erwähnung geschieht, zumal diese sich
doch in der gewünschten amtlichen Stellung befinden.
606
Dr. Nauck.
Reichstage gelegentlich der ersten Lesung des Entwurfes (siehe
Zeitschr. für Medizinalbeamte, Nr. IX, 1893) müssen wir doch
sagen, dass seitens der Staatsregierung die Kompetenzerweiterung
der beamteten Aerzte durchaus vertheidigt ist. Im Gegensatz zu
Reimann (a. a. 0.) glaube ich nicht, dass die Staatsregierung
irgend welche Ursache hätte, unsere Kompetenzerweiterung zu
fürchten. Es bleiben ihr noch genügend Mittel und Wege übrig,
um zu weit gehenden oder unbequemen Anträgen der Physiker
mit Nachdruck entgegen treten zu können. Und auch die Ge¬
meinden waren gegen solche durch den §. 34 des Entwurfes und
namentlich seine Begründung hinreichend gedeckt. Diejenigen, die
vom Gesetz eine Beeinträchtigung zu erwarten hatten, waren
einerseits die praktischen Aerzte, andererseits die Privatpersonen
in ihrer Gesammtheit. Die Wünsche der Aerzte werden bekannt¬
lich für gewöhnlich von den gesetzgebenden Körperschaften eben
so wenig berücksichtigt, wie die unsrigen. Viel schwerer wiegend
ist der Widerstand des grossen Publikums gegen die mit dem
Gesetz verbundenen Eingriffe in das Privatleben. Namentlich
äusserten die Abgeordneten Bedenken gegen den Krankenhaus-
Zwang. Dasselbe Publikum, das im Vorjahre der Absperrungs-
massregeln gegen die Hamburger nicht genug haben konnte
(wollte ein Ostpreusse doch einen Kordon um Hamburg ziehen
lassen, und die Hamburger in ihrem eigenen Fette schmoren lassen
[Tägliche Runschau]), will, nachdem es die Belästigungen im Ver¬
kehr durch übereifrige Unter-Behörden an sich selbst kennen
gelernt hat, von einem neuen, die Freiheit der Bewegung beengen¬
den Polizei - Gesetz nichts wissen. Und zwar gehen wir nicht
fehl, anzunehmen, dass ein grosser Theil des Publikums in uns,
den Medizinalbeamten, jetzt die Träger jenes sanitätspolizeilichen
Furor sieht, an dem wir zumeist am allerwenigsten Schuld waren.
Wurden doch auch die Meinungsverschiedenheiten der Koch’schen
und Pettenkofer’sehen Schule benutzt, um in öffentlichen
Volksversammlungen die wissenschaftliche Schulmedizin überhaupt
nicht für reif zur Entscheidung der grundlegenden Fragen zu er¬
klären. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, dass, wenn der¬
einst die Medizinalreform dem Abgeordnetenhause wirklich vorge¬
legt wird, die gegentheiligen Anschauungen huldigenden Abgeord¬
neten, die bisher, so lange die Medizinalreform noch in nebelhafter
Ferne schwebt, geschwiegen haben, ihren Ansichten in weit
grösserem Umfange Ausdruck verleihen werden, als es in der
Sitzung vom 25. Februar d. J. durch den Abgeordneten Branden¬
burg in massvoller Weise geschehen ist.
Dieser in weiten Volkskreisen verbreiteten Stimmung gegen¬
über, bleibt uns nichts anderes übrig, als in der Presse nachzu¬
weisen, dass sie unbegründet ist, dass unsere Befugnisse stets
eng umgrenzt sein werden, dass namentlich hinsichtlich des Kranken¬
hauszwanges ernstlich nichts zu besorgen ist. Denn welcher
Physikus kann nach der Fassung des betreffenden Passus in den
Massnahmen gegen die Cholera vom 27. Juni d. J. einen Cholera¬
kranken, ausser vielleicht einen obdachlosen Vagabunden, gegen
Was hindert das Zustandekommen der Medizinalreform.
607
seinen Willen einem Krankenhaus überweisen, zumal da durch die
Verhandlungen des ärztlichen Vereins zu Hamburg vom 20. Novb.
1892 (Deutsche med. Wochenschr. 1893, Nr. 35) die Schädlichkeit
des Transportes für Cholerakranke erwiesen zu sein scheint?
Zugleich sei es gestattet, auf eine andere nicht zu unter¬
schätzende, uns entgegenstehende Bewegung aufmerksam zu machen,
die nur zum Theil auf sanitätspolizeilichem Gebiete, der Haupt¬
sache nach auf gerichtsärztlichem liegt, ich meine die Richtung,
die eine Aenderung des Irrenrechtes und namentlich der Begut¬
achtung der Irren durch „Sachverständige“ (in den meisten Fällen
Physiker) wünscht und ihren Ausdruck in dem bekannten Kreuz¬
zeitungsartikel und in den Reden des Abgeordneten Stöcker im
Abgeordnetenhause gefunden hat. Ich kann diese Richtung für
unser Ziel, die Medizinalreform, nicht für ganz ungefährlich halten,
weil sie geeignet ist in weiten Schichten des Volkes Hass gegen
uns zu säen. Auch hier bleibt nichts anderes übrig als aufklärend
zu wirken und zu begründen, dass das jetzige Aufhahmeverfahren,
die geplante Ueberwachung (durch Kommissionen) der Irrenan¬
stalten, das Verfahren der Entmündigung immer noch als das
schonendste für die Betheiligten selbst anzusehen ist.
Wir müssen aber auch, wie ich glaube, etwa noch bestehende
Härten nach Möglichkeit zu beseitigen suchen. Als eine solche
Härte erscheint mir das in Berlin und vielleicht auch anderswo
beliebte Verfahren (vergl. den von Lähr in Nr. 37 der Deutsehen
med. Wochenschr. d. J. mitgetheilten Fall eines Juristen und
Zeitungsnachrichten über den Fall Paasch) eine auf ihren
geistigen Gesundheitszustand zu untersuchende Person zunächst
polizeilich „abzuführen“ und dann erst auf dem Polizeibureau durch
den Bezirksphysikus untersuchen zu lassen. Nach meinem Dafür¬
halten ist schon mit der „Abführung“ durch drei kräftige Männer
in Uniform in den Augen des Publikums die betreffende Person
gebrandmarkt. Der nachträglich erscheinende Sachverständige ist
dem Publikum nur noch das willfährige Werkzeug, das dem Ge¬
waltakt den Mantel des Rechts umhängt. Die leidenschaftlichen
Angriffe des Publikums richten sich in Folge dessen auch haupt¬
sächlich gegen den Sachverständigen. Man kann den Unterschied
nicht für gross halten, ich glaube aber, dass es auf den geistigen
Zustand des zu Untersuchenden nachtheiliger einwirkt, wenn er
erst inhaftirt und dann untersucht wird, als wenn er erst unter¬
sucht und möglicher Weise gar nicht inhaftirt wird.
3. Die Gehaltsregelung:
Der Herr Minister erklärte am 4. Juli: „Die Medizinalreform
ist, ich will nicht sagen in der Hauptsache, aber zu einem wesent¬
lichen Theil eine Finanzfrage.“ Ueber die Regelung dieser Frage
hat er keine weiteren Angaben gemacht. Er hat aber darauf
hingewiesen, dass es wünschenswert erscheint, die Physiker nicht
aus der ärztlichen Praxis herauszunehmen und hat bekanntlich
Ermittelungen herbeigeführt über die jetzigen Bezüge der Physiker
aus Nebenämtern (leider aber nicht über die Verluste, die sie durch
gewissenhafte Ausübung ihrer Amtspflichten erleiden). Wenn man
508 Erwiderung auf die Bemerkungen des San.-Raths Kr.-Phys. Dr. Ritter etc.
sich nun ferner erinnert, dass der frühere Kultusminister Dr. von
Gossler im Jahre 1889 (Zeitschr. für Medizinalbeamte S. 118),
dem doch auch schon der im Kultusministerium wohl verwahrte,
wenn auch jetzt für unbrauchbar erklärte Reformplan Vorgelegen
hat, erklärt hat, dass sein Ehrgeiz im Maximum nur auf ein Ein¬
kommen von 1800 Mark gerichtet sei, so glaube ich, darf man die
Hoffnungen auf eine wesentliche Gehaltsaufbesserung nicht hoch
spannen. Wahrscheinlich wird der Physikus, wenn auch in etwas
geringerem Grade, nach wie vor auf die Privatpraxis und auf
„Nebeneinnahmen“ angewiesen bleiben. Es ist aber zu betonen,
dass die Mehrkosten der Reform keinenfalls 1 bis l 1 /* Mill. Mark
übersteigen werden und sich gleich bleiben, ob nun den künftigen
Kreisärzten grosse Bezirke (etwa 2 bis 3 jetzige landräthliche
Kreise) mit einem Gehalt von 4000 bis 5000 Mark oder kleine
Bezirke, etwa den jetzigen Kreisen entsprechend, mit einem Ge¬
halt von ca. 1800 Mark zugewiesen werden. Das erstere wünschen
wir wohl in unserer Mehrzahl — das letztere dürfte mehr Aus¬
sichten auf Verwirklichung haben.
Erwiderung auf die Bemerkungen des Sanitätsraths
Krei8physikus Dr. Bitter zur Medizinalreform
Auf die „Bemerkungen“ des Kollegen Sauitätsrath Dr. Ritter-Bremer¬
vörde in der Nr. 18 der Zeitschrift S. 454, erlaube ich mir folgende Gegen¬
bemerkungen.
Kollege Ritter erkennt die dringende Nothwendigkeit der Medizinal¬
reform an, warnt aber vor übereilter Einführung derselben uni stellt ferner
die Forderung auf, dass vorher entschieden werden müsse, ob zu Physikern
Aerzte in jüngerem oder höherem Alter auszusuchen sind.
Was das erste Bedenken betrifft, so kann wohl von Uebereilung bei einer
Reform keine Rede mehr sein, welche sich seit 20 und mehr Jahren im Stadium
der Vorbereitung befindet, für welche nach den Worten des Herrn Ministers
Material in Hülle und Fülle vorhanden ist und für welche vor Jahren schon ein
fertig ausgearbeiteter Plan der wissenschaftlichen Deputation zur Prüfung Vor¬
gelegen hat. Die Frage, ob die Kreis Wundärzte beizubehalten oder abzuschaffen
sind, ist doch nicht so schwer zu lösen, dass dadurch die Reform auch nur um
einen Tag am gehalten zu werden brauchte Voraussichtlich wird man in räum¬
lich weit ausgedehnten Kreisen die Kreis Wundärzte zunächst beibehalten und die
Stellen event. später nicht wieder besetzen, wenn die Erfahrung gezeigt hat,
dass die Thätigkeit des Kreis Wundarztes bei Obduktionen ohne wesentlich höhere
Kosten für die Gerichtskassen von einem der benachbarten Physiker geleistet
werden kann. Die Frage der Beibehaltung der Kreiswundärzte ist durchaus
nur eine Geldfrage, da ihre amtliche Thätigkeit eine so beschränkte ist, dass
dieselbe weder den Kreisphysikus irgendwie entlastet, noch dem pro physikatu
geprüften Arzt Gelegenheit giebt, sich auf die Verwaltung eines Pliysikats
vorzubereiten.
Was ferner die Frage nach dem Lebensalter des anzustellenden Kreis¬
physikus anbetrilVt, so ist doch von vornherein nicht zu entscheiden, ob ein
jüngerer oder ein älterer Kreisphysikus der bessere Sanitätsbeamte sein wird.
Im Allgemeinen kann imni anuclimen, und das würden die Regierungs-Medizinal-
räihe als die kompetentesten ßeurtheiier bestätigen können, dass unter den
jüngeren wie unter den älteren Physikern besonders tüchtige SanitäLsbeamte
gefunden werden, und dass von vornherein nur ein Alter, weiches die
körperliche und geistige Rüstigkeit aufhebt, den Betreffenden zur Wahr¬
nehmung der anstrengenden Geschäfte eines Physikus untüchtig macht.
Für das in den Thesen geforderte Gehalt würden häufig nicht nur Junge“,
Ans Versammlungen ün»l Vereinen. 509
sondern auch ältere „ausgebildete Aerzte“ nicht zu haben sein, wenn man
den Physikern die AusUbung der Praxis untersagen wollte; denn nur
ein kleiner Prozentsatz der Aerzte besitzt ein so grosses Vermögen, dass die
Zinsen desselben mit den geforderten Gehaltsätzen zur standesgemässen Unter¬
haltung einer Familie ausreichen würden.
Schon diese Thatsache berechtigt zu der Behauptung, dass die Ansicht
des Kollegen Ritter, der Physikus müsse auf die Praxis verzichten, von der
überwiegenden Mehrzahl der Kreisphysiker nicht getheilt wird. Wenn auch an¬
zunehmen ist, dass nach der endlichen Durchführung der lang ersehnten Medi¬
zinalreform die Amtsgeschäfte der Kreisphysiker weit mehr als bisher ihre Zeit
und Arbeitskraft in Anspruch nehmen und ihnen die Ausübung der Praxis in
dem bisherigen Umfang unmöglich machen werden, so würde es auch noch aus
einem anderen Grunde nicht richtig sein, ihnen die Ausübung der Praxis gänz¬
lich zu untersagen, nämlich weil dadurch der gar nicht hoch genug zu schätzende
Zusammenhang und Verkehr des Physikus mit den verschiedenen Klassen der
Bevölkerung seines Kreises erheblich eingeschränkt, wenn nicht aufgehoben
würde. Ich bin überzeugt, im Sinne der grossen Mehrzahl der Kreisphysiker
zu sprechen, wenn ich behaupte, dass derjenige Physikus auch als Sanitätsbeamter
nicht völlig auf der Höhe ist, welcher mit den medizinischen Studien auch die
Praxis aufgegeben hat, und dass vielmehr die Kreisphysiker das Beste leisten
werden, welche die Fortschritte unserer Wissenschaft auch auf rein medizinischem
Gebiet verfolgen und durch die Praxis im steten Zusammenhänge mit den Be¬
wohnern ihres Kreises und in Kenntniss der Lebensgewohnheiteu derselben bleiben.
Dass sich die medizinischen Studien mit den Fachstudien für das Physikat und mit
der pflichtgetreuen Verwaltung des letzteren vereinigen lassen, beweist die That¬
sache, dass sehr viele Kreisphysiker, welche unzweifelhaft tüchtige, mit allen
Zweigen ihrer Fachwissenschaft durchaus vertraute Sanitätsbeamte sind, dabei
doch noch die Zeit fiuden, auch als praktische Aerzte Hervorragendes zu leisten.
Die Forderungen, welche Kollege Ritter am Schluss seiner Bemerkungen
aufstellt, sind in meinen Thesen enthalten und nur mit anderen Worten ausge¬
sprochen. Will Kollege Ritter ein höheres als das in den Thesen geforderte
Gehalt festgestellt haben, so ist dem entgegen zu halten, dass ein solcher
Wunsch aus bekannten Gründen wenig Aussicht auf Erfüllung hat und dass es
sich für uns empfiehlt, zunächst nur das Erreichbare und absolut Nüthige zu
fordern. Dr. Rusak-Stade.
Aus Versammlungen und Vereinen.
Kei-icht Aber die vom 11. bis 16. September d. J. in Nürn¬
berg stattgehabte 65. Versammlung Deutscher Natur¬
forscher und Aerzte.
(Berichterstatter Dr. Leppmann, Berlin - Moabit).
Sektion für gerichtliche Medizin.
I. Prof. Dr. Reubold (Würzburg) demonstrirt eine Reihe von
Schädelbrüchen und Verletzungen, wozu die veranlassende Gewalt bekannt,
bei vielen auch das wirklich gebrauchte Instrument beigelegt war. Es wurden Bei¬
spiele für alle Formen der Schädelverletzung vom einfachen Stich in den Knochen
bis zur weitgehendsten Zertrümmerung, ausserdem Vernarbungen mit und ohne
Depression vorgezeigt. Vortragender bestätigt den Palt auf* sehen Satz, dass
Werkzeuge mit mehr als 4 qcm auftreffender Oberfläche den Schädel nicht durch¬
brechen, sondern sprengen, hauptsächlich für das Schädeldach. Er wirft ferner
die Frage auf,' ob am Schädel Neugeborener und junger Kinder überhaupt rein
lokale Durchbrüche Vorkommen. Er hat dergleichen nie gesehen. Das vorge¬
zeigte Scheitelbein eines ; */ 4 jährigen Kindes zeigt eine rundliche Durchlochung
in welcher ein bröcklicher Knochen liegt. Es handelt sich um eine Ausgrabung
nach 8 Jahren und es kommt wohl Verwesungswirkung auf eine bereits kranke
Knochcnstelle in Betracht.
II. Derselbe: Bemerkungen znr Geschichte der gerichtlichen
Sektion. Die gerichtliche medizinische Iicichenuutersnchung wurde ursprüng¬
lich nicht durch die Fälle veranlasst, wo nach einer, in der Regel umfangreichen
510
Aus Versammlungen und Vereinen.
und deutliche Spuren an der Leiche hinterlassenden Körperbeschädigung der
Tod unmittelbar eintrat, Bondern durch die, wo sich au die Verletzung erst eine
kürzere oder längere, tüdtlich endende Krankheit ausckloss. Bei der ersten
Kategorie genügte das Vorhandensein einer Leiche, welche zu Gericht gebracht
wurde, ja es genügten schon Stücke derselben oder ihrer Bekleidung, welche
vorgelegt wurden. Vortragender legt als interessantes Beispiel eines solchen
Leibzeichens einen Finger und ein Zehenglied eines im 30jährigen Kriege Er¬
stochenen nebst einem Messer, wahrscheinlich dem Mordinstrument und den
bezüglichen Notizen der obrigkeitlichen Person vor. Bei der zweiten Kategorie
wurden schon in früheren Zeiten Aerzte beauftragt, den Leichnam anzusehen
(päpstl. Dekretale vom Jahre 1209). Pie Carolina vom Jahre 1532 macht die
Leichenschau bei „zweifeligen“ Fällen für weitere Kreise obligatorisch und zwar
um die Lethalität der Verletzung, welche bis in die neuere Gesetzgebung hinein
ihre Rolle spielt, festzustellen.
Die Ausbildung der Inspektion zur Sektion geschah durch Zuziehung der
medizinischen Fakultäten zu Obergutachten. Zuerst gebrauchte man die Sonde,
das „Instrumentuni“, wie es in den Protokollen genannt wird, daun erweiterte
man die Wunden durch Einschnitte, es geschah eine „Sectio vulnerum“, endlich
öffnete man die verletzte Korperhöhle. ln einem Kriminalfalle aus dem Jahre
1630 wird schon vom Defensor gerügt, dass dies in einem Falle von Brust-
verletzung nicht geschehen sei. Die Sonde wurde 1660 von Welsch, Prof, in
Leipzig, für unzweckmässig erklärt; 1700 verlangte Bohn, ebenfalls Professor
in Leipzig, die Eröffnung aller 3 Höhlen.
Die erste behördliche Verordnung, welche eine Eröffnung des ganzen todten
Körpers fordert, ist, soweit Vortragender weiss, eine württembergische vom Jahre
1086 und 1687. Von 1720—1769 wird sie in verschiedenen Gesetzbüchern Vor¬
schrift. Instruktionen zu ihrer Ausfiihruug waren bis zu Anfang des Jahr¬
hunderts nur wissenschaftliche, nicht behördliche. Letztere bestehen gegenwärtig
in fast allen deutschen Staaten.
HI. Prof. Dr. Seydel (Königsberg i. Pr.): Ueber die Erscheinungen
an nach Suspension Wiederbelebten und deren Bedeutung für den
Gerichtsarzt. Vortragender hatte Gelegenheit, eine schwer asphyktische Person,
die etwa 5 Minuten nach der Suspension abgeschnitten war, zu beobachten. Die
Reihenfolge der Erscheinungen stimmt vollständig mit den von Wagner-Graz
in der Münch, med. Wochenschrift 1892 Nr. 52 beschriebenen überein. Auch
hier liess sich eine ausgesprochene Amnesie retroactive beobachten. Der Streit
zwischen Wagner und Möbius über den Charakter dieser Erscheinungen wird
kurz berührt und die Ansicht von M., dass es sich hier um hysterische Konvul¬
sionen etc. handle, zurückgewiesen. Die grösste Analogie dieser Erscheinungen
findet Vortragender in der nach Commotio cerebri beobachteten, führt einige
einschlägige Fälle seiner Beobachtungen an und glaubt, dass sowohl bei Sus¬
pension, als bei Commotio sich Veränderungen, namentlich in den kleinen Ge¬
lassen der Hirnsubstanz bilden, die die vielfach beobachteten Erscheinungen
hervorrufen, auch den Fall von Möbius glaubt Vortragender durch Hirn¬
erschütterung vollständig erklären zu können.
Für den Gerichtsarzt erwächst aus den angeführten Thatsachen die Auf¬
gabe, in folgenden Fällen die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit der Amnesie
retroactive festzustellen:
1. Wenn es sich um Angeschuldigte handelt, die nach Verübung eines
Verbrechens, oder nachdem vielleicht durch ihre Fahrlässigkeit grösseres Unheil
entstanden, sich durch Suspension das Leben nehmen wollen, aus der schon
eingetretenen Asphyxie aber wiederbelebt und unter Anklage gestellt werden.
2. Wenn es sich um die Zeugenaussage von durch Suspension, Strangu¬
lation oder Erwürgungsversuche Asphyktischer und Wiederbelebter über That¬
sachen handelt, die dem Attentate kurz vorher gingen.
Einschlägige Beispiele aus der Literatur wurden angeführt.
IV. Derselbe: Ueber tödtliche Kopftraumen ohne makroskopische
Veränderungen. Die verschiedenen Arten der tödtliehen Kopfverletzungen
werden unter Vorlegung einiger Schädeldachverletzungen mit interessantem Ver¬
laufe kurz besprochen. Dann führt Vortragender 2 Fälle an, in denen sich
nach anscheinend unbedeutenden, aber wiederholten Kopftraumen, die sehr gering-
Aus Versammlungen und Vereinen.
511
fügige äussere Spuren zurückgelassen hatten, nicht unmittelbar an ein dem
Trauma sich anschliesseudes Coma, sondern nach Zeit und nach Eintritt anderer
Erscheinungen z. B. Unruhe und Konvulsionen bei einem 3 / 4 Jahre alten Kinde
der Tod eingetreten war. Der Sektionsbefund in beiden, allerdings durch deren
Fäulniss schon etwas veränderten Fällen war negativ. Vortragender glaubt,
dass das vorläufig geltende von Moritz in seiner Arbeit über Kopfverletzungen
ausgesprochene Dogma, „Tod durch Himerschütterung müsse angenommen werdeu,
wenn die begleitenden Umstäude dafür, der Sektionsbefund nicht dagegen
spreche“, eigentlich ein Armuthszeugniss sei, dass bei genauer Untersuchung der
Hirnsubstanz, namentlich der Rinde und der feineren Gefässgebiete, wo sich
leicht kleine Zertrümmerungsherde fänden, eingeschränkt werden müsse und
dass, wenn nicht Fäulniss daran hindere, in der Mehrzahl derartiger Fälle
makroskopische Veränderungen in der Hirnsubstanz sich werden nach weisen lassen.
V. Dr. Leppmann (Berlin-Moabit): Die kriminalpsychologische und
kriminalpraktische Bedeutung des Tätowirens der Verbrecher. Vor¬
tragender hat auf Grund systematischer Aufzeichnungen des körperlichen und
seelischen Befundes von ca. 1000 Strafgefangenen, die bis in die jüngste Zeit
von den Vorkämpfern Lombroso’scher Lehren mit voller Schärfe festgehaltene
Behauptung geprüft: Art und Umfang der Tätowirungen seien ein Beweis für
die Eigenart der meisten Verbrecher als einer besonderen Menschengattung.
Ferner versucht er aus diesem Material die Fragen zu beantworten, ob und
welche psychologische Schlüsse, sowie ob und welche praktischen Folgerungen
sich aus den Tätowirungen ziehen lassen.
Er gelangt zu folgenden Anschauungen:
I. Das Tätowiren ist kein Beweis für eine angeborene Minderempfindlich¬
keit, denn die Mehrzahl auch der unbescholtenen Tätowirten bekundet, dass die
Prozedur nicht besonders wehe thut; bisweilen beobachtete Ohnraachtsanfälle
sind Shokerscheinungen wie sie bei sehr robusten Leuten nicht selten mit kleinen
Operationen, wie z. B. dem Impfen, einhergehen. Sehr zahlreiche Tätowirungen
und solche an schmerzhafteren Hautstellen findet man besonders bei Personen
mit einer durch die Art der Lebensführung abgehärteten Haut (Vagabonden).
II. Die Häufigkeit des Tätowirens ist bei Unbescholtenen wie bei Be¬
straften nach der Mode und der Nationalität verschieden. Die Hauptursache
des häufigen Vorkommens bei Gefangenen ist das gezwungene längere Bei¬
sammensein jugendlicher Individuen ohne genügende Aufsicht, Beschäftigung
und Zerstreuung.
III. Eine „anthropologische Einheit* im Inhalt und Umfang der Täto¬
wirungen besteht bei Verbrechern nicht. Dieselben beschränken sich bei den
Beobachteten fast nur auf Oberkörper und Arme. Erotische und unanständige
Bilder sind sehr selten; eine Kennzeichnung gewisser Verbrecherkategorien wie
der Päderasten durch charakteristische Bemalung des Unterkörpers fehlt ganz.
Eine Symbolik ist nur andeutungsweise vorhanden und unterscheidet sich keines¬
wegs von den symbolischen Darstellungen, wie sie in niederen Volksschichten
im Allgemeinen sich finden.
IV. Nur in wenigen Ausnahmefälleu lassen die Tätowirungen Rückschlüsse
auf Seelenleben des Individuums. Dann handelt es sich nicht um das gewöhn¬
liche Einstechen von Nadeln und Einreiben mit Farbe, sondern um schmerzhaftere
Prozeduren, Einschnitte oder Stiche mit glühenden Nadeln ohne Färbung. Hier
hing die Hautverletzung entweder mit bereits geformten Wahnideen zusammen
oder deutete auf eine Betäubung hochgradiger seelischer Unruhe durch körper¬
lichen Schmerz hin, so dass in der Strafanstalt sich dergleichen Individuen der
besonderen Aufmerksamkeit des Anstaltsarztes empfehlen.
Abgesehen davon ist das Bestehen von Tätowirungen praktisch wichtig:
1. Zum Identitätsnachweis, wobei die Gleichförmigkeit vieler Embleme
und der Umstand stört, dass unter Umständen (z. B. Ausschwemmen der Tusche-
tätowirungen mit Spiritus) die Zeichen narbenlos entfernt werden können.
2. Zu Anhaltspunkten über das Vorleben (Soldaten- und Seeleben, Auf¬
enthalt in bestimmten Gefängnissen, liandw T erkszeicheu etc.).
(Fortsetzung folgt.)
512
Kleinere Mittheilungen and Referate aus Zeitschriften.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
A. Gerichtliche Medizin.
Die Beurtheilung der perversen Sexnaivergehen in foro. Von
Dr. C. Seydel, ausserordentl. Professor und Pol. Stadtphysikus in Königs¬
berg i. Pr. Vierteljahrsschrift für gerichtl. Medizin, Band V, 1893, Heft 2.
Das interessante Buch von Moll über die konträre Sexualempfmdung,
wie Krafft-Ebing’s Psychopathie sexualis (in Nr. 16 dieser Zeitschrift ein¬
gehend besprochen), lassen eine geradezu erschreckende Ausbreitung der per¬
versen Sexualempfindung und - Vergehen in dieser Richtung unter den heutigen
Kulturvölkern erkennen, von denen sich Uneingeweihte bis dahin eine Vor¬
stellung wohl kaum gemacht haben. Die schweren Psychosen, die zu unsitt¬
lichen Ausschreitungen führen, pflegen sich der Oeffentlichkeit gewöhnlich nicht
lange zu entziehen. Sie wenden sich relativ häufig gegen Kinder, werden auf
offener Strasse mit einer unglaublichen Schamlosigkeit ausgeführt und kommen
daher gewöhnlich bald zu strafrechtlicher Verfolgung. Anders steht die Sache
bei päderastischen Attentaten, die oft Jahre lang mit einer Schlauheit und
ängstlichen Vermeidung von Entdeckung betrieben werden, das« nur gewisse
Kreise darum wissen.
Seydel theilt die perversen Sexual vergehen in zwei Gruppen, je nachdem
sie in Abweichungen und Verirrungen des normalen Geschlechtstriebes dem
weiblichen Geschlecht gegenüber, oder in päderastischen oder gar sodomitischen
Exzessen bestehen. Die Verirrungen der ersten Gruppe beschäftigen den Straf¬
richter sehr selten. Sie spielen sich, abgesehen von wirklich Geisteskranken, in
der Sphäre der Prostitution ab und werden von bestimmten Individuen dieser
Klasse bereitwillig unterstützt. In foro werden päderastische Perversitäten
sehr viel leichter Objekte richterlicher Aburtheilung als Perversitäten gegen
das weibliche Geschlecht, da nach §. 175 des St.-G.-B. hierbei nur accidentelle
Vergehen strafbar sind.
Der Verfasser präcisirt nun den Standpunkt, den der Gerichtsarzt den
Aeusserungen der sexuellen Perversität gegenüber einzunehmeu hat und stellt
es ausser Zweifel, dass solche Aeusserungen im Interesse der öffentlichen Sitt¬
lichkeit durch Strafe verfolgt und zurückgedrängt werden müssen. Es ist nur
die Frage, wann wir wirkliche geistige Verirrung, wann geistige Erkrankung
und die sexuelle Perversität gewissermassen als Symptom derselben anzu¬
sehen haben.
Stellt sich bei einem jugendlichen, im Uebrigen im Nervensystem nicht
abnormen Individuum, bei dem hereditäre Belastung nachweisbar, sexuelle Per¬
versität ein, so ist dagegen, so lange keine Kollision mit dem Strafgesetz
erfolgt, Nichts zu thun; es wäre falsch, alle diese nervös überreizten Menschen
als geisteskrank anzusehen. Kommen durch derartige Individuen Ueberschreitungen
des Strafgesetzes vor, so wird man denselben Massstab wie an geistig Gesunde
anlegen und nur die erfahrungsmässig schwache Resistenz solcher Individuen
gegen alle körperlichen und geistigen Austreibungen und Reize, namentlich die
schwache Toleranz gegen Alkohol berücksichtigen. Üb hierdurch verminderte
Zurechnungsfähigkeit angenommen werden kann, muss dem Urtheil des Sach¬
verständigen anheim gegeben werden. Anders stellt sich die Sache bei hereditär
schwer belasteten, für gewöhnlich normal empfindenden und handelnden Indivi¬
duen, bei denen periodisch unbegreifliche, schamlose Exzesse beobachtet werden.
Die einzelnen Exzesse charakterisiren sich nicht selten als epileptische Aequi-
valente, namentlich durch die deutlich angegebenen Vorboten, Aura, die Kopflosig¬
keit des Handelns und die nicht als Simulation aufzufassende Amnesie. Die¬
selben sind als Geisteskranke anzusehen. Eine dritte Gruppe wird direkt Geistes¬
kranke umfassen, die sexuelle Exzesse im Anfangsstadium einer sich ent¬
wickelnden Geisteskrankheit zeigen. Bei diesen wird neben sexuellen Exzessen,
die bis dabin nicht vorgekommen sind, sehr bald eine durchgreifende Verände¬
rung der Psyche gefunden werden können. Alkoholische und überhaupt toxische
Psychopathien scheinen besonders leicht zu sexuellen Perversitäten in ihrem
Anfangsstadium Anlass zu geben. Grosse Vorsicht und unter Umständen Be¬
obachtung in einer Irrenanstalt ist hier zu empfehlen. Dass übereilte und allzu
sehr auf Simulation gerichtete Urtheile in dieser Beziehung viel Unheil anrichten
können, beweist die alljährliche Praxis der Irrenanstalten. Und wenn das Straf-
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
513
verfahren den humanen Grundsatz in dubiis pro reo in freier Praxis aufrecht
erhält, so haben die ärztlichen Sachverständigen als Organe der Rechtspflege
dieselbe Pflicht. Dr. Dü tschke-Aurich.
Der Geisteszustand der Gebärenden. Von Dr. Dörfler. Fried-
reich’s Blätter, Heft IV, 1893.
I. Der physiologische Geisteszustand der Gebärenden.
Aus dem mächtigen Einfluss der Schwangerschaft auf das Gehirn
entspringen in der Schwangerschaft die mannigfachen Veränderungen der
Psyche (Erbrechen, sonderbare Gelüste Schwangerer, Aenderungen der Ge-
müthsstimmung, Schwindelanfälle etc.). Der Geisteszustand Gebärender, aufs
ungünstigste durch die vorausgegangene Schwangerschaft beeinflusst, ist während
des Geburtsaktes den stärksten Schwankungen und Erschütterungen ausgesetzt.
Gemüthsaufregungen durch Angst und Furcht beim Beginn der Wehen, das
Gefühl der Hülflosigkeit beim Fortgang der Geburt, welches bis zur Verzweiflung
gehen kann, die Zunahme der GemUthsaufregung durch Steigerung des Blut¬
druckes im Gehirn während des Mitarbeitens in der Austreibungsperiode, die
Freude bei sichtbarem Fortschritte und bei Beendigung der Geburt, die nicht
seltenen Ohnmachtsanwandlungen in diesen letzten schmerzhaften Momenten
machen das psychische Gleichgewicht zu einem sehr labilen, können eine Gleich¬
gewichtsstörung im psychischen Verhalten erzeugen und dies in physiologischer
Breite ohne pathologischer Bedeutung. Die Zurechnungsfähigkeit ist in den
meisten Fällen erhalten, doch können begünstigende Momente, wie neuropathische
Belastung, abnorm schmerzhafte Wehen, abnorme Widerstände, heimliche Geburt,
vorausgegangene Gemüthsdepressionen, besonders bei unehelich Gebärenden das
Gleichgewicht aufbeben.
Die pathologischen Geisteszustände der Gebärenden können in Er-
schöpfungs- und Erregungszustände eiugetheilt werden.
Die Erschöpfungszustände sind zu trennen in zwei Unterabthei¬
lungen :
a) Grosse, geistige und körperliche Ermattung, Schwäche unmittelbar nach
der Geburt.
b) Schwinden der Sinne, sich äussernd in Form von Ohnmacht, in Form
von Scheintod, in Form von Schlafsucht.
Während erstere Zustände bei vielen Geburten beobachtet werden, sind
Ohnmächten bei den normalen ehelichen Geburten seltener, relativ häufig bei
der heimlichen Geburt. Fälle von Schlafsucht und Scheintod sind wohl in das
Gebiet der Hysterie zu verweisen.
Die Erregungszustände sind einzuthcilen in:
1. Heftige und in das pathologische Gebiet hintiberrcichende Affekte,
Affekte der Verzweiflung bis zur vollen Sinnesverwirrung.
2. Wuthzornartigc Erregungszustände.
3. Mania transitoria.
4. Raptus melancholicus.
5. Transitorische Neurosen auf epileptischer und hysterischer Grundlage.
8. Die eklamptische Bewusstseinsstörung.
7. Delirienartige Zustände im Fieber.
Dr. Ru mp-Osnabrück.
Blutspuren von zerdrückten Wanzen herrührend. Von Dr. Joh.
Schuf er, Wiener klinische Wochenschrift, 1893, Nr. 35.
In einem Mord - Prozesse hatte der Angeklagte behauptet, blutverdächtige
Flecke, welche an seiner Unterhose gefunden waren, seien durch Zerdrücken
einer Wanze entstanden.
Ihre Untersuchung auf Haemin ergab ein positives Resultat. Auch
stimmte die Grösse der in ihnen enthaltenen rothen Blutkörperchen mit der¬
jenigen beim Menschen überein.
Nachdem Versuche ergeben hatten, dass nach dem Zerdrücken von Wanzen
auf Geweben und Wegwischen des Wanzenbalges stets Theile der Athmungs-
organe in Form oft verzweigter Tracheen und borstenähnliche braun gefärbte
Gebilde der Körperoberfläche der Thiere Zurückbleiben, untersuchte Verfasser
grössere Bröckelchen der qu. Blutflecke und fand in ihnen sowohl mehrere
514
Kleinere Mittheilungen nnd Referate ans Zeitschriften.
Tracheen, als auch ganze und abgebrochene Borsten. Aehnlichc Borsten kommen
bei anderen blutsaugenden Insekten nicht vor.
Das Gutachten wurde deshalb dahin abgegeben, dass die fraglichen Flecke
wahrscheinlich von Menscheublut, sicher aber von Säugethierblut herrührten,
und die Aunabme, es seien dieselben durch Zerdrücken einer mit Blut angesoge¬
nen Wanze entstanden, begründet erscheine.
Der erwähnte Fall gab Anlass, Flecke zu untersuchen, welche sich auf
dem Hemd eines hochgradig mit Läusen versehenen Menschen fanden. Auch
hier gelang die Darstellung von Haeiuiukrystallen. Die Flecke enthielten ferner
Harnsäurekrystalle — von den Exkrementen herrührend — und einfache, spitz¬
zulaufende Borsten sowie Theile der Oberkiefer.
Dr. Flatten-Wilhelmshaven.
B. Hygiene und öffentliches Sani täts wesen:
Scharlach und Impfung. Von Dr. Woltemas, Kreisphysikus in
Diepholz.
Vor acht Wochen hatte ich Gelegenheit, den gewiss seltenen Fall zu beob¬
achten, dass ein Arzt mit floridem Scharlach impfte, und da er für die Frage
der Ansteckungsgefahr nicht ohne Interesse ist, theile ich ihn hier mit.
Herr Kollege F. hatte am Morgen des 12. Juli einen Impftermin abge¬
halten, Nachmittags hatte er Angina und eine Temperatur von 38.5. Am Morgen
des 13. betrug die Temperatur 40,0, die Angina war stärker und das charakte¬
ristische Exanthem trat auf. Trotz seines schlechten Befindens impfte der
Kollege, der an keinen Scharlach dachte, am 13. an seinem Wohnorte und am
14. in einer Nachbargemeinde. Am 15. sah ich ihn zuerst; das Exanthem war
auf seiner Höhe, die Diagnose „Scharlach“ ganz unzweifelhaft.
Ich habe nun die Nachrevisionen abgehalten, mich aus begreiflichem
Interesse an der Sache seither mehrfach um das Schicksal der geimpften Kinder
bekümmert und kann mit Bestimmtheit versichern, dass Erkrankungen an Schar¬
lach bei ihnen nicht vorgekommeu sind. Dabei hatte wenigstens von den Erst¬
impflingen noch keiner Scharlach gehabt. Der Kollege hatte vier Wochen vor
seiner Erkrankung einen Scharlachfall in Behandlung bekommen, und sich im
Verlaufe derselben wahrscheinlich infizirt, weitere Fälle wie diese beiden sind
in der ganzen Gegend nicht vorgekoramen.
Uebrigens findet sich auch bei Guttstadt (Das Impfwesen in Preussen.
Nach amtlichen Quellen bearbeitet. Berlin 1890) kein Fall davon berichtet,
dass die Verbreitung von Scharlach durch die Impfung begünstigt würde.
Ueber die Beschaffenheit des Berliner LeitungsWassers in der
Zeit vom April 1890 bis Oktober 1891, nebst einem Beitrag znr Frage
der Bleiauftiahme durch Quellwasser. Von B. Proskauer. Zeitschrift
für Hygiene und Infektionskrankheiten; Bd. XIV, H. 2.
Der Aufsatz besteht eigentlich aus zwei vollständig getrennten Arbeiten,
von denen die erstere sich mit den Resultaten der chemischen und bakteriologi¬
schen Untersuchung des Wassers beschäftigt, wie es die (damaligen) beiden
Berliner Leitungen zu der angegebenen Zeit lieferten. Derartige Untersuchungen
können jetzt neue, bahnbrechende Gesichtspunkte kaum mehr ergeben, sie dienen
vielmehr wesentlich zr Bestätigung früher bereits gewonnener Resultate. Auch
die vorliegende Arbeit liefert wenig Neues, bietet aber doch Manches, was ein
über lokale Verhältnisse hinausgeheudes Interesse beansprucht. Die Vergleichung
des Wassers der Stralauer Werke, welche sehr verunreinigtes Spreewasser zu ver¬
arbeiten haben, mit dem Tegler Seewasser, welches den grösseren Theil der Stadt
versorgt, beweist die Nothwendigkeit, von vornherein ein möglichst reines „Roh¬
wasser“ zur Filtration zu verwenden und für Berlin die, nach Fertigstellung
des neuen Müggelsee-Wasserwerkes voraussichtlich zu erreichende Nothwendig¬
keit, die veralteten Stralauer Werke gänzlich ausser Betrieb zu setzen. Im
Uebrigen wird auch in dieser Arbeit die Nothwendigkeit täglich vorzunehmender
bakteriologischer Kontrole betont. —
Der zweite Theil behandelt die Verhältnisse der kleinen Stadt Kal au
(Niederlausitz), welche ein in der Nähe der Stadt entspringendes, reines Quell -
wasser durch eiserne, asphaltirte Strassenröhren und durch, zum Theil sehr
Kleinere Mittheilnngen und Referate atu* Zeitschriften.
515
emre, bleierne Hausanschlüsse den Konsumenten zuführt. Bereits acht Wochen
nach Fertigstellung dieser Leitung wurden durch den Kreisphysikus Dr. S i e h e
in Kalftu zwei schwere Erkrankungsfälle als chronische Bleivergiftung richtig
diagnostizirt und wurde Blei im Trinkwasser nachgewiesen. Die von Proskauer
angestellte Untersuchung ergab, dass das Wasser, wenn es über Nacht in den
bleiernen Röhren gestanden hatte, einen gewissen, übrigens nicht direkt von der
Länge der Rohrleitung abhängenden Bleigehalt besass. Als Ursache der Blei-
aufnahme ergab sich, ebenso wie in Dessau und Wilhelmshaven, der
reichliche Gehalt des Wassers an freier und halbgebundener Kohlensäure neben
einer geringen Menge überhaupt vorhandener Karbonate, bezw. einer geringen
Härte. Zur Verhütung weiteren Unheils dient zunächst die Anempfehlung des
einfachen Verfahrens, Morgens etwa 10 Liter unbenutzt laufen zu lassen, dann
das Verbot der Neuanlage längerer bleierner Rohrleitungen, schliesslich der
geplante, nach nnd nach vorzunehtnende Ersatz der bleiernen Rohre durch
eiserne. Dr. L ang er h ans-Celle.
Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken in
medizinisch-polizeilicher Hinsicht. Von Dr. Hoffmann, Kreiswundarzt in
Halle a. S. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitäts¬
wesen 1893, V. Band, Heft 2 und 3.
Der Umstand, dass der Hauptsitz der Theer- und Paraffinindustrie in
nächster Nähe des amtlichen Wirkungskreises des Verfassers, nämlich der näheren
und weiteren Umgebung von Halle und Weissenfels sich befindet, wodurch ihm
Gelegenheit geboten wurde, die verschiedensten Schweelereien und Mineralöl¬
fabriken selbst eingehend zu besichtigen, setzte ihn auch in den Stand, sowohl
den Betrieb der genannten Fabriken, als auch die spezifischen Krankheiten jener
Arbeiter näher zu studiren und die gesundheitlichen Schädigungen, welche aus
dem Betriebe resultiren, kennen zu lernen.
Die spezifischen Krankheiten in Theer- und Paraffinfabriken sind nach
dem Autor viel seltener geworden und treten fast nur in milderen Formen auf.
Einen grossen Einfluss auf die häufigeren oder selteneren Erkrankungen hat
imm^r die Beschaffenheit des zu verarbeitenden Materials (Kohle, Theer). In
der Theerschweelerei und Paraffinfabrikation kommen Augenentzündungen
und Theer- bezw. Paraffinkrätze vor, ausserdem ist Magenkatarrh
beobachtet worden. Die Augenentzündungen werden hauptsächlich durch ge¬
schwefelte Kohlenwasserstoffe bedingt, und zwar sowohl in der Schweelerei wie
auch in der Paraffinfabrik. Eine gewisse individuelle Disposition macht sich bei
allen Augenentzündungen bemerkbar. Zur Verhütung der Augenentzündungen
ist für gute Ableitung der sich bildenden schädlichen Gase, genügende Ventilation
des ganzen Gebäudes und vorschriftsmässiges festes Schliessen der Mischgefässe
Sorge zu tragen. Als Prophylaxe und Therapie für Theer- und Paraffinkrätze
steht Reinlichkeit oben an. Paraffinkrätze wird durch die sogenannten
„Dunkelöle“ und wahrscheinlich durch das in denselben enthaltene Kreosot
erzeugt und befällt fast nur Arbeiter an der Presse und im Krystallisationsraum.
Zur Verhütung der Th^erkrätze muss jede Theer- und Paraffinfabrik eine Bade¬
anstalt besitzen, wo jeder Arbeiter mindestens ein Vollbad in der Woche zur
Arbeitszeit erhält, unter gleichzeitiger Verabreichung einer bestimmten Portion
Seife. In den Arbeitskleidern darf kein Arbeiter die Fabrik verlassen. In lang¬
wierigen Krankheitsfällen ist Wechsel der Arbeit geboten Wirken die Reizungen,
durch welche die Paraffiukrätze entsteht, andauernd weiter, so kann bei fehlen¬
der Hautkultur und gewisser individueller Disposition aus der Paraffinkrätze
Paraffinkrebs entstehen. Der Fussboden der Fabrik ist der leichteren
Reinigung halber aus Asphalt oder Eisenplatten herzustellen, das Tragen von
„Holzpantoffeln“ ist zu verbieten. Ders.
Morbidität und Mortalität der Bergarbeiter, insbesondere im
rheinischen Gebiet, und die zur Veränderung derselben erforderlichen
Massregeln. Von Dr. Körfer in Aachen. Vierteljahrschrift für gerichtliche
Medizin und öffentl. Sanitätswesen. V. Band, 1 Heft, 1893.
Der Verfasser schildert in seiuer verdienstvollen Arbeit zunächst im All¬
gemeinen die durch den Beruf bedingten, die Gesundheit schädigenden Einflüsse
beim Bergarbeiter und wendet sich sodann, gestützt auf die in der „Zeitschrift
516
Kleinere Mittheilnngen und Referate ans Zeitschriften.
für Bergbau-, Hütten- und Salinenkunde“ veröffentlichten Knappschaftsbericht«
de9 Oberberganitsbezirk Bonn, den Morbiditäts- und Mortalitätsverhältnissen der
rheinischen Bergarbeiter zu.. Auf Grund seiner Untersuchungen gelangt er
zu dem Schluss, dass die Morbidität im Allgemeinen bei den Steinkohleuberg-
arbeitern die günstigsten Verhältnisse aufweist, dass dann die Erzbergarbeiter
und an dritter Stelle die Braunkohlenbergarbeiter folgen, während in der Mor¬
talität die Steinkohlenbergarbeiter am ungünstigsten gestellt sind. Es beruht
dieser scheinbare Widerspruch darauf, dass bei den Steinkoblenbergarbeitern die
tödtlichen Verletzungen nicht unbedeutend häufiger sind. Die Morbidität wird
wesentlich durch das Alter beeinflusst. Unter den rheinischen Bergarbeitern ist
die Morbidität wie Mortalität eine grössere als unter sämmtlichen preussischen
Bergarbeitern zusammen, obwohl die Todesfälle durch Verletzungen unter den
rheinischen Bergarbeitern seltener sind, als unter sämmtlichen preussischen Berg¬
arbeitern zusammen. Während sich in der Mortalität von 1869—1888 ein stetiger
Fortschritt zur Besserung konstatiren lässt, ist die Zahl der tödtlichen Ver¬
letzungen im preussischen Bergbau von 1850—1880 stetig im Steigen begriffen,
auch erscheint die Sterblichkeit unter den Bergarbeitern in Preusscu zwischen
dem 16. und 55. Lebensjahre geringer, als unter der gleichaltrigen mäunlichen
Bevölkerung Preussens. Der Bergarbeiterberuf ist demnach, was Schädigung
von Gesundheit und Leben anlangt, der hygienisch günstiger gestellten Hälfte
von Berufsarten zuzuzählen, obwohl die Gefahren, welche Gesundheit und Leben
des Bergarbeiters bedrohen, nicht zu unterschätzen sind.
Um den Bergarbeiter vor Gesundheitsschädigungen durch schlechte Luft
zu schützen, ist vor Allem einer guten Ventilation die weitgehendste Auf¬
merksamkeit zu schenken. Es sind besondere Wetterschächte oder, wo die Ver¬
hältnisse es gestatten, Wetterstollen anzulegen, durch welche die verbrauchten
Wetter ihren Abzug finden und zwar, indem die verbrauchten Wetter durch auf
mechanischem Wege in die einzelnen Stollen hineingepresste, unverdorbene Luft
heraus gedrückt werden, oder durch in oder über dem Wetterschacht angebrachte
Ventilation, sogen. Wetterräder angesogen werden (Succionsprinzip). Zur Ver¬
hütung von Gesundheitsschädigungen durch häufigenTemperaturwechsel
empfiehlt Körfer das Anlegen leichter leinener Arbeitshemden vor
Ort, und beim Verlassen der Arbeitsstätte das Bekleiden mit einem wolleneu
Hemd, in dem der Weg zum Schacht und die Ausfahrt zu machen sind. Als
ein weiteres Erforderniss wird das Vorhandensein einer hinreichenden Anzahl
von Warmwasserbransen in den Wasch- und Ankleideräumen zur Reini¬
gung des ganzen Körpers und das Aufstellen von mit Wasser gefüllten Spuck-
näpfen in jenen Räumen angesehen für die nach dem Waschen meist reich¬
lichere Exspiration. Um eine überflüssige Anstrengung der Körperkräfte zu
vermeiden, sollte den Arbeitern Gelegenheit gegeben werden, sich zur An- und
Ausfährt der Seilfahrt zu bedienen, die Benutzung von Fahrten und Fahr¬
künsten ist zn verbieten. Von grosser hygienischer Wichtigkeit für den Berg¬
arbeiter ist die Sorge sodann für gute Wohnung und einwandsfreies Wasser,
am besten Wasserleitung. Dr. Dütschke-Aurich.
Die Kohlenoxydgasvergiftnng and die zu deren Verhütung ge¬
eigneten sanitätspolizeilichen Massregeln. Von Dr. Ernst Becker, ehem-
Assistenzarzt an der medizinischen Universitätsklinik des Professors E bst ein-
Göttingen. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitäts¬
wesen 1893, V. Band, Heft 1 und 2.
Von sämmtlichen Vergiftungen ist, wie man statistisch nachweisen kann,
diejenige durch Kohlenoxyd die bei Weitem häufigste und berechnet der Ver¬
fasser einen Prozentsatz von 36 bezw. 42 °/ 0 der durch Kohlenoxyd zu Stande
kommenden Vergiftungen im Verhältniss zu den übrigen Vergiftungen. Der
Gerichtsarzt wie der Gesundheitsbeamte wird es daher dem Verfasser Dank
wissen, eine so häufig vorkommende Vergiftung zum speziellen Gegenstand der
Behandlung gewählt zu haben, findet er doch in der fesselnd geschriebenen
Abhandlung Alles ihn nur Interessirende übersichtlich zusaromengestellt.
Nach einer kurzen Einleitung über die Eigenschaften des Kohlenoxydes
und die Theorien der Wirkung, wendet sich Beek er der Aetiologie der Kohlen¬
oxydvergiftungen zu und schildert die in Frage kommenden Gasmengen, den
Kohlendunst, das Leuchtgas, das Wassergas und verwandte Produkte, wie die
Besprechungen.
517
Minengasc in physikalischer und chemischer Beziehung; bei dem Kapitel „Kohlen¬
dunst“ finden die verschiedenen Heizvorrichtungen, die berüchtigte Ofenklappe,
die Füllöfen, der Carbon - Natron - Ofen wie das offene Kohlenbecken gebührende
Würdigung. In dem Abschnitt über „Leuchtgas“ hebt der Verfasser hervor,
dass Vergiftungen in Folge von Rohrbrüchen besonders deshalb so gefährlich
sind, weil das Leuchtgas erstens seinen charakteristischen Geruch einbüsst, wenn
es lange Strecken Erdboden durchströmt, und zweitens der Gehalt von Kohlen¬
oxyd dadurch, dass die schweren Kohlenwasserstoffe und das Sumpfgas vom
Boden absorbirt werden, relativ zunimmt; ein derartiger Fall, welchen Verfasser
während seiner Assisteutenzeit in der Göttinger medizinischen Klinik beobachtete,
wird im Anschluss hieran geschildert. Zur Symptomatologie der Kohlenoxyd-
vergiftuugen sodann übergehend, theilt Becker die Vergiftungen in akute
Vergiftungen ein, die je nach der Menge des eingeathmeten Gases entweder in
Genesung oder Tod übergehen können, zweitens in chronische Vergiftungen,
wie man solche gelegentlich bei Fabrikarbeitern beobachtet, die längere Zeit
hindurch geringe Mengen Kohlendunst oder Leuchtgas einzuathmen gezwungen
sind und drittens in ein Heer von Nachkrankheiten, welche sich an eine
akute, glücklich überstandene Kohlenoxydvergiftung anschliessen können. Eine
übersichtliche und eingehende Behandlung hat auch die pathologische Anatomie,
gestützt auf die Arbeiten Lesser’s, Casper-Liman’s und Falk’8, wie
die Untersuchung des Kohlenoxydblutes erfahren; Diagnose, Prognose und
Therapie bilden den Schluss des ersten Theiles der Arbeit.
Bezüglich der sanitätspolizeilichen M assreg ein zur Ver¬
hütung der Kohlenoxyd Vergiftungen hält Verfasser in erster Linie
eine Belehrung des Publikums über die Giftigkeit des Gases und die
Gefahren, welche mit seiner Verwendung verknüpft sind, durch Wort und
Schrift für durchaus erforderlich und verlangt in industriellen, mechanischen
und technischen Schulen eine gründliche Ausbildung tüchtiger Techniker, welche
Arbeitgebern wie Arbeitnehmern belehrend und aufklärend im Fabrikbetriebe
zur Seite stehen. Ebenso erwartet er von dem mit der staatlichen Beaufsich¬
tigung der Fabriken betrauten Institut der Gewerbeinspektoren eine wesentliche
Verminderung der Gefahren. Zu den Massregeln im Besonderen, welche
die Kohlendunstvergiftungen zu bekämpfen vermögen, sind zu rechnen, das
Verbot der Ofenklappen, die Reinhaltung aller Heizapparate, Oefen
sowohl wie Centralheizungen, Entfernung von Russablageruugen in den Zügen,
Rauchrohren und Schornsteinen wie der Niederschläge von Staub und Schmutz
auf den Heizflächen, weil durch das Erhitzen derselben ein brenzlicher Geruch
im Zimmer entsteht. Es ist weiter auf die Gefährlichkeit der Carbon - Natron-
Ocfen aufmerksam zu machen, wie bereits von einzelnen Verwaltungsbehörden
geschehen, offene Kohlenbecken in geschlossenen Räumen sind nicht zu ver¬
wenden, verborgene Balkenbrände müssen durch geeignete baupolizeiliche
Massnahmen verhütet werden. Die in den verschiedensten industriellen Betrieben,
vor Allem beim Hochofenprozesse entstehenden kohlenoxydhaltigen Gas¬
gemische werden zweckmässig unter geeigneten Sicherheitsmassregeln in
besonderen Ableitungsrohren unter den Rost der Feuerung geleitet, wo sie als
Brennmaterial passende Verwendung finden. Gegen schlagende Wetter ist
das einzig wirksame Mittel nur eine gute Ventilation, durch welche die
aus den Spalten der Kohle sich entwickelnden Gase von dem Luftstrom beständig
fortgeffihrt werden. Die wichtigste Massregel zur Verhütung einer Vergiftung
durch Leuchtgas muss, da der Technik eine Verringerung des Kohlenoxyd¬
gehaltes z. Z. noch nicht gelungen ist, die Prophylaxe des Rohrbruches
bilden; hierhin gehört auch der von Baurath C. Schmidt in Breslau konstruirte
Undichtigkeitsprüfer für Strassengasleitungen in Verbindung mit End¬
ventilation, worüber das Original einzusehen ist. Zur Verhütung der Minen¬
krankheit schliesslich sind vielfach kohleärmere Pulver beim Sprengen
empfohlen, das sicherste Mittel bleibt indessen immer eine schleunige Entfernung
der Gase aus den Minen durch grosse, mittelst Wasser- oder Dampfkraft ge¬
triebene Ventilatoren. Ders.
518
Besprechungen.
Besprechungen
Stabsarzt Prof. Dr. Behring: Die Geschichte der Diphtherie.
Mit besonderer Berücksichtigung der Immunitäts¬
lehre. Verlag von Georg T hie me. Leipzig 1893.
Es ist nicht leicht, Geschichte zu schreiben. Als besonders schwer aber
muss es gelten, die Geschickte einer Krankheit zu schreiben, wie die Diphtherie
es ist, über deren Wesen der Streit der Meinungen noch in den letzten Jahren
hin und her gewogt hat und über deren Behandlung trotz aller der neuen MitteL,
welche alljährlich auftauchen und die gegen die Krankheit empfohlen werden,
irgend eine Uebereinstimmung nicht hat erzielt werden, wenigstens sichere
Erfolge und stichhaltige Proben nicht haben berichtet werden können.
Behring hat diese Aufgabe in eigener Weise, aber zielbewusst gelöst.
Er gräbt aus dem Pompeji Bretonncau’scher Schriften klassische Fragmente
aus und fügt die alten Steine zu einem festen Neubau zusammen. — Es sind
fast 40 Jahre her, dass Bretonnean die Ansicht verfocht, dass die Diphtherie
eine direkt kontagiöse Krankheit sei. Der sichere Beweis hierfür ist Oertel
durch seine Thierexperimente nur zum Theil geglückt, er ist erst durch Löffler
erbracht worden, welcher den Diphtheriebacillus entdeckte und rein züchtete.
Auf dieser Basis ruht der jetzt als zweifellos richtig anerkannte Satz: „Die
Diphtherie ist eine vermeidbare Krankheit“. Auf ihr ruht ferner die Schutz¬
methode gegen die Diphtherie und die Heilmethode Behring’s.
Es ist eine bekannte Thatsache, dass Krankheiten von selber heilen; atn
auffälligsten ist dieses bei den typisch verlaufenden Krankheiten. An ihnen sehen
wir, dass ein Körper, welcher in der Acme aufs schwerste zu leiden hat, in
der Krisis plötzlich ohne jede Einwirkung von aussen seine Gesammtthätigkeit
ändert und der Kranke gesund wird. Wir müssen annehmen, dass in dem
Körper selber irgend welche Veränderungen vor sich gehen, welche diesen Um¬
schlag bewirken. Früher suchte man den Heilfaktor in der Lebenskraft, in
neuester Zeit in der Thätigkeit der Blutzellen, denen man gleichsam ein selbst¬
ständiges Leben und damit die Fähigkeit zuschrieb, Krankheitstoffe, speziell
organische Krankheitskeime zu zerstören (Phagocyt.cn- Theorie). Behring hat
nachgewiesen, dass diese Ansicht eine falsche ist; dass nicht die geformten Be¬
standteile des Blutes, die Blutzellen, einen Einfluss auf den Verlauf der Krank¬
heit auszuüben vermögen, sondern dass die Blutflüssigkeit, das Blutserum, die
Heilfaktoren in sich birgt. Er hat nachgewiesen, dass bei Thieren, welche eine
Infektion mit Diphtheriebazillen glücklich überstanden haben, das Serum im
Stande ist, andere Thiere, denen es in die Blutbahn gebracht wird, gegen
Diphtherie zu schützen, sie zu immunisireu. Eben dasselbe Blut, nachdem es
von allen körperlichen Elementen befreit ist, besitzt noch die Fähigkeit, Indi¬
viduen nach der Infektion mit den in Frage kommenden Infektionsstoffen
zu heilen.
Was Behring zunächst an kleinen Thieren, an Mäusen, auszuführen
geglückt ist, das hat er durch ununterbrochene sorgfältigste Arbeit schliesslich
für grosse Thiere (Schafe, Pferde) erreicht und bewiesen. Dadurch hat er grössere
Mengen von Blutserum gewonnen, und nun steht ihm eine hinreichende Menge
davon zur Verfügung, um auch Menschen gegen Diphtherie zu schützen, ja sogar
sie zu heilen. Die vorbereitenden Versuche werden bereits in der Kinderab¬
theilung der Königlichen Charite angestellt.
So sehen wir denn zum ersten Male gegenüber den bisherigen symptomati¬
schen Mitteln ein eigentliches Diphtherie - Heilmittel, und da Behring in gleicher
Weise gegen den Tetanus vorgegangen ist, da sich auch bei den Streptokokken¬
krankheiten ähnliche Erfolge erwarten lassen, so eröffnet sich ein weiter Aus¬
blick auf neue Heilmittel zur Behandlung innerer Krankheiten. Jahrtausende
hat die Medizin gebraucht, um schliesslich aus dem ganzen Schatze ihrer Mittel
einige wenige als wirkliche Heilmittel aufstellen zu können. Mit Jod, Queck¬
silber, Chinin und Eisen dürfte deren Zahl wohl erschöpft sein. Sollte wirklich
nach weiteren mehreren Jahrtausenden, in welchen gleicherweise empirisch vor¬
gegangen wird, die Wissenschaft wieder nur um 4 wirkliche Heilmittel be¬
reichert sein? Die Behring’sehen Arbeiten lassen uns Anderes erhoffen.
Wer erwartet, in Behring’s „Geschichte der Diphtherie“ eine Reihe
Besprechungen.
619
von Heilmethoden, wie sie zeitweise über dem Spiegel der ärztlichen Praxis
aufgetaucht sind, nm bald wieder zu verschwinden, historisch aufgeführt zu
linden, der wird enttäuscht sein. Behring schildert gleichsam nur die grossen
Schlachten, welche im Kampfe gegen die Diphtherie unter der Fahne kontagio-
nistischer Anschauungen geschlagen worden sind. In den Vordergrund stellt er
Bretonneau mit seinen epidemiologischen, klinischen und immerhin nicht zu
unterschätzenden pathologisch-anatomischen Beobachtungen Uber Diphtherie.
Dann folgen die Versuche über Impfdiphtherie der Thiere von Cbaussier,
Trendelenburg und namentlich Oertel. Eine fernere wichtige Etappe
bildet Koch’s Lehre von der Spezitizität und Artverschiedenbeit der differenten
Krankheitserreger. Ihm schliesst sich Löffler’s Entdeckung und ('harakteri-
sirung der Diphtheriebazillen an und fioux’ und Yersin’s Studien über die
Bakteriengifte, speziell das Diphtheriegift. Diesen lässt Behring eine histori¬
sche Uebersicht der Versuche zur Verhütung und Heilung der Diphtherie folgen.
Schliesslich bespricht er in knapper, übersichtlicher Form die Blutserumtherapie
und zwar die wissenschaftlichen Voraussetzungen derselben, die Methoden der
Immunisirung und die Eigenschaften des Heilserums. Daneben findet sich
manches interessante Wort über ärztliche Statistik, über Krisen, über die
Tracheotomie, über Gifte der Eiweisskörper und Anderes. —
Wer im Kampfe steht, der schlägt Wunden, oft auch solche, die er viel¬
leicht selbst nicht beabsichtigt hat. Wenn Behring einen hochgeschätzten
Kliniker scharf angreift, weil dieser vor 30 Jahren die Diphtherie nicht im
Sinne unserer heutigen Auffassung besprochen hat, so ist dieses wohl nur durch
eine Verstimmung darüber zu erklären, dass er die erste Unterstützung und
Förderung seiner Arbeiten nicht von Seiten der Kliniker, nicht einmal von Seiten
des Mcdiziual - Ministeriums erhalten hat, sondern durch das — landwirtschaft¬
liche Ministerium gelegentlich seiner Arbeiten über das Tetanus-Heilserum.
Wer im Kampfe steht, der muss sich auch Angriffe gefallen lassen; aber
nicht im Kingkampfe einen Angriff' mit einem Ziegenhainer. Im Juni d. J. hat
ein Professor vor einer angesehenen Berliner Aerzte- Versammlung in wenig
liebreicher Weise sich folgendermasseu geäussert: „Von Herrn Behring, zur
Erforschung und Bekämpfung einer Epidemie entsandt, kann man Folgendes
erwarten: Er würde telegraphiren: Hungertyphus. Bazillen gefunden. Gehen
durch Wasser zu Grunde. Besser durch Salzsäure und Methylenblau. Habe
möglichst Alles unter Wasser gesetzt. Sendet sofort Salzsäure und Methylenblau 1“
Derartige Angriffe richten sich selber. Ob die, welche dem Herrn Pro¬
fessor Beifall spendeten, wohl die Behring’schen Veröffentlichungen studirt
haben? Ich glaube es kaum. Und doch gilt meiner Ansicht nach auch für
die medizinische Wissenschaft noch immer das, was Lessing für seine Werke
in Anspruch nimmt:
Wir wollen weniger erhoben
Und fieissiger gelesen sein. —
Es fleissig zu lesen — das bleibt die beste Empfehlung für jedes gute
Buch, auch für Behring’s „Geschichte der Diphtherie“.
Dr. Caspar-Greifenberg i. P.
Tagesnachrichten.
Berufung. Der Direktor der städtischen Irrenanstalt zu Herzberge bei
Berlin, Prof. Dr. Moeli, ist als HiilfsVertreter in das Kultusmini¬
sterium berufen, um dort in der Medizinalabtheilung des Ministeriums die
Bearbeitung des Irrenwesens zu überneh i.en. Es ist das ein Erfolg der berech¬
tigten Bestrebungen der Irrenärzte, der übrigens nicht zum kleinsten Theil auf
Konto der in der Presse lautgewordenen Stimmen über allerhand angebliche
Misstände in unserer Irrengesetzgebung zu setzen sein dürfte.
Cholera. In Hamburg ist die Cholera wieder im Erlöschen begriffen;
vom 28. Septeml>er bis 10. Oktober sind noch 25 Erkrankungen und 15 Todes¬
fälle vorgekommen, ein Theil davon betraf zugereiste Seeleute, die auf ihren
Schiffen erkrankt waren. Altona ist seit dem 80. September völlig cholera-
frei ; am 28. und 29. September sind die letzten Erkrankungen (4) und Todes¬
fälle (1) gemeldet. Eine grössere Anzahl von Choleraerkraukungen sind in den
letzten Tagen (7. bis 10. Oktober) in Stettin aufgetreten: 12 mit 2 Todesfällen;
520
Tagesnachrichten.
im Uebrigen sind in Deutschland vom 28. September bis 10. Oktober noch 23
vereinzelte Erkrankungen und 13 Todestalle vorgekommen, in Kirchborgum (Kreis
Weener) 1 (1), Bodenwerder 1 (—), Geestemünde 1 (—), in Cuxhaven 3 r o t,
Itzehoe 1 (1), Rössen (Kreis Pinneberg) 1 (—), Neuenfelde (Reg.-Bez. Stade)
1 (—), Neuland (Reg.-Bez. Stade) 2 (1), Kiel 3 (1), Alt-Doemitz 2 (2), Sy-
dowsaue (Kreis Greifenhagen) 1 (1), Niederkränig a. d. 0. 2 (--), Hohenkränig
1 (—), Altdamm 1 (1), Grabow a. d. öd. 1 (1), Kratzwieck bei Stettin 1 (1).
In Oesterreich hat sich in Galizien die Zahl der Cholera - Erkran¬
kungen und Todesfälle wie der verseuchten Gemeinden ungefähr auf die Höhe
der Vorwochen gehalten. Sie betrug in der Woche vom 14. bis 26. September
134 (60) in 32 Gemeinden, und in der Woche uom 27. September bis 3. Oktober
129 (64) in 29 Gemeinden, zusammen 263 (124), also seit Beginn der Seuche
912 (524). Am meisten verseucht sind noch immer die Bezirke Nadworna (84
bezw. 37), Kolomea(29 bezw. 16), Sanock (58 bezw. 19) und Stanislau (41 bezw. 20).
In Ungarn haben die Erkrankungen an Cholera eine weitere Abnahme
erfahren; ihre Ziffer stellte sich in der Woche vom 13.—19. September auf 136
mit 93 Todesfällen in 56 Gemeinden, in der Woche vom 20.—26. September
auf 139 mit 69 Todesfällen in 53 Gemeinden. Die Zahl der infizirten Komitate
beträgt nur noch 22; am meisten verseucht sind noch die Komitate Marmaros
(54 bezw. 30) und Bacs-Bodrogh (63 bezw. 89). In Pest sind während des
obengenannten Zeitraums 29 Erkrankungen mit 11 Todesfällen, in Klausen-
burg 11 bezw. 8 vorgekommen.
In Rumänien ist die Cholera im Erlöschen (vom 18.—24. September
sind nur noch 32 Erkrankungen mit 27 Todesfällen vorgekommen); dasselbe gilt
von dem Ausbruch der Seuche in Skutari (Türkei) und Smyrna.
In Italien hat die Krankheit dagegen besonders in Palermo eine
grosse Ausbreitung genommen; die Zahl der Erkrankungen schwankte hier in
der Zeit vom 27. Sept. bis 10. Oktober täglich zwischen 20—30 Erkrankungen
und 13—15 Todesfällen, während in Livorno und Patti sich eine Abnahme
der Erkrankungen bemerkbar machte. Erwähnt zu werden verdient noch der Aus¬
bruch der Cholera auf dem aus Brasilien zurückgekehrten italienischen Packet-
Darapfer „Carlo“; von den Passagieren und der Mannschaft sollen nicht weniger
als 201 Personen der Seuche erlegen sein.
Im nördlichen Spanien hat die Cholera eine grössere Ausbreitung ge¬
nommen, besonders in der Provinz Biscaya, in der vom 26. September bis
1. Oktober 266 Erkrankungen mit 93 Todesfällen gemeldet sind, darunter in
Bilbao 50 (22). Auch in Madrid soll die Seuche aufgetreten sein.
Aus Frankreich sind die Nachrichten über die Verbreitung der Cholera
nach wie vor ungenau und unzuverlässig. In Nantes sollen vom 14.- 27. Sept.
69 Erkrankungen und 31 Todesfälle vorgekommen sein. Aus Brest wird eine
Abnahme der Seuche gemeldet. In Belgien betrug die Zahl der Erkrankungen
vom 10.—30. September 130 mit 97 Todesfällen, davon 61 bezw. 28 in Antwerpen.
In Holland sind während der Zeit vom 19. Sept. bis 3. Okt. im westlichen
Seehafengebiet 85 Erkrankungen mit 54 Todesfällen vorgekommen, davon in
Rotterdam 48 bezw. 28, in den mittleren Landestheilen 20 bezw. 11, in den
östlichen Landestheilen 12 bezw. 5.
In Schweden sind vereinzelte Choleraerkrankungen in Helsingförs und
Umea aufgetreten.
In Russland zeigt sich eine weitere Abnahme der Cholera fast überall
besonders in den Gouvernements Kursk, Monsk, Podolien, Woronesh,
Moskau, Orel, Tula und in der Stadt Moskau, während eine solche in den
Gouvernements Wolhynien, Lomsha und Jekaterinoslaw sowie in Stadt und
Gouvernement Petersburg nicht in dem Masse zu Tage tritt. Die Zahl der Er¬
krankungen bzw. Todesfälle betrug in der Zeit vom 10.—30. September in den
Gouvernements Wolhynien: 1631 (615), in Kiew: 1347 (461), Kursk: 526 (237),
Mohilew: 503 (179), Podolien: 1877 (826), in der Zeit vom 17.—30. September
in den Gouvernements Woronesh: 476 (266), Moskau: 90 (73), Orel: 265 (113),
Tula: 402 (116), Jekaterinoslaw: 713 (312), Lomsha: 445 (211), sowie in der
Zeit vom 27. September bis 9. October in Stadt und Gouvernement Peters¬
burg: 754 (381), dagegen in der Stadt Moskau nur 56 (23).
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- n. Med.-Rath i. Minden i. W.
J. C. C. Brun«, Buo.hdruckerci, Minden.
1891
- Jahr k Zeitschrift
für
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
S:in.-R;ithu.gerichtl.Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in Minden.
und
Dr. WILH. SANDER
Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW.0.
Inserat«, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlung and Rad. Moste
entgegen.
No. 21.
Erseheint am 1. und 15. Jeden Monats.
Preis JEhrlich 10 Mark.
1 .
Novbr.
Die Choleraepidemie in Stettin und dem Kreise Randow
im Herbst 1893.
Kurze vorläufige Mittheilung von Kreisphysikus Dr. B. Schulze und Kreisphysikus
Dr. M. Freyer zu Stettin.
I. Stadt Stettin (Schulze-Stettin).
Nachdem wir im vorigen Jahre eine kleine Choleraepidemie
hier gehabt, welche von Anfang September bis Mitte Oktober
dauerte und bei nur 28 Erkrankungen und 17 Todesfällen sich
fast ausschliesslich auf den Hafen und seine nächste Umgebung
beschränkte, war vom August d. J. an hier Alles auf den Empfang
des bösen Gastes gefasst, zumal derselbe sich in Europa so vielfach
zeigte. Aber erst am 23.—24. September kam der erste, sogleich
tödtlich endende Fall vor, dem am 24.—25. September alsbald der
zweite mit tödtlichem Ausgang folgte.
23. September 1 Erkrankung. 11. Oktober 3 Erkrankungen.
24.
Ti
1
V
12.
Ti
5
Ti
4.
Oktober
2
n
13.
Ti
9
Ti
5.
n
1
Ti
14.
Ti
8
Ti
6.
Ti
6
Ti
15.
Ti
5
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2
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16.
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j)
5
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n
5
Ti
18.
Ti
6
Ti
10.
Ti
6
Ti
19.
Ti
3
Ti
Insgesammt 76 Erkrankungen
mit 37 Todesfällen = 47,36 °/o (bis jetzt!).
Da die drei letzten Fälle (19. Oktober) Hausinfektionen be¬
trafen, d. h. durch Infizierung seitens erkrankter Familienmit¬
glieder entstanden waren, so sind demnach seit dem 18. Oktober
excl. bis jetzt (24. Oktbr. incl.) keine neuen Erkrankungen selbst-
522
I)r. B. Schulze und Dr. Freyer.
ständig vorgekommen. Ob damit die Cholera uns so plötzlich ver¬
lassen hat, wie sie gekommen ist, oder ob nur eine Pause einge¬
treten ist, müssen wir abwarten 1 ).
Was die Herkunft der Erkrankungen anlangt, so betrafen
sie zuerst Kohlen- und Schiffsarbeiter, deren Beschäftigungsstelle
genau da lag, wo auch im vorigen Jahre die Cholera begann,
am Dunzig, einem Nebenarm der Oder, und zwar dort, wo der
Oder - Dunzig - Kanal, der in ziemlich nördlicher Richtung die beiden
divergirenden Flussarme mit einander wieder verbindet, vom Dunzig
abgeht. Ich habe schon im vorigen Jahre darauf hingewiesen,
dass bei dem überaus geringen Gefall unserer Flussläufe in diesem
Kanal das Wasser fast stagnirt, und dass hier bei grosser Hitze
im Sommer und den geringeren Dimensionen des Kanals, bei der
Lage unmittelbar unterhalb der grossen Stadt, die den grössten
Theil der Kloset- und Abwässer in den Fluss entleert, der denk¬
bar günstigste Nährboden für Infektionskeime (Cholera - Keime)
gegeben ist, mit welchen nach der vorjährigen „Vermuthung“ unser
Flusswasser verseucht ist. Letztere Vermuthung ist nun zur Ge¬
wissheit geworden, nachdem jetzt im Institut für Infektionskrank¬
heiten mittelst des neuen Peptonverfahrens im ganzen Hafengebiet
Cholera-Bazillen thatsächlich nachgewiesen sind.
Nur 5 Fälle betrafen Kahnschiffer und deren Familien, 1
einen Matrosen eines Seglers, und auf den Fluss konnten im
Uebrigen bei Schiffs-, Kohlen- und Hafenarbeitern, am Wasser
Wohnenden resp. Beschäftigten noch etwa 15 Fälle (= 27,63 °/ 0
aller Erkrankten), bezogen werden,
Es gehören aber zu diesen ausserdem 7 Hausinfektionen,
sowie durch Infektion entstandene Erkrankungen in 2 Familien
(Schiffsarbeiter etc.), wo die Väter einige Tage vorher an Durch¬
fall gelitten hatten, ohne dass sie ihre Beschäftigung aufzugeben
brauchten. Diese hatten, als sog. Cholera - Träger, die Familie
infizirt, ein Vorgang, auf den Koch schon im Vorjahre hingewiesen
hat, und der bezüglich der Aetiologie von der grössten Wichtig¬
keit ist.
In das obige Verzeichniss der an Cholera Erkrankten sind
diese beiden „Cholera-Träger“ ebensowenig aufgenommen, wie die,
welche aus der Zahl der evakuirten „gesunden“ Familienange¬
hörigen nur bakteriologisch festgestellt wurden, d. h. in ihren
Stühlen Cholerabazillen hatten, ohne klinische Krankheitssymptome
darzubieten.
Bei weitestgehender Zurechnung entfielen demnach von
den 76 Erkrankungen 32 = 42,11 °/ 0 auf den Fluss.
Es verbleiben 44 Erkrankungen, bei denen weder eine Ueber-
tragung (abgesehen von Hausinfektion) noch eine Beziehung irgend
welcher Art zum Hafen sich ermitteln liess = 57,99 °/ 0 . Abzu¬
ziehen sind hiervon in zwei Gruppen 5 und 8 Hausinfektionen,
zusammen 13, so dass 31 selbstständige Erkrankungen an Cholera
asiatica übrig bleiben = 40,79 °/ 0 aller Erkrankungen, für welche
*) Inzwischen ist am 25. Okt. wieder eine Erkrankung konstatirt.
Die Choleraepidomie in Stettin und dem Kreise Randow im Herbst 1893. 523
jede Erklärung bezüglich ihres Zustandekommens fehlt — wenn
man nicht nach Koch’s Vorgang das Leitungswasser als Träger
der Cholerabazillen, d. h. des Ansteckungsstoffes nehmen will.
Hierfür spricht aber eigentlich Alles.
Nachdem das Institut für Infektionskrankheiten, welchem
seitens des Referenten die Dejektionen und Darmschlingen aus¬
schliesslich zugesandt wurden, auf die sich häufenden Fälle auf¬
merksam geworden war, wurden 3 Mitglieder desselben, Herr
Prof. Dr. Pfuhl, Privatdozent Dr. Pfeiffer und Dr. Kolle von
dem Herrn Minister hierher gesandt, einmal, um die aetiologischen
Momente möglichst genau festzustellen und dann, um die bak-
teriolgischen Untersuchungen der grösseren Schnelligkeit halber
hier an Ort und Stelle vorzunehmen. Die Ermittelungen in ersterer
Beziehung hat Herr Dr. Pfeiffer in unserer Medizinalbeamten-
Versammlung vom 25. d. M. mitgetheilt, und verweise ich auf den in
dieser Nummer abgedruckten Bericht. Hier mag nur hervorgehoben
werden, dass in dem „Rohwasser“ einiger Filter die bakteriologische
Untersuchung, welche in dem Berliner Institut ausgeführt wurde,
das Vorhandensein von Cholerabazillen ergab. Herr Geh. Rath
Koch, welcher am 17. und 18. d. M. hier weilte, stellte eine zu
grosse Filtrirgeschwindigkeit, die ein gelegentliches Zerreissen
der „Schlammschicht“ wahrscheinlich machte, sowie einen zu grossen
Keimgehalt des filtrirten Wassers fest. Endlich waren am 7. Okt.
die Erkrankungen in den verschiedensten hoch und tief gelegenen
Stadttheilen, ja schliesslich auffallend zahlreich in den hygienisch
besten, in Bezug auf Untergrund und Bauart untadelhaften Häu¬
sern aufgetreten, ohne dass je eine Uebertragung von einem zum
anderen selbstständigen Erkrankungsfall nachzuweisen gewesen
wäre; auch erkrankten, im Gegensätze zum vorigen Jahre, Per¬
sonen besserer Stände.
Kann man nun auch die Erkrankungsziffern bei einer Gesammt-
bevölkerung von ca. 125 000 Seelen nur immerhin gering nennen, so
ist damit nicht gesagt, dass nicht eine viel grössere Menge Menschen
thatsächlich Cholerabazillen mit dem Leitungswasser, das sonst
unbeanstandet getrunken wird, in sich aufgenommen haben; eine
Menge leichter Diarrhöen sind (wie aus dem oben Gesagten hervor¬
geht) gewiss unbeachtet vorübergegangen, und dann ist es mir
aufgefallen, dass in sehr vielen Erkrankungsfällen es sich um her¬
untergekommene Personen, Säufer, Vagabonden, sowie Leute mit
chronisch kranken und schwachen Magen handelte. Man muss
daher den Eindruck gewinnen, dass bei diesen Personen die de¬
letäre Wirkung der Cholerabazillen nicht durch Magensaft nor¬
maler Beschaffenheit paralysirt wurde. Hierhin gehören auch
mehrere von mir festgestellte Erkrankungen nach Diätfehlem
gröbster Art.
Denn dass das gewöhnliche Publikum, trotz aller Warnungen
das Leitungswasser ungekocht genossen hat und geniesst, unter¬
liegt keinem Zweifel, wie ich vielfach selbst beobachtet habe.
Indolenz, aber auch Armuth sind Schuld daran; es ist nicht so
billig, fast alles Wasser für den Haushalt abzukochen. Sehr
Dt. B. Stiüizc sii Dt. Frejit.
wichtig’ für die Annahme einer Infektion dnrt-li die Leitung ie:
z. B. die Erkrankung einer Wöchnerin, welche noch gar ni:h: aus
dern Zimmer gekommen war: ebenso schwerwiegend sind die Fälle
von Cholera-Erkrankung ganz kleiner Kini~r v-;-n 6 Wochen. 11
Monaten, V t und 3 Jahren, bei denen man doch auch schwerlich
freie Bewegung ausser dem Hause wird behaupten kennen. In
allen 4 Fallen aber sind diese kleinen Kinder die zuerst Er¬
krankten in der Familie gewe-en und f.dgten Ihnen 4. 1. 1 uni 2
Hausinfektionen erst nach. In drei Fallen ist Cholera asiatica
nachträglich bakteriologisch nachgewiesen.
Auch bei diesen kleinen Kindern wird man annehmen können,
«lass ihre Verdauungswerkzeuge ebenfalls weniger geeignet sind.
Cholerakeime abzutödten, als die älterer Personen.
Biese Erkrankungen bieten auch insofern etwas Neues, we¬
nigstens nicht allgemein Bekanntes, als man bisher geglaubt hat
— in Hamburg hat man im vorigen Jahre auch schon die gegen¬
teilige Erfahrung gemacht —, dass Kinder unter 2 Jahren nicht
rxler doch nur ausnahmsweise von Cholera asiatica befallen würden.
Dieser Standpunkt spiegelt sich noch in den bis jetzt gültigen
Ministerial-Erlassen wieder, wonach Brechdurchfälle u. s. w. bei
Kindern unter 2 Jahren der Anzeigepflicht nicht unterliegen.
Wenn nun in unseren 4 Fällen (denn auch den vierten Todes¬
fall, bei dem die Leiche schon begraben und die bakteriologische
Diagnose daher zu stellen nicht mehr möglich war) sich die Sache
jedesmal so abspielte, dass das betreffende Kind, entsprechend der
bisherigen Tradition laut ärztlichen Todtenscheines an „Durchfall“,
„Darmkatarrh, „Krämpfen“ etc. etc. gestorben war, und wenn dies
in den nächsten Tagen bei der aetiologischen Erforschung der
Cholera - Erkrankung eines weiteren Familienmitgliedes zufällig
festgestellt werden konnte — sc. jedesmal zuerst die Mutter,
welche mit dem Kind und seinen beschmutzten Windeln hantirt
hatte —, so liegt doch die grosse sanitäts - polizeiliche Tragweite
dieser Thatsaclie des Vorkommens der Cholera asiatica bei so
jungen Kindern auf der Hand! Eine Abänderung der betr. Vor¬
schriften wird daher geboten sein.
Von den beiden oben aufgeführten Infektionsgruppen, die zum
Leitungswasser gehören, folgte also die eine mit 8 Infektionen
(nämlich 4, 1, 1, 2) diesen Cholera - Erkrankungen kleinster Kinder,
die andere mit 5 Infektionen folgte 4 (der 31) selbstständigen Er¬
krankungen. Dass auch bei den 4 qu. Erkrankungen der kleinen
Kinder das Leitungswasser nicht die unwahrscheinlichste Ursache
bildete, dafür spricht der Umstand, dass mir auf Befragen jedes¬
mal zugegeben wurde, dass der „Gummikorken“ der Flasche in
ungekochtem Leitungswasser ausgewässert war.
Verfolgt man die ganze Kette: Oderwasser, Rohwasser der
Filter bis zu den Erkrankungen, so muss man beachten, dass im
Oder- und sogar im Rohwasser der Filter Cholerabazillen nachge¬
wiesen sind; freilich fehlt der Nachweis derselben im Leitungs¬
wasser, ein solcher war aber der sicherlich geringen Zahl der
Cholera - Keime wegen, von vornherein als unmöglich anzusehen.
Die Choleraepidemie in Stettin und dem Kreise Randow im Herbst 1893. 525
Man wird die Lücke mit Recht ausfüllen dürfen, einerseits durch
den schwerwiegenden zu hohen Keimgehalt des filtrirten Wassers
(z. B. am 12. Oktober 930 Kolonien pro 1 ccm im Filter F. und 771
im Reinwasser), durch die konstatirte zu grosse Filtrirgeschwin-
digkeit, und andererseits durch die sonst unerklärliche, verstreute
Ausbreitung der Epidemie in der Stadt und gerade in den gesun¬
desten Stadttheilen, beim Fehlen jeder Beziehung zum Hafen.
Wir dürfen eben nicht vergessen, Stettin erhält mittelst seiner
Wasserleitung (gut oder schlecht filtrirtes) „Oderwasser“.
Was schliesslich das Auftreten der Cholerabazillen im Fluss¬
wasser anlangt, so ist es nach Koch das Wahrscheinlichste, dass
dieselben jetzt hier nicht neu importirt sind, sondern von der vor¬
jährigen Epidemie herrührend, überwintert und in Folge der som¬
merlichen Hitze gerade hier unter günstigeren Bedin¬
gungen sich derart im September entwickelt haben, um wieder
infektiös wirken zu können.
Auffällig erscheint es jedenfalls, dass eine Reihe weiterer aus¬
wärts konstatirter Fälle bei Oder-Kahnschiffern berg- und thal-
wärts auf Stettin zurückgeführt werden müssen.
II. Kreis Randow (Freyer-Stettin).
Nachdem in der Stadt Stettin eine Reihe von Erkrankungen
vorgekommen waren, die fast ausschliesslich auf den Genuss rohen
Oderwassers zurückzuführen waren und zwar hauptsächlich an
denjenigen Stellen der Oderufer, an denen im Vorjahre die Er¬
krankungen ihren Anfang genommen — am Oder - Dunzig - Kanal —,
wurde mir am 6. Oktober die erste Erkrankung aus der zu meinem
Kreise gehörigen, eine Meile entfernten Nachbarstadt Altdamm
gemeldet. Die Feststellungen ergaben, dass es sich um einen
Arbeiter handelte, der auf einem, am Eingänge des Oder-Dunzig-
Kanals arbeitenden Bagger beschäftigt war und nur in Altdamm
seinen Wohnsitz hatte. Also auch hier war wieder die Erkrankung
auf den Genuss von direkt aus der Oder bezw. dem genannten
Kanal entnommenen Wasser zurückzuführen. Der Erkrankte erlag
in 5 Tagen der Krankheit, die schon klinisch als Cholera asiatica
unzweifelhaft war und bakteriologisch bestätigt wurde.
Es folgte nun die Erkrankung eines Fabrikbeamten in der
Nachbarstadt Grabow a. 0. Bei diesem war die Erkrankung auf
den Genuss von Leitungswasser, das der Stettiner, aus der Oder
her stammenden, Wasserleitung angehört, zurückzuführen, nach¬
dem der Erkrankte sich eine erhebliche Indigestion hatte zu
Schulden kommen lassen. Auch er starb innerhalb 7 Tagen.
Der nächste Erkrankte war ein Brunnenmacher, der in dem
1 Meile Oder abwärts gelegenen Dorfe Kratzwiek mit Brunnen¬
bohren beschäftigt war. Er hatte sich an 2 Tagen vorher Ge¬
schäfte halber in Stettin aufgehalten und scheint sich hier infizirt
zu haben. Er starb innerhalb 24 Stunden.
Demnächst erkrankte und starb innerhalb zweier Tage ein
8 Monate altes Kind in Bollinchen, etwa 6 km Oder abwärts ge-
526
Dr. B. Schulze und Dr. Freyer.
legen. Der Ursprung der Erkrankung war hier auf Beimischung
von Oderwasser zur Milch zurückzuführen.
Die nächstfolgenden Erkrankungen betrafen zwei Kahn¬
schifier, die gegenüber dem Oder-Dunzig-Kanal mit ihrem Kahne
lagen und direkt Oderwasser getrunken hatten. Sie starben beide
innerhalb 24 bis 48 Stunden.
Dasselbe war mit einem Matrosen eines kleinen Schlepp¬
dampfers der Fall, der auf der Oder hin- und herfuhr, um Schiffe
einzuschleppen. Auch dieser Erkrankte hatte direkt Oderwasser
getrunken und starb innerhalb 48 Stunden.
Mit diesen Erkrankungsfällen sind eigentlich für die nun
folgenden die verschiedenen Ursprungsarten der Infektion gegeben:
bald war der direkte Genuss von Oderwasser als Quelle der In¬
fektion nachzuweisen, bald war es allgemein der Aufenthalt an
dem Bollwerk zu Stettin.
Allein auch die Kontaktinfektion sollte nicht fehlen; und so
wurde ich am 15. Oktober mit der Meldung mehrerer Er¬
krankungen in Warsow, einem 6 km von der Stadt entfernten,
landeinwärts gelegenen Dorfe, überrascht. Die eigene Feststellung
ergab folgendes, noch mehr überraschende Büd: Ein in Stettin
am Bollwerk als Kornträger beschäftigter, als Potator geschilderter
Arbeiter war bereits am 7. Oktober nach Warsow krank heim¬
gekehrt. Am 10. Oktober erkrankte der mit ihm zusammen¬
wohnende, seit Jahren bettlägerig kranke Bruder, am 11. Oktober
ein zu einer anderen in demselben Hause wohnenden Arbeiter¬
familie gehöriger 11 jähriger Knabe, am 13. Oktober dessen 7 jähr.
Schwester, am 14. Oktober der Vater, am 16. Oktober ein 18 jähr.
Bruder, der ausserhalb arbeitete, zur Nacht aber immer bei den
Eltern wohnte, endlich am 16. gleichzeitig die alte, mit dem Erst¬
erkrankten zusammen wohnende Mutter. Alle diese Personen, mit
Ausnahme des erwähnten 18 jährigen Sohnes, sind zwischen dem
15. und 19. Oktober verstorben. Die Ueberlebenden, die Wittwe
mit 2 Kindern des Ersterkrankten, sowie die Wittwe mit 4 Kindern
der anderen Familie, wurden in’s Krankenhaus zur Beobachtung
genommen. Von diesen Kindern erkrankten nachträglich noch drei
mit leichter Choleraform, während die anderen Personen gesund
blieben, trotzdem auch in ihren Dejektionen — mit Aus¬
nahme derjenigen der erstgenannten Wittwe — Cholerabak¬
terien bakteriologisch nachgewiesen wurden. Sie
blieben somit nur Choleraträger, wie Koch sie benennt, ohne
anscheinend, d. h. klinisch, zu erkranken.
In demselben Dorfe entstanden bald hinterher noch mehrere
Einzelherde, deren Ursprung indessen mit dem ersteren nicht in
Beziehung zu bringen waren, sondern wiederum von aussen her
als eingeschleppt angesehen werden mussten. In dem einen dieser
Herde hatte der Mann sich beim Heuernten auf den Oderwiesen
durch nachgewiesenen Genuss von Oderwasser, alsdann zu Hause
seine Ehefrau und beide Kinder infizirt. Die beiden Eltern starben.
Erwähnenswerth mit Bezug auf die Quelle der Infektion
erscheint noch die Erkrankung einer 78 jährigen Frau, die innerhalb
Die Choleraepidemie in Stettin und dem Kreise Randow im Herbst 1893. 62?
24 Stunden erkrankte und starb, nachdem sie zuvor aus der öder
herstammende Fische um Kochen zubereitet hatte. Da jedoch in
dem Nachbarhause kurz vorher ein Mann an Cholera erkrankt war,
ist es nicht ausgeschlossen, dass Beziehungen zu dem Verstorbe¬
nen, vielleicht durch die gemeinschaftliche Waschküche, oder sonst
wie, bestanden haben.
Im Ganzen sind bisher in meinem Bezirke 32 Personen
choleraverdächtig erkrankt und von ihnen 22 verstorben, ein ge¬
waltig hoher Prozentsatz! Bei 24 hat die bakteriologische Unter¬
suchung stattgefunden, die nur bei zwei Personen durch ihren
negativen Ausfall den Choleraverdacht als nicht gerechtfertigt
erscheinen liess, während sie in einem, klinisch unter den charak¬
teristischen Erscheinungen der Cholera und tödtlich verlaufenen
Falle ebenfalls negativ, in allen übrigen jedoch positiv ausge¬
fallen ist.
Die Berechtigung, das Oderwasser als die Quelle der Infektion
anzusprechen, konnte mangels anderer nachweisbarer oder auch
nur zu vermuthender Quellen in der Thatsache gefunden werden,
dass einige zu Beginn der Epidemie aus dem mehrfach erwähnten
Oder-Dunzig-Kanal und anderen Stellen der Oder entnommene
Wasserproben bei der Untersuchung im Institut für Infektions-
Krankheiten zu Berlin das Vorhandensein von Cholerabakterien
ergeben haben.
Wir haben also auch diese Epidemie wieder, wie im Vorjahre,
auf eine Verseuchung der Oder zurückzuführen. Die That¬
sache, dass die ersten Erkrankungen genau an den Stellen der
ersten vorjährigen Erkrankungen aufgetreten sind, an Wasser¬
stellen, die wenig Gefälle haben und fast stagniren, bietet eine
grosse Wahrscheinlichkeit, wenn nicht Gewissheit, für die An¬
nahme, dass die vorjährigen Cholerabakterien an den genannten
Wasserstellen überwintert und nun, unter für ihr Gedeihen günsti¬
gen Bedingungen, sich zu grösserer Ausbreitung vermehrt haben.
Ob dieses Naturspiel sich im künftigen Jahre wiederholen
wird, bleibt abzuwarten, ist jedenfalls nicht unwahrscheinlich, so
dass der an den Oderufern stromabwärts gelegene Theil meines
Kreises der Cholerainvasion stets ausgesetzt bleiben wird, so oft
das Oderwasser infizirt sein wird. Denn sichere Massnahmen
gegen eine Invasion dieser Art dürfte es für eine an solchen Fluss¬
ufern wohnende und in indolenter Weise allen Mahnungen ver¬
schlossene Bevölkerung kaum geben. Vielmehr wird prophylak¬
tisch nur auf Vermehrung und Neuanlegung von Röhren¬
brunnen, und im gegebenen Falle auf schleunige Unschäd¬
lichmachung der entstehenden Einzelherde durch strenge Des¬
infektion der Räume und Isolirung der Betroffenen
Bedacht zu nehmen sein. Dass hiermit trotz vieler Mängel doch
noch Erkleckliches geleistet werden kann, hat auch diese Epidemie
wieder ergeben.
528
Aas Versammlungen and Vereinen.
Aus Versammlungen und Vereinen.
Bericht über die 5. Veraammlaiig des Vereins der
Medizinal* Beamten des Regierungsbezirks Stettin mm
£3« Oktober 1893 zu Stettin.
Anwesend waren 14 Mitglieder und eben so viele Gäste, unter den letz¬
teren mehrere höhere Regierungsbeamte und Militärärzte.
Nach einigen kurzen geschäftlichen Mittkeiluugcn des Vorsitzenden, R^g.-
und Med.-Rath Dr. Kater bau, wird in die Tagesordnung eingetreten.
1. Vortrag des als Gast anwesenden Abtheilungsvorstehers im Institut
für Infektionskrankheiten Herrn Stabsarzt Dr. Pfeiffer aus Berlin über
die Cholera in ihren Beziehungen zum Wasser, mit besonderer
Berücksichtigung der Cholera zur Zeit in Stettin.
Ausgehend von der Pette nko fe r’sehen Theorie, die aufgestellt worden
ist, als die Cholerabakterien noch nicht bekannt waren, lag es der Bakteriologie
ob, zunächst das Verhalten der Bakterien ira Boden zu prüfen; sie stellte
fest, dass in der Tiefe des Rodens überhaupt keine Bakterien, weder schädliche,
noch unschädliche, sich aufhalten, dass vielmehr der Boden als vorzügliche»
keimdichtes Filter funktionirt. Auch Luftströmungen vermögen, wie das
die Pettcnkofe r'sche Theorie will, nicht Bakterien aus den Bodentiefen in
die Höhe zu reisseu. Dagegen ist das Wasser dasjenige Vehikel, das den
Choleravibrio, der sich als eine richtige Wasserpflanze erwiesen hat, überall
hinführt. Dass Flüsse die Verschlepper der Cholera sind, ist lange bekannt,
daher die Flussbewohner stets am meisten gefährdet waren. In Stettin hat
man nun dieselbe Erfahrung gemacht. Nachdem schon die vorjährige Epidemie
auf eine Verseuchung des Oderwassers zurückgeführt werden musste, ist es
Dank den verbesserten Methoden für bakteriologische Wasseruntersuchungen
gelungen, kürzlich auch im Oderwasser den Choleravibrio aufzutinden, ähnlich
wie dies bei der Nietlebener Epidemie geschehen ist. Desgleichen ist aber der
Vibrio auch aut den Filtern der Wasserleitung, die ihr Wasser der
Oder entnimmt, bakteriologisch nachgewiesen worden, nachdem zuvor ein bei
der Filtrirung beschäftigter Arbeiter an Cholera erkrankt und gestorben war.
Es steht somit fest, dass der Choleravibrio an verschiedenen Stellen der Oder,
insbesondere im Oder-Dunzig-Kanal, zur dauernden Ansiedelung gelangt, ferner,
dass die Entnahmestelle der Wasserleitung mit Cholerabakterien verunreinigt
worden ist, hier wahrscheinlich durch die umherliegenden Kähne, auf denen
Cholerakranke sich befunden haben. Nachdem aus der Nähe der Entnahmestelle
\ sämmtliche Kähne dauernd entfernt gehalten wurden und die Filtrations¬
geschwindigkeit auf das richtige Mass herabgesetzt worden ist, ist ein Nach¬
lassen bezw. ein Aufhören der Erkrankungen in der von der Leitung versorgten
i Stadt eingetreten.
i II. Vortrag des ebenfalls als Gast anwesenden Assistenten im Institut
für Infektionskrankheiten Herrn Dr. Ko Ile aus Berlin über
die neueren Methoden der bakteriologischen Choleradiagnose,
mit gleichzeitiger Demonstration bakteriologischer Cholera¬
präparate.
Die Methoden der bakteriologischen Choleradiagnose haben sich sehr vervoll¬
kommnet, so dass man jetzt in der Lage ist, eine schnellere Diagnose zu
stellen und dem Ausbruch einer Katastrophe gewissermassen zuvorzukommen.
Ein Hauptverdienst hieran hat wiederum Koch mit der Angabe der Pepton-
Methode. Ausgehend von der Erwägung, dass die Entwickelung derCholera-
bakterien im Darm durch die Anwesenheit des Peptons sehr begünstigt wird,
bringt Koch die zu untersuchende Materie zuerst in ein Röhrchen mit 2°/ 0
Peptonlösung. Wegen ihres starken Sauerstoftbedürfnisses streben die Cholera¬
bakterien nach der Oberfläche des Wasserspiegels, so dass sie sich hier sammeln
und man schon nach 6 Stunden im Stande ist, sie, selbst wenn sie nur in geringer
Anzahl vorhanden waren, von hier nachzuweisen. Die weiteren Methoden des
Nachweises würden dann etwa sein:
2. Das Ausstrichpräparat, in der üblichen Weise angefertigt, nur
dass zur Färbung nicht, wie bisher, die übliche Zieh 1’sehe Lösung, sondern,
nach Angabe von R. Pfeiffer, eine stärkere Verdünnung derselben, etwa 1:20
und noch dünner benutzt werden soll.
Kleinere Mittheilimgen and Referate ans Zeitschriften.
529
3. Das Gelatineplatten-Verfahren, wie bisher, mit Anfertigung
eines Klatschpräparates nach 24 Stunden.
4. Das Agarplatten-Verfahren, indem man die zu untersuchende
Substanz oder eine von der Oberfläche des Peptonröhrchens entnommene Oeso
auf der in einer Petri’schen Schale aasgegossenen, trockenen Agarplatte aus¬
streicht Es lassen sich hier für den Geübten ebenfalls schon nach wenigen
Stunden die mehr weisslichen Kulturen des Bac. coli comm. von den blassbläu-
liehen Cholera - Kolonien makroskopisch unterscheiden, während das Färbungs¬
präparat alsbald Gewissheit schafft.
5. Die Cholera-Roth-Reaktion, mit reiner Schwefelsäure aus-
geftthrt, ist für Reinkulturen, die aus Stuhl genommen, als pathognomon zu 7
bezeichnen, da diese Reaktion bisher noch nie bei anderen aus Stuhl 1
gewonnenen Reinkulturen eingetreten ist.
6. Der Thierversuch, nunmehr auch vereinfacht durch die von
R. Pfeiffer angegebene Methode der intraperitonealen Einführung von
Reinkulturen beim Meerschweinchen. Die Thiere gehen dabei unter stark
choleraähnlichen Erscheinungen zu Grunde.
Endlich führt Redner aus, dass es mit diesen Methoden, insbesondere aber
durch Vermittelung der Pepton - Methode nunmehr auch leichter gelingt, aus
grossen Wassermengen den Choleravibrio herauszubekommen. Die zu unter¬
suchende Wassermengc wird auf eine Anzahl Erlenmeyer’scher Kölbchen
vertheilt, diese mit Peptonlösung versetzt, auf 12 Stunden in den Brutschrank
gesetzt und von ihrer Oberfläche abgeimpft. Es gelingt so, auch vereinzelte
Choleravibrionen abzufangen und zum Nachweis zu bringen.
Nach kurzer Diskussion und Schluss der Sitzung vereinigte man sich noch
zum gemeinsamen Mittagsmahl. Dr. Frey er-Stettin. v
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
A. Gerichtliche Medizin.
Leben ohne Athmen. Von Dr. Ignaz Mair. Friedreich's Blätter.
Heft IV, 1893.
Der Befund luftleerer Lungen lässt nicht immer schliessen, dass das
Kind todt zur Welt gekommen sei, und besonders dann finden sich luftleere
Lungen bei lebend zur Welt gekommenen Kindern:
1. Wenn bei einem obgleich lebend geborenen Kinde die Respirations-
bewegnngen ausgeblieben sind.
2. Wenn trotz normal erfolgter Athembcwegungen die Aspiration der
Luft behindert gewesen sein kann.
3. Wenn durch Athmung lufthaltig gewordene Lungen nachträglich wieder
luftleer werden.
Ad 1. Vor der 28.—30. Woche geborene Früchte mit ungenügender
Entwickelung der Rcspirationsmuskeln und der automatischen Athmungsccntren.
Bei lebenskräftigen Kindern kann ein kurzes apnoisches Stadium eintreten,
wenn die Placenta nach erfolgter Entbindung mit dem Uterus in Verbindung
bleibt und eine Wehenpanse erfolgt, so dass die Athmung durch die Placenta
fortdanert. Wird in diesem Stadium nicht dem Leben des Kindes ein Ende
gemacht, so entwickelt sich die Respiration allmählich. Asphyktische Kinder
sind von vornherein nicht als todtgeboren zu betrachten, werden häufig wieder
zum Leben gebracht. Hirndrnck und Lähmung der Athmungsccntren durch
intrameningeale Extravasate können Respirationsbewegungen verhindern.
Ad 2. Unverletzte Eihäute, während der Geburt aspirirte Stoffe, patho¬
logische Prozesse in den Lungen, nach der Geburt in die Lungen gelangter
fremder Inhalt, oder absichtlicher Verschluss der Geburtswege können die Ur¬
sache sein, dass die Aspiration von Luft gehindert wird. Das Herz kann noch
längere Zeit weiter schlagen.
Ad ö. Bei Wasserleichen kann in Folge von Wunden Wasser in die
Pleurahöhle eintreten und die Luft verdrängen. Auch durch Kochen oder
Flammenhitze können lufthaltige Lungen luftleer werden. Für das Fötalleben
sprechen die Art der organischen Reaktion bei Verletzungen, irgend eine be=
530
Kleinere Hittheilnngen und Referate "aus Zeitschriften.
trächtliche Blutergiessung zumal geronnenen Blutes, und Bewegungen des Kindes.
Dabei müssen einerseits die Zeichen des innerhalb des Uterus stattg*ehabten
Absterbens fehlen, andererseits die Verletzungen derart sein, dass sie ihrer Be¬
schaffenheit zufolge nach der Geburt des Kindes zugefügt sein müssen, z. B.
Zertrümmerung des Schädels, oder wenigstens für das Ableben des Kindes durch
Verletzungen in der Geburt sich weder in dem Leichenbefunde, noch in dem Ent-
bindungsgeschäfte eine Beurkundung finden. Dass das Kind lebend geboren sei,
ergiebt sich trotz negativen Ausfallens der Lungenprobe, wenn extrauterin reich¬
lich fremde Stoffe aspirirt sind, wenn bei einem noch nicht faulen Kinde Luft
im Magen oder in diesem und den obersten Darmschlingen ist.
Dr. R u m p - Osnabrück.
Ueber die Wunden des Herzens. Bearbeitet von Dr. A. Elten,
prakt. Arzt in Tostedt. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffent¬
liches Sanitätswesen. Dritte Folge, V. Band, 1. Heft, Jahrgang 1893.
Auf der Grundlage einer reichhaltigen Literatur giebt der Verfasser zu¬
nächst einen interessanten Ueberblick über die Fortschritte, welche gegenüber
der Auffassung älterer Gelehrten bis heute über die Wunden des Herzens ge¬
macht worden sind und knüpft hier besonders an die Arbeit von Georg Fischer
an „die Wunden des Herzens und des Herzbeutels“. In dem Herzen sah man
vorwiegend nicht das nach bestimmten Naturgesetzen arbeitende Organ, dessen
Wunden also auch, wie die Wunden anderer Organe, den Gesetzen der Heilung
unterworfen sein konnten, sondern man liess sich die nüchterne, wissenschaftliche
Beobachtung und physiologische Auffassung des kranken und gesunden Herzens
vielfach trüben, ja direkt durch die verschwommene Vorstellung verwirren, dass
das Herz zugleich der Sitz aller denkbaren Lebenskräfte, ja der Seele selber sei
und dass die geringste Verletzung dieses so einzig dastehenden, herrlichen
Organes gleichbedeutend sei mit der Vernichtung des ganzen Organismus!
Den vorliegenden umfangreichen Stoff theilt der Verfasser so ein, dass er
zunächst die Aetiologie der verschiedenen Herzwunden (Verwundungen des
Herzens durch Nadeln, Stich - Schnittwunden des Herzens, Schusswunden des¬
selben, Quetschwunden und Rupturen), wie die zutreffenden pathologisch - anato¬
mischen Verhältnisse bespricht, sich sodann den Symptomen der betreffenden
Verletzungen der Diagnose und Prognose zuwendet und schliesslich auch die
Therapie mit in den Kreis seiner Betrachtungen zieht. Die Hauptergebnisse
der interessant und anschaulich geschriebenen Arbeit fasst Elten in folgenden
Thesen zusammen:
1. Entgegengesetzt der alten Auffassung von der unbedingten Tödtlichkeit
aller Herzwunden bestätigen auch die neuesten Forschungen die von Fischer
1868 aufgestellte Lehre, dass viele Herzwunden heilen können.
2. Die einzelnen Herzwunden liefern charakteristische pathologisch-anato¬
mische Befunde; namentlich gilt das von dem Aussehen der Thoraxwunde und
der Herzwunde.
3. Bei den verschiedenen Herzwunden beobachten wir gewisse, mit ziem¬
licher Regelmässigkeit auftretende Allgemeinsymptome. Unter diesen nehmen
die Folgen der Blutung, die Ohnmacht und nervöse Symptome die erste Stelle ein.
4. Diagnose und Difterentialdiagnose der Herzwunden ist auch heute noch
eine äusserst schwierige.
5. Ein pathognostisches Symptom für die Verwundung des Herzens existirt
nicht. Erst eine Summe von Symptomen ermöglicht die Diagnose.
6. Die Prognose der Herzwunden ist verschieden. Die beste Prognose
liefern die Nadelst ichverletzungen, dann kommen die Stich-Schnitt und Schuss¬
wunden, die schlechteste ist bei den Quetschwunden und Rupturen.
7. In der Praxis ist es rathsam, unter allen Umständen eine ernste Pro¬
gnose zu stellen bei jeder Herzwunde.
8. Verlauf und Ausgang der Wunde ist sehr verschieden. Im Allgemeinen
richtet sich derselbe nach dem Grade der Blutung, nach der Frage, ob pene-
trirend oder nicht penetrirend, nach der Lokalisation der Wunde am Herzen
und nach der Schwere der etwaigen Komplikationen.
9. Die Haupterfordernisse einer guten Therapie sind Stillung der Blutung,
antiseptischer Verschluss und Verband der Thoraxwunde, Regelung der äusseren
Kleinere Mittheilungen und Referate an« Zeitschriften.
531
Verhältnisse des Kranken, operatives Einschreiten gegen eine Anzahl gefähr¬
licher Komplikationen.
10. Jeder Patient mit einer Wände in der Herzgegend ist als Herzver¬
letzter za betrachten and za behandeln. Dr. Dtttschke-Aurich.
Veber Arsenik Vergiftung in gerichtsärztlicher Beziehung. Von
Stabsarzt Dr. Schambarg. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin 1893,
V. Band, Heft 2 and 3.
Das am häufigsten zn Vergiftungen Anlass gebende Arsenpräparat ist der
weisse Arsenik, die arsenige Säure und ihre leicht löslichen Salze, besonders das
Kaliam arsenicosam, im Wasser gelöst als Solatio ersenicalis Fowleri. Bei den
Arsenvergiftungen ist für den Gerichtsarzt die erste Frage die nach den Ge¬
legenheitsursachen und kommt hier der Giftmord, der Selbstmord, die
Vergiftung durch Verwechselung von Genussmitteln, Unachtsamkeit, Fahrlässig¬
keit nnd Unkenntniss, wie die Vergiftung bei Ausübung eines Gewerbes, die
Vergiftung durch Verfälschung von Lebensbedürfnissen und die durch unvor¬
sichtigen und übermässigen Gebrauch von Arzneien in Betracht Alle diese
gelegentlichen Ursachen der Arsenvergiftung muss der Gerichtsarzt gegenwärtig
haben, um auf die unter Umständen recht versteckte Ursache einer Arsenver¬
giftung aufmerksam zu werden. Die Möglichkeit einer Intoxikation durch
Arsen zur unumstösslichen Gewissheit zu erheben, ist die vornehmste Aufgabe
des Gerichtsarztes. Die Hülfsmittel, welche der jetzige Stand der medizinischen
Wissenschaft bietet, um die Diagnose einer stattgehabten Arsenvergiftung sicher
zu stellen, sind nach dem Verfasser die Krankheitserscheinungen im
Leben, der Sektionsbefund, der physikalische und chemische
Nachweis und die besonderen Indizien des Falles.
Da der Zweck des Referates nur der sein soll, die betheiligten Kreise
auf die oben erwähnte, sich auf eine überreiche Literatur stützende interessant
und erschöpfend abgefasste Monographie aufmerksam zu machen, wird es erklär¬
lich erscheinen, wenn nur kurz noch ein besonderes Kapitel zur Besprechung
herausgegrififen wird, welches unter den für die Arsenvergiftung zu erbringenden
Beweisen die erste Rolle einnimmt, nämlich der chemische Nachweis des Arsens.
Wenngleich der chemische Experte den Beweis zu erbringen hat, dass in der
Leiche des Verstorbenen Arsen vorhanden ist, so muss doch der Gerichtsarzt
im Stande sein, die Bedeutung der chemischen Untersuchung und den jedes¬
maligen Werth derselben zu bcurtheilen, er muss auch mit den einfachsten, an
der Leiche ohne grosse Hülfsmittel leicht ausführbaren Reaktionen vertraut
sein und wissen, dass das Arsen sich in bestimmten Organen ablagert und die
Ansscheidungsverhältnisse gerade beim Arsen eigenartige sind. Von besonderer
forensischer Wichtigkeit ist ferner die genaue Kenntniss der Resorptions- und
Ansscheidungsverhältnisse des Arsens. Arsen in seinen Verbindungen wird von
der erkrankten oder zerfallenen Haut wie von den Schleimhäuten der Ver-
dauungs- und Respirationstraktus resorbirt; die grössere Löslichkeit der einzelnen
Präparate bedingt auch die schnellere Resorption. Ausser von dieser ist die
Resorption abhängig von dem Inhalt des Magens, der das Arsen einhüllen oder
seine Löslichkeit erschweren kann. Das Arsen scheint direkt in’s Blut aufge¬
nommen zu werden, nicht auf dem Wege der Lymphbahnen; denn in der Lymphe
hat man es noch nie gefunden, im Blute selbst aber in den Blutkörperchen, wie
im Serum. Sobald es in das Blut eingetreten ist, lässt es sich fast überall im
Körper nachweisen, hauptsächlich aber in den Organen der Bauchhöhle. In den
Knochen, besonders den Lendenwirbeln und BeckenkDochen exhumirter Arsen¬
leichen lässt sich stets Arsen nachweisen, wohl deshalb besonders reichlich, weil
sich der Inhalt der Intestina bei der Fäulniss derselben auf die genannten
Knochen ergiesst und sie imbibirt. Erfolgt der Tod des Vergifteten nicht bald
nach der Ablagerung in den Organen, so wird der Gehalt derselben an Arsen
wieder geringer, denn die Ausscheidung aus den Organen ist eine ziemlich rasche;
sie erfolgt hauptsächlich durch den Urin, in weniger erheblicher Menge durch
die Galle und den Schweiss.
Die Frage, ob das im Leben eingeführte Arsen nicht nach dem
Tode im Grabe aus der Leiche verschwinden könne, hält der Ver¬
fasser mit Recht für die Praxis ohne Belang; denn angenommen, es wäre dies
der Fall, so könnten die gasförmigen oder gelösten Arsenverbindungen doch
532
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
immer nur in die Unterlagen der Leiche, die Sargbretter und höchstens das dem
Sarge nfichste Erdreich gelangen. Es brauchen deshalb nur die Kleider der
Leiche, die Sargbrettcr, Erde aus der Nähe des Sarges und zur Vergleichung
Kircbhoferde weiter von dem betreffenden Grabe entfernt, zur Untersuchung auf
Arsen dem chemischen Experten übergeben werden. Die Möglichkeit umgekehrt,
dass Arsen aus arsenhaltigem Boden, Kränzen oder Kleidern
in die Leiche gelangen kann, ist vorläufig nach Hofmann nicht gauz
von der Hand zu weisen.
Die in neuerer Zeit festgestellte überraschende Thatsache, dass in den
meisten Brunnen Arsen vorhanden, wie der Hinweis auf die Arsenesser, lässt
die Frage berechtigt erscheinen, ob nicht der Körper das Arsen als
normalen Bestandtheil in Folge früheren medizinellen Ge¬
brauchs oder durch Brunnenwasser oder durch Nahrungs-,
Genuss-oder Schönheitsmittel, bei der Beschäftigung aufge -
nommen, enthalten könne? Indess sind die in Nahrungs- und Genussmitteln
wie als Medizin aufgenommenen Giftmengeu, wenn sie keine Intoxikations¬
erscheinungen erzeugen, einmal sehr gering, und dann werden sie bald wieder
ausgeschieden. — Die lesenswerthe Arbeit mag dem Gerichtsarzt empfohlen
sein! Ders.
Recherche» sur le diagnostic du sang en medecine legale. Par le
Dr. G. Co rin. Li£ge 1893.
Es ist bekaunt, wie schwer die Entscheidung ist, ob eine Blutspur von
Menschen oder von Säugcthieren herrührt, da die Maassunterschiede der rothen
Blutkörperchen, falls letztere geschrumpft sind, keinen sicheren Anhaltspunkt
mehr bieten. Cor in schlägt nun vor, zur Differcntialdiagnose nicht die rothen,
sondern die weissen Blutkörperchen zu benutzen. Wie Ehrlich (Farbenanalyti¬
sche Untersuchungen zur Klinik und Hystologie des Blutes, Berlin 1891) gefunden
hat, besitzt die Körnung derselben eine verschiedenartige Affinität zu Anilin¬
farbstoffen, in den einen färbt sie sich nur mit sauren, in anderen nur mit
basischen, in noch anderen mit neutralen Farben. Die Leukocyten mit neu¬
trophiler Körnung bilden beim Menschen 65—70 °/ 0 aller Leukocyten, und, was
noch wichtiger ist, sie sollen bis jetzt nur beim Menschen gefunden sein. Ehr¬
lich giebt das an, und Cor in hat das Blut vom Hund, Kaninchen, Katze,
Schweine, Rind, Pferd und Hammel vergeblich auf das Vorkommen von Leu¬
kocyten mit neutrophiler Körnung untersucht
Die gerichtlichtliche Medizin könnte in der That für diese Bereicherung
der Methoden ausserordentlich dankbar sein, indess ist, wie C. selbst sagt, eine
Bestätigung seiner Untersuchungen abzuwarten, ausserdem ist ihre praktische
Verwendbarkeit sehr vom Alter der Blutspur abhängig. Die Färbung hält sich
auch nach dreimonatlichem Eintrocknen, man muss aber, um sie zu erzeugen,
ein Deckglaspräparat machen, und hier liegt die Schwierigkeit. Die meisten
und grade die besten Lösungsmittel lassen sich nicht anwenden, da sie die
Färbung verhindern; die besten Resultate erhielt C. noch mit dcstillirtem Wasser,
indess versagte die Methode oft bei älteren Blutspuren.
Dr. Woltemas-Dicpholz.
Welchen Werth hat die mikroskopische Gonokokkenuntersuchnng?
Von Professor A. Neisser in Breslau. Deutsche medizinische Wochenschrift
1893, Nr. 29 und 30.
Die vorliegende, sehr ausführlich geschilderte Abhandlung Neisser’s
tritt dem von Broese jüngst in der Gesellschaft für Geburtshülfe und Gynä¬
kologie in Berlin geäusserten Standpunkt entgegen, dass nämlich .die Methode
des mikroskopischen Gonokokkennachweises eigentlich von positivem Werth nur
in den Fällen sei, in denen sie neben anderen Methoden überflüssig ist, und in
den anderen sei sie so wenig zuverlässig, dass man lieber ganz auf sie verzichte“.
Indem wir bezüglich der Einzelheiten der interessanten Arbeit N e i s s e r’s
auf das Original verweisen, führen wir hier nur die vom Autor am Schluss
seiner Abhandlung aufgestellten Thesen an, denen er folgende Fassung giebt.
I. Es ist nicht daran zu zweifeln, dass die Gonokokken die Ursadie der
Gonorrhoe sind.
ILjDie Diagnose der (männlichen wie der weiblichen) Gonorrhoe kann in
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 533
sehr vielen Fällen auch ohne jede Znhttlfenahme der Gonokokkenuntersuchung,
nur durch die Beobachtung der klinischen Symptome gestellt werden.
UI. Aber in sehr zahlreichen, besonders in Allen chronisch verlaufenden von
geringen subjektiven und objektiven Symptomen begleiteten Fällen kann nur der
Gonokokkennachweis zur Diagnose führen.
IV. Ebenso ist in allen Fällen — höchstens ganz akute frische Stadien ausge¬
nommen — für die Frage, ob eine „gonorrhoische Erkrankung“ noch gonorrhoisch¬
infektiös ist, oder ob nur die restirenden Krankheitsprodukte einer früheren
Infektion vorliegen, die Gonokokkenuntersnchung unentbehrlich.
V. Da in jedem Stadium das therapeutische Vorgehen auf das Vorhanden¬
sein der Gonokokken Rücksicht zu nehmen hat, so ist die Gonokokkenunter¬
suchung nicht nur vor Beginn, sondern während des ganzen Verlaufes der
Therapie unentbehrlich.
VI. Diese Gonokokkenuntersuchung wird in erster Reihe eine mikroskopische
sein. Das Kulturverfahren wird wegen der jetzt noch mit ihm verbundenen
Schwierigkeiten nur in bestimmten Fällen die mikroskopische Durchsuchung er¬
setzen oder ergänzen müssen.
VII. Ueberall, wo positive Befunde erhoben werden, kann über die Nütz¬
lichkeit und Nothwendigkeit der gesicherten Diagnose kein Zweifel bestehen.
Negative Befunde werden natürlich vorsichtig zu deuten sein, da wir wissen,
dass Gonokokken in der Tiefe der Gewebe oder in Lacunen und Einstülznngen so
verborgen und so spärlich sitzen können, dass die oberflächlichen Schleimhaut¬
sekrete, die wir untersuchen, gonokokkenfrei sind. Die Sicherheit der Deutung
wird dann durch grössere Häufigkeit der Untersuchung und durch den Versuch
einer künstlichen Vermehruug und Hervorlockung der möglicherweise vorhandenen
Gonokokken gesteigert werden müssen. Stets werden die klinischen Symptome
dabei zu berücksichtigen und mit den mikroskopischen in Einklang zu bringen sein.
VIII. Handelt es sich um Gonorrhoe bei Verheirateten, so wird naturgemäss
die Beobachtung und event. die Behandlung beide Ehehälften betreffen müssen.
Dr. Dtitschke-Aurich.
B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Vorschläge, betreffend die Anzeigepflicht bei Diphtherie. Von
Dr. Joseph Schrank, k. k. Polizeibezirksarzt in Wien. Allgemeine Wiener
mediz. Zeitung, 1803, Nr. 34.
Verfasser schildert die seit Jahresfrist in New-York getroffenen Ein¬
richtungen, welche sich angeblich in hohem Grade bewährt haben. Das Gesund¬
heitsdepartement stellt daselbst in sehr origineller Weise die bakteriologische
Differentialdiagnose in den Dienst der praktischen Aerzte. Es soll dort thun-
lichst in jedem diphtherieverdächtigen Fall die Züchtung des Diphtherie-Bacillus
stattfinden. Zu diesem Zweck erhält jeder Arzt, der einen Diphtherie - Fall
meldet, auf Wunsch kostenfrei aus der Apotheke zwei Reagensgläser, von denen
das eiue mit Löffler’s Blutserum gefüllt ist, während das andere ein an
Draht befestigtes Stückchen sterilisirter Watte enthält. Der Arzt soll nun die
Impfung ausführen, indem er mit der Watte auf eine mit Beleg versehene Hals¬
partie hintupft und dann die Watte über die Oberfläche des in dem anderen
Glase befindlichen Nährbodens ausstreicht. Die geimpften Glässcr kommen in
die Apotheke, von wo sie das Gcsnndheitsdepartement jeden Abend einsammcln
lässt Nach zwölfstündigem Aufenthalt im Brutschrank kann dann die Diagnose
gestellt und spätestens bis zum Mittag dem Arzt durch Postkarte mitgctheilt
werden. — Will dieser die Impfung nicht selbst vornehmen, so geschieht dies
durch einen Inspektor des Gesundheitsdepartements.
Nach Schrank liegt der Hauptvortheil der Einrichtung darin, dass die
Desinfektion in den vielen Fällen falscher Diphtherie unterbleiben kann und dass
die Angehörigen rechtzeitig von Angst und Furcht befreit werden. Er empfiehlt
daher ähnliche Einrichtungen auch für Wien. (Ref. will die Art der Impfung,
namentlich die Verwendung nur eines Reagensglases etwas primitiv erscheinen
uud wenig geeignet, um darauf verantwortungsvolle Massregeln zu begründen.)
Dr. La ngerhans-Celle.
Einige Ergänzungen zur Praxis der Desinfektion. Von Dr. med.
Richard Traugott, prakt. Arzt in Breslau. (Aus dem hygienischen Institut
534
Kleinere Mittheilongen and Referate ans Zeitschriften.
der Universität Breslau.) Zeitschrift für Hygiene und Infektions - Krankheiten.
Bd. XlV, H. 3.
Gegenüber dem Anftauchen immer neuer desinfizirendcr Mittel, deren
Alles bisher dagewesene in den Schatten stellende Vorzüge von strebsamen
Fabrikanten genugsam angepriesen zu werden pflegen, ist die vom Verfasser
aufgeworfene Frage, ob wir nicht besser thun, uns an den bisher bewährten,
den Desinfektoren und dem Publikum in ihrer Anwendung geläufigen Mitteln —
dem heissen Wasserdampf, der Sublimat-Kochsalzlösung 1:2000, der Karbol¬
säurelösung 3 und 5:100 und der 20 pr. Kalkmilch — genügen zu lassen,
gewiss sehr angebracht. Freilich fehlt es eben so wenig an sachverständigen
Bedenken gegen die Zweckmässigkeit dieser Mittel, wie an Beschwerden von
Seiten des Publikums über Beschädigungen der mit denselben behandelten Gegen¬
stände. Es ist besonders die Giftigkeit der chemisch wirkenden Desinfektions¬
mittel, ferner der ihnen zum Theil anhängende widerwärtige Geruch, schliesslich
aber die Schädigung der Gegenstände durch die Thätigkeit der Dampfdesin¬
fektionsanstalten, welche in den Augen der ärmeren Bevölkerung den Nutzen
dieser Anstalten als etwas Zweifelhaftes erscheinen lassen. Namentlich sind
Blut-, Koth- und Eiterflecken, wie sie der zu desinfizirenden Wäsche gerade der
ärmeren Bevölkerungsklassen so oft massenhaft anhaften, nach der Dampfdes¬
infektion förmlich eingebrannt und durch keinerlei Massnahmen wieder zu
entfernen!
Die Versuche Traugott’s beschäftigen sich demnächst zunächst mit der
Möglichkeit des Ersatzes von Sublimat und Karbol durch weniger giftige Körper.
Verfasser hat an der Hand zuverlässiger und sorgfältig angeweudeter Methoden
das Wasserstoffsuperoxyd in ‘/t bis lproz. Lösung und das Jodtrichlorid auf
ihre desinfizirende Kraft und ihre praktische Verwendbarkeit eingehend geprüft
und glaubt, das erstere in allen denjenigen Fällen, wo eine länger dauernde
Einwirkung des Mittels möglich ist, empfehlen zu können, während es zu schneller
Desinfektion, beispielsweise der Hände oder der Kleider von Wärtern oder Aerzten
vor Verlassen des Krankenzimmers, nicht zu verwenden sei. Auch das Jod¬
trichlorid zeigte schon in 1 pro mille Lösung beachtenswcrthe desinfizirende
Kraft, aber auch hier war die Wirkung etwas langsam und erst bei Ver¬
wendung 1 proz. Lösung gelang die sichere Sterilisirung der Hände in etwa
einer Minute. Gegen die Verwendung einer so starken Lösung dürfte aber doch
der hohe Preis (und der üble Geruch! Ref.) geltend zu machen sein. Inter¬
essant sind die beiläufig gebrachten Bemerkungen über Soda-Lösung, welche in
heissem Zustande zur Abkochung der Instrumente so zweckmässige Verwendung
findet. Das Wirksame ist nicht die Soda, sondern die Hitze und die erstere
wirkt in kaltem Zustande erst in so starker Konzentration sicher sterilisirend,
dass die meisten Gegenstände argen Zerstörungen ausgesetzt sein würden. —
Zur Desinfektion beschmutzter Wäsche verwirft Traugott den Dampf¬
desinfektionsapparat vollstäudig und will ihn durch Einlegen der in Säcke ge¬
füllten Wäsche in grosse mit Sublimat-Kochsalz-Lösung gefüllte Bottiche in
der Desinfektionsanstalt ersetzen. Ders.
Die im Odergebiet 1891 beobachteteSchlamtnkrankhoit. Superar¬
bitrium der K. Wissenschaft 1. Deputation für das Medizinal¬
wesen. Vierteljahrsschrift für gerichtl. Medizin. Band V, 1893, Heft 2.
Die Referenten Gerhardt und Rubner geben ein übersichtliches Bild
der von Juni 1891 bis Ende desselben Jahres längs der Oder in den Orten und
der Umgegend von Ratibor, Kosel, Oppeln, Ohlau und Glogau, längs der Neisse
in Ottmachau, Neisse und Grottkau, zwischen Neisse uud Oder in Neustadt,
Oberglogau, Falkenberg und Proskau verbreitet gewesene Krankheit, welche
bekanntlich eine erhebliche Ausdehnung gewann.
Der Beginn der Erkrankung erfolgte in allen Fällen plötzlich, zumeist
mit Schüttelfrost oder wiederholten Frösteln, die Körperwärme stieg sehr rasch
mit dem Krankheitsbeginn auf 39 biB 40 bis 41, gleichzeitig bestanden heftige
Kopf- und namentlich Hinterhaupt-, Kreuz- und Gliederschmerzen, allgemeines
Krankheitsgefühl, so dass die meisten sofort bettlägerig wurden. Die Entfiebe¬
rung war im Mittel am 8. Tage beendet, liess aber auch bis zum 13. Tage auf
sich warten und erfolgte mitunter unter reichlichem Schweissausbruch. Am 2.
bis 6. Tage kam ein Hautausscblag zum Vorschein, der in der Schlüssel-
Besprechungen.
535
beingegend begann nnd sich auf den übrigen Körper mit Ausnahme des Gesichts
verbreitete; er bestand in rothen masernähnlichen, oft leicht erhobenen, nnd mit
Schwellung des Follikels einhergehender Flecken. In vielen Fällen fehlte der
Ansschlag gänzlich. Zumeist wurde noch starke Conjunktivitis, Pharyngitis nnd
Laryngitis beobachtet. Die Athmungsschleimhaut ging mit verschwindend seltenen
Ausnahmen frei aus; der Unterleib war bald mässig, bald stärker gewölbt, die
Blinddarmgegend zeigte öfter Gurren, ohne schmerzhaft zu sein, der Stuhl war
bald angehalten, bald diarrhoeisch. Sehr vereinzelt sind kurze Rückfälle beob¬
achtet. Die Sterblichkeit war so gut wie Null, die Krankheit meist in zwei
Wochen gänzlich vorüber.
Verbreitungsweise nnd Ursachen der geschilderten Volkskrankheit sind
dunkel. Die geographische Verbreitung, wie die allgemeine Meinung in den
Seuchengebieten spricht dafür, dass Flusswaser, Sumpfwasser und Ueber-
schwemmnngsgebiet wesentlich bei der Krankheit mitwirkcn. Es scheint, dass
schlechte Wohnung und Nahrung wie Ueberanstrengung für die Seuche empfäng¬
lich machen. Die vorliegende Krankheit hat einige Aehnlichkeit mit der im
Oriente vorkommenden, auch in Südeuropa beobachteten, „Dengue“ genannten
Volksseuche, ebenso mit den von Oberstabsarzt Dr. Gl obig in der Militär-
ärztlichen Zeitschrift 1891 veröffentlichten Beobachtungen aus Anlass der Er¬
krankung von 85 Matrosenartilleristen in Lehe. Indessen ist eine Gleichartigkeit
der letzteren Erkrankungen mit den im Odergebiet vorgekommenen nicht anzu¬
nehmen, da sich manche Unterschiede zwischen beiden auffinden lassen.
Von den beiden Referenten wird für den Fall, dass die Krankheit in
Schlesien nochmals zum Vorschein kommt, vorgeschlagen, Anzcigepflicht und Be¬
richterstattung von den behandelnden Aerzten zu verlangen, bei etwaigen Todes¬
fällen, vollständige Obduktion mit mikroskopischer Untersuchung der wichtigeren
Organe vorzunehmen und einen mit der Bakteriologie vollständig vertrauten Arzt
für Erforschung des Thatbestandes in die betreffende Gegend zu entsenden.
Weiter ist vor dem Trinken von Fluss-, Graben- und Schlammwasser, vor dem
Essen mit von Schlamm beschmutzten Fingern und dem Arbeiten im Wasser zu
warnen. Wohn- und Schlafstuben sind nach Kräften reinlich zu halten, auf gute
Ernährung ist Bedacht zu nehmen bei den Arbeitern, und Ueberanstrengung der¬
selben zu vermeiden. Dr. Dtitschke-Aurich.
Besprechungen.
Reg. - und Med. - Rath Dr. Wernich und Med. - Assessor Dr. Wehmer:
Sechster Gesammtbericht über das Sanitäts- und
Medizinalwesen in der Stadt Berlin während der
Jahre 1889, 1890 und 1891. Mit einem Anhang be¬
treffend die Stadt Charlottenburg, Mit 11 Anlagen.
Berlin 1893. Verlag von Richard Schoetz. 328 Seiten.
Bei der Fülle des anregenden nnd lehrreichen Stoffes, der sich in dem
vorliegenden Generalberichte dem Medizinalbearaten zum Studium darbietet, ist
es natürlich nicht möglich, alle diejenigen hygienischen Fortschritte und zweck¬
mässigen sanitären Anlagen anzuführen, deren sich unsere Reichshauptstadt mit
Recht rühmen kann. Das nachfolgende Referat möge daher nur als eine Ueber-
sicht gelten, als eine Wiedergabe der wichtigsten Punkte. Es interessirt da zuerst
die Verwaltung»-Organisation: Der Magistrat hat sich an das Ministerium
des Innern mit dem Anträge gewandt, die Gesundheits-Polizei der Stadtgemeinde
zur eigenen Verwaltung zu übergeben; der Antrag hat Aussicht auf Annahme,
der Uebergang dürfte schon in nächster Zeit erfolgen. Die Kosten der Ver¬
waltung der Sanitätspolizei werden zum Theil vom Staate getragen, dem die
persönlichen Kosten (Gehälter der Beamten) zufallen, zum Theil von der
Stadt, die sämmtliche sächliche Kosten aufzubringen hat. Abtheilung I des
Polizei-Präsidiums hat die Leitung des Medizinal- und Sanitätswesens, während
Sache der Abtheiluug II die Ausführung der betreffenden polizeilichen Anord¬
nungen ist. Zu den Geschäften der Medizinal - Polizei gehören: a) Aufsicht
über das Medizinal - Personal, b) Aufsicht über Apotheken, c) Entgegennahme
586
Besprechungen.
von Beschwerden des Publikums Aber das gesammte Medizinalpersonal, d) Ueber-
wachung des unbefugten Handels mit Heilmitteln, e) Aufsicht über öffentliche
und private Krankenanstalten (Privat - Irrenanstalten werden alljährlich zwei
Mal revidirt). Zu den Geschäften der Sanitäts - Polizei gehören: a) Ausarbeitung
der allgemeinen Bekanntmachungen und Verordnungen, b) Kontrole des Verkehrs
mit Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegcnst&nden, c) Anordnungen,
betreffend die Reinhaltung des Erdbodens, der Wasserläufe, Luft und des Trink¬
wassers. Hierzu kommen die Bau-Abth. (III), die Sittenpolizei und das Leichen¬
kommissariat (IV die Kriminal-Abtheilung), die Veterinär-Polizei und die Ge¬
werbe - Inspektion. — Die medizinisch - technischen Organe der II. (ausführenden)
Abtheilung sind die zehn polizeilichen Bezirksphysiker, die lediglich sanitäts¬
polizeiliche Funktionen haben, ein polizeilicher Stadt-Physikus, der die Register-
Blätter über die Medizinal - Personen führt und 4 (3) gerichtliche Physiker. —
Die Marktpolizei überwacht die öffentlichen Märkte im Allgemeinen, den Verkehr
mit Lebensmitteln auf den Märkten, hält verdorbene Nahrungsmittel an, besorgt
die Kontrole des Milchhandels mittelst des Laktometers, die Probeentnahme
u. s. w. — Die Hauptsanitätskommission besteht im Ganzen aus 28 Personen
(Verwaltungsbeamten, Vertretern der Stadt, des Garnison - Kommandos, medizi¬
nischen Sachverständigen), kommt zwar im Plenum nur in Epidemiefällen zu¬
sammen, ihr seit 1883 verstärktes Bureau besteht aber fortdauernd. Mitte 1890
und 1891 hat diese Kommission über die Anstellung von sogenannten „Gesund¬
heits-Aufsehern“ und eine zweckmässige Organisation der Revier-Sanitäts¬
kommissionen berathen. Zu den dauernden Geschäften der Sanitätskommission
gehören: 1. Konstatirung der Krankheiten. Hierzu dienen a) Todtenscheine, da
ohne Ausstellung eines solchen in Berlin seit dem Jahre 1835 keine Leiche
beerdigt werden darf, b) Meldekarten bei ansteckenden Krankheiten. Diese
Daten werden dann zur weiteren Bearbeitung an das „statistische Büreau
der Stadt Berlin“ weitergegeben. 2. Sanitätspolizeiliche Massregeln bei dem
Auftreten ansteckender Krankheiten. — Endlich giebt cs 90 Revier-Sanitäts-
Kommissionen, welche alle diejenige sanitären Missstände in’s Auge zu fassen
haben, welche zur Entstehung und Verbreitung ansteckender Krankheiten
führen könnten.
Bei dem Kapitel „Witterungsverhältnisse“ wird auf die Missstände auf¬
merksam gemacht, welche für Berlin durch andauernde oder sehr heftige Regen¬
güsse entstehen können. Das Röhrensystem der Kanalisation, in welches sämmt-
liche Meteorwässer, sowie sämmtliches aus der Hauswirthschaft und Klosetspttlung
stammenden Abwässer fliessen, sind nicht geräumig genug, um die enormen
Wassermassen bei Wolkenbrüchen oder tagelang anhaltenden Regenfällen fassen
zu können. Dieser Umstand ist erst in der letzten Zeit hervorgetreten, seit dem
Berlin undurchlässige Strassenpfiaster in einer Ausdehnung von 2 l / s Mi 11.
qm aufzuweisen hat. Für diese Fälle sind nun Nothauslässe in die Spree vor¬
gesehen, deren schädliche Einwirkung durch eine etwaige Rückstaunng und
Ueberschwemmung auf der Hand liegt. Auf der andren Seite ist eine sehr
rasche Ueberfüllung des Spree- und Kanal - Inhalts mit fäulnissfähigen Stoffen
ein Umstand von nicht untergeordneter Bedeutung.
Die Bevölkerung vermehrte sich in den Berichtsjahren um 3,70; 3,29;
2,99 ®/ 0 . Nachdem die Verminderung der Bevölkerungsziffer durch Todesfälle
im Jahre 1883 : 28,58 auf das Tausend betragen hatte, war eine Verkleinerung
der Sterbeziffer eingetreten und betrug in den Berichtsjahren 22,56 — 21,21 —
20,85 °/ 00 . Das Maximum und Minimum ist ziemlich feststehend an gewisse
Monate gebunden; nach elfjährigen Erfahrungen fiel das Maximum stets auf
Sommermonate (meist Juli), das Minimum überwiegend auf September. Bei dem
Maximum der Sterblichkeit wirkt wesentlich die der unterjährigen Kinder mit,
die in der wärmeren Jahreszeit ein mehrfaches der übrigen Jahresmonate beträgt.
Folgende vorherrschende Krankheiten lieferten in Summa 41,88 °/ 0 der
Gesammtsterblichkeit ;■ 1. Lungenschwindsucht im Durchschnitt 13,41 °/ 0 ; 2. Brech¬
durchfall 8,38 •/„; 3. Katarrh des Darmes und Magens 7,71 ®/ 0 ; 4. Lungen- und
Brustfell - Entzündung 7,63 % ; 5. Kehlkopf - Trachea - und Bronchien-Entzündung
2,34 °/ 0 ; 6. Chronische Katarrhe dieser Organe 2,41 °/ 0 . Nachdem für die Lungen¬
schwindsucht sanitätspolizeiliche Abwehrmassregeln bereits in Anwendung ge¬
kommen sind, solche für den Brechdurchfall der Kinder und die Lungenent¬
zündung in Aussicht stehen, ist begründete Hoffnung vorhanden, den Prozentsatz
der Sterblichkeit an diesen Krankheiten stetig abnehmen zu sehen.
Besprechungen.
537
Von den einzelnen Infektionskrankheiten, die während der dreijährigen
Berichtszeit vorkamen, ist Folgendes zu melden: a) Pocken: Im Ganzen 60 Er¬
krankungen mit 12 Todesfällen, im Durchschnitt also 20 bezw. 4; im 10jährigen
Zeiträume von 1881—1890 betrugen die Zahlen 62,2 bezw. 8,5. b) Typhus-
Gruppe: Flecktyphus ist überhaupt nicht, Rückfalltyphus nur in einem ver¬
einzelten Falle vorgekommen, der ohne Folgen geblieben ist. Darmtyphus:
Die Zahl der Sterbefälle betrug im Jahre 1881: 337 (10,8 °/ 0# ), im Jahre 1882:
347 (11,4 °/ 00 ); — im Jahre 1889 : 281 (8,1 °/ 00 ), im Jahre 1890: 133 (4,0 °/ #0 ),
im Jahre 1891: 138 (4,0°/ 00 ). Ueber die Ursache und die Art der Verbreitung
haben die Beobachtungen iu Berlin auch in diesem dreijährigen Zeiträume ge¬
nügenden Aufschluss nicht gegeben; „weder der in früheren Jahren immer
wieder hervorgehobene Wechsel des Grundwasserstandes, noch die Schwankungen
in der Bodenwärme bis zu 3 Meter Tiefe, noch der Wechsel in der Witterung,
noch auch eine etwa weniger günstige Lage der vom Typhus befallenen Häuser
können nach den bisherigen Erfahrungen einzeln oder insgesammt mit Sicherheit
als die fördernden Ursachen für die Entstehung und Verbreitung des T. angesehen
werden. Auch die Beobachtungen Uber die Lage der Wohnungen in der Nähe
von Kirchhöfen, von Abladestellen für Kehricht, thierische und pflanzliche Ab¬
fälle und an allen Wasserläufen haben nichts ergeben.“
c) Ruhr: Im Ganzen sind 46 Sterbefälle gemeldet, von denen 33 °/o der
Fälle der Altersklasse von 0—1 Jahr, viele von den übrigen weiteren kindlichen
Altersklassen angehören. Die Dysenterie ist also in Berlin zu gewöhnlichen
Zeiten äusserst selten.
d) Diphtherie: Die Sterblichkeit betrug für die Durchschnitte der
Jahre 1881—1886: 6,50 */ 00 der Gesammtsterbezahl, für die Jahre 1887—1891:
3,60 # / 00 , für die Durchschuittsziffer der Berichtszeit: 3,40 °/ 00 . Trotzdem seit
dem 1. April 1884 für Diphtherie die Meldepflicht besteht, so sind, was man
aus den nachträglich durch den Todtenschein bekannt gewordenen Sterbefällen
schliessen kann, doch nicht alle gemeldet worden; es betrugen die Todesfälle in
toto: 1252, — 1549, — 1057, von diesen waren nicht gemeldet 17,2 °/ 0 , —
15,8 °/ 0 , — 13,4 °/„ der Fälle. (In den Vorjahren betrugen diese letzteren
Zahlen: 27,1, — 28,2, — 21,9 °/ 0 ; ein Fortschritt des Mcldewesens ist also nicht
zu verkennen). Nachforschungen wegen unterlassener Diphtherie - Meldungen
wurden bei 30 Aerzten angestellt und führten theilweise zu Strafmaudaten. —
e) Ein besonders umfangreiches oder bösartiges Auftreten von Scharlach,
Masern und Keuchhusten ist nicht beobachtet, genaue Zahlen lassen sich
wegen der nicht dauernden Anmeldepflicht nicht angeben.— f) Lungenent¬
zündung: Der Durchschnitt der Sterbeziffern betrug für die Jahre 1886 bis
1888 : 2005; für die Jahre 1889—1891: 2398. Nach den bisher gemachten Be¬
obachtungen erhöht sich die Sterbeziffer von Jahr zu Jahr, die Steigerung gegen¬
über den Sterbeziffern von 1879—1884 beträgt 1,50 # / 0 . Um geeignete prophy¬
laktische Massregeln dagegen in Anwendung zu bringen, wird zuerst der Antheil
ermittelt, welchen an der Pneumonie-Sterblichkeit Masern und Keuchhusten
haben, um so die eigentliche (infektöse) Pneumonie ausscheiden zu können,
g) Tuberkulose: Die Sterblichkeit an T. beträgt seit vielen Jahren in Berlin
etwa 13 °/ 0 (’/g) der Gesammtsterblichkeit; in den Berichtsjahren: 13,68, —
13,16, — 13,17 °/ 0 ; über Prophylaxe soll weiter unten die Rede sein, h) Kind¬
bettfieber: Im Ganzen 725 Erkrankungen mit 370 ■= 51 °/ 0 Todesfällen,
i) Kontagiöse Augenentzündung: vakat. k) Meningitis-cerebro-
s p i n a 1 i s ist epidemisch nicht vorgekommen. l)Zoonosen: 9 Fälle von Aktinomy-
cosis,3von Milzbrand, m) Influenza: rund 55000Erkrankungen; imUebrigen
wird auf das Original und die erschienenen Spezialabhandlungcn verwiesen.
Allgemeine Vorbeugungsmassregeln: Vor und nach Ablauf der
übertragbaren Krankheiten ist eine zweck- und zeitgemässe Desinfektion ein¬
geführt, die Anweisung zum Desinfektionsverfahren bei Volkskrankheiten ist
durch die Polizei Verordnung vom 7. Februar 1887 bestimmt. Verbindlich wurde
die Desinfektion gemacht für Erkrankungen an Cholera, Pocken, Fleck- und
Rückfall - Typhus, Diphtherie und nach dem Ermessen des Polizei-Präsidiums
nachträglich auch bei Darmtyphus, ferner nach bösartigem Scharlachfieber und
bösartiger Ruhr. Auf besondere amtliche Anordung soll ferner Desinfektion
stattfinden bei den zuletzt genannten 3 Krankheiten unter gewöhnlichen Verhält¬
nissen, sowie bei Masern, Keuchhusten und Lungenschwindsucht. Die Desinfektion
der transportablen Ausstattungs- und Gebrauchsgegenstände muss mittelst
538
Besprechungeti.
strömenden and erhitzten Wasserdampfes innerhalb der von der Stadt errichteten
besonderen Desinfektionsanstalten stattfinden, während die Desinfektion der
Krankenräume durch ausgebildete städtische Desinfektoren geschieht, welche
mit ihrer Ausrüstung und besonderem Aufträge in die Häuser entsandt werden.
Für die Verpackung und Versendung von Gebrauchsgegenständen von Ort¬
schaften ausserhalb Berlins an die Desinfektionsanstalten ist eine besondere Ver¬
ordnung erlassen worden. — Ausser der zum Krankenhause Moabit gehörigen
Anstalt hat der Magistrat zur Anwendung von erhitztem Wasserdampf für das
Publikum die „Erste öffentliche Desinfektionsanstalt - in der
Reichenbergerstrasse 66 errichtet. Die Stadt hat über 60 Desinfektoren und
Gehilfen angestellt, die gesammte Desinfektion nach ansteckenden Krankheiten
ist in die Hand der Stadt übergegangen. Auf die Desinfektion mit Chemikalien
sind 1889/90 491 3 / 4 Stunden Arbeitszeit aufgewendet worden (der Hauptantheil
an diesem Zeitaufwands fiel der Desinfektionen von Krankentransportwagen zu;
die Zahl der Desinfektionen betrug im Berichtsjahre 561 gegen 549 im Vorjahre).
Auf Grund polizeilicher Requisition wurden 629, auf Veranlassung von Armen¬
organen 117 Desinfektionen vollzogen. — Die zweite städtische Desinfektions¬
anstalt, ebenso eingerichtet wie die erste, hat 8 grosse Dampfkessel, welche
auch zur Heizung der Barackengebäude des städtischen Obdaches und zur Er¬
wärmung des Badewassers derselben Anstalt dienen, und den zur Desinfektion
nöthigen Dampf liefern. Vier Desinfektionsapparate mit Anwendung von direk¬
tem und indirektem Dampf bis zu 120 0 R. sind in Thätigkeit; Ledersachen und
Möbel, welche die Einwirkung der Desinfektionshitze nicht vertragen, werden mit
Karbolsäure desinfizirt.
Besondere Vorbeugungsmassregeln: I. Pocken-Prophy-
laxe. In der Königl. Anstalt zur Gewinnung thierischen Impfstoffes waren
eingestellt 1889: 132, 1890: 131, 1891: 106 Kälber; Betriebskosten schwankten
zwischen 12020,35 und 13019,26 Mark. Die abgewonnene Lymphe wurde durch
die vom Bezirksphysikus Dr. Doering erfundene Lymphmühle gebrauchsfähig
gemacht, die Verarbeitung des von einem Kalbe gewonnenen Impfstoffes wird
in 20—35 Minuten ermöglicht. Die Ausbeute auf das Kalb schwankte zwischen
0 und 24 Gramm. Die Lymphe zeigte sich in einzelnen Fällen bis nach */ 4 Jahren
haltbar. — Der Erfolg bei Erstimpfungen betrug 95,79—96,9 %, bei Wieder¬
impfungen 87,86—91,97 %.
II. Darmtyphus-Prophylaxe: So oft die Sanitätskommission von
zwei oder mehreren Fällen von Typhuserkrankungen in kurzer Folge aus einem
Hause Kenntniss erlangt, wird die örtliche Untersuchung des Typhusherdes
durch den zuständigen Bezirksphysikus angeordnet; solche Untersuchungen wurden
bewirkt im Jahre 1889 : 22, — 1890: 5, — 1891: 4. Den Rückgang der Darm¬
typhus - Sterblichkeit verdankt Berlin in erster Reihe einer geordneten Wasser-
wirthschaft und die Durchführung der Kanalisation, wodurch der Wohngrund
immer mehr gereinigt worden ist. Im Jahre 1889 z. B. kamen von 259 Typhus-
todten auf kanalisirte Häuser: 209, auf nicht kanalisirte Häuser: 50; das ist
auf 5000 Häuser jeder Kategorie berechnet: auf kanalisirte Häuser: 1,11 °/oo,
auf nicht kanalisirte Häuser: 2,54°/ 00 .
III. Schwindsuchts - Prophylaxe: Der erhebliche Zuzug an
Schwindsuchtskranken bei Gelegenheit der Tuberkulin - Kuren gab Anlass zu
einer Polizei-Verordnung, betreffend die Desinfektion bei Tuberkulose, vom
8. Dezember 1890. Für die Privat-Krankenanstalten, welche schwindsüchtige
Kranke aufnehmen, wurden Vorschriften erlassen, welche in der Hauptsache
forderten: Reinlichkeit der Treppen und Eingänge, Freibleiben der Kranken¬
räume von schwer zu desinfizirenden (Polster-) Möbeln und Ausrüstungsgegen¬
ständen, Verhinderung des Ausklopfens und Ausstäubens, Desinfektion der
benutzten Krankenräume nach Austritt des Kranken, sorgsame Benutzung der
mit Wasser gefüllten Spucknäpfe. In Schulen und Gefängnissen wurde für die
Befolgung der nöthigen Vorsichtsmassregcln Sorge getragen.
IV. Syphilis-Prophylaxe: In der Berichtszeit hat sich die Zahl
der untersuchenden Aerzte auf 8, der zur Desinfektion und Reinigung bei den
Untersuchungen nöthigen Bedienungsfrauen auf 4 erhöht; es schweben Unter¬
handlungen, welche darauf hinzielen, mikroskopische Untersuchungen verdächtiger
Genital - Sekrete nach bakteriologischen Methoden anstellen zu lassen. Es wurden
293088 regelmässige ärztliche Untersuchungen an durchschnittlich 4000 der
dauernden Kontrole unterstehenden erwerbsmässig prostituirten Frauenzimmern
Besprechungen.
539
und 9468 gelegentliche ärztliche Untersuchungen an solchen Frauen vorgenommen,
welche poüzeilicherseits aufgegriffen worden waren. Von den Sistirten wurden
dem Charite - Krankenhause überwiesen: 1901, — 2249, — 2164; an den unter
dauernder Kontrole stehenden Personen (3713—4364) wurden venerische Krank*
beiten vorgefunden 1227 — 1467 — 1485 Mal. Unter den krank befundenen
Personen litten im Ganzen an Tripper: 433 — 483 — 319; an einfachem Ge¬
schwür: 769 — 1056 — 1118; an Syphilis: 590 — 684 — 637; an Hautleiden:
54 — 76 — 90. — Bei einem durchschnittlichen Garnisonbestande von 19380
aquirirten durchschnittlich im Jahr 688 Mann = 3,49 °/ 0 Geschlechtserkrankungen;
unter den Gewerkskassenmitgliedern mit einer Mitgliederzahl (Ende 1891) von
217 894 erkrankten pro anno 9210 Personen = 4,23 °/„. — Die von der Berliner
medizinischen Gesellschaft zur Verhütung und Behandlung der venerischen Krank¬
heiten in Berlin vorgeschlagenen Massregeln sind bereits mit den formulirten
Sätzen in dieser Zeitschrift abgedruckt worden.
V. Vorkehrungen gegen eine abnorm hohe Kindersterb¬
lichkeit: Der Antheil, welchen in Berlin das Alter von 0 bis 1 Jahr an der
Gesammtsterblichkeit beansprucht, hat in den Jahren von 1881—1890 zwischen
38—40 °/ 0 geschwankt, unter 87 # / 0 ist sie nur einmal im Jahre 1885 gewesen.
Der Grund in der hohen Sterblichkeit ist in dem Zieh- und Haltekinderwesen
zu suchen, welches ja polizeilich überwacht wird, aber noch einer gründlichen
Besserung wartet. Hier eröffnet sich der Privatwohlthätigkeit ein weites Feld;
von 3342 ein- bis vierjährigen Haltekindem wurden wenig über 200 unterjährige
durch private Wohlthätigkeit überwacht, dagegen 1227 im ersten Lebensjahre
stehende durch kontrolirende Schutzleute. Hervorzuheben ist der Neubau des
Kaiser und Kaiserin Friedrich Krankenhauses im Norden der Stadt, das in allen
seinen Theilen die denkbar besten hygienischen Einrichtungen aufzuweisen hat;
in der Säuglingsabtheilung sind 12 Mütter mit ihren Säuglingen unterzubringen.
Wohnstätten. Die neue Baupolizei - Ordnung vom 15. Januar 1887 hat
folgende sanitäre Vorzüge zur Folge gehabt: Freilassung grosser, heller Höfe;
Verminderung der Kellerwohnungen und Mansarden; Versorgung der häuslichen
Bedürfnissanstalten mit Ventilation und Beleuchtung von aussen her; Anlage
breiter geradeauf führender heller Treppen. Die nach dem Inkrafttreten der
neuen Bauordnung bemerkte Abnahme der Baulust war keine dauernde. —
Untersuchungen von Wohnungen durch die Bezirksphysiker werden aus folgenden
Veranlassungen in’s Werk gesetzt: 1. Wenn mehrere Fälle von ansteckenden
Krankheiten (2 Typhus-, 3 Diphtherie-Fälle etc.) gleichzeitig in einer Wohnung
Vorkommen. 2. Bei Denunciationen wegen sanitätswidriger Zustände. 3. Um
festzustellen, ob Abweichungen von der Bauordnung mehr oder weniger schwer¬
wiegenden Bedenken unterliegen. — Schlafstellen waren polizeilich ange¬
meldet 36896—36900, während bei der Volkszählung nahezu drei Mal so viel
Schlafleute gezählt wurden; es ist daher anzunehmen, dass viele der Schlaf¬
stellen sich der polizeilichen Kontrole entziehen. — Im alten und neuen
Städtischen Obdach wurden im Jahre 1891 aufgenommen: a) Obdachlose
Familien 22709 mit 111022 Individuen, wobei die Frauen mit Kindern bei
Weitem die Mehrzahl bilden, b) Einzelne Obdachlose: 301766 Männer, 16083
Frauen; die Männer also stark überwiegend. In demselbe Jahre hat der Berliner
Asylverein für Obdachlose 109092 Männern und 17991 Weibern Aufnahme ge¬
währt; die Männer machen 86—88 vom Hundert aus. Seit seiner Eröffnung
schaffte der Berliner Asylverein 2336797 Obdachlosen ein Nachtlager; was an
Beköstigung verabreicht wird, stellte sich während der Berichtszeit auf 8'/« Pfg.
pro Kopf und Tag. Im Männerasyl beginnt Raummangel einzutreten. — Von
den am Ende 1891 bewohnten 22343 Grundstücken waren 19 951 (89,3 °/ 0 ) an
die Kanalisation angeschlossen. — Das Pflaster in Berlin bestand neben
2320780 qm der sechs billigen Steinpflasterklassen, die sich fortschreitend ver¬
kleinern, aus 1 774 300 qm der theueren Steinpflasterklassen (auf Unterbettungen),
aus 771093 qm Asphalt- und 70678 qm Holzpflaster. —
Wasserversorgung. Das Wasserbedürfniss der Berliner Bevölkerung
für den Tag und den Kopf kann auf 62 bis 65 Liter angenommen werden. Im
Jahre 1891/92 war der Durchschnitt 62,27 Liter, der Maximalverbrauch für den
Tag und Kopf erreichte 105 Liter nicht. Das Wasserwerk am Tegeler See und
das voraussichtlich zum Herbst 1893 in Thätigkeit tretende Wasserwerk am
Müggelsee werden zusammen in je 24 Stunden 260000 cbm Wasser der Stadt
liefern können; damit wird also der Bedarf von 2'/» Millionen Einwohnern ge-
540
Besprechungen.
deckt werden können. Ca 90 °/ 0 des ganzen Wasserquantums wird innerhalb
der Häuser verbraucht, 3,3 °/ 0 für die Kanalisation; 2,3 °/ 0 für die Strassen-
sprengung; 0,77 °/ 0 zur Speisung von 12 öffentlichen Springbrunnen; 0,63 °/ 0 zur
Besprengung 81 öffentlicher Garten- nnd Parkanlagen der Stadt, 0,34 °/ 0 zur
Bespülung der Rinnsteine; 0,844 °/ 0 für den Betrieb selbst n. s. w. An die
Wasserleitung waren am 31. März 1891 21598 Grundstücke angeschlossen, die
Zunahme von 1890 auf 1891 betrug 2,7 °/ 0 .
Nahrangs- and Genassmittel. Es bestehen jetzt 13 Markthallen, eine
vierzehnte ist projektirt und in Angriff genommen. Die Ueberwachung des
Nahrangsinittelverkehrs erfolgte einschliesslich der Untersuchungen auf Privat¬
anträge im Jahre 1891 ziffernmässig wie folgt: 4544 untersuchte Proben, davon
870 beanstandet; 256 Mal wurden Strafanträge gestellt, 189 Bestrafungen
erfolgten. — Die Untersuchung auf Trichinen wurde auch für Schwarzwild an¬
geordnet. Auf dem Zentral - Schlachthofe sowie in den städtischen Unter¬
suchungsstationen wurden auf Trichinen nnd Finnen untersucht: 570926 —
543578 — 626605 Schweine (darunter 280 Wildschweine); trichinös waren
6,15 — 2,61 — 5,23 °/ 000 ; finnig waren 30,28 — 23,72 — 21,02 °/ ?00 . Im Ver¬
gleich mit früheren Jahren ist die Zahl der finnigen Schweine in steter Ab¬
nahme begriffen. Trichinosis beim Menschen sind nicht vorgekommen. Die
Untersuchung des Fleisches bei Fäulniss ist nach der Beobachtung des Kreis-
thier&rztes W. Eber auf folgende Weise möglich: während man sich sonst aaf
die subjektive Gerachsempfindung verliess, weist man nach Eber die Entwick¬
lung von freiem Ammoniak nach: Ein Reagensglas von 2 cm Durchmesser und
10 cm Länge wird mit so viel des aus 1 Theil reiner Salzsäure, 3 Theilen
Alkohol und 1 Theil Aether bestehenden Reagens beschickt, dass der Boden
etwa 1 cm bedeckt ist, verkorkt und geschüttelt. Von dem zur Untersuchung
vorliegenden Gegenstände wird mit einem sauberen Glasstabe eine Probe abge¬
streift oder ein erbsengrosses Partikelchen an dem unteren Ende des Glasstabes
befestigt; der Glasstab wird eingetaucht, so dass sein unteres Ende etwa 1 cm
von dem Flüssigkeitsspiegel entfernt bleibt und auch die Wände des Gefässes
nicht berührt werden. Bei Gegenwart von Ammoniak entwickelt sich in wenigen
Sekunden ein Nebel, der sich vom Ende des Stabes herabsenkt. — Würste
waren häufig mit „Carnit“ gefärbt, einer Anilinlösung bezw. ammoniakalischer
Cochenillelösung; die Strafverfolgung gegen die Vortäuschung einer grösseren
Frische wurde mit Erfolg eingeleitet. — Die Milch wird auf Strassen, Plätzen
und in Verkaufsläden durch geübte Beamte aräometrisch mittelst des BischofT-
schen Milchprobers geprüft; dagegen wurde die Bestimmung des Fettgehaltes
nur durch den Chemiker ausgeführt. Im Jahre 1891: 29480 Milchkontrolen,
5270 Liter Milch wurden beanstandet, 1244 Uebertretungen festgestellt; 692
Bestrafungen von Milchhändlern wegen Uebertretung der Polizeiverordnung vom
6. Juli 1887. — In der Berichtszeit sind 1566 Butterproben durch öffentliche,
228 durch geheime Entnahme beschafft und untersucht worden. Bestrafungen
von Butterhändlern durch die Gerichte erfolgten 1889: 107, 1890 : 452, 1891:
336 Mal. Die Ausrede der Kleinhändler, dass sie die Beimischung der Margarine
nicht erkannt haben, wird nicht mehr als geltend zugelassen and bei ihnen die
einfache Schmelzprobe als bekannt vorausgesetzt: Reine Butter schmelzt klar,
Margarine und Gemische mit ihr schmelzen trübe ab. — Für Bierseidel ist
am 20. April 1892 die Polizeiverordnung betreffend die Einführung von Spül¬
apparaten mit ständigem Zu- und Abfluss von Wasser erlassen. —
Gewerbliche Anlagen. Ende 1891 bestanden 491 Fabriken mit 94911
männlichen und 32145 weiblichen Arbeitern; die Zahl der jugendlichen Arbeiter
hatte sich seit dem Jahre 1888 in Berlin am 2085 Personen vermehrt. Zur
amtsärztlichen Untersuchung gelangten 1889: 14 Fälle, von denen 6 als be¬
lästigend erklärt wurden (Rauch, Geräusche); 1890: 11 bezw. 3; 1891: 34 bezw.
21. In denjenigen Räumen von Neubauten, in welchen Coakskörbe zum Aus¬
trocknen der Wände aufgestellt werden, dürfen Töpfer, Maler u. s. w. nicht
arbeiten. Im Jahre 1890 wurden 28306 Werkstätten revidirt; darunter wurden
347 sanitäre überhaupt nnd 235 wegen Doppelbenntzung (zum Schlafen)
beanstandet. —
Schulgesundheitspflege. Die öffentlichen Schulen beliefen sich auf 276
mit 3911 Klassen. Bevölkert wurden diese Anstalten von 201568 Schülern,
von welchen 12 825 = 6,36 °/ 0 im Alter von über 14 Jahren standen. Ausserdem
bestehen 83 Privatschulen mit 654 Klassen and 19648 Schülern. Vom Verfasser
Besprechungen.
541
wird betont, dass die schulhygienischen Untersuchungen nur dann Aussicht auf
Erfolg haben, wenn nach dem Muster von Axel Key sich Eltern, Lehrer und
Aerzte daran betheiligen. Von Schulärzten ist im Berichte nichts erwähnt.
(Ref.) Statistische Erhebung, wie viel Schüler die Tuberkulose in der Schule
acquiriren stehen noch aus. Tageslichtmessungen mittelst der Weber’ sehen
Raumwinkelmesser und Photometer sind von Gilbert vorgenommen worden:
die Gemeindeklassen hatten genügende Resultate bei heiterem, sehr ungenügende
Resultate bei trübem Wetter. Für Spielplätze ist Sorge getragen. — Die
Summe sämmtlicher Ferienkolonisten betrug am Schlüsse der Berichtszeit über
2700 arme Kinder, für welche gegen 90000 Mark verausgabt wurden. Endlich
folgt eine genaue Darstellung der Verhältnisse in der Waisenerziehungsanstalt
zu Rummelsburg. (S. Original.)
Gefängnisse. Als krank wurden im Lazareth folgende Gefangene be¬
handelt und zwar a) Männer: 487 — 584 — 552; im täglichen Durchschnitt
9,05 — 11,46 — 11,14; im Verhältnis zur täglichen Durchschnittskopfstärke
2,07 % — 2,33 °/ 0 — 2,13 %; b) Weiber 416 — 514 — 592;-11,62 —
12,47 — 14,81;-2,65 °/ 0 — 2,82 °/ 0 — 3,10 °/ 0 . Geisteskranke unruhige
Gefangene wurden der Charite überwiesen: Männer 16 — 15 — 7; Weiber
6 — 7 — 7. — An Lungentuberkulose litten 34 — 22 — 18; an Syphilis und
sonstigen Geschlechtskrankheiten: 114 — 142 — 129; an Krätze 57 — 61 —
84; an akuten Krankheiten der Athmungsorgane: 93 — 133 — 122. Infolge
der Verfügung des Polizei - Präsidiums vom 21. Oktober 1889 ist das Impfen bei
den Stadtvoigteigefangenen eingefiihrt; ausgenommen sind alle Untersuchungs¬
gefangenen und alle anderen Getangenen, welche eine Freiheitsstrafe von weniger
als 14 Tagen zu verbüssen haben. — In der Irrenabtheilnng der Strafanstalt
zu Moabit betrug die Gesammtzahl der im Jahre 1891/92 detinirten geistes¬
gestörten Gefangenen 87. Von den durchschnittlich 37,25 Detinirten erwiesen
sich an 5859 als arbeitsfähig 19,08; die Arbeit wurde als Heilmittel angeordnet.
15 Isolirzellen sind vorhanden. Die chronische Verrücktheit war die häufigste
der beobachteten Geistesstörungen (32); 13 F'älle von akuter resp. subakutcr
Verrücktheit, 4 Dementia paralytica, 2 Fälle von Seelenstörung mit Epilepsie.
11 Fälle geheilt, 43 Ungeheilt, 1 Todesfall (vorgeschrittene Tuberkulose).
Fürsorge für Kranke und Gebrechliche. Samariterkurse für Schutz¬
leute wurde in der Berichtszeit in 2 Kursen ertheilt, im Ganzen beträgt bis
Ende 1891 die Zahl der ausgebildeten Offiziere und Mannschaften 800. Der
Magistrat hat 23 Kästen mit Verbandzeug und Mitteln für die erste Hülfe bei
Unglücksfällen sowie 20 Tragbahren angeschafft. Für den Etat 1891/92 ist von
der Subkommissiou für das Rettungswesen der Dispositionsfonds von 10000 auf
40000 Mark erhöht worden. Rettungsvorrichtungen für im Wasser Verunglückte
wurden angeschafft (Rettungsball aus Rennthierhaaren mit Rettungsleine, Kahn
mit Rudern, Rettungsstange). Die Berliner Sanitätswachen weisen eine erfreu¬
liche Entwickelung auf. — Die Stadt Berlin verausgabte im Etatsjahr 1. April
1890/91 für Armenverpflegung, Waisenhaus, Arbeitshaus, städtische Hospitäler,
Siechenanstalten und Krankenhäuser, Obdachasyle, Irrenanstalten und Heim¬
stätten für Genesende in Summa: 10953676 M., wovon sich nur 1756626 Mark
durch Einnahmen decken, das übrige durch Kommunalzuschuss aufgebracht wird.
Die Steigerung des Zuschusses ist auf 11,57 °/ 0 berechnet. Zu erwähnen ist
ferner das neue städtische Krankenhaus am Urban mit 600 Betten; auf jedes
Bett kommt eine Bodenfläche von mindestens 8 H / 4 qm und bei einer Höhe von
5 m im Erdgeschoss, 5,50 m im I. Stock, ein Luftkubus von 43 */ 4 bezw. 48 cbm.
Ueber die innere Einrichtung und den Betrieb ist Näheres im Original nachzu¬
lesen. — Die städtische Irrenanstalt zu Dalldorf hatte am 31. März 1889 einen
Bestand von 2557 Kranken; Zugang des Bestandes betrug 1889/90:102; 1890/91:
223. Den Formen der Geistesstörung nach hatten die einzelnen Arten sich wie
folgt betheiligt: Senile Geistesstörung 12,3 bezw. 6,7 °/ 0 , die paralitische Geistes¬
störung 27,5 bezw. 28,6; einfache chronische Geistesstörung 35,6 bezw. 41,8;
Idiotie (Imbecillität) 5,0 bezw. 6,1; Epilepsie mit Geistesstörung 19,5 bezw.
16,8 °/ 0 . — Als grosser Fortschritt auf dem Gebiete der Rekonvaleszentenpflege
ist zu verzeichnen: die Errichtung der „Städtischen Heimstätten für Genesende“;
dieselben wurden in den Herrschaftshäusern der städtischen Rieselgüter Blanken¬
burg und Heinersdorf eingerichtet. Der Aufenthalt ist auf 3 Wochen berechnet.
Die Zahl der Betten beträgt 54 bezw. 60, ausserdem ist in B. noch eine Sommer¬
baracke mit 16 Betten. Zngegangen waren 200 — 262 — 291 Rekonvales-
542
Tagesnachrichten.
zenten. — Endlich wäre hervorzuheben die „Heimstätte für Wöchnerinnen“; es
werden Wöchnerinnen zwischen dem 10. nnd 21. Wochenbettstage anfgenommen,
Wöchnerin and Kind müssen gesund sein (Bleonorrhoea neonatorum bleibt aus¬
geschlossen). In der Regel gelten als Aufenthaltsdauer 3 Wochen; Verpflegungs¬
satz pro Tag 2,25 Mark, von welchem Bedürftigkeit befreit. —
Bäder. Zur Befriedigung des Badebedürfnisses waren 12 städtische,
Flussbadeanstalten mit 14 Bassins vorhanden. Weitere zwei neue Volksbade¬
anstalten sind eingerichtet worden.
Leichenschau- und Beerdigungswesen. Die Geschäftsführung des
Leichenkommissariats — Sicherstellung der nicht in natürlichem Verlauf der
Dinge erfolgten Todesfälle — vermehrt sich zusehends: Zahl der Unglücksfülle
1881: 3180 mit 968 tödtlichen Ausgängen; 1889: 7839 und 1187f; 1890 : 9139
und 1239 f; 1891: 9817 und 1340 f- Die Zahl der während der Berichtazeit
in’s Leichenhaus gebrachten Leichen betrug: 774 — 857 — 862. Das Leichen¬
tiberführungswesen innerhalb Berlins selbst liegt in den Händen von Unter¬
nehmern, ausgedehnte polizeiliche Kontrole findet statt. Von Berlin nach anderen
Gebieten sind Leichen überführt worden: 352 — 399 — 433. Genehmigung
zum Ausgraben und Umbetten von Leichen wurde ertheilt: 48 — 28 — 31 Mal.
— Im Interesse der Gesundheitspflege ist die Benutzung der bestehenden 47
Leichenhäuser seitens des Magistrats dringend empfohlen worden; es wurden
eingestellt 11597 — 11274 — 11678 Leichen, d. h. 32,0 — 32,33 — 33,41%. —
Medizinal-Personal. Die Uebersicht der von den Physikern ange¬
führten Dienstgeschäfte ist im Original nachznsehen. Es fanden allmonatlich
Physikats - Konferenzen statt, die Berathungsgegenstände sind ebenfalls im
Original verzeichnet. — Am Ende der Berichtszeit waren 1639 Aerzte in Berlin,
d. h. 1 Arzt auf jedes Tausend der Einwohner. Die Zahl der Zahnärzte
belief sich auf 133. Die Zahl der Hebammen betrug Ende 1891: 803.
Zwei Hebammenvereine bestehen. Es bestehen 93 Privatentbindungsanstalten,
in welchen 204 — 219 — 195 Geburten vorkamen; von den 618 Müttern
ist nur eine gestorben. — Das Heilgehilfen - Examen vor dem Stadtphysikus
haben 72 — 65 — 70 Anwärter bestanden. Nicht approbirte Heilbeflissene
wurden von den Polizei-Revieren ermittelt: 231 — 223 — 191. — Ende
1891 batte sich die Zahl der Apotheken auf 131 erhoben, dazu kamen
5 bereits genehmigte Neuanlagen; die Zahl der auf eine Apotheke entfallenden
Einwohner belief sich danach auf 12393. Die Zahl der Drogengeschäfte ist auf
450 angestiegen. Auf Grund der amtlichen Revisionen, zu denen jetzt regel¬
mässig ein Apotheker als Revisor zugezogen wird, erfolgten Bestrafungen: 160
— 138 — 156 in Höhe von 3—150 Mark. Der Kampf gegen das Unwesen des
Geheiminittelverkehrs ist fortgesetzt worden. Bis Ende 1891 sind 230 Geheim¬
mittel chemisch untersucht worden; ihre Anpreisung darf in Zeitungen nicht
stattfinden; das Verzeichniss ist im Original enthalten. Wegen Uebertretung
der Polizei - Verordnung vom 30. Juni 1887 sind 137 — 93 — 96 Bestrafungen
von Zeitungsredaktionen erfolgt; ausserdem sind 33 — 44 — 23 Personen wegen
unerlaubten Verkaufs von Geheimmitteln bestraft worden. Warnende Bekannt¬
machungen seitens des Polizei - Präsidiums richteten sich gegen 12 Geheimmittel.
Es folgt im Original neben 11 Anlagen noch der Bericht über das Char¬
lottenburger Gesundheitswesen, abgefasst von Med. - Assessor Dr. Wehmer.
Dr. Israel-Medenau (Ostpr.).
Tagesnachrichten.
Die politischen Zeitungen brachten in der jüngsten Zeit Mittheilungen
Uber eine geplante Umgestaltung der medizinischen Prüfungen; es sollten
darnach statt des Tentamen physicum 2 Prüfungen: eine naturwissenschaftliche
nach 2 Semestern und eine anatomisch physiologische nach 4 Semestern, sowie
ein Jahr praktischer Arbeit in einer Klinik oder einem Krankenhause vor der
Staatsprüfung in Aussicht genommen sein. Eine Verlängerung des Studiums
sollte dagegen nicht beabsichtigt werden, wohl aber die Einführung der Psychiatrie
als Prüfungsgegenstand. Diesen Nachrichten gegenüber theilt die „Norddeutsche
Tagesnachrichten.
643
Allgemeine Zeitung“ mit, dass sich die Angelegenheit noch in dem allerersten
Stadium ihrer Entwickelung befinde und jedenfalls noch nicht so weit gediehen
sei, um die baldige Vorlegung eines Entwurfes erwarten zu können.
Die Frage, ob künftighin für die Zulassung zum thierärztlichen Studium
das A'biturientenexamen auf einer neunklassigen höheren Lehranstalt als Vor¬
bedingung gefordert werden soll, wie solches von dem deutschen Veterinärrath
beantragt war, ist von der Preussischen Regierung verneint.
Am 25. Oktober d. J. hat eine Sitzung der wissenschaftlichen
Deputation für das Medizinalwesen unter Zuziehung der Vertreter
der Preussischen Aerztekammer stattgefunden. Der Gegenstand der Berathung
bildete die Frage der staatlichen Beaufsichtigung öffentlicher und
privater Krankenhäuser.
Am 18. Oktober d. J. feierte der Geh. Sanitätsrath Kreisphysikus a. D.
Dr. Adamkiewicz in Berlin sein 50jähriges Doktorjubiläum. So
lange der Preussische Medizinalbeamtenverein besteht, hat der Jubilar demselben
als Mitglied angehört und ist auch nach dem Ausscheiden aus seiner amtlichen
Stellung als Physikus des Kreises Rawitsch Mitglied geblieben. Möge ihm das
Otinm cum dignitate noch recht lange vergönnt sein!
Am Freitag, den 20. d. Mts., ist der Prof, an der Berliner Universität
Dr. Friedrich Falk beerdigt worden. Falk ist nur 53 Jahre alt geworden und
nicht mit Unrecht schreibt man seinen Tod der Ursache zu, dass der Tod seiner
vor einem Jahr dahin geschiedenen Ehefrau ihm das Herz gebrochen. Falk
war ein rüstiger fleissiger emsiger Arbeiter auf dem Gebiete der medizinischen
Wissenschaft, von ausserordentlicher Belesenheit und von treffendem schlag¬
fertigem Urtheil. Eine Menge Arbeiten auf dem Gebiete der gerichtlichen
Medizin und der sanitären Wissenschaft kennzeichnen seinen Arbeitsweg. Auch
unserer Zeitschrift ist er ein geschätzter Mitarbeiter gewesen. Als Mitglied des
Preussischen Medizinalbeamten-Vereins, an dessen Wiege er gestanden, hat er
nie in unseren Versammlungen gefehlt und stets regen Antheil an unserem
Wirken genommen. — Wie er pietätvoll gegen Gattin und Mutter, so war er
treu und aufopfernd gegen seine Freunde. Erschreckt durch seinen plötzlichen
frühen Tod stehen wir trauernd an seinem Grabe. Friede seiner Asche!
Die Cholera hat im Oder- und Havel gebiete in den letzten Wochen
leider eine grössere Ausbreitung gewonnen, insbesondere in Stettin und Um¬
gegend, worüber im Eingang der heutigen Nummer von zuständiger Seite be¬
richtet ist. Die Zahl der Cholera-Erkrankungen stellt sich in Stettin selbst
vom 11.—26. Oktober auf 77 mit 37 Todesfällen; im Kreise Randow sind in
derselben Zeit 32 Erkrank, mit 22 Todesfällen vorgekommen, davon in Warsow
10 bezw. 8, in Frauendorf 8 bezw. 1, in Bredow 3 (1), in Bolinchen eine tödtliche
Erkrankung, in Pölitz eine Erkrankung, in Grabow a. 0. 2 Todesfälle. Ausserdem
sind noch aus dem Odergebiete gemeldet: 2 Erkrankungen in Neuenkränitz, je
eine tödtliche Erkrankung in Swinemünde, Niedersaathen und Hohewutzen
(Kr. Königsberg i. N.), 4 Erkrankungen und 2 Todesfälle in Stepenitz (Kreis
Kammin), je 1 Erkrankung in Eggesin (Kreis Uckermünde), Küstrin und Neu¬
schaumburg bei Küstrin.
Im Havelgebiet sind in den letzten Tagen (20.—26. Okt.) eine grössere
Anzahl von Choleraerkrankungen in Havelberg aufgetreten (29 mit 13 Todes¬
fällen), desgleichen an der Zerpenschleuse (9), ausserdem vereinzelte Fälle in
Plötzensee (1), Rixdorf (1), Potsdam (1).
In Hamburg sind vom 12.—26. Oktober nur 10 Erkrankungen und 6
Todesfälle beobachtet; in Altona 3 bezw. 1, in Hadersleben 2, Tönning und Alten¬
werder je eine tödtliche Erkrankung, in Neuenwalde, Damnatz (Kreis Dannen¬
berg) und Harburg je 1 Erkrankung, in Wittenberge 4 Erkrankungen und
2 Todesfälle, in Magdeburg 2 Erkrankungen und 1 Todesfall.
544
Tacresnachrichten.
Ein neuer Seuchenherd scheint sich im II e m e 1 gebiet durch Einschler v T nig
aus Russisch - Poltrn gebildet zu haben. und sind in Fvhze dessen neue sa;u:Are
Ueberweisungsstationen eingerichtet. In Tilsit sind bis zum 26. • »krtcber 22
Erkrankungen mit 4 T*>Ie^r'aJien; in Ragnit und Schmailemngken je 1 Erkrankung.
Eine tGitüch verlaufende Erkrankung wird noch aus Gieiwitz in Ooerschiesien
gemeldet.
In Oesterreich hat die Cholera sowohl in Galizien, als in Ungarn
weiter abgenoinmen, der Charakter der Erkrankungen ist ein milderer geworden,
so dass ein baldiges Erlöschen der Seuche zu erwarten steht, in Galizien
betrug die Zahl der Erkrankungen und der Todesfälle in der Woche vom 4. bis
lu Oktober S2 bezw. 36, vom 11.—17. «Oktober 117 bezw. 63: Tom 18.—24. Oku
77 bezw. 37 in 23. 31 bezw. 21 Gemeinden. Die Gesammtzahl der Erkrankungen
ist damit auf 1170, jene der Todesfälle aut 7c4 = .V>.2 : 0 gestiegen. Am meisten
verseucht sind noch immer die Bezirke Nadwoma <50 Erkr. und 31 Todesi.>
und Sanok (48 Erkr. und 18 Todesiällei und Vor allem StanisUu (101 Erkr.
und 30 Todesf.).
In Ungarn sind vom 26. Sept. bis 3. <>kt. 120 Erkrankungen undS4Todes-
fälle in 51 Gemeinden, vom 4.—11. Okt. 131 Erkrankungen und 71 Todesfälle
in 50 Gemeinden angemeldet. Die Zahl der intizirten Kumitate ist von 22 auf
16 gesunken; am mei-t^n sind eben so wie in den vorhergehenden Wochen die
Komitate Marmoros (?*) bezw. 3-8) und Bacs - Bodroeh <24 bezw. 21) von der
Seuche heimgesucht, ln Pest sind während dieser Zeit 26 Erkrankungen mit
9 Todesfällen, in Klausenburg 6 mit 3 Todesfällen vorgekünimeu.
Aus Bosnien wird der Ausbruch der Cholera in der Stadt Brcka ge¬
meldet; bis zum 13. Oktober sind dort 64 Erkrankungen und 32 Todesfälle
featgestellt.
In Rumänien ist die Cholera scheinbar im Erlöschen begriffen; vom
25. Sept. bis 2. Okt. sind nur noch 33 Erkrankungen mit 23 Todesfällen, vom
3.-8. Okt. 14 bezw. 9 zur Anzeige gelangt. Dagegen scheint die Cholera in
Konstantinopel festeren Fu.>s zu fassen; die Zahl der bis jetzt dort ange¬
meldeten Erkrankungen beträgt 349 mit 2«J8 Todesfällen.
In Italien ist eine wesentliche Abnahme der Cholera in Palermo noch
nicht zu verspüren, denn vom 11.—25. Oktober sind 169 Erkrankungen und 81
Todesfälle angemeldet. In Patti und Livorno scheinen sich jedoch die Verhält¬
nisse etwas Einstiger zu stellen, die Zahl der Erkrankungen betrug hier während
derselben Zeit: 20 (11) bezw. 82 (31).
In .Spanien ist die Cholera bis jetzt über die Provinz Biseaya nicht
herausgekommen; vom 2.—15. Oktober sind hier 2v80 Personen daran erkrankt,
149 gestorben, davon 124 bezw. 54 in Biscaya selbst.
Aus Frankreich bleiben die Cholera-Nachrichten nach wie vor unvoll¬
ständig. Der Hauptherd der Seuche scheint hier Brest zu sein; in Nantes
sind vom 28. Sept. bis 11. Okt. nur noch 26 Erkrankungen und 21 Todesfälle
vorgekommen. In Holland scheint die Seuche im Erloschen begriffen zu sein;
vom 4.—11. Oktober sind nur 10 vereinzelte Erkrankungen und 7 Todesfälle
aus 8 verschiedenen Orten angezeigt.
Aus England wird der Ausbruch der Cholera in einer Krankenanstalt
in Greenwich gemeldet (augeblich 200 Erkrankungen); in Hüll waren bis Anfang
Oktober 57 Erkrankungen mit 17 Todesfällen; in Grimsby 120 bezw. 72 vorge¬
kommen.
In Russland betrug die Zahl der Erkrankungen und Todestalle vom
9.—23. Oktober in Petersburg: 330 bezw. 147; in Moskau dagegen nur 37 bezw.
17; vom 1.—19. Okt. in den Gouvernements Lomsha: 1278 bezw. 625, Grodno:
168 bezw. 74; vom 1.—14. Oktober in den Gouvernements Wolhynien: 1057
bezw. 444; Orel: 273 bezw. 103; Kiew: 540 bezw. 191; Jekaterinoslaw: 555
bezw. 215; Kursk: 346 bezw. 77; Woronesh: 250 bezw. 110; Mohilew: 158
bezw. 96 und Podolien 1150 bezw. 510.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W.
J. C. C. Bram, Baehdruckerei, Minden.
6. Jahrg.
Zeitschrift
für
1893.
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rath u. gericlnl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- lind Meduinalrath in Minden.
und
Dr. WILH. SANDER
Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlaffshandlunff>nd Rud. Moste
entgegen.
No. 22.
Eraeheint am 1. und 15. Jeden Monats.
Preis Jährlich 10 Mark.
15. Novbr.
Hebammen und Pfuscherinnen.
Von Kreisphysikus Dr. Salomon in Darkebmen.
Zur Hebung der materiellen Lage des Hebammenstandes im
Regierungsbezirk Gumbinnen hat die Königliche Regierung seit
dem Jahre 1884 dabin zu wirken gesucht, dass sämmtliche Kreise
kontraktlich verpflichtete Hebammen gegen feste Gehälter anstellen
und ein durch Statuten geregeltes Bezirks - Hebammenwesen ein¬
führen sollten. Die meisten Kreise sind dieser Anregung gefolgt
und haben zum Theil namhafte Summen für Hebammenzwecke in
ihren Etat eingestellt. Die Kreisvertretung von Darkehmen hat
sich bis zur Stunde ablehnend verhalten und ihren Standpunkt in
ungefähr folgender Weise motivirt: „Besondere Missstände im
Hebammenwesen des Kreises sind nicht vorhanden. Durch eine
Aufbesserung des Einkommens der Hebammen wird weniger eine
sogleich eintretende Besserung der Qualität der Hebammen, als
eine allmähliche Heranziehung besserer Elemente zu dem qu.
Stande bezweckt. Dieses Ziel der angeregten Reform zu erstreben,
ist keine Kreisangelegenheit, sondern Sache des Staates oder der
Provinz. Der Kreis kann doch nur die in seinen Grenzen besonders
hervortretenden Uebelstände zu beseitigen versuchen, — mit ganz
allgemein vorhandenen Uebelständen und Schäden hat er sich nicht
zunächst zu befassen. Das in Vorschlag gebrachte Statut soll zur
allerhöchsten Bestätigung eingereicht werden, das Bezirkshebammen¬
wesen soll also eine dauernde Einrichtung werden. Es handelt
sich mithin um eine dauernde und jedenfalls mit der Zeit zu¬
nehmende 1 ) Belastung des Kreises (von ca. 1500 Mark jährlich),
*) In einem Schreiben Sr. Excellenz des Herrn Oberpräsidenten an die
ostpreussische Aerztekammer vom 1. Mai 1893 heisst es: „ ... . Ich bin gern
bereit, insbesondere einzelne Kreise, welche seither schon die statutarische
Regelung eingefilhrt haben, zu einer Erhöhung der Bezüge der Hebammen
anzuregen.
546
Dr. Salomon.
deren eventuelle Aenderung oder Beseitigung der Macht der Kreis¬
vertretung vollkommen entzogen ist.“ Durch eingehende Er¬
hebungen war festgestellt worden, dass die Zahl der Hebammen
eine ausreichende und ihre Vertheilung im Kreise eine zweckent¬
sprechende sei; spezielle wesentliche Missstände konnten der Kreis¬
vertretung nicht namhaft gemacht werden. Als Hauptargument
für die Nothwendigkeit der Reform wurde die Thatsache angeführt,
dass etwa die Hälfte der Geburten ohne Mitwirkung von Hebammen
verlaufe. Ich persönlich (damals noch nicht Physikus) habe dem
Referenten des Kreisausschusses gegenüber noch betont, dass die
Einrichtung des Bezirkshebammenwesens die einzige Möglichkeit
gewähre, eine strengere Disziplin, wie sie dringend nothwendig
sei, durchzuführen.
Im Jahre 1891 wurde von der Königlichen Regierung ein
erneuter Versuch gemacht, die Kreisvertretung zur Annahme eines
Statuts zu bewegen. Den Argumenten der Aerztekammer, von
welcher wiederholte Anregungen ausgegangen waren, neues hinzu¬
zufügen, war ich ausser Stande. Die Kreisvertretung verhielt
sich ablehnend, wie 1884.
Der Wunsch, über den Umfang und die Ursachen des
Pfuscherinnenthum es in meinem Kreise genauer orientirt zu sein,
wurde bei dieser Gelegenheit in mir ganz besonders rege und ich
entschloss mich zu einer genauen statistischen Bearbeitung
der Frage.
Soweit ich es kontroliren kann, war bisher die Zahl der im
Kreise durch Pfuscherinnen gehobenen Kinder in der Weise fest¬
gestellt worden, dass von der Gesammtgeburtsziffer des Jahres
einfach die Gesammtsumme der von den Hebammen des Kreises
geleiteten Entbindungen abgezogen wurde, bei welcher Rechnung
der Umstand natürlich in keiner Weise berücksichtigt ist, dass
die Praxis der Hebammen vielfach über die geographische Kreis¬
grenze hinüber- und herübergeht.
Die naheliegende Annahme, dass diejenigen Geburten, bei
welchen eine Hebamme nicht zugegen gewesen ist, gerade die der
ärmsten Frauen seien, schien mir für den recht wohlhabenden Kreis
Darkehmen nicht ohne Weiteres berechtigt zu sein.
Um nun einen genaueren Einblick in die thatsächlichen Ver¬
hältnisse zu gewinnen, habe ich mir ein grösseres Buch angelegt,
in welches ich sämmtliche Ortschaften des Kreises in alphabetischer
Reihenfolge derart eintrug, dass bei jeder Ortschaft Raum genug
für die Eintragung der Geburten von mehreren Jahren vorhanden
war. Das Buch war durchweg so liniirt, dass jede Eintragung
nach folgenden Rubriken erfolgen konnte: Namen der Entbundenen,
Stand, Tag und Stunde der Entbindung, lebendes oder todtes
Kind. Nun liess ich mir vom Kreisausschuss die standesamtlichen
Geburts- und Sterberegister (weil in den letzteren die Todtgebur-
ten eingetragen sind) geben und übertrug sämmtliche Geburten,
zunächst des Jahres 1890, in mein Ortschaftsregister; dann mar-
kirte ich mir hierin die von den Hebammen nach Ausweis ihrer
Tagebücher geleiteten Geburten durch rothe Unterstreichung. Um
Hebammen und Pfuscherinnen.
547
keinen Fall zu übergehen, schickte ich nach sämmtlichen Nachbar¬
kreisen an die Physiker oder Landrathsämter frankirte Formulare,
die mir dann von den Grenzhebammen der betreffenden Kreise
ausgefüllt mit den Angaben über die Geburten, die sie im Kreise
Darkehmen geleitet, zurückgestellt wurden. Zur Gewinnung
grösserer Zahlen habe ich diese Arbeit später auch für das Jahr
1891 gemacht.
Auf diese Weise war ich nun in der Lage, jedem einzelnen
Geburtsfall nachgehen zu können. Die Arbeit, der ich mich unter¬
zog, war keine so glatte, wie ich Anfangs gedacht, sondern bot
Fehlerquellen in Menge. Vor Allem fand ich eine kaum glaubliche
Unzuverlässigkeit der Hebammentagebücher. Die Ortsnamen waren
sehr häufig falsch eingetragen, die Tage der Entbindung differirten
mit den standesamtlichen Eintragungen um mehrere Tage mindestens
in einem Drittel der Fälle, die Vornamen der entbundenen
Frauen waren meistens falsch und die Stunde der Entbindung
stimmte fast nie! Dass eine grosse Menge von Kindern, welche
in den Hebammentagebüchern als lebend und gesund verzeichnet
waren, in den standesamtlichen Registern als „todtgeboren“ figu-
rirte, überraschte mich bei der von den Hebammen beliebten Praxis,
sich von den frisch Entbundenen so schleunig wie möglich zu ent¬
fernen, nicht. Wochenbesuche werden hier meist wegen zu grosser
Entfernung und oft wegen Mangels an Bezahlung nicht gemacht;
wenn also ein Kind beim Weggehen der Hebammen noch etwas
nach Luft schnappt, kommt es in ihr Tagebuch als „lebend und
gesund“. Vor dem Standesamt wird die Bezeichnung „in der Ge¬
burt“ ungefähr synonym gebraucht mit „gleich nach der Geburt“,
und da dieser Begriff sehr dehnbar ist, so erklärt es sich, dass
für Kinder, die in der That mehrere Stunden gelebt haben, nicht
je eine Geburts- und eine Sterbeurkunde, sondern bequemerweise
nur eine Todtgeburtsurkunde, ausgestellt wird. Ganz auffallend
aber erschien mir die Thatsache, dass ich im Jahrgang 1890 bei
den Hebammen 16 Kinder als rechtzeitig geboren und lebend ver¬
zeichnet fand, die in den standesamtlichen Registern gänzlich
fehlten. Der Kreisausschuss hat auf meinen Antrag bei den ein¬
zelnen Standesämtern genaue Erhebungen durch Vernehmungen etc.
anstellen lassen. In einem Falle war ein im Jahre 1890 geborenes
Kind erst im Jahre 1891 eingetragen, in allen übrigen Fällen
haben die Eltern bei der Vernehmung ausgesagt, dass es sich um
Frühgeburten gehandelt habe. Meiner Ansicht nach kann man
nicht annehmen, dass alle diese Fälle von den Hebammen falsch
eingetragen sind, ein Theil davon betrifft — davon bin ich fest
überzeugt — rechtzeitig geborene und bald nach der Geburt ge¬
storbene Kinder, deren Anmeldung die Eltern aus Bequemlichkeit
oder Nachlässigkeit einfach unterlassen haben. 1 ) Strafanträge zu
stellen, wäre illusorisch gewesen, da die Hebammen gar nicht in
0 Diese Beobachtung gibt nach mancher Richtung hin zu denken und
wirft ein ganz eigenthümliches Licht auf die stets als zweifelsfrei angesehene
Todtgeborenen- Statistik. Man sieht, dass die Hebammen irgend eine Eontroleüber
548
Dr. Salomon.
der Lage sind, die Angaben ihrer nur pro forma und ganz nach¬
lässig geführten Tagebücher zu beeidigen. Es war für viele Heb¬
ammen übrigens eine sehr unliebsame Ueberraschung, als ich ihnen
auf Grund der standesamtlichen Register und sonstiger Erhebungen
den Nachweis führte, dass ihre Eintragungen in hohem Grade un¬
zuverlässig und zum Theil direkt falsch wären.
In einzelnen Fällen konnte ich feststellen, dass Hebammen
rite von ihnen geleitete Entbindungen gar nicht eingetragen
hatten. Anfangs glaubte ich, dass diese Unterlassungen absicht¬
lich geschehen seien, um die Zahl der gehabten Entbindungen
kleiner zu gestalten und die „geringe“ Praxis zur Erlangung einer
möglichst hohen Unterstützung zu verwerthen. Eingehende Nach¬
forschungen haben mich jedoch zu der Ueberzeugung gebracht,
dass solche Fälle nur in ganz verschwindend kleiner Zahl vorge¬
kommen sind. Ausser den angeführten Fehlerquellen, die für die
summarische Berechnung der durch Pfuscherinnen geleiteten Ge¬
burten in Betracht kommen, ist noch die zu erwähnen, dass die
hiesigen Hebammen alle Fälle, in denen sie zwar gerufen waren,
aber entweder schon unterwegs oder erst am Bett der Wöchnerin
erfuhren, dass das Kind bereits da sei, nicht in ihr Tagebuch ein¬
getragen haben. Um diese Fälle nicht fälschlich den Pfusche¬
rinnen zur Last zu legen, habe ich von sämmtlichen Hebammen
mir die erforderlichen Angaben eingezogen und demgemäss die
Listen berichtigt.
Nachdem ich mich in der angegebenen Weise bestrebt hatte,
die Fehler in den Listen zu korrigiren, habe ich mich an die
eigentliche Statistik gemacht und glaube Zahlen gewonnen zu
haben, die einen ungleich höheren Werth beanspruchen dürfen, als
die aus einfacher Subtraktion (cf. oben) resultirenden. Absolut
genau sind sie freilich auch nicht. Denn wie z. B. einerseits an
gewissen Prozenten der ohne Hebamme verlaufenen Geburten die
Pfuscherinnen unschuldig sind, weil es überstürzte Geburten waren,
so ist umgekehrt gewiss bei mancher durch eine Hebamme been¬
deten Entbindung eine Pfuscherin thätig gewesen, die sich zurück¬
zog, als sie Unregelmässigkeiten bemerkte.
Meine Statistik umfasst alle Geburten im Kreise aus den
Jahren 1890 und 1891 =2682 Fälle. Die erste Thatsache, die
ich feststellen konnte, war die, dass in unserer Kreisstadt der
Begriff einer Hebammenpfuscherin unbekannt ist: sämmtliche 190
städtische Geburten waren von Hebammen geleitet worden, wäh-
Anmeldungen beim Standesamt nicht führen. Und wenn es Vorkommen kann,
dass Geburten, bei denen eine offizielle Persönlichkeit thätig gewesen ist, nicht
zur Eintragung gelangen, dann kann man sich leicht vorstellen, dass die An¬
meldung noch viel häufiger unterbleiben wird, wenn nur eine Pfuscherin bei der
Geburt zugegen war. Den leichtgläubigen Eltern zu erklären, das Kind sei zu
früh und nur in Folge dessen todtgeboren, ist für die Pfuscherin ebenso
bequem als vortheilhaft. Die Eltern sind beruhigt, nach ihrer Ansicht von der
Anmeldepflicht frei, die Sache kommt zu keinerlei amtlicher Cognition and die
Pfuscherin kann nach wie vor erzählen, dass ihr von den „ausgetragenen“
Kindern, die sie gehoben habe, „kein einziges“ in der Geburt gestorben sei.
Hebammen und Pfuscherinnen.
549
rend von den 2492 ländlichen Geburten 1421 mit, 1071 = 42,9 °/o
ohne Hebammenbeistand verlaufen waren.
In Bezug auf die geographische Vertheilung der Hebammen¬
pfuscherei zeigte sich sofort, dass in zwei getrennt liegenden
Gegenden des Kreises in einer grösseren Zahl von Ortschaften nur
selten eine Hebamme thätig gewesen war. In diesen beiden Be¬
zirken, in welchen bekannte Pfuscherinnen ihre Wirksamkeit ent¬
falten, kamen von 271 Entbindungen nur 57 auf Hebammen, da¬
gegen 214 (=79 °/o) auf Pfuscherinnen.
Um in meinen weiteren Erörterungen verständlich zu sein,
bedarf es zunächst einiger Angaben über einzelne spezielle Ver¬
hältnisse des Kreises. Die ca. 31000 ausschliesslich ackerbau¬
treibenden ländlichen Einwohner des Kreises sind auf ca. 13,5
Quadratmeilen und 282 Ortschaften vertheilt. Unter diesen „Ort¬
schaften“ befinden sich 46 Güter mit mehr als 1000 Morgen und
37 dazu gehörige Vorwerke, 30 selbstständige Güter mit weniger
als 1000 Morgen und 113 Bauerndörfer. Unter letzteren darf man
sich jedoch keine Dörfer vorstellen, wie sie in westlichen Provinzen
bestehen. Geschlossene grössere Dörfer sind hier Ausnahmen;
meistens liegen die eine politische Gemeinde, ein Dorf, bildenden
Grundstücke mitten auf ihren Ländereien „ausgebaut“ weit aus¬
einander. Die Arbeit in allen landwirthschaftlichen Betrieben, auf
Gütern sowohl wie in Bauernwirthschaften, wird zum weitaus
grössten Theil durch fest engagirte Knechte und Gärtner (alias
Instleute) verrichtet, welche neben freier Wohnung und freiem
Brennwerk ein festes Baargehalt und die verschiedensten Natural¬
lieferungen erhalten. Meist nur zur Aushülfe während drängender
Arbeitszeit werden freie Arbeiter, Tagelöhner, zum Unterschiede
von Instleuten „Losleute“ genannt, herangezogen. Diese wohnen
in den Dörfern zur Miethe, stehen in keinerlei festem Lohnverhält-
niss und übernehmen Arbeiten, wie und wo sie sich ihnen bieten.
Im Allgemeinen sind die in festem Lohn und Brot stehenden Inst¬
leute wesentlich besser situirt, wie die Losleute. Der Rückhalt,
den sie an wohlwollenden Brotherren haben, die Fürsorge und
Hülfe, die ihnen durch Rath und That von diesen event. durch
Vorschüsse zu Theil wird, und die Sicherheit ihrer Stellung lässt
sie als weit bevorzugter erscheinen, wie die in jeder Hinsicht auf
sich allein angewiesenen Losleute. Zu berücksichtigen ist aber,
dass in einem Punkte die Instleute der Bauern wesentlich anders
situirt sind, als die Gutsinstleute. Auf allen grossen und auch
auf einzelnen kleineren Gütern erhalten die Instleute freie ärzt¬
liche Behandlung und fast durchweg auch freie Medizin, während
ein Bauer Arzt- und Medizinkosten für seine Leute nur höchst
ausnahmsweise trägt, solche vielmehr im besten Falle nur veraus¬
lagt und vom Lohn abzieht.
Hiernach ist im Allgemeinen der Gutsarbeiter als der best-
situirte, der Instmann beim Bauern als der minder versorgte und
der Losmann als der unvermögendste unserer ländlichen Arbeiter
anzusehen.
Wenn nun die Annahme, dass vorwiegend gerade die
550
Dr. Salomon.
ärmsten Frauen von Pfuscherinnen entbunden werden, richtig
ist, dann muss nach dem Gesagten die Statistik ergeben, dass auf
den Dörfern das Pfuscherthum mehr in die Erscheinung tritt, als
auf den Gütern. Und die Wahrscheinlichkeit dafür wird noch
durch einen anderen Faktor erhöht. Das ist die Fuhrwerksfrage.
Bei der meist nicht unerheblichen Entfernung bis zur Hebamme
und bei der Menge von Utensilien, die eine Hebamme heute mit
sich zu führen hat, ist die Gestellung eines Fuhrwerks für diese
in der Mehrzahl der Fälle erforderlich. Auf den Gütern hat die
Erlangung von Fuhrwerk für die Leute keine Schwierigkeit, bei
den Bauern, die sich das Fuhrwerk von ihren Arbeitern überdies
oft noch bezahlen lassen, liegt die Sache schon erheblich schwie¬
riger. Die meisten Bauernpferde sind mehr oder minder werthvolle
Zuchtstuten, die der Besitzer nicht leicht einem Knecht anvertraut
und die in tragendem Zustande resp. wenn sie noch junge Fohlen
haben, sehr geschont werden müssen, so dass zeitweise der Bauer
thatsächlich nicht in der Lage ist, Fuhrwerk zu geben. Am
schlimmsten sind die Losleute und ärmeren Handwerker daran:
denn sie müssen das oft sehr schwierig zu erlangende Fuhrwerk
ausnahmslos bezahlen oder die Kosten dafür „abarbeiten“.
Die Zusammenstellung der Geburten nach Gütern und Bauern¬
dörfern hat nun ergeben:
1. Güter mit mehr als 1000 Morgen:
749 Geburten, davon 373 mit, 376 (= 50,2 °/o) ohne Hebamme,
2. Güter mit weniger als 1000 Morgen:
150 Geburten, davon 80 mit, 70 (= 46,3 °/o) „ „
3. Bauerndörfer:
1593 Geburten, davon 968 mit, 625 (= 39,2 °/o) „ „
2492 T42T 107 f
Da aber wegen der später zu erwähnenden besonderen Ver¬
hältnisse in zwei Bezirken 271 Geburten in Bauerndörfern bei
Nr. 3 abgezogen werden müssen, gestaltet sich das Verhältniss
für die letzteren noch günstiger, nämlich von
1322 Geburten in Bauerndörfern, davon 911 mit, 411 (=32,4 °/o)
ohne Hebamme.
Die Statistik hat also das direkte Gegentheil von dem er¬
wiesen, was man nach allgemeinen Gesichtspunkten anzunehmen
berechtigt war.
Um nun weiter nachzuforschen, welche Stände sich haupt¬
sächlich der Pfuscherinnen bedienen, habe ich sämmtliche Geburten
in Bauerndörfern nach folgenden Rubriken gruppirt:
L Besitzer, Geistliche, wohlhabende Kaufleute mit eigenem
Fuhrwerk und sonstige gut situirte Berufsarten.
II. Eigenkäthner, Lehrer, bessere Handwerker, Gendarmen,
Briefträger etc.
III. Instleute.
IV. Tagelöhner (Losleute), arme Handwerker und ähnl.
V. Unverehelichte.
Es hat sich ergeben, dass
Hebammen and Pf ascherinnen.
551
von 433 Geburten zu I 292 mit, 141 (=32,5 %) ohne Hebammen¬
396
n
. II 246 ,
160 (=38,1 .) .
beistand
329
n
, III 191 ,
138 (=41,9.) „
7t
305
T)
. IV 173 „
132 (=43,2 .) ,
130
y>
. V 66 „
64 (=49,2 .) ,
verlaufen sind.
Zwar zeigt sich bei dieser Zusammenstellung die prozentuale
Zunahme der Pfuscherinnenthätigkeit im umgekehrten Verhältniss
zur Wohlhabenheit, aber der Unterschied in den verschiedenen
Wohlhabenheitsklassen ist doch ein ganz auffallend geringer und
die absoluten Zahlen sind in hohem Grade überraschend. Die
Klassen I und II können nur in ganz ausnahmsweisen Fällen
wegen Armuth die Pfuscherinnen den Hebammen vorziehen und
doch sind 291 Geburten dieser Leute ohne t^Hebammenbeistand
verlaufen = 46,6 % der Gesammtsumme der Pfuscherinnengeburten,
während die drei ärmsten Rubriken zusammen in 334 Fällen
Pfuscherinnen zugezogen haben = 53,4 % der Gesammtsumme.
Von 100 durch Pfuscherinnen geleitete Geburten kommen:
je 22,6 auf Klasse I,
71 24,0 y, „ n,
„ 22,1 „ „ m,
, 21,1 „ „ IV,
* 10,2 „ „ V.
Da diese Berechnung sich auf sämmtliche Geburten in Bauern¬
dörfern mit Einschluss der erwähnten beiden Bezirke, in welchen
bekannte Pfuscherinnen gewerbsmässig ihr Wesen treiben, bezieht,
so war es wichtig, noch eine besondere Aufrechnung der qu. Be¬
zirke einerseits und der übrigen Bauerndörfer andererseits zu
machen.
Dass in den beiden Bezirken ganz abnorme Verhältnisse
bestehen, erhellt aus folgenden Angaben: Einer im Jahre 1879
wegen fahrlässiger Tödtung mit 6 Monaten Gefängniss bestraften
Hebamme wurde das Prüfungszeugniss entzogen. Sie erschien in
Folge ihrer Bestrafung dem Publikum als Märtyrerin und wurde
mehr wie früher zu Geburten zugezogen. Sie verstand es auf die
raffinirteste Weise, sich immer mehr Praxis zu verschaffen und die
benachbarten Hebammen durch alle möglichen Chikanen und Ver¬
dächtigungen aus dem Felde zu schlagen, so dass der Bezirk ihrer
Thätigkeit sich stetig vergrösserte. Als ich im Mai 1888 die Ver¬
waltung des Physikats übernahm, ging ich gegen sie vor, jedoch
sind die Bestraftingen durch das Schöffengericht am 9. Okt. 1888
mit 50, am 2. April 1889 mit 60, am 26. Mai 1891 mit 100 Mk.
ohne Effekt geblieben. Ja, es hat sogar den Anschein, als wenn
sie mit jeder neuen Bestrafung an Popularität gewinnt. Denn als
ich im Mai vorigen Jahres in dortiger Gegend die Anstellung einer
Hebamme gegen eine jährliche Unterstützung von 100 Mark er¬
wirkte, war es nicht möglich, sie im Wohnorte der Pfuscherin
zu stationiren, weil ihr Niemand eine Wohnung vermiethete. Trotz
fulminanter Kreisblattverfügung, Instruktion der Amts- und Ge¬
meindevorsteher, der Gendarmen etc. hat die Pfuscherin nach wie
552
Dr. Salomon.
vor Geburten geleitet, und die in diesem Jahre am 7. März erfolgte
neuerliche Bestrafung mit 200 Mark wird vielleicht auch erfolglos
sein. — In einer anderen Gegend hat eine frühere Hebamme sich
ihre Praxis dadurch angenehmer gestaltet, dass sie ihr Zeugniss
abgeliefert und ihren Beruf offiziell niedergelegt hat. Sie hat sich
dadurch in die günstige Lage versetzt, Praxis mit Auswahl treiben
zu können, indem sie die Frauen, bei denen nichts zu holen ist,
abweist. Sie ist den lästigen Bestimmungen der Min.-Verf. vom
22. November 1888 und des neuen Lehrbuches entgangen und hat
sich der Kontrole des Physikus auf die einfachste Weise entzogen.
Ich habe mich auf alle mögliche Weise bemüht, ihr beizukommen,
doch vergeblich. Gemeinde-, Amtsvorsteher, Lehrer halten die
Thätigkeit der Frau für segensreich und nehmen sie in Schutz,
und die Leute ihrer Praxis bezeugen stets, dass ein Nothfall Vor¬
gelegen hat und keine „Bezahlung“ erfolgt ist.
In diesen beiden Bezirken nun sind, wie oben erwähnt, von
271 Geburten nur 57 von Hebammen geleitet worden, die anderen
214 vertheilen sich auf die einzelnen Stände, wie folgt:
I. Besitzer etc. 63
II. Eigenkäthner etc. 75
III. Instleute 18
IV. Losleute 43
V. Unverehelichte 15
214
Nach Ausscheidung dieser beiden Bezirke ergiebt die Berech¬
nung für die Bauerndörfer folgende Zahlen:
I.
272 Geburten mit Hebamme, 78 ohne (=22,3°/<>)
n.
232
fl
fl
. 75
» (=24,7 , )
in.
188
y*
fl
„ 120
. (=39,2 ,)
IV.
156
fl
fl
* 89
. (=36,3,)
V.
63
fl
fl
* 49
» (=41,9 „ )
Das heisst, die absoluten Zahlen ergeben, dass von 100 durch
Pfuscherinnen geleitete Entbindungen kommen:
I. auf Besitzer etc. 19
II. „ Eigenkäthner etc. 18,1
III. „ Instleute 29,1
IV. „ Losleute 21,9
V. „ Unverehelichte 11,9
~100
In diesen Zahlen kann eine Stütze für die Annahme, dass
in unserem Kreise die Armuth der ländlichen Bevölkerung die
Hauptursache der ausgebreiteten Hebammenpfuscherei sei, nicht
gefunden werden. Es war deshalb interessant, mit Hülfe meiner
Zusammenstellungen nach anderen Ursachen zu suchen.
Sollte vielleicht die Fuhrwerksfrage eine erhebliche Rolle
spielen? Erklärlich wäre es, dass zu gewissen Jahreszeiten, etwa
während der Saatzeit, der Ernte oder im Frühjahr und Herbst
zur Zeit der schlechtesten Wege die Erlangung von Fuhrwerk
für die Leute ganz besondere Schwierigkeiten haben und eine
Rückwirkung auf die Abnahme der Hebammen- und Zunahme der
Hebammen and Pfnscberinnen.
553
Pfuscherinnenthätigkeit haben könnte. Wenn das der Fall ist,
dann muss die Zusammenstellung der Geburten nach Monaten dieses
nachzu weisen im Stande sein. Der Uebersicht wegen habe ich
die in dieser Richtung gewonnenen Resultate in Kurven graphisch
zum Ausdruck gebracht.
Die oberste Kurve I giebt die Gesammtziffer aller Geburten im
Kreise während der beiden Jahre 1890 und 1891, Kurve II die
Gesammtziffer aller während derselben Zeit ohne Hebammenbei¬
stand verlaufenen Geburten und Kurve III die Zahl der Pfusche¬
rinnengeburten mit Ausschluss der besprochenen abnormen beiden
Bezirke.
Alle 3 Kurven haben im Wesentlichen dieselben Hebungen
und Senkungen, nur im Januar folgen die Kurven 2 und 3 nicht
dem steilen Anstieg der Kurve 1, es wäre also dieser Monat in
den beiden Jahren der für die Hebammen günstigste gewesen.
554
Dr. Salomon.
Weitergehende Schlussfolgerungen hieraus zu ziehen, halte ich für
bedenklich, da in den übrigen Monaten die Uebereinstimmung der
Kurven eine zu konstante ist.
Ich legte mir ferner die Frage vor, ob es nicht vielleicht
hauptsächlich die Nachtgeburten sein könnten, bei denen Pfusche¬
rinnen thätig sind. Denkbar wäre es, dass, abgesehen von der
ohnehin vermehrten Schwierigkeit, in der Nacht Fuhrwerk zu
erlangen, finstere Nächte, zumal bei schlechten Wegen, die Heran¬
ziehung der Hebammen in besonderem Grade erschweren könnten.—
Die Sonderung der Geburten in Tag- und Nachtgeburten ist natür¬
lich eine willkürliche und hat nur bedingten Werth. Denn zu
vielen Geburten, die in der Nacht beendet sind, waren die Helfe¬
rinnen bereits am Tage geholt worden und umgekehrt. Ich habe
alle Geburten, die in der Zeit von 8 Uhr Morgens bis 10 Uhr
Abends beendet waren, als Taggeburten, die anderen als Nacht¬
geburten rubrizirt.
Nach dieser Eintheilung sind von den 2492 ländlichen Ge¬
burten 1462 (= 58,6 %) als Taggeburten und 1030 (=41,4 °/o)
als Nachtgeburten anzusehen.
Hebammen und Pfuscherinnen.
555
Das Verhältniss von Tag- zu Nachtgeburten stellt sich bei
Hebammen und Pfuscherinnen fast vollkommen gleich. Denn es
verliefen
von Hebammengeburten (in Summa 1421)
838 = 58,9 % bei Tage,
583 = 41,1 °/o bei Nacht;
von Pfuscherinnengeburten (in Summa 1071)
624 = 58,3 °/° bei Tage,
447 = 41,7 °/o bei Nacht.
Schliesslich habe ich mir noch eine Zusammenstellung der
Geburten aus den Ortschaften gemacht, welche Sitz einer Heb¬
amme sind. Ich erwartete, dass in diesen — ebenso wie in der
Stadt — von Ptuscherthum keine Rede sein würde. Doch auch
hier zeigte sich, dass bei 25,7 °/o der stattgehabten Geburten
eine Hebamme nicht zugegen gewesen war, denn von 241 Ge¬
burten waren nur 179 von solchen geleitet worden, 62 von
Pfuscherinnen.
Wenn ich nun alle meine Zahlen und Tabellen, die ich durch
meine Arbeit gewonnen habe, überblicke, so scheint mir vor Allem in
ihnen der objektive und einwurfsfreie Beweis zu liegen, dass im
hiesigen Kreise die Mittellosigkeit der Gebärenden nur zum Theil das
Pfuscherthum erzeugen und unterhalten kann. Ich vermeide ab¬
sichtlich, um nicht spitzfindige Statistik zu treiben, eine besonders
pointirte Gegenüberstellung und Gruppirung der Zahlen und hebe
nur ganz ausdrücklich die nackte Thatsache hervor, dass 291
Bauern, Eigenkäthner etc. Hebammen verschmäht haben, dass 376
Mal Pfuscherinnen auf unseren grössten und reichsten Gütern und
70 Mal auf den kleineren Gütern thätig gewesen sind. Diese
Zahlen sprechen eine zu laute Sprache, als dass sie überhört
werden könnte.
Woher kommt es, dass gerade die grossen alten Güter ein
so günstiges Feld für die Pfuscherinnenthätigkeit liefern? Meiner
Ansicht nach datier, dass viele alte Frauen daselbst bei den Leuten
ein viel grösseres Vertrauen geniessen, als die Hebammen und weil
die Hülfeleistung jener Frauen bei Entbindungen seitens der Guts¬
herren, Administratoren, Inspektoren etc. eine mehr oder minder
stillschweigende oder offenkundige Begünstigung erfährt. Die
erstere Thatsache darf nicht auffallen. Jedes Gut hat mehrere
zum Theil hochbetagte würdige Altsitzerinnen, die über genügend
freie Zeit verfügen, um anderen Menschen in allen Lebenslagen
mit Rath und That beizustehen und namentlich ersteren, gleichviel
ob aufgefordert oder unaufgefordert, reichlich zu spenden. Ueber
einen reichen Schatz wunderlichster Erfahrungen gebietend, sind
sie um „gute“ Rathschläge nie verlegen und werden von den
jüngeren Generationen ihrer immensen Klugheit wegen angestaunt,
zumal vermeintliche ausgezeichnete Erfolge der guten Rathschläge
oft genug eingetreten — oder wenigstens erzählt sind. So kommt
es, dass die jüngeren Frauen, die vielleicht schon als Kinder zu
der alten „Tante“ ehrfurchtsvoll aufgeblickt haben, ein unbe¬
grenztes Vertrauen zu ihr haben und sich in der schweren Stunde
666
Dr. Salomon.
sicherer in ihrer Hand, als in der einer unbekannten Hebamme
wähnen. Sehr viele Pfuscherinnen lügen bei Vernehmungen sicher
nicht, wenn sie angeben, dass sie auf’s Dringendste um ihre Hülfe-
leistung gebeten worden sind. Anfangs sind sie im Gefühl ihrer
Unkenntni88 und Unsicherheit den Bitten wohl nur mit Wider¬
streben gefolgt, dann hat die Eitelkeit nachgeholfen und schliess¬
lich hat sich in ihnen der Glaube an ihre Kunst und an ihre Uent-
behrlichkeit so festgesetzt, dass sie sich aufrichtig für erhabene
Wohlthäterinnen ihrer Mitmenschen halten. Und fragt man die
Wöchnerinnen, wie sie sich bei solchen Wohlthaten stehen, so
schwören sie hoch und theuer, dass die Tante ihnen Alles viel
besser macht, als die rauhe Hebamme, „die sie einmal gehabt haben,
aber nie wieder.“ Welche unnützen Umständlichkeiten macht doch
eine solche Hebamme! Da soll ganz reine Wäsche vorgesucht
werden, während die schmutzige doch gut genug ist, um durch
Blut, Fruchtwasser, Urin etc, noch schmutziger gemacht zu werden;
die Tante legt praktischerweise ein altes Schaffell unter das
Laken, die Hebamme will goldreine frische Wäsche zur Unter¬
lage; die „feine“, mit weisser Schürze sich „aufspielende“ Heb¬
amme muss so und so viele Schüsseln mit Wasser haben, um sich
alle Augenblicke zu waschen und „verstänkert“ noch dazu die
ganze Stube mit „Kambol“, während die anspruchslose gute Tante
sich die Finger einfach an der Schürze abwischt oder allenfalls
über dem Patscheimer sich etwas Wasser über die Finger giessen
lässt. Und dazu dieses ewige Untersuchen der Hebamme, durch
das man nur zu Schanden gemacht wird! Wenn die Nachgeburt
da ist, dann kommt die Hebamme und wäscht die frierende Frau
womöglich mit dem kalten Karbolwasser: Die Tante nimmt ein
altes Handtuch hinter dem Ofen vor, wischt unter dem Deckbett,
ohne zu entblössen, alles hübsch trocken und lässt die Wöchnerin
schlafen. Und wozu all’ die Quälerei? Nur damit die Hebamme
bezahlt und der Gutsherr zweimal um Fuhrwerk gebeten werden
muss! Solche Schilderungen muss man in allen Variationen wieder¬
holt gehört haben, um zu verstehen, dass die Pfuscherinnen vielen
gebärenden Frauen weit sympathischer sind, als die Hebammen.
Die Konnivenz der Gutsverwaltungen gegenüber den
Pfuscherinnen erklärt sich in erster Linie daraus, dass diese keine
Fuhrwerke gebrauchen. Wenn es auch zweifellos in unserem
Kreise keine Gutsverwaltung giebt, die einer kreissenden Frau das
Fuhrwerk verweigern würde, so ist es doch sattsam bekannt,
dass die Hergabe von Fuhrwerk nicht gerade gern geschieht und
durchweg mehr als Gefälligkeit, wie als Verpflichtung angesehen
wird. Die vielen Kinder mit ihren häufigen Infektions- und ande¬
ren Krankheiten sind ohnehin schon auf den Gütern eine Last,
und es ist gar nicht auffallend, dass die Frauen, die alle ein bis
zwei Jahre schwanger werden und deshalb weniger zur Arbeit
zugezogen werden können, bei allen Gutsinstanzen (Vorarbeiter,
Kämmerer, Inspektor, Gutsherr) nicht gerade am besten ange¬
schrieben sind, so dass die Bitte um Fuhrwerk manche hämische
Bemerkung der verschiedenen Vorgesetzten im Gefolge hat. Und
Hebammen und Pfoecherinnen.
657
es liegt positiv in manchen Fällen für den betreffenden Gatten
das Hauptmotiv dafür, zu seiner Frau eine Pfuscherin zu rufen,
nur in dem Wunsch, der lästigen Bitten um Fuhrwerk überhoben
zu sein. Dass den Gutsunterbeamten, welche durch Beschaffung
von Fuhrwerk nur in ihren Dispositionen gestört werden (— zu dem
Fuhrwerk gehört auch ein Mensch, eine Arbeitskraft —), die Zu¬
ziehung einer Pfuscherin lieber ist, liegt auf der Hand. Und der
Herr? Nun, er erfährt von der ganzen Sache entweder nichts
oder erst, wenn Alles vorüber ist. Und wenn der Verlauf ein
glücklicher war, hat er keinen Grund, unzufrieden zu sein.
Man sollte meinen, es könnte nicht schwer sein, die gebildeten
Gutsherren von dem verderblichen Einfluss der Pfuscherinnen zu
überzeugen, unter Hinweis auf den heute feststehenden Erfahrungs¬
satz „je weniger Hebammen, desto mehr Pfuscherinnen und desto
mehi* Todtgeborene“. Wir sind aber bei solchen Einwirkungen in
der Hauptsache meist auf unsere Ueberzeugung angewiesen und
können noch wenige strikte und zahlenmässige Beweise bei-
bringen. Der betreffende Gutsherr, den wir für die Hebamme
erwärmen wollen, hat vielleicht zufällig ungünstige Erfahrungen
gemacht, indem trotz Hebammenhülfe einige Todtgeborene und bei
Ptusclierinnenbeistand nur Lebendgeborene auf seinem oder einem
Nachbargut zu verzeichnen waren. Und da er ausserdem die
Gewissheit hat, dass die bei ihm als gefährliche Pfuscherin dis-
kreditirte Person eine herzensgute Frau ist, die absolut nicht aus
Gewinnsucht, sondern aus reinster Gefälligkeit und Nächstenliebe
ihre Hülfe gewährt, so ist er nicht ganz leicht zu überzeugen,
zumal dann nicht, wenn die nächste Hebamme eine weise Frau
von zweifelhafter Qualität ist.
Dem Blühen des Pfuscherthums auf den Dörfern müssen zum
Theil noch andere Ursachen zu Grunde liegen, wie auf den Gütern.
Fassen wir zunächst einmal die 291 Pfuscherinnengeburten bei
Bauern etc. in’s Auge. Weshalb können sich solche Frauen mehr
zu Pfuscherinnen hingezogen fühlen, als zu den Hebammen? Die
Gründe können sehr verschiedenartige sein. Oft genug werden
bei der Wahl zwischen Pfuscherin und Hebamme rein persönliche
Beziehungen entscheiden, Sympathien oder Antipathien, die mehr
oder weniger in Zufälligkeiten begründet sind, häufiger aber wird
der Pfuscherin deshalb der Vorzug gegeben, weil von ihr die
Meinung besteht, dass sie sich mehr „Mühe“ giebt, als die Hebamme.
Mag die „Mühe“ nun nach rein äusserlichem Gebahren und Gethue
oder nach der Zeit, die der Kreissenden oder Wöchnerin gewidmet
wird, abtaxirt werden, — in beiden Beziehungen sind einzelne
Pfuscherinnen gewiss manchen Hebammen überlegen. Sie suchen
sich den Eigenheiten der Kreissenden, die sie vielleicht von per¬
sönlichem Umgang her sehr genau kennen, mehr anzupassen,
widersprechen vielleicht und verlangen nicht so viel, wie die Heb¬
amme und bleiben Tage lang bei der Wöchnerin, während die
gewissenhafte Hebamme hie und da den oft falschen Wünschen
der Gebärenden weniger nachgeben darf, sich nach Beendigung
der Geburt bald fortbegiebt und wegen zu grosser Entfernung nicht
558
Dr. Salomon.
weiter nach ihr sieht. Neben manchen persönlichen Vorzügen
aber, die einige Dorf-Pfuscherinnen immerhin haben mögen, kommt
bei den gewerbsmässig thätigen ein grosses Raffinement in Be¬
tracht, mit dem sie gegen die Konkurrenz der Hebammen an¬
kämpfen. Welche Verdächtigungen und Verleumdungen bringen
sie gegen diese in Umlauf und wie willige Ohren finden sie bei
den alten Weibern, die bei jeder Kreissenden in so grosser Zahl
herumlungern und die ein wahrer Fluch für die armen Hebammen
sind! Die ältere, sicher auftretende Hebamme hat wohl die nöthige
Autorität, sie aus dem Gebärzimmer zu entfernen, aber die weniger
erfahrene jüngere weiss sich ihrer nicht zu erwehren und empfindet
die misstrauischen Blicke und kritisirenden Meinungsäusserungen
als quälendes Alpdrücken. Was Wunder, wenn sie sich unter
solchen Umständen hie und da Blossen giebt und vor den weib¬
lichen Dorfweisen keine Gnade findet. Und diese gerade machen
in unzähligen Fällen das Renommö einer Hebamme, weniger die
Gebärenden. Die gewissenhafte Hebamme, die sorgsam in allen
Fällen, die sie nicht sicher zu beurtheilen weiss, den Arzt
zuzieht, ist in ihren Augen die schlechteste, denn „die versteht
nichts“. Deshalb hat so mancher Arzt schon armen Hebammen
durch seine Vorwürfe, dass er unnütz geholt sei etc., sehr viel
geschadet und ohne es zu ahnen, dem Pfuscherthum Vorschub ge¬
leistet! Möchte doch jeder Kollege sich zum Grundsatz machen,
allen Tadel den Hebammen niemals anders als unter vier Augen
auszusprechen und sie ausnahmslos wegen seiner Hinzuziehung vor
den Anwesenden möglichst zu beloben, auch wenn Alles in der besten
Ordnung und seine Hülfe nicht erforderlich ist. 1 )
*) In früheren Jahren erhielten hier die Aerzte, wenn sie zu einer Ent¬
bindung gerufen wurden, nur sehr ausnahmsweise von der Hebamme eine schrift¬
liche Benachrichtigung. Und wenn eine solche kam, so enthielt sie gewöhnlich
nur die Worte „Bitte ärztlichen Beistand zur Entbindung, es geht sehr schwer,
es geht nicht vorwärts“ oder ähnliches. Ich selbst bin zuweilen in die Welt hin¬
eingefahren, ohne überhaupt zu wissen, dass es zu einer Entbindung ging. Die
Folge davon war die, dass man unter fünf Mal mindestens zwei Mal umkehren
musste, weil unterwegs, zuweilen ganz dicht vor dem Ziel, der stereotype reitende
Bote mit der Nachricht kam, dass das Kind bereits da sei. Der Aerger war
natürlich gross, oft um so grösser, als für solche Fahrten ein Honorar nur in
den wenigsten Fällen zu bekommen war. Diese Uebelstände habe ich dadurch
sehr wirksam beseitigt, dass ich mir Zettel, wie nachstehend, drucken Hess und
sie mit der Erklärung an die Hebammen vertheilte, dass die Aerzte des Kreises
sich verabredet hätten, nur dann einer Bitte um Beistand zu folgen, wenn sie
in Form eines gewissenhaft ausgefüllten Zettels ergehe. Das hat ausgezeichnet
gewirkt. Die Hebammen liefern sachgemässe Berichte, die sie zum Nachdenken
zwingen und damit ein planloses Herbeiziehen des Arztes verhindern, die Aerzte
brauchen in vielen Fällen, z. B. bei alten Primiparen, sich nicht zu übereilen, und
der reitende Bote ist ausser Mode gekommen.
Entbindung in .
.Frau.Jahre alt.
Wievielte Entbindung der Frau?.
Beginn der Wehen um . . Uhr am . . ton..
Abfluss des Fruchtwassers um . . Uhr.
Kindcslage?.
Hebammen und Pfuscherinnen.
559
Bei Beurtheilung der Ursachen für die Zurücksetzung der
Hebammen speziell bei der bäuerlichen Bevölkerung sind nun noch
einige andere Momente in Betracht zu ziehen, die in der Eigenart
unseres litthauischen Bauers liegen. Es ist nämlich eine von
altersher tief eingewurzelte Eigentümlichkeit desselben, wo nur
immer möglich nicht mit Geld, sondern mit Naturalien zu zahlen
und bei Allem, was er sich beschaffen muss, nicht auf Qualität,
sondern auf Billigkeit zu sehen. Dieser Gewohnheit passt sich die
Pfuscherin bestens an, denn sie verlangt gar kein Geld, nimmt
nach und nach Naturalien im dreifachen Werthe des einer Heb¬
amme zustehenden Honorars und gönnt dem Bauern gern das be¬
glückende Gefühl, eine recht billige Hülfe gehabt zu haben. Es
kommt nun öfter vor, dass auch einer Hebamme diverse Naturalien
angeboten werden, die sie gern annimmt und für einen sichtbaren
Ausdruck der Dankbarkeit ansieht, ohne daran zu denken, dass sie
damit bezahlt werden soll. Wenn sie nachher aber ganz unbe¬
fangen und rein geschäftlich ihr Honorar verlangt, dann giebt’s
einen Krach und der Bauer verschreit sie in der ganzen Umgegend
als eine höchst unverschämte Person. Unsere Bauern sind über¬
haupt in mancher Beziehung Sonderlinge und stellen ein grosses
Kontingent zu derjenigen Klasse von Menschen, die in allen Lebens¬
lagen ein durch Sachkenntnis getrübtes Urtheil perhorresziren.
Aus grenzenlosem Misstrauen und der Furcht, betrogen zu werden,
bevorzugen nicht wenige von ihnen in allen Branchen prinzipiell
die Dii minorum gentium, gehen viel lieber zum Winkelkonsulenten,
als zum Rechtsanwalt, halten den faulsten Kurpfuscher für viel
klüger als den Arzt, benutzen auf allen Bureaus möglichst die
Hintertreppen, kaufen viel lieber vom Hausirer, als aus einem
reellen Geschäft, wenden sich bei Geldnoth weit eher an den
schlimmsten Wucherer, als an einen anständigen Menschen etc. etc.
In Folge dessen ist die Wahl einer Hebammenpfuscherin statt
einer Hebamme bei so manchen Bauern nichts anderes als reine
Prinzipientreue. —
Aus meinen Zahlen und Betrachtungen dürfte zur Genüge
hervorgehen, dass die wahren Ursachen der Hebammenpfuscherei
auf dem Lande zum Theil weit verstecktere und komplizirtere
sind, als vielfach angenommen wird und dass neben der Mittellosig¬
keit der Leute der Unverstand derselben mindestens ebenso schwer
in die Wagschale fällt. Ich bin überzeugt, dass die Ursachen je
nach lokalen Verhältnissen ausserordentlich variiren und vielleicht
nicht in zwei Kreisen — geschweige denn in weiten Gebieten
einer ganzen Provinz — die gleichen sind.
Es müssen daher meiner Ansicht nach die von unserer ost-
preussischen Aerztekammer angeregten Abhülfemassregeln bei ein-
Wehenthätigkeit?.
Besonders za erwähnende Umstände (Blatangen, Ohnmächten etc.)
Aerztliche Hülfe ist verlangt um . . Uhr.
Hebamme.
660
t>r. Salomon.
heitlicher Durchführung in verschiedenen Gegenden der Provinz
auch sehr verschiedene Erfolge zeitigen. Die Aerztekammer bat
sich in ihren Sitzungen vom 9. Mai 1891 und 1. Juli er. für
1. eine schärfere Verfolgung des Pfuscherunwesens,
2. die Heranziehung besser qualifizirter Schülerinnen und
3. die einheitliche Einführung einer erhöhten Hebammen-Taxe
ausgesprochen.
Gegen den ersten Vorschlag dürfte nichts zu erinnern sein,
nur soll man die Wirksamkeit der Verfolgung nicht zu hoch ver¬
anschlagen. Ich selbst bin ein eifriger Verfolger der Pfuscherinnen
und stelle Strafanträge, wo ich nur kann. Da aber die Strafbarkeit
der Pfuscherei in drei Monaten bereits verjährt, ist es ausser¬
ordentlich schwer, gegen die einzelne Person genügendes Material
zusammen zu bringen, das die Gewerbsmässigkeit erweist. Und
in den vereinzelten Fällen, die zur Verhandlung kommen, wissen
die der Pfuscherin in Dankbarkeit ergebenen Zeugen fast aus¬
nahmslos den Nothfall zu konstruiren. Ich rege immer und immer
wieder meine Hebammen — denn von anderer Seite bekommt man
überhaupt keine Meldung — zu Anzeigen an, sehe aber nur zu
deutlich, dass sie neuerdings sehr zurückhaltend geworden sind,
weil den bisherigen Anzeigen nur relativ selten Bestrafung gefolgt
ist, 1 ) und weil sie von den freigesprochenen Pfuscherinnen nur
Hohn und Spott geerntet haben. Es liegt überhaupt eine Zwei-
schneidigkeit in der Verfolgung. Ich habe oben gezeigt, dass eine
Pfuscherin hier nach und nach 410 Mark Strafe gezahlt und dennoch
eine grossartige Praxis hat. Die Bestrafung macht also auf
das Publikum keinen abschreckenden Eindruck und die Frei¬
sprechung einer Pfuscherin dient geradezu als Reklame für sie.
In den Verhandlungen der ostpreussischen Aerztekammer ist
auf die Hülfe der Standesbeamten grosses Gewicht gelegt worden.
Sie sollen bei jeder Geburt die hülfeleistendeu Personen eintragen
und feststellen. 8 ) Die Feststellungen und Eintragungen können
natürlich nur dann einen aktuellen Werth haben, wenn sie auch
möglichst bald zur Kenntniss der exekutiven Behörden gelangen.
Es würde also unseren ehrenamtlich thätigen Standesbeamten, die
ohnehin schon über zu viele Arbeit klagen, eine sehr bedeutende
Mehrarbeit erwachsen. Wäre es nicht praktisch, zunächst den
Anfang damit zu machen, dass der Standesbeamte verpflichtet
wird, jeden Todesfall einer Wöchnerin (welche Frauen Wöchne¬
rinnen sind, weiss er ja aus den Geburtsregistern) sofort dem
Kreisphysikus anzuzeigen ? Offiziell bekannt werden bis jetzt doch
nur die Todesfälle aus der Praxis der Hebammen!
Es dürfte hier der geeignete Ort sein, einige Bemerkungen
auch über die Disziplinirung der Hebammen einzuschalten. Welche
Macht hat der Physikus gegenüber den schlechten und nachlässigen
Hebammen? Er kann tadeln, Verweise ertheilen, zur Vernehmung
*) Einmal konnte einer Gntspfuscherin fahrlässige Tod taug nachgewiesen
werden. Sie bekam 6 Monate Gefängniss.
*) Durch einfache Nachfragen? Dann würde furchtbar gelogen werden.
Oder durch Vernehmungen???
Hebammen und Pfuscherinnen.
561
vorladen, von Entziehung oder Verringerung der jährlichen Re¬
muneration sprechen, weiter nichts. Doch ja — er kann mit der
Beantragung „der härtesten Strafen“ drohen. Aber mit der
Festsetzung und Vollstreckung solcher hat es gute Wege. Das
wissen die Hebammen ganz genau, ebenso wie es ihnen nicht un¬
bekannt ist, dass bei der Vertheilung der Remunerationen (alias
Unterstützungen) der Physikus nur berathende Stimme hat. 1 ) Frei¬
lich kann einer Hebamme die Konzession entzogen werden. Mit
welcher Wirkung ? das illustrirt die Hauptpfuscherin meines Kreises.
Kurz und gut, mit den Disziplinarmitteln ist es traurig bestellt,
man ist in der Hauptsache auf seinen rein persönlichen Einfluss
beschränkt, leider zum Schaden der Sache. Der Physikus müsste
weit mehr einerseits der stützende wohlwollende Berather seiner
Hebammen mit selbstständiger Disposition über einen Theil des
Unterstützungsfonds, auf der anderen Seite aber auch der mit
positiver Strafgewalt befugte Vorgesetzte sein und nicht nur so
heissen.
Der zweite Vorschlag der Aerztekammer bezieht sich auf
die Heranziehung besser qualifizirter Schülerinnen. Auch darüber
herrscht wohl allgemeine Einstimmigkeit, dass unser Hebammen¬
wesen in erster Linie nur durch Aufbesserung des Hebammen-
ersatzes gehoben werden kann. Die Königliche Regierung sieht
als ein Hauptmittel zur Erreichung dieses Zweckes die Einrichtung
des Bezirkshebammenwesens an. Dass aber ein Bezirkshebammen¬
gehalt von ca. 30 Mark und die Anwartschaft auf eine minimale
Pension sollte im Stande sein können, bessere Stände, als bisher,
dem Hebammenberufe zuzuführen, das glaube ich nicht. Ebenso
glaube ich nicht, dass unsere freien Hebammen, wenn sie plötzlich
zu Bezirkshebammen mit 80 Mark Gehalt avanciren, fortan mehr
arme Frauen als bisher unentgeltlich entbinden werden. Ich halte
vielmehr hier das Bezirkshebammenwesen in der Hauptsache nur
für ein werthvolles Mittel, um dem Hebammenmangel entgegen zu
wirken.
Die Aerztekammer meint in ihrem dritten Vorschläge, der
einheitlichen Einführung einer erhöhten Hebammentaxe, das ge¬
eignetste Mittel zur Aufbesserung der materiellen Lage des Heb¬
ammenstandes gefunden zu haben. Für meinen Kreis muss ich die
Wirksamkeit dieses Mittels entschieden in Abrede stellen und
glaube in der vorstehenden Abhandlung genügendes Material zum
Beweise dafür niedergelegt zu haben, dass unsere Hebammen,
wenn sie nach einer höheren Taxe liquidiren wollten, sich nur
noch unpopulärer machen würden, als sie jetzt schon sind. Dass
sie übrigens bei wohlhabenden Leuten ein zu geringes Entgelt
erhalten, wie es in den Verhandlungen der Aerztekammer betont
*) Das dürfte doch in den meisten Kreisen anders sein; im hiesigen Re¬
gierungsbezirke wenigstens, sowie in meinem früheren amtlichen Wirkungskreise
sind die Hebammen stets von der zuständigen Behörde in Strafe genommen, so¬
bald dies vom Physikus beantragt und gehörig begründet war. Auch die Ver¬
theilung und Höhe der Remunerationen wird lediglich von dem Urtheile des
Physikus abhängig gemacht. Rpd.
562
Dr. S&lomon: Hebammen and Pfuscherinnefl.
wurde, ist hier sicherlich nur auf Ausnahmen beschränkt. Ich
habe im Gegentheil gefunden, dass in wohlhabenden Häusern die
Hebammen durch zu hohe Bezahlung verdorben und verwöhnt
werden. Es ist hier z. B. in den besseren Kreisen in der Stadt
und auf dem Lande Sitte, den Hebammen nach beendeter Erst¬
lingsgeburt (vielfach auch bei den folgenden) 20 Mark zu geben
und die Wochenbesuche besonders zu honoriren, während den
Aerzten für Wendungen und Zangengeburten weit geringere
Honorare gezahlt werden! Solche unverdient hohe Bezahlung
führt bei dem geringen Bildungsgrad unserer Hebammen leider
nicht so sehr selten zu jener bekannten, stellenweise geradezu
widerlichen Ueberschätzung des Werthes ihrer Leistungen. Und
es ist nicht zum kleinsten Theile gerade die Ungleichmässig-
keit in der Bezahlung, der Gegensatz der Honorare der Reichen
und der weniger Bemittelten, als der Grund ihrer allgemeinen
Unzufriedenheit und ihres unrichtigen Benehmens und Verhaltens
gegenüber der ländlichen Arbeiterbevölkerung anzusehen. Ueber-
dies sind die so allgemeinen Klagen der Hebammen mit einer
gewissen Vorsicht aufzunehmen. In ihren jährlich wiederkehrenden
Unterstützungsgesuchen klagen alle ohne Ausnahme über zu ge¬
ringe Praxis; die verheiratheten klagen, dass sie Männer haben,
die entweder krank sind oder saufen, die unverheiratheten klagen,
dass sie keinen Mann haben; die kinderlosen klagen, dass sie
für die Zeit, wo sie ihrer Praxis nachgehen, fremde Leute zur
häuslichen Arbeit annehmen müssen, diejenigen mit Kindern klagen,
dass diese ihnen zu viel kosten etc. etc. Die Klagen werden
durch das System der jährlichen Unterstützungen gross gezogen
und wirken, wie ich glaube, in moralischer Beziehung direkt un¬
günstig. Welche Hebammen sollen die höchsten Beträge aus dem
Kreisfonds bekommen? Diejenigen, die am meisten klagen, die
mit der geringsten Praxis zur Milderung ihrer Nothlage oder die
mit der grössten Praxis zum Zwecke der Belohnung, der Prämiirung
tüchtiger Leistungen? Wie verschiedene Gesichtspunkte mögen
wohl an den verschiedenen Orten bei der Vertheilung massgebend
sein! Die Hebammen mit der geringsten Praxis mögen zuweilen
gerade die schlechtesten sein, aber sind die mit der grössten Praxis
immer die besten? Die sachgemässe Beurtheilung dieser Fragen
ist jedenfalls schwierig genug, denn über die Einnahmen erfährt
man nur ganz gelegentlich etwas und die Zahl der gehobenen
Kinder steht vielleicht manchmal im umgekehrten Verhältniss zur
Menge der eingenommenen Markstücke.
Ich gönne meinen Hebammen von Herzen weit grössere Ein¬
nahmen, als sie sie jetzt durch ihren dornenvollen Beruf sich
mühsam erringen, eine Erhöhung der Taxe aber wünsche ich ihnen
nicht, denn mehr einnehmen würden sie dadurch doch nicht, aber
sie würden unzufriedener werden. Dagegen möchte ich gern, gern
im Besitze der nöthigen gesetzlichen Handhaben sein, um ihnen
ohne Hülfe der Gerichte dasjenige beitreiben zu können, was sie
nach der heutigen Taxe auch wi/klich verdient haben.
Wer meinen Auseinandersetzungen bis hierher gefolgt ist,
Zur Medizinalreform.
563
wird sich jetzt zum Schluss vielleicht sehr enttäuscht sehen, wenn
ich keine Verbesserungsvorschläge mache. Dazu fühle ich mich
nicht berufen. Ich beschränke mich darauf, vor zu weitgehender
Generalisirung der Abhülfemassregeln zu warnen und empfehle
möglichste Spezialisirung nach lokalen Verhältnissen.
Zur Medizinalreform.
Die Frage der Medizinalreform wird jetzt mit Rücksicht
auf die bevorstehende Landtagssession wiederum in erfreulicher
Weise in den politischen Zeitungen besprochen. Wir bringen nach¬
stehend einen von dem Hannoverschen Kourier in der Morgenaus¬
gabe vom 2. d. M. gebrachten Leitartikel über die beregte An¬
gelegenheit, dessen sachgemässer Inhalt die Leser der Zeitschrift
sicherlich interessiren wird.
. „Zum ersten Mal ist von einer politischen Partei — der nationalliberalen
— in ihr Programm die Forderung einer durchgreifenden staatlichen Medizinal¬
reform mit aufgenommen worden, nachdem seit Jahrzehnten im preussischen
Abgeordnetenhaus bei jeder Session Vertreter der verschiedensten politischen
Richtungen, wie die Abgeordneten Graf, v. Pilgrim, Langerhans, Virchow
und Brandenburg, ihre Klagen Ober das Nichtzustandekommen der Medizinal¬
reform in Preussen stets vergeblich vorgebracht haben.
Wenn man sich erinnert, dass schon im Jahre 1877 der jetzige Herr Kul¬
tusminister dem Abgeordnetenhause gegenüber als Regierungskommissar die Er¬
klärung abgegeben hat, „dass ein vollständiger Plan fttr die Reorganisation der
Medizinalverwaltung bereits von der wissenschaftlichen Deputation fttr das Me¬
dizinalwesen ausgearbeitet sei, so dass das Ministerium hoffentlich bald (1) in
die Lage kommen werde, diese Vorlage an das Abgeordnetenhaus gelangen zu
lassen“ — und damit die bei Gelegenheit der Beantwortung der Interpellation
Douglas, betreffend Massregeln gegen die Cholera, von dem Herrn Kultus¬
minister nach 16 Jahren abgegebene Erklärung vom 4. Juli d. J. vergleicht,
wonach „er sich erst einen dnrehgearbeiteten, brauchbaren und einheitlichen Plan
fttr die Medizinalreform schaffen müsse, worüber noch mancher Tropfen Wasser
den Berg hernnterlaufen könne“, — so muss man doch ernstlich fragen, was
denn eigentlich in der ganzen Zeit geschehen ist in der Angelegenheit der
preussischen Medizinalreform und an wem diese Stagnation liegt P
Es ist ja selbstverständlich, dass man eine so tief einschneidende und
wichtige Reform nicht über das Knie brechen kann und dass eine ganze Reihe
schwieriger organisatorischer und finanzieller Fragen hierbei zu lösen ist; aber
innerhalb vier Jahrzehnte — so lange taucht die Frage der Medizinalreform all¬
jährlich wieder auf — hätte man doch endlich Mittel und Wege finden können,
einen festen Plan zu schaffen! Alle unsere Nachbarstaaten fast besitzen eine
bessere Gestaltung ihres Medizinalwesens, und besonders Sachsen und Hessen
haben durch Schaffung der neuen Instruktion fttr Bezirksärzte vom Juli 1884 in
geradezu hervorragender Weise für die gesundheitliche Verbesserung ihrer Lande
gesorgt, wie man es sachgemässer nicht verlangen kann, ebenso Baden. Warum
hält man sich in Preussen nicht an jene Vorbilder und sucht unter Anlehnung
an diese Organisationen etwas Aehnliches zu schaffen f Finanzielle Bedenken
allein können es doch nicht sein, eine Forderung von etwa 2 Millionen Mark,
welche sofort vom Abgeordnetenhause bewilligt werden würde, nicht in den Etat
einzustellen? Der Herr Finanzminister hat selbst zu lange an der Spitze eines
der grössten Gemeinwesens gestanden, welches sich durch die Trefflichkeit seiner
gesundheitlichen Einrichtungen auszeichnet, und der Herr Finanzminister ist ein
zu bewährter Nationalökonom, um nicht zu wissen, dass ein wirksamer Schutz
gegen Infektionskrankheiten, welche, wie im verflossenen Jahr die Cholera, Handel
und Gewerbe auf lange Zeit hin völlig lahm legen können, nur bei einer Um¬
gestaltung unseres jetzigen unzulänglichen Medizinalwesens möglich ist, damit
564
Zur MedizinalrefornL
die Assanirung von Stadt und Land grössere Fürsorge dnrch die eigens hierzu
angesteilten Gesundheitsbeamten des Staates erfahren kann, und dass diese
Mehrausgaben sich reichlich rentiren.
Vielmehr will es scheinen, dass das Nichtzastandekommen einer Medizinal-
reform in Preussen in dem Umstande seinen Grund hat, dass an der Spitze der
Medizinalabtheilung im preussischen Kultusministerium nicht ein Mediziner, son¬
dern ein Jurist steht, welcher selbstverständlich nicht das lebendige Interesse
für eine Medizinalreform haben kann, wie ein Fachmann; ganz abgesehen davon,
dass ein Jurist sich erst mühsam in die zahlreichen technischen Fragen, welche
hier in Betracht kommen, hineinarbeiten muss und sie schliesslich doch nicht ao
beherrschen kann, wie ein Fachmann. Wohl nur allein dem Umstande, dass ein
Fachmann dem Militär-Sanitätswesen vorsteht, ist es zuzuschreiben, wenn
dessen treffliche Organisation erst jüngst so recht in den Vordergrund wieder
trat, als die Civil-Medizinalbehörden auf die Hilfe des Sanitätskorps zurück¬
greifen mussten beim Ausbruch der Cholera. Als eine wesentliche Vorbedin¬
gung für die Verwirklichung einer Medizinalreform in Preussen erscheint daher
die Forderung, dass mit den veralteten unhaltbaren Verhältnissen gebrochen und
einem Fachmanne die Leitung der Civil - Medizinalangelegenheiten übertragen
werde. Sodann aber bedarf die Frage einer ernstlichen Erwägung, ob nicht aus
Gründen der Zweckmässigkeit diese Medizinalabtheilung besser vom Kultusmini¬
sterium ganz abzutrennen und dem Ministerium des Innern zu unterstellen ist,
wohin sie ihrem ganzen Wesen nach viel mehr hinpasst, besonders als Gesund¬
heitspolizei.
Vor Allem ungenügend ist die jetzige Stellung der Kreismedizinal¬
beamten, welche unter den z. Z. obwaltenden Verhältnissen kaum Gelegenheit
finden, ihre unter Aufwendung grosser pekuniärer Opfer und Hintenanstellnng ihrer
Praxis erworbenen Kenntnisse zu verwerthen, und welche für das winzige, nicht
pensionsfähige Gehalt von 900 Mark eine Arbeitslast zu verrichten haben, welche
in keinem Verhältnis steht zu der ihnen gewährten — Abfindung; denn von Be¬
soldung kann hier kaum die Bede sein. Als besonders charakteristisch mag hier
noch hervorgehoben werden, dass zur Bewältigung der sehr erheblichen Büreau-
arbeiten nicht die geringste Beihilfe an Büreaugeldern gewährt, wohl aber eine
sehr genaue Führung der Registratur verlangt wird.
Noch ist die Erinnerung an die vorjährige Cholerazeit bei den Kreisphy¬
sikern nicht entschwunden, wo äie unter Aufopferung ihrer Praxis, auf welche
sie doch ausschliesslH* zum Lebensunterhalt angewiesen sind, monatelang ge¬
zwungen waren, als tou^lieder der Sanitätskommissionen sanitätspolizeiliche Be¬
sichtigungen an ihrem Wohnorte unentgeltlich vorzunehmen und Berichte über
Berichte zu erstatten, und, ereignete sich wirklich ein Cholerafall in ihrem Be¬
zirk, von ihrer Klientel ängstlich gemieden wurden aus Furcht vor Ansteckung.
Die Nachwehen der vorjährigen Epidemie haben die Medizinal beamten durch den
Ausfall in ihrer Praxis noch lange zu fühlen gehabt, eine Entschädigung hier¬
für haben sie nicht erhalten und auch selbstverständlich nicht erwartet, wohl
aber bei Hintenansetzung der eigenen Gesundheit wie des Lebens, im Bewusst¬
sein treu erfüllter Pflichten gehofft, dass endlich nun an massgebender Stelle die
längst erwartete und versprochene Reform in Scene gesetzt werden würde.
Dass die Medizinalbeamten durch die Beantwortung der Interpellation Douglas
im Abgeordnetenhause am 4. Juli d. J. seitens des Kultusministers nicht gar zu
hoffnungsvoll gestimmt worden sind bezüglich des baldigen Zustandekommens
der Medizinalreform, ist erklärlich, und so anerkennend und ehrenvoll der Herr
Minister sich über die aufopfernde Thätigkeit der ihm unterstellten Medizinal¬
beamten aussprach, so wird doch dadurch eine Verbesserung ihrer unhaltbaren
Stellung nicht erreicht und muthlos müssen sie der Zukunft auch ferner entgegen¬
sehen ! Wenn jest ein Kreisphysikus durch Alter oder Krankheit dienstunfähig wird,
so kann ihm ausnahmsweise sein Gehalt — sit venia verbo — ganz oder
zum Theil durch besonderes Wohlwollen der Vorgesetzten erhalten bleiben,
ebenso können auch die Wittwen solcher Medizinalbeamten bis zu 300 H.
Pension erhalten; man bedenke, welche Beruhigung es für einen auf dem Sterbe¬
bette liegenden Kreisphysikus sein muss, der Jahrzehnte lang treu seine Pflicht
geth&n hat im Dienste des Staates, die Seinon so wohl versorgt zu wissen, und
doch ist bei Epidemien kein Beamter nebst seiner Familie der Gefahr so aus¬
gesetzt wie der Kreisphysikus!
Aber gerade die vorjährige Gholerazoit hat auch weiteren Kreiseu, als
Eine Entscheidung zum Taxgesetz in Bezog aof die Berechnung d. Tagegelder. 565
den Medizinalbeamten, die Augen darüber geöffnet, dass die geschilderten Ver¬
hältnisse so nicht länger im Argen liegen bleiben dürfen und dass der preussische
Bürger und Steuerzahler ebenso wie sein Nachbar in Sachsen, Hessen und Baden
berechtigt ist zu fordern, dass das Medizinalwesen in Preussen einer durch¬
greifenden Reform unterzogen werde, indem durch Anstellung von gut besoldeten
und pensionsfähigen Gesundheitsbeamten für eine wirksame Hebung der gesammten
gesundheitlichen Verhältnisse des Staates Sorge getragen werde, und zwar so,
wie es der Bürger dei dem hohen Stande der Gesundheitslehre verlangen muss,
eingedenk des Disraelischen Ausspruches: „Die öffentliche Gesundheit ist das
Fundament, auf welchem das Glück des Volkes und die Macht des Staates
beruhen.“
Nur mit Freude ist es daher zu begrüssen, dass von der Volksvertretung
selbst in der kommenden Session des Abgeordnetenhauses an die preussische
Regierung das Verlangen gerichtet werden wird, mit der allseitig als erforder¬
lich anerkannten und längst verheissenen Medizinalreform endlich Ernst zu
machen. Mag man bezüglich der Entstehung und Verbreitung der gefährlichsten
Infektionskrankheiten ein Anhänger der Koch’schen oder v.Pettcnkofer’schen
Schule sein, in dem einen Punkt kommen beide Schulen zusammen, dass nämlich
die beste Abwehr der Infektionskrankheiten, durch welche alljährlich Tausende
von Menschen dahingerafft werden, die wohl hätten erhalten bleiben können, —
die Schaffung wirklich guter gesundheitlicher Verhältnisse in Stadt und Land
ist, und dass zur Erreichung und Erhaltung derselben besondere Gesundheits¬
beamte im Staate angestellt werden müssen, welche diese Geschäfte nicht, wie
bisher, im Nebenamt, sondern im Hauptamt wahrzunehmen haben!“
In Nr. 566 der Berliner neuesten Nachrichten wird ferner
folgende Notiz gebracht:
„Wie wir vernehmen, soll gegenwärtig im Ministerium der geistlichen etc.
Angelegenheiten ein Gesetzentwurf betreffend die Organisation der
Medizinal - Verwaltung und die Elinrichtung einer ärztlichen Standesvertretung
ausgearbeitet und dem Landtage zur Beschlussfassung vorgelegt werden. Die
Gruudzüge dieses Gesetzentwurfs sollen folgende sein: Anstellung eines Kreis¬
arztes (Physikus) für jeden Kreis mit Besoldung und Pensionsberechtigung;
soweit seine amtlichen Funktionen es zulassen, würde auch die Ausübung der
Privatpraxis gestattet sein; Fortfall der bisherigen Kreiswundärzte; Einführung
von Ortsgesundheitsräthen als kollegialische Behörde ohne Besoldung für diese
Funktion; Einsetzung von Provinzial - Gesundheits - Behörden und als oberste
Instanz Einsetzung einer dem Medizinal-Minister unmittelbar unterstellten wissen¬
schaftlichen Deputation für das Medizinal - Wesen. — Die Vorsitzenden und die
ordentlichen Mitglieder der letzteren beiden Körperschaften sollen, soweit sie
nicht schon Staatsbeamte sind, Besoldung, die ausserordentlichen Mitglieder für
die Zeit ihrer Funktionirung Diäten erhalten.“
Hoffen wir, dass sicli diese Nachricht diesmal als zutreffend
bewährt! Sie findet eine gewisse Bestätigung durch eine andere,
soeben von den politischen Zeitungsnachrichten gemachte Mit¬
theilung, wonach dem Geh. Ober - Reg. - Rath Dr. Förster im
Kultusministerium an Stelle des seit längerer Zeit erkrankten Geh.
Ober-Reg.-Rath Löwenberg das Justitiaramt in der Medizinal¬
abtheilung des Ministeriums übertragen ist und dieser Wechsel
angeblich mit organisatorischen, das Medizinalwesen betreffenden
und nicht länger aufschiebbaren Fragen zusammenhängt.
Eine Entscheidung zum Taxgesetz in Bezug auf die
Berechnung der Tagegelder.
Mitgetheilt vom Kreisphysikus San.-Rath Dr. Raabe in Kolberg.
In Nr. 11, Jahrgang 1892 der Beilage zur Zeitschrift für
Medizinal - Beamte ist eine Entscheidung des Oberlandesgerichts
566 Eine Entscheidung zum Taxgesetz in Bezug auf die Berechnung d. Tagegelder.
zu Posen vom 26. März 1893 über die Frage zum Abdruck ge¬
bracht, „ob der Medizinalbeamte verpflichtet ist, zur
Wahrnehmung eines gerichtlichen Termins auch in
der Nacht eine Reise anzutreten.“
Trotz der Entscheidung zu unseren Gunsten, scheint dieselbe
nicht in allen Landgerichtsbezirken beachtet zu werden und ver¬
dient daher wohl nachstehende Entscheidung des Oberlandes¬
gerichts zu Stettin veröffentlicht zu werden, um vorkommenden
Falls den Kollegen zur Richtschnur zu dienen.
Die Entscheidung ist insofern noch von besonderer Wichtig¬
keit, als sie ganz anderartig begründet wird und besonders auf
die Verfügung des Herrn Reichskanzlers vom 9. April 1881 hin¬
weist, während eine Berufung auf diese Verfügung vom Oberlandes-
gericht Posen als nicht zutreffend zurtickgewiesen ist.
Zum 20. Mai d. J. Vormittags 10 Uhr in der Sache wider
St. als Sachverständiger vor das Königliche Landgericht in Köslin
vorgeladen, hatte ich bereits am 19. Abends die Reise nach dort
angetreten, um nicht den Zug 5,34 früh von hier benutzen zu
müssen, um rechtzeitig im Termin erscheinen zu können.
Ich beanspruchte Tagegelder für 2 Tage, wie sie bisher in
ähnlichen Fällen anstandslos gezahlt wurden. Zu meiner grossen
Verwunderung wurden mir diese diesmal nicht bewilligt, son¬
dern nur für einen Tag 9 Mark gezahlt, weil von Seiten des
Königlichen Landgerichts die Anweisung an die Kassenbeamten
ergangen war, Sachverständigen, auch den ärztlichen, nur für
einen Tag Tagegelder zu zahlen, wenn die Möglichkeit bestände,
die Hin- und Rückreise nach Köslin an einem Tage zu machen.
Auf eine von mir an das König). Landgericht zu K. einge¬
reichte Beschwerde, welche ich unter anderem auch durch obige
Verfügung des Herrn Reichskanzlers zu begründen suchte, erhielt
ich nachstehenden Bescheid vom 28. Juli d. J.:
„In der Strafsache wider den Mühlenbesitzer St. zn J. wird der Antrag
des Sanitätsraths Dr. Baabe zn Eolberg, betreffend die Nachbewillignng von
9 Mark Diäten abgelehnt.
Da die Hin- und Rückreise sich an einem Tage sehr wohl bewerkstelligen
Hess, liegt kein Grand vor, auch noch für einen zweiten Reisetag Diäten zu
gewähren. Für die eintägige Reise hätte zwar der aus Eolberg schon um 5 Uhr
34 Minuten früh abgehende Zug benutzt werden müssen, indessen ein solcher
Zeitpunkt kann insbesondere zur Sommerzeit als ein so frühzeitiger nicht aner¬
kannt werden, dass schon die Zureise am Tage zuvor für den Antragsteller
geboten gewesen wäre.“
Hiermit nicht befriedigt, wandte ich mich mit meiner Be¬
schwerde an das Königl. Oberlandesgericht zu Stettin, das die¬
selbe durch Beschluss vom 31. August als begründet anerkannte
und den vorstehenden Beschluss des Landgerichts wieder aufhob.
Das betreffende Urtheil lautet wie folgt:
„Mit Recht macht der Beschwerdeführer geltend, dass ihm, einem viel
beschäftigten Arzt und Ereisphysikus, nicht zngemuthet werden könne, um
4 1 /* Uhr Morgens aufzustehen, und mit dem um 5 Uhr 34 Minuten von Eolberg
abgehenden Zuge nach Eöslin zu fahren, um den vor dem dortigen Landgerichte
anberaumten Termin wahrzunehmen. Dem entsprechend hat denn auch der
Reichskanzler in seiner Verfügung vom 9. April 1881 (Zentralblatt für das
Deutsche Reich S. 136) angeordnet, dass Dienstreisen in den Morgenstunden
Kleinere Mittheilnngen und Referate aus Zeitschriften. 567
m
anzutreten seien, unter Morgenstunden aber im Sommer die Zeit von 6 Uhr, im
Winter von 7 Uhr Morgens ab zu verstehen sei.
Der Beschwerdeführer war demnach nicht verpflichtet, den um 5 Uhr
34 Minuten von Kolberg nach Köslin abgehenden Zug zu benutzen, sondern
berechtigt, bereits am Tage vorher nach Köslin zu fahren.
Die Beschwerde ist deshalb begründet und sind dem Beschwerdeführer
noch 9 Mark weitere Tagegelder zu zahlen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleiben nach §. 6, 45 des D. Q. K. 6.
ausser Ansatz.“
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
B. Hygiene und öffentliches Sanit&tswesen:
Die Frage der Verbesserung der WohnungsVerhältnisse auf der
Konferenz der Zentralstelle für Arbeiter - Wohlfahrtseinrichtungen.
Von Dr. H. Albrecht in Gross - Lichterfelde. Deutsche Vierteljahrsschrift für
öffentliche Gesundheitspflege; 1892, Heft 4.
Der Umstand, dass innerhalb der letzten Jahre die Wohnungsnoth und
die Mittel zu ihrer Abhilfe Gegenstand der Verhandlungen der verschiedensten
Vereine und Körperschaften gewesen ist, und dass eine schon im Jahre 1888 erfolgte
Literaturzusammenstellung etwa 400 Nummern aufweisen konnte, kennzeichnet
genügend die Wichtigkeit der Frage. Bei der zweifellos vorhandenen Nothlage
müssen wir in der Praxis streng zwischen idealen Forderungen und der Mög¬
lichkeit unterscheiden, einem dringenden Bedürfniss vielleicht in einer streng
hygienischen Grundsätzen nicht vollkommen entsprechenden Weise abzuhelfen.
Der Gedanke, welcher in der englischen Gesetzgebung Verkörperung gefunden
hat, grössere oder kleinere Bauquartiere, die sich in einer nicht gesundheitsge-
mässen Verfassung befinden, zu enteignen und niederzulegeu, hat sich nicht be¬
währt; denn wo diese Bestimmung Wirklichkeit geworden ist, hat sich die Zahl
der gänzlich Obdachlosen um ein Beträchtliches vermehrt. Auch wo bei uns in
Deutschland alte Stadttheile durch Strassendurchbrttche niedergelegt worden
sind, hat sich der Ausspruch Bastiat’s als zutreffend gezeigt; „was man sieht,
sind die prächtigen Wohnungen; was man nicht sieht — das Elend derer, die aus
schlechten in noch schlechtere Wohnstätten vertrieben wurden.“
So manche Bestimmungen der Banpolizeiordnung in Berlin und in anderen
grossen Städten, welche unter dem Einfluss der populär gewordenen hygienischen
Anschauungen erlassen sind, erschweren der Privatbauthiitigkeit gerade nach der
Richtung ihre Wirksamkeit, Wohnungen herzustellen, welche dem Bedürfniss des
kleinen Mannes entsprechen. Die paar Musterhäuser, welche gemeinnützige Bau¬
gesellschaften und ähnliche Vereinigungen hergestellt haben, sind dem Noth-
stande gegenüber wie ein Tropfen im Meere. Nicht etwa aber soll in der Bei-
seitelassung des idealen Zieles das alleinige Heil gesucht werden, man soll nur
sich bewusst bleiben, dass das Bessere sehr leicht der Feind des Guten sein kann.
Wenn man unter Wohnungsnoth nicht gerade Obdachlosigkeit, sondern ein
Wohnen breiter Bevölkerungsschichten in hygienisch und sittlich unzulänglichen
Verhältnissen versteht, giebt es eine Wohnungsnoth nicht nur in den grossen
Städten, sondern fast überall in Deutschland; hier mehr, dort weniger, auch
wohl auf dem platten Lande. Der Mittel zur Lösung der Frage sind viele,
und Viele sind berufen, daran mitzuarbeiten. Alle Besitzenden haben die Ver¬
pflichtung, sich auch hierbei der Bedürftigen anzunehmen, speziell auch die
Arbeitgeber, sei cs durch die direkte Errichtung von Wohnhäusern, sei es durch
finanzielle Förderung gemeinnütziger Aktien - Gesellschaften oder Baugesell¬
schaften. Dahingehende Bestrebungen durch Darleihung niedrig verzinslicher
Kapitalien zu unterstützen, liegt ferner den Gemeinden, den öffentlichen Spar¬
kassen, den Invaliditäts- und Altersversicherungs - Anstalten ob. Von grösster
Bedeutung aber ist auch hierbei die Stellung, welche der Staat in der Frage
einnimmt. Mit direkten Subventionen seitens des Staates hat man mehrfach
schlechte Erfahrungen gemacht, bedeutsam ist die Einwirkung, welche der Staat
als Gesetzgeber nach dieser Richtung ausübt. In mannigfacher Beziehung er¬
scheint im Augenblick unsere Gesetzgebung auf diesem Gebiet revisionsbedürttig.
— In dem zweiten Theil seiner Ausführungen wendet Verfasser sich zu den
568 Kleinere Mittheilungen and Referate ans Zeitschriften.
technischen Einzelheiten, welche an der Hand einer grossen Anzahl von Muster¬
entwürfen für städtische und ländliche Verhältnisse angepasst in sehr instruk¬
tiver Weise besprochen werden. Dr. Meyhoefcr-Görlitz.
Die Arbeiterwohnungsfrage in der Gesetzgebung verschiedener
Länder. Von Stadtbaurath J. Stübben. Vierteljahrsschrift für öffentl. Ge¬
sundheitspflege; 1892, H. 4.
Verfasser geht von einem Gesetzentwürfe aus, welchen der Abgeordnete
Julius Siegfried und 76 andere Mitglieder der französischen Kammer
eingebracht haben, uml dessen Bestimmungen im Wesentlichen folgende sind:
Es werden in jedem Departement ein oder mehrere Ausschüsse für Arbeiter¬
wohnungen eingesetzt, welche fördernd darauf einzuwirkeu haben, „dass durch
Genossenschaften, Bau- oder Kredit - Aktien - Gesellschaften und Privatleute ge¬
sunde und billige Wohnungen erbaut werden, welche bestimmt sind, an Beamte,
Handwerker, gewerbliche und landwirtschaftliche Arbeiter vermietet oder —
sei es auf Rechnung, sei es auf Abzahlung — verkauft zu werden.“ Sie können
Untersuchungen anstellen, bauliche Wettbewerbe veranstalten, Ordnungs- und
Reinlichkeitspreise vertheilen, Geldunterstützungen an Baugenossenschaften be¬
willigen und allgemein ihre Mittel zu Gunsten der Anregung des Baues oder
der Verbesserung von Arbeiterwohnungen verwenden. Die Bureaukosten, die
Bezahlung des Schriftführers und die Diäten für die Ausschussmitglieder fallen
dem Departementshaushalt zur Last. Abgesehen von Geschenken und Stiftungen
sollen die Mittel zu Beihilfen folgendermassen Zusammenkommen: Die öffentliche
Hinterleguugskasse, die nationale Pensionskasse, die Versicherungskassen für
Todes- und Unfälle und die Postsparka-se werden ermächtigt, bis zu einem
Zehntel ihrer verfügbaren Geldmittel als Hypotheken für die Errichtung von
Arbeiterwohnungen darzuleihen. Dasselbe gilt für die Privatsparkassen bis zu
einem Zehntel ihrer Hinterlegungen und bis zu einem Drittel ihrer Reserven.
Wohlthätigkeitsanstalten, Hospize und Krankenhäuser können mit Genehmigung
der Präfekten einen Theil ihres Vermögens, welcher ein Drittel nicht überschreiten
darf, zur Erbauung von Arbeiterwohnungen in den Grenzen ihres örtlichen Wir¬
kungskreises verwenden. Die Einzelhäuser, welche von den im Gesetz bezeichneten
Genossenschaften und Gesellschaften errichtet werden, um an Arbeiter gegen
Jahresbezahlungen verkauft zu werden, siud von der Gruudsteuer, von der Thür-
und Fenstersteuer und von den Gütern der todten Hand befreit, so lange sie
von den Arbeitern, für welche sie erbaut wurden, deren Ehegatten oder Kindern
bewohnt werden. Die Stempclgebühren beim Abschluss des Kaufes werden zur
Hälfte erlassen, die andere Hälfte kann in fünfjährigen Raten bezahlt werden.
Die Vorgesetzte Instanz für die Ausschüsse ist ein „Oberer Arbeiterwohnungs¬
rath“ im Handelsministerium.
Dieser Gesetzentwurf ist dem belgischen Gesetze vom 9. August 1889
in den Hauptpunkten ähnlich.
In Oesterreich wird der Gegenstand durch das Gesetz zur Beförderung
der Errichtung von Arbeiterwohnungen vom 9. Februar 1892 geregelt, welches
gleichfalls dem französischen Gesetzesvorschlage in Ziel und Mitteln verwandt
ist. Hier werden die öffentlichen Abgaben 24 Jahre lang erlassen, wenn die
Wohnungen gewissen gesetzlichen bezw. gesundheitspolizeilichen Bestimmungen
entsprechen. (Kein Wohnraum darf mit dem Fussboden unter der Strassenhöhe
liegen, die Räume müssen je nach Anzahl der Zimmer bestimmte Flächenmasse
innerhalb gewisser Grenzen darbieten.)
In Nordamerika ist die Wohnungsgesetzgebung verschieden von Staat
zu Staat und Stadt zu Stadt. Am besten scheint dieselbe in Newyork geregelt
zu sein, wo das Gesundheitsamt mit weiten Vollmachten versehen ist. Zwei
obere Beamte und 43 Unterbeamte revidiren zweimal jährlich die Miethswoh-
nnngen und besuchen häufig des Nachts die Logirhäuser. Für je 2 Familien
bezw. 15 Schläfer muss ein Wasserabort, für jeden Einwohner ein Wohnraum
von 17 cbm, für jeden Schläfer ein Luftraum von 11,5 cbm vorhanden sein.
Am ausführlichsten sind die Arbeiterwohnungsfragen in dem englischen
Gesetz vom 18. August 1890 geregelt. Der erste Theil handelt von den un¬
gesunden Stadttheilen bezw. Häusergruppen. Nach voraufgegangenem gesetzlich
festgestelltem Verfahren können ganze Häuserblocks oder Thcile derselben,
welche gesundheitlich beanstandet werden müssen, baulich geändert — umgebaut
oder ganz niedergelegt — werden. Die Oberbehörde im Gesundheitsamt ent-
Kleinere Mitteilungen und Referate aas Zeitschriften.
669
scheidet, ihr Sprach bedarf aber der Bestätigung des Parlaments, welchen der
Verbessernngsentworf behufs etwa anzubringender Abänderungen vorgelegt werden
muss. Darauf hat die Gemeinde die Ausführung der erforderlichen Massnahmen
zu veranlassen. — Der zweite Theil handelt von einzelnen ungesunden Wohn¬
häusern. Auf Anfordem von vier oder mehr Familien muss der Beamte das
Haus untersuchen nnd über den Befund berichten. Im Uebrigen hat die Ge¬
meinde die Verpflichtung, regelmässige Wohnungsbesichtigungen zu veranlassen.
Erkennt sie den gesundheitsschädlichen oder unbewohnbaren Zustand an, so muss
sie das Haus schlicssen. Durch friedcusrichterliche Bestätigung wird diese Mass-
regel rechtskräftig. Jeder Bewohner erhält hiervon Mittheilung, zugleich wird
ihm eine Känraungsfrist und gegebenenfalls eine Entschädigung für Rechnung
des Eigentümers bewilligt. Falls der vorschriftsmässige Umbau bewirkt wird,
so erhält der Eigentümer auf Gemeindebeschluss eine Vergiitigung. Aehnliche
Massregeln können auch bei Häusern Platz greifen, welche nicht an sich unge¬
sund und unbewohnbar sind, sondern anderen Häusern die Luft nehmen (obstruc¬
tive buildings). Im dritten Theil des Gesetzes sind die Bestimmungen über
Errichtung, Verbesserung, Verwaltung und Beaufsichtigung eigentlicher Arbeiter¬
wohnungen (working dass lodging houses) enthalten, deren Ueberwachung und
Ausführung Sache der Ortsbehörde ist. Diese kann Häuser miethen oder kaufen,
zu Arbeiterwohnungen einrichten, oder von gemeinnützigen und anderen Gesell¬
schaften eingerichtete Arbeiterwohnhäuser in Kauf, Miete oder blosse Verwal¬
tung übernehmen. Die Verwaltung und Beaufsichtigung der in Rede stehenden
Wohnungen ist Sache der Ortsbehörde. Gesellschaften, Arbeitgeber und Privat¬
personen können amtliche Darlehen erhalten zur Errichtung neuer oder Ver¬
besserung bestehender Arbeiterwohnnngen.
(Man ersieht hieraus, dass bei uns die Gesetzgebung in Bezug auf die
Sorge für gesunde Wohnungen, insbesondere Arbeiterwohnnngen, vielen anderen
Staaten gegenüber weit zurücksteht. Es darf aber nicht verkannt werden, dass
unsere gesammte sozialreformatorische Gesetzgebung der letzten Jahre in ihrem
Bestreben, die ärmeren Schichten zu schätzen, nothgedrungen und billigerweise
die Schultern der besitzenden Klassen in hohem Masse belastet hat. Insbeson¬
dere trifft dies für die Arbeitgeber in einem Grade zu, welcher sie in einzelnen
Gewerbebetrieben ihren von derartigen Lasten nicht gedrückten und billiger pro-
duzirenden ausländischen Konkurrenten gegenüber bereits in schwierige Verhält¬
nisse gebracht hat. Daher rührt sicherlich nicht zum kleinsten Theil die starke
Strömung im Volke, in den Erlassen von Gesetzen auf dem Gebiete der Sozial¬
reform eine Ruhepause eintreten und erst die bereits erlassenen zur vollen Wirk¬
samkeit gelangen zu lassen. Referent kann sich der Hoffnung nicht hingeben,
dass auf Jahre hinaus bei uns eine Wohnungsgesetzgebung erstehen sollte,
welche sich inhaltlich an die vorbesprochenen anschliessen möchte.) Ders.
In welcher Weise ist den heutigen gesundheitlichen Missständen
der üblichen Arbeiterwohnnngen auf dem Lande, in Ackerbau trei¬
benden nnd gewerbereichen Gegenden erfolgreich entgegenzutreten?
Von Dr. Marx-Erwitte. Vierteljahrssehr. f. öffentl. Gesundheitspflege, 1893;
H. 1.
Trotz des Vorgehens zahlreicher anderer Kulturstaaten und der vielfachen
Anregungen, welche auch bei uns von Einzelnen und Vereinigungen ausgegangen
sind (cfr. Miquel’s Thesen auf der 14. Versammlung des deutschen Vereins
für öffentliche Gesundheitspflege in Frankfurt a. M.), hat sich die Gesetzgebung
in Deutschland der Frage nach den Massregeln zur Erreichung gesunder Woh¬
nungen weder in Stadt, noch Land angenommen. Das Land bedarf dieser Für=
sorge ebenso wie die Städte; denn der Unterschied zwischen beiden hat sich
durch die immer zunehmende Maschinenarbeit im ländlichen Betriebe mehr und
mehr verwischt. Nicht das letzte Motiv zu dem Abströmen der ländlichen Be¬
völkerung in die Städte ist die elende Wohnung, in welcher der Ackerarbeiter seine
ermüdeten Glieder ausrnhen muss.
Verfasser fasst seine Ausführungen über die zu ergreifenden Massregeln
in folgenden Sätzen zusammen:
1. Eine Arbeiterwohnungsfrage besteht nicht nur in der Stadt, sondern
auch in dringlicher Weise auf dem Lande.
2. Die sanitären Uebelstände der Wohnungen landwirtschaftlicher Ar¬
beiter sind in zahlreichen Fällen sehr starke, besonders in den Massenquartieren
570
Besprechungen.
der Arbeiter, die ans den östlichen Provinzen während der landwirtschaftlichen
Arbeitsperiode nach dem Westen kommen.
3. Den hier bestehenden Missständen müssen, behnfs Abstellung, die Orts¬
polizeibehörden (event. der zuständige Gewerbeinspektor) ihr Augenmerk zu¬
wenden.
4. Für die kleineren Ziegeleien ist eine gewisse Mindestforderung bezüg¬
lich der Beschaffenheit der Arbeiterwohnungen aufzustellen, die sich auf den
Luftraum, die Grösse und Zahl der Lagerstellen, sowie auf die nothwendigste
Reinlichkeit erstreckt.
5. Die Anfertigung von Cigarren ist auf dem Lande in vielen Gegenden
eine verbreitete Hausindustrie. Dieselbe hat mannigfache gesundheitliche Uebel-
stände für die damit beschäftigten Familien im Gefolge bei den jetzigen Woh¬
nungsverhältnissen. Durch einen vernünftigen Zwang in Bezug auf Absonderung
des Arbeitsraumes von den Wohn- und Schlafräumen, sowie durch Belehrung
über Staubverhütung, Reinlichkeit und Beseitigung des Auswurfes Hustender
ist Abhilfe zu schaffen.
6. Das Loos des ländlichen Arbeiters ist durch Schaffung eines eigenen
Heims am geeignetsten zu verbessern. Die Gesetze vom 27. Juni 1891 über
Rentengüter und vom 7. Juli 1891, betreffend die Beförderung der Errichtung
von Rentengütern, zeigen die Wege zur Erreichung dieses Zieles.
Von Interesse sind noch einzelne Zahlenangaben über die Herstellungs¬
weise von gemeinnützigen Gesellschaften errichteter Wohnungen für Arbeiter
und kleine Beamten. Die von einer solchen Gesellschaft in Bremen erbauten
300 Häuser haben mit Grund und Boden durchschnittlich 3700 Mark gekostet
und enthalten 2 Zimmer mit Küche, Keller, Speicher mit Mansarden, dazu einen
kleinen Garten mit Stall. — In Hamburg werden derartige Häuser mit Vor¬
gärtchen und Hintergarten für 3500 Mark abgegeben. — Die Häuser der Kolo¬
nien in Mühlhausen L E. kosten 2400 bis 3600 Mark. — Die Bangesellschaft in
M.-Gladbach legt für ihre Häuser (Bauplatz, Garten und Stall eingerechnet) 3900,
die in Barmen 4200 M. an, die Berliner Baugenossenschaft baut zweistöckige
Häuser zu 6000 und 7000 Mark mit Grund und Boden. Die Gesellschaft „Eigen¬
haus“ in Berlin stellt ein Haus her mit Küche und Zimmer im Erdgeschoss,
darüber Kammer mit Bodenraum, dazu Hof und Garten für 2800 M.; eine Woh¬
nung aus 5 Räumen für 3750 M., von 6 Räumen für 5200 M., von 7 Räumen
für 6500 M. Die Bergmannshäuser im Saarrevier kosten 2500 bis 3500 M., die
der Burbacher Hütte 4200 M., die Arbeitshäuser in Neuenkirchen 3200 M.
Die Punkte 4 nnd 5 gehören in ein grosses Programm für weite Verhält¬
nisse wohl nicht hinein, da sie Gewerbezweige betreffen, welche trotz der zwei¬
fellos grossen Zahl der in ihnen beschäftigten Personen doch nur eine örtliche
Bedeutung besitzen, und die in ihnen zu Tage tretenden Schäden an der Hand
der Bestimmung zu 3 wohl abgewehrt werden können. Es müsste noch sonst
eine Anzahl anderer Industrie- bezw. Hausindustriezweige ebenfalls aufgeführt
werden, welche in gesundheitlicher Beziehung die gleiche Beachtung verdienen.
So giebt es in des Referenten Gegend nur unerheblichen Ziegeleibetrieb und so
gut wie gar keine Cigarrenfabrikation als Hausindustrie, während daselbst aus¬
gebreitete Hausweberei und Glasschleiferei angetroffen werden. — Im Uebrigen
verweist Referent auch hierzu auf das am Schlüsse seines vorhergehenden Re¬
ferats über den Artikel von Stübben Ausgeführte. Ders.
Besprechungen
Zeitschrift für Hypnotismus, Suggestionstherapie, Suggestions¬
lehre und verwandte psychologische Forschungen. Herausgegeben von
Prof. Dr. Bernbeim (Nancy), Prof. Dr. Danilewski (Charkow), Prof. Dclboeuf
(Lüttich), Dr. Max Dessoir (Berlin), Dr. van Eeeden (Amsterdam), Prof.
A. Fore 1 (Zürich), Dr. Sigm. Freud (Wien), Dr. J. Gr ossm a nn (Könitz Wp.),
Prof. Dr. Hirt (Breslau), Dr. A. de Jong (Haag), Dr. Liöbeault (Nancy 1,
Dr. P. J. Moebius (Leipzig), Dr. Albert Moll (Berlin), Prof. Morseil,
(Genua), Dr. vanRentherghem (Amsterdam), Prof. Dr. Rosenbach (Breslau),
Dr. Frh. v. Schrenck-Notzing (München), Dr. Sperling (Berlin), Dr.
Besprechungen.
B71
Lloyd-Tuckey (London), Dr. 0. Wetterstrand (Stockholm), unter Mit¬
wirkung einer weiteren Reihe mit Namen angeführter Gelehrter; redigirt von
Dr. J. Grossmann (Könitz Westpr.). Berlin 1892/93. Verlag von Hermann
Brieger. I. Jahrgang. — Jeden Monat ein Heft in 8°. Erstes Heft im
Oktober 1892 erschienen. Jetzt 10 Hefte mit 354 Seiten.
Vorbemerkungen: Welch’ eine kurze Spanne Zeit, seitdem die
ersten Suggestionsversuche der Nancyer Schule (Liöbeault, Bernhein u. a.)
weiteren Kreisen bekannt wurden, und welche Verbreitung und therapeutische
Verwerthung hat, wie die Gegner sagen, der Suggestionsunfug, oder wie die
Anhänger verkünden, die Suggestionslehre als neue Wissenschaft gefunden! Noch
vor wenigen Jahren gehörte es in psychiatrischen und neurologischen Kreisen
zum guten Ton „die französischen Komödien" vornehm zu ignoriren, heut zu
Tage reihen sich dem Schweizer Vorkämpfer der Suggestionslehre Forel schon
ein v. Krafft-Ebing und andere hervorragende Irren- und Nervenärzte an.
Jedenfalls kann man, wie Wundt in seinen philosophischen Studien bemerkt,
jetzt an diesen Dingen nicht mehr schweigend Vorbeigehen, sondern muss zu
ihnen Stellung nehmen.
Ist denn die Suggestion wirklich so etwas Neues? So lange es Menschen
giebt, hat die Macht der Vorstellung — und das ist doch Suggestion — im
Einzeldasein und im Leben der Völker ihre entscheidende Rolle gespielt Jahr¬
hunderte hindurch sehen wir suggerirte Einzel Vorstellungen das Geistesleben
ganzer Völkerschaften dominiren, oft (Hexenglaube u. A.) ihren vernichtenden
Einfluss ausüben, aber auch zum Heilmittel von mancherlei Schäden im Volks¬
leben werden. Und im Einzelleben? Früher wie heute snggerirt das tröstende
Mutterwort dem Kinde beruhigende Vorstellungen, früher wie heute bringt der
psychische Einfluss des Arztes dem Kranken so oft die beste Linderung und
glättet das Wort des Priesters die Wogen der Seelenangst gläubiger Gemüther!
Ohne Weiteres muss auch die Heilwirkung des psychischen Einflusses bei
bestimmten krankhaften Zuständen zugegeben werden. Das lehrt ja seit
Menschengedenken die alltägliche Erfahrung (Heilungen durch sympathetische
Kuren, Besprechen; durch religiöse Vorstellungen, durch Homöopathie und
manche alleopathische Kuren, durch Geheimmittel und vieles Andere).
Was giebt denn nun der eingeredeten Vorstellung im Einzelfalle diese
Kraft? Vertrauen und Glauben des zu beeinflussenden Individiums an die
Macht der beeinflussenden Persönlichkeit! Nun wissen wir aber, dass dieses
Vertrauen oder der Glaube an das In-Wirklichkeit-Treten einer Versicherung
— und dieses Vertrauen nennen wir heute die Suggestibilität einer Persönlich¬
keit — also wir wissen, dass die Suggestibilität um so stärker ist, jemehr der
Beeinflussende der Versuchsperson oder dem Kranken zu imponiren vermag, und
je geringer die psychische Energie des zu Beeinflussenden ist.
Bei jeder Psychotherapie spielen also die Persönlichkeit des Psychothera¬
peuten und die Suggestibilität des Kranken, also ein psychisches Abhängigkeits-
verhältniss des Letzteren von Ersterem die Hauptrollen; und der Erfolg jeder
Psychotherapie — und Aehnliches lehrt ja auch die Nancyer Schule — wird
davon abhängen, ob der Suggcrircnde die Kunst besitzt, die Suggestibilität bei
seinem Kranken zu wecken.
Frühere Psychotherapeuten suchten Letzteres dadurch zu erreichen, dass
sie bona oder mala fide ihre Persönlichkeit mit dem Nimbus besonderer geheim-
nissvoller Kräfte auszustatten suchten. Die Geschichte des Mesmerismus und
Occultismus giebt hierfür genügende Belege. Die Mehrzahl der heutigen Psycho¬
therapeuten verzichtet aber auf diesen Kunstgriff. Sie sucht die Wirkung ihrer
Manipulationen dadurch zu erhöhen, dass sie die psychische Widerstandsfähigkeit
des zu Behandelnden künstlich möglichst tief herabsetzt. Dies wird bekanntlich
dadurch erreicht, dass durch Fixirung der Geistesthätigkeit auf einen bestimmten
Sinneseindruck und durch Suggestion künstlich ein schlafähnlicher Zustand, die
Hypnose, erzeugt wird. Hypnose bedingt eine vorübergehende partielle Lähmung
der Hirnthätigkeit, eine Bewusstseinshemmung. In diesem immerhin krankhaften
Zustand der Grosshirnrinde sind die der zu suggerirenden Vorstellung entgegen
wirkenden Neben- oder Hemmungsvorstellungen paralysirt, während die Receptions-
centra weiter funktioniren. Die eingeredeten Vorstellungsgruppeu werden also
aufgenommen, centri-sc. psychopetal weiter geleitet, ohne Korrektion als Gedächt-
nissbild in der Hirnrinde deponirt, und können nun zu Willensimpulsen werden
Besprechungen.
572
und auch noch nach dem Erwachen des Kranken aus der Hypnose dem Be¬
wusstsein dauernd ein<?ereiht verbleiben. —
Bei solcher Auffassung können wir ein sich von magnetischen oder tele¬
pathischen Vorspiegelungen frei haltendes Suergeriren immerhin als eine wissen¬
schaftliche Untersuchungsmethode gelten lassen: und wenn man nun die ’rei
solchen psychologischen Experimenten gewonnenen Resultate therapeutisch zu
verwerthen sucht, so kann man auch vom wissenschaftlichen Standpunkt eigent¬
lich gegen diese Versuche nichts Stichhaltiges einwenden; und man wird scfa.n
als Arzt der ganzen Sache um so aufmerksamer näher treten, je verblüffender
viele durch diese Methode erzielten, nicht anznzweifeluden Heilresultate bei
gewissen Krankheiten sind. — Geradezu nothwendig ist aber dem Geriehtsarzt
eine eingehende Kenntnissnahme des wirklich Thatsüehlichen und der neuesten
Veröffentlichungen auf dem Gebiete der Hypnose und Suggestion. Bewus^ts* ins-
zustände, wie sie durch hypnotische Manipulationen erzeugt werden kennen,
haben eine grosse strafrechtliche Bedeutung: und letztere hat auch sehen in
vielgenannten Arbeiten von Juristen (Liegeois, v. Li li enthalt und von
Aerzten (z. B. Forel, der Hypnotismus, seine psycho-physiologische, medizinische,
strafrechtliche Bedeutung und Handhabung. Stuttgart 1*91. 2. Auflage; ihre
gebührende Beachtung gefunden. — —
Die neue Zeitschrift für Hypnotismus und Suggestionslehre, welche in der
Revue de 1’ hypnotisme eine in Belgien geborene, schon 6 Jahre alte Schwester
besitzt, will nun dem Hypnotismus als Experiincutalpsychologie und der Sug¬
gestion als psychischem Heilverfahren in der Medizin eine Gasse bahnen.
Im scharfen Gegensatz zu rharcot und seiner Schule, die in der Hyp¬
nose nichts weiter, als die Erscheinungsform eines psychopathischen Zustandes
der Hysterie, erblickt, sollen wir Hypnotismus als eine besondere, zwischen
Psychiatrie und Gehirnphysiologie stellende Disziplin ansehen. „Da wir ferner
mit der Suggestion, durch sog. psychische Einwirkung, das Gehirn des Hypnoti-
sirten und durch dasselbe einen grossen Theil der Funktionen seines übrigen
Körpers (Bewegung, Ausscheidung, Gefässinnervation, wie z. B. Verdauung,
Menstruation etc.), sowie alle sensiblen oder cerebropetalen (psychopetalen»
Funktionen beeinflussen können, so gehört der Hypnotismus eben so sehr zur
Nervenphysiologie. Da wir aber in der SuggestionsmethoJe eine bedeutende, in
ihrer Tragweite noch lange nicht genügend erfasste Heilmethode besitzen, ge¬
hört der Hypnotismus ebenfalls und in hohem Masse zur Therapie und somit
zur praktischen Medizin.“ S. 76 d. Z.
Das ist der Kern, der wohl als Programm für die neue Zeitschrift anzu¬
sprechenden Arbeit Forel’s: „Suggestionslehre und Wissenschaft* 4
welche na der Spitze des ersten Heftes steht und sich durch das zweite und
dritte Heft fortsetzt. Es folgt im ersten Heft dann ein Beitrag Liebeaults:
„Hypnotismus oder Suggestionstherapie“, welcher uns die von
dem Verfasser beim Hypnotisiren angewandten Methoden mittheilt. Lie-
beault benutzt neben der Fixirnng der Geistesthätigkeiten durch den Ge¬
sichtssinn hauptsächlich die psychische Infektion, also das Beispiel. Er hyp-
notisirt immer mehrere Personen zugleich, bringt also seine Klienten ge-
wissermassen in eine hypnotische Atmosphäre und unterstützt die psychische
Infektion durch Verbalsuggestion: „Schlafen Sie etc. u — Dann giebt Wetter¬
strand-Stockholm eine Anweisung zur therapeutischen Verwendung „des
künstlich verlängerten Schlafes“. Der Verfasser theilt fünf Fälle
mit: Neuralgien mit hysterischen Cerebralerscheinungen, abnorme Menstrual¬
blutungen mit hysterischen Konvulsionen, zwei Fälle von einfacher Hystero-
epilepsie und einen Fall von idiopathischer Epilepsie, welche er durch artifiziellen,
Tage und Wochen hindurch ohne wesentliche Unterbrechungen (nur Nahrungs¬
aufnahme etc.) verlängerten Schlaf geheilt, resp. gebessert haben will.
Nachdem dann noch ein kurzer Bericht (Sperling-Berlin) über den
internationalen Kongress für experimentelle Psychologie in London gebracht ist,
schliesst das erste Heft mit zwei Referaten und kleineren Mittheilungen.
So setzt sich auch der Inhalt der weiteren neun Hefte aus < >riginalartikeln
medizinisch-psychologischen Inhaltes, Abhandlungen über Methoden und Erfolge
verschiedener auf dem Titelblatt genannter Psychotherapeuten, Angaben über
die verschiedenste therapeutische Verwendung der Hypnose und aus Referaten
über die einschlagende Literatur zusammen. Von hervorragenden Aufsätzen
Besprechungen.
573
mehr psychologischen Inhaltes nennen wir eine weitere, sich durch fttnf Hefte
erstreckende Arbeit Li6beault’s: „Streifzüge in das Gebiet der pas-
siven Zustände, des Schlafes und der Träume", Delboeuf’s:
„psychologische Betrachtungen über den Hypnotismus, gele¬
gentlich eines durch Suggestion geheilten Falles von Mord¬
manie" und Prof. W. Eoch’s: Beiträge zur physiologischen Er¬
klärung der Suggestionswirkung. Letzteres ist mehr ein medizinisch¬
philosophischer Essai, welcher die Suggestionswirkung aus der Analogie verschie¬
dener physiologischer Vorgänge, die durch psychische Reize aasgelöst werden, zu er¬
klären, resp. plausibel zu machen sucht. — Es haben derartige theoretische
Spekulationen und Raisonnements, welche wir auch bei einer Reihe anderer Auf¬
sätze mit in den Kauf nehmen müssen, aber für uns ein zu geringes Interesse
und liegen unserem Denken auch zu fern, als dass wir auf das in der bezeich-
neten Richtung Gebotene hier weiter eingehen möchten. Nur einiger Be¬
merkungen Sigm. Freud’s (Wien) über die Entstehung hysterischer Symp¬
tome durch den Gegenwillen möchten wir erwähnen, die an einen Fall von hyp¬
notischer Heilung hysterischer Laktationsbeschwerden geknüpft werden. Freud
legt Gewicht anf die Kontrastvorstellungen, die bei dem Neurastheniker mit dem
Willensakt zu einem Bewusstseinsakt verbunden sind und dadurch die die
cerebrale Neurasthenie charakterisirende Willensschwäche erzeugen. Bei der
Hysterie besteht die Kontrastvorstellung als gesonderte Vorstellung weiter.
Diese im normalen Zustand beim Denkprozess gehemmte Nebenvorstellung wird
nun bei den hysterischen Symptomen, wenn es zur Ausführung des Vorsatzes
kommen soll, mit derselben Leichtigkeit durch Innervation des Körpers objekti-
virt, wie im normalen Zustand die Willensvorstellung. Die Kontrastvorstellung
etablirt sich als Gegenwille. Daran werden schöne Bemerkungen über Tic convulsif,
Koprolalie, Echolalie etc. geknüpft. Es ist eine sehr lesenswerthe, geistreiche
Arbeit.
Aber uns interessirt mehr das Thatsächliche; und deshalb wollen wir
unsere weitere Aufmerksamkeit nur noch den Aufsätzen der Suggestionstherapie
zuwenden.
Da ist denn zuerst eine vom 4. bis 8. Heft reichende Arbeit eines Arztes
in Baden-Baden, des Dr. von Cörval zu erwähnen Der Genannte giebt unter
dem Titel „Suggestiv-Therapie“ zuerst eine mit vielen praktischen Winken
versehene Anweisung zu hypnotisiren, redet unter Anderem auch der gleich¬
zeitigen Anwendung minimaler Mengen der verschiedensten Narcotica (vergl.
auch die Studie Dr. v. Schrenks: Die Bedeutung der Narcotica für die Hypnose
mit besonderer Berücksichtigung des indischen Hanfes) zur Begünstigung der
raschen Aufnahme von Suggestionen das Wort und versucht dann eine Zu¬
sammenstellung der Krankheitszuständc, bei denen Suggestion Heilung bezw.
Besserung gebracht hat. Dass hierbei als eigentlichste Domäne der hypnotischen
Suggestivbehandlung die funktionellen Neurosen obenan zu stehen kommen,
dass traumatische, Schreck- und Beschäftigungsneurosen nicht selten bei dieser
Behandlung in kurzer Zeit dauernd beseitigt oder mindestens Behr günstig beein¬
flusst werden, ist wohl sicher. Bei Chorea, Paralysis agitans und selbst bei der
Behandlung des Stotterns lauten die Urtheile indess noch sehr verschieden, und
auch in Bezug auf Neurasthenie und Hysterie gehen die Ansichten noch ziemlich
auseinander. Durch Gewohnheit erworbene Perversitäten (konträre
Sexualempfindung und andere sexuelle Psychopathien) werden entschieden (Moll,
v. Krafft-Ebing) günstig beeinflusst. Psychische Erkrankungen ernsterer
Art — und zu demselben Ausspruch kommt auch der kompetente Beurtheiler
Forel in seinem im 10. Hefte abgedruckten Aufsatze „Suggestion und Geistes¬
störung“ — eignen sich aus leicht verständlichen Gründen nicht zur Suggestiv¬
behandlung. Alkoholismus wird günstig, Morphinismus sehr wenig beeinflusst.
Bei Neuralgien aller Art, vor allem bei der Trigeminusneuralgie werden zum
Theil sehr glänzende Resultate gemeldet, oft soll aber auch gar nichts erreicht
werden. Die Erklärung hierfür liegt ja nahe. Auch Schlaflosigkeit, besonders
die aus psychischen Ursachen, giebt der Psychotherapie (Trost!!) ein günstiges
Arbeitsfeld. Ebenso scheint die psychische Behandlung mancher Ernährungs¬
störungen (Chlorose) und deren Ursachen (nervöse Dispepsie, Diarrhöen, Ver¬
stopfungen, Menstruationsanomalien) eine äusserst dankbare zu sein. —
Praktisch wichtig ist ferner die Thatsache, dass es bei etwas tiefer Hyp¬
nose gelingt, vollständige Gefühllosigkeit an einer bestimmten Körperstelle oder
574
Tagesnachrichten.
allgemeine Anaesthesie zu erzeugen. Diese Erfahrung ist schon oft bei Ope¬
rationen und in neuester Zeit auch bei dem Geburtsakt verwerthet. Die neue
Zeitschrift bringt uns auch hierzu Belege. So finden wir die Mittheilungen zweier
Geburten (v. Schrenk-Notzing und Dr. T a t z e 1 - Essen), die in der Hypnose
schmerzlos und zum Theil mit Amnesie des ganzeu Vorgangs verliefen; und
van Rentherghem tkeilt einen Fall mit, in welchem die Operation eines
kompleten alten Dammrisses bei einer Dame, die wegen eines Herzfehlers nicht
chloroformirt werden durfte, unter dem Einfluss der Suggestion ohne Hypnose,
— d. h. also durch Trost - zu - sprechen — fast schmerzlos verlief.
Unter den Referaten, die bekannte Werke von Moll, Schmidtkunz,
Forel, v, Schrenk-Notzing und v. Kraft-Ebing berücksichtigen, ist
der vom 3. bis zum 10. Heft reichende und noch nicht abgeschlossene Literatur¬
bericht Moll’s hervorzuheben. Moll giebt in der aus seinen übrigen Arbeiten
bekannten fleissigen und sorgfältigen Weise eine sehr übersichtliche Zusammen¬
stellung der wichtigsten Erscheinungen auf dem Gebiete der hypnotischen
Literatur. Dieselbe beginnt mit James Braid, der zuerst nachwies, dass die
vorher magnetischen Einflüssen zugeschriebenen Wirkungen einfach auf die
Fixirung der Aufmerksamkeit zurückgeführt werden könnten, und reicht bis zu
den allerneuesten Arbeiten des einschlägigen Gebietes. Wer sich rasch in der
modernen Suggestiv - Literatur zurecht Anden will, der mag neben der Biblio¬
graphie von Dessoir diesen Literaturbericht zur Hand nehmen. —
Ob die Anhänger der neuen und doch schon uralten therapeutischen
Methode durchdringen, und die Zahl ihrer Gegner nun kleiner werden wird,
ob sich die Suggestivtherapie gerade so Bahn brechen wird, wie Hydro - Elektro¬
therapie und Aehnliches, wer vermag es heute, wo der Streit für und wider
noch laut erschallt, schon zu sagen. Die neue Zeitschrift steckt ja die Grenzen,
welche den psychotherapeutischen Versuchen doch wohl immer gezogen bleiben,
sehr weit!! Sie erklärt das Heilverfahren für ein ganz ungefährliches, dem die
Zukunft gehören wird. Uns liegt, wie schon oben angedeutet wurde, die Pflicht
ob, auf die strafrechtliche Bedeutung des Hypnotismus unsere besondere Auf¬
merksamkeit zu richten, und das soll vielleicht demnächst geschehen.
Nachtrag. Seit der Absendnng des Referats über „Hypnotismus
und Suggestionslehre“ sind das 11. und 12. Heft der Zeitschrift, Seite 355
bis 437 erschienen, und damit hat der erste Jahrgang seinen Abschlncs erreicht.
Das 11. Heft, in welchem auch Moll’s Literaturbericht zu Ende geführt wird,
beginnt mit einer Arbeit des Redakteurs J. Grossmaun, welche den Hauptinhalt
dieses und des zwölften Heftes ausmacht. Unter dem Titel „Die Suggestion,
speziell die hypnotische Suggestion, ihr Wesen und ihr Heil¬
werth“ will der Verfasser an der Hand allbekannter psychologischer Erfahrungs-
sätze ein weiteres Verständniss für das Wesen und die Wirkung der Suggestion
anzubahnen suchen. Für Suggestion; denn er bekennt sich rückhaltlos zu dem
Grundsatz Delboeufs: „II n’ya pas d’hypnotisme, il n’ya que de la Suggestion“.
Die Arbeit, welche später in Buchform erscheinen soll, ist als eine Ant¬
wort auf die Angriffe zu betrachten, welche die Suggestionstherapie jüngst wieder
von einflussreichster Seite — Mendel, Strümpell, Virchow u. A. — er¬
fahren hat. Wir kommen zu geeigneter Zeit auf die Darstellungen Gross-
mann’s und auf den ganzen Gegeustand zurück. Dr. Kühn-Uslar.
Tagesnachrichten.
Dem Bundesrathe ist der Gesetzentwurf betreffend die Bekämpfung
gemeingefährlicher Krankheiten wiederum zugegangen. Derselbe stimmt
im Wesentlichen mit dem bereits in der vorletzten Session dem Reichstage vor¬
gelegten Entwürfe überein; es ist nur der §. 9 fortgelassen, durch den die un¬
verzügliche öffentliche Bekanntmachung der Erkrankungen und Todesfälle beim
Ausbruch einer der in dem Entwurf genannten Krankheiten in einer Ortschaft
vorgeschrieben war.
Es scheint überhaupt, als ob man an zuständiger Stelle nicht mehr das
bisherige Verfahren der sofortigen täglichen Bekanntmachung aller Erkrankungs-
Tagesaachrichten.
676
fälle durch den Reichaanzeiger als angezeigt und zweckmässig hält, wie aus der
nachstehenden Bekanntmachung des Reichsanzeigers hervorgeht:
„Dem energischen Eingreifen der Behörden ist es gelungen, die Cholera
überall, wo sie sich zeigte, und auch in den von der Krankheit heimgesuchten
Orten so erfolgreich zu bekämpfen, dass jetzt nur noch ganz vereinzelt neue
Fälle Vorkommen. Die letzteren haben, wie die Verhältnisse in Deutschland zur
Zeit liegen, ein unmittelbares Interesse für weitere Kreise nicht mehr in dem
Masse, dass es erforderlich erschiene, weiterhin noch täglich an dieser Stelle
darüber zu berichten. Gemäss einem Beschlüsse der im Kaiserlichen Ge¬
sundheitsamt gebildeten Cholera-Kommission werden daher von jetzt ab nur
zweimal in der Woche und später jede Woche einmal Mittheilungen über die
etwa neu vorgekommenen Cholerafälle hier veröffentlicht werden.“
Dass das rücksichtslose Veröffentlichen jedes einzelnen Cholerafalles beson¬
ders in industriellen Gegenden seine grossen Bedenken hat und die dadurch
hervorgerufene Schädigung von Handel und Verkehr in keinom Vergleich steht
zu dem Nutzen derartiger Bekanntmachungen, diese Ansicht ist bisher stets
von uns vertreten. Hoffentlich wird nun auch der für Prenssen gültige Ministerial¬
erlass vom 23. August d. J. Uber die öffentlichen Bekanntmachungen beim Aus¬
bruch von Cholera entsprechend abgeändert.
Ueber die Umgestaltung des Irrenwesens ist seitens der wissenschaft¬
lichen Deputation für das Medizinalwesen ein umfangreiches Gutachten ausge¬
arbeitet, in dem eine Verschärfung der Vorschriften über die Aufnahme von
Geisteskranken in die Irrenanstalten, sowie eine strengere Kontrole dieser An¬
stalten und die Errichtung von Besuchskommissionen, sowie eine Abänderung
der Bestimmungen der Civilprozessordnung über das Entmündigungsverfahren
(§. 595) vorgeschlagen sein soll. Augenblicklich finden kommissarische Be¬
rathungen unter den betheiligten Ministerien statt, denen dieses Gutachten zu
Grunde liegt. Würden dieselben zu einer Verschärfung der Aufnahme¬
bestimmungen führen, so könnte dies nur bedauert werden; die jetzigen Vor¬
schriften sind vollkommen ausreichend.
Dem Bundesrath ist ein Entwurf wegen Abänderung der Bestimmungen
über die Prüfungen der Thierärzte, Zahnärzte and Apotheker zugegangen.
Die Zulassung zur Prüfung der Thierärzte ist abhängig von dem Reifezeug-
niss für die Prima eines Gymnasiums, eines Realgymnasiums, einer Oberreal¬
schule oder einer als gleichstehend anerkannten Lehranstalt. Bei Oberreal¬
schul • Primanern ist der Nachweis zu führen, dass sie einen bis einschliesslich
Quarta reichenden Lateinkursus einer höheren Lehranstalt durchgemacht oder
die entsprechenden Kenntnisse im Latein sich angeeignet haben. Für Zahn¬
ärzte wird verlangt ein Reifezeugniss einer höheren Lehranstalt mit sechs¬
jährigem bezw. für die Obersekunda einer höheren Lehranstalt mit neunjährigem
Lehrgang, sowie Nachweis von lateinischen Vorkenntnissen. Die Zulassung von
Apothekern wird bedingt durch den Nachweis des wissenschaftlichen Be¬
rechtigungszeugnisses für den einjährig - freiwilligen Militärdienst und der Kennt¬
nisse im Latein. Danach würde ein Apotheker im Latein nur noch die Kennt¬
nisse eines Quartaners (!!) nöthig haben.
Der in diesem Jahre wegen der Cholera verschobene XI. internationale
medizinische Kongress soll nnnmehr vom 29. März bis 5. April 1894 in
Rom abgehalten werden. _
Die Cholera hat in Deutschland während der letzten Wochen in den
noch infizirten Flussgebieten glücklicher Weise keine weitere Ausbreitung ge¬
nommen, sondern es ist im Gegentheil überall eine Abnahme zu verzeichnen.
Im Memelgebiete sind in der Zeit vom 27. Oktober bis 9. November
9 Erkrankungen und 2 Todesfälle vorgekommen; davon & in Tilsit; ausserdem
2 Erkrankungen in Labiau am kurischen Haff.
576
Tagesnachrichteö.
Im 0 d e r gebiet betrag während derselben Zeit die Zahl der Erkrankungen
und Todesfälle 38 (12), davon in Stettin 8 (2), im Kreise Randow 13 (3) [in
Warnow 4 (1), Pölitz 2, Grabow a. 0. 3 (2), Stöwen 2, Gartz a. 0. 1, Kratzwieck
1], im Kreise Kammin 5 (2) [in Stepenitz 3 (1), Neusalz a. 0. 2 (1)], in Wollin
4 (3), in Swinemttnde 1 (1) und in Neucnzell im Kreise Königsberg i. N. 1 (1),
in Niederfinow bei Angermünde 1 (1).
Im Havel- und Elbe gebiet stellte sich innerhalb desselben Zeitraumes
die Zahl der Cholera-Erkrankungen auf 39 mit 11 Todesfällen, davon entfielen auf
Zerpenschleuse 5, Havelberg 7 (3), Rathenow 1 (1), Potsdam 3 (1), Angermünde
3 (1), Berlin 1, Stendal 1, Hitzacker 1, Hamburg 4 (2), Altona 1 (1), Harburg
1 (1) und Landwehr (Nordostseekanal) 7.
In Oesterreich dauert der Rückgang der Cholera in Galizien an.
In der Woche vom 23. bis 31. Oktober sind nur noch 36 Erkrankungen mit 27
Todesfällen, in der Woche vom 1. bis 7. November 51 Erkrankungen mit 23
Todesfällen gemeldet, in 24 bezw. 20 Gemeinden und 12 politischen Bezirken.
Die meisten Erkrankungen kamen in den Bezirken Sanock (20 bezw. 5), Stanis-
lau (29 bezw. 17) vor. Ausserdem sind aus der Buckowina in der am Dniester-
flusse gelegenen Gemeinde Doroszoutz 4 Erkrankungen an Cholera und 1 Todes¬
fall gemeldet.
In Ungarn betrug die Zahl der Cholera - Erkrankungen in der Woche
vom 11.—17. Okt.: 274 mit 136 Todesfällen, in der Woche vom 18.—24. Okt.:
204 bezw. 126 in 72 Gemeinden und 23 Komitaten, davon in Budapest 34 (26),
in Klausenburg 7 (5), in den Komitaten Marmaros 63 (32), Torental 133 (73),
Pest - Kiskun 37 (22) und Zemplin 26 (17).
In Bosnien sind einem amtlichen Ausweise zu Folge vom 23. September
bis 13. Oktober 217 Erkrankungen an Cholera mit 107 Todesfällen angezeigt,
davon im Bezirk Brcka 54 bezw. 23.
In Rumänien betrug die Zahl der Erkrankungen vom 20.—29.Oktober
67 mit 34 Todesfällen, davon im Distrikt Braila 33 bezw. 19. In Konstanti¬
nopel scheint die Cholera noch immer ziemlich verbreitet zu sein; am 11. No¬
vember sind dort z. B. 23 Erkrankungen vorgekommen.
In Italien ist die Cholera im Erlöschen begriffen; Livorna und Patti
sind völlig cholerafrei, auch aus Palermo werden nur noch einige Cholera¬
fälle gemeldet.
Dasselbe gilt von Spanien. Die Zahl der Cholera-Erkrankungen betrug
hier in der verseuchten Provinz Biscaya vom 23.—29. Oktober nur noch 29 mit
26 Todesfällen, davon 21 bezw. 17 in Bilbao.
Auch in Frankreich scheint die Seuche allmählich in den noch von ihr
ergriffenen Departements zu erlöschen. In dem am meisten verseuchten Departe¬
ment Finistere sind vom 9.—26. Oktober 82 Personen der Krankheit erlegen,
davon 28 in Brest.
In England sind nur noch ganz vereinzelte Cholerafälle beobachtet;
in den Niederlanden vom 24.—30. Oktober 24 Erkrankungen und 13 Todes¬
fälle, besonders in den östlichen Landestheilen (Provinzen Drenthe, Oberyssel
und Groningen).
In Russland betrug die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle vom
24. Oktober bis 11. Novbr. in Petersburg 160 (88), in Moskau vom 17. Oktober
bis 4. Novbr. 12 (5); vom 16. Oktober bis 28. Oktbr.: in den Gouvernements
Grodno: 148 (47), Lomsha 639 (283), Petersburg 123 (38), Orel 256 (90), Podo-
lien 1126 (538), Moskau 82 (43), Tula 128 (43), Kiew 649 (249), Wolhynien 948
(388), Kursk 182 (92). Im Allgemeinen ist somit wohl eine Abnahme der Seuche
bemerkbar, aber doch noch nicht in erheblichem Maasse. Insonderheit scheint
die Cholera nach Westen zu in den polnischen Bezirken eher zu- als abzu¬
nehmen.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath in Minden i W.
J. C. C. Brnos, Buchdruckerei, Minden.
6. Jahrg.
Zeitschrift
tui’
1893.
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rath u. gerichtl. Stautphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in
und
Dr. WILH. SANDER
Medi/.inalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer's mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserat«, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlung^und Rad. Mosse
entgegen.
No. 23.
Kraeheint am 1. und 15. Jeden Monats.
Preis Jährlich 10 Mark.
1 .
Dezbr..
Epidemiologische Erfahrungen Uber Diphtherie.
Von Kreis - Phy9ikus Dr. Richter in Marienburg, früher in Gross-Wartenberg.
Ein Epidemiezug der Diphtherie durch den Kreis Gross-
Wartenberg während der Jahre 1890—1893 gab mir Veranlassung
zu folgenden Beobachtungen:
Im Herbste 1890 brach in W. eine schwere Diphtherie-
Epidemie aus. Auch eine Dame erkrankte nach ärztlichen Fest¬
stellungen an der Seuche und starb an den Folgen derselben.
Bald darauf erreichte die Epidemie ihren Höhepunkt. Im Publikum
wurde mehrfach die Ansicht laut, zu der grossen Ausbreitung der
Seuche hätten nicht oder nicht gehörig desinfizirt verschenkte
Effekten beigetragen, welche von der an Diphtherie verstorbenen
Dame herrührten und zum grossen Theil in den Besitz der am
meisten beschäftigten Hebamme in W. übergegangen waren.
Als ich im Winter 1890 nach W. kam, war die Diphtherie-
Epidemie im Erlöschen. Indessen kamen vereinzelte, zum Theil
tödlich endigende Fälle der Seuche in W. noch bis spät in das
Jahr 1891 hinein vor.
Während desselben Jahres wurden ferner einzelne, ebenfalls
theilweise tödlich ablaufende Fälle von Diphtherie an anderen
Orten des Kreises, nämlich zu Dm., Db., Kz. und T. festgestellt.
In Dm. und Db. wurden Kinder der im Schulhause wohnenden
Lehrer von der Seuche befallen. In Folge dessen fand eine zeit¬
weilige Schliessung und gründliche Desinfektion der betreffenden
Schulen statt. Zu einer Verbreitung der Seuche kam es nicht,
ob post hoc oder propter hoc bleibe dahingestellt.
Im März und April 1892 verdichtete sich die Seuche in T.
zu einer kleineren Epidemie, welche leider, da der Berichterstatter
verreist war, nicht genauer studirt wurde. Im Ganzen scheinen in
T. nach nachträglichen Feststellungen etwa 6—8 Erkrankungen
Vorgelegen zu haben.
578
Dr. Richter.
Einige Wochen später zog ein Arbeiter von T. nach F. N.,
dessen Kinder kurz zuvor „halsleidend“ gewesen waren. Im Juli
und August bis in den September 1892 hinein wüthete in F. N.
eine äusserst ausgebreitete Diphtherie - Epidemie, welche von im
Ganzen 887 Einwohnern innerhalb des genannten kurzen Zeit¬
raums 15 Opfer forderte. Im Beginn der Epidemie waren vielfach
bei Gelegenheit der Beerdigung von Diphtherie - Leichen Schmau¬
sereien in den Trauerhäusern unter Betheiligung von Kindern ab¬
gehalten worden.
Am 12. September reiste ein Mann aus dem verseuchten
F. N. nach dem seit vielen Monaten diphtheriefreien W. und
logirte für 3 Tage bei der Familie H. Am 20. September erkrankte
ein Kind der letzteren an einer schweren Halsentzündung. Dasselbe
kam in meine Behandlung: es fanden sich zusammenhängende,
schmutziggraue, die ganzen Mandeln beiderseits bedeckende Beläge,
welche sich später auch auf das Zäpfchen ausdelmten. Sofort
wurden alle Massregeln zur Verhütung einer Verschleppung der
Seuche getroffen, vor Allem das ältere H.’sche Schulkind vom
Schulbesuche ausgeschlossen. Am 8. Oktober erkrankte ein zweites
Kind der H.’schen Familie unter denselben Erscheinungen, wie
da9 erste. Beide Kinder genasen. Eine Verschleppung der Seuche
fand nicht statt.
Ferner trat die Diphtherie ziemlich gleichzeitig und zwar
sehr bald in grösserem Umfänge im Laufe der Monate September
und Oktober 1892 in N. und F. und deren Umgegenden auf, um
dann hier ihren nunmehrigen Hauptsitz aufzuschlagen und unter
zum Theil bedeutenden Opfern an Menschenleben, in F. bis spät
in das Frühjahr des Jahres 1893 hinein, zu behaupten.
In M. L. und Gr. C. traten um die Weihnachtszeit 1892
herum vereinzelte Fälle der Seuche, in Mg. und Fr. im Febr. 1893
eine kleinere Epidemie auf. Die letztere hielt sich ausschliess¬
lich an die evangelische Schule zu Mg., welche auch von Kindern
aus Fr. besucht wird, während die katholische Schule gänzlich
verschont blieb. Die Epidemie kam nach mehrtägiger Sperrung
der Schule zum Zwecke der Desinfektion derselben zum Erlöschen.
Endlich kamen im April 1893 noch vereinzelte Diphtheriefalle
in Sr. und Kl. C. vor. Später auch in Ts. und Nf.
Die beigegebene Karte soll den bisherigen Bericht erläutern
und ergänzen. An derselben dürfte Eins jedem unbefangenen Be¬
obachter auffallen, nämlich dass der mit schlechten Kommunikations¬
wegen versehene und daher sehr verkehrsarme äusserste Norden
des Kreises so gut, wie seuchenfrei geblieben ist. —
Was den Charakter der Epidemie aiilangt, so erklärten die
behandelnden Aerzte grösstentheils denselben bei rechtzeitiger
ärztlicher Pflege für verhältnissmässig gutartig. Herr Dr. W.
in N. hat von während der Epidemie im Ganzen 82 an Diphtherie
behandelten Kranken nur 18 durch den Tod verloren. Von diesen
letzteren kamen 9 zu spät, nämlich mit ausgebildeten Erstickungs¬
erseheinungen in seine Behandlung. Der Ausgang von G Fällen
blieb unbekannt.
Epidemiologische Erfahrungen über Diphtherie.
579
Ganz anders gestaltete sich der Genius epidemicus in F.,
nachdem das berüchtigte Noortwyck ’ sehe Kurpfuschermittel aus
Berlin, im Wesentlichen aus Alkohol, Kreosot und Birkentheer
bestehend, nach F. eingeschleppt worden war und vom Publikum
unter Vernachlässigung der ärztlichen Behandlung vielfach ange¬
wendet wurde. Nunmehr kamen viele der an Diphtherie erkrankten
Kinder erst 24 Stunden und noch kürzere Zeit vor dem Tode
mit zum Theil scheusslichen Rachenbelägen in die Behandlung
der Aerzte.
Ein Theil der behandelnden Aerzte erklärte es für eine auf¬
fallende Thatsache, dass die Seuche viel häufiger in solche Familien
einbrach, in welchen sich schulpflichtige Kinder befanden, als in
O Städte.
O Ortsch cr/'ten.
■ • epicle rutsch“ 1 Crbrei tun g.
© ei n z e ln o Fu Fe.
Chausseen
Eisen b<y./m
solche, in welchen schulpflichtige Kinder nicht vorhanden waren.
Einer der Aerzte schrieb mir einen Brief, in dem er die Schulen
in F. indirekt als Seuchenherde bezeichnete, „weil auffallender
Weise in seiner Praxis nur dort Erkrankungen an Diphtherie vor¬
kämen, wo schulpflichtige Kinder vorhanden wären und zwar ohne
Unterschied der sozialen Stellung der Eltern und der damit ver¬
schiedenen häuslichen hygienischen Massnahmen und Einrichtungen“.
Sowohl die Aerzte, als das Publikum, verlangten daher eine
Schliessung der Schulen.
Im Laufe der Epidemie von 1892/93 wurden im Ganzen vier
Schulschliessungen als Selbstzweck, d. h. nicht nur auf mehrere
Tage zum Zwecke einer Desinfektion der Schulen, sondern auf
längere Zeit nothwendig; die Wirkung derselben aber erschien,
580
Dr. Richter.
soweit der Schluss „propter hoc“ erlaubt ist, in der That in allen
Fällen als eine überraschende:
In F. N. fielen der Seuche während der Monate Juli und
August 1892 von insgesammt 887 Einwohnern 12 Kinder zum Opfer.
Unterm 28. August wurde die Schulschliessung verfügt und die
Schule gründlich desinfizirt. Dann starben noch bis in den Monat
September hinein 3 weitere an Diphtherie erkrankte Kinder. Darauf
aber erlosch die Seuche.
In 0. und Ch. — diese Ortschaften haben ihre gemeinsame
Schule in 0. — erlagen während der Monate September und Ok¬
tober 1892 von zusammen 635 Einwohnern 10 Kinder der Diph¬
therie. In 0. allein befiel während des genannten Zeitraums die
Seuche unter im Ganzen 463 Einwohnern 25 Kinder in 9 Familien.
Am 1. November wurde die Schliessung und Desinfektion der
Schule in 0. verfügt und erstere 14 Tage lang aufrecht erhalten,
worauf die Seuche für die Dauer erlosch.
In S. kamen unter 688 Einwohnern zu Ende Oktober und in
den ersten Tagen des November 1892 schnell hintereinander etwa
6—8 Erkrankungen mit 3 Todesfällen, zum Theil an Schulkindern
zur Beobachtung. Auf meinen Rath entschloss man sich unterm
6. November 1892 sogleich zu einer Schliessung der Schule für
14 Tage mit gründlicher Desinfektion derselben, da ich ein con-
pement der Seuche mittelst dieser Massregel in Aussicht stellte.
Zugleich erging eine Bekanntmachung im Kreisblatte, welche dazu
rieth, in mit Diphtheritis verseuchten Ortschaften den Verkehr der
Kinder auch ausserhalb der Schulen möglichst zu beschränken.
Darauf erlosch die Seuchfe in S.
In F. wurde wegen anhaltenden Ansteigens der Diphtherie-
Morbidität und - Mortalität — im Januar und Februar erlagen der
Seuche in F. von insgesammt 3335 Einwohnern ca. 12 Kinder und
zwar herrschte die Seuche wiederum ausschliesslich in der
evangelischen Schule, während die katholische zunächst seuchenfrei
blieb — unterm 4. März 1893 eine Schliessung der ersteren Schule
für einige Tage behufs gründlicher Desinfektion derselben ange¬
ordnet und vorgenommen. Alsbald fand eine sehr auffallende Ab¬
nahme der Seuche statt, denn in der Zeit vom 7. März bis 10. April
1893 kamen nur noch 2 weitere Diphtheriefälle in F. zur Kennt-
niss der wachsamen Behörden. Dann aber flackerte die Seuche
plötzlich wieder auf. Vom 18. bis 26. April wurden 6 Neu¬
erkrankungen mit 2 Todesfällen au Diphtherie aus F. bekannt.
Nunmehr liess sich feststellen, dass die Seuche auch in die katho¬
lische Schule ihren Einzug gehalten hatte. Die Schulen wurden
daher beide geschlossen und sorgfältig desinfizirt. Danach konnten
die Schulen am 26. Mai wieder eröffnet werden. Seitdem wurde
nichts mehr von Diphtherie in F. wahrgenommen.
Soweit in Kürze meine Beobachtungen. Die Schlüsse, welche
ich aus denselben ziehe, sind Folgende:
1. Nicht oder nicht genügend desinfizirte Effekten von
Diphtherie-Kranken sind als äusserst gefährliche, der Verschleppung
der Seuche in ganz hervorragendem Masse dienende Vehikel anzu-
Epidemiologische Erfahrungen Aber Diphtherie.
581
sehen. Die im grossen Publikum sich Bahn brechende Empfindung
hierfür ist zu nähren und ihr durch strenge Ueberwachung des
Verkehrs mit solchen Effekten und gründliche Desinfektion der¬
selben in strömendem Wasserdampf Rechnung zu tragen.
2. Auch vereinzelten Fällen von Diphtherie muss andauernd
die ganze Aufmerksamkeit der Behörden gewidmet werden, da
dieselben unter für die Entwickelung der Seuche günstigen Um¬
ständen, z. B. sobald dieselbe sich in einer Schule einnistet, zu
kleineren oder grösseren Epidemien sich verdichten und den Aus¬
gangspunkt für grössere Seuchenzüge abgeben können, wie der
Verlauf der Epidemie vom Jahre 1892/93 im Kreise Gross-War¬
tenberg gezeigt hat. Die Pflichten der Behörden haben sich hier¬
bei zu erstrecken:
a. Auf eine strenge Aufsicht über die Anzeigepflicht der Aerzte
und der übrigen nach Massgabe der bestehenden Vor¬
schriften zur Anzeige des Ausbruchs ansteckender Krank¬
heiten verpflichteten Personen.
b. Auf die jedesmalige Feststellung wenigstens der ersten
Fälle der Seuche an jedem einzelnen betroffenen Orte des
Kreises nach Massgabe der Min.-Verfügung vom 23. April
1884. Die ärztliche Feststellung allein genügt keines¬
falls, soll vielmehr nur als Grundlage für die weitere
Untersuchung und Begutachtung der Sachlage von Gesichts¬
punkten der Staatsgesundheitspflege dienen, welche den
praktischen Arzt direkt nichts angeht. Der praktische
Arzt ist weder verpflichtet, noch berechtigt, den Behörden
massgebende Vorschläge gegen die Verbreitung anstecken¬
der Krankheiten zu machen.
c. Auf die strenge Durchführung der von dem Kreismedizinal-
Beamten vorgeschlagenen Massregeln. Entstehen Zweifel
über die Zweckmässigkeit und Berechtigung derselben,
so sind sie gleichwohl bis zur Entscheidung durch höhere
Instanzen und event. unter Vorbehalt von Regressansprüchen
an den Kreismedizinalbeamten durchzuführen.
3. Die Art der Verschleppung der Seuche von T. nach F.-
N. legt den Gedanken nahe, dass die leichtesten Fälle von Diph¬
therie, gerade wie bei der Cholera, bezüglich der Verbreitung der
Krankheit die gefährlichsten sind, dass also in Zeiten von Diph¬
therie-Epidemien den Anginen mit geringen Belägen u. s. w. die¬
selbe Aufmerksamkeit zuzuwenden ist, wie den schon dem Laien
als Diphtherie imponirenden schweren Erkrankungsfällen.
4. Die Diphtherie ist eine wahrscheinlich rein kontagionisti-
sche Krankheit. Wären die Kinder des Stellmachers H. in W.
nicht sogleich in ärztliche Behandlung gekommen, wäre nicht Alles
geschehen, um die Ausbreitung der Seuche zu verhüten, wäre
z. B. das nicht erkrankte Schulkind der Familie nicht strenge von
den erkrankten Kindern isolirt gehalten worden, hätte es sich in-
fizirt und die Schule bis zum oder gar bis einige Zeit nach dem
Ausbruche der Krankheit bei ihm selbst besucht, wie dies so
unendlich häufig geschieht, so lag die Gefahr nahe, dass wir in
582
Dr. Richter.
W. im Jahre 1892 eine zweite, nicht minder schwere Diph¬
therie-Epidemie erlebten, als im Jahre 1890. Hätte es dann aus
irgend einem Grunde der Kenntniss sich entzogen, dass ein aus
dem durch und durch mit Diphtherie verseuchten F. N. zugereister
Mann sich einige Tage lang im H.’schen Hause aufhielt und mit
den H.’schen Kindern in innige Berührung kam, so wäre der Ur¬
sprung dieser zweiten Epidemie in völliges Dunkel gehüllt geblieben.
Eben so gut nun wie nach W. kann die Seuche auch
nach N. und F. und den übrigen Orten, in welchen sie auftrat,
durch den menschlichen Verkehr allein verschleppt worden sein.
Wie wäre sonst das fast absolute Freibleiben des chausseenlosen
nördlichsten Theiles des Kreises erklärbar? Es ist eben nur selten
möglich und stets mehr oder weniger vom Zufalle abhängig, die
Fäden aufzufinden, welche die einzelnen Fälle und die einzelnen
Seuchenherde mit einander verbinden. Der menschliche Verkehr
geht auch unter den scheinbar einfachsten Kulturverhältnissen
noch auf so verschlungenen Pfaden vor sich, dass es unmöglich
ist, ihm überall hin in’s Einzelne zu folgen. Die sich mehrenden,
zum Theil einwandsfreien Beobachtungen, in welchen es hin und
her gelingt, ihm nachzuspüren, sprechen aber mit so lauter Stimme
dafür, dass auch die Diphtherie eine Verkehrskrankheit in be¬
schränkten Grenzen ist, dass wir nicht nöthig haben, mystische
Hypothesen anderer Art für die Erklärung ihrer Verbreitung her- .
anzuziehen. Wenn die Diphtherie trotz ihrer grossen Ansteckungs-
faliigkeit eine mehr lokale Verkehrskrankheit ist, so erklärt sich
dies leicht durch die Bevorzugung des Kindesalters, welche die
Seuche verfolgt. Kinder aber stehen überall in mehr oder weniger
lokal begrenztem Verkehr unter einander.
5. Die Epidemie hat ferner die längst bekannte Thatsache
bestätigt, dass eine frühzeitige Allgemeinbehandlung der an Diph¬
therie Erkrankten das Sterblichkeits-Verhältniss günstig beein¬
flusst. Der trostlose Satz: „Die leichten Fälle kommen durch,
die schweren sterben“, ist wenigstens für die Praxis ausserhalb
der Krankenhäuser mit grossen Einschränkungen zu verstehen, da
man hier oft sehr verzweifelte Fälle schliesslich doch noch durch¬
kommen sieht, welche in vielen unserer Krankenhäuser in Folge
der mangelhaften hygienischen Verhältnisse derselben verloren
wären.
6. Die Schulen stellen die Hauptseuchenherde der Diphtherie
dar und zwar so, dass durch bereits infizirte oder noch nicht völlig
ansteckungstreie Kinder, welche die Schulen besuchen, der An¬
steckungsstoff immer von Neuem in die Schulen hineingeschleppt
und hier geradezu aufgestapelt wird. Eine gründliche Desin¬
fektion der Schulen kann daher eine Abnahme oder sogar ein Er¬
löschen der Seuche bewirken. Eine einigermassen sichere Wirkung
aber darf man sich bei einiger Ausbreitung der Seuche nur von
einer zeitweiligen Sperrung der Schulen versprechen, welcher jedes
Mal die gründliche Desinfektion derselben zu folgen hat.
Hiernach schlage ich den Kollegen in Ermangelung eines
Epidemiologische Erfahrungen über Diphtherie.
583
Seuchengesetzes folgende Abwehrmassregeln in Fällen von Diph¬
therie-Epidemien in ihren Kreisen vor:
1. Die Anzeigepflicht ist den Aerzten durch unentgeltliche
Lieferung vorgedruckter Meldekarten aus Kreismitteln zu er¬
leichtern.
2. Die Aufmerksamkeit der Lehrer ist auf die Seuche hin¬
zulenken. Dieselben sind strengstens anzuweisen, alle „halskranken“
Kinder zur Zeit der Epidemie sofort und für so lange vom Besuche
der Schule auszuschliessen, bis dieselben durch ärztliches Zeugniss
den Nachweis liefern, dass sie entweder nicht an Diphtherie leiden
und gelitten haben, oder dass mindestens vierzehn Tage nach dem
Verschwinden der Beläge verflossen sind. Bringen dieselben ein
solches Attest nicht bei, so sind vier volle Wochen auf den Ab¬
lauf der Krankheit anzurechnen und die Kinder nicht eher zu¬
zulassen.
3. Kommen auf dem Lande und in kleinen Städten schnell
hintereinander bei Kindern derselben Schulen und deren nicht
schulpflichtigen Hausgenossen mehrfach verdächtige Fälle von Hals¬
oder Nasenentzündung, etwa mit tödtlichem Ausgange vor und
wird bei einem oder dem andern der Kinder eine diphtheritische
Erkrankung (wozu auch der sogen. Croup zu rechnen) festgestellt,
so sind die ganzen Schulen bezw. bei grösseren Schuletablisse¬
ments die befallenen Klassen ungesäumt zu schliessen und gründ¬
lich zu desinfiziren. Im Allgemeinen dürfte es nach meinen
Erfahrungen genügen, die Sperren vierzehn Tage bis drei Wochen
lang aufrecht zu erhalten.
Einer so mörderischen Krankheit gegenüber, wie der Diph¬
therie, sind die energischsten Schutzmassregeln am Platze und
müssen alle anderen Rücksichten schweigen. Ist aber die Diph¬
therie erst einmal in eine Schule oder Klasse eingebrochen, so
besteht nach meinen Erfahrungen die äusserste Gefahr einer unter
Umständen sehr schnellen und ausgedehnten Propagation der Seuche.
Die meisten Schulsperren werden leider verhängt,
wenn sie nichts mehr leisten können. Bedenken der zu¬
nächst vorgeordneten Behörden ist durch Ablehnung aller weiteren
Verantwortung und event. Bericht an die Vorgesetzte Behörde zu
begegnen.
4. In grossen Städten, in welchen die Seuche endemisch ist,
sollten alle Schulkinder bis zum 10. Lebensjahre aufwärts wöchent¬
lich einmal ärztlich auf Diphtherie untersucht werden. Ich stelle
mir die Ausführung dieser Massregel ähnlich vor, wie die kom¬
pagnieweisen Untersuchungen der Soldaten auf den Zustand ihrer
Geschlechtsorgane und Augenbindehäute. Die Kinder treten klassen¬
weise an, jedes mit seinem eigenen Mundspatel in der Hand. Der
Arzt, hinter welchem der Schuldiener mit einer, Sublimatlösung
enthaltenden Schale hergeht, schreitet die Reihen entlang und in-
spizirt mit einem Blicke die äussere Nase und den Rachen jedes
Kindes. Verdächtige werden herausgestellt und später gesondert
genau untersucht. Diese Massregel ist nach Anstellung von Schul¬
ärzten durchführbar und vollkommen genügend. Ich bin fest über-
584
Dr. Ohlemanu.
zeugt, dass dieselbe im Laufe der Jahrzehnte zu einer sehr wesent¬
lichen Einschränkung der Diphtherie in grösseren Städten führen
müsste.
5. Ausserdem sind die Desinfektionen der Räume, in welchen
Diphtherie - Kranke gelegen haben, und der Effekten derselben
durchzuführen.
6. Endlich ist ein Verbot aller Kinder-Versammlungen in
Trauerhäusern, in welchen Diphtherie - Leichen liegen, zu erlassen
Nur wenn die so siegreich begonnene Bekämpfung der Diph¬
therie im Kranken durch die Heilserumtherapie unterstützt wird
durch einen Vernichtungskampf gegen die Diphtheriekeime im
Grossen ausserhalb des Kranken, dürfen wir hoffen, dass dieser
scheusslichsten aller Kinderseuchen in absehbarer Zeit ihre
Schrecken genommen werden.
Dazu aber bedarf es eines nicht zu ermüdenden Ringens mit
dem Vorurtheil des Publikums in weiterem und engerem Sinne des
Wortes; und berufen zu diesem Ringen sind an erster Stelle die
Medizinal - Beamten.
Zur Aggravation von Amblyopie.
Von Dr. Ohlemann in Minden, früher Kreiswundarzt des Kreises Osterholz.
Im Anschlüsse an meine im Oktoberhefte dieses Blattes
gebrachten Mittheilungen über Aggravation bei ^ugenverletzungen
möchte ich noch Einiges nachtragen, einmal weil während des
Druckes der Arbeit eine andere über denselben Gegenstand von
N i e d e n in Bochum erschien und andererseits, weil ich inzwischen
Gelegenheit fand, in der Königlichen Augenklinik in Berlin noch
weitere Erfahrungen sowie Urtheile von Fachgenossen zu sammeln.
Vor Allem verdiente es die Nieden’sche Arbeit 1 ) in weiteren
Kreisen bekannt zu werden. Sie beschäftigt sich in ausführlicher
Weise nicht allein mit der Simulation von Sehstörungen, sondern
überhaupt mit der Uebertreibung und Simulirung aller Arten
von Augenverletzungen. Es lässt sich über diese Arbeit nicht
erschöpfend im Auszuge referiren, dazu ist die Fülle der Einzel¬
heiten zu gross, es möge daher gestattet sein, einiges herauszu¬
greifen, was sich auf die Simulation der Sehfähigkeit
bezieht. — Zunächst eine kurze Bemerkung über die Statistik:
Seit dem Erlass des Unfall-Versicherungsgesetzes vom 6. Juli
1884, berichtet Nieden, hat sich im Bezirke Saarbrücken die
Zahl der Unfälle um 25 °/ 0 vermehrt, die Zeitdauer der Heilung
dagegen ist 30 °/ 0 länger als früher.
Es giebt Kollegen, welche es mit den Arbeitern halten,
das ist rein menschlich, thut wohl am Ende ja ein jeder,
allein der Standpunkt des einzelnen Arztes mag schliesslich ab-
*) Die Arbeit entstand als Festschrift zur Feier des 25jährigen Jubiläums
des ärztlichen Vereins des Regierungsbezirks Arnsberg und ist im Druck erschie¬
nen bei Bergmann in Wiesbaden in den gesammelten Beiträgen aus dem (ie-
samintgebiet der Chirurgie und Medizin des praktischen Lebens, redigirt von
Prof. Dr. Löbker und Dr. Nieden.
Zur Aggravation von Amblyopie.
585
hängig sein von den Erfahrungen, die er macht. Der eine
macht gute bei der Arbeiterbevölkerung, er ist daher um so
eher geneigt, den Angaben derselben bei Verletzungen einen guten
Glauben entgegen zu bringen, ein Anderer ist vielleicht ein¬
mal hineingefallen; es sind ihm öfter Fälle von Simulation vor¬
gekommen, er ist daher von vornherein etwas misstrauisch. So
sagte mir ein Fachgenosse in der Königlichen Augenklinik in
Berlin, er glaube, dass iu der Provinz von Seiten der Aerzte häufig
wohl viel zu rigoros gegen die Arbeiter verfahren werde, nach
seinen Erfahrungen würde ihnen sehr häufig Unrecht gethan. Ich
registrire diese Bemerkung, weil es ja nützlich ist, auch andere
Meinungen hierüber kennen zu lernen. Ob der Herr Kollege aber
auch gegenwärtig so urtheilen würde, nach dem Erscheinen der
N i e d e n ’sclien Arbeit, das weiss ich allerdings nicht. Dieser Beob¬
achter hat die Wahrnehmung gemacht, die auch ich bereits aus¬
gesprochen habe, dass die Leute durch längere Uebung und wieder¬
holte Untersuchungen ausserordentlich lernen, sie bestehen die
Prüfungen mit einer verblüffenden Sicherheit, die bei der gleich¬
bleibenden Korrektheit ihrer Angaben in Erstaunen setzt. Ganz
gegentheilig urtheilen die Herren Kollegen in Berlin, wie ich
bereits erwähnte. Sie haben z. B. kein Vertrauen zur Prisma¬
untersuchung bei Aggravirungen von Sehstörungen, auch wenn es
sich nur darum handelt, die Vertrauenswürdigkeit der Angaben
der Leute zu prüfen. Die Herren Kollegen machen geltend, dass
man als Augenarzt wohl mit Prisma umzugehen verstehe, Leuten
aber, die nie im Leben ein Prisma gesehen oder in der Hand ge¬
habt hätten, nicht zumuthen könne, richtige Angaben zu machen,
man dürfe denselben daher keine Bedeutung beilegen. Man kann
da anderer Meinung sein, nicht allein auf Grund der Nieden’schen
Beobachtungen; man darf einwenden, dass doch klinisch bei der
Prüfung der Augenmuskel-Verhältnisse kein Unterschied bei den
Patienten gemacht wird in Hinsicht jeweiliger Bildung und Intelli¬
genz; letztere zumal ist keineswegs an die Bildung gebunden.
Ein Arbeiter mit gesunden Sinnen kann unter Umständen richtiger
eine Beobachtung machen, als ein Anderer, der vielleicht viele
Jahre die Schulbank gedrückt hat. Dann aber auch noch ein
anderer Einwurf: Die Perimeter-Prüfung lässt man gelten, ist
diese aber nicht auch basirt auf subjektive Angaben des zu Unter¬
suchenden ? Und gehört nicht noch mehr Intelligenz oder vielmehr
guter Wille dazu, auf die Intentionen des Untersuchers einzugehen?
Bei der Prisma-Untersuchung hat der zu Untersuchende nur an¬
zugeben, ob er ein Licht einfach oder doppelt sieht, man kann
zur Noth, wenn nicht erwartete Antworten kommen, sogleich selbst
nachsehen, woran die Ursache liegt, ob etwa störende Nebenreflexe
die Zahl der Nebenbilder vergrössert haben. Bei der Gesichts¬
feldprüfung hingegen kommt noch hinzu, dass der zu Untersuchende
zentral fixiren und dabei über das, was er peripher sieht, Angaben
machen soll. Stets hat man dabei zu kontroliren, ob keine Ab¬
weichung des zentralen Sehens stattfindet. Dann ferner lassen sich
die Angaben, ob richtig peripher gesehen und angegeben wird,
586
Dr. Ohlemann.
gar nicht kontroliren; nachweisen kann man unrichtige Angaben
nur aut die von Schmidt-Rimpler angegebene Weise. Es
kommt daher meines Erachtens nicht auf die Art der Methode an,
sondern auf die Weise, wie man in überzeugender Art den Beweis
für die erhaltenen falschen Angaben erhält.
Wenngleich auch meine Prisma - Untersuchung abfällig be-
urtheilt wurde, so möchte ich doch noch Einiges über dieselbe
nach tragen, schon um Fehlerquellen zu vermeiden. Diese liegen
in den bereits berührten Reflexen.
Betrachtet man ein Licht mit einem Prisma mit der Basis
nach unten vor einem Auge, so sieht man in gerader Blickrichtung
2 Lichter übereinander, wobei das höher stehende dem mit dein
Prisma versehenen Auge angehört. Man wähle keine für solche
höheren Grades, etwa 4°—5°, da es wünschenswert ist, dass die
Lichter nicht zu weit von einander stehen. Würde man diese
Prismen mit der Basis nach innen oder aussen verwenden, so würden
die Doppelbilder von der Fusionstendenz der Augenmuskel bald
überwunden, dies ist bei der Stellung mit der Basis nach unten
nicht der Fall. Wenn man nun statt geradeauszusehen, hoch
nach oben sieht, so kann man meist noch ein, ja sogar noch
mehrere Flammenbildchen ebenfalls in geradem Bilde erkennen.
Sie sind zwar schwach, allein sie sind doch da. Man muss daher
bei den Versuchen geradeaus blicken lassen und kann sich event.
auch die Stellung des Flammenbildchens beschreiben lassen. Allein
darauf kommt nicht alles an, sondern es kommen die Antworten
in Betracht, aus denen man erkennen kann, ob dieselben glaub¬
würdig sind. Man urtheilt ja auch hiernach nicht allein, sondern
man muss sein Urtheil von dem Gesammtresultat der Untersuchung
und der ganzen Beobachtungszeit abhängig machen. Ausserdem
lassen sich die störenden Flammenbildchen ausschliessen, wenn
man die obere Hälfte des Prismas durch ein Papierblättchen, das
man mit etwas Wasser aufträgt, bei der Prüfung undurchsichtig
macht.
Sehr interessant sind die Beobachtungen, welche Nie den
bei der Perimeter - Prüfung gemacht hat. Er prüfte die Grenzen
für gelb, grün, roth, blau und weiss. Das Gesichtsfeld für weiss
z. B. ist nach oben unter normalen Verhältnissen etwa 50° des
Perimeterbogens, medianwärts 60°, lateral 35°, nach unten 70°.
Nieden fand bei den der Simulation Verdächtigen in allen Rich¬
tungen 32° vom Fixationspunkte. Und weshalb? Weil bei seinem
Perimeterbogen an dieser Stelle eine feine Nietstelle sich befindet,
die dem Gedächtnisse des zu Untersuchenden bei der zweiten und
dritten Aufnahme eine vorzügliche und verführerische Handhabe
verleiht, das Geschäft des Leugnens zu beginnen. Noch be¬
stimmter wird der Verdacht, wenn, wie bereits angegeben, weiter
bei der Aufnahme des Gesichtsfeldes in doppelter Entfernung vom
Fixirpunkte die Grenzen nicht, wie der Sache gemäss, in ent¬
sprechend grösserer Ausdehnung, sondern kleiner angegeben werden,
weil der Simulant der Meinung ist, je grösser die Entfernung,
desto undeutlicher müsse er sehen.
Zur Aggravation von Amblyopie.
587
Auch nach dem Allgemeinverhalten des Simulanten kann
man sich zuweilen richten, oder dasselbe zur Beurtheilung ver-
werthen. Ein Kranker, der in der That eine konzentrische, halbsei¬
tige oder sektorenförmige Gesichtsfeldbeschränkung besitzt, kann auch
an seiner Schädelstellung, der Drehung und Haltung seines Kopfes
bei seiner Orientirung im Raume erkannt werden, was so charak¬
teristisch ist, dass auch der gewiegteste Simulant die Täuschung
nicht durchführen könnte/
Eine wichtige Ausnahme aber giebt es hierbei doch. Das
sind die Fälle traumatischer Neurose mit ihrer konzentrischen
Gesichtsfeldeinengung, die als Ermüdungs - Einschränkung aufzu¬
fassen ist. Es sind die Fälle, welche als Anaesthesie oder
Hyperaesthesie der Netzhaut, auch traumatische Hysterie und
Neurasthenie genannt, bereits geschildert sind. Bei diesen Zu¬
ständen ist das Orientirungsvermögen nicht aufgehoben.
Einen solchen Fall hatte ich vor Kurzem in der Berliner
Königlichen Augenklinik zu beobachten Gelegenheit, und bei der
ersten Untersuchung — nicht erkannt, obgleich alle charakteristi¬
schen Merkmale vorhanden waren:
Dr. Silex, erster Assistent der Klinik, überwies mir eine
Patientin zur Prüfung und Diagnose. Minna B., 17 Jahre alt,
wurde am 6. April dieses Jahres bei ihrer Arbeit in den allge¬
meinen Berliner Elektrizitäts - Werken verletzt. Die Arbeit be¬
stand darin, Ankerstücke in Gefasse mit Zink und Säuren zu
tauchen. Hierbei entstand eine kleine Explosion und es spritzte
ihr etwas dabei in die Augen. Status praesens am 12. Septbr.:
Die Bindehäute gesund, am nichtpupillaren, unteren rechten Cor-
nealtheil eine kaum sichtbare kleine Trübung, linke Cornea klar.
6
Sehschärfe beiderseits —, doch wird über rasche Ermüdung ge-
IO
klagt. Ophthalmoskopisch scheint 1D Myopie vorhanden zu sein.
Konkavgläser bessern die Sehschärfe nicht. Mit Rücksicht auf
die leichte Cornealtrübung wurde mit Cylindergläsern geprüft, ob¬
gleich keratoskopisch kein Astigmatismus nachweisbar war. In der
That wurde mit 1 Dioptrie konkav sphärisch kombinirt mit 1 j 2 D
Koncavcylinder, Axe senkrecht, die Sehschärfe gebessert, stieg auf
6
9
und die Ermüdung trat zurück.
Die Untersuchung selbst war
nicht einwandtfrei, da während der Sehprüfungen zahlreiche
Patienten die Untersuchung störten, der Raum sehr beengt war,
da 4 Kollegen gleichzeitig Sehprüfungen Vornahmen, und das Re-
fraktions - Ophthalmoskop nur kürzere Zeit frei war.
Dr. Silex erklärte die Diagnose für falsch, und war es auch
für mich nachher zweifellos, dass es sich um eine traumatische
Neurose, An- oder Hyperaesthesia retinae handelte. Das Gesichts¬
feld war vorher bereits wiederholt aufgenommen, hatte konzen¬
trische Gesichtsfeld-Einschränkung ergeben und die rasche Er¬
müdung bei der Sehprüfung war zu evident. Dazu war der Er¬
nährungszustand kein sehr guter und allgemeine Symptome anämi¬
scher Natur vorhanden.
588
Dr. Ohlemann: Zur Aggravation von Amblyopie.
Während in diesen Fällen das Refraktions - Ophthalmoskop
in Stich lässt, wenigstens ohne Bedeutung ist, giebt es anderer¬
seits wieder solche, in denen damit allein eine Simulation erkannt
werden kann. Sie kommen wohl nur den Militärärzten zur Beob¬
achtung. Erzählt wurde in der Klinik folgende Methode:
Ein Einjähriger meldet sich bei dem betreffenden Stabsarzt
zur Untersuchung. Er stellt sich vor mit einem Pince-nez von
5 oder 6 Diopterien (konkav 8 oder 7) und erklärt, dass er diese
Nummer schon von Kind auf trage. Die Sehprüfung wird gemacht,
feiner Druck nach Schweigger 0,5 und 0,6 in 5 bis 10 ctm
Entfernung mühsam erkannt. Für die Ferne zeigt sich eine Seh-
6 6
schärfe von ^ bi8 jg. Der zu Untersuchende liest unterste Reihe
R D, zweitunterste: G, B, 0, drittunterste: H . . ., weiter kommt
er nicht, natürlich nur mit seinem Glase, ohne Glas behauptet er
gar nichts an der Tafel sehen zu können.
Ist nun die Zahl der Stellungspflichtigen in dem Termin eine
grosse, ist ein Dunkelzimmer und ein Refraktions - Ophthalmoskop
nicht zur Hand, dann kann der untersuchende Stabsarzt unmöglich,
eine objektive Diagnose machen. Kommt ferner ein Stellungs¬
pflichtiger mit einem starken Konkavglase, so wird man selten
wohl sofort den Gedanken haben, dass der Mann sich dasselbe nur
zur Untersuchung angeschafft haben könne.
Uebrigens ist diese Methode schon alt, und habe ich sie im
Auslande, wenn auch in anderer Variation kennen gelernt. Ein
Stellungspflichtiger, der mir die Sache selbst berichtete, kam zur
Untersuchung und behauptete, nicht in der Ferne sehen zu können.
Der prüfende Militärarzt hielt ihm schwache Konkavgläser vor,
ohne Besserung, erst als er starke benutzte, behauptete der Mann,
etwas besser sehen zu können. Dieser berichtete mir aber auch
dass er von Jemand, den er nicht nennen wollte, dahin instruirt
worden sei, erst dann von einer kleinen Besserung seines Sehver¬
mögens zu sprechen, wenn der Stabsarzt an einer gewissen Stelle
im Brillenkasten angekommen sei. Hier war also ein Helfers¬
helfer da, der den Militärpflichtigen auch den Brillenkasten vorher
gezeigt hatte. Für mich war das seiner Zeit Veranlassung, einem
der Herren Oberstabsärzte über diese Sache nach der Heimath
zu berichten.
Eine praktische, sehr leicht anzustellende Probe auf Richtig¬
keit der Angabe, beschreibt Nieden in folgender Weise: Man
soll 2 Probetafeln so nebeneinander aufhängen, dass die Probe-
0 0
buchstaben von -r-s z - B. und ö in einer Reihe stehen. Liest nun
io y
der zu Untersuchende die Probebuchstaben der ersten Tafel, also
~ und fahrt mit der 2. Tafel, also ~ fort, so weiss man zunächst,
IO v
6 0
dass er'- hat. Nimmt man dann eine 3. Tafel und lässt von --
y ob
6
an aufwärts lesen und wollte er dann leugnen - zu erkennen, so
y
Dr. Wilhelmi: Zur Frage der Aggravation bei Augenverletzungen. 589
wäre seine falsche Angabe erwiesen. Dasselbe sei der Fall wenn
man, was bei jüngeren und harmlosen Leuten vorkäme, eine ge-
ß
wisse herabgesetzte Sehschärfe fände, etwa ^ und nun ein Kon¬
kav- und Konvexglas zusammengehalten, von gleicher Brechkraft, die
sich also gegenseitig aufheben, Vorhalte, und damit eine Besserung
der Sehschärfe angegeben würde. 1 )
Endlich kam es sogar vor, dass weniger intelligente Simu¬
lanten mit den Lippen die Bewegungen für Aussprache des be¬
treffenden Buchstaben machten, dann aber nach einigem Zögern
einen plötzlich anders lautenden Buchstaben nannten.
Geduld und unverdrossene Langmuth werden hier als die
Hauptmittel genannt, wissenschaftlich wird man jedoch kaum ohne
Prisma, Perimeter, und Refraktions - Ophthalmoskop eine sichere
Diagnose zur Erkennung von Uebertreibungen bei den Sehprüfungen
zu machen im Stande sein.
Zur Frage der Aggravation bei Augenverletzungen.
Von Kreisphysikus Dr. Wilhelmi in Schwerin (Mecklenb.).
Der Aufsatz des Herrn Dr. Ohlemann in Nr. 20 d. Zeitschr.
giebt mir Veranlassung, auch meinerseits für einschlägige Fälle
den Herren Kollegen ein Untersuchungsverfahren zu empfehlen,
das mich schon zweimal in den Stand gesetzt hat, fälschliche An¬
gaben der betreffenden Exploraten prompt und mit mathematischer
Sicherheit als solche nachzuweisen.
Es gründet sich dieses sehr einfache Verfahren auf die That-
sache, dass in Laienkreisen ziemlich allgemein der Glaube ver¬
breitet ist, zwei oder mehrere vor einander gesetzte
Brillengläser wirken „schärfer“, als nur eines der¬
selben allein. Dass dies nur von gleichartig geschliffenen Glä¬
sern gilt, dass aber entgegengesetzt geschliffene in ihrer Wirkung
sich auflieben, und dass durch Voreinandersetzen einer beliebigen
Zahl von Gläsern man die Möglichkeit hat, die mannigfachsten
optischen Wirkungen durcheinander hervorzubringen, zumal, wenn
auch Oylindergläser mit eingeschoben werden — soweit reicheu
die optischen Kenntnisse der zur Untersuchung kom¬
menden Individuen in der Regel nicht.
Verhältnissmässig leicht ist es auf Grund dieser Erwägung
mir in beiden Fällen gelungen, der Forderung des Dr. Ohlemann
gerecht zu werden und den zu Untersuchenden dahin zu bringen,
„dass er zugiebt, worauf es ankommt“ und zwar in der That „in
höchst naiver Weise“.
Ich beschäftigte mich ausschliesslich mit dem angeblich schlecht
*) Diese Methode ist indessen nicht ganz einwandfrei, da man es mit
einer durchaus nicht siinulirten abnormen Akkomodationsspannung zu thun haben
kann, die bei den Sehprttfnngen mit und ohne Gläser ganz erhebliche Schwan¬
kungen in den Angaben der Untersuchten verursacht (cfr. meinen Beitrag zur
Schulmyopie im Archiv für Augenheilkunde von Knapp und Schweiggcr
Bd. 26, p. 168—180).
590 Dr. Wiihelmi: Zur Frage der Aggravation bei Augenverletzungen.
sehenden Auge und zeigte mich, auf die Klagen des Exploraten
scheinbar gläubig eingehend, bemüht, eine Brille zu finden, durch
die das Sehvermögen gebessert werde. Wie zu erwarten war.
nachdem der Augenspiegel einen negativen Befund und Emmetropie
ergeben hatte, wurden sowohl schwache, als mittelstarke Konvex-
und Konkavgläser richtig als verschlechternd zurückgewiesen.
Darauf setzte ich dem Exploranden ein starkes Konvexglas vor,
durch welches erst recht nicht sehen zu können er ganz mit Recht
angab. Vor dies Konvexglas brachte ich nun successive schwächere
und stärkere Konkavgläser, schob auch, als allmählich der Unter¬
suchte angab, jetzt werde das Sehen besser, zur Abwechslung und
um ihn sicherer und vertrauensseliger zu machen, verschiedentlich
Cylindergläser ein, durch deren Drehung ich ihn zu verwirren und
von ruhiger Ueberlegung abzulenken versuchte. So gab dann jedes¬
mal schliesslich der Expl. ganz gutwillig gerade dann eine bedeu¬
tende Besserung des Sehvermögens an, als er eine Anzahl Brillen¬
gläser vor dem Auge hatte, deren optische Gesammtwirkung gleich
+ 0 war, während er selber die Vorstellung hatte, jetzt handle es
sich vielleicht um die stärksten Nummern des Brillenkastens.
In dem einen Falle war es ein Fabrikschlosser, der vor län¬
gerer Zeit eine schwere Augenverletzung erlitten hatte: man sah
noch eine deutliche, etwa 11 mm lange, 1 mm breite schwärzlich
tingirte Narbe in der Sclera, mit welcher die Bindehaut zum Theil
verwachsen war. Im Uebrigen aber war ein Befund, der die an¬
gegebene Sehschwäche hätte erklären können, nicht vorhanden.
Es gelang mir, nachdem ohne Glas nur eine Sehschärfe von 5 /* 4
zugestanden worden, durch obiges Verfahren volle Sehschärfe (!)
nachzuweisen, d. h. als der Expl. drei Gläser voreinander trug,
die zusammen optisch wie Fensterglas wirkten, las er fliessend
die betr. Probebuchstaben, von denen er vorher nichts hatte sehen
können.
Ganz analog ging es im zweiten Falle zu. Hier lag keine
Verletzung vor. sondern es handelte sich um Hornhauttrübungen
beiderseits in Folge skropliulöser Entzündungen bei einem Knaben
von 13 Jahren (!), der auf Grund seiner schlechten Augen augen¬
scheinlich sich um die Schularbeit „drücken“ wollte. Dieser be¬
hauptete Anfangs, Buchstaben von 7 cm Höhe in unmittelbarer
Nähe vor den Augen nicht erkennen zu können und las dann schliess¬
lich mit Fensterglas fliessend kleinen Druck.
Auch ich will, wie Ohle mann, „nicht den Anspruch erheben,
eine neue Methode gefunden zu haben,“ bin vielmehr überzeugt,
dass schon mancher Kollege aus eigener Ueberlegung ganz ähn¬
lich wird vorgegangen sein; nichtsdestoweniger glaubte ich, mit
dieser Mittheilung nicht zurückhalten zu dürfen, da in den mir zu¬
gängigen Lehrbüchern des beschriebenen einfachen Verfahrens Er¬
wähnung nicht gethan wird. Selbstverständlich wird auch
auf diese Weise nicht jeder Simulant sich überrumpeln lassen.
Dr. Reiraann: Zur Stellungsverbesserung der Kreisphysikor.
591
Zur Stellungsverbesserung der Kreisphysiker.
Von Kreisphysikus Dr. Reimann in Neumünster.
Der Tropfen höhlt den Stein. Wenn es nicht wieder Zukunfts¬
musik ist, was die Tageszeitungen über die bevorstehende Ver¬
besserung des staatlichen Medizinalwesens berichten, dann möchte
ich noch Einiges zu den Rangverhältnissen der Kreisphysiker
bemerken.
In Nr. 21, Jahrg. 1892 dieser Zeitschrift betont Kollege
Doeblin mit Recht die Zurücksetzung, welche die Kreismedizinal¬
beamten gegenüber den anderen Beamtengattungen ihrer Rangstufe
dadurch erfahren, dass ihnen nicht wie diesen nach einer gewissen
Dienstzeit eine persönliche Rangerhöhung zu Theil wird. Es sind
dort die Kreisschulinspektoren, Oberlehrer, Oberförster, Landrichter
aufgeführt, man kann von nicht akademisch Gebildeten noch die
Postdirektoren der grösseren Aemter nennen: sie Alle erhalten im
höheren Dienstalter den Rang der Räthe IV. Klasse. Mit der
Verleihung des Sanitätsrathstitels ist bekanntlich eine Rangerhöhung
nicht verbunden. Freilich sind Jene Staatsbeamte im Hauptamt,
die Kreisphysiker sind es bis jetzt — wenigstens ihrer Besoldung
nach — nur im Nebenamt, im Wesentlichen sind sie aber praktische
Aerzte. Andererseits sollte man meinen, dass der Staat, der sonst
in der Regel mit Ehre zahlt, was er an baarer Münze schuldig
bleibt, diesen Grundsatz auch gegenüber den trotz ihrer nebenamt¬
lichen Stellung unzureichend bezahlten Kreisphysikern in Anwen¬
dung brächte. Das ist bisher nicht geschehen; der Rang steht hier
nicht, wie es sein sollte, im umgekehrten, sondern im geraden Ver-
hältniss zur Besoldung. Wir dürfen wohl erwarten, dass mit der
neuerdings, wie es scheint, beabsichtigten Umgestaltung unserer
Aemter auch in dem erwähnten Punkte Wandel eintritt. Mögen
immerhin von einem höheren Gesichtspunkt aus diese Dinge als
nebensächlich, ja kleinlich erscheinen, sie sind es nicht im prak¬
tischen Leben, im Alltagsverkehr, in dem wir uns doch zu bewegen
haben. Wir wünschen, dass die Hälfte der Kreisphysiker gleich
den übrigen Beamten ihrer Rangstufe in einem bestimmten Dienst¬
alter einen Titel erhalte, mit welchem eine entsprechende Rang¬
erhöhung verbunden ist. Damit sind keinerlei materielle Vortheile
weder bei Dienstreisen noch anderen Gelegenheiten verbunden;
denn es handelt sich um nichts weniger oder mehr als um eine
persönliche Titularauszeichnung.
Es sind ferner bei der Verleihung des Titels die Ungleich¬
heiten zu vermeiden, die jetzt in den verschiedenen Landestheilen
bezüglich der Zahl der Inhaber des Sanitätsrathstitels bestehen.
Sollte im Uebrigen auch diesmal sicli nicht bewahrheiten, was
die Zeitungen melden, so werden wir ältere Kreisphysiker zwar nicht
enttäuscht sein, wohl aber wächst — und das ist die bedenkliche
Seite der immer wiederkehrenden Verheissungen — mit jeder
solcher Welle der Wettbewerb um die Physikatsämter. Wenn
gelegentlich im Parlament auf die zahlreichen Bewerbungen hinge¬
wiesen wurde, die auch unter den jetzigen, so wenig verlockenden
592
Aus Versamm langen and Vereinen.
Verhältnissen für erledigte Physikatsämter einlaufen, so darf doch
dabei nicht übersehen werden, dass viele der Bewerber, ja wohl
die meisten derselben das zukünftige Physikat erstreben, das
Amt, welches die längst verheissene „Medizinalreform“ ihnen in
Aussicht stellt. In Folge der langjährigen, zum Tlieil von einfluss¬
reichen und massgebenden Stellen aus erfolgten Zusicherungen
halten diese Bewerber die Umgestaltung des staatlichen Medizinal¬
wesens für eine Frage der nächsten Zeit. Die Verhältnisse aber,
sofern sie die Bewerbung um erledigte Aemter beeinflussen, sind
geeignet, die ganze Sachlage Fernerstehenden gegenüber falsch
zu beleuchten. Ein entschiedenes „Nein“ auf unsere Wünsche,
soweit dieselben auf ein nahes Ziel gerichtet sind, vermag Illu¬
sionen zu zerstören und in gewisser Beziehung weniger hemmend
zu wirken, als die dilatorische Behandlung unter der stereotypen
Versicherung: „Die Pläne sind fertig.“
Aus Versammlungen und Vereinen.
Bericht über die 47« Konferenz der IHedisinalbeamten des
Beg.-Bez. Düsseldorf vom 4. November 1893.
Anwesend waren 32 Medizinalbearate, darunter als Gäste Reg.-Assessor
v. Pcistel und Oberstabsarzt Dr. Metzler. Der Vorsitzende, Reg - und
Med.-Rath Dr. Mich eisen gedenkt in ehrenden Worten des am 31. Mai ver¬
storbenen Kr.-Physikus San.-Rath Dr. Wie seines in Solingen uud begrüsst die
neuernannten Kreisphysikus Dr. Moritz in Solingen und Kreiswundarzt Dr.
Schneider in Neuss.
1) Aus der Besprechung der Medizinalverfügungen des letzten halben
Jahres ist Folgendes hervorzuheben: Bei der Revision von Krankenhäusern
ist auf Anschaffung eines Desinfektionsapparates zu dringen, auf die Ableitung
der Schmutz- und Abwässer zu achten und darauf zu sehen, dass die Kranken¬
zimmer nicht zu stark belegt sind; zu letzterem Zwecke empfiehlt es sieh, an der
Thur eine Tafel anbringen zu lassen, auf welcher der Quadrat- uud Kubikinhalt
des Zimmers angeschrieben steht; 20 cbm pro Bett gilt als Miuimum.
Für die Revision der Drogengeschäfte bestimmt eine Zirkular-Ver¬
fügung, dass bei indifferenten Stoffen nur auf ihre gute Beschaffenheit, nicht
auf die Aufbewahrung zu achten ist. Unzuverlässigen Drogisten soll der Gift¬
handel abgenominen, bezw. die Erlaubnis« dazu nicht crtheilt werden.
Aus Anlass eines Spezial falle.« sind die Polizeibehörden angewiesen, öff ent¬
liche Vorstellungen über Suggestion nicht zu gestatten.
Eine Ministerial- Verfügung erinnert daran. Massenerkraukuugen
uud Epidemien sofort dem Regierungspräsidenten auzuzeigen.
Es ist geplant, für den Reg.-Bez Düsseldorf eine Rekonvaleszenten-
Anstalt in waldiger und hügeliger Gegend zu bauen; die Physiker sind ge¬
beten, recht bald Verschlage für einen geeigneten Platz zu machen.
Eine nöthig gewordene neue Ausgabe von Gerönne’s Medizinalver-
orduungen wollen der Vorsitzende und Reg.-Assessor v. Peistel besorgen.
2) Im Anschluss an das Referat des verstorbenen Dr. W i c s e m e s in der
Frtihjahrssitzung berichtete San.-Rath Dr. Schruff (Neuss) über Begräbniss-
ordnnng.
3) Das Brausebad und seine Einrichtung in Volksbadeanstalten, Kasernen,
Gefängnissen und Schulen erläuterte in einem eingehenden Vortrage, der näch¬
stens im Druck erscheinen soll, Kreiswundarzt Dr. Wolff-Elberfeld.
4) Für den Neudruck der ,, Regeln für die Ernährung und Pflege
der Kinder im 1. Lebensjahre und für die Pflege der Wöchnerinnen“ hat Kreis¬
wundarzt Dr. Hartrop in Barmen einige Verbesserungen vorgeschlagen, welche
Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften.
593
im Grosssen^undJ Ganzen die ursprüngliche Fassung wenig verändern and angC'
nommen werden.
Das gemeinschaftliche Mittagessen wurde wie gewöhnlich mit gutem Ap¬
petit und in heiterster Stimmung genossen.
Dr. Hofacker -Düsseldorf.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
A. Gerichtliche Medizin.
lieber Hitzschlag mit tödtlichem Ausgang. Von Prof. Dr. Dittrich.
Sonder - Abdruck aus der Zeitschrift für Heilkunde; XVI. Bd., 4. Heft.
Die Arbeit Dittrich’s wirft neues Licht in das Dunkel des Wesens
vom Sonnenstich und Hitzschlag, und dankbar wird die militärische wie die
bürgerliche Medizin diesen Beitrag, der namentlich auf dem Sezirtische gewonnen
ist, annehmen. Namentlich der Fall 8, welcher bereits 6 Stunden nach dem
Tode zur Obduktion gelangte und der noch frei war von allen Fäulnisserschei-
nungen, hat gutes Material zur Beurtheilung des pathologischen Bildes geliefert.
Ich lasse deshalb den Befund in Vollständigkeit folgen:
„Aeusserliek: 1. Körperlich ziemlich gross, kräftig muskulös, gut genährt.
Haut im Gesichte dunkel violett, sonst bräunlich pigmentirt. Rückwärts dunkel¬
violette Todtenfiecke. Todtenstarre unten sehr stark, oben im mittleren Grade
ausgeprägt. Bindehäute dunkelviolett, stark injizirt. Pupillen eng, gleich.
Innerlich: 2. Schädeldeckcn sehr blutreich. Unter denselben, namentlich
am Scheitel und am Hinterkopf, sehr reichliche, Stecknadelkopf- bis kreuzer-
grosse Blutextraversate. Dura von mittlerem Blutgehalte, in dem Sinus sehr
reichliches dunkelflüssiges Blut. Die inneren Hirnhäute ziemlich blntreich, an der
Konvexität leicht verdickt, stark getrübt. An der rechten Seite des rechten
Stirnlappens ziemlich ausgebreitete, auch sonst noch in den inneren Meningen
hie nnd da kleine Blutextraversate. Gehirnsubstanz teigig, sehr blass, serös
durchfeuchtet.
3. Im Munde etwas blutiger Schleim. In den Jugularvenen reichliches
dunkelflüssiges Blut. Karotiden leer. In der Gefässscheide der grossen Halsge-
fässe ziemlich reichliche, bis linsengrosse Blutextraversate.
5. Lungen frei, blutreich, lufthaltig, an der Oberfläche derselben spärliche
Ecchymosen. *
6. Im Herzbeutel etwas Serum. Au der Innenfläche des Herzbeutels ziem¬
lich reichliche Ecchymosen, ebensolche in grosser Menge an der Oberfläche des Her¬
zens, namentlich links. Herz faustgross, sehr schlaff, rechts stark fettbewachsen.
Herzfleisch blass, leicht zerreisslich. In den Herzhöhlen spärliches dunkelflüssiges
Blut. In dem Gewebe der etwas verdickten Aortenklappen und am freien Rande
der Bicuspidalis punktförmige Ecchymosen in grosser Menge. Im Endokard des
linken Ventrikels, namentlich an der Septumseite, sehr reichliche streifenförmige
Blutextraversate. An der Aussenfläche der Aorta, besonders im Bereich ihres
aufsteigenden Abschnittes, zahlreiche linsengrosse Blutaustritte.
7. Leber klein, hellgelb, ziemlich stark verfettet, sehr fest, mit fein- und
grobhöckeriger Oberfläche. Peritonalüberzug stark verdickt. Im Innern der
Leber sehr starke Bindegewebswucherung.
8. Milz auf das Doppelte vergrössert, blntreich, fest. Kapsel verdickt.
9. Im Magen kein abnormer Inhalt. Schleimhaut verdickt, mit zähem
Schleim bedeckt. In der Schleimhaut nahe der Cardia sehr reichliche, herdweise
angeordnete Ecchymosen.
10. Nieren blutreich; Harnblase leer; Schleimhaut blass violett. Neben¬
nieren normal.
11. Im Darm theils flüssiger, thoils schleimiger, theils dünnbreiiger, schwach
gallig gefärbter Inhalt. Schleimhaut blass violett, im Dünndarm von reichlichen
Blutungen durchsetzt. Diese letzteren sind theils rundlich und dann Stecknadel¬
kopf- bis linsengross, theils streifenförmig, liegen dann meist auf der Höhe der
Falten und verlaufen ott vollständig zirkulär. Im Dickdarm kleine Blutaustritte
wahrzunehraen.
12. Bauchspeicheldrüse blass, ziemlich fest.“
Dittrich resumirt dahin: „Somit findet sich nur ein Befund, welcher
594
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
in sämmtlichen Fällen konstatirt werden konnte, nämlich das Auftreten von
theils äusserst kleinen, theils ausgebreiteten Blutaustritten an verschiedenen
Körperstellen.“ Auch andere hätten solche Blutungen gefunden und beschrieben
an verstorbenen Menschen und an experimentell behandelten Thieren.
Er weist dann darauf hin, dass meistens das Herz durch chronische Ver¬
änderungen sich auszeichnete und damit ein prädisponirendes Moment zum exitus
letalis geboten hätte.
Dass die Blutungen beim Hitzschlag in Folge von Degenerationsverände¬
rungen — namentlich fettiger Degenerationen — der Gefässe auftreten, sei
nicht anzunehmen. Die mikroskopische Untersuchung hätte keine merkliche
Veränderung der Gefässwände ergeben, namentlich keine Verfettung. Am meisten
Wahrscheinlichkeit habe die Annahme fiir sich, dass die Blutungen eine Folge
der Hyperämie des Venensystems seien, welche zu kapillären Blutungen führten.
Dittrich geht dann auch auf das Verhältnis von Sonnenstich und Hitz¬
schlag ein und endet mit der Besprechung der äusseren Ursachen der Krankheit,
wobei er das Zusammentreffen von hoher Temperatur, geringer Luftbewegung,
zeitweise abnorm niedriger Feuchtigkeit der Luft und vollständig mangelnder
oder äusserst geringer Bewölkung nach seiner Beobachtung als geeignet zur Her¬
vorbringung des Hitzschlages kennzeichnet. Dr. Mittenzweig.
Mord durch Erdrosselung, kombinirt mit Halsschnittwunden. Von
Dr. Haberda, Assistent am Institut f. gerichtl. Medizin des Herrn Hofraths
Prof. E. v. Hof mann in Wien. Sonderabdruck aus der Vierteljahrsschrift für
gerichtl. Medizin; III. Folge, VI. Bd., H. 1.
Die 35 Jahre alte Prostituirte Th. St. wurde eines Morgens in ihrem Bette
todt aufgefunden; um ihren Hals war ein alter Lederriemen in zwei Touren
herumgelegt und rechts geschnallt, ausserdem zeigte der Hals mehrere blutende
Wunden. Durch die Sektion wurde festgestellt: 1) dass der Tod durch Er¬
stickung erfolgt sei (Ecchymosen in der Haut und in den Schleimhäuten des
Gesichts, allgemeine flüssige Beschaffenheit des Blutes); 2) dass die Erstickung
durch kräftige horizontale Konstriktion des Halses mittels eines breiten band¬
artigen Strangulationswerkzeuges, also durch Erdrosseln bewerkstelligt worden
sei (Strangfurche, Bruch des rechten oberen Kehlkopfhomes, Suffusionen in der
Gefftssscheide, über.der Schilddrüse und im präverteberalen Zellgewebe). Die
Vorgefundenen Schnittwunden (2 oberflächlich und eine tiefe, welche mehrere
Muskeln durchdrang und die Luftröhre eröffnete) zeigten Reaktionserschei¬
nungen, mussten also noch bei Lebzeiten zugefügt worden sein. Da sich aber
keine Zeichen von Verblutung vorfanden, wurde erklärt, dass sie mit dem
Tode in keinem Zusammenhang standen. Lag nun Selbstmord oder Mord
vor? Selbstmord durch Halsabschneiden ist nichts Seltenes, auch Selbsterdrosse¬
lung ist wohl möglich; auch eine Kombination beider Selbstmordarten ist wohl
denkbar. Die Schnittwunden hatten, wie häufig beim Selbstmord, eine Richtung
von links oben nach rechts unten, auch ihre Mehrzahl und ihre geringe Tiefe
sprechen dafür. Gegen einen Selbstmord sprach der Umstand, dass die Schnitte
tiefer lagen, als in der Regel beim Selbstmord, ferner war es wohl kaum mög¬
lich, dass nach Eröffnung der Luftröhre ausgesprochene Erstickungserscheinungen
zu Stande kommen konnten. Es wurde begutachtet, dass die grössere Wahr¬
scheinlichkeit für Mord spreche und Folgendes ausgeführt: 1) die Erdrosselung
war das Primäre, der Ueberfall musste entweder an der Schlafenden oder sonst
unerwartet und tückisch geschehen sein; es fanden sich keine Spuren von Gegen¬
wehr, weil ja mit der Konstriktion des Halses sofortige Bewusstlosigkeit ent¬
stehen musste; 2) die Schnittwunden sind beim Leben beigebracht, waren ge-
wissermossen agonale und zeigten daher noch die Kennzeichen der Vitalität.
Die Richtung der Schnitte erklärt sich aus der Stellung des Mörders, der offen¬
bar hinter seinem Opfer gestanden hat. Die Eröffnung der Trachea hat schon
nach dem konvulsiven Stadium der Erstickung, in welchem die Ecchymosen zu
Stande kommen, stattgefunden. — Die polizeilichen Nachforschungen stellten
den Mord ausser Zweifel. Der Mörder endete durch Selbstmord.
Dr. Israel-Medenau (Ostpr.).
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
595
B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen:
Zur Hygiene der Barbierstuben. Von Dr. A. Bla sch ko. Nach
einem am 6. Dezember 1892 in der Berliner dermatologischen Vereinigung ge¬
haltenen Vortrage. Berl. klin. Wocheuschr. 1893, Nr. 35.
Von den durch die Barbierstuben verbreiteten Krankheiten ist der Herpes
tonsurans die häufigste; es kommen dann weiter in Betracht die Impetigo conta¬
giosa, Trichorrtexis nodosa, Eczema impetiginosum und die Alopecia areata.
Ausser für die genannten Hautkrankheiten können die Barbier3tuben unter Um¬
ständen auch den Ansteckungsherd abgeben für die Syphilis und vielleicht auch
nach Blaschko für die Cholera, wenn man bedenkt, dass z. B. die Serviette,
mit der sich eben ein Kunde das Gesicht abgewischt, kurz darauf einem zweiten
vorgelegt wird.
Die Uebertragungsweise ist theils eine unmittelbare, theils eine
mittelbare; die erstere findet statt, wenn der Barbier oder der Gehülfe selbst
erkrankt ist, letztere, wenn derselbe die Krankheit eines Kunden durch seine
Hände oder durch Utensilien weiter trägt, und hier kommen Servietten und
Handtücher, Rasiermesser, Rasierpinsel, Schwämme, Puderquasten, Kämme und
Bürsten in Betraaht.
Wenngleich ja ein Theil der oben angeführten, durch die Barbierstuben
weiter verbreiteten Krankheiten meist nur unbedeutende Affektionen hervorruft,
so lässt sich dies von dem Herpes tonsurans und der Syphilis doch nicht sagen
und diese beiden Aftektiouen allein genügen, um die Forderung nach umfassenden
Kautelen vollauf zu regeln. Als vor einigen Jahren in Berlin der Herpes ton¬
surans besonders häufig auf trat, wurden in einer Arbeit von Saalfeld der Ber¬
liner Barbier- und Friscurinnung folgende Massregeln von K ö b n e r empfohlen
zum Schutze des Publikums: 1. Ausbrühen der Rasiermesser und Rasierpinsel in
siedend heisscm Wasser, 2. eigene Pinsel für jeden einzelnen Barbierkunden,
3. für jeden Barbierten ein reines, frischgewaschenes Handtuch, 4. gesonderte
Puderquasten. Ausserdem wird die Zurückweisung jedes mit pilzverdächtigen
Ausschlagsherden im Gesicht oder am Halse Behafteten aus den Barbierstuben
gefordert. — Von allen diesen Massregeln ist nur vereinzelt die Abschaffung der
Puderquaste durchgeführt worden, an deren Stelle in einigen wenigen Geschäften
kleine Wattebäuschchen, die nach dem Gebrauch weggeworfen werden, ge¬
treten sind.
Die Erfolglosigkeit der Köbner’schen Vorschläge erblickt Bl. einmal
darin, dass diese Forderungen nicht obligatorisch sind, dass keine Behörde da
ist, welche auf ihrer Befolgung besteht; sodann aber hindern rein wirthschaftliche
Gründe ihre Durchführung; denn bei einer Bezahlung von 5—15 Pf. können die
Geschäftsinhaber einfach nicht eine solche Summe weitgreifender und kost¬
spieliger Kautelen aufwenden. Was die Massnahmen selbst betrifft, so wäre ja
die einfachste Lösung: gesondertes Rasierzeug, d. h. auch besonderes
Messer für jeden einzelnen Kunden. Wo sich diese Massregel nicht durchführen
lässt, müsste man wenigstens die peinlichste Sauberkeit verlangen: Ausbrtihen
der Messer und Pinsel, oder Abwischen der Messer mit einem in absolutem Al¬
kohol getauchten Wattebausch. Sodann wäre allgemein an Stelle der Puder¬
quasten die Anwendung von Wattebäuschchen anzuordnen; an Stelle der verlangten
reinen Servietten hat die Benutzung von Servietten aus chinesischem Papier zu
treten zum Ab wischen. Alle diese Anordnungen müssten in einem
Regulativ vereinigt werden und die dauernde Kontrole hierüber ist den
für Berlin schon längst als dringend nöthig erachteten Gesundheitsauf¬
sehern zu übertragen. Um die an Geschlechtskrankheiten selbst leidenden
Barbiere und deren Gehilfen eher dem Beruf zu entziehen, hält Bl. schliesslich
die Umwandlung der nach §. 6 a des Krankenkassengesetzes für ansteckende
Krankheiten fakultativen Krankenhausbehandlung in eine obliga¬
torische für Geschlechtskranke durch Statut für erforderlich.
Dr. Dütschke-Aurich.
Formalin. Von Dr. J. Stahl, Inhaber von Dr. E. Ritsert’s bak¬
teriologisch-chemischem Institut. Pharinaz. Zeitung vom 18. März 1893, Nr. 22.
Die praktische Desinfektion bezweckt absolut sichere Abtödtung aller In¬
fektionskeime innerhalb möglichst kurzer Zeit mit möglichst geringen Kosten,
möglichster Schonung der zu desinfizirenden Objekte und ohne dass die Gesund¬
heit der desinfizirenden Personen darunter leiden. Die jetzigen Methoden sind:
596
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
1) Mechanische Reinigung, 2) strömender Wasserdampf, ö) chemische Desinfek¬
tionsmittel; sie leiden jedoch alle an gewissen Unzuträglichkeiten und genügen
der Anforderung nicht unter allen Umständen, namentlich nicht die Desinfek¬
tionsmittel, über deren Wirkungen Koch und seine Schüler manche Illusion
zerstört haben. ,
Die Schering’sehe mechanische Fabrik hatte den glücklichen Gedanken,
angeregt durch eine Notiz von Löw aus dem Jahre 1886 und die Arbeiten von
Aronson 1892 (Berl. klin. Wochenschr. S. 749) und von Berlioz und
Trillat (Comptes rendues I, 115, p. 290) das Formaldehyd in die Desinfek¬
tionstechnik einzuführen. Die konzentrirte 40% wässerige Lösung ist mit dem
Namen Formalin belegt.
Die Versuche Stahl’s erstrecken sich auf folgende:
1. Mikrobicide Kraft des Formalins in wässeriger Lösung.
2. Mikrobicide Kraft der Formalindämpfe.
8 Sterilisirung von Verbandstoffen durch Formalith (mit Formalin dorch-
tränkte Kiselguhrstücke).
4. Mikrobicide Kraft des Formalins bei der Bestäubung von Papier und
Stoffproben, Tapeten, Seide, Sammet, Atlas etc.
Indem in Bezug auf die Einzelheiten das Original eingesehen werden möge,
sind die Nutzanwendungen und Schlussfolgerungen der Arbeiten folgende:
Formalin ist, wie kein anderes Mittel zur Desinfektion geeignet. Die
Wirkung ist dem des Sublimats ähnlich; das Formalm ist relativ ungefährlich,
lässt Gegenstände organischer oder unorganischer Natur intakt, es ist billig und
seine Handhabung eine leichte.
Formalin ist leicht vergasbar, wird von festen Körpern geradezu anfge-
saugt und dringt in die verborgensten Ritzen der Desinfektionsobjekte.
Die Anwendungsweisen sind folgende:
1) Desinfektion vermittelst Zerstäubungsapparate: Für glatte Wände ge¬
nügt die Bestäubung mit % % Formalinlösung. Für eine Wand von 50 qm sind
0,4 1 einer %% Lösung oder 5 gr 40% Lösung nöthig. Möbeln, Kleidungs¬
stücke sind mit 1—2% Lösung energisch zu bestäuben.
2) Die Desinfektion durch Vergasung. Formalin in geschlossenem Raume
zum Verdampfen gebracht, ist der Karbolsäure, schwefligen Säure, Chlor, Brom
und sonstigen vergasbaren Mitteln vorzuziehen. Zur Desinfektion von Pelz¬
werken wird sich vergastes Formalin besonders eignen.
Vorläufige Mittheilnng über die Desinfektion von Kleidern, Leder-
waaren, Bürsten und Büchern mit Formaldehyd (Formalin). Von Prof.
Dr. K. B. Lehmann. Münchener mediz. Wochenschrift; 1893, Nr. 32.
Angeregt durch die Veröffentlichung von Stahl und in der Hoffnung,
durch das Mittel eine Desinfektion im Hause von Stoffen vornehmen zu können,
die ein Auskochen in Wasser oder Untertauchen in Desinfektionsflüssigkeiten
nicht vertragen, stellte Verfasser Versuche an, die seine Erwartungen nicht
täuschten. Die Untersuchung geschah mit der 40% Formalinlösung. Von den
Resultaten seien hervorgehoben: Mit 30 gr der Lösung ist durch die sich ent¬
wickelnden Dämpfe ein kompleter Männeranzug in einer verschlossenen Kiste,
selbst wenn es sich um Infektion mit Milzbrandsporen mittlerer Resistenz han¬
delt, zu bewerkstelligen. Bedingung ist loses Zusammenlegen der Kleider. Die
Formalindämpfe reizen allerdings stark, doch sollen sich die Arbeiter in der
chemischen Fabrik rasch an diese Unannehmlichkeit ohne Schaden für die Ge¬
sundheit gewöhnen. Von den desintizirten Kleidern schwindet der Geruch nur
langsam, Besprengen der Kleider mit Ammoniak, wodurch das Formalin in
Hexamethylentetramin übergeführt wird, beseitigt den Geruch.
Beträufelung von in einem Tuch lose gewickelten gebrauchten Kopf- und
Nagelbürsten, Ebonitkämmen und Kleiderbürsten, in eine Desinfektionskiste
gebracht, waren nach 24 Stunden keimfrei, ohne dass Borsten oder Politur ge¬
litten hatten. Ebenfalls gab die Desinfektion von Büchern gute Resultate. Ver¬
fasser knüpft grosse Hoffnungen an die Verwendung der Formalindämpfe, die
dem strömenden Wasserdampfe grosse Konkurrenz machen würden, namentlich
dürften die Haarschneidegeschäfte grossen Nutzen davon erwarten.
Die Formalindämpfe sind nicht brennbar und eine Explosionsgefahr nicht
beobachtet. Weitere Untersuchungen der Desinfektion von Wänden, Tapeten
und Verbandstoffen stehen in Aussicht.
Kleinere Mittheilungen und Referate au* Zeitschriften.
597
Ueber einige Wirkungen des Formaldehyds. Von Dr. Carl
Gegner, prakt. Arzt in Stadtoldendorf (Braunschweig). Aus dem pharmazeu¬
tisch-poliklinischen Institut des Prof. Pr. Penzoldt in Erlangen. Ebendaselbst.
Gegner prüfte zunächst den fäuln iss verzögernden Einfluss eines For¬
malinzusatzes (0,5 bis l,0°/ o ) an Urin und Blut und dann die Wirkung von For¬
malinlösungen uud Formalindämpfen auf Bakteriengemische und weiter auf Rein¬
kulturen von verschiedenen Bakterien: Staphylococcus pyogenes, Milzbrand-,
Typhus- und Cholerabazillen.
Die Anwendung in Form des Bestreichens (3 mal täglich) auf das Ohr
und ein Hinterbein einer Maus zeigte nach der ersten Pinselung schon Röthung,
Schwellung und Temperaturerhöhung. Am siebenten Tage war das Ohr hart
und konnte stückweise, wie Papier - mache, abgebrochen werden. Keine Ei¬
terung an den Grenzen des Gewebes.
Die Lösung und Dämpfe erzeugten bei Gurgelungen und Einathmungen
Brennen und Kratzen, und bei Anwendung einer 25 °/ 0 Lösung zum Pinseln im
Rachen entstand Glottiskrampf.
Die Versuchsresultate lauten: Formalin ist ein starkes Bakteriengift, über¬
trifft jedoch andere stark antibakterielle Mittel nicht, dagegen ist die Wirkung
der Dämpfe auf verschiedene pathogene Mikroorganismen, insbesondere auf die
Cholerabazillen eine sehr energische. Eine Verwendung der Formalindämpfe zur
Desinfektion von Räumen und Gegenständen, welche mit Cholera infizirt sind,
dürfte versucht werden.
Der unangenehme Geruch und die örtlich reizende Wirkung steht der
Anwendung auf Schleimhäute hindernd entgegen. Die Mumiflzirung des Ka¬
ninchenohres mahnt zur Vorsicht bei Gebrauch auf der äusseren Haut, obschon
2,5 °/ 0 Lösungen Fingerwaschungeu gestatteten. Vielleicht bieten Hautkrank¬
heiten und die histologische Technik ein Feld der Anwendung für Formalin.
Untersuchungen über Formaldebyd. Von Dr. Blum in Frankfurt.
Ebendaselbst.
Ende vorigen Jahres hatte Blum mit Forinaldehydlösungen experimentirt
und fand die Angabe der stark antiseptischen Eigenschaften verschiedener Au¬
toren bestätigt. In Bezug auf die Anwendung der Lösungen in der Chirurgie
überall da, wo es sich um rasche Abtödtungen der Mikroorganismen handelt, sei
dieselbe nicht anwendbar, weil die Aufhebung der Lebensfähigkeit von Bakterien
selbst bei Einwirkung starker Formaldehydlösungen nur sehr langsam sich
vollzieht.
Nach den Veröffentlichungen von Stahl wurden dann die Versuche
wieder aufgenommeu. Es wurde jedoch zur Bestimmung der Zeit, welche noth-
wendig ist zur Abtüdtnng von Mikroorganismen durch ein Antiseptikum eine
vom Stahl'scheu Verfahren abweichende angewandt, die vor dem Ausstreichen
der desinfizirten Fäden auf feste Nährboden das Antiseptikum entfernen Hess.
Das Resultat lautet: Formaldehyd hebt selbst in starken Konzentrationen
nur langsam die Lebensfähigkeit der Mikroorganismen auf; eine ganz schwache
Lösung genügt jedoch schon, um die Fäulniss und Entwickelung von Pilzen zu
verhindern unter allmählicher Abtödtung der Bakterien.
Die innerliche Darreichung Hess bei Thiercn Unsicherheit des Ganges und
langsam cintretcnde Paresen der hinteren Extremitäten, sowie Aufhebung der
Fresslust als Vergiftungssymptome erkennen.
Verfasser glaubt nicht an eine mögliche Anwendbarkeit in der Chirurgie,
jedoch an die Brauchbarkeit des Formaldehyds als Konservirungsmittel.
Untersuchungen über Formaliudämpfe sind nicht erwähnt.
Dr. Overkamp -Warendorf.
Experimentelle Untersuchungen über das in Greifswald einge-
fübrte neue Kübel-Reinigungsverfahren. Von F. Kornstädt, prakt.
Arzt. Aus dem hygienischen Institut in Greifswald. Zeitschrift lür Hygiene
und Infektionskrankheiten XV., 1.
Dem Kübel- oder Tonnensystem, welches für eine grössere Anzahl von
Städten unzweifelhaft die zweckmässigste Art ist, sich der menschlichen Ab¬
fallstoffe zu entledigen, haftet eine nicht unerhebüche Gefahr dadurch an, dass
es praktisch undurchführbar ist, die Kübel bei dem nothwendigen Wechsel stets
in dasselbe Haus zurückzubringen, so dass die Möglichkeit der Verschleppung
598
Besprechungen.
von Krankheitskeimen vorhanden ist. Verfasser bezeichnet die in verschiedenen
Städten eingeführten sog. Desinfektionsverfahren, welche meistens in Spülung
mit verdünnter Karbolsäure bestehen, mit Recht als ganz unzulänglich und be¬
schreibt die Reinigungsanlage, welche in Greifswald eingerichtet ist. Der Inhalt
der Kübel wird daselbst mit dem Küchenmiill und Strassenkehricht zu Kompost
verarbeitet und dadurch der Landwirtschaft dienstbar gemacht, wodurch ein
Theil der Abfuhrkosten gedeckt wird. Die Kübel werden mittelst eines Brause¬
apparates durch ein unter gewissem Druck einströmendes Gemisch von Dampf'
uud heissem Wasser gereinigt. Das Verfahren hatte sich bei der experimen¬
tellen Prüfung, welche Löffler an neuen, glattwandigen Kübeln vorgenommen
hatte, ausreichend bewiesen, um dieselben in keimfreien Zustand zu versetzen.
Verfasser konnte aber feststellen, dass das Verfahren ohnmächtig war, sobald
die Wandungen der Kübel durch längeren Gebrauch angegriffen waren, da die
Spaltpilze in den Rissen und Spalten der Holz wände Schlupfwinkel fanden, in
denen sie der Einwirkung des Dampf-Wassergemisches entzogen blieben. Da¬
gegen hatten sich einige, seit längerer Zeit in Gebrauch befindliche, innen mit
Emaillefarbe gestrichene Kübel recht gut bewährt und konnten leicht sterilisirt
werden; noch mehr würde sich nach Verfasser die Verwendung von verzinnter
eiserner, innen emaillirter Kübeln — vielleicht auch von Papierkübeln — em¬
pfehlen. Dr. Langerhans -Celle.
Versuche über die Desinfektion der städtischen Abwässer mit
Schwefelsäure. Von Dr. M. Ivanoff aus Sophia. Aus dem Institut für In¬
fektionskrankheiten. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten XV, 1.
Die bekannte Empfindlichkeit der Cholerabakterien gegen die Einwirkung
selbst stark verdünnter Säuren veranlasste Ivanoff zu einer Versuchsreihe, welche
die Möglichkeit feststellen sollte, durch Zusatz von Schwefelsäure zu städtischer
Kanaljauche in letzterer enthaltene Cholerabaktcrien abzutödten. Es wurde
Berliner und Potsdamer Kanaljauche verwendet und derselben Cholerastuhl,
bezw. auch Cholera-Bakterien in Reinkultur hinzugesetzt. Zusatz von Schwefel¬
säure bis zu stark saurer Reaktion entsprechend einem Gehalte von 0,08 Prozent
bewirkte in einer Viertelstunde Abtödtung der Cholerabakterien. Das Verfahren
würde sich nächst der Kalkdesinfektion als das billigste gestalten. Ders.
Besprechungen
Dr. Friedrich Endemann, Prof. d. Rechte in Königsberg i. Pr.: Di e
Rechtswirkung der Ablehnung einer Operation sei¬
tens des körperlich Verletzten. Ein Beitrag zur Lehre
von der zivilrechtlichen Haftung aus Körperverletzungen nnd zur
Auslegung der Reichsversicherungsgesetze. Berlin 1803. Ver¬
lag von Carl Hey mann. Gross 8°; 130 S.
Die Frage, welche den Gegenstand der vorliegenden Abhandlung bildet,
ist in Folge der neuen Haftpflicht-Kranken- und Unfallversichcrungs-Gesetz¬
gebung einerseits, in Folge der grossen Fortschritte der medizinischen Wissen¬
schaft auf dem Gebiete der Operationslehre andererseits, für Juristen wie für
Mediziner von einer weit grösseren Bedeutung wie früher. Es ist daher dankbar
anzuerkennen, dass ein Mann von der wissenschaftlichen Bedeutung des Ver¬
fassers gerade diese Frage einer ebenso gründlichen, wie klaren Behandlung
unterzogen hat.
Der Verfasser bespricht zunächst im I. Kapitel den Kausalzusammenhang
und seine Unterbrechung; im II. die Culpakompensation; im III. die Bemessung
des verursachten Schadens, und im IV. und letzten, welches für die Mediziner
das bei weitem wichtigste und interessanteste ist, (las Reichsversicherungsrecht.
Es ist weder in der Theorie noch in der Praxis bisher bestritten, dass das
mit der Haftpflicht belegte Ereigniss, dessen Folge der eingetretene Schaden ist,
durch Unterlassen seitens eines Menschen nicht kausal werden kann, dass viel¬
mehr der Mensch nur durch Handlungen kausal wird, wohl aber wird mit Recht
Tagesnachrichten.
599
angenommen, dass wenn in Folge eines Ereignisses, auch eines Naturereignisses,
z. B. Blitz, ein Schaden entsteht, der Mensch für diesen Schaden juristisch haft¬
bar zu machen ist, wenn der Kausalzusammenhang zwischen Ereigniss und
Schaden durch schuldhaftes — bezw. nach der Rcichshaftpflicht und Unfallver¬
sicherungsgesetzgebung wegen Gefährlichkeit des Betriebes auch ohne Culpa ge¬
setzlich verpflichtendes — Thun oder Unterlassen, z. B. durch fehlerhafte An¬
lage eines Blitzableiters, da wo die Pflicht richtiger Anlage vorlag — herbei¬
geführt ist, dass wir also „für die Begründung der rechtlichen Haftung nicht
den Nachweis des Verschuldens im Sinne von Verursachung brauchen“. Auch die
weitere Folgerung des Verfassers, dass blosse Unterlassung den Kausalzusammen¬
hang nicht aufhebt, ist ebenso unbestritten, desto bestrittener dagegen die
Frage, ob auch durch Culpakompensation der Kausalzusammenhang nicht auf¬
gehoben werden könne. Auf scharf logisch aufgebaute Gründe gestützt, beant¬
wortet Verfasser diese Frage dahin, dass die eigene Culpa die Haftung nur auf-
lieben kann, wenn sie bei Entstehung des Schadens mitwirkte, eine Unterlassung
des Verletzten aber niemals; er kommt daher zu dem Resultate, entgegen der
neueren Praxis des Reichsgerichtes, die Verweigerung der Operation begründet
keinen Einwaud gegenüber dem Entschädigungsansprüche des Verletzten.
Im dritten Theile weist Verfasser überzeugend nach, dass auch bei Be¬
messung des effektiven Schadens die Operationsmüglichkeit keine Berücksichtigung
finden kann, da von den allein in Betracht kommenden schweren eigentlichen
Operationen nur die absolut nicht lebensgefährlichen den Verletzten zuzumuthen
wären, derartige Operationen aber nicht existiren und da auch der Erfolg der
Operation sicher nie vorauszusetzen ist.
Im letzten Theile wird ausgeführt, dass — nicht nach dem Reichshaft-
pflichtgesetze, wohl aber bei der Reichs Versicherung — dem Verletzten die
Pflicht zur Krankenhausbehandlung bis zur Heilung bei Verlust der Schadener¬
satzforderung während dieser Zeit, nicht aber die Pflicht zur Duldung einer
Operation vorliegt, und dass die gleichen Grundsätze bezüglich der Reichs-In-
validitäts- und Altersversicherung gelten.
Die Abhandlung ist durchweg in vorzüglichem, auch dem Nichtjuristen
verständlichen Style geschrieben und kann das Studium besonders der beiden
letzten Theile Medizinern auf das Wärmste empfohlen werden.
Dr. R u m p - Osnabrück.
Tagesnachrichten.
In den Reichshaushalts - Etat für 1894/95 sind bei dem des Reichsge¬
sundheitsamts 11400 Mark mehr in Ansatz gebracht für zwei neue Mitglieder,
deren Anstellung durch die Zunahme der Geschäfte bedingt ist; ausserdem werden
noch 11000 Mark mehr für die sächlichen Ausgaben verlangt. Unter den ein¬
maligen ausserordentlichen Ausgaben sind als erste Rate zum Bau des neuen
Dienstgebäudes für das Rcichsgesundheitsamt 155000 Mark in den Etat eingestellt.
Cholera. Im Deutschen Reiche hat die Zahl der Cholera - Erkrankungen
in der Zeit vom 10.—23. November eine weitere Abnahme erfahren. In West-
und Ostpreussen sind nur 4 Erkrankungen an 3 Orten der Kreise Briesen,
Labiau und Osterode vorgekommen; im Odergebiete 24 mit 12 Todesfällen
[davon in Stettin 5 (2), in Gartz a. 0. 6 (1), in Gollnow 7 (5), in Greifenhagen
(2), in Gieiwitz 2 (1); die übrigen vertheilen sich auf einzelne Orte in den
Kreisen Randow, Angermünde, Königsberg i./N. und Oberbarnira]; im Havel-
und Elbegebiet: 9 mit 5 Todesfällen, davon 1 in Berlin, 6 (4) in vier Orten
der Kreise Zauch - Belzig, Westbavelland, Ruppin und im Hamburger Land¬
gebiet, und 2 (1) unter den Arbeitern des Nordostseekanals.
In Hamburg und Altona sind seit dem 2. bezw. 7. November keine
Cholera-Erkrankungen mehr zur Anzeige gelangt, so dass an beiden Orten die
Seuche als erloschen anzusehen ist.
In Oesterreich hat sich in Galizien die Zahl der (’holera - Erkran¬
kungen in den Wochen vom 7.—15. und 14.—21. November ungefähr auf der¬
selben Höhe wie iu den Vorwochen gehalten: 41 und 49 mit 28 bezw. 16 Todes¬
fällen in 10 bezw. 17 Gemeinden und 7 bezw. 10 politischen Bezirken. Die
600
Tagesnachrichten.
meisten Erkrankungen kamen im Bezirke Staremiasto vor (43 mit 20 Tode*- .1
fällen), während in den früher hauptsächlich verseuchten Bezirken Sanock und
Stanislau die Seuche fast erloschen ist. Aus der Buckowina sind während l
desselben Zeitraums und zwar aus der Gemeinde Doroszoutz 7 Erkrankungen *
und 5 Todesfälle gemeldet.
In Ungarn ist die Zahl der Neuerkrankungen und Todesfälle an Cholera
in der Woche vom 1.—7. November bedeutend zurückgegangen, und stellten sich
auf nur 64 bezw. 31 in 35 Gemeinden, gegenüber 237 bezw. 144 in 67 Gemeinden
während der vorhergehenden Woche vom 29.—31. Oktober. Hauptsächlich ver¬
seucht ist noch das Komitat Torontal, die Zahl der Erkrankungen betrug: hier
während jenes Zeitraums 124 mit 68 Todesfällen. In Budapest sind noch 11
Erkrankungen und 9 Todesfälle, in Klausenburg 3 und 1 Todesfall zur Anzeige
gelangt. " j
In Bosnien ist die Cholera gleichfalls im Rückgänge begriffen. Vom
16.—22. Oktober betrug die Zahl der Erkrankungen noch 169 mit 85 Todesfällen
in 44 Ortschaften, davon im Bezirk Brcka 74 bezw. 38, in der darauffolgenden j
Woche vom 23.—31. Oktober dagegen nur 109 Erkrankungen und 66 Todesfälle : \
davon im Bezirk Brcka 61 bezw. 25. jf
In Rumänien sind vom 30. Oktober bis 5. November nur 5 Neuer¬
krankungen an Cholera zur amtlichen Kenntniss gelangt; in Konstantin opel
und Umgegend lässt sich dagegen noch keine Abnahme der Seuche gegenüber
den Vorwochen konstatireu; am 23. November betrug z. B. die Zahl der täglichen
Erkrankungen noch 52 mit 12 Todesfällen. Seit dem am 10. September erfolgten
Ausbruch der Cholera bis zum 6. November sollen 344 Erkrankungen und 202
Todesfälle vorgekommen sein; seitdem scheint die Krankheit aber an Ausbreitung
zugenommen zu haben.
In Italien ist die Cholera scheinbar im Erlöschen begriffen; in Palermo
sind in der letzten Zeit nur noch vereinzelte Erkrankungen angemeldet. Bis
zum 2. November hat hier die Gesammtzahl der Cholerafälle 968 betragen,
darunter 507 mit tödtlichem Verlaufe.
Auch in Spanien ist die Cholera erloschen; seit dem 30. Oktober sind
keine Neuerkrankungen mehr vorgekommen.
Ueber den gegenwärtigen Stand der Cholera in Frankreich liegen
keine näheren Nachrichten vor. In Belgien sind vom 17.—31. Oktober 28 Er¬
krankungen und 15 Todesfälle (davon 23 bezw. 13 in Antwerpen) vorgekommen; i
in den Niederlanden vom 31. Okt. bis 13. Nov. 13 vereinzelte Todesfälle. |
In Russland betrug die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle in der
Stadt Petersburg vom 12.—20. Novbr.: 65(25); in der Stadt Moskau vom 5. bis
11. Novbr.: 2 (2); vom 29. Okt. bis 11. Novbr. in den Gouvernements: Peters*
bürg 61 (13), Moskau 31 (12), Kiew 450 (148), Wolhynien 696 (269), Wilna 36
(33), Kaiisch 28 (31), Warschau 41 (11), Siedlec 76 (44), Grodno 33 (13), j
Esthland 5 (2), Lomsha 137 (76), Kowno 162 (65). Es geht daraus ein Nach- |
lass der Seuche hervor, insbesondere in den westlichen Provinzen.
Preu88ischer Medizinalbeamtenverein.
Die Mitglieder des Preussischen Medizinalbeamtenvereins werden auf den
der heutigen Nummer beigegebenen vorläufigen Geschäfts- und Kassenbericht
noch besonders aufmerksam gemacht.
Der Vorstand des Preussischen Medizinalbeamtenvereins.
Im Auftr.
Dr. Rapmund,
Reg.- und Med.- Rath in Minden.
Vorsitzender.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath in Minden i. W.
J. C. G. Bruns, Bncbdrackerei, Minden.
6. Jahrg.
Zeitschrift
1893.
für
MEDIZINALBEAMTE
Herausgegeben von
Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND
San.-Rath u. gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in Minden.
und
Dr. WILH. SANDER
Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin.
Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Inserate, die durchlaufende Petitzell© 45 Pf., nimmt die Verlagahandlnng und Rad. Mosse
entgegen.
No. 24.
Krsehefnt am 1. und 15* Jeden Monate.
Preis Jährlich 10 Mark.
15. Dezbr.
Einige Fälle von wahrscheinlicher und von angeblicher
Vergiftung durch Wurst und Fleisch.
Aus dem Institute für gerichtliche Medizin des Herrn Hofrathes Professor
v. Hofmann in Wien.
Von Dr. Albin Haberda, Assistenten am Institute.
So zahlreich auch die Berichte über Fälle von Wurst- und
Fleischvergiftung sind, so haben sie doch noch keine vollständige
Aufklärung dieser Erkrankungen namentlich in Hinsicht des eigent¬
lichen Krankheitsgiftes zu erbringen vermocht und schon deshalb
erscheinen weitere Beiträge zu diesem interessanten Kapitel ge¬
rechtfertigt, da sie in Zukunft für unsere Erkenntniss von Wich¬
tigkeit werden können.
Zumeist sind es Massenerkrankungen, über die berichtet wird,
und diese sind schon durch die Art ihres Auftretens, die gleiche
Gelegenheitsursache und den gleichartigen Verlauf soweit auf¬
geklärt, dass sie zwar von grösstem medizinischen Interesse sind,
vor Gericht aber doch mehr oder weniger klar erscheinen. 1 ) Viel
schwieriger zu beurtheilen sind die Fälle, wenn sie auf wenige
Erkrankungen beschränkt Vorkommen, und gerade über solche
Fälle soll nachstehend berichtet werden.
Der Krankheitsverlauf ist in den Fällen von Wurst- und
Fleischvergiftung ein ziemlich gleicher und auch in aetiologischer
Hinsicht werden jetzt beide mit grosser Wahrscheinlichkeit auf
die toxische Wirkung gewisser organischer Basen zurückgeführt.
*) In jüngster Zeit hat Schröder (Vierteljahrsschr. f. ger. Med., III. Folge,
VI. Bd., Suppl.-H. p. 104 u. ff.) eine Massenerkrankung beschrieben, die durch
das Fleisch einer Kuh veranlasst wurde, die wegen eines Klauenübels (Panaritium)
notligeschlachtet worden war. In dankenswerter Mühe fügt er in Ergänzung
K o b o r t s eine tabellarische Zusammenstellung der bisher veröffentlichten Massen-
erkrankuugen durch Fleisch und Warst an.
602
Dr. Haberda.
Sehen wir von den früher auch hierher gezählten Fällen von
Trichinosis und von den sicheren intestinalen Milzbrandinfektionen
ab, so kommt als nächste Gelegenheitsursache vor Allem Folgendes
in Betracht: Entweder stammte das roh oder irgendwie zube¬
reitet genossene, allenfalls zur Wurst verarbeitete Fleisch von
einem mit einer Infektionskrankheit behafteten Thiere, oder
aber das Fleisch oder die daraus bereitete Wurst unterlag,
obwohl ursprünglich giftfrei, gewissen Zersetzungsprozessen, die
übrigens nicht identisch sein müssen mit der gewöhnlichen Fäul-
niss (Husemann), und wurde dadurch gesundheitsschädlich, ein
Umstand, auf den wir noch zu sprechen kommen. In ersterer Hin¬
sicht sind es namentlich septische und pyaemische Erkrankungen
der Thiere, insonderheit von den Geburtswegen bei Kühen (Bol-
linger, Flinzer) oder vom Nabel bei Kälbern ausgehend, doch
sicher auch andere Infektionskrankheiten, und es ist bezeichnend,
dass es, wie Bollinger hervorhebt, zumeist das Fleisch nothge-
schlachteter Thiere ist, das zur Ursache solcher Erkrankungen wird.
In letzterer Hinsicht muss bemerkt werden, dass ein Fleisch oder
eine Wurst giftig wirken kann, ohne gerade Verdacht erregend
auszusehen oder zu schmecken, ja von Einzelnen wird sogar be¬
merkt, dass durch gewöhnliche Fäulniss das Wurstgift unwirksam
werden kann, abgesehen davon, dass evident faules und stinkendes
Fleisch oder derartige Würste nicht leicht von Jemand genossen
werden. Es kann vorläufig noch nicht als sicher hingestellt werden,
ob es wirklich in Fleisch und Wurst zur Entwicklung kommende
organische Basen, Ptomaine, sind, die, in den Körper eingefuhrt,
zu den schweren Erkrankungsformen führen, zumal nur vomPto-
matropin bisher sicher gestellt ist, dass seine Wirkungen auf den
thierischen Organismus den Krankheitssymptomen bei Botulismus
analog sind, oder ob nicht die Invasion von Mikroorganismen
als solchen vom Magendarmtrakt aus zu den Erkrankungen führt, die
man unter den Namen Wurst- und Fleischvergiftung zusammen¬
fasst und die mit gewisser Berechtigung auch als intestinale
Sepsis (Bollinger) oder als intestinale Mykosen (im Sinne
Hubers 1 ) bezeichnet werden könnten. Vielleicht greifen beide
diese aetiologischen Momente Platz, und in der That gelang es
einzelnen Autoren (z. B. Ehrenberg 2 ) Ptomaine aus zur Ur¬
sache der Vergiftung gewordener Wurst darzustellen, während
Andere Bazillen in solchem Materiale fanden (wie z. B. Gärtner
im Fleischsaft und Gaffky), sie rein kultivirten und mit mehr
oder weniger sicherem Erfolge auf Thiere übertrugen.
Bezüglich der klinischen Symptome verweise ich auf
Huber’s 3 ) Angaben und auf die Schilderung inKobert’s ausge¬
zeichnetem Lehrbuche der Intoxikationen p. 711 und ff., in dem sich
auch eine erschöpfende Literaturangabe findet. Uebrigens werde
ich bei der Schilderung meiner Fälle das Wesentliche hervorheben.
Auch auf die Obduktionsbefunde kommen wir später zu sprechen.
*) Deutsches Arch. f. kl. Mediz., Bd. 25, p. 220—211.
*) Zeitschr. f. phy-. Chemie, Bd. 11, p. 239.
*) 1. c.
Einige Fälle von wahrscheinlicher u. von angebl. Vergiftung durch Wurst etc. 603
Ich will zunächst über drei Fälle aus diesem Jahre berichten,
von denen ich zwei zu seziren Gelegenheit hatte:
Am 27. Juli verzehrte die Familie W., aus Vater und zwei
Töchtern bestehend, in voller Gesundheit das Abendbrot, das aus
vier Stück Cervelatwürsten bestand, die am selben Abend
bei dem benachbarten Wirthe Sch. gekauft worden waren. Der
Vater, Alois W., ein 48 jähriger Goldarbeiter, ass zwei, die jüngere
lljähr. Tochter, Helene, ein Stück der Würste, indess die 12 1 /*
Jahre alte Marie sich mit einem Theil der vierten begnügte. Dazu
tranken die drei zusammen 1 Liter Bier.
Am nächsten Tage wurden alle unwohl, zuerst der Vater,
zuletzt Marie. Sie hatten Brechreiz und Erbrechen,
Appetitlosigkeit und Bauchschmerzen, weshalb am 29.
ein Arzt gerufen wurde. Dieser hielt die Erkrankung für einen
einfachen Magenkatarrh und verordnete Chinadekokt und Acid.muriat.
dilut. Von dem zuerst Erbrochenen und dem Wurstrest bekam
er nichts zu Gesichte, da diese Dinge schon beseitigt worden
waren. In der nächsten Zeit verschlimmerte sich der Zustand bei
den Patienten, es gesellten sich Diarrhöen und Schwindel
hinzu, auch hohes Fieber (bis39,4°), Benommenheit des
Sensoriums und leichter Icterus stellten sich bei dem
Manne und der jüngeren Tochter ein, so dass beide am 3. August
in’s Spital abgegeben wurden. Die ältere Tochter, die am leich¬
testen erkrankt war, kam erst am 6. August in ein Spital.
Bei der Aufnahme im Spitale zeigte Alois W. leichte
Lippen-Cyanose, mässig frequenten Puls, Fieber und an
beiden Unterschenkeln einzelne stecknadelkopf¬
grosse Haemorrhagien. Ueber beiden Lungen wurde Bron¬
chitis konstatirt. Die Herztöne waren dumpf, doch rein, das
Abdomen etwas aufgetrieben, Leber und Milz leicht ver-
grös8ert. Am Abend der Ankunft war die Temperatur 39,8°.
In den folgenden drei Tagen hielt sie sich stets über 38°. Am
6. August wurde deutlicher Milztumor konstatirt, am
8. August stellten sich reichlichere hellbraune Stühle, am 9. deut¬
licher Icterus und Dyspnoe ein, nachdem schon in der ganzen
Zeit vorher leicht icterisches Kolorit bemerkbar gewesen war.
Am 10. August starb der Patient.
Das jüngere Mädchen, Helene W., klagte bei der Aufnahme
über seit 8 Tagen bestehende Bauchschmerzen, zeigte trockene
Lippen, belegte Zunge. Sie war icterisch, zeigte reichliche
Diarrhöen und Schmerzhaftigkeit des Bauches. Am
5. collabirte sie, wurde cyanotisch und pulslos. Man
reichte ihr reichlich Excitantia. Am 6. bestand starke Hinfällig¬
keit und Blässe. Die Bewegung des Kopfes war erschwert,
rechts zeigte sich leichte Ptosis, die Pupillen waren
gleich weit, die rechte Naso-labialfalte etwas verstrichen.
Allgemeine Hyperalgesie; Puls 112. Sie erbricht in den
folgenden Tagen grünliche Flüssigkeit, hat flüssige
Stühle und deutlichen Milztumor.
Am 10. August ist die Patientin ungemein hinfällig, ihr
604
Dr. Haberda.
Puls 132, sie blutet aus dem Zahnfleisch. Am 11. ist di“ Par<»-
tisgregend schmerzhaft. Die Blutuntemichunff ergiebt stark
vermeinte weisse Blutzellen. Am 12. Auffust Nachmittags stirbt
die Patientin.
Marie allein blieb am Leben. Sie kam am 6. August be¬
wusstlos mit sehr weiten und ungleichen Pupillen im
Spital an, erbrach fortwährend grünliche, sauer reagireiide
Massen, lag zusammengekauert im Bette. Die Haut war wachs¬
gelb und trocken, die Temperatur 39,9°. Dem Mund ent¬
strömte widerlicher Geruch, die Athmungsfrequenz war auf 60
gesteigert. Das Abdomen aufgetrieben; Leber und Milz ver-
grüssert, Stühle diarrhöisch. Unter excitirender Behandlung erholte
sie sich schon am zweiten Tage und rekonvalescirte von da an,
wenn auch langsam. Am 26. August ist sie schon so weit erholt,
dass sie von der Ursache ihrer Erkrankung zu erzählen vermag.
Sie giebt an, sie hätten an jenem Abend ausser den Würsten
nichts gegessen, sicher keine Schwämme, auch nicht in den vorher¬
gegangenen Tagen. Die Würste hätten ganz gut geschmeckt.
Noch ehe ich mir diese, zwar nicht sehr genauen, doch
immerhin werthvollen Angaben vom behandelnden Arzte und in den
betreffenden Spitälern verschafft hatte, nahm ich wegen des be¬
stehenden Verdachtes auf Wurstvergiftung am 12. August
die gerichtliche Obduktion der Leiche des Alois W. und
am 14. August jener der Helene W. vor. Erstere Leiche war
leider schon sehr faul.
Ich lasse die Obduktionsbefunde ziemlich ausführlich folgen:
Leiche des Alois W.:
Körper gross, wenig genährt Haut Hass mit deutlichem Stich in’s
Gelbliche, am Kücken und in der linken Gesichtshälfte rothviolett. Binde¬
häute gelblich. Pupillen 3 mm weit. Aus Mund und Nase entleert sich
schmutzig rot he Flüssigkeit. Bauch faulgrün. Untere Gliedmassen todtenstarr.
Hirnhäute und Hirn mässig blutreich, erstere etwas feuchter, Hirnkammern
etwas weiter, mit leicht verdicktem Ependym. Hirngefässe zart, in den Blut¬
leitern locker geronnenes Blut.
Die Weichtheile des Halses blutig imbibirt. In den oberen Luftwegen
röthliche Flüssigkeit, die Schleimhaut schmutziggrün.
Das Zwerchfell rechts an der 5., links an der 6. Rippe. Die Lungen
stark ausgedehnt, ihre Überlappen blutarm, vollständig lufthaltig; die Unter¬
lappen sehr blutreich, etwas dichter, schaumarrae Flüssigkeit entleerend
und in scharf umschriebenen lobulaeren Herden grauviolett,
luftleer und undeutlich gekörnt. In den Bronchien rechterseits grauer
Schleim.
Das Herz ebenso wie der Herzbeutel reichlich mit schlaffem Fett be¬
wachsen, sehr schlaff, etwas breiter; in seinen Höhlen spärliches leicht geronne¬
nes Blut, die Innenwand überall blutig imbibirt. Klappen und Gefässe ziemlich
zart, die Kammern weiter, der Herzmuskel, besonders rechts stark von Fett¬
gewebe durchwachsen, gelbbraun und z er r e is s lic h.
Leber gross, plumprandig, glatt, am Durchschnitt dichter, blutarm,
undeutlich gezeichnet und theils gelbbraun, theils faulgrün. Milz
gross, mit gespannter Kapsel, w e i c h , Gewebe ehokoladefarbig. Nieren
gross, von Fäuluissblascu durchsetzt, Rinde breiter, graugelb, Ober¬
fläche glatt.
Im Magen nebst Gas etwa 50 g einer dunkelbraunen unangenehm riechen¬
den Flüssigkeit ;die Schleimhaut verdickt, theils gelbgrau, theils
graugrün. Im Dünndarm mässig reichlicher gallig gefärbter
wässriger Inhalt, im Dick darin nebst spärlichem galligen
Einige Fälle von wahrscheinlicher n. von angebL Vergiftung durch Wurst etc. 605
Koth etwas gallig gefärbte Flüssigkeit, die Schleimhaut über¬
all dünn und blass, die Schleimhautfalten im oberen Dünndarm
sowohl, als besonders die Follikel und Plaques im Ileum und
die Follikel des Dickdarms grau pigmentirt, flach. Die mesen¬
terialen Lymphdrüsen klein, blass. Das Unterhaut- und Bauchfett sehr schlaff.
Leiche der Helene W.
Körper 127 cm lang, schwächlich und wenig genährt, die Haut blass¬
gelb, am Rücken nur spärliche violette Todtenflecke. Gesicht verfallen, Bulbi
eingesunken, Bindehäute stark gelb, Pupillen über mittel weit, gleich.
Ans dem Munde entleert sich gelbliche Flüssigkeit; die Zähne rhachitisch, das
Zahnfleisch schmutzigblauroth und gelockert, Hals und Thorax lang und schmal,
Bauch stark eingezogen. Keine Todtenstarre.
Schädeldecken blassgelb, ebenso die Qura; die inneren Hirnhäute blut¬
reich und mit reichlichem gelblichen Serum durchtränkt, Hirn weich, feucht,
blntreich. Im Marklager des Grosshirns, desgleichen in der
inneren Kapsel und unter dem Ependym der Hirnkammern reich¬
liche, theils streifige, theils punktförmige, zumeist in
Gruppen stehende kleine Blutaustritte. Die Meningen des
Kleinhirns reichlich injicirt und auch ecchymosirt. Kleinhirn
weich und blutreich; auch in ihm und zwar in Mark und Rinde
kleinste Blutungen. In den Blutleitern spärliche Fibringerinnsel.
Die Lymphdrüsen am Halse vergrössert und blass, nur eine am
linken Unterkieferwinkel blutreicher. In den oberen Luftwegen gelbgrüne
Flüssigkeit, die Schleimhaut blass. Zwerchfell beiderseits an der 4. Rippe.
Linke Lunge vielfach fädig angewachsen, im linken Pleurasack
etwa 100 g einer nicht getrübten hellgelben Flüssigkeit. An der Aussen- und
Hinterseite des Unterlappens reichliche Ecchymosen. Die Lunge überall lufthaltig,
im Oberlappen sehr blutarm, im Unterlappen mässig blutreich und von reich¬
lichem schaumigen blassgelben Serum überströmend. Die rechte Lunge nur
mit dem Oberlappen leicht angewachsen, stärker gedunsen, sonst wie links.
Herz schlaff, spärlich ecchymosirt, enthält spärliche Gerinnsel,
Klappen zart und blass, der Herzmuskel blassgelblichbraun und
morsch.
Der rechte Leberlappen mit dem Zwerchfell fädig ver¬
wachsen. Leber glatt, scharfrandig, am Schnitt dunkelgrünlicbbraun,
die acinöse Struktur verwischt. Milz plump, 12 cm lang, bis
6 cm breit und bis 5 cm dick, ihre Kapsel mit der Umgebung
stellenweise verwachsen, braunviolett mit mehreren deutlich
vorragenden keilförmigen blassgraugelben und von einem
schmalen rothen Hof begrenzten Herden. Milzpulpe zer-
fliessend weich, chokoladefarben. Nieren weich, blutarm, glatt,
die Rinde verbreitert, gelbgrau, roth gestrichelt und punk-
tirt; in der Harnblase etwa 10U g blassen Harnes.
Der Magen, nur wenig ausgedehnt, enthält etwa 50 g einer braunen,
dicklichen, sauer rcagirenden Flüssigkeit. Die Magenschleimhaut ist
gallig gelb gefärbt, nur im Pyloru saut heil mehr grau und
daselbst mit zähem grauem Schleim bedeckt und etwas dicker.
Im Grunde finden sich in ihr spärliche Ecchymosen. Die Gedärme
sind kontrahirt und von aussen blass. Der Dünndarm führt mässig
reichlichen, etwas schleim igen, grünlichbraunen, fade riechen¬
den Inhalt; die Schleimhaut ist blassgrau, im Jejunum und
Ileum sind die im ersteren leicht vergrösserteu Follikel und die
Plaques pigmentirt. Im Duodenum ist der Inhalt leicht breiig, gallig
gefärbt, die Schleimhaut wie im Magen galliggelb, dünn, die Follikel leicht vor¬
stehend und blass. Im Dickdarm findet sich spärlicher, m)t etwas
trüber grauer Flüssigkeit gemengter und leicht faekulent
riechender graubrauner Schleim. Die Schleimhaut hier überall
blassgrau, hie und da auf der Höhe weniger Falten leicht
geröthet. Die Lymphdrüsen des Gekröses sind klein, hart, einige verkalkt.
Wenn wir die Sektionsergebnisse überblicken, so fallen uns
Icterus, Milztumor und degenerative Prozesse am Herzmuskel, an
der Leber und den Nieren auf, welche Veränderungen besonders
606
Dr. Haberda.
an der frischeren Leiche des Mädchens deutlich ausgesprochen
waren. Die Veränderungen entsprechen Befunden, wie wir sie
sonst bei septischen Prozesen gewöhnlich antreffen. Hierzu kommen
bei dem Mädchen noch Blutungen in den Hirnhäuten und im Hirn
selbst. Wir können diese in Einklang bringen mit den septischen
Erscheinungen und als Zeichen einer tiefgreifenden Blutdissolation
auffassen.
Die Untersuchung einzelner grösserer dieser Blutungen, sowie
der Milzpulpe auf Bakterien im Deckglaspräparate fiel vollständig
negativ aus. In der Milzpulpe fiel hierbei ungemein
reichliches rothbraunes körniges Pigment auf, was
auf reichlichen Zerfall von Blutkörperchen hinweist. In destil-
lirtem Wasser aufgeschwemmt, gab die Milzpulpe das Spektrum
des Oxybaemoglobins, das durch Schwefelammon sehr rasch reduzirt
wurde. Die mikroskopische Untersuchung des Herzmuskels
der Helene W. ergab parenchymatöse Degeneration; gleiche Ver¬
änderung zeigten die Nierenepithelien. Im Harnsediment fanden
sich reichliche Nierenepithelien, spärliche hyaline Cylinder, kein
Blut. Eiweiss konnte in Spuren, nicht aber Zucker im Harn nach¬
gewiesen werden.
Völlig verschieden von den sonst in der Literatur gegebenen
Schilderungen ist der Magen- und Darmbefund. Während sonst
selbst haemorrhagische Entzündungen der Schleimhaut, Infiltrationen
und Schwellungen des Follikelapparates mit Betheiligung der
Mesenteriallymphdrüsen, selbst nach Art des Typhus, beschrieben
werden, ja Wälder die Massenerkrankung von Kloten direkt als
Typhusepidemie bezeichnet, wogegen Huber *) mit Recht Einwand
erhebt, finden wir hier eigentlich nichts von all’ dem. Bei dem
Manne zeigte die Magenschleimhaut chronisch entzündliche Ver¬
änderungen und im Darm, der allerdings flüssigen Inhalt führte,
fanden sich Piginentirungen, wie sie nach alten Katarrhen Zurück¬
bleiben. Aehnliehe Befunde zeigte die Leiche des Mädchens. Hier
waren die Follikel zwar etwas grösser, doch muss dies eher auf
eine Konstitutionserkrankung zurückgeführt werden, die sich auch
in Vergrösserung der Lymplulrüsen des Halses und Verkalkung
der im Gekröse manifestirte. Nur im Dickdarm waren eiuige
Falten, doch nicht bedeutend, geröthet und im Magenfundus spär¬
liche Ecchymosen. Der Magen- und Darmbefund weist also auf
Darmerkrankungen hin, die gewiss längere Zeit vor dem Ge¬
nuss der Wurst bestanden haben mussten und die vielleicht als
disponirendes Moment beim Eintreten der schweren Erkrankung
durch Aufnahme des Wurstgiftes gedient haben mögen. Höchst¬
wahrscheinlich kam es hierbei zu einer akuten Reizung dieser
Organe, worauf die klinischen Symptome deuten, die aber bei dem
protrahirten Verlauf der Erkrankung zur Zeit des Todes schon
geschwunden war, so dass nur die weiteren Folgen der Aufnahme
des Giftes sich präsentirten. Das Haemorrhagische, das diese
Prozesse so oft auszeichnet und das sich deshalb wiederholt her*
l ) l. c.
Einige Fälle von wahrscheinlicher u. von angebl. Vergiftung durch Wurst etc. 607
vorgehoben findet, sprach sich in diesen Fällen im Leichenbefund
in den Hirn- und Hirnhautblutungen aus, während des Lebens bei
dem Manne im Auftreten von Haemorrhagien an beiden Unter¬
schenkeln.
Neuerdings bespricht Juhel-R6noy im Augustheft der
Annales d’hygiöne publique die klinischen Symptome in
vier Fällen von Vergiftung durch Schweinefleisch und hebt das
Auftreten von Blutungen hervor, die einerseits, als Roseola ge¬
deutet, im Verein mit anderen Symptomen zur Verwechselung mit
Typhus, andererseits zu einer solchen mit exanthematischen In¬
fektionserkrankungen oder mit anderen Hauterkrankungen fahren
können und schlägt für letztere Fälle die Bezeichnung „dermatoses
alimentaires“ vor.
Wenn wir die klinischen Symptome durchgehen, so stimmt
Manches mit den gebräuchlichen Angaben überein. So vor Allem
das Auftreten der ersten Erscheinungen erst nach dem Verlaufe
mehrerer Stunden, das Einsetzen mit Nausea und Erbrechen, die
Diarrhöen, die schweren Allgemeinsymptome mit hohem Fieber.
Leider konnte ich über das Verhalten der Pupillen in den ersten
Tagen nichts erfahren, zumal der behandelnde Arzt, der nur
an akuten Magenkatarrh dachte, die Pupillen wahrscheinlich
vernachlässigte, so dass er mir jetzt darüber keine sicheren An¬
gaben zu machen wusste. Auffallend ist, dass bei der Genesenen
noch am 10. Tage im Spitalbericht sehr weite und ungleiche Pu¬
pillen hervorgehoben sind. Betonen möchte ich noch bei dem
jüngeren Mädchen die Paresen des rechten N. oculomotorius und
facialis, sowie die Hyperalgesie, Erscheinungen, die sich vereinzelt
auch bei anderen Beobachtern erwähnt finden. Desgleichen ver¬
dient bei ihr noch das Auftreten von Schmerzhaftigkeit in der
Parotisgegend am Tage vor dem Tode hervorgehoben zu werden.
Leider wusste ich hiervon zur Zeit der Sektion noch nichts und
so unterblieb die anatomische Untersuchung dieser Gegenden. So
viel mir bekannt, erwähnt nur noch Roth das Auftreten von
Parotitis bei Botulismus. 1 )
Was das Gutachten anbelangt, so lautete dasselbe mit
grosser Wahrscheinlichkeit auf Wurstvergiftung.
Wenn wir bedenken, dass alle drei Personen nach dem Ge¬
nüsse derselben Wurst unter den gleichen Symptomen erkrank¬
ten, dass diese Symptome entschieden solche waren, wie sie bei
Botulismus in Erscheinung kommen können, dass auch der Ob¬
duktionsbefund nicht gegen diese Annahme spricht, ja insofern für
sie, da wir keine der gewöhnlichen Ursachen für das Auftreten
der entschieden septischen Erscheinungen auffinden konnten, kann
die Diagnose kaum in Zweifel gezogen werden. Die ursprüngliche
Notiz einiger Tagesblätter, dass die Erkrankung möglicherweise
auch nach dem Genüsse von Schwämmen aufgetreten sei, bewahr¬
heitete sich nicht, indem hiervon einerseits dem zuerst gerufenen
Arzte nichts gesagt worden war und and rerseits die überlebende
‘) Vierteljahrsch. f. ger. Med. 1893, B. 39, p. 251.
608
Dr. Haberda.
Marie W. ausdrücklich in Abrede stellte, dass in der Familie
während der letzten Zeit vor der Erkrankung Schwämme über¬
haupt genossen worden seien. Für die Abhängigkeit der
Erkrankung von dem Genüsse jener Wurst spricht auch der Um¬
stand, dass das ältere Mädchen, das am wenigsten davon verzehrt
hatte, genas und dass der Vater, der am meisten ass, zuerst er¬
krankte und zuerst starb. Auffallend ist, dass sonst Niemand im
selben Stadtbezirk in jenen Tagen unter ähnlichen Erscheinungen
erkrankt ist. Wenigstens ist hiervon den Behörden nichts bekannt
geworden. Ganz ausgeschlossen kann es allerdings nicht werden.
Ueber die Beschaffenheit der Wurst, die Art ihrer Zubereitung,
die Provenienz des Rohmateriales, aus dem sie gefertigt war,
konnte nichts eruirt werden, da erst am 3. August, also am 7. Tage
nach dem jene Würste verkauft wordenwaren, bei dem betreffenden
Gastwirthe und dem Wurstfabrikanten, von dem dieser seine Waare
bezog, Revisionen von Seiten der Polizeiorgane vorgenommen wurden,
die natürlich resultatlos blieben. Insofern ist der Fall unaufge¬
klärt und dies hinderte auch, dem Gerichte gegenüber mit der
sicheren Diagnose „Wurstvergiftung“ hervorzutreten.
Gerade in der letzten Zeit beschäftigten sich in Wien die
Behörden mit der Frage, welche Würste zum allgemeinen Konsum
zuzulassen seien und welche Vorsichtsmassregeln namentlich in
Hinsicht der „dürren“, d. i. luftgetrockneten Würste zu treffen
seien, um den Verschleiss verdorbener Waare zu verhindern.
Es wurden hierüber sowohl gutachtliche Aeusserungen der
von dieser Angelegenheit tangirten Genossenschaften, als des
städtischen Marktkommissariates, des Stadtphysikates und Landes-
Sanitätsrathes eingeholt und in nächster Zeit wird sich auch der
Oberste Sanitätsrath mit dieser“ Frage beschäftigen. Der Güte
meines verehrten Chefs, als Präsidenten des Obersten Sanitäts-
rathes, verdanke ich die Kenntniss der folgenden vom Marktkom¬
missariate erhobenen, die Bereitung und Aufbewahrungsweise von
Wurstwaaren betreffenden Daten, die ich, da sie auch ärztliches
Interesse bieten und bei der Beurtheilung vorkommender Wurst¬
vergiftungen aufklärend wirken können, hier in Kürze anschliesse:
Die bei uns hauptsächlich zum Konsum gelangenden Würste
verlassen die Werkstätte des Wurstfabrikanten entweder ganz
roh oder mehr oder weniger gekocht und geräuchert.
Zu den rohen gehören die Brat-, Salami- und Morta¬
dellawurst; zu der zweiten Gattung die Augsburger, Leber-,
Blut-, die Selch- nnd Frankfurter Wurst, weiter die
Extra-, Pariser, Knack - und Cervelat-, Braunschweiger,
Pr es 8- und die geräucherte Blutwurst. Die letzteren werden,
abgesehen von jenen, die schon durch den Namen das Ma¬
terial, aus dem sie bereitet sind, kennzeichnen, zumeist aus Rind-
und Schweinefleisch in verschiedener Mischung, und zwar meist
unter Zusatz von Speck und Gewürzen gefertigt, in verschiedene
Thierdärme, die vorher in Salzwasser mazerirt sind, gefüllt und
nun durch verschiedene Zeit geräuchert und schliesslich in heissem
Einige Fälle von wahrscheinlicher u. von angebl. Vergiftung durch Wurst etc. 609
Wasser erwärmt. Während die Salami-, Mortadella- und Braun¬
schweiger Wurst nach ihrer Bereitung in kühler Jahreszeit oder
in entsprechenden Kühlräumen 2—3 Monate an der Luft getrock¬
net werden, um so konservirt als sogenannte Dauerwürste in
den Handel zu kommen, müssen die anderen Würste frisch, zum
Theil noch in verschiedener Weise zubereitet, genossen werden.
Es gestattet nur bei den genannten drei Gattungen die Art der
Zubereitung 1 ) eine einfache Lufttrocknung ohne weitere Verände¬
rung, wobei bei der Braunschweiger Wurst noch durch Räuche¬
rung die Widerstandsfähigkeit gegen Fäulniss erhöht wird. Wenn
es auch an der äusseren Hülle zu Schimmelbildung kommt, so
bleibt doch bei Einhaltung der Bereitungsvorschriften eine tiefere
Verderbniss der Wurst sicher aus.
Nun werden aber auch andere Würste (so z. B. die Extra-,
Pariser-, Cervelat-, Frankfurter Wurst u. s. w.) der Lufttrocknung
unterzogen und sodann als „dürre“ Würste verkauft. Zumal
die Gastwirthe pflegen einen grösseren Vorrath von frischen
Würsten sich anzuschaffen und den nicht frisch konsumirten
Theil zumeist an ganz ungeeigneten Orten, wie z. B. in den
Wirthsstuben, aufzuhängen und so der Trocknung zu unterziehen.
Gegen die Zulässigkeit derartig getrockneter Würste zum
Verkauf wurde hauptsächlich Ein wand erhoben und zwar mit
vollem Recht.
Es werden nämlich bei Bereitung der genannten Würste der
Wurstmasse von vielen Fabrikanten Wasser und Kartoffelmehl zu¬
gesetzt, ein Vorgang, der, wie ich den Akten entnehme, auch in dem
Motivenbericht des deutschen Gesundheitsamtes zur Begründung
des Gesetzes vom 14. Mai 1879, betreffend den Verkehr mit
Nahrungs- und Genussmitteln, erwähnt wird und den übrigens
auch Rubner in seinem Lehrbuch der Hygiene anführt 2 ). Der so
gebildete Kleister vermindert durch die Berührung mit der organi¬
schen Substanz des Fleisches und des Darmes nur noch mehr die
Widerstandsfähigkeit der Wurst, so dass sich diese im Sommer
schon in kurzer Zeit verändert: Sie überzieht sich mit Schimmel,
das Fleisch wird graulich und Geruch und Geschmack werden
säuerlich. Später schrumpft sie durch Wasserverlust ein, so dass
sie sich bis auf 2 /s, ja bis auf V, ihres Volumens vermindert, ihr
Fleisch wird dunkelroth und schmeckt häufig ranzig. Während
im halbgetrockneten Zustande wohl Niemand eine solche Wurst
*) Die Salami besteht aus rohem entfetteten Schweinefleisch, die Morta¬
dellawurst aus Kindfleisch und Speck. Bei beiden wird das Fleisch mit Gewürz
gemengt, fein gehackt und sehr trocken und stark gepresst in Rindsdärme
gefüllt. Gerade die Wasserarmuth verhindert — wie bekannt — die Zersetzung,
übrigens wird das Fleisch noch vor dem Zerkleinern durch Einsalzen und Liegen¬
lassen in der Salzlake einem Konservirnngsprozesse unterzogen.
Die Braunschweiger Wurst besteht zumeist aus Abfällen der Wurst¬
fabrikation, die in einer der eben geschilderten ähnlichen Weise verarbeitet
werden, doch werden die Würste schliesslich noch gekocht und geräuchert.
*) P. Lohmann spricht in seinem Handbuch über Lebensmittelpolizei
(Leipzig 1894, Verlag von Günther) die Ansicht aus, dass diese Zusätze keine
die Wurst verderbniss Fördernde Wirkung ausiiben.
610
Dr. Haberda.
kaufen würde, kommen diese später, nachdem sie also ganz inten¬
sive Stadien der Zersetzung durchgemacht haben, getrocknet zum
Konsum. Gerade in derartigen Würsten kann es auch
zur Bildung organischer Basen kommen und so ihr Ge¬
nuss gesundheitsschädlich werden.
Jedenfalls erhellt aus dem Mitgetheilten, dass auch aus gutem
Fleisch zweckmässig zubereitete Würste durch zu langes Auf¬
bewahren, zumal an ungeeigneten Orten, Veränderungen durch¬
machen können, die nicht so in die Augen springende sind, dass
der Genuss solcher Würste sich von selbst verbieten würde, und
die gerade deshalb zu Vergiftungen Anlass geben können.
Vielleicht waren auch die von den erwähnten drei Personen
genossenen Cervelatwürste derartig getrocknete, wenn sie auch
nach Ansicht jener gut aussahen und schmeckten. Es ist ja be¬
kannt, dass das ärmere Volk in der Auswahl seiner Nahrung nicht
eben rigoros ist. So mögen wohl auch andere Leute dieselben
Würste aus der gleichen Bezugsquelle genossen und, falls sie dar¬
nach unwohl wurden, dies nicht sonderlich geachtet haben.
Dass der Verlauf gerade in unseren Fällen so böse wurde,
hat vielleicht in einer geringeren Widerstandskraft der Betroffenen
seinen Grund. Marie W. ist ein schwächliches und anaemisches
Individuum, ihre Schwester Helene war gleichfalls schwächlich,
lymphatisch, zeigte angewachsene Lungen und alte perihepalitische
und perisplenitische Adhaesionen und verkalkte Mesenteriallymph-
diiisen. Der Vater soll schon oft und lange krank gewesen sein,
viel gehustet haben und vor Jahren wegen einer Facialislähmung
behandelt worden sein. Uebrigens dürfte er dem Trünke ergeben
gewesen sein, wie das Fettherz, die fettig infiltrirte Leber, der
chronische Magenkatarrh und die schlaffe Beschaffenheit des Körper-
fettes hinlänglich bewiesen. Hierzu kommen bei beiden Ver¬
storbenen noch die früheren Darmerkrankungen.
Wiewohl nach dem Obduktionsbefunde in den mitgetheilten
Fällen der Verdacht auf irgend eine der gewöhnlichen Intoxi¬
kationen ausgeschlossen erschien und obwohl an den Nachweis
einer eventuell in Betracht kommenden organischen Base nach dem
heutigen Stande dieser Lehre nicht zu denken war, wurde doch
die chemische Untersuchung der Leichentheile der
Helene W. beantragt und dieselbe von den Herren Hofrath
E. Ludwig und Professor J. Mauthner durchgeführt, wobei,
wie erwartet, ein völlig negatives Kesultat sich ergab.
An eine bakteriologische Untersuchung konnte natürlich
in unseren Fällen schon wegen der Länge des Verlaufes nicht
mehr gedacht werden.
In unseren Gegenden, besonders in Wien, sind solche Ver¬
giftungen durch Nahrungsmittel sehr selten. Trotzdem kamen im
Institute, seit es unter v. Hofmann’s Leitung steht, also seit
Oktober 1875, unter circa 2400 gerichtlich und 11500 sanitäts¬
polizeilich obduzirten Leichen im ganzen 19 Leichen wegen Ver¬
dachtes auf Vergiftung durch Wurst oder Fleisch zur behördlichen
Einige Fälle von wahrscheinlicher u. von angebl. Vergiftung durch Wurst etc. 611
Obduktion. Zwei dieser Fälle sind oben ausführlich mitgetheilt,
die übrigen schliesse ich hier an:
1. Barbara H., 25 J. alt, war am 16. Mai 1876 Abends angeblich in Folge
Genusses von Pferdefleischwürsten gestorben. Ucbrigens soll sie schon 8 Tage
vor dem Genuss der Würste über Magenschinerzen geklagt haben, auch hatten
ihr Mann und ihre Kinder schadlos von derselben Wurst ge¬
gessen.
Die landesgerichtliche Obduktion ergab natürlichen Tod in Folge chroni¬
scher Tuberkulose der Lungenspitzen und angeborener Aortenenge mit Herz¬
erweiterung und fettiger Entartung des Herzfleisches. Magen- und Darmschleim¬
haut waren leicht gelockert, doch blass.
2. Franz U., 20 J. alt-, starb am 2. Oktober 1876 Nachmittags. Er litt
seit 48 Stunden an Abführen, dem sich schliesslich Erbrechen und Krämpfe in
den Waden hinzugesellten. Angeblich traten diese Erscheinungen nach dem
Genuss von Schweinefleisch, Weintrauben und Bier auf.
Die sanitätspolizeiliche Obduktion ergab Milztumor, blasse, doch gelockerte
und mit reichlichem Schleim belegte Magenschleimhaut, rosenrot h injieirte und
grosse Mengen flockigen uud wässerigen Inhaltes führende Darmschlingen; die
Darmschleimhaut besonders auf deu Faltenhohen geschwellt, gelockert und ge-
röthet. Auch die Follikel geschwellt, desgleichen die GekröMymplulrüsen. Da
keine die Diagnose fördernden Erhebungen Vorlagen, musste nach denn Obduktions¬
befunde mit grösster Wahrscheinlichkeit eine natürliche infektiöse Darmerkrankung
(vielleicht Dysenterie) als Todesursache angegeben werden.
3. Anna K., 50 J. alt, starb am 22. Juli 1877 unter den Erscheinungen
des Brechdurchfalles. Sie litt angeblich an Athemnoth und häufigen Magen¬
krämpfen mit Diarrhöen, welche Erscheinungen 2 Tage vor dein Tode nach dem
Genüsse von Wurst besonders stark auftraten und bis zmn Tode anhielten.
Die sanitätspolizeiliche (Induktion ergab nur leichte Lockerung der Darm¬
schleimhaut und natürlichen Tod in Folge Herzverfettung mit Ilydrothorax und
Stauungen in allen Organen und ein Aortenaneurysma.
4. Ferdinand P., 16 J. alt, starb am 20. Juli 1879. Am 19. Mittags ass
er mit anderen Leuten Suppe, Rindfleisch und Gemüse, gegen 5 Uhr bekam er
Kopfschmerzen, Abends Bauchschmerzen, dann Erbrechen.
Die landesgerichtliche Obduktion ergab rechtsseitige croupöse Lungen¬
entzündung.
5. Rosa E., 66 J. alt, starb am 22. September 1888. Sie war am 16. Sept.
nach dem Genüsse von „Bröckelfleisch“ unter Erbrechen und Durchfall erkrankt.
Diese Erscheinungen schwanden zwar nach 24 Stunden, doch blieb die Patientin
sehr schwach und bettlägerig und starb plötzlich.
Die sanitätspolizeiliche Obduktion ergab Embolie der Pulrnonalarterie im
Gefolge von Thrombose der linken Vena saphena und geringen Darmkatarrh.
6 Anton K., 34 J. alt, starb am 8. April 1889 früh. Er ass am 6. April
Wurst, worauf sich Erbrechen und Diarrhoe einstellten. Die sanitätspolizeiliche
Obduktion ergab rechtsseitige croupöse Pneumonie.
7. Johanna H., 21 J. alt, starb am 10. Juli 1889 früh nach 24stündiger
ärztlicher Behandlung. Soll am 8. Juli Mittags Marillen, Gurken, Bier, Wurst¬
tein und Schweinefleisch gegessen haben uud darnach unter Erbrechen und
Diarrhoe erkrankt sein.
Die sanitätspolizeiliche Obduktion ergab: Volvulus der Elexura sigmoidea
mit Gangrän des Darmes, Bauchfellentzündung und akuten Darmkatarrh.
8. Der 4 Jahre alte Rudolf K. war am 19. September 1*8U um 3 Uhr
Nachmittags gestorben, nachdem er am Abend vorher gebackenes K al bfleisch
gegessen und darnach erkrankt war.
Die gerichtliche Sektion ergab: Pupillen beiderseits gleichmässig
verengt. Hirnhäute sehr blutreich und gespannt, das Gehirn sehr blutreich,
feuchter, seine Windungen abgeflacht, die Kammern etwas erweitert. Lungen
feucht; Herz enthält locker geronnenes Blut, sein Fleisch zäh, in den
Innenschichten blässer. Leber gross, schlaff, am Schnitt braungelblich mit kaum
erkennbarer Zeichnung; Milz klein, brüchig, blutreich. Ln Magen etwa 150 g
dunkelbräunlicher flockiger Flüssigkeit, die Magenwandung fast in ganzer Aus¬
dehnung etwas erweicht, die Schleimhaut stark gequollen, bräunlich und grün¬
lich; im Fundus bemerkt man eine sehr feine netzförmige Zeichnung mit unter-
612
Dr. Haberda.
mengten schwärzlichbraunen Punkten im Bereiche der daselbst erhaltenen
Schleimhautschichte. Nieren schlaff, bräunlich violett mit kaum verwischter
Zeichnung. Der unterste Dünndarm, fest zusaminengezogen, enthält wenig grauen
Schleim, die Schleimhaut gefaltet, da und dort fleckig injicirt; die Plaques stark
vergrössert, erhaben, zum grössten Tlieil rosenroth. Nach aufwärts zu enthält
der Darm etwas mehr gallig gefärbten dünnbreiigen Inhalt, die Schleimhaut wie
in den unteren Schlingen. Im Dickdarm iindet sich dünnflüssiger, trüber, mit
einzelnen Flocken gemengter Inhalt, die Darmwandung ist etw T as starrer, die
Schleimhaut im ganzen Verlauf gelockert, gleichtnässig leicht injicirt und ausser¬
dem mit feinsten Blutpunkten roth gesprenkelt. Auch hier sind die Fullikel
vergrössert, die Lymphdrüsen des Gekröses vergrössert, weicher und blutreicher.
Im Gutachten sagte A. Pal tauf, dass die gefundene Magen- und Darm¬
entzündung zwar der gewöhnliche Befund in frischen Fällen von Fleischvergiftung
sei und dass für die Annahme einer anderweitigen Vergiftung kein Anhaltspunkt
vorliege, dass jedoch die Frage, ob faktisch Vergiftung durch Fleisch anzunehmen
sei, zumal da eine chemische Untersuchung nach dem dennaligeu Stand der
Wissenschaft kein förderndes Resultat erwarten lasse, nur aus den Umständen
des Falles entschieden werden könne.
Die weiteren Nachforschungen ergaben keine die Diagnose sichernde An¬
gaben, so dass der Fall leider unaufgeklärt blieb.
9. Franz R., 16 J. alt, Lehrling, zechte am 15. September 1889 in Gesell¬
schaft mehrerer Freunde, ass Pflaumen und trockene Wurst. Am nächsten
Tage wurde er unwohl, schwach, erbrach und hatte Bauchschmerzen, welche
Symptome bis zum Tode am 22. September anhielten.
Die gerichtliche Obduktion ergab subakute Phosphorvergiftung und die
Erhebungen stellten Selbstmord fest.
10. Marie W., 47 J. alt, Blumenmacherin, ass am 12. September 1891
Abends einige Schnitten einer sogenannten Braunschweiger Wurst, die
ihr schlecht schmeckten und von welcher sie ihrem Manne, der mit ihr speiste,
abrieth. Ueberdies assen beide Schinken und tranken dazu ganz wenig Wein.
Sie selbst nahm später einige Pflaumen, „um den metallischen Geschmack aus
dem Munde zu bringen“. Schon in der Nacht darauf stellten sich bei ihr
schmerzhafte Krämpfe in den unteren Extremitäten und Erbrechen ein. Der
Mann dagegen hatte eine flüssige Stuhlentleerung, bli« b aber sonst gesund. Bei
der Frau traten schwerer Icterus und Zeichen einer Nierenentzündung ein, am
23. wurde sie bewusstlos, hatte weite Pupillen, zahlreiche Petechien in der Haut
und blutete aus dem Zahnfleisch. Die diarrhueischeu Entleerungen wurden
schliesslich blutig und so starb sie atn 24. September früh. Wegen Verdachtes
auf Wurstvergiftung nahm ich am 2G. die gerichtliche Obduktion der leicht,
faulen Leiche vor: In dem Unterhautzellgewebe fanden sich zahlreiche kleine Biut-
austritte, desgleichen in der Haut. Die Lungen sehr feucht, in den Unterlappen
leichte Hypostasen, Herz sehr schlaff, sein Fleisch stark von Fett bewachsen,
gelblichbraun und morsch. Leber brüchig, graugelbgrün, sehr gross, Milz grösser,
schlaff, morsch und blutreich. Im Magen graugrüne Flüssigkeit, seine Schleim¬
haut theils grünlich, theils gelblich grau, im Grunde ecchymosirt. Nieren grösser,
schlaff, Rinde verbreitert, gelockert, gelblichgrün, undeutlich gezeichnet und auf
der Oberfläche braunroth gefleckt. Der Dünndarm führte in den oberen zwei
Dritteln grünlichen etwas schleimigen Inhalt. Die Schleimhaut daselbst erscheint
gelblichgrün ohne Schwellung. Das unterste Drittel des Dünndarmes und der
ganze ziemlich enge Dickdarm enthalten blutig tingirte etwas eingedickte Flüssig¬
keit, die röthlichbraune Schleimhaut ist in nach abwärts abnehmendem Grade
stark infiltrirt, besonders in den Falten, welche im oberen Dick¬
darm als dicke starre Wülste vorspringen, an deren Oberfläche die obersten
Schichten leicht nekrosirt und kleinförmig abgestossen er¬
scheinen; die Schichten darunter stellenweise ecchymosirt und im ganzen
serös durchfeuchtet. Der Bauchfellüberzug des Dickdarmes trüb, stellenweise
blutig gefärbt. — Die Gallenwege durchgängig, ihre Schleimhaut blass, nur an
der Einmündungsstelle in den Dünndarm geschwellt und geröthet.
Die chemische Untersuchung der Leichentheile ergab die An¬
wesenheit erheblicher Mengen von Zink.
Mein Gutachten lautete in der Hauptsache wie folgt:
1) M. W. ist an einer intensiven Entzündung des Dünn- und Dickdarmes
gestorben.
Einige Fälle von wahrscheinlicher u. von angebl. Vergiftung durch Wurst etc. 613
2) Ausserdem fand sich parenchymatöse Entartung des Herzens, der
Magenschleimhaut und der Nieren, Fettleber und Fettherz, welche letzteren zwei
Zustande jedoch offenbar schon vor der letzten Erkrankung bei der sehr fett¬
leibigen Frau bestanden haben dürften.
3) Die Befunde sind solche, wie sie einerseits auf natürliche Weise in
Folge einer infektiösen Darmerkrankung, der Ruhr (Dysenterie), zu Stande
kommen, andererseits aber auch durch subakute Vergiftungen, besonders mit
Metallgiften, veranlasst werden.
4) Da das in den Leichentkeilen gefundene Zink, das wohl nur als schwefel¬
saures Salz in der hier in Betracht kommenden Weise giftig wirken könnte,
auch durch Medikamente in den Körper gelangt sein konnte, so kann aus dem
chemischen Befunde nicht mit Berechtigung der Schluss auf eine Vergiftung
mit einem Zinksalz gemacht werden.
5) Die Möglichkeit einer Wurstvergiftung oder einer Phosphor¬
vergiftung lässt sich einerseits aus den gerichtlichen Erhebungen, anderer¬
seits aus dem anatomischen Befunde ausschliessen.
6) Wahrscheinlich liegt eine natürliche Erkrankung vor, wenn sich auch
eine Metallvergiftung nicht ganz sicher ausschliessen lässt.
11. Julius Merks, 59 J. alt, starb am 23. Oktober 1891 früh. Dieser
Fall wurde von P. Dittrich ausführlich publizirt*) (Wien. Klin. Wochenschrift
1891, p. 880).
Die sanitätspolizeiliche Sektion ergab intestinalen Anthrax, der aber nicht
durch Wurst, wie man anfänglich vermuthet hatte, sondern durch die Unrein¬
lichkeit des Verstorbenen selbst veranlasst wurde, da derselbe auf dem Vieh¬
markt, auf dem er beschäftigt war, mit milzbrandkranken Thieren in Berührung
gekommen war und sieh so infizirt hatte.
12. Robert P., 55 J. alt, war am 6. April 1892 früh mit seinem Schlaf¬
kameraden bewusstlos im Bette aufgefuuden worden, nachdem beide am Abend
vorher Blutwurst und Kraut gegessen hatten. Im Spitale kam P. bewusst¬
los, cyanotisch, mit Trismus und klonischen Krämpfen der Extremitäten an.
Pupillen waren enge, Stuhl dunkel, dickflüssig.
Die gerichtliche Sektion (v. Hof mann) ergab Nekrosen in beiden
Linsenkernen, Schluckpneumonie und Her zfleisch Verfettung
in Folge von Kohlenoxydvergiftung, welche letztere Annahme durch
die Erhebungen bestätigt wurde. Der zweite Mann wurde gerettet.
Der 13. Fall betraf einen 4 Jahre alten Taglöhnerssohn, der am 16. Mai
1892, 8 Uhr Morgens, unter Erbrechen und Krämpfen gestorben war. Diese
Erscheinungen waren am selben Tage gleich Morgens nach
dem Frühstück, das aus Rindssuppe, Milch und Semmel bestand,
aufgetreten. Gleichzeitig erkrankten auch der Vater, die
Mutter und drei Geschwister nach demselben Frühstück unter Erbrechen,
doch genasen diese Personen rasch wieder.
Die sanitätspolizeiliche Sektion (v. Hof mann) der 81 cm langen, sehr
gut genährten Leich ergab: Hirn stärker durchfeuchtet. Vordere Rippenenden
leicht verdickt, Lungen mit den Oberlappen angewachsen; im linken Oberlappen
eine haselnussgrosse fleischartig verdichtete Partie mit einzelnen grauen kleinen
Knötchen, sonstiges Parenchym lufthaltig, blutreich, feuchter. Thymus von
mehreren bohnengrossen käsigen Herden durchsetzt. Am Bauchfell der rechten
unteren Bauchwand käsige Knötchen. Leber fetthaltig, Milz schlaff, blass. Der
geblähte Magen enthielt 20 g einer braunen, nach Kaffee riechenden Flüssigkeit,
Schleimhaut gelockert, doch blass, auf der Höhe der Falten gelblich.
Im Dünndarm massig reichlicher schleimiger, im Dickdarm eben solcher
bleichgrauer, mit käsigen Bröckchen gemengter Inhalt; Schleimhaut beider blass,
doch gelockert mit geschwellten Follikeln. Nieren normal; die
Mesenterialdrüsen haselnussgross, violett.
Die von Herrn Hofrath E. Ludwig vorgenommene Untersuchung der
Leichentheile auf metallische Gifte und Alkaloide fiel negativ aus. Mit Rück¬
sicht hierauf, auf den Obduktionsbefund und die Umstände des Falles lautete
das Gutachten mit Wahrscheinlichkeit auf Vergiftung durch
Pt omaine.
0 Ein ausführliches Referat über diesen Fall ist in Nr. 23, Jahrg. 1891
dieser Zeitschrift, S. 636, gebracht.
614
Dr. Haberda.
14. Der 16jährige Tapeziererlehrliug Eduard M. war am 31. Aug*. 1892
um 9 Uhr Morgens gestorben, nachdem er um 2 Uhr Oderberger Würste
und um 6 Uhr sein aus Wurst und Brot bestehendes Nachtmahl eingenommen
hatte. Bald nach diesem war er unwohl geworden, hatte den Abort aufgesueht
und dort fand man ihn Stunde später bewusstlos und um ihu erbrochene
Massen. Bei andauernder Bewusstlosigkeit starb er.
Die gerichtliche Sektion (P. Dittrich) der schon faulen Leiche ergab:
Keine Veränderungen am Mageu und Darin, dagegen als Ursache des natürlichen
Todes eine Hirnblutung mit Durchbruch in die Hirnkammern.
15. Die 9 Jahre alte Marie W. erkrankte am 31. Dezember 1892 am
Abend nach dem Genuss von Wurst („Plunzcn“) an Kopfschmerzen, Erbrechen.
Durchfall, wurde bald darauf bewusstlos und starb nach 24 Stunden. Die
übrigen Kinder der Familie, die von derselben Wurst gegessen
ha t teu, blieben ge s u ud.
Die gerichtliche Sektion (v. Hof mann) des rhachitischen Kindes ergab
normalen Magen- und Dannbefuud und als Todesursache rechtsseitige
Pneu m o n i e.
16. Anton A., 2 J. alt, starb am 10. Juli 1893 an Darmkatarrh, der
angeblich in der letzten Zeit nach de m Genuss einer faulen
Wurst a u f g e t r e t e n w a r.
Die von mir gemachte gerichtliche Sektion des blassen und abgemagerten
Kindes ergab ein häutiges Bild: hochgradige Khachitis, chronischen Magen-
darmkatarrh, fettige Entartung der grossen Drüseu und Lungenödem.
17. Der letzte Fall wurde am 4. Oktober 1893 von Herrn Hofrath
v. H o f m a n n sanit ätspolizeilich obduzirt:
Die 18jährige Magd M. M. wurde am 2. Oktober sterbend in’s Kranken¬
haus gebracht und verschied, ehe noch eine Diagnose gemacht werden konnte.
Sie soll am selben Tage die Suppe von geräuchertem Pferdefleisch
genossen haben.
Die wesentlichen Sektionsbefunde lauteten:
Die Schleimhaut im Rachen und Kehlkopf dicht injizirt
und s i c h 11 i c li g e s c h w e 111, a in Kehldeckel eine h a n f k o r n g r o s s e
f e s t h a f t e n d e A u f 1 a g e r u n g von f i l> r i n ö s e in E x s u d a t. Die T u n -
si 11en über h as e1n u ss g r os s, succu1e n t, ge ro t h e t und mit fest-
hafteudem fibrinösem Exsudat belegt. Der rechte Lungen¬
unter lappen blutreicher, die Pleura hier ecchymosirt und mit kleinen
f i h r i u ö s e n E x s u d a tmembranen stellenweise überzöge n. Herz¬
fleisch sehr bleich und morscher.
Die Magenschleimhaut wenig gelockert, grauröthlich, in den hinteren
Partien gallig imbibirt. Lebersubstanz blutreich mit undeutlicher Struktur,
Milz geschwellt, 13,5cm lang, 10cm breit, blutreich und weich;
Nieren schlaff und gelockert.
Im Dünndarm gallig gefärbter Inhalt, die Schleimhaut sonst blass, nur
im untersten Ileum und an der Ilcocoecalklappe sehmutzigviolett mit stark
vor treten den v e rgrö s s er t e n Plaques und Follikeln. Dickdann
fast leer, seine Schleimhaut blass. Die Gek rösly mphdrüsen in der
Ileocoecalgegend vergrüssert.
Die mikroskopische Untersuchung ergab parenchymatöse Erkrankung von
Herzmuskel und den grossen Unterleibsdriisen.
Darnach war sicher, das die Untersuchte im Beginne einer akuten In¬
fektionskrankheit gestorben war und es konnte an Diphtherie oder Ileotyphus
gedacht werden.
Die bakteriologische Untersuchung auf Typhusbazillen durch Herrn Prof.
Weichsel bäum fiel negativ aus, so dass erstere Annahme die wahrschein¬
lichere war.
Die Annahme einer Wurstvergiftung entfiel.
Diese Fälle beweisen, wie durch das zufällige Zusammen¬
treffen des Genusses von Wurst oder Fleisch mit dem Einsetzen
der Erscheinungen irgend einer anderen Vergiftung (wie durch
Phosphor oder Kohlenoxydgas), oder einer schweren Allgemein-
krankung (z. B. Pneumonie), oder irgend einer Darmerkrankung
Einige Fälle von wahrscheinlicher u. von angebl. Vergiftung durch Wurst etc. 615
(Dysenterie, Volvulus u. s. w.), oder mit dem Eintritt plötzlichen
Todes ohne vorherige krankhafte Symptome aus Ursachen (Herz¬
fleischentartung, Embolie der Lungenarterie u. s. w.), wie wir sie
täglich bei den sanitätspolizeilichen Obduktionen plötzlich Ver¬
storbener finden, der Verdacht einer Wurstvergiftung veranlasst
werden kann.
Nur durch eine sachgemässe Leichenuntersuchung kann im
Zusammenhalte mit den Umständen Aufklärung gebracht werden,
wenn auch das isolirte Erkranken einer Person schon an
sich den Verdacht sehr entkräftigen muss.
Im Falle 8 musste die Frage, ob Fleischvergiftung vorliege,
offen gelassen werden und im Falle 13 konnte, zumal ausser dem
verstorbenen Kinde noch andere Leute erkrankt waren, und es
doch nicht anging, von der nicht eben weit vorgeschrittenen Tuber¬
kulose den Tod herzuleiten, die Wahrscheinlichkeitsdiagnose auf
Vergiftung durch Ptomaine lauten, zumal der krankhafte Zustand
des Kindes eine verminderte Widerstandsfähigkeit gegen solche
Schädliclikeiten bedingen konnte, ja musste.
Nachschrift.
Nach Abschluss vorstehender Mittheilungen kam ein wei¬
terer hierher gehöriger Fall im Institute zur Sektion:
Der 36jährige Bürstenbindergehilfe J. H. hatte am
27. Oktober 1893 eine gebratene Blutwurst zum Nachtmahl ver¬
zehrt, bekam in der Nacht darauf Brechreiz, war am nächsten
Tage sehr matt und am zweiten Tage kaum mehr fähig, sich auf¬
recht zu erhalten. Am 31. Oktober trat Erbrechen und Schmerz¬
haftigkeit des Abdomens ein, häufige Ohnmachtsanfälle, grosser Durst
und Schmerzen in der linken Seite gesellten sich hinzu. Unter
zunehmender Schwäche verstarb der Kranke am 3. November.
Drei in derselben Werkstätte beschäftigte Gesellen hatten
am selben Abend gleichfalls aus demselben Gasthause bezogene
Blutwürste gegessen, doch verzehrten sie ihre Würste nicht ganz,
da aus einer derselben, die nicht gar gebraten war, Blut hervor¬
kam, worüber sie Ekel empfanden. Zwei von ihnen klagten am
folgenden Tage über Brechreiz, blieben jedoch gesund.
Wegen V erdachtes auf Wurstvergiftung wurde die Leiche
des J. H. am 5. November von Herrn Hofrath von Hofmann
gerichtlich obduzirt. Die interessante Sektion ergab typische
Milzbrandbefunde in den Lungen sowie im Magendarm¬
trakt mit haemorrhagischer Schwellung der Bronchial- und
Gekrösdrüsen, Blutungen in den Brust- und Bauchmuskeln, trübes
gelbliches Serum im Brust- und Bauchraum, sulziges
Oedem des Zellgewebes um die Nieren und einen bohnen¬
grossen Milzbrandkarbunkel in der Haut des linken Ober¬
schenkels. Die bakteriologische Untersuchung aller dieser
Theile bestätigte die Diagnose.
Die gerichtlichen Erhebungen stellten klar, dass — wie auch
schon nach dem Sektionsergebniss anzunehmen war — nicht
durch die Wurst die Infektion bedingt war. Die Würste waren
am 27. Oktober — am Tage der Erkrankung des J. H. — aus
616
Dr. Mittenzweig.
vollständig frischem Material hergestellt worden und gelangten
am selben Abend 100 Stück davon zum Verkauf, ohne dass Jemand
nach ihrem Genüsse erkrankt wäre. Das Unwohlsein der schon
erwähnten zwei Gesellen konnte seinen Grund in dem Ekelgefühl
gehabt haben.
Ueberdies wurde erhoben, dass J. H. schon in den Tagen
vor dem Genüsse der Blutwurst schwach und herabgekommen
ausgesehen hatte und dass er in dieser Zeit mit der Verarbeitung
von rohen Thierhaaren, besonders rohem Rosshaar, be¬
schäftigt war, so dass die Annahme nahe liegt, dass er sich hier¬
bei mit Milzbrand infizirt hat.
Traumatische Verblutung aus den Gefässen der rechten
Nebenniere.
Von Dr. Mittenzweig.
Der dreissigjährige äusserst muskulöse Arbeiter M. war zwischen
die Puffer zweier Eisenbahnwagen gekommen und hatte verhält-
nissmässig wenige äussere Verletzungen davon getragen. Er war
sofort ärztlich behandelt. Man hatte ihm, da er rechtsseitig über
heftige Schmerzen klagte, an der rechten Seite der Brust und des
Bauches blutige Schröpfköpfe gesetzt und ihn dann in das Augusta-
Hospital geschickt. Dort war er nach ca. 24 Stunden gestorben, ohne
dass man die spezielle Todesursache nennen konnte.
Die Obduktion ergab Tod durch innere Verblutung. Im
rechten Brustfell sack lagen 800, in der Bauchhöhle 2500 g Blut.
Das rechte Schlüsselbein, die 4. Rippe rechts, sowie die 4.
bis 6. Rippe links wraren gebrochen.
Das parietale Bauchfell an der rechten Hinterwand der Bauch¬
höhle war durch flüssiges und geronnenes Blut abgehoben und iu
der Gegend der rechten Niere stark gedehnt und spaltenartig ge¬
trennt.
Wir Obduzenten und der Herr Medizinalrath Lindner
überzeugten uns, dass die rechte Niere unter der Kapsel einen
massigen Bluterguss hatte, welcher aus einem oberflächlichen Riss
des Nierengewebes herrührte, und dass ebenso die Leber am
stumpfen hinteren Rande ein wenig eingerissen w r ar.
Dagegen fanden wir folgende Beschaffenheit an der rechten
Nebenniere.
Nr. 55 des Protokolls: „Die rechte Nebenniere ist in dicke
Blutgerinnsel eingehüllt. Nachdem die Nebenniere aus diesen
herausgeschält ist, findet sich ihr Rand unverändert und ebenso
kann man ihre Furchung noch deutlich bemerken. Dagegen er¬
scheint ihre konkave Fläche auseinander getrieben und in der
Gegend ihrer Pforte ist das Gewebe durch starke Verfilzung mit
geronnenem Blute verdickt.
Ein Schnitt durch die ganze Nebenniere vom Rande nach
dem Hilus trennt sie in zwei Hälften und trifft am Hilus ein
kugelförmiges Blutgerinnsel von l 1 /, cm Grösse, von dem aus
Traumatische Verblutung aus den Gefässen der rechten Nebeniere. 617
strangförmige Blutgerinnsel nach und durch die Spalten des Bauch¬
felles in die Bauchhöhle hineinragen.“
Nr. 65. „Die Aorta, die Vena cava, die Pfortader, die Leber¬
venen und Leberarterie, die Nierengefässe etc. sind nicht ver¬
letzt. Zwischen den Blättern des Gekröses finden sich keine
Blutungen.
Das Gewebe in der Umgegend der grossen Gefasse der
Bauchhöhle ist wenig mit Blut durchsetzt.
In der Gegend der mittleren Brustwirbel finden sich in der
Aorta einige blassbraungraue Blutgerihnsel (Thromben), in Länge
bis zu 5 cm, welche aus den Interkostalarterien heraushängen
und nach dem Arcus Aortae zu gerichtet sind.
Sonst bemerkt man hier nichts Abnormes.“
Dieser Fall lehrt, dass auch die sonst normalen Nebennieren
forensisch nicht so bedeutungslos sind, wie wir Physiker wohl
bisher geglaubt haben und dass das Regulativ nicht so unrecht
hat, wenn es verlangt, dass auch diese Organe stets herausge¬
nommen und beschrieben werden.
Von vomeherein sollte man allerdings meinen, dass die ver¬
letzten Gefasse der Nebenniere kaum im Stande wären, den Ver¬
blutungstod herbeizuführen und doch lehrt dieser Fall das Gegentheil.
Hyrtl sagt von ihnen: „Die Nebennierenarterien, Arteriae
suprarenales, gewöhnlich zwei Paare, nicht erheblich.“
„Die Nebennierenvenen, Venae suprarenales. Sie sind im
Verhältnis der Grösse der Nebenniere sehr entwickelt. Die linke
geht in der Regel zur linken Nierenvene.“
Dass die Nebennierenarterien bisweilen recht erhebliches
Kaliber haben, davon habe ich mich nachträglich an der Leiche
selbst überzeugt. Das Kaliber ist mitunter an beiden Arterien
recht verschieden; so sah ich dieser Tage rechts ein Lumen von
1 mm, links ein solches von 3 mm.
Abgesehen von dem Interesse, welches die rechte Nebenniere
bot, fand sich bei dieser Obduktion ein zweiter bemerkenswerther
Punkt, nämlich die Thrombenbildung in der Aorta der Brusthöhle.
Ich weise darauf hin, dass nach diesem Befunde die Möglichkeit
gegeben war, dass ein Stück dieser Thromben sich ablösen und
in die linke Carotis hineingespült werden konnte, um schliesslich
eine Embolie im Gehirn und einen plötzlichen Gehimtod zu be¬
wirken.
Die Kenntniss solcher Fälle ist nicht ohne Wichtigkeit für
die Geschichte der Thrombose und namentlich für plötzliche Todes¬
fälle bei Verletzung der Brustwand, insbesondere für die Recht¬
sprechung der Unfallversicherung, zumal wenn die Sektion unter¬
geben und eine andere Todesursache nicht festgestellt ist.
Hygienische Seminarkurse.
Von Kreisphysikus Dr. Dyrenfurth in BQtow.
Nach Zeitungsmeldungen wird höheren Orts beabsichtigt, in
den Schullehrer-Seminarien hygienische Kurse einzuführen. Einige
618
Dr. Dyrenfurth.
Vorbereitung in der Gesundheitskunde erhalten die Zöglinge schon
jetzt gelegentlich des anthropologischen, zoologischen und botani¬
schen Unterrichts. Sie werden belehrt über den Bau des mensch¬
lichen Körpers und die Verrichtungen seiner Organe, über Ent¬
wickelung, Wandelungen und Wanderungen der menschlichen Para¬
siten ; in den Seminargärten werden die wichtigsten einheimischen
Giftpflanzen gezogen, durch Modelle die Giftpilze veranschaulicht,
es wird beim Turnunterricht das Hülfsverfahren bei plötzlichen
Unglücksfallen (Scheintod bei Ertrinken, Ersticken durch Kohlen¬
dunst, Erhängen) gelehrt und geübt. Dennoch erscheint das bisher
Gebotene noch recht unzulänglich und eine beträchtliche Erweite¬
rung des hygienischen Wissens der zukünftigen Volksbildner sehr
wünschenswerth, weshalb wir die geplante Einrichtung nur mit
Freude begrüssen können.
Der Elementarlehrer, insbesondere der ländliche, ist ein
Sohn des Volkes und steht durch Beruf und Verkehr mitten im
Volke. Er kennt dessen Wohnstätten und Gewohnheiten, seine
Sitten und Unsitten, seine Lebensweise und Lebensverhältnisse.
Vermöge seiner ganzen Stellung und seiner höheren Bildung ge-
niesst er in breiten Kreisen Ansehen und Einfluss, sein Wort und
sein Rath sind von Gewicht und Geltung.
Wie ein Fremdling jedoch und rathlos steht er, zumal im
Anfang seiner Laufbahn, gemeingefährlichen und ansteckenden
Krankheiten gegenüber, wenn sie die Schwelle des Schulhauses
überschreiten. Keine Ahnung hat der junge Lehrer von den Merk¬
malen, unter welchen Scharlach, Diphtherie, Trachom u. s. w. in
die Erscheinung treten. Welcher Medizinalbeamte hat es nicht
aber schon erfahren, wie oft gerade die Schule der Herd und das
Mittelglied zur Verbreitung und Einnistung böser Epidemien bildet?
Ein oder mehrere Schüler sind krank gemeldet und fehlen viel¬
leicht eme Woche lang in der Schule. Nachdem sie während der
Zeit das Zimmer oder das Bett gehütet und wohl auch Besuche
von ihren Mitschülern erhalten haben, erscheinen sie wieder, kaum
halb genesen, aber noch voll mit Ansteckungsstoff beladen. Kurz
darauf erkranken die Nachbarschüler; zusehends mehrt sich die
Zahl der Ausstäudigen — bald ist die Schule entvölkert, das ganze
Dorf verseucht. Nun endlich wird der bekannte schwerfällige
Apparat in Bewegung gesetzt, der Landrath von der Sachlage be¬
nachrichtigt, der Gemeindevorsteher — Fristvermerk 5 Tage —
beauftragt, die Krankheit durch einen Arzt konstatiren zu lassen.
Erst wenn dieser dem Kinde den Namen gegeben, wird der Kreis-
physikus angewiesen, an Ort und Stelle Vorkehrungen gegen die
Ueberhandnahme der Kalamität zu treffen. — Freilich ist mittler¬
weile schon ein halbes Dutzend Kinder und darüber auf den Kirch¬
hof gebracht und Haus bei Haus in ein Lazareth verwandelt.
Kein Wunder, wenn jetzt die angeordneten Massregeln so herzlich
wenig Früchte tragen! Wie viel weniger Opfer hätte die Seuche
verschlungen, wenn der Lehrer im Stande gewesen wäre, gleich
die ersten Fälle sofort zu erkennen oder zu vermuthen ' und bei
der Behörde auf Untersuchung zu dringen! Diese Fähigkeit wird
Hygienische Seminarkurse.
619
er sich aber nur nach vorheriger im Seminar empfangener An¬
leitung zu eigen machen können. Verstand es der Vortragende,
die Ursachen und das Wesen, den Verlauf und die Gefahren der
gewöhnlichen Volkskrankheiten kurz und bündig, aber auch klar
und deutlich darzulegen, so wird sein Wort sicherlich im Ohr des
Hörers haften.
Mit der blossen Kenntniss des Feindes ist es aber nicht ge-
tlian, es muss auch gezeigt werden, wie er sich vermeiden oder
möglichst unschädlich machen lässt durch Reinlichkeit, Wäsche¬
wechsel, Zufuhr frischer Luft, Vernichtung der Abgänge, Hand¬
habung des Desinfektionsverfahrens. Mit diesen Vor¬
beugungsmitteln muss der Lehrer um so nothwendiger vertraut
sein, als derselbe ja häufig genug in die Lage kommt, sie in seiner
eigenen Familie anzuwenden, und gleichzeitig dafür Sorge zu tragen,
dass sein Haus nicht zum Ausgangspunkt einer verheerenden
Seuche werde.
Selbstverständlich wird bei diesem. Unterricht nicht von
pathologisch - anatomischen Belehrungen, von chemischen oder
mikroskopischen Untersuchungen die Rede sein dürfen, noch viel
weniger von Behandlungsmethoden oder Heilmitteln. — Der Unter¬
richt bezweckt ja nicht, den künftigen Lehrer zum Bazillenfänger
oder Heilkünstler abzurichten, sondern vor Allem ihm die Fähig¬
keit zur Kenntniss der charakteristischen Merkmale beizubringen,
unter denen die landläufigen ansteckenden Volkskrankheiten sich
darstellen, nämlich: Cholera, Blattern, Scharlach, Masern, Typhus,
Diphtherie, Kroup, Genickstarre, Trachom, Krätze.
An die Urheberin der letztgenannten schliesst sich die Be¬
trachtung der anderen Schmarotzer, besonders der Trichine
und des Bandwurms, welche mit Rücksicht auf ihre Gemein¬
schädlichkeit doch noch gründlicher und ausführlicher, als es im
Klassenunterricht möglich war, behandelt werden müssen. Einer
eingehenden Wiederholung bedürfen auch die wichtigsten chemischen,
pflanzlichen uni thierischen Gifte (Hundswuth und Schlangengift)
mit Angabe der in dringenden Fällen geeigneten Hausmitel.
Die Hülfsleistungen des Lehrers bei plötzlichen Unglücks¬
fällen möchte ich nur auf die mit unmittelbarer Lebensgefahr ver¬
bundenen beschränken, nicht aber auf die übrigen in’s Samariter¬
fach einschlagenden ausdehnen. Die Herren haben, wie man sagt,
ohnedies zuweilen Neigung den Aerzten in’s Handwerk zu pfuschen
und es scheint nicht räthlich, sie auf diesen Boden noch weiter
zu verlocken. —
Ein höchst ergiebiges Feld zur Ausübung der Gesundheits¬
pflege findet der Lehrer in den ihm theils als Wohnung, theils zur
Wahrnehmung seines Berufs überwiesenen Räumen. Bis die Zeit
des Schularztes kommt, wird muthmasslich nicht nur „mancher
Tropfen“, sondern auch mancher „Hektoliter“ Wasser in denOcean
fliessen. So lange muss in vielen Dingen der Lehrer für ihn ein-
treten; er findet in seinem Bereich dankbare Aufgaben die Fülle.
Für diese muss sein Auge geschärft werden. Wie häufig, nament¬
lich auf dem Lande, die Schulzimmer und Lehrerwohnungen den
620
Aus Versammlungen und Vereinen.
hygienischen Anforderungen in’s Gesicht schlagen, wie oft in den
zugigen, nasskalten Räumen chronischer Muskel- und Gelenk¬
rheumatismus, Kopfschmerz, Bleichsucht und Brustleiden iliren
Ursprung haben, weiss jeder Kollege aus eigener Erfahrung.
Wie kläglich es auf dem Laude um die Wasserentnalime-
stellen und Abortanlagen meistentheils bestellt ist, wie oft man
daselbst beide in bedenklichster Nachbarschaft zu einander findet,
ist ebenfalls männiglich bekannt. Der Lehrer, - der über die
schweren Nachtheile verunreinigten Trinkwassers unterrichtet ist,
wird auch für Beseitigung unerträglicher Uebelstände in seiner
Sphäre zu wirken wissen. —
Ueber den wichtigsten Abschnitt des Kursus, enthaltend die
Grundlehren der speziellen Schulhygiene mit ihrem reichen, haupt¬
sächlich dem Schutz des Auges und der Lungen dienenden Stoff:
Schulbänke und Tische, Lufterneuerung, natürliche und künstliche
Beleuchtung, Heizung, (Ofenklappe und Kohlendunst), Vermeidung
der Staubschädigungen u. s. w., kann ich mich in dem engen
Rahmen dieses Aufsatzes nicht weitläufig auslassen.
Sache des Lehrers — dass dieser nur ein Arzt, sei es der
der Anstalt, sei es ein Medizinalbeamter, seien kann, ist selbstver¬
ständlich — wird es sein, das gesammte Material in etwa 15 Vor¬
tragsstunden zu bewältigen. Damit die erworbenen Kenntnisse
sich nicht zu schnell verflüchtigen, sondern im Gegentheil als
dauernder Besitz mit in’s Leben hinübergenommen werden, dürften
zur Theilnahme an dem Kursus nur die im letzten Halbjahr vor
dem Examen stehende Jünglinge heranzuziehen sein. Selbst bei
überhäufter Beschäftigung wird sich für einen so wichtigen Zweck
noch ein Stündchen in der Woche ausfindig machen lassen.
Aus Versammlungen und Vereinen.
Bericht über die am 10. Oktober diese« Jahres
in Offenbar^ stattgehabte Versammlung des Badischen
staatsärztlichen Vereins.
Die Versammlung war recht zahlreich besucht, die Präsenzliste ergab
34 anwesende Vereiusmitgliedcr.
1. Der erste Vortrag des Herrn Geheimrath Dr. B&ttlekner be¬
handelte den
Entwurf einer neuen Dienstanweisung für die Hebammen,
wie solche hauptsächlich durch den heutigen Stand der wissenschaftlichen Kennt¬
nisse und praktischen Erfahrungen über das Wesen des Puerperalfiebers und die
dadurch bedingte Nothwendigkeit bestimmter Vorschriften für die Hebammen
als dringendes Bedürfnis sich geltend gemacht hat. Die Aeuderungen der alten
Dienstanweisung beziehen sich daher grosseuthcils auch auf die von den Heb¬
ammen zu beobachtende Asepsis und stellen bestimmte Regel» und Vorschriften
auf, nach welchen die Hebammen sich zu richten haben. Der neuen Dieust-
weisung soll in einer Anlage eine belehrende Abhandlung über das Kindbett¬
fieber und die zur Verhütung desselben nüthigen Verhaltungsmassregeln bei¬
gegeben werden.
Diesem Vortrage folgte eine sehr lebhafte Diskussion, wobei mancherlei
Bedenken und Wünsche geüussert wurden. Von verschiedener Seite wurde die
Frage angeregt, ob die Karbolsäure nicht durch andere weniger giftige Des-
infizieutien (Lysol, Kreolin etc.) ersetzt werden könnte. Es wurden Wünsche
Aus Versammlungen und Vereinen.
621
für materielle Besserstellung der Hebammen, Aenderung des Wahlmodus der
Hebammen, Beseitigung des Bezirksraths bei Absetzung einer Hebamme aus¬
gesprochen. Im Allgemeinen wurde aber das Bedürfniss einer neuen Dienst¬
weisung anerkannt und den bevorstehenden Aenderungen zugestimmt.
2. In einem zweiten Vortrage
über das gerichtsärztliche Gutachten
wies Herr Geheimrath Dr. Battlehner auf die Irrthttmer und Formfehler
hin, welche noch mehrfach bei Abgabe von gerichtsärztlichen Gutachten Vor¬
kommen. Insbesondere in Betreff des vorläufigen Gutachtens sei zu beachten,
dass ein vorläufiges Gutachten nur auf Verlangen der requirirenden Behörde ab¬
zugeben sei und in dem Protokoll ausdrücklich angegeben werden müsse, dass
und von welcher Behörde das vorläufige Gutachten verlangt sei, dem vorläufigen
Gutachten müsse jedoch immer ein Gutachten (Endgutachten) folgen; es sei
aber, wenn möglich, durchaus statthaft, dass nach einer Leichenöffnung ein
Gutachten sofort abgegeben werde. Der Anwesenheit des Bezirksarztes bei
einer Leichenöffnung, wenn er zugleich behandelnder Arzt gewesen sei, stehe
Nichts entgegen; nur dürfe er bei deiselben nicht mitwirken, weder als sezirender,
noch als protokollireuder Arzt; nach der Leichenöffnung trete jedoch der ordent¬
liche Bezirksarzt wieder in seine Rechte als begutachtender Gerichtsarzt ein.
3. Der Vortrag des Medizinalrath Dr. R e i c h - Freiburg
über forense Begutachtung von Bewusstlosigkeitszuständen
behandelte hauptsächlich jene Form von transitorischer Geistesstörung, welche
als pathologischer Rauschzustand bezeichnet wird, wies auf die Schwierigkeiten
der gerichtsärztlichen Beurtheilung hin und gab genau die Kriterien an, welche
einen gewöhnlichen Berauschungszustand von dem pathologischen Rausche unter¬
scheiden. Zum Schluss wurde das Vorgetragene durch Erzählung eines selbst
beobachteten Falles illustrirt. —
Nach der dreistündigen Sitzung vereinigte die Mitglieder ein gemein¬
schaftliches Essen zu heiterem kollegialischem Zusammensein.
(Aerztliche Mittheilungen aus und für Baden Nr. 20; 1893.)
Bericht über die Herbatvergammlimg des Vereins der
Aerzte Hohenzollerns.
Die diesjährige Herbst-Versammlung des Vereins der Aerzte Hohenzollerns
fand am 28. Oktober d. J. im „Museum“ zu Hechingen statt. Es waren Mit¬
glieder aus Sigmarinuen, Hechingen und Haigerloch anwesend; die Betheiligung
war keine starke, umfasste jedoch mehr als den vierten Theil der gegenwärtig
22 betragenden Mitgliederzahl.
Die Sitzung wurde gegen 1 Uhr durch den Vorsitzenden, Reg.- und Med.-
Rath Dr. Schmidt aus Sigmaringen eröffnet und zwar, da der Vortrag des
Oberamts - Phvsikus Dr. E i ck h o f f wegen vorübergehender Abberufung desselben
ausfiel, mit dem zweiten Gegenstand der Tagesordnung:
lieber Medizinal -Gesetzgebung in Hohenzollern.
Der Vortragende gab einen Ueberblick über alle diejenigen wichtigeren Medi¬
zinal - Gesetze und Verordnungen, deren Kenntnis» für die in Hohenzollern prak-
tizirenden Aerzte von Wichtigkeit sind. Diese stammen ztim grössten Theil aus
der Zeit der Fürstl. Verwaltung der den Reg.-Bezirk Sigmaringen bildenden ehe¬
maligen Fürstenthünter Hohenzollern-Sigmaringen und Hohenzollern-Hechingen,
zuin kleineren Theil aus der Zeit nach erfolgtem Uebergang des Landes in die
Künigl. Preussische Verwaltung.
a) Die Impfung aller Kinder im Verlaufe des ersten Lebensjahres mit
eventueller ein- bis zweimaliger Wiederholung in Zwischenräumen von drei Mo¬
naten ist in Hohenzollern schon lange Zeit vor Erlass des Reichs - Impfgesetzes
von 1874 eine obligatorische gewesen (in Hohenzollern-Sigmaringen durch Fürst¬
liche Verordnung vom 31. Mai 18 2 6, in Hohenzollern - Hechingen durch Reg.-
Verordnung vom 27. Januar 18 29); ferner führte die Sigmaringer Reg.-Verord-
nung vom 29. Dezember 1834 obligatorisch die Revaccina tion aller Rekruten,
bedingungsweise auch diejenige der anzustellenden Landjäger ein. Als Impf¬
ärzte lüngirten die Arntsphysiker und unter ihrer Aufsicht die praktizirenden
Aerzte und befugten Chirurgen.
Aus dem zur Ausführung des Reichs-Impfgesetzes vom 8. April 1874 für
«22
Aus Versammlungen und Vereinen.
die hobenzollernschen Lande erlassenen Regulativ vom 30. März 1374 und der
dasselbe abändernden Reg.-Verfügung vom 5. Mai 1875 ist hervorzuheben, dass
der Amtsausschuss die Impfärzte gemäss $. 43 der Amts- und Landesordnung
anstellt, sowie dass, gemäss §. 4 die Impfärzte u. A. den zuständigen Rehorden
über Impfangelegenheiten unentgeltlich Auskunft zu geben haben. Demnach sind
sie auch verpflichtet, die durch Reg.-Präs.-Verfügung vom 27.April 1S92 1 )
ein geforderten, alljährlich vor Beginn dee Impfgeschafr.es durch die Oberamt-
männer dem Regierungspräsidenten — behufs amtlicher Beaufsichtigung der
öffentlichen Impfungen — einzureichenden I m pf- Ter in ins-U ebersich teil zu
erstatten.
b) Für die Bekämpfung ansteckender Krankheiten sind zwei
Verordnungen und eine Zusatz-Verordnung, bctr. choleraverdächtige Erkrankungen
und Todesfälle massgebend, ferner die Dienst-Instruktion der Physiker.
Nach der Verordnung Fürstlicher Gcheimm Konferenz, die Staat.sfiirsurge-
bei ansteckenden Krankheiten betreffend, vom 5. Dezember 1836 ist eine Anzeige
an den „Ortsvorsteher“ zu erstatten:
a. bei jedem Fall von Erkrankung an 1. Wuthkrankheit, 2. Milzbrand,
3. Rotz- oder Wurmkrankheit, 4. Cholera, 5 Pocken, 6. Nervenfieber ( Typhus);
ß. bei jedem Fall von Erkrankung au 7. Ruhr, 8. Masern, 9. Scharlach,
10. Rötheln.
Bei Pocken, Milzbrand, Rotz soll die Anzeige sogleich auch an die Phy¬
siker erfolgen; ferner an das Amt
Y- bedingungsweise 11. bei Syphilis und 12. bei Krätze.
Wenn schon die Einleitung der unmittelbaren Staatsfürsorge für die Be¬
handlung der Kranken mit Uebernahme von zwei Drittheilen der Kurkosten etc.
auf die Landeskasse (§. 33 a. a. 0.) jetzt kaum mehr ciutrirt, ebensowenig wie
die Anwendung der im Abschnitt VT. und XII daselbst, in den 100—125 ge¬
gebenen, meist veralteten Anweisung zur „Zerstörung der Ansteckungsstoffe-
und des „Verfahrens beim Reinigen“, — so ist genannte Fürstliche. Verordnung
doch im Wesentlichen noch in Geltung. Sie wurde theils erweitert, theils ah-
geschwächt durch die „Polizei-Verordnung, betreffend die Anzeigepfiicht bei
ansteckenden Krankheiten vom 20. Dezember ISSl“, erweitert, durch die Aus¬
dehnung der Anmeldungsprticht auf Erkrankungen an Flecktyphus (unbedingt),
Diphtherie und Keuchhusten (bedingt), — abgesehwärht dadurch, dass die Aus¬
übung der Anzeigepflicht wie bei Diphtherie und Keuchhusten, nunmehr auch
bei Ruhr, Scharlach, Masern nur bei Bösartigkeit oder epidemischer Ausbreitung
verlangt wird. Ausserdem wird den Aerzten durch dieselbe Polizei-Verordnung
ausser der regelmässigen Meldung an die Ortspolizeihehürde die Anzeige aller
meldepflichtigeu Krankheiten längstens innerhalb 8 Tagen an den betreffenden
Oberamtsphysikus aulerlegt.
Durch Zusatz-Poljzeiverordmmg vom 3 August 1802 wurde die. Anzeige¬
pflicht bei Cholera-Erkrankungen auch auf alle choleraverdächtigen Erkran-
kungs- und Todesfälle ausgedehnt und die sofortige Anzeige ausser an
die Polizei gleichzeitig an die Oberamts - Physiker vorgeschrieben.
Unter diesen nur kurz skizzirten Umständen ist die Sachlage eine sehr
verwickelte und die gleichmässige Erfüllung der Anzeige. -Vorschriften für die
Aerzte u. A. erheblich erschwert. Eine Abhülfe ist in Rücksicht auf den Erlass
des Reichs-Seuchengesetzes bisher unterblieben.
c) Eigenartig ist ferner die D i c n s t -1 n s t r u k t i o n für die Physiker
des Reg.-Bezirks Sigmaringeii vom 2. Nov. 1869, insofern sie diesen das Recht
giebt, aus eigenem Entschluss und mit eigener Verantwortlichkeit die zur
Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens dienlichen Massregeln durch ent¬
sprechende Anträge bei den zuständigen Polizeibehörden herheizufiihren. Nach
§. 3, c derselben hat die sanitätspolizeiliche Thätigkeit des Physikus sich noch
in Besonderem auf die Angabe von Sicherung*- und Verbaltumrsm assregeln bei
Ausbruch epidemischer und ansteckender Krankheiten zu erstrecken. Ihr Ver¬
halten regelt sich hierbei nach der obigeu Fiirstl. Verordnung vom 5. Dezember
1836, soweit sie aber, wie z. B. betreffs der Desinfcktkmsmassregeln, veraltet
ist, zur Zeit nach keinen bestimmten Normen, sondern — von den bei Cholera
gegebenen Vorschriften neueren Datums «abgesehen — nach ihrem pliiehtmässigen,
auf den Stand der Desinfektionslehre basirteu Ermessen.
*) S. Beilage zur Zeitschr. f. Med.-Beamte Nr. 12, 1892, S. 78.
Aus Versammlungen und Vereinen.
628
d) Hohenzollern - Sigmaringen besitzt ferner eine durch Ailerh. Verordnung
vom 21. Juli 1852 auch für (len Bezirk Hechingen gültig erklärte Allgemeine
Apotheker-Ordnung vom 4. Mai 1885 Nach §. 9 kann einem Arzte oder
Wundärzte die Anlegung einer Hausapotheke und das Dispeusiren der Arznei¬
mittel unter gewissen Bedingungen, zu denen der Nachweis der zum Selhstdis-
pensiren nöthigen Kenntnisse in einer Prüfung gehört, gestattet werden. Uebcr-
tretung der Vorschriften der Apothekerordnung haben „Verweis oder Geldstrafe
von fünf bis einhundert. Gulden zur Polge, hei schweren Verschulden bleibt Vor¬
behalten, den Apotheker für unfähig zur Ausübung seiner Kunst zu erklären“
(s. auch §. 58 der Gewerbeordnung).
e) Eine M edi zinal-Tax -Ordnun g vom 1. Juli 1828, nur für das Für-
stenthum Sigmaringen geltend, findet kaum noch Anwendung, sie ist schlechter
als die Preussi^che Taxe vom 21. Juni 1815, welche bei Festsetzung ärztlicher
Liquidationen in der Kegel hier als Grundlage dient.
f) Ferner besitzt Hoheuzollern seit mehr als fünfzig Jahren die obli¬
gatorische Leichenschau. Näheres enthalten die Sigraaringer Verordnung
vom 20. Januar 1888 und die mit dieser zumeist gleich lautende Hechinger
Verordnung vom 11. April 1848. Es werden als Leichenschauer in allen Gemeinden
des Regierungsbezirks in erster Reihe die Oberamts - Physiker, in Hechiugen der
„Landeswuudarzt“, alsdann Aerzte, Wundärzte I. und II. Klasse, in letzter Reihe
unbescholtene, amtlich vorgeprüfte Laien verwendet. Trotz verschiedener Mängel
der Leichenschauordnung ist ihre Zweckmässigkeit nicht zu verkennen.
g) Als nur für das Fürstenthum Hoheuzollern - Sigmaringen gültig,
aber durch Gewohnheitsrecht auch im Bezirk Hechingen geübt, ist ferner zu er¬
wähnen die Verordnung Fürst!. Geh.-Konferenz vom 11. März 1836, die Ver¬
legung und Einrichtung der Friedhöfe betreffend; sie ist im §. 8 bezüglich
der Familien-Begräbnisse durch Ailerh. Kab.-Ordre vom 24. Febr. 1875 abgeändert.
Die in den altländischen Provinzen bestehende Vorschrift (Min.-Erlass vom
26. Novbr. 1848), wonach Veränderungen vor Ablauf von 40 Jahren nach erfolgter
Schliessung des ßegrähnissplatzes unstatthaft sind, gilt für Hohenzollern nicht;
nach §. 12 a. a. 0. dürfen solche (z. B. Ebnen, Bepflanzen etc.) ohne Um¬
grabungen schon nach 5 Jahren vorgenoramen werden; im Uebrigen bleibt
nach Anlegung eines neuen Friedhofes der alte noch auf 15—20 Jahre ge¬
schlossen. — Die Mehrzahl der vorhandenen 102 Kirchhöfe gehört den politi¬
schen Gemeinden. Die Beerdigung evangelischer Glaubensgenossen ist
durch die Erektious-Urkunde für die beiden evaugelischen Pfarrsysteme Sigma¬
ringen und Hechingen vom 5. Juli 1861 geregelt.
h) Ferner wurde vom Vortragenden darauf hingewiesen, dass im vorigen
Jahre die Nothwendigkeit einer Polizei-Verordnung d. d. 13. Juni über die
öffentliche A n kündigung von Heil-, Geheim - und Schwindelmit¬
teln in der Presse und anderweitig hervorgetreten ist. Durch dieselbe
wurde bewirkt, dass das vorher sehr verbreitete Anpreisen von Geheimmitteln
etc. seitens gewisser Kaufleute und besonders auch der benachbarten Württem-
bergischen Apotheker in den hohenzollernschen Lokalblättern fast gänzlich
verschwunden ist.
Mit einer Bemerkung, welche die Nothwendigkeit der Kenntniss der Me¬
dizinalgesetze auch für den praktizirenden Arzt hervorhob und mit einer Auf¬
forderung, die Landesverwaltung in der Handhabung derselben möglichst zu
unterstützen, schloss der Vorsitzende seine durch die knapp bemessene Zeit
wesentlich gekürzten Darlegungen.
Hieran knüpfte sich eine von Dr. S t a u s s angeregte Erörterung über die
Erstattung der Impf-Termins-Uebersichten.
Statt des auf der Tagesordnung stehenden dritten Vortrages über
„eine selteneForm von Peritouitis“ hielt Dr. Woe r n e r - Hechingen einen sehr
ausführlichen, durch zahlreiche Tabellen erläuterten Vortrag über
eine unter den Mannschaften der Garnison der Burg Hohenzollern
beobachtete isolirte Epidemie von Influenza.
Es wurden in der Zeit vom 28. Dezember 1892 bis zum 16. Januar 1893
68°/ 0 der Ist-Stärke befallen; der Krankheitsverlauf war ein sehr schwerer,
ein Mann starb nach vorausgegangenen heftigen Blutungen der Nase bald
nach seiner, in vorsichtigster Weise erfolgten Ueberftihrung von der Burg in’s
Spital der influenzafreien Stadt Hechingen. Die Erkrankungen erfolgten in
624
Kleinere Hittheilongen und Referate aus Zeitschriften.
der Regel plötzlich mit Frieren oder Schüttelfrost; die Erscheinungen waren
vorwiegend gastro-intestinaler Natur, die Komplikationen sehr zahlreich
und schwer, so dass im Anfang der Epidemie an Typhus gedacht, auch die
Möglichkeit einer Fleischkonserven-Vergiftung erwogen wurde. Der Vortragende
begründete die Diagnose Influenza typhosa in ausführlicher Weise. Eine ein¬
gehende Beschreibung der interessanten Epidemie wird an anderer Stelle erfolgen.
In der sich anschliessenden Diskussion hob Reg.-u. Med.-Rath Dr. Schmidt
hervor, dass er Gelegenheit gehabt habe, im Januar d. J. von Amtswegen die
Civilbevölkerung der Burg zu untersuchen und dass seine durch den Assistenz¬
arzt der Garnison unterstützten Feststellungen, wie die Untersuchung der im
Spital zu Hechingen untergebrachten Soldaten ihn schon damals zu der Üeberzeu-
gung geführt hatten, dass es sich nicht um Typhus oder Nahrungsmittel-Ver¬
giftung, sondern um eine Influenza gravior praecipue gastrica gehandelt habe.
Hierauf wurde durch Abstimmung beschlossen, den Kollegen für die Wahl
zur Aerztekammer der Rheinprovinz und der hohenzollern’schen Lande als
Mitglied den Reg.- u. Med.-Rath Dr. Schmidt, als Stellvertreter den Oberarzt
am Spital zu Hechingen Dr. Woerner in Vorschlag zu bringen.
An die gegen s / 4 4 Uhr beendete Sitzung schloss sich ein gemeinschaft¬
liches Essen, an welchen den Aerzten aus Sigmaringen wegen Abgang des
Zages nur kurze Zeit theilzunehmen verstattet war. S.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
A. Gerichtliche Medizin.
Ueber Kehlkopffraktnren. Von Dr. Max Sch eie r in Berlin. Deutsche
medizinische Wochenschrift, Nr. 33, 1893.
An der Hand eines im Berliner städtischen Krankenhause am Urban be¬
obachteten Falles von Kehlkopffraktur hat Verfasser eine Zusammenstellung der
diesbezüglichen Literatur neben den Resultat en von Leichen versuchen geliefert,
die nicht zum wenigsten das Interesse des Gerichtsarztes in Anspruch nehmen
dürften. Die Brüche gehören zu den seltensten, gleichzeitig aber auch zu den
gefährlichsten; abgesehen von den zahlreichen Beobachtungen an Erhängten
konnte Verfasser im Ganzen 95 genau beobachtete Kehlkopfbrüche zusammen¬
stellen. Als Ursache von 43 durch Gurlt zusammengestellten Frakturen war
angegeben: Würgen des Halses (14), Henken (2), Zusaminenpressen des Halses
[z. B. durch Wagenrad, Eisenbahnpuffer] (3), Auffallen des Halses auf einen
harten Gegenstand (8), Stoss, Schlag. Wurf gegen den Hals (8), Schiesspulver¬
explosion (1), Erhängen (4), unbekannt (3). Schussverletzungen führen änsserst selten
zu Frakturen; öfters ist Hufschlag als Ursache aufgeführt. Endlich können Frak¬
turen durch indirekte Gewalt entstehen: durch Sturz auf den Kopf, indem im
Moment der Gewalteinwirkung eine plötzliche Beugung des Kopfes nach vorn
stattfindet, das Kinn heftig gegen den oberen Theil des Brustbeins angedrängt,
und dadurch der Kehlkopf zusammengedrückt wird.
Die experimentellen Untersuchungen wurden von Verfasser an verschieden
alten Leichen (19 bis 81 Jahre alt) und ohne bestimmte Auswahl ansgeführt:
1) Zehn Versuche: Erwürgung mit der Hand derart, dass der Daumen
der rechten Hand auf die eine Seite, die vier übrigen Finger anf die andere Seite
des Kehlkopfes gelegt wurden. In 5 Fällen Bruch des Zungenbeins, davon das
grosse Horn gewöhnlich in der Mitte; 6 Frakturen des Schildknorpels, gewöhn¬
lich in der Mittellinie oder 3—5 mm neben derselben, geringe Dislokation ;
das obere Horn des Schildknorpels war in 6 Fällen gebrochen; der Ringknorpel
war 7 mal gebrochen, meist eine Fissur vorn in der Mitte. Die Schleimhaut
des Kehlkopfes war niemals verletzt, zuweilen fand sich eine Zerreissung des
Ligamentum conicum.
2) Sechs Versuche: Schlag mit der geballten Faust auf den
Kehlkopf. Nur in einem Falle Verletzung des Zungenbeins. Da der Schlag
mehr den vorspringenden Theil des Halses, das Pomum Adami, traf, so war der
Schildknorpel in sämmtlichen Fällen mit Ausnahme eines einzigen Falles ge¬
brochen; doch verlief der Bruch am Schildknorpel nicht so geradlinig wie bei
der ersten Serie, theils in der Mitte, theils zur Seite, zuweilen in der Form
eines nicht stark gekrümmten lateinischen S. Der Ringknorpel war nur einmal
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
626
unversehrt; dreimal sass der Yertikalbruch im vorderen Ringtheil zu beiden Seiten
von der Mittellinie je ca. V* cm entfernt, ganz symmetrisch, so dass das Mittel¬
stück herausgebrochen und nach innen gesunken war.
Es gestalten sich demnach die Brüche der Knorpel in beiden Gruppen ganz
verschieden, so dass man in einzelnen Fällen aus dem anatomischen Befunde
einen Schluss auf die betreffende Gewalteinwirkung zu ziehen im Stande sein
wird. Stimmbandverletzungen sind ebensowenig beobachtet worden wie Fraktur
oder Luxation des Aryknorpels.
Aus dem Umstande, dass schon ein mittlerer Druck, ein nicht zu starkes Hin¬
fassen genügte, um ein Krachen am Kehlkopfe hervorzubringen, schliesst Ver¬
fasser, dass es daher sehr wohl möglich sei, dass bei einer unvorsichtigen Be¬
handlung der Leiche, heim Transport der Leiche u. s. w. Brüche der Kehlkopf¬
knorpel u. s. w. entstehen können. Schon geringe Verkalkung oder Verknöcherung
begünstigt die Neigung zur Fraktur. Das Lebensalter ist für die Brüchigkeit
der Kehlkopfsknorpel durchaus nicht bestimmend; nach Patenko ist eine
Regelmässigkeit in der Ausbreitung der Verknöcherung im Zusammenhang ihres
Entwickelungsgrades mit einem bestimmten Lebensalter nicht vorhanden.
Im Allgemeinen ist die Verletzung eine schwere, lebensgefährliche; etwa 80 °/ 0
endeten tüdtlich. Der Tod kann eintreten durch Erstickung unmittelbar nach dem
Unfälle, im weiteren Verlaufe durch ödemaröse Schwellung der Kehlkopfschleim¬
haut, durch subperichondrale und submuköse Blutergiessungen, Glottiskrampf,
durch Obstruktion der Luftwege in Folge nachträglicher Verschiebung der Frag¬
mente. Dr. Israel-Medenau (Ostpr.).
Wieviel Morphin darf ein Arzt einem Kranken ata Einzeldosis
verordnen? Ein gerichtliches Gutachten. Von Dr. Lew in. Sonderabdruck
aus der Berl. klin. Wochenschr.; 1893, Nr. 41.
Ein Arzt hatte einer an Krebs leidenden Patientin folgende Medizin ver¬
schrieben:
Rp. Morphini mnriat. 0,2
Aqua destillat. 10,0
M. D. S. Abends vor dem Schlafengehen 20—30 Tropfen zu nehmen.
Die Kranke hatte am Abend des 22. Januar 20—22 Tropfen davon er¬
halten und war am 26. Januar, nachdem sie noch am 25. Januar ihren Arzt
erkannt und ihren Namen genannt hatte, gestorben.
Die Sektion ergab: Verdickung der zwei- und dreizipfligen Klappe, De¬
generation des Herzmuskels, allgemeine Herzerweiterung, kolossaler Krebstumor
im Unterlcibe, der mit vielen Organen untrennbar verwachsen war. Die che¬
mische Untersuchung auf Morphin fiel negativ aus.
Die Gerichtsärzte hatten ihr Gutachten dahin abgegeben:
„Die»Vergiftung hat den Tod, der allerdings durch das kolossale Krebs¬
leiden der Verstorbenen ohnehin in kürzester Frist herbeigeftthrt sein würde, be¬
schleunigt.
Das L«*l><m der Schwerkranken war nur unter Anwendung stärkender
Mittel, sowohl durch Pflege, wie durch Medication voraussichtlich noch einige
Zeit zu erhalten — durch ein narkotisches Mittel, welches lähmend auf Gehirn-
thätigkeit, Athmung, Urinsekretion wirkte, musste der Tod beschleunigt werden.
Ein grosser Mangel an Vorsicht und eine beträchtliche Fahrlässigkeit
würden dem augeklagten Arzte auch in dem Falle vorgeworfen werden müsden,
wenn der Tod nicht erfolgt wäre.“
Lewin nennt diese Ausdrücke hart und unbegründet und kommt zudem
Gutachten :
„Die bei der Verstorbenen beobachteten Symptome sind theilweise Mor¬
phinwirkungen. Der Tod ist nicht allein eine Folge dieser Morphinwirkung ge¬
wesen. Er ist als das Ergebniss eines schweren Krebsleidens, eines bestehenden
Herzleidens und einer besonderen Einwirkung, hier Morphin, anzusehen. Alle
drei Faktoren haben in realer Konkurrenz sich an dem Ausgange betheiligt.
Aber selbst wenn weder ein Krebs- noch ein Herzleiden bestanden hätte,
und nur das Morphin als Ursache übrig bliebe, könnte niemals ein Kunstfehler
des Arztes konstruirt werden, sobald die maximale Dosis des Arzneibuches nicht
überschritten wurde. Innerhalb der zulässigen Grenzen bewegte sich aber iü
diesem Falle die verabfolgte Menge des Morphin/
626
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
Referent tritt dem Gutachten Lewin’s nicht bei, kann aber auch die
Begründung des Gutachtens der Gerichtsärztc nicht vertreten.
Der Arzt hatte unbedacht bezw. fahrlässig gehandelt, nicht dadurch, das?
er der Kranken ein Schlafmittel, welches Morphin enthielt, verordnet«, M>ndem
dadurch, dass er eine so grosse Menge verordnet«, ohne dazu irgendweicii^n
Grund zu haben. Wenigstens ist aus dem von Lewin Mitgetheilten nicht er¬
sichtlich, warum der Arzt die gewöhnliche Starke des Schlafmittels, 1 tVntigramm
Morphin um das Doppelte resp. Dreifache überschritt. Er hätte sich sag ra
müssen, dass eine solche Gabe lebensgefährlich werden konnte, da die Patientin
nicht an Morphin gewöhnt war. Denn nur solchen Personen darf der Arzt die
Maximaldose und das Vielfache der Maxi maldosen verordnen. Der Arzt ist in
seiner Verordnung nicht an die Dosen des deutschen Arzneibuches gebunden.
Täglich werden diese Dosen ja mit Recht bei Morphiophagen um das lü- und
20täche überschritten. Der Arzt hat aber die Pfluln, »tun Handeln event. zu
begründen, wenn er das gewöhnliche Muss eines giftigen Mittels überschreitet.
Im vorliegenden Falle war der Arzt nicht im Staude, die Verordnung einer so
grossen Gabe zu entschuldigen, vielmehr hätte ihn der Zustand der Patientin
und der Umstand, dass sie bisher oder wenigstens in der letzten Zeit kein Mor¬
phin erhalten hatte, doppelt vorsichtig in der Wahl der Dosis machen sollen.
Dass er unvorsichtiger und unnüthiger Weise eine so grosse, eine unter
Umständen tödtliche Gabe verordnet hatte, das ist ihm meines Erachtens als
Fahrlässigkeit anzurechnen. Dr. M i 11 e n z w e i g.
Ueber Irrthum und Irresein. Rede, gehalten zur Feier des Stiftungs¬
tages der militärärztliehen Bildungsaustalten am 2. August 1893 von Prof. Dr.
F. Jolly. Berlin 1893. Verlag von Aug. Hirse hwald.
Diese im Druck erschienene Rode Jolly’s verdient gerade in der Jetzt¬
zeit die Beachtung weiterer Kreise, weil sie in eingehender und doch leicht ver¬
ständlicher Weise ein Thema bespricht, welches dem Arzte und dem gebildeten
Laien durch die Kämpfe über das lrrenweseu nahe gelegt ist.
Der Verfasser setzt den Unterschied auseinander, der zwischen Irrthmn
und Irrsinn, zwischen dem physiologischen und dem pathologischen Irrthum be¬
steht und kommt zu dem Schlüsse, dass die Psychiatrie über hinreichende Kri¬
terien verfügt, um beide von einander zu unterscheiden. Allerdings dürften wir
uns nicht darauf beschränken, den Inhalt des Irrthums zu untersuchen; denn
dieser biete in vielen Fällen keine Handhabe zur Unterscheidung der gesunden
oder krankhaften Natur der zu untersuchenden Vorstellung. Die wissenschaft¬
liche Untersuchung müsse sich vielmehr auf die Art der Entstehung des irr-
thutns richten und auf das Verhältnis, in welches er zu amlereu psychischen
Vorgängen tritt. Hierbei dürfen wir ferner nicht etwa auf die nächste äussere
Veranlassung oder die nächstliegenden psychologischen Verkettungen uns stützen,
wie es der Laie zu lieben pflegt, sondern wir müssen zurückgehen auf die Zu¬
stände des Gehirnes, durch welche ein Ueberwiegen oder ein Schwinden einzelner
Glieder des psychologischen Vorganges bedingt wird. Nur insofern wir im
Stande sind, im einzelnen Falle aus dem gcsaimutcn Ablauf der psychischen
Vorgänge solche zu Gruude liegenden Störungen zu erschließen und in ihnen
gesetzmässige, nach der psychiatrischen Erfahrung regelmässig in bestimmten
Formen ablaufende Krankheitsbilder zu erkennen, wird uus auch die Beurtei¬
lung des einzelnen Irrthums gelingen.
Jolly veranschaulicht diesen Gedanken, indem er die Entstehung irr¬
tümlicher Vorstellungen aus Sinnesdelirien, aus den Störungen des Gedächtnisses,
aus den unvermittelt auftretenden Vorstellungen (den Primordialdelirieu Grie¬
sin ge r’s), und aus Zwangsvorstellungen darlegt und hierbei den Einfluss be¬
tont, welchen krankhafte Affektzustäude auf die Bildung von krankhaftem Irr¬
thum ausüben. Klärend wirkt Jolly hierbei namentlich durch den Vergleich,
den er mit bekannten mehr harmlosen, psychischen Vorgängen anstellt, indem er
so unmerklich den Leser von dem Bekannten und Alltäglichen in das unbekannte
und wissenschaftliche Gebiet hinüberführt.
Werfen wir, sagt er am Schluss, einen Rückblick auf die verschiedenen
psychischen Vorgänge, welche dem physiologischen und dem pathologischen Irr¬
tum zu Grunde liegen, so sehen wir, dass iu allen Kategorien Uebergänge vor¬
handen sind, dass der pathologische Irrthum aber überall da zu
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
627
Stande kommt, wo Reizerscheinungen in einzelnen Gebieten
mit allgemeiner oder partiellerSckwäehe der höherenbewuss¬
ten Association einhergehen. Ders.
B. Hygiene und öff eil tliches Sanitätswesen:
lieber eine in Deutschland bestehende Lepraendemie. Von Dr.
Pindikowski in Memel. Deutsche mediz. Wochenschrift; 1893, Nr. 40, S. 979.
Seit einer Reihe von Jahren kommen in der Stadt und im Kreise
Memel vereinzelte Falle von Erkrankungen an Lepra vor. Mit Hilfe der Ver-
waltungsbehürlen konnte der Verfasser neun zur Zeit lebende Kranke sicher fest¬
stellen, denen sich vier in den letzten Jahren Verstorbene anreihen lassen. Die
Falle kamen in der einheimischen litthauischen Bevölkerung vor, gehören sämint-
lich der tuberösen Form an und betreffen sechs Männer und sieben Frauen im
Alter von IG—70 Jahren. Sämmt liehe Fälle sind durch mikroskopische Unter¬
suchung excidirter Hautstiickchen siciiergestellt. Eine bestimmte Verbreitung
innerhalb des Kreises besteht nicht; eine Einschleppung aus Russland ist mit
Sicherheit auszuschiiessen, da auch nicht einer der Kranken jemals seinen Wohn¬
ort, ausserhalb des Kreises gehabt, auch sich nicht einmal vorübergehend in einer
Lepragegend aufgehalten hat. Da mithin eine autochtone Entstehung an Ort
und Stelle aimiiiehiuen ist, ist es für Verfasser ein dringendes Erforderniss, dass
die Verwaltungsbehörden ihre Aufmerksamkeit der Lepraendemie zuwenden, um
nicht eines Tages von einer Ausbreitung überrascht zu werden. Strengste Iso-
lirung ist die einzige zweckmässige Massnahme.
Dr. Israel-Medenau (Ostpr.).
Die Desinfektionsanstalt kleiner Städte. Vortrag, gehalten in der
XI.1L Versammlung ostpreussischer Aerzte zu Königsberg von Professor
E. v. Es mar ch. (Separat-Abdruck aus dem „Gesundheits- Ingenieur“ 1893,
Nr. 16.)
v. Esmarch hält es für möglich, auch kleinere Städte zur Anlage einer
stationären Desinfektionsanstalt zu bewegen. Er beschreibt einen geeigneten
Dampfapparat — der grösseren Billigkeit und Sicherheit wegen ist einer mit
einfach strömendem Dampfe gewählt — und ein zweckentsprechendes Gebäude.
Die Kosten der Anlage veranschlagt er auf 5—8500 Mark. Dass Personal soll
durch einen 2— 3wöchentlichen Kursus an einer grösseren Desinfektionsanstalt
ausgebildet werden, und, da es wegen Mangels an dauernder Beschäftigung die
Desinlektionen nur im Nebenamte ausfiihrcn kann, sollen die Anstalten mit vor¬
handenen Kranken- oder Armenhäusern oder auch Waschanstalten verbunden
werden, deren Wärter resp. Heizer gelegentlich als Desinfektoren fungiren
können.
Die Ausführung der dem E.’schen Vorichlage zn Grunde liegende Ideen
ist nach dem heutigen Stande unteres Wissens sicherlich eine NothWendigkeit;
ob der Vorschlag selbst aber viele Folgen haben oder auch nur beachtet werden
wird, ist zweifelhalt. Zuin Theil sind E.’s Voraussetzungen nicht zutreffend.
Kleinere städtische Gemeinden mit Annen- oder Krankenhäusern, deren Per¬
sonal die Desinfektion nebenbei — von Zeiten epidemischen Auftretens einer
Seuche ganz abgesehen — ausführen könnte, sind selten, und Waschanstalten
müssten erst ad hoc errichtet werden. Zudem ist es doch zum mindesten un¬
wahrscheinlich, dass sich viele kleinere Gemeinden dazu verstehen werden, 5 bis
85U0 Mark (und es dürfte, nach den Anforderungen, welche E. stellt, die S umm e
sich w r ohl mehr der letzteren Zahl zuneigen), zu dem geforderten Zweck herzn-
geben, so lange die Desinfektion nicht durch ein Gesetz (Seuchengesetz I!) für
eine grössere Anzahl häutig vorkommender, übertragbarer Krankheiten obliga¬
torisch gemacht ist. Endlich aber muss Referent nach seinen Erfahrungen über¬
haupt die Ausnutzbarkeit der geforderten Anlagen in kleineren Städten bei dem
jetzigen Stande unserer Meduinalorganisation bestreiten. Referent hat in seinem
Wirkungskreise seit über Jahresfrist 8 transportable Dampfapparate — nebenbei
gesagt kostet das Stück mit 1 Kubikmeter Desiufektionsraum und den Apparaten
zur Wohnungsdesinfektiou nur etwa 5UÜ Mark —, er hat etwa 40 geprüfte
Desinfektoren, und ihm steht eine Polizeiverordnung zur Seite, welche die Des¬
infektion nach einer Anzahl von Krankheiten anordnet. Und der Erfolg? In
weiterer Entfernung von der Kreisstadt wird ab nnd zn gemeldet und desinfizirt ?
628 Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
je näher der Kreisstadt desto seltener, und in der Kreisstadt wird weder ge¬
meldet noch desinfizirt. Die Aerzte fürchten das Dazukommen des Medizinai-
beamten, sie scheuen seinen Einblick in den Kreis ihrer Klientel und eventuell
auch das dadurch bedingte leichtere Eindringen in denselben. Hic uaeret aqua.
Man schaffe zuerst eine bindende Seuchengesetzgebung, man lasse den Medizinal-
beamten aus dem Kreise der konkurrirenden Aerzte ausseheiden und Vorschläge,
wie die des Professor v. Esmarch werden nicht unbeachtet und unberück¬
sichtigt bleiben. 1 ) Dr. Jacobson- Salzwedel.
Die Milch in Neapel. Untersuchungen von Dr. Alf. Montefusco.
Annali dell’ Istituto d’Igiene della R. Universita di Roma. Vol. III.
Erst seit 1887 wurden in Neapel Milchanstalten eingerichtet, die iin Ver¬
hältnisse zu den städtischen Bedürfnissen an Zahl zu gering (nur 15) und wenig
leistungsfähig sind.
Der gewöhnliche Milchverkauf vollzieht sich in Neapel auf eine andere,
ganz eigentümliche Weise. Die milchgebenden Thiere (Kühe, Ziegen und
Eselinnen) werden fast alle zu bestimmten Tageszeiten (Morgens 6—9 Uhr.
Abends eine Stunde vor Dunkelheit) durch die Strassen der Stadt umhergeführt.
Sie tragen eine Schelle an dem Halse, durch welche die Familien von ihrem
Eintreffen avisirt werden. Letztere schicken dann ihre Dienstboten hinab auf
die Strasse, welche beim Melken behülflich sind und daraut die Milch in Em¬
pfang nehmen. Die Ziegen werden selbst über die Treppen hinauf bis in die
Wohräume geführt, wo von ihnen die Milch gemolken wird vor den Augen der
Familienangehörigen. Nur eine geringere Anzahl von Kühen wird nicht umher¬
geführt, sondern verbleibt in den Ställen; dorthin müssen sich die Milchkäufer
begeben, wo sie zu jeder Tageszeit Irische Milch haben können Die Ziegen¬
milch ist nur Morgens und Abends zu haben, weil die Ziegen nach dem mor¬
gendlichen Rundgang auf’s Land geführt werden.
Montefusco rechnet, dass täglich ca. 1000 Kühe, 3000 Ziegen und HX)
Eselinnen zur Milchabgabe herumgetiihrt werden, denen ca. 110 hl Milch ent¬
nommen würden. Indess bringen es diese so primitiv-patriarchalischen Verhält¬
nisse wohl mit sich, dass der Milchkousum in N. ein so ausserordentlich ge¬
ringer ist. Der Preis der Milch ist so hoch, dass das gewöhnliche Volk dieselbe
als Nahrungsmittel nicht verwendet, sondern nur in Krankheitsfällen verbraucht.
Während (nach Schiefferdecker und Mayer) der tägliche Durchschnitts¬
konsum an Milch für jeden Einwohner
von London sich auf 107 g,
„ Paris „ „ 228 „
„ Müuchen „ „ 562 „
beläuft, beträgt der tägliche Durchschmttskonsum in Neapel nur 24 g pro Kopf.
Bei Besprechung der Fütterung der milchgebenden Thiere, resp. der
Futterarten und deren Einfluss auf die Milch, wird erwähnt, dass die Mais-
ftitterung eine absolut weiss gefärbte Milch giebt. Einige Myosotisarten,
Mercurialis perennis, Fagopyrus, Polygonum und noch andere Pflanzen der
italienischen Wiesen geben der Milch eine blaue Farbe; einige Euphorbiaceen,
die hauptsächlich von Ziegen gefressen werden, verleihen ihr eine drastische
Wirkung.
*) Dass die Vorschläge des Prof. v. Esmarch doch schon unter den
jetzigen Verhältnissen durchführbar sind, hat ein Kreis im hiesigen Regierungs¬
bezirk (Höxter) bewiesen. Hier sind aus Kreismitteln feststehende doppelthürige
Budenberg’sche Dampfdesinfektionsapparate von 3 Kubikmeter Inhalt ange¬
schafft und in den 7 kleinen Städten des Kreises in besonders dazu errichteten
Gebäuden, deren Baukosten die betreffenden Städte getragen haben, aufgestellt.
Für jeden Apparat sind zwei zweckmässig eingerichtete, fahrbare Transport¬
wagen beschafft, einer für die desinüzirten und einer tür die zu desinfiziremlen
Gegenstände. Die Desinfektionsanstalten werden sowohl von den Einwohnern
jener Städte, als von der Bevölkerung der anliegenden Dörfer ausgiebig benutzt
und zwar nicht nur beim Auftreten solcher ansteckenden Krankheiten, bei denen
im diesseitigen Bezirk die Desinfektion obligatorisch vorgeschrieben ist, wie Typhus,
Scharlach, Diphtherie u. s. w., sondern auch bei anderen Krankheiten; insbe¬
sondere hat sich die Desinfektion der von schwindsüchtigen Personen benutzten
Betten, Kleider tl s. w. sehr schnell eingebürgert. Rpd.
Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften.
629
Auffallend gering ist die Zahl des tuberkulös befundenen Rindviehes in
Neapel. Von 43 852 im Jahre 1892 geschlachteten Stück Rindvieh zeigten sich nur
12 tuberkulös, also nur 0,03 %, während nach Sonnenberger cs in Deutsch¬
land Gegenden giebt mit 40—60 "/ 0 Tuberkulose unter dem Rindvieh.
Von den zahlreichen Milchanalysen, die auf 9 Tafeln in Bezug auf chemische
Reaktion, spec. Gewicht, Wasser* und Fettgehalt, TrockenrUckstand und Asche
der verschiedenen Milcharten dargestellt, und nach den gewöhnlichen Methoden
ausgeführt sind, sei nur erwähnt, dass die Eselinnenmilch ein höheres spec.
Gewicht, dagegen erheblich geringeren Fettgehalt zeigte, als Kuhmilch und bedeu¬
tend geringer als Ziegenmilch sowie dass die Abendmilch mehr Fett, als die Mor¬
genmilch enthielt. Die Milch der auf den Strassen umhergeführten Kühe ergab einen
höheren Gehalt an Fett und festen Substanzen, als die Milch der in ihren
Ställen gemolkenen Kühe; die letztere Milch war auch wasserreicher. Ver¬
fälschungen durch Zusätze von Borsäure und Salicylsäure wurden ebenfalls bei
der Milch aus Milchanstalten nachgewiesen.
Interessanter als die chemischen Tabellen sind die bakteriologischen. Von
pathogenen Bakterien fand sich einmal in der Milch das Bacterium coli vor,
dessen Uebergang in dieselbe aus den Faeces vermittelst der dasselbe über¬
tragenden äusseren Fläche der Mammae leicht erklärbar ist. Injektionen dieser
Milch in die Peritonealhöhle erzeugte den Tod des Versuchsthieres. — Der
Keimgehalt der Milch — nach Flügge gilt als zulässige Maximalzahl in 1 ccm
die A nzahl von 10000 — differirte bedeutend: Die geringste Zahl von Keimen
(784—9524) fand sich bei den Kühen vor, die umhergeführt wurden, während
die Milch der Milchwirthschaften erheblich mehr Keime (von 17000 bis zu 2 bis
3 Millionen) aufwiesen. Im Allgemeinen zeigte die Kuhmilch die meisten Bak¬
terienkeime, die Ziegen- und Eselinnenmilch weniger zahlreiche. Das rapide
Wachsthum der Bakterien in der Milch erläutert eine Tabelle, welche die Zahl
der Keime nach verschiedenen Zeiten aufftthrt: Während die Keime unmittelbar
nach dem Melken in einem ccm Milch 1200 betrugen, stieg die Zahl nach
2 Stunden auf 430980 und nach 12 Stunden auf 3635000.
Eine andere Tabelle weist nach, wie die Milch fast frei von Mikroorganismen
(nur 44—142 Keimen in 1 ccm) blieb, wenn sie in vorher sterilisirten Gefässen
aufgefangen wurde, nachdem die Zitzen der Thiere zuvor mit lauwarmem Wasser
und Seife gereinigt worden waren. Ferner werden noch die Beobachtungen
von Hoffmann und Schultz bestätigt, nach denen die zuerst gemolkene
Milch den höchsten Kcimgehalt hat.
Montefusco glaubt zum Schluss, dass die Uebclstände, welche mit dem
Umherführen der Milchthiere durch die Strassen (die Verunreinigung der letzteren
und das wenig ästhetische Schauspiel des Melkens) reichlich ausgeglichen würden
durch die Vortheile einer gesunden, unverfälschten Milch; auch sei die hygienische
Kontrole bei diesen umhergeführten Thieren leichter zu bewerkstelligen.
Dr. Hensgen-Siegen.
Ergebnisse der Fleischschau in den öffentlichen Schlachthäusern
des Königreichs Preussen. Vom 1. April 1892 bis 31. März 1893 sind in 243
öffentlichen Schlachthäusern 22487 Pferde, 600500 Rinder, 914216 Kälber,
916 962 Schafe, 4726 Ziegen und 1873266 Schweine geschlachtet, ausserdem
in 313 Rossschlächtereien noch 30056 Pferde; so dass die Gesammtzahl
der geschlachteten Pferde 52543 beträgt. Von den geschlachteten Thieren
waren behaftet mit Rotz: 9 = 0,017"/ 0 ; mit Tuberkulose: 112 Pferde
(0,21 °/ 0 ), 52136 Rinder (8,7 %), 446 Kälber (0,049 %), 884 Schafe (0,096 °/ 0 ),
2 Ziegen (0,04 %), 14 287 Schweine (0,76 %); mit Finnen: 567 Rinder (0,094 %),
103 Schafe (0,011 °/ 0 ), 7705 Schweine (0,41%); mit Trichinen: 786 Schweine
(0,042 °/ 0 ).
Zur menschlichen Nahrung ungeignet wurden befunden und
zwar ganz: 152 Pferde (0,3%), 4067 Rinder (0,68%), 1171 Kälber (0,13%),
603 Schafe (0,066%), 32 Ziegen (0,64%), 6297 Schweine (0,34%); theilweise:
581 Pferde (1,1 %)) 65891 Rinder (10,98%), 2412 Kälber (0,26 %), 39 682 Schafe
(4,3%), 79 Ziegen (1,6 %), 59267 Schweine (3,1%).
Das Irren wesen in Schottland. 34. und 35. Jahresbericht des König!.
Irrenamts für Schottland. 1892 u. 1893.
63U
Kleinere Mittheilnngen and Beferato ans Zeitschriften.
Mit stets neuer Freude muss der geradezu klassische Bericht des „General
Board of Commissionen in lun&cy“ begrüsst werden, den dieselbe jährlich dem
Staatssekretär für Schottland abstattet.
Die ca. 180 meist kleingedruckte Seiten starken Berichte (Preis 1,3 M.)
geben eine fortlaufende Statistik des dortigen Irrenwesens seit Errichtung des
Amts, im Jahre 1852, seit welcher Zeit die Zahl der demselben angezeigten
Irren von 5824 auf 18058, also um 124 °/ 0 gestiegen ist, während der Zuwachs
der Bevölkerung nur 35°/ 8 betrug.
Die Statistik beziigl. Aufnahmen, Entlassungen, Vertheilung, Art der
Krankheit beztigl. der einzelnen Anstalten, der Kolonien (um die sich einer der
bedeutendsten lebenden Psychiater, Dr. Sibbald, die grössten Verdienste er¬
worben hat), der Privatpflege, der gerichtlichen Fälle, ist in prägnanter, durch
zahlreiche Tabellen erläuterter Form dargestellt. Die Eintragungen der Kom¬
missäre beweisen die eingehende Beaufsichtigung der verschiedentlich unterge¬
brachten Kranken; die zahlreichen Beobachtungen bilden eine werthvolle Be¬
reicherung der Literatur und zunächst eine überaus willkommene praktische
Illustration für das, was die Unterbringung von Irren in Kolonien und in Privat¬
pflege leisten kann.
Aus dem Berichte für 1892 ist zu entnehmen:
Am 1. Januar 1893 ezistirten in Schottland 2034 Pensionäre und 11125
auf öffentliche (55 auf Staats-) Kosten verpflegte, zusammen 13058 Irre, und
zwar 256 mehr als 1891. Von freiwilligen Patienten, d. h. solchen, die mit Er¬
laubnis* des Amts sich aufnehmen lassen, ohne wegen ihres Geisteszustandes
gesetzlich für gestört erklärt werden zu können, gab es 56. Dieselben werden
nicht als Irre registrirt und dürfen nach ihrem Antrag auf Entlassung höchstens
noch 3 Tage festgehalten werden. In den Anstalten wurden 40,9 °/ 0 der Auf¬
genommenen geheilt und starben 9 °/ 0 im Verhältnis zur Gesammtmortalität.
Es fanden 176 Entweichungen statt, bei denen nur 19 Kranke nicht wieder
zurückkamen, darunter 1 ungeheilter, die übrigen gebesserte Fälle. Neun Selbst¬
mordversuche endeten tödlich und ebensoviele Unglücksfälle (Epileptische etc.).
Die Kosten in den öffentlichen Anstalten betrugen pro Kopf und Woche ca. 11 M.
gegen 11 */« in England.
Die Anhänge, welche diesmal u. A. auch die hohe Anerkennung des in
Schottland (bekanntlich im Gegensatz zu England) ausgebildeten familiären Ver¬
pflegungs-Systems seitens kompetenter auswärtiger Irrenärzte (z. B. Peeter-
S e h 1) enthalten, seien besonders allen Denen empfohlen, welchen die Entlastung
unserer Irren-Kasernen am Herzen liegt.
Wie dringend erwünscht es ist, dasä bei uns ein solcher Bericht möglich
wäre, wie sehr uns ein solches Zeugniss über den Fortschritt des Irrenwesens
anderwärts anspornen müsste, ebensoweit und hoffentlich noch weiter zu kommen,
hatte Referent schon an verschiedenen Orten Gelegenheit zu äussern und auch
zu begründen. Dr. Kornfeld-Grottkau.
Ergebnisse der Schutzpockenimpfang im Königreiche Bayern im
Jahre 1892. Vom Königlichen Zentralimpfarzt Dr. Ludwig Stumpf-München.
Münchener medizinische Wochenschrift 1893; Nr. 43, 44 und 45.
Das Gesammtergebniss stellt sich wie folgt: Es sind von 100 Impfpflich-
tigen bei den
Erstimpfungen.
Wiederimpfungen.
1892
gegen
1891:
1892
gegen
1891:
im Laufe des Geschäftsjahres
ungeimpft gestorben . .
9,0
»
10,3
0,12
n
0,15
verzogen.
6,3
n
6,9
1.45
n
1,50
impfpflichtig geblieben . . .
84,7
V
82,8
98,43
n
98,35
Von 100 impfpflichtig Geblie¬
benen sind geimpft . . .
93,5
V
92,75
98,97
»
98,75
ungeimpft geblieben ....
6,5
»
7,25
1,03
7?
1,25
und zwar weil
wegen Krankheit zurückgestellt
5,3
n
5,50
0,70
n
0,75
aus der Schulpflicht entlassen
—
n
—
0,03
r>
0,08
nicht aufzufinden.
0,7
n
0,95
0,10
V
0,12
vorschriftswidrig entzogen . .
0,5
n
0,80
0,20
7t
0,30
Kleinere Mittheilungen and Referate ans Zeitschriften.
631
Erstimpfangen. Wiederimpfangen.
1892 gegen 1891: 1892 gegen 1891:
Von 100 Geimpften sind geimpft
mit Erfolg.
99,4 „
98,7
97,8
„ 06,7
ohne Erfolg . . , .
Die Zahl der Fehlimpfungen
0,6 „
1,3
2,2
, 3,3
betrug bei der Impfung mit
Menschenlymphe:
n 3,0
a) von Körper zu Körper
0,5 „
0,1
2,7
b) anders aufbewahrter .
Impfung mit Thierlymphe:
— rt
0,95
—
V
* 3,5
a) mit Glycerinlymphe .
0,6 „
1,2
2,2
b) anders aufbewahrter .
2,1 ,
1,6
2,7
. 2,2
Fast sämmtliche Impfangen worden mit Thierlymphe aasgeführt
(98,1 °/o der Erstimpfungen und 98,4°/ 0 der Wiederimpfungen). Die Lymphe
ist fast aasschliesslich von der Königl. Zentralimpfanstalt geliefert, die 460 978
Portionen Lymphe (8051 Portionen weniger als im Vorjahre) von 138 Kälbern
produzirt hat. Von diesen Portionen sind 416257 versandt, 11526 an der
Zentralstelle selbst verbraucht, 22 250 Portionen wegen nachträglicher Erkrankung
der Impfthiere vernichtet und 10945 in Bestand geblieben. Die Austheilang
der Lymphe geschah ebenso wie früher in summarischer Weise, d. h. die Impf¬
ärzte erhielten ihren Lymphebedarf in einmaliger Sendung. Obwohl sich das
öffentliche Impfgeschäft fast allgemein in der kurzen Zeit von 6 Wochen (letzte
Aprilwoche bis Mitte Juni) abwickelte, konnte die Impfanstalt doch stets den
Wünschen der Besteller gerecht werden.
Als Impfmethode kam fast ausschliesslich der einfache Quer- und
Sagittalschnitt zur Anwendung, und zwar bei Erstimpflingen 5 Schnitte auf
jedem Arm, bei Wiederimpfungen 5—6 auf dem linken Arm. Mit Kreuz- und
Querschnitten wurde nur selten geimpft; die Zahl der Impfschnitte war dann
eine geringere (drei auf jedem Arm). Auf die Reinigung der Impfinstrumente
ist von den meisten Impfärzten die grösste Sorgfalt verwendet. Vielfach sind
die Impflanzetten vor jeder Impfung mit Lysol-, Karbolsäure- u. s. w. Lösung
desinfizirt; ein Impfarzt behauptet allerdings, dass der Erfolg der Impfung bei
Verwendung desinfizirter Lanzetten nicht so gut sei, als wenn diese nur gereinigt
und nicht desinfizirt würden.
Betreffs der Autorevaccinationen kehrt die schon früher gemachte
Beobachtung wieder, dass sich hierbei meist nur abortive Bläschen entwickelten.
Ebenso war bei Wiederimpflingen mit sichtbar und gut entwickelten, von der
ersten Impfung herrührenden Impfnarben der Impferfolg meist ein viel schlech¬
terer, als bei solchen mit schwachen, kaum sichtbaren Narben.
Allgemeine Reizerscheinungen der Haut (Urticaria, Erythem)
kamen nach der Impfung wiederholt vor, besonders bei unreinlich gehaltenen,
mit schmutziger Wäsche bekleideten Kindern, die mit ihren Fingernägeln die
Impfpusteln zerkratzten und die Haut reizten. Ebenso sind auch mehrfach
charakteristische Impfpusteln an anderen Körpertheilen beobachtet worden, deren
Entstehung zweifellos auf Uebertragungen des Pustelvirus durch die Fingernägel
zurückzuführen war. Erysipelatöse von der Impfstelle ausgehende Ent¬
zündungen gelangten im Berichtsjahre sehr spärlich zur Beobachtung und ver¬
liefen meist sehr rasch und ausschliesslich günstig. Todesfälle von Geimpften
in dem zwischen Impfung und Nachschau liegenden Zeiträume sind mehrfach
beobachtet, die aber nicht auf die Impfung, sondern auf andere interkurrente
Krankheiten, Bronchopneumonie, Brechdurchfälle, Eklampsie u. s. w. zuriiek-
geführt werden konnten.
Die Zahl der Impfversäumnisse hat gegen die Vorjahre eine Ab¬
nahme erfahren; die überwiegende Mehrzahl der Fälle beruhte auf Nachlässigkeit,
absichtliche Verweigerung der Impfung ist nur vereinzelt vorgekommen. Rpd.
Bewegung der Bevölkerung des Deutschen Reichs im Jahre 1892.
Die im Kaiserl. Statistischen Amt zusammengestellten Nachweise über die Be¬
wegung der Bevölkerung im Jahre 1892 ergeben, dass im Deutschen Reich statt¬
gefunden haben:
632
Besprechungen.
Eheschliessungen.
Geburten \ einschl. Todt-
Sterbefälle / gebürten
Mehr Geburten als Sterbefälle
im Jahre
1892
im Dnrchhnitt
von
auf 1000 der
Bevölkerung
1883/92
1892
1883/92
398 775
378 672
7,93
7,89
1856 999
1 822 976
36,93
37,98
1 272 430
1 250 761
25,31
26,06
584 569
572 215
11,62
11.92
Die Zahl der Eheschliessungen war demnach im vergangenen Jahre absolut
wie relativ grösser als im Durchschnitt der zehnjährigen Periode von 1883 bis
1892; bei den Geburten und Sterbefällen sowie beim Geburtenüberschuss stellte
sich nur die absolute Zahl höher. — Unter den Geborenen waren:
im Jahre
1892
Unehelich Geborene .... 169668
Todtgeborene . 61 028
im Durchschnitt Prozent
von der Geborenen
1883/92 1892 1883/92
169 419 9,14 9,29
65 796 3,29 3,61
Besprechungen.
Dr. Carl Günther, Privatdozent und Assistent am hygienischen In¬
stitut in Berlin: Einführung in das Studium der Bak¬
teriologie mit besonderer Berücksichtigung der
mikroskopischen Technik. Für Aerzte und Studirende.
Dritte vermehrte u. verbesserte Aufl. Mit 12 nach eigenen Prä¬
paraten vom Verfasser hergestellten Photogrammen. Leipzig
1893. Verlag von Georg Thieme. Gross 8°, 376 S.
Den zahlreichen Freunden des Gttnther’schen Leitfadens wird das Er¬
scheinen dieser neuen Auflage (der dritten seit 1890) gewiss willkommen sein;
denn die dem Arzte leider nur zu bekannte Thatsache, dass ältere Auflagen
medizinischer Werke so gut wie werthlos sind, gilt vor Allem — und zwar hier
mit Fug und Recht — von der Bakteriologie! Ist doch hier Alles erst im
Werden begriffen und wird doch hier derart mit Hochdruck gearbeitet, dass
täglich neue und wichtige Fortschritte zu verzeichnen sind. Wer, wie der Me-
dizinalbeamte, Veranlassung hat, auf diesem weiten Gebiete orientirt zu bleiben,
wird sich entschliessen müssen, von Zeit zu Zeit einen der kleinen Leitfäden
zur Hand zu nehmen, in welchem das Wichtigste aus der vielfältig zerstreuten
Tagesliteratur zusammengestellt und dadurch der augenblickliche Stand unseres
Wissens skizzirt wird. Es giebt ja speziell in der deutschen Literatur dergleichen
Bücher mehrere, von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehend und verschiedenen
Zwecken dienend. Unter diesen erfreut sich der „kleine Günther“ einer beson¬
deren und, wie Referenten scheinen will, stetig zunehmenden Beliebtheit, welche
ihren Grund findet in den bedeutenden und eigenartigen Vorzügen des Buches.
Denn, wenn schon der zweiten Auflage an dieser Stelle eine warme Empfehlung
zu Theil werden konnte, so gilt dies in noch viel höherem Grade von der vor¬
liegenden dritten Auflage. Die „Vermehrung und Verbesserung“, welche auf
dem Titelblatt in Aussicht gestellt wird, ist — sehr im Gegensatz zu manchem
bekannten Werk erster Autoritäten! — auch im Text vorhanden und zwar gleich-
massig über alle Theile des Werkes sich erstreckend. Und zwar hat Verfasser
sich nicht darauf beschränkt, neue Forschungsresultate iu den alten Text ein¬
fach einzuflickon — eine Gewohnheit, durch welche häufig die Deutlichkeit der
Darstellung, sicher aber die Abrundung des Ganzen Schaden leidet — im Gegen-
theil ist die Schilderung an vielen Stellen viel freier und einheitlicher.
Dem vorwiegend praktischen Zweck des Buches entsprechend, sind die
theoretischen, ihrem Wesen nach eigentlich in die allgemeine Pathologie ge¬
hörenden Fragen, namentlich die Immunitätsfrage etwas kurz behandelt. Da¬
gegen werden die zahlreichen kleinen Handgriffe und Kniffe der mikroskopischen
Technik mit grosser Sorgfalt beschrieben. Zahlreiche neue Rezepte, häufig mit
dem ausgesprochenen Zweck, komplizirte Methoden zu vereinfachen, sind in diese
Auflage ueu aufgenommen, so dass das Werk als Nachschlagebuch auf dem
Tisch des selbstständig bakteriologisch arbeitenden Praktikers warme Empfehlung
verdient. Ungemein einfach gestaltet sich beispielweise die Geisselfärbung an der
Besprechungen.
633
Hand eines einzigen Günther’schen Rezeptes, welches bestimmt ist, die
Löffler 'scheu Vorschriften, die für jedes einzelne Bakterinm einen anderen
Zusatz von Alkali oder Säure verlangten, zu ersetzen. Auch im Uebrigen zeigt
der allgemeinere Theil vielfache Verbesserungen; namentlich hat auch das Thier¬
experiment und seine Methode die uöthige Würdigung nunmehr gefunden.
Im speziellen Theil verdient vor Allem der Abschnitt über den Tuberkel¬
bacillus und über den Cholera-Vibrio hervorgehoben zu werden. Die Schil¬
derung des Koch’schen Vibrio und seiner immer wieder von Neuem auftauchen¬
den Nebenbuhler, des Fi nkler-Prior’schen, des Metschnikoff und
Denike’schen Vibrio, zu denen sich nunmehr der von Günther entdeckte
Vibrio aquatilis, der Neisser-Rubner’sche Vibrio Berolinensis hinzugesellen,
ist durch seltene Klarheit und Objektivität ausgezeichnet und bildet, durch vor¬
zügliche Lichtbilder unterstüzt, den Glanzpunkt des Ganzen. Auch in dieser
Auflage ist der Diphtherie-Bacillus merkwürdig stiefmütterlich behandelt.
Unter den Photogrammen finden sich viele neue, und zwar ganz vorzüg¬
liche, wodurch die Brauchbarkeit des Werkes gerade bei praktischen Arbeiten
erheblich gewonnen hat. Dr. Langerhans-Celle.
V. Magnan: Psychiatrische Vorlesungen. Deutsch von
P. J. Möbius, IV. und V. Heft. Leipzig 1893. Verlag von
G. Thieme. Gross 8°.
Das Heft enthält in mehreren, meist schon früher vom Verfasser ge¬
legentlich veröffentlichten Aufsätzen und Vorlesungen weitere Beiträge zur Lehre
von den Geistesstörungen der Entarteten. Sie zeigen die früher be¬
reits hervorgehobenen Vorzüge der Darstellung und sind illustrirt mit ausser¬
ordentlich instruktiven Krankengeschichten.
Wir finden zunächst Ausführungen über die Onomatomanie, jene häufig
beobachtete Art der Zwangsideen bei gebildeten Leuten, welche in dem ängst¬
lichen Suchen nach einem Namen oder nach einem Wort besteht, oder in dem
Zwange, ein bestimmtes Wort oder gewisse unanständige Worte auszustossen
und zu wiederholen, oder in einer verrückten Furcht vor dem Gebrauch be¬
stimmter Wörter, denen eine Art von bösem Zauber, eine unheilvolle Bedeutung
beigelegt wird. — Weniger Qual als die schlimmen Wörter bereiten den Kranken
die Schutzwörter, doch führen auch sie oft genug zu Unruhe und Angst, da
die Kranken genöthigt sind, solche Worte sehr oft zu wiederholen oder auch sie
mit allerlei Symbolen und Bewegungen zu begleiten. Meist besteht dabei noch
Berührungsfurcht,Zweifelsucht und andere Tic’s, auch die Idee, Worte und Geräusche
zu verschlucken, im Magen zu haben, sie wieder auswerfen zu müssen u. s. w.
Aus „kleinen Sonde; barkeiten“ können sich bei Disponirten diese Zwangs¬
ideen schliesslich in’« Ungeheuerliche fortentwickeln, eine Qual für die Kranken,
welche sich der Sache bewusst sind, und für die Umgebung. — Die Kranken
müssen heraus aus der Familie und in eine andere Umgebung, in eine Heilanstalt.
Ein weiterer Aufsatz handelt von der konträrenSexualempfiudung
und anderen geschlechtlichen Abnormitäten. Sie sind alle nicht eine Krankheit
für sich, sondern wachsen auf dem Boden eines allgemeinen krankhaften Zu¬
standes, sind ein Symptom im Bilde der vererbten Entartung. Es sind zwingende
Triebe, die Kranken kämpfen gegen den Zwang, empfinden Angst, unterliegen
und empfinden dann Erleichterung. Von gleicher Art sind die krankhaften Antriebe
zu verschiedenen bestimmten Verbrechen. Auch hier gilt es, das Krankhafte der
ganzen Persönlichkeit nachzuweisen, welche diesen verbrecherischen Antrieben unter¬
liegt. Kauflust und Spielsucht kommen auch in dieser krankhaften Weise vor.
Das intermittirende Irresein, von welchem der VI. Aufsatz
handelt, ist auch eine Form der Degeneratiouspsychose und besteht in wieder¬
holten, sich meist rasch entwickelnden Anfällen von Melancholie oder Manie
(periodische, cvklische Formen). Zwischen den Anfällen ist der Geisteszustand
Anfangs noch äusscrlieh normal, im späteren Verlauf treten freilich auch hier
allmählich krankhafte Veränderungen zu Tage.
Für das Zusammenbestehen mehrerer verschiedener Zustandsformen geistiger
Störung bei demselben verschiedentlich belasteten Individuum werden daun noch
einige interessante Beispiele angeführt und analysirt; andere stellen mehr Misch¬
formen dar. Auch Halluzinationen, die rechts und links verschieden sind,
kommen bei gewissen Kranken vor. Siemens-Lauenburg.
634
Tagesnachrichten.
Tagesnachrichten.
In (len kürzlich im ungarischen Abgeordnetenhause stattgehabten Ver¬
handlungen über die Organisation der staatlichen Gesundheitspflege in
Ungarn wurde von dem Minister des Innern, Hicronymi das in der Gesetz¬
vorlage vorgesehene Verbot der Ausübung ärztlicher Privatpraxis
seitens der Bezirksärzte in folgender Weise begründet:
„Wir begegnen immer dem Einwurfe, dass die Verfügung, wonach den
Bezirksärzten die private Praxis untersagt wird, nicht richtig sei, weil die Aerzte
dann in ihrem Fache nicht fortschreiteu und ihrem Eide untreu sein werden,
welcher sie verpflichtet, den Kranken auf ihren Wunsch Hülfe zu bieten. Meines
Erachtens muss der Physikus ein Sanitätsbeamter sein. Die Physici haben dieser
ihrer Aufgabe bis in die jüngste Vergangenheit sehr unvollkommen entsprochen.
Es giebt in der Hauptstadt sehr zahlreiche, selbst den bescheidensten sanitären
Ansprüchen nicht genügende Wohnungen und Gegenden. Diese sanitären Schäden
sind bisher niemals systematisch sanirt und in Evidenz gehalten worden, weil
kein Organ dazu da war. Dieses Organ soll der Physikus sein, der in seinem
Bezirke genug zu thun hat Wenn er nichts anders thut, als dass er sieh mit
der Abstellung dir sanitären Schäden beschäftigt, wird ihm für die Priv&t-
praxis keine Zeit übrig bleiben. Wenn es richtig wäre, dass zu den Aufgaben
des Physikus die Heilpraxis uothwendig sei, dann könnte man mit demselben
Beeilt sagen, dass jedem, der ein Amt bekleidet, zu welchem eine juridische
Bildung notlnwndig ist, die Advokaturpraxis gestattet werden muss, weil er
sonst die juridische Fachbil iuug einbüsst. Dasselbe könnte man auch von den
Ingenieuren sagen. Die Hauptschwierigkeit ist die, dass der Physikus, der auch
eine private Praxis betreibt, in der Verseilung seiner behördlichen Aufgaben
oft in Kollision gerathen kann mit seinen privaten Interessen. Auch die Ein¬
wendung ist nicht stichhaltig, dass so dio Physici geuöthigt sein werden, jenen
Eid zu brechen, welchen sie bei Erlangung ihres Diploms abiegen. Die Be¬
stimmung, dass sie keine private Praxis ausüben dürfen, bedeutet doch nicht,
dass, wenn auf der Strasse ein Unglück sich ereignet, der betreffende Arzt nicht
soll die erste Hülfe bieten dürfen. Der Gesetzentwurf kann nur so aufgefasst
werden, dass diese Physici zura Zwecke des Broterwerbes systematisch keine
private Praxis ausüben dürfen. Wenn wir unseren administrativen Uebeln ab¬
helfen wollen, müssen wir nicht bloss in der Hauptstadt, sondern im ganzen
Lande den behördlichen Aerzten die zum Broterwerb betriebene Privatpraxis
untersagen. So viele Oberphysici im Laude ihren diesfälligen Pflichten ent¬
sprechen — ich könnte sie einzeln benennen — kein einziger unter ihnen
übt die private Praxis aus. Diejenigen hingegen, welche mit einer privaten
Praxis sich beschäftigen — ich könnte sie ebenfalls einzeln benennen — ent¬
sprechen nicht ihren Pflichten als Oberphysici. Diese zwei Aufgaben sind un¬
vereinbar. Wir müssen Sanitäts-Verwaltungsbeamte erziehen und diese fallen
unter eine andere Beurtkeilung als jene Aerzte, welche die private Heilpraxis
als ihre Lebensaufgabe anseheu. Ich bitte demnach das geehrte Haus, jene
Verfügung des Gesetzentwurfes, wonach die private Praxis mit der Stelle eines
Physikus unvereinbar ist, aufrecht zu erhalten. Dass neben diesem Physikus
im Bezirke auch ein solcher Arzt nothwendig ist, der sich mit der Armen-Heil-
praxis beschäftigt, aber mit sanitätsbehördlichen Aufgaben nicht betraut sein
wird, ergiebt sieh aus der Natur der Sache. Dies ist der Armenarzt, und der
Verwaltungs-Ausschuss hat da nichts anderes geändert, als dass er den Ausdruck
„Armenarzt“ in „behandelnden Arzt u umgewandelt hat.“
Die Verhandlung führte zur unveränderten Annahme der Regierungs¬
vorlage und die geplante Reorganisation dürfte am 1. Januar 1894 ins Leben
treten. — Wann wird Preussen diesem gegebenen Beispiele nachfolgen?
Das Landes -Medizinalkollegium des Königreichs Sachsen hat am
2 7. November d. J. seiue diesjährige Plenarversammlung unter Vorsitz seines
Präsidenten Dr. Günther abgehalten. Den Hauptgegenstand der Berathung
bildete ein Entwurf einer Disziplinarordnung und einer ärztlichen
Standesordnung für die Aerzte des Königreichs Sachsen. Ausser¬
dem gelangte ein Antrag des Bezirksarztes Dr. H a n k e 1 - Glauchau, betreffend
die staatliche Unterstützung der für arme Lungenkranke zu errich¬
tenden Heilanstalten, zur Verhandlung und Annahme.
Tagesnachrichten.
636
Die diesjährige Plenarsitzung des verstärkten Obermedizinal - Aus¬
schusses für das Königreich Bayern wird am 28. d. M. stattfinden. Auf
der Tagesordnung stehen die Vorlagen der Aerztekaminerberatlmngen über die
Verhütung der Weiterverbreitung der Tuberkulose und über die
Bildung ärztlicher Kollegien zur Erstattung von Outachten
in streitigen Unfallversicherungssachen.
Der bisher mit dem Kreisphysikat Teltow vereinigt gewesene Stadt¬
kreis Charlottenburg soll nunmehr von jenem abgetrennt und als beson¬
deres Kreisphysikat eingerichtet werden. Das betreffende Physikat war bisher,
wenigstens in Bezug auf die Einwohnerzahl, (circa 300000) das grösste im
ganzen preussischen Staate.
Für die 66. Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher
und Aerzte, die im nächsten Jahre in Wien abgehalten werden wird, ist von
den Geschäftsführern (Prof. Dr. Exner und Hofrath Prof. Dr. v. Kerner)
die letzte Woche im September (23.-29.) in Aussicht genommen. Die Bildung
der Vorstände für die einzelnen Sektionen hat bereits begonnen; mit der
Versammlung soll auch eine Fachausstellung verbunden werden.
Zu den bereits gebildeten 20 Sektionen des VIII. Kongresses für
Hygiene und Demographie (s. Nr. 11 der Zeitschrift, S. 280), der in der
ersten Hälfte des September 1894 in Budapest tagen wird, ist noch eine neue
Sektion für Tropenhygiene hinzugetreten, die alles umfassen soll, was sich sowohl
auf die Hygiene, wie auf die Aetiologie der Krankheiten der Tropenländer be¬
zieht: Dysenterie, Malaria, gelbes Fieber, Beriberi u. s. w.
Der XXII. Deutsche Aerztetag wird am 29. und 30. Juni 1894
in Eisenach stattfinden. Als Gegenstände der Tagesordnung sind in Aussicht
genommen: Die Beziehungen der Aerzte zu den Berufsgenossenschaften (Referent:
Dr. B u s c h - Krefeld) und „das Verhältnis der Aerzte zu den Lebensver¬
sicherungsgesellschaften (Referent: Prof. Dr. K r a b 1 e r - Greifswald.)
Vom Generalsekretär des VI. internationalen medizinischen Kon¬
gresses in Rom sind nunmehr die in Folge der Verschiebung des Kongresses
erfolgten Abänderungen des Statuts bekannt gegeben. Dauach wird der Kon¬
gress am 29. März 1894 eröffnet und am 5. April geschlossen werden. Die für
den Kongress bestimmten Vorträge sind vor dem 31. Januar 1894 anzumelden;
die Anmeldung muss von einem kurzgefassten Auszuge und den Schlussfolge¬
rungen begleitet sein; letztere werden gedruckt und an die Kongressmitglieder
vertheilt. In das Programm werden auch die früher angemeldeten und in¬
zwischen ganz oder theilweise in wissenschaftlichen Blättern bereits veröffent¬
lichten Vorträge aufgenommen und die nach dem 31 August d. J. angemeldcten
Vorträge mit einem Stern (*) versehen werden.
Die Eisenbahnverwaltungen haben die vor der Verlegung des Kongresses
eingeräumten Ermässigungen auch für die Zeit vom 1. März bis 30. April. 1894
aufrecht erhalten. Um möglichst baldige, an das General-Sekretariat in
Genua zu richtende Anmeldung der Theilnahme wird gebeten.
In Berlin hat sich vor Kurzem ein Verein für gesundheitsgemiisse
Erziehung der Jngend gebildet, dessen Vorstand (Direktor Dr. Schwalbe, Dr.
Jacusiel, Lehrer Siegert, 1., 2. u. 3. Vorsitzender, Lehrer Janke und Dr.
Sommerfeld, 1. u. 2. Schriftführer, Taubstummenlehrer A. Gutzmann,
Schatzmeister) durch folgenden Aufruf zum Beitritt auffordert:
„Die Verhältnisse der Grossstadt sind der Erziehung eines geistig frischen
und körperlich tüchtigen Geschlechtes wenig günstig. Nur die gemeinsame Arbeit
Aller, denen das Gedeihen der Jugend am Herzen liegt, kann hier Wandel
schaffen. Eltern, Aerzte und Lehrer müssen Hand in Hand gehen, um eine
bessere körperliche und geistige Ausbildung unserer Kinder in Haus und Schule
zu erreichen. Zu diesem Zwecke hat sich der „Verein für gesundlieits-
gemässe Erziehung der Jugend gebildet, der alle Stände und Berufs¬
kreise und für alle dasselbe Ziel verfolgenden Einzelbestrebungen der Mittelpunkt
werden soll. Der Verein will seine Aufgabe erreichen durch geeignete Verbrei-
636
Tagesnachrichten.
tung von Kenntnissen über die gesundheitsgemässe Erziehung der Kinder, zu
welchem Zwecke grössere, für jedermann berechnete Versammlungen mit volks-
thüinlichen Vorträgen veranstaltet, öffentliche Lehr- und Uebungskur 3 e ein¬
gerichtet und in der Presse, in Flugblättern, in Broschüren bezügliche Fragen
erörtert werden sollen, durch Mitwirkung zur Verbesserung der hygienischen
Zustände in der Familie und in allen Bildungs- und Erziehungsanstalten; durch
die Förderung der Hygiene des Kindes und der Schule als Wissenschaft.
Da zur Erfüllung dieser Aufgaben die Mitarbeit Aller erforderlich ist,
so richten wir an unsere Mitbürger, insbesondere auch an die Frauen als die
eigentlichen Trägerinnen der häusslichen Erziehung, die dringende Bitte, dem
Vereine beizutreten und die Mitgliedschaft einem der obenbezeichneten Vor¬
standsmitglieder anzuzeigen.
Die Mitgliedschaft des Vereins wird schon durch einen Jahresbeitrag von
einer Mark erworben. Wohlhabende aber bitten wir, die Ziele des Vereins
durch einen höheren Beitrag oder durch besondere Zuwendungen zu fördern. 41
In der ersten, am 5. d. M. stattgehabten Sitzung sprach Professor Dr.
Angerstein über die körperlichen Mängel der Jugend.
Cholera. In der Zeit vom 22. Novbr. bis 7. Dezbr. sind im Deutschen
Reiche nur noch 19 Cholerafälle angemeldet, darunter 6 nur mit Cholera¬
bakterien-Nachweis, ohne irgend welche Krankheitserscheinnngen. Von jenen
Erkrankungen kamen 12 mit 3 Todesfällen im 0 d e r gebiet (in Gartza.0., Goll-
now und in je einem Orte der Kreise Naugard, Ueckermtinde, Angermünde und
Gleiwitz Ob.-Schl.) und 7 mit 2 Todesfällen im Elbegebiet vor (auf 2 Flussfahr-
zcugen im Kreise Niederbarnim und in einem Landorte des Kreises Neuruppin,
sowie ein vereinzelter Fall in Hamburg). In Stettin ist die Seuche vollständig
erloschen, dasselbe gilt vom Weichsel- und Memelgebiete; die gesundheits¬
polizeiliche Ueberwachung dieser Wasserläufe ist in Folge dessen aufgehoben.
In Oesterreich hat die Cholera während der letzten Wochen sowohl
in Galizien als in Ungarn eine erhebliche Abnahme erfahren. In Galizien
betrug die Zahl der Cholera - Erkrankungen in den Wochen vom 21.—28. Nov.
und vom 29. Novbr. bis 6. Dezbr. nur noch 23 bezw. 18 mit 15 bezw. 8 Todes¬
fällen, diejenigen der verseuchten Gemeinden 8 bezw. 6; in der Buckowina
sind Cholerafälle nicht mehr vorgekommen. In Ungarn ist die Zahl der Er¬
krankungen und Todesfälle an Cholera in der Woche vom 8.—14. Nov. auf 52
(37), in der Woche vom 15.—21. Nov. auf 37 (21) gesunken, gegenüber 237 (44)
und 64 (31) in den Vorwochen. Von diesen Erkrankungen wurden 14 (12) in
Budapest, 4 (2) in Teinesvar beobachtet. Auch in Bosnien und in der Her¬
zegowina ist die Cholera im Rückgänge begriffen; die Zahl der Erkrankungen
stellte sich in den Wochen vom 1.—7. u. 8.—15. Nov. auf 50 bezw. 61 mit 30 bezw.
27 Todesfällen; also um die Hälfte niedriger als in der vorhergehenden Woche.
In Rumänien scheint die Cholera im Erlöschen begriffen zu sein; in und
um Konstantinopel dagegen an Ausbreitung zugenommen zu haben (vom 19. Nov.
bis 7. Dezbr. sind 718 Erkrankungen und 294 Todesfälle gemeldet); auch in
Salonichi soll die Seuche aufgetreten sein, bisher allerdings nur vereinzelt.
In Spanien ist die Cholera vollständig erloschen, jedoch scheint die
Krankheit von hier aus nach den kanarischen Inseln, besonders nach
Teneriffa verschleppt zu sein, wo vom 14. Oktober bis 25. November 827
Cholera-Erkrankungen mit 192 Todesfällen vorgekommen sind, davon 706 bezw.
167 in Santa Cruz.
Aus Frankreich uml den Niederlanden sind nur noch vereinzelte
Choleiaiälle gemeldet; in Belgien ist seit dem 29. November überhaupt kein
Fall mehr zur Anzeige gelangt.
Ein bedeutender Rückgang der Seuche hat sich auch in Russland wäh¬
rend der Bericlitswuehen bemerkbar gemacht und zwar nicht nur in den west¬
lichen, sondern auch in den noch infizirten südöstlichen Gouvernements. Die Zahl
der Erkrankungen und Todesfälle betrug in der Stadt Petersburg vom 24. Nov.
bis 7. Dezbr. 28 (18), vom 13. Nov. bis 1. Dezbr. in den Gouvernements Warschau
34 (15), Flock 35 (18), Siedlce 24 (12), Radom 57 (21), Lublin 10 (7), Lomsha
13 (9), Suwalski 47 (27), Kowno 53 (29) Minsk 18 (11), St. Petersburg 16 (4),
Wolhynien 178 (65), Kiew 276 (156), Tschernigow 141 (47). In den Gouverne-
ments Kalisch und Riga ist die Krankheit vollständig erloschen. _
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath in Minden i. W*
J. C. 0. Bruns, Buchdruckerei, Minden.