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Full text of "Zeitschrift für Medizinal-beamte 6.1893"

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Library of Medicine - Boston 


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ZEITSCHRIFT 


für 

MEDIZINAL-BEAMTE. 

Herausgegeben 

von 

Dr. H. Mittenzweig Dr. Otto Rapmund 

San.-Rath. n. gerichtl. Stadtphys. in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in Minden. 

Dr. Willi. Sander 

Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


VI. Jahrgang. 1893. 



Berlin NW. 

FISCHER’S MEDIZ. BUCHHANDLUNG. 

H. Kornfeld. 



HARVARD MEDICAL SCHCOl 
LlüRARY CF LE3AL MEQiCINE 



Inhalt 


I. Original-Mittheilungen, 
a. Gerichtliche Medizin. 

öelte. 

Zar Regresspflichtigkeit der medizinischen Gutachten. Dr. Meyhöfer . 165 

Leichenbefund bei Erfrierungstod. Dr. Eoferstein .201 

Zur Blutuntersuchuug nach Katayama. Dr. Mittenzweig .209 

Ueber Querulantenwahnsinn. Dr. Mittenzweig . 225, 281, 313 

Ueber einen seltenen Fall von Sturzgeburt. Dr. Gabriel Corin. . . 249 

Zur Lehre von der Diffusion der Gifte in menschlichen Leichen. Dr. 

Haberda .393 

Seltene Kleinheit der Milz als angeborene Anomalie. Dr. Kühn . . . . 401 

Ueber Aggravation bei Augenverletzungen. Dr. Ohlemann . . . . 493 

Zur Aggravation von Amblyopie. Dr. Ohlemann .584 

Znr Frage der Aggravation bei Augenverletzuugen. Dr. Wilhelmi . 589 

Einige Fälle von wahrscheinlicher und von angeblicher Vergiftung durch 

Wurst und Fleisch. Dr. Haberda .601 

Traumatische Verblutung aus den Gefässen der rechten Nebenniere. Dr. 

Mittenzweig.616 


b. Hygiene and öffentliches Sanitätswesen. 

Lage der Sachsengänger in den westlichen Provinzen. Dr. Schilling 1 

Zur Frage der Identität von Masern und Rötheln. Dr. Flatten. . . 8 

Ein einfacher Desinfektionsapparat. Dr. Glogowski . 9 

Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen und der 

Schulkinder des Kreises Isenhagen. Dr. Max Langerhans 30, 60, 81, 

109, 129, 157 

Statistische Uebersicht über die Ertbeilung des Titels „Sanitätsrath“ in 

Preussen. 39 

Kurze Bemerkungen über die Choleraepidemie in der Irrenanstalt Niet¬ 
leben. Dr. Fielitz . 58 

Die im Kreise Gross-Wartenberg getroffenen Massregeln gegen die Cho¬ 
lera. Dr. Richter .*.. 71 

Desinfektion auf dem Lande. Dr. Ascher. 72 














IV 


Inhalt. 


Seite. 

Entscheidungen zum Taxgesetz. 

a) Der Sachverständige ist verpflichtet, bei der ihm gerichtsseitig 

aufgetragenen Untersuchung einer zu entmü digenden, ausser¬ 
halb seines Wohnorts wohnenden Person sich vorher über deren 
Anwesenheit zu erkundigen. Unterlässt er dies, und wird da¬ 
durch seine Reise eine vergebliche, so hat er diese Resultat¬ 
losigkeit verschuldet und in Folge dessen keinen Anspruch auf 
Gebühren bezw. Reisekosten und Tagegelder. 91 

b) Durch Abhalten eines gerichtlichen Termins an verschiedenen 

Oertiichkeiten wird dieser nicht unterbrochen. Es steht dem 
Sachverständigen daher keine Gebühr für die äussere Besich¬ 
tigung zu, wenn diese an einer anderen Oertlichheit vorgenom¬ 
men wird, wie die unmittelbar darauf folgende Obduktion . . 91 

c) Amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte. 94 

Apfelsaures Zink in amerikanischen Apfelschnitten. Dr. Schlegtendal 112 

Die Enttäuschung der Medizinalbeamten.114 

Erwiderung zu dem Artikel: Zur Desinfektion auf dem Lande. Dr. 

Matthes .137 

Die diesjährigen Verhandlungen des preussischen Abgeordnetenhauses 


Masern und Rötheln. Dr. R. Rother .168 

Zur Frage der Entmündigung der Geisteskranken und deren Unterbrin¬ 
gung in eine Irrenanstalt.169 

Ein Vorschlag zur Medizinalreform.176 

Aus dem Reichstage: Die erste Lesung des Gesetzentwurfes betr. die 

Bekämpfung ansteckender Krankheiten Dr. Rapmund . . . . 210 

Epidemiologischer Kursus zur sanitätspolizeilichen Bekämpfung der Cholera. 

Dr. Schlüter .251 

Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung der Medizinalbeamten 

bei Abgabe mündlicher Gutachten im Termin.262 

Zur Medizinal reform.299 

Die Verhandlungen des preussischen Abgeordnetenhauses über die Inter¬ 
pellation des Grafen Douglas, betr. Massregeln gegen die Cholera. 

Dr. Rapmund .841 

Die Stellung der preussischen Kreisphysiker. Dr. Rusak .369 

Die Cholerakurse und die angebliche Unzulänglichkeit der Kreisphysiker 

(Eingesandt) .372 

Zur Stellungsverbesserung der Kreisphysiker. Dr. R ei mann . . . . 402 
Ueber Alter und Ursprung der Menschenblattern. Dr. Hagemann . . 417 

Apotheken-Revisionen in alter Zeit.430 

Welche hygienischen Massregeln sind bei Choleragefahr im Eisenbahn¬ 
verkehr zu treffen? Dr. Matthes .441 

Der Entwurf von Vorschriften, betr. den Verkehr mit Giften und die 

Revisionen der Gift- und Farbenhaudlungen. Dr. Jacobson . . 465 

Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf, betr. den Verkehr mit Giften 

Dr. Rapmnnd .477 

Was hindert das Zustandekommen der Medizinalreform? Dr. Nauck . 501 

Erwiderung auf die Bemerkungen des Sanitätsraths Kreisphysikus Dr. 

Ritter zur Mediziualreform.508 

Die Choleraepidemie in Stettin und im Kreise Randow im Herbst 1893. 

Dr. B. Schulze und Dr. M. Frey er .521 

Hebammen und Pfuscherinnen. Dr. Salomon .545 

Zur Medizinalreform.563 

Eine Entscheidung zum Taxgesetz in Bezug auf die Berechnung der 

Tagegelder.565 

Epidemiologische Erfahrungen über Diphtherie. Dr. Richter .... 577 

Zur Stellungnahme der Kreisphysiker. Dr. Reimann .591 

Hygienische Seminarkurse. Dr. Dyrenfurth.616 


























Inhalt. 


y 


8e!te 

H. Berichte aus Versammlungen und Vereinen. 

Bericht Uber die 26. Versammlung der Medizinalbeamten des Reg. -Bez. 
Arnsberg (Berichterstatter: Reg.- und Med.-Rath Tenholt): 

a) Die Phosphorvergiftung vom gerichtsärztlichen Standpunkte. 

Dr. Schulte . 41 

b) Massregeln zur Abwehr der Cholera. Dr. Tenholt. . . 41 

Bericht über die Versammlung der Physiker des Herzogthums B r a u n - 

schweig (Berichterstatter: Physikus Dr. de Bra). 

a) Berathung der Statuten. 75 

b) Einrichtung von Fortbildungskursen. 75 

c) Gerichtsärztliche Gebühren. Dr. de Bra. 76 

Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. zu Berlin abge¬ 
haltene X. Hauptversammlung des Preussischen Medizinal- 
Beamtenvereins. (Berichterstatter: Dr. Rapmund. Ver¬ 
gleiche Anhang.181 

Bericht über die 4. Versammlung des Vereins der Medizinalbeamten des 
Reg.-Bez. Stettin (Berichterstatter: Dr. Frey er). 

a) Besprechung amtlicher Verfügungen.237 

b) Erfahrungen und Anschauungen über asiatische Cholera. 

Dr. Wilhelmi .237 

Bericht über die am 25. und 26. Mai d. J. in Frankfurt a. M. stattgehabte 
XV. Jahressitzung des Vereins der Deutschen Irrenärzte. 
(Berichterstatter: Med.-Rath Dr. Siemens). 

a) Psychiatrie und Seelsorge. Dr. Siemens und Dr. Zinn 302 

b) Die Bestrebungen zur Abänderung des Verfahrens bei der 

Anstaltsaufnahme und bei der Entmündigung der Geistes¬ 
kranken. Dr. Zinn .328 

c) Die zweckmässigste Art der Gehirnsektion. Dr. Siemerling 

und Dr. W e i g e r t.330 

d. Genese der konträren Sexualempfindung. Dr. Sioli . . . 330 

Bericht über die vom 25.—28. Mai d. J. in Würzburg stattgehabte 
XVID. Versammlung des Deutschen Vereins für öffent¬ 
liche Gesundheitspflege. 

I. Die unterschiedliche Behandlung der Bauordnungen für das 
Innere, die Aussenbezirke und die Umgebung von Städten. 
Oberbürgermeister Adiek es und Prof. Dr. Baumeister 331 
IL Reformen auf dem Gebiete der Brodbereitung. Professor Dr. 

Lehmann .335 

III. Ueber die Grundsätze richtiger Ernährnng und die Mittel, 
ihnen bei der ärmeren Bevölkerung Geltung zu verschaffen. 

Dr. Pfeiffer und Stadtrath Kalle .356 

IV. Vorbeugungsmassregeln gegen Wasservergeudung. Direktor 

Kümmel .374 

V. Die Verwendung des wegen seines Aussehens oder in gesund¬ 
heitlicher Hinsicht zu beanstandenden Fleisches, einschliesslich 
der Kadaver kranker getödteter oder gefallener Thiere. 

Dr. Lydtin .375 

Bericht über den Deutschen Aerztetag in Breslau. 

1. Aerztlicher Dienst in Krankenhäusern. Dr. Cnyrira . . . 358 

2. Entwurf eines Gesetzes zur Abwehr gemeingefährlicher Krank¬ 
heiten. Dr. Busch . •. 359 

Bericht über die 46. Konferenz der Medizinalbeamten des 
Regierungsbezirks Düsseldorf am 29. April 1893. (Be¬ 
richterstatter: Dr. Hofacker-Düsseldorf). 

a) Regeln für die Ernährung der Kinder.360 

b) Thesen über Vorschläge zur Abfassung einer Polizeiverord¬ 

nung, betreffend die Desinfektion der Wohnungen bei an- 
steckendenKraukheiten. Dr. Bauer uud Dr. A1 b e s . . 360 

c) Begräbnissordnung. Dr. Wieseines .361 

Bericht über die III. Versammlung der Medizinal beamten des 



















VI 


Inhalt. 


Belte. 

Regierungsbezirks Stade am 16. Angnst d. J. (Bericht¬ 
erstatter : Dr. Westrum -Geestemünde). 

1. Stellung der preussischen Kreisphysiker. Dr. Rusak . . 451 

2. Desinfektoren und Desinfektionen auf dem platten Lande. 

Dr. Röhrs .453 

Bericht über die vom 11—16. September d. J. in Nürnberg stattgehabte 
65. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte 
(Berichterstatter: Dr. Leppmann-Berlin). 

a) Ueber die Alkoholfrage vom ärztlichen Standpunkte aus. 

Dr. Strümpell .483 

b) Schädelbrüche und Verletzungen. Dr. Reubold . . . . 509 

c) Bemerkungen zur Geschichte der gerichtlichen Sektion. 

Derselbe .509 

d) Ueber die Erscheinungen an nach Suspension Wiederbelebter 

mit deren Bedeutung für den Gerichtsarzt. Dr. Seydel. . 510 

e) Ueber tödtliche Kopftraumen ohne makroskopische Verände¬ 
rungen. Derselbe .510 

f) Die kriminalpsychologische und kriminalpraktische Bedeutung 

des Tätowirens der Verbrecher. Dr. Le ppmann-Berlin 511 

Bericht über die 5. Versammlung des Vereins der Medizinalbeamten des 
Regierungsbezirks S te 11 i n am 23. Oktober d. J. (Berichterstatter: 

Dr. F r e y e r - Stettin). 

a) Die Cholera in ihren Beziehungen zum Wasser, mit besonderer 

Berücksichtigung der Cholera zur Zeit in Stettin. Dr. 
Pfeifer-Berlin .528 

b) Die neueren Methoden der bakteriologischen Choleradiagnose 

mit gleichzeitiger Demonstration bakteriologischer Cholera¬ 
präparate. Dr. Ko Ile-Berlin.528 

Bericht über die 47. Konferenz der Medizinalbeamten des Regierungs¬ 
bezirks Düsseldorf am 4. November 1893 (Berichterstatter: 

Dr. Hofacker-Düsseldorf). 

a) Besprechung amtlicher Verfügungen.592 

b) Begräbnissordnung. Dr. Sehr uff-Neuss .592 

c) Das Brausebad. Dr. Wolff-Elberfeld.592 

d) Regeln für die Ernährung und Pflege der Kinder im ersten 

Lebensjahre. Dr. Hartcop-Barmen .592 

Bericht über die am 10. Oktober d. J. in Offenburg stattgehabte Ver¬ 
sammlung des Badischen staatsärztlichen Vereins. 

a) Entwurf einer neuen Dienstanweisung für Hebammen. Dr. 

Battlehner .620 

b) Ueber das gerichtsärztliche Gutachten. Derselbe . . . 621 

c) Ueber forense Begutachtung von Bewusstlosigkeitszuständen. 

Dr. Reich .621 

Bericht über die Herbstversammlung des Vereins derAerzteHohen- 
zollerns am 28. Oktober d. J. (Berichterstatter: Reg.-und Med.- 
Rath Dr. Schmidt). 

a) Ueber Medizinal-Gesetzgebung in Hobcnzollern. Dr. Schmidt 621 

b) Erstattung der Impftermins-Uebersichten. Dr. Stauss . . 623 

c) Ueber eine unter den Mannschaften der Garnison der Burg 
Hohenzollern beobachtete isolirte Epidemie von Influenza. 

Dr. Woerner-Hechingen.623 

Anhang. 

Offizieller Bericht über die X. Hauptversammlung des Preussischen Medizinal¬ 
beamtenvereins. 

1. Eröffnung der Versammlung. 1 

2. Geschäfts- und Kassenbericht; Wahl der Kassenrevisoren . . 5 

3. Der Entwurf eines Gesetzes betreffend die Bekämpfung gemein¬ 
gefährlicher Krankheiten. Dr. Ra pm und-Minden. 7 

4. Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten. Dr. Fielitz- 

Hallea. S. .....'. T>4 



















VII 


8 eite. 


5. Zar Lehre von der Arsen Vergiftung. Dr. Strass mann'Berlin 72 

6. Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. Dr. L epp mann - 

Moabit . 90 

7. Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens. Dr. Mey- 

h ö f e r - Görlitz. 96 

8. Bericht der Kassenrevisoren und Vorstandswahl.111 

9. Demonstration eines Cholera - Kastens. Dr. Petri-Berlin . . 113 

10. Ueber Unfall und Bruchschaden. Dr. Grisar-Trier .... 116 

11. Diskussionsgegenstände: 

a) Amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte. Dr. Kollm- 

Berlin.135 

b) Die Gebühren für die Untersuchungen von Personen in 

der Wohnung des Medizinalbeamten oder für Aktenstudium 
behufs Abgabe eines mündlichen Gutachtens im Termin 
Derselbe. 140 

12. Anlage zu dem Vortrage, betreffend den Entwurf des Reichs¬ 
seuchengesetzes .147 

13. Mitgliederverzeichniss.154 


III. Kleinere Mittheilungen und Referate aus 
Zeitschriften u. s. w.*) 

A. Gerichtliche Medizin. 


Le d61ire de pers6cntion A Evolution systematique. Professor Dr. G. Ballet 

(Woltemas). 11 

Un cas d’infanticide par l’ingestion d’un potage contenant des fragments 

d’öponge. Dr. Cazeneuve (Ders.). 43 

Ueber den Nachweis des Kohlenoxydgases im Blute. Prof. Dr. L a n d o i s 

(Israel) . 43 

Beiträge zur Kasuistik der traumatischen Trommelfellrupturen. Dr. 

V e i t h (Ders.). 44 

L’obsession criminelle morbide. Dr. Magnan. L’obsession de meurtre. 

Dr. Ladame (Kühn). 76 

Ueber schwere Körperverletzung. Dr. Moritz (Israel). 95 

Der Einfluss von Bewegungen einer Kindesleiche auf deren Respirations¬ 
und Digestionstractus. Dr. Merkel (Rump).116 

In das Berliner Leichenschauhaus eingelieferte Leichen pro Oktober, No¬ 
vember, Dezember 1892 und Januar, Februar, März 1893 ... 217 

Die Bedeutung der Thymushypertrophie bei forensischen Sektionen. Dr. 

C. Seydel (Israel).217 

Bedeutung der Zeichen für wiederholte Geburt. Dr. Schilling (Ders.) 217 
Trauma und Infektion in ihrer beiderseitigen aetiologischen Bedentung 

für die Meningitis in forensischer Beziehung. Dr. Arnstein (Ders.) 218 
Die Kriminalität Geisteskranker. W. S. Iwanowa (Kalischer) . . . 404 

Kopfverletzung, anscheinende Heilung, Meningitis und Tod nach 3 Wochen 

Dr. Müller (Rump).405 

La teratofobia. Contributo allo studio della paranoia rudimentale. II mani- 

comio moderno 1891. Venanzio (Kalischer).431 

Cocainismus. J. B. Mattisen (Ders.).431 

Atypische Lage der Einschussöffnung beim Selbstmord durch Schuss in 

den Kopf. Dr. Albin Haberda (Israel).454 

Selbsterdrosselung eines Alkoholikers. Derselbe (Israel).454 

Ein Fall von Salpetersäurevergiftung. Dr. Carl Ipsen (Dütschke) . . 455 

Ueber die Ursachen des Flüssigbleibens des Blutes bei der Erstickung und 

anderen Todesarten. Dr. Gabriel Co rin (Dütschke).484 


*) Die Namen der Referenten sind eingeklammert beigefügt. 
























vm 


Inhalt. 


8citc. 

Die Verletzungen des Mastdarms vom gerichtsärztlichen Standpunkt. Dr. 

Adolf Mantzel (Israel).485 

Die Beurtheilung der perversen Sexual vergehen in foro. Dr. C. Seydel 

(D11t8chke).512 

Der Geisteszustand der Gebärenden. Dr. Dörfler (Rump).513 

Blutspuren von zerdrückten Wanzen herrührend. Dr. Schöfer (Flatten) 513 

Leben ohne Athraen. Dr. Ignaz Mair (Rump).529 

Ueber die Wunden des Herzens. Dr. A. Elten (Dütschke).530 

Ueber Arsenikvergiftung in gerichtsärztlicher Beziehung. Stabsarzt Dr. 

Sc hum bürg (Dütschke).531 

Recherches sur le diagnostic du sang en mMecine legale. Dr. Cor in 

(Woltemas).532 

Welchen Werth hat die mikroskopische Gonokokkenuntersuchung. Prof. 

Dr. Neisser (Dütschke).532 

Ueber Herzschlag mit tödtlichem Ausgang. Prof. Dr. Dittrich 

(Mittenzweig).593 

Mord durch Erdrosselung, kombinirt mit Halsschnittwnnden. Dr. Haberda 

(Israel).594 

Ueber Kehlkopffrakturen. Dr. Max Scheier (Israel).624 

Wieviel Morphium darf ein Arzt einem Kranken als Einzeldosis verord¬ 
nen? Dr. Lewin (Mittenzweig).625 

Ueber Irrthum und Irresein. Prof. Dr. F. Jolly (Mittenzweig) . . . 626 


B. Hygiene und öffentliches Sanltltswesen. 

Die Choleraepidemie im Jahre 1892. (Rpd.) . 12 

Ueber den Einfluss des Lichtes auf Bakterien. Professor Dr. Büchner 

(Langerhans). 16 

Zur Kenntniss der Vertheilung der Wasserbakterien in grossen Wasser¬ 
becken. Dr. Justin Karlinski (Ders.) . . .. 16 

Ueber das Vorhandensein des Löf fl er'sehen Bacillus im Schlunde bei 
Individuen, welche eine diphtheritische Angina durchgemacht haben. 

Fr. Tobicsen (Ders). 16 

Die Nährgelatine als Ursache negativen Befundes bei Untersuchung der 

Fäces auf Cholera-Bazillen. Dr. Max D ahmen (Ders.) .... 17 

Ein Bestek zur Untersuchung auf Cholera-Bakterien. Dr. S. Rembold 

(Ders.). 17 

Ueber Kochverfahren zum Zwecke der Erhaltung des Fleisches kranker 

Thiere als Nahrungsmittel. Dr. Hertwig (Meyhöfer) .... 18 

Untersuchungen über die Verwendbarkeit des Aluminiums zur Herstellung 
von Ess-, Trink- und Kochgeschirren. Reg.-Rath Dr. 0 h 1 m ü 11 e r 

uud Dr. Heise (Rpd.). 19 

Die Kost der Haushaltungsschule und der Menage der Friedrich Krupp’- 

sehen Gussstahlfabrik in Essen. Dr. W. Prausnitz (Langerhans) 20 
Die Entwickelung der sanitätspolizeilichen Massnahmen in Preussen 
gegen das Wochenbettfieber und ihre Wirksamkeit. Dr. N e s e - 

mann (Blockusewski). 21 

Untersuchungen über den Typhus-Bacillus und den Bacillus coli communis 

Dr. Wm. Dun bar (Langerhans). 45 

Untersuchung der Marktmilch in Giessen. Dr. pliil. Uhl (Ders.) ... 46 

Ueber die Giftigkeit des von Menschen inhalirten Schwefelwasserstoffs 
mit besonderer Rücksicht auf die Fabrikhygiene. A. K w i 1 e c k i 

(Israel). 46 

Eine Epidemie von hysterischen Krämpfen in einer Dorfschule. Prof. 

Dr. Hirt (Dütschke). 47 

Bewegung der Bevölkerung des Deutschen Reiches im Jahre 1891 ... 48 

Die Beziehungen der Fliegen zur Verbreitung der Cholera. Dr. J. 

Sawtschenko (Langerhans). 76 

Zur Aetiologie von Masern, Pocken, Scharlach,Syphilis. Dr. P. Döhle (Ders.) 77 


























Inhalt 


IX 


Seite. 

Die Infektionskrankheiten in Oesterreich während des Jahres 1891. (Rpd.) 77 

Bewegung der Bevölkerung in Frankreich im Jahre 1891. (Rpd.) . . 79 

Verbreitung der Tollwuth im Deutschen Reiche während des Jahres 

1891. (Rpd.). 97 

Uebertragungen von Thierseuchen auf Menschen im Deutschen Reiche 

während des Jahres 1891. (Rpd.). 98 

Ueber Anstellung von Bezirkshebammen. Dr. Kornfeld . 98 

Beitrag zur bakteriologischen Differential-Diagnose der Cholera. Dr. 

Bleisch (Langerhans).117 

Zur Kenntniss des Wacbsthums der Cholerabazillen auf Kartoffeln. Dr. 

Krannhals (Ders.).118 

Schütz gegen Seuchen. Dr. Vogel (Ders.).118 

Die Cholera in Russland im Jahre 1892. (Rpd.).119 

Die Verbreitung der Cholera in den im österreichischen Reichsrathe ver¬ 
tretenen Königreichen und Ländern im Jahre 1892. (Rpd.) . . . 121 

Die Aetiologie des infektiösen fieberhaften Ikterus (W eil’ sehe Krank- 

keit). Dr. H. Jäger (Langerhans).150 

Ueber die in Preussen 1892 getroffenen Massnahmen gegen die Cholera. (Rpd.) 151 
Ueber die Massnahmen gegenüber der Gefahr einer neuen Choleraepidemie 

in Hamburg. (Rpd.).152 

Die Ursache der Cholera in Budapest.200 

Ueber eine die Nachweisung von Choleravibrionen im Wasser erleichternde 

Untersuchungsmethode. Dr. Poniklo (Flatten).218 

Die Dauer der Verwesung in Gräbern. Dr. Brouardel und du 

Mesnil (Ders.).219 

Die Methoden der Fleischkonservirung. Dr. Plagge und Dr. Trapp 

(Schubert).219 

Ueber die gesundheitlichen Nachtheile des Bewohnens feuchter Wohnun¬ 
gen und deren Verhütung vom sanitätspolizeilichen Standpunkte. 

Dr. A s c h e r (Autoreferat).219 

Die Verhütung des Kindbettfiebers. Dr. Löhlein (Gleitsmann) . . . 238 

Einfluss der Steil- und Schrägschrift. Bericht der Kommission des ärzt¬ 
lichen Bezirksvereins in München. Dr. Brunner und Oberstabs¬ 
arzt Dr. Seggel (Rpd.).241 

Ergebnisse der Schutzpockenimpfung im Königreiche Bayern im Jahre 

1891. Dr. Ludwig Stumpf (Rpd.).242 

Die Ergebnisse der Impfung im Grossherzogthum Hessen im Jahre 1891. (Rpd.) 243 
Ergebnisse der amtlichen Pockentodesfallsstatistik im Deutschen Reiche 

im Jahre 1891. Dr. Raths (Rpd.).244 

Die Bewegung der Bevölkerung in Oesterreich während des Jahres 1891. (Rpd.) 245 
Die Seehospize und die skrophulösen Kinder. Dr. Candela (Woltemas) 246 
Bericht über den Gesundheitszustand der Provinz Neapel für 1891. 

Dr. Bessone (Ders.).247 

Ueber den augenblicklichen Stand der bakteriologischen Cholera-Diagnose. 

Dr. R. Koch (Rpd.).305 

Ueber einige Fehlerquellen bei Anstellung der Choleraroth - Reaktion und 

ihre Vermeidung. Dr. M. Bleisch (Rpd.).308 

Ueber das Verhalten der Cholerabazillen im Eise. Dr. Renck (Rpd.) . . 309 

Weitere Beiträge zur Biologie des Cholerabacillus. Einfluss der Kälte auf 

seine Lebensfähigkeit. Dr. Uf fei mann (Rpd.).309 

Untersuchungen über die Brauchbarkeit der Berkefeld-Filter aus ge¬ 
brannter Infusorienerde. Dr. M. Kirchner (Rpd.).309 

Zur Milchfrage. Dr. Pauly (Ascher).301 

Die Methode der Milchkonservirung u. s. w. Dr. Weigmann (Ders.) . . 301 

Die polizeiliche Ueberwachung von Milch. Dr. Marx (Ders.) .... 302 

Milch als Nahrung. Dr. L ü 11. i g (Ders.).303 

Die Frage der Verwerthnng des Fleisches tuberkulöser Schlachtthiere. 
Sitzung des veterinärärztlichen Centralausschusses des Grossherzog¬ 
thums Hessen.363 

Die Irren-, Heil- und Pflegeanstalten, sowie die Entbindungsanstalten des 
Deutschen Reiches nach den Erhebungen der Jahre 1886, 1887 und 
1888. Dr. Rahts (Israel).364 



























X 


Inhalt. 


Häufigkeit der Todesfälle im Wochenbett und an Kindbettfieber im Deut¬ 
schen Reiche. Dr. Rahts (Ders.). 

Statistik der Krankenhäuser in Italien (Woltemas). 

Laboratoriumscholera, beobachtet uud mit dem modifizirten Lick fett’ 
sehen Vei fahren in 6 Stunden bakteriologisch diagnostizirt. Dr. 

Freymnth und Dr. Lickfett (Dütschke). 

Zur Desinfektion der Choleraausleerungen. Dr. Eykmann (Ders.) . . 
Ueber die Entstehung und Verbreitung der Choleraepidemie in Russisch- 

Polen. 0. Bujwid (Langerhans). 

Können lebende Cholerabazillen mit dem Boden- und Kehrichtstaub durch 
die Luft verschleppt werdenP Dr. J. Uffelmann (Dütschke) 
Untersuchungen über Immunität gegen Cholera asiatica. C A. Wasser¬ 
mann (Langerhans). 

Untersuchungen über das Wesen der Choleraimrounität. R. Pfeiffer (Ders.) 
Zur Prophylaxe der venerischen Krankheiten. Beschlüsse der Kommisson 

der Berliner medizinischen Gesellschaft (Israel). 

Festschrift zu Pettenkofer’s 60jährigem Doktor-Jubiläum (Langerhans) . 
Ueber das Grundwasser von Kiel mit besonderer Berücksichtigung seines 
Eisengehaltes und über Versuche zur Entfernung des Eisens aus 

demselben. Dr. Bernhard Fischer (Ders.). 

Akute psychische Epidemie in einer Mädchenschule. Dr. S. Re mb old 

(Dütschke). 

Die Beschlüsse der zur Berathung über die Organisation der öffentlichen 
Idioten - Fürsorge eingesetzen Kommission. Dr. Alter (Kalischer) 
Untersuchungen über die Giftigkeit der Expirationsluft. Julius Beu 

(Langerhans). 

Zur Erforschung der Typhusaetiologie. Dr. Pfuhl (Ders.). 

Die Einwirkung niedriger Temperatur auf die Virulenz der Choleraspirillen 

Dr. Alf. Montefusco (Woltemas). 

Beitrag zur Biologie des Typhusbacillus. Derselbe (Ders.) . . . . 

Wasserfiltration und Cholera. Dr. Rob. Koch (Langerhans). 

Die Cholera. Prof. Dr. Gaffky (Ders.).. . . 

Die Cholera asiatica, eine durch Cholerabazillen verursachte Nitritver¬ 
giftung. Dr. Rud. Emmerich und Dr. Tsuboi (Rpd.) . . . 
Ein neuer Kommabacillus, Vibrio Berolinensis. Dr. R u b n e r (Rpd.) . . 
Die Cholera in Deutschland während des Winters 1892 bis 1893. Dr. 

Rob. Koch (Langerhans). 

Scharlach und Impfung. Dr. Woltemas . 

Ueber die Beschaffenheit des Berliner Leitungswassers in der Zeit vom 
April 1890 bis Oktober 1891, nebst einem Beitrag zur Frage der 
Bleiaufnahme durch Quellwasser. B. Proskauer (Langerhans) . 
Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffiufabriken in medizinisch¬ 
polizeilicher Hinsicht. Dr. Hoffmann (Dütschke). 

Morbidität und Mortalität der Bergarbeiter, insbesondere im rheinischen 
Gebiet, und die zur Veränderung derselben erforderlichen Massregeln. 

Dr. Körfer (Ders.). 

Die Kohlenoxydgasvergiftung und die zu deren Verhütung geeigneten 
sanitätspolizeilichen Massregeln. Dr. Ernst Becker (Ders.). . . 

Vorschläge, betreffend die Anzeigepflicht bei Diphtherie. Dr. Joseph 

Schrank (Langerhans). 

Einige Ergänzungen zur Praxis der Desinfektion. Dr. Richard Trau- 

gott (Ders.).. . 

Die im Odergebiet 1881 beobachtete Schlammkrankheit. Superarbitrium 
der Königl. Wissenschaftlichen Deputation. Dr. Gebhardt und 

Dr. Rubner (Ders.) . 

Die Frage der Verbesserung der Wohnungsverhältnisse auf der Konferenz 
der Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen. Dr. H. 

Albrecht (Meyhüfer). 

Die Arbeiterwohnungsfrage in der Gesetzgebung verschiedener Länder. 

J. Sttibben (Ders.). 

In welcher Weise ist den heutigen gesundheitlichen Missständen der üb¬ 
lichen Arbeiterwohnungen auf dem Lande, in Ackerbau treibenden 


Seite, 

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Inhalt. 


XI 


8eite. 

und gewerblichen Gegenden erfolgreich entgegenzutreten. Dr. Marx 

(Ders.).569 

Zur Hygiene der Barbierstuben. Dr. Blaschko (Dütschke) .... 595 

Formalin. Dr. J. Stahl (Overkamp).595 

Vorläufige Mittheilung über die Desinfektion von Kleidern, Lcderwaaren, 
Bürsten und Büchern mit Formaldehyd (Formaliu). Dr. Lehmann 

(Ders.).596 

Ueber einige Wirkungen des Formaldehyds. Dr. Gegner (Ders.) . . . 597 

Experimentelle Untersuchungen über das in Greifswald eingeführte neue 

Kübel - Reinigungsverfahren. Dr. Kornstädt (Langerhans) . . 597 

Versuche über die Desinfektion der städtischen Abwässer mit Schwefel¬ 
säure. Dr. Ivauoff (Ders.).598 

Ueber eine in Deutschland bestehende Lepraendemie. Dr. (Pindikowski 

(Israel).627 

Die Desinfektionsanstalt kleiner Städte. Dr. E. v. Esmarch (Jacobson) 628 

Die Milch in Neapel. Dr. Alf. Montefusco (Hensgen).628 

Ergebnisse der Fleischschau in den öffentlichen Schlachthäusern des 

Königreichs Preussen (Rpd.).629 

Das Irrenwesen in Schottland. (Kornfeld).680 

Ergebnisse der Schutzpockenimpfung im Königreiche Bayern im Jahre 

1892. Dr. Stumpf (Rpd.).631 

Bewegung der Bevölkerung des Deutschen Reichs im Jahre 1892 (Rpd.) 631 


IV. Besprechungen. *) 

Ascher, Dr. B.: Zur staatlichen Beaufsichtigung der Irrenanstalten 

(Kühn).101 

Barth, Dr. Ernst: Die Cholera mit Berücksichtigung der speziellen 

Pathologie und Therapie (Dütschke).384 

Becker, Dr. R.: Sammlung gerichtsärztlicher Gutachten (Rump) . . 99 

Behring, Dr.: Die Geschichte der Diphtherie (Caspar).518 

Brockhaus: Konversations-Lexikon (Rpd.).462 

Dornblueth, Dr.: Die Gesundheitspflege der Schuljugend (Overkamp) 25 
Elsner, Dr. Fritz: Die Praxis der Chemiker bei Untersuchung von 

Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenständen u. s. w. (Rpd.) . 274, 461 
Endemann, Prof : Die Rechtswirkung der Ablehnung einer Operation 

des körperlich Verletzten (Rump).599 

Golebiewski, Dr.: Aerztliches Kommentar zum Unfallversicherungs¬ 
gesetz vom 6. Juli 1884 (Dütschke). 277 

Gowers, W. R.: Syphilis und Nervensystem (Dütschke).385 

Günther, Dr. tarl: Einführung in das Studium der Bakteriologie 
mit besonderer Berücksichtigung der mikroskopischen Technik 

(Langerhans).632 

Hebammenkalender, Deutscher für das Jahr 1893 (Blockusewski) 102 
Heidenhain, Dr.: Erste Hülfe vor Ankunft des Arztes und Desinfek¬ 
tion nach dem neuesten ministeriellen Erlass vom 28. Juli 1892 

(Israel). 26 

Kaufmann, Dr. Constantin: Handbuch der Unfall-Verletzungen mit 
Berücksichtigung der deutschen, österreichischen und schwei¬ 
zerischen Unfallpraxis für Aerzte, Versicherungsbeamte und Juristen 

(Dütschke). 50 

Kerchensteiner, von, Dr.: Generalbericht über die Sanitäts-Ver¬ 
waltung im Königreich Bayern, das Jahr 1889 umfassend (Israel) 22 
Koch, Dr. F. L. A.: Die psychopathischen Minderwerthigkeiten (Kühn) 100 

Kobert, Dr. R.: Lehrbuch der Intoxikationen (Rpd.).275 

Krafft-Ebing, v., R: Psychopathia sexualis (Kühn).409 

Lenhartz, Prof. Dr. Hermann: Mikroskopie und Chemie am Kranken¬ 
bett (Rpd.).461 

*) Die Namen der Referenten sind in Klammern beigefügt. 

























XD Inhalt. 

Seite. 

Lcssor, Dr. Adolf: Atla3 der gerichtlichen Medizin (Rpd.). 79 

Li er sch, Dr. L. W.: Die linke Hand. Eine physiologische und medi¬ 
zinisch-praktische Abhandlung für Aerzte, Pädagogen, Berufs- 

genossenschaften und Versicherungsanstalten (Israel).310 

Liebreich, Der kleine. Pharmacopoea jocosa von Otto A q ui 1 a (Israel) 123 
Lustig, Dr. A.: Diagnostik und Bakterien des Wassers (Rpd.) . . . 276 

Magnan, V.: Psychiatrische Vorlesungen (Siemens).633 

Mair, Dr. Ignatz: Gerichtlich - medizinische Kasuistik der Kunstfehler 

(Rump).221 

Menger, Dr. Henry: Ausrüstungs-Nachweis für transportable Baracken- 

Lazarethe unter Angabe der Preise und Bezugsquellen (Rpd.) . 247 

Moll, Dr. Albert: Die konträre Sexualempfindung (Kühn) . .411 

N u 11 a 1, Dr. George H. F.: Hyginic measures in relation to infektions 

diseases (Woltemas). 338 

Oster tag, Dr. R : Handbuch der Fleischbeschau für Thierärzte, Aerzte 

und Richter (Dtttschke). 48 

Pactet, Dr.: Ali6n6s mfcconnus et condamnGs par les tribunaux (Kühn) 489 

Penkert, Dr.: Anleitung zur Trichinenschau (Fielitz).153 

Petri, Dr.: Der Cholerakurs im kaiserlichen Gesundheitsamte (Rpd.) . 460 

Rehfisch, Dr. Eugen: Der Selbstmord (Kühn).413 

Roth, Dr.: Sechster Generalbericht über das Sanitäts- und Medizinal¬ 
wesen im Regierungsbezirk Köslin (Woltemas).415 

Richter, Dr. C.: Grundriss der Schulgesundheitspflege für Lehrer, 
Schulleiter, Schulaufsichtsbeamte und angehende Schulärzte (Lan- 

gerhans).436 

Schnitze, R.: Bau und Betrieb von Volksbadeanstalten (Israel) . . . 310 

Strack, Dr. H. L.: Der Blutaberglaube in der Menschheit, Blutmorde 

und Blutritus (Caspar).221 

W e r n i c h, Dr. und W e h m e r, Dr.: Sechster Gesammtbericht über das 
Sanitäts- und Medizinalwesen in der Stadt Berlin während der Jahre 

1889, 1890 und 1891 (Israel).535 

Weyl, Dr. Th.: Studien zur Strassenhygiene mit besonderer Berücksichti¬ 
gung der Mtillverbrennung (Dütschke). 50 

Wich mann, Dr. Ralf: Der Werth der Symptome der sogen, trauma¬ 
tischen Neurose und Anleitung zur Beurtheilung der Simulation 

von Unfall-Nervenkrankheiten (Rpd.).336 

Wiener, Dr.: Sammlung gerichtlich - medizinischer Obergutachten 

(Rump).. . 122 

Derselbe: Taxe für die preussischen Medizinalpersonen vom 21. Juni 1815 

mit den Zusatzbestimmungen bis auf die neueste Zeit (Israel) . . 278 

Winckler, Dr. Axel: Zur Beschränkung der Mineralwasserfabrikation 

(Semann).‘ . . 25 

Zeitschrift für Hypnotismus, Suggestionstherapie und verwandte psy¬ 
chologische Forschungen (Kühn).570 


Y. Tagesnachricliten. 

Adainkiewicz, 50jähriges Doktorjubiläum 543. 

Aerzte, Umgestaltung der Prüfungen 542. 
Aerztekammern, Disziplinarbefugniss derselben 223 
Aerztetag 26, 279, 635. 

Atteste, amtsärztliche für Staatsbeamte 339. 

Anstalt, bakteriologische in Bonn 124. 

Apothekenfrage 27, 179, 222, 490. 

Apotheker, Umgestaltung der Prüfung 575. 
Apothekerverein, Hauptversammlung 490. 

Arzneitaxe für 1893 27. 




















Inhalt. 


xin 


Bakteriologie, staatliches Laboratorinm für dieselbe, in Bonn 124; in Bremen 248. 
Bayern, Sitzung des Obermedizinalausschusscs 635. 

Beckhaus, Dr. Geh. Sanitätsrath, Nekrolog 439. 

Bonn, bakteriologische Anstalt 124. 

Bremen, staatliches Laboratorium für Bakteriologie 248. 

Charlotten bürg, eigenes Kreisphysikat 635. 

Cholera, Ausbreitung 26, 55, 80, 104, 126, 179, 200, 224, 248, 280, 311, 312, 
340, 368, 391, 416, 439, 463, 491, 519, 543, 575, 599, 636. 

„ -Kongress russischer Aerzte 179. 

„ Interpellation über dieselbe 279. 

„ Nachrichten an die Zeitungen 312. 

„ Vorlesungen über dieselbe für praktische Aerzte 311. 

Deputation, wissenschaftliche für das Medizinal wesen; Sitzung derselben 543. 
Drogen und chemische Präparate, Handel mit denselben 490. 

Elbe, Verunreinigung derselben 124; gesundheitspolizeiliche Ueberwachung 440, 
463, 491. 

Entmündigung, s. Irrenwesen. 

Falk, Dr. Prof., Nekrolog 543. 

Feuerbestattung, s. Leichenverbrennung. 

Fleischgenuss, Erkrankungen daran 340. 

Fortbildungskurse, Errichtung derselben in Braunschweig 200. 

Frauen, Zulassung zum Studium der Medizin 126. 

Geisteskranke, Entmündigung und Unterbringung 80, 153. 

Gesundheitsamt für das Deutsche Reich, Erweiterung der Befugnisse 125; neues 
Dienstgebäude 126; Etat für 1894/95 599. 

Giftverkehr 438, 462. 

Gutachten, ärztliche über Erwerbsfähigkeit von Invalidenrentenbewerbern 180. 
Hamburg, Verkehr mit Kuhmilch 55. 

B Gesetz über Wohnungspflege 312. 

Havel, gesundheitspolizeiliche Ueherwachung 440, 463. 

Irrenseelsorgcr, Verein evangelischer 462. 

Irrenwesen, Umgestaltung desselben 279, 438, 575. 

Konferenz, internationale Sanitäts- 155, 180, 223, 311. 

Kongress, XI. internationaler, medizinischer in Rom 51, 56, 386, 416, 575, 635. 
„ XII. für innere Medizin 103. 

„ XII. der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 103. 

„ VIII. internationaler für Hygiene und Demographie in Budapest 156, 
280, 635. 

„ V. der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie 200. 

„ I. internationaler Samariter 311, 416. 

„ IV. „ gegen den Missbrauch alkoholischer Getränke 367. 
Konzessionsfrage der Apotheken 490. 

Kuhmilch, Verkehr mit derselben in Hamburg 55. 

Kurse, hygienische für Verwaltungsbeamte 248, 416. 

Krankheiten, ansteckende, Bekämpfung derselben, s. Seuchengesetz. 
Leichenverbrennung 104, 125, 178. 

Mediziualreibrm 26, 247, 279, 338, 438, 490. 

Medizinalwesen, preussisches im Staatshaushaltsetat 53. 

Memel, gesundheitspolizeiliche Ueberwachung des Stromgebietes 544. 

Moeli, Prof. Dr., Berufung als Hülfsarbeiter an die Medizinalabtheilung des 
Kultusministeriums 519. 

München, Schwemmkanalisation 28. 

Naturforscher und Aerzte, Versammlung 200, 386, 635. 

Oder, gesundheitspolizeiliche Ueberwachung 543. 

Pettenkofer, von; Jubiläum 367. 

Pocken in Gera 463. 

Prüfungen, Umgestaltung der medizinischen 542. 

„ der Thierärzte, Zahnärzte und Apotheker 575. 

Rhein, gesundheitspolizeiliche Ueberwachung 440, 463. 

Ruhr-Epidemie in Tilsit 463. 

Sachsen, Sitzung des Landesmedizinalkollegiums 634. 

Sanilätskonferenz, internationale (s. Konferenz). 



XIV 


Inhalt. 


Schwemmk&nalisation in München 28. 

Seuchengesetz für das Deutsche Reich 26, 80, 104, 154, 886, 574. 

Spree, gesnndheitspolizeiliche Ueberwachung 440. 

Teltow, Theilung des Kreisphysikats 635. 

Taxfrage, Atteste für Staatsbeamte 339. 

Thierärzte, Zulassung znm Studium derselben 543, 575. 

Typhus im bayerischen Infanterie-Leib-Regiment zu München 340, 368. 
Unterrichtskurse, bakteriologische 154. 

Ungarn, Organisation der staatlichen Gesundheitspflege 634. 

Verein, deutscher für öffentliche Gesundheitspflege 26, 156. 

„ für gesundheitsgemässe Erziehung der Jugend 635. 

Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Nürnberg 200, 386. 
Warthe, gesundheitspolizeiliche Ueberwachung 440, 463. 

Weichsel, gesundheitspolizeiliche Ueberwachung 223, 440, 463. 
Wohnungspflege, Gesetz darüber in Hamburg 312. 

Zahnärzte, Umgestaltung der Prüfung 575. 


YI. Yerschiedenes. 

Preussischer Medizinalbeamtenvcrein 56, 127, 280, 391, 600. 
Berichtigungen 126, 340. 

Offener Brief 248. 



Sachregister. 


Abdeckerei, Grundsätze für ihre Ein¬ 
richtung 377. 

Abgeordnetenhaus, Verhandlungen über 
den Medizinaletat 137 u. 173; über 
Massregeln gegen Cholera 341. 

Abwässer, Desinfektion städtischer durch 
Schwefelsäure 598. 

Aerzte, Umgestaltung der Prüfungen 
542; bakteriologische Kurse Uber 
Cholera für praktische Aerzte 311; 
Dienst derselben in Krankenhäusern 
368. 

Aerztekammern, Disziplinarbefugniss 
derselben 223. 

Aerztetag 26, 279, 635. 

Aggravation bei Augenverletzungen 
493 u. 689, von Amblyopie 584. 

Alkoholfrage, vom ärztlichen Stand¬ 
punkte 433. 

Alkoholiker, Selbstmord eines solchen 
durch Erdrosseln 454. 

Altona, Auftreten der Cholera 26, 55, 
80, 104, 126, 491, 519, 543. 

Aluminium, Verwendung zu Ess-, Koch- 
und Trinkgeschirren 19. 

Amblyopie, Aggravation derselben 493, 
584 u. 598. 

Ansteckende Krankheiten, in Oester¬ 
reich (im Jahre 1891) 77; Be¬ 
kämpfung 338 (s. auch Seuchen gesetz). 

Anzeigepflicht bei Diphtherie 533. 

Apfelschnitte, amerikanische 112. 

Apotheken, Revisionen in alter Zeit 
430; Apothekenfrage 27,179,222,490. 

Apotheker, Umgestaltung der Prüfung 
575. 

Apothekerverein 490. 

Arabien, Auftreten der Cholera, s. Mekka. 

Arbeiterwohnungen 567, 568 u. 569. 

Arnsberg, Reg.-Bez, Versammlung der 
Medizinalbeamten 41. 


Arsenvergiftung 191,531 u. Anhang 72. 

Arzneitaxe (für 1893) 27. 

Atlas der gerichtlichen Medizin 79. 

Atteste, amtsärztliche für Staatsbeamte 
94, 197, 339 u. Anhang 135, s. auch 
Gutachten und Gebühren. 

Augenverletzungen, Aggravation bei 
denselben 493, 589. 

Baden, Dienstanweisung für Hebammen 
620. 

Bakterien des Wassers 16, 276; Ein¬ 
fluss des Lichtes auf 16 (s. auch Ba¬ 
cillus). 

Bakteriologie, Laboratorium für die¬ 
selbe in Bonn 124, in Bremen 248; 
Handbuch der Bakteriologie 632 (s. 
auch Kurse). 

Barackenlazarethe, transportable, Aus¬ 
rüstung derselben 243. 

Barbierstuben, Hygiene derselben 595. 

Bauordnungen, der Städte 331. 

Bayern, Gesundheitswesen (im Jahre 
1889) 22 ; bakteriologische Kurse 154; 
Ergebnisse der Impfung (im Jahre 
1891) 242, (im Jahre 1892)631; Sitzung 
des Obermedizinal-Ausschusses 635. 

Bacillus, der Diphtherie 16, des Typhus 
45, 433, Bacillus coli communis 45, 
der Cholera 17, 117, 118, 218, 305, 
308, 309, 374, 381, 433, 459. 

Begräbnissordnung 361, 592. 

Belgien, Auftreten der Cholera 463, 
492, 519, 600, 636. 

Berichtigungen 126, 340. 

Berkefeld-Filter 309. 

Berlin, Generalsanitätsbericht 535. 

Bevölkerung, Bewegung derselben im 
Deuschen Reiche (1891) 48, (1892) 
631; in Frankreich (1891) 79, in Oe¬ 
sterreich (1892) 245. 



XVI 


Sach - Register. 


Bewusstlosigkeit, gerichtsärztliche Be¬ 
gutachtung derartiger Zustände 621. 

Bezirkshebammen, Anstellung derselben 
98. 

Blattern, s. Pocken. 

Blut, Nachweis von Kohlenoxyd 43; 
Untersuchung nach Katayama 209; 
Ursache des Flüssigbleibens 484; 
Blutuntersuchungen in forensischer 
Beziehung 532. 

Blutaberglaube, Blutmorde und Blut¬ 
ritus 221. 

Blutspuren von Wanzen 513. 

Bonn, bakteriologische Anstalt 124. 

Bosnien, Auftreten der Cholera 514, 
575, 600, 636. 

Botulismus 601. 

Braunschweig, Versammlung der Me¬ 
dizinalbeamten 75; Fortbildungskurse 
für Medizinalbeamte 200. 

Brausebad, 310, 592. 

Bremen, bakteriologisches Laborato¬ 
rium 248. 

Brodbereitungen, Reformen auf dem Ge¬ 
biete derselben 335. 

Bruchschaden und Unfall 195 sowie An¬ 
hang 116. 

Budapest, s. Pest. 

Buckowina, Auftreten der Cholera 440, 
575, 600. 

Charlottenburg, eigenes Kreisphysi- 
kat 635. 

Chemie und Mikroskopie am Kranken¬ 
bett 461. 

Cholera, Aetiologie, Pathologie, Dia¬ 
gnose u. s. w. 17, 117, 118, 218, 237, 
305, 308, 381, 384, 433, 455, 459; 
Cholera und Wasserversorgung bezw. 
Wasserfiltration 433, 528; Verhalten 
der Cholerabazillen gegen Tempera¬ 
tureinflüsse, im Eise u. s. w. 309, 
433; Verbreitung derselben durch 
Fliegen 76, durch die Luft mittels 
Staubes 381; Laboratoriums-Cho¬ 
lera 378; Massregeln gegen Cho¬ 
lera 41, 71, 151, 152, 279, 341; 
Kurse zur sanitätspolizeilichen Be¬ 
kämpfung der Cholera 154, 251,311, 
372; unbefugte Nachrichten über 
Cholera 312; Cholerakasten 17, 195 
und Anhang 113; Cholera-Immunität 
383; Cholera, eine Nitritvergiftung 
457; Desinfektion von Choleraaus¬ 
leerungen 379; Entstehung und Ver¬ 
breitung der Cholera in Nietleben 
57, in Deutschland (1892) 12, 486, 
in Russland und Russisch-Polen 119, 
380, in Oesterreich 121; im Jahre 
1893: 26, 55, 80, 104, 126, 179, 224, 
248, 311, 312, 340, 368, 391, 416, 
439, 463, 491, 519, 521, 528 (in 


Stettin nnd im Kreise Randow) 543, 
575, 599, 636. 

CocainiBmus 431. 

Deputation, wissenschaftlichejfür das 
Medizinalwesen, Sitzung derselben 
543. 

Desinfektion, auf dem Lande 72, 137, 
453, von Wohnungen 360, von Cho- 
leraausleernngen 379; Ergänzungen 
zur Praxis der Desinfektion 533; 
Anwendung von Formalin zur Des¬ 
infektion 595, 596, 597; Desinfektion 
städtischer Abwässer durch Schwe¬ 
felsäure 598. 

Desinfektionsapparat, einfacher 9. 

Desinfektionsanstalt kleinerer Städte 
628. 

Desinfektoren, auf dem Lande 463. 

Deutsches Reich, Bewegung der Be¬ 
völkerung 48, 631; Verbreitung der 
Tollwuth 97; Uebertragung von Thier¬ 
seuchen auf Menschen 98; Pocken¬ 
todesfallstatistik (im Jahre 1891) 244; 
Gesundheitsamt 125, 126, 599; Auf¬ 
treten der Cholera (1892) 12, 486; 
(1893) 439, 463, 491, 519, 543, 575, 
599, 636; Entwurf eines Seuchen¬ 
gesetzes (s. Seuchengesetz); Entwurf 
von Vorschriften für den Giftverkehr 
438, 462, 465, 477; Irren-, Heil-, 
Pflege- und Entbindungsanstalten (in 
den Jahren 1886—1888)364; Häufig¬ 
keit der Todesfälle im Wochenbett 
366; Lepraendemie 627. 

Diphtherie,Vorhandensein des Löffler 
sehen Bacillus im Schlunde genesener 
Diphtherie - Kranker 16; Geschichte 
d. Diphtherie 518; Anzeigepflicht 533; 
epidemiologische Erfahrungen 577. 

Drogen und chemische Präparate, Han¬ 
del damit 490. 

Düsseldorf, Versammlung der Medizinal- 
beamteu 360, 592. 

Eisen, Gehalt desselben im Wasser 
und seine Entfernung 406. 

Eisenbahnverkehr, Massregeln in dem¬ 
selben gegen Cholera 441. 

Elbe, Verunreinigung derselben 124; 
gesundheitspolizeiliche Ueberwachung 
440, 463, 491. 

England, Auftreten der Cholera 463, 
492, 544, 575. 

Entbindungsanstalten im Deutschen 
Reiche 364. 

Entmündigung der Geisteskranken 80, 

153, 169, 279, 328, 438, 575. 

Epidemiologische Kurse im Reichsge¬ 
sundheitsamt ; in Sachsen und Bayern 

154, in Preussen für Kreisphysiker 
251, 372; für praktische Aerzte 311. 




Sach-Register. 


xvn 


Erdrosseln, Selbstmord eines Alkoholi¬ 
kers durch 434; Mord durch Er¬ 
drosselung kombiuirt mit Halsschnitt¬ 
wunden 594. 

Erfrieren, Tod durch; Leichenbefund 
dabei 201. 

Erhängte. Erscheinungen bei wieder¬ 
belebten 510. 

Ernährung, Grundsätze richtiger bei 
der ärmeren Bevölkerung 356; der 
Kinder 360, 592. 

Erschiessen, Selbsmord durch 454. 

Expirationsluft, Giftigkeit derselben 
431. 

Feuerbestattung, s. Leichenverbren¬ 
nung. 

Filter, Berkefeld - 309. 

Fleisch, Konservirung 219; Verwendung 
des von tuberkulösen Thieren stam¬ 
menden oder sonst beanstandeten 
363, 375; Kochverfahren desselben 
18. 

Fleischbeschau 48; Ergebniss in den 
öffentlichen Schlachthäusern Preussens 
629. 

Fleischvergiftung 340, 601. 

Fliegen, als Verbreiter der Cholera 
76. 

Formalin, Formaldehyd, Verwendung 
zur Desinfektion 395, 596, 597, 

Fortbildungskurse, s. Kurse. 

Frankreich, Auftreten der Cholera 55, 
104, 126, 200, 274, 248, 280, 312, 
340, 368, 391, 416, 463, 492, 519, 
544, 575, 600, 636; Bewegung der 
Bevölkerung (1891) 79. 

P'rauen, Zulassung zum Studium der 
Medizin 126. 

Galizien, Auftreten der Cholera 27, 
55, 80, 104, 126, 200, 224, 248, 260, 
312, 416, 463, 492, 519, 544, 575, 
599, 636. 

Gebärende, Beurtheilung ihres Geistes¬ 
zustandes 513. 

Gebühren, für amts- und gerichtsärzt¬ 
liche Thätigkeiten 91, 94; bei Vor¬ 
untersuchungen in der Wohnung des 
Arztes 193, 262 und Anhang 140; 
gerichtsärztliche in Braunschweig 
76. 

Geburt, wiederholte, Zeichen dersel¬ 
ben 217. 

Gehirn, Sektion desselben 330. 

Geisteskranke, Entmündigung und Un¬ 
terbringung in eine Irrenanstalt 80, 
153,169,279, 328, 438,575; Fürsorge 
für geisteskranke Strafgefangene 192 
und Anhang 90; Kriminalität der¬ 
selben 404. 


Generalbericht über das Gesundheits¬ 
wesen in Bayern 22, im Reg.-Bez. 
Kösliu 415, in Berlin 535. 

Gesundheitsamt, für das Deutsche Reich 
125, 126, 599. 

Gifte, Diffusion derselben in mensch¬ 
lichen Leichen 393; Entwurf von 
Vorschriften für den Verkehr mit 
Giften 438, 462, 465, 477. 

Gonokokken-Untersuchung, Werth der¬ 
selben 532. 

Greifswald, Kübelsystem 597. 

Gutachten, Regresspflichtigkeit der 
medizinischen 166, ärztliche über Er¬ 
werbsfähigkeit von Invalidenbewer¬ 
bern 180; gerichtsärztliche bei Ob¬ 
duktionen und bei Zuständen von 
Bewustlosigkeit 621; Sammlung ge¬ 
richtsärztlicher 99, 122, s. auch 
Atteste. 

Halsschnittwunden und Erdrosselung, 
Mord durch 594. 

Hamburg, Auftreten der Cholera 26, 
55, 80, 104, 126, 280, 312, 491,519, 
543 u. 599; Massregeln gegen die 
Cholera 152; Verkehr mit Kuhmilch 
55; Gesetz über Wohnungspflege 
312. 

Hand, die linke 310. 

Havel, gesnuilheitspolizeiliche Ueber- 
wachung 440, 463. 

Hauskaltungsschule bei der Krupp’ 
sehen Gussstahlfabrik 20. 

Hebammen, Anstellung von Bezirksheb¬ 
ammen 98; Entwurf einer Dienstan¬ 
weisung für dieselben im Grossher¬ 
zogthum Baden 620; Hebammen und 
Pfuschcrinneu 545. 

Hebammenkalender, Deutscher 102. 

Heilanstalten im Deutschen Reich 364; 
in Italien 367. 

Herz, Wunden desselben 530. 

Hessen, Ergebnisse der Impfung (im 
Jahre 1891) 243. 

Hohenzolleru, Medizinalgesetzgebung 
621, Impftermins-Uebersichten 623, 
Influenza - Epidemie 623. 

Holland, s. Niederlande. 

Hülfe, erste vor Ankunft des Arztes 26. 

Hypnotismus, Zeitschrift für 570. 

Hysterie, epidemische unter Schulkin¬ 
dern 47, 407. 

Icterus, zur Aetiologie des infektiösen 
150. 

Idioten, Fürsorge für 408. 

Immunität gegen Cholera 383. 

Impftermins - Uebersichten, Erstattung 
in Hokenzollern 623. 

Impfung, Ergebnisse in Bayern (1891) 




xvm 


Sach - Register. 


242, (1892) 631; in Hessen (1891) 
243; Impfung und Scharlach 514. 

Infektion und Trauma, forensische Be¬ 
deutung für Meningitis 218. 

Infektionskrankheiten, s. ansteckende 
Krankheiten. 

Influenza - Epidemie auf der Burg Ho- 
henzollern 623 

Intoxikationen, Lehre der 275. 

Irrenärzte, Bericht über die Versamm¬ 
lung des Vereins deutscher Irren¬ 
ärzte 802, 330. 

Irrenanstalten im Deutschen Reiche 364. 

Irrenseelsorger, Verein evangelischer 
462. 

Irren wesen, Umgestaltung desselben 
279, 438, 575, staatliche Beaufsich¬ 
tigung 101, 193 u. Anhang 96; in 
Schottland 630; siehe auch Geistes¬ 
kranke. 

Irresein und Irrthum 626. 

Isenhagen, Kreis; gesundheitliche Ver¬ 
hältnisse der Volksschulen u. Schul¬ 
kinder 30, 60, 81, 109, 129 u.157. 

Italien, Auftreten der Cholera 368, 391, 
416, 440, 463, 492, 519, 544, 575, 
600, 636. 

Kelilkopffrakturen 624. 

Kindbettfieber s. Wochenbettfieber. 

Kinder, Ernährung 860, 592; Seehuspize 
für skrophulöse 246. 

Kindesleicke, Einfluss von Bewegungen 
derselben auf die Athmungs- und 
Verdauungswege 116. 

Kindesmord, durch Beibringung von 
Stücken eines Schwammes 43. 

Körperverletzung, schwere 95. 

Köslin, Reg.-Bez., Generalbericht über 
das Gesundheit wesen 415. 

Kohlenoxyd, Nachweis im Blute 43; 
Verhütung der Vergiftung durch 
Kohlenoxyd 516. 

Konferenz, internationale Sanitäts- 155, 
180, 223, 311. 

Kongress, russischer Aerzte über Cholera 
179, internationaler medizinischer 51, 
56, 386, 416, 575, 635; für innere 
Medizin 103; der deutschen Gesell¬ 
schaft für Chirurgie 103; für Gynä¬ 
kologie 200; internationaler für 
Hygiene und Demographie 156, 280, 
635; internationaler Samariter- 311, 
416 ; internationaler gegen Missbrauch 
alkoholischer Getränke 367; s. auch 
Vereine und Versammlungen. 

Konserviruug von Fleisch 219, von 
Milch 863. 

Konstantinopel, Auftreten der Cholera, 
s. Türkei. 

Kopfverletzung, s. Schädel Verletzung. 

Krankenhäuser s. Heilanstalten. 


Krankheiten, ansteckende, in Oesterreich 
(1891) 77; Massregeln zu ihrer Be¬ 
kämpfung 338; s. auch Seuchengesetz. 

Kreisphysiker, epidemiologische Kurse 
für dieselben 154.251 u.372; Stellung 
derselben 369, 402, 451, 591, angeb¬ 
liche Unzulänglichkeit ihrer Aus¬ 
bildung 372; s. auch Medizinalbeamte, 
Mediziualreform. 

Kriminalität der Geisteskranken 404. 

Kübelsystem in Greifswald 597. 

Kunstfchkr, gerichtlich - medizinische 
Kasuistik 221. 

Kurse, epidemiologische für Kreisphy¬ 
siker 154, 251, 372; in Sachsen 
und Bayern 154; für Aerzte 3ll; 
hygienische für Verwaltungsbeamte 
248, 476; für Seminaristen 616; Fort¬ 
bildungskurse für Physiker in Braun¬ 
schweig 75; Cholerakurs im Reichs¬ 
gesundheitsamte 460. 

Leben oliue Athmen 529. 

Leichenbefund beim Tod durch Er¬ 
frieren 201. 

Leichenschauhaus, Berliner; monatliche 
Uebersicht der eiugelielerten Leichen 
217. 

Leichenverbrennung 1(4, 125, 178. 

Lepraendemie in Deutschland 627. 

Lieht, Einfluss auf Bakterien 16. 

Luft, Verschleppung der Cholerbazillen 
durch dieselbe mittelst Staub 381; 
Giftigkeit der Exspirationsluft 431. 

Masern, Identität mit Rötheln 8, 168; 
zur Aetiologie 77. 

Mastdarm, Verletzungen desselben vom 
gerichtsärztlichen Standpunkte 485. 

Medizinalbeamte, Enttäuschung und 
Stellung derselben (s. Medizinalreform 
und K reisphysiker), Versammlungen 
der Medizinalbeamten in den Reg.-Bez. 
Arnsberg 41, Stettin 287 und 528, 
Düsseldorf 360 und 592, Stade 451, 
im Herzogth. Braunschweig 75, 
in Baden 620; des preußischen Medi- 
zinalbeamtenvereins 56,124, 127,181, 
280, 341, 600 und Anhang. 

Medizinaletat, preussischer 53; Ver¬ 
handlungen darüber im Abgeordneten¬ 
hause 137, 173. 

Medizinalgesetzgebung in Hoheuzollern 
621. 

Medizinalretorm in Preussen 26, 114, 
137, 173, 176, 187, 247, 279, 299, 
338, 341, 369, 402, 438, 490, 501, 
508, 563, 591, Anhang 54. 

Medizinalwesen, Organisation in Un¬ 
garn 634. 

Mekka, Auftreten der Cholera 312, 340, 
368, 391, 416. 



Sach-Register. 


XIX 


Memel, Fluss, sanitätspolizeiliche Ueber¬ 
wachung 544. 

Meningitis nach Traama 218, 405. 

Mikroskopie und Chemie am Kranken¬ 
bett 461. 

Milch, Verkehr mit, in Hamburg 55, 
in Neapel 628; Beschaffenheit der 
Marktmilch in Giessen 46; zur Milch¬ 
frage 361; Milchkonservirung 361; 
polizeiliche Ueberwachung des Milch¬ 
verkehrs 362; Milch als Nahrung 362. 

Milz, seltene Kleinheit 401. 

Minderwerthigkeiten, psychopathische 

100 . 

Mineralwasserfabrikation, Beschränkung 
25. 

Morphium, tödtliche Einzeldosis 625. 

München, Schwemmkanalisation 28; 
Typhus im Infanterie-Leibregiment 
340, 368. 

Nahrungsmittel, Ueberwachung der¬ 
selben 274, 461. 

Naturforscher und Aerzte, Versammlung 
200, 386, 433, 509, 635. 

Neapel, Provinz, Gesundheitszustand in 
derselben im Jahre 1891: 247; Aus¬ 
breitung der Cholera s. Italien; Milch 
in Neapel 628. 

Nebenniere, Verblutung aus den Ge- 
fässen derselben 617. 

Neurose, traumatische 336. 

Niederlande, Auftreten der Cholera 55, 
391, 440, 463, 492, 519, 544, 575, 
600, 636. 

Nietleben, Irrenanstalt, Auftreten der 
Cholera 57, 80, 104, 126. 


Oder, sanitätspolizeiche Untersuchung 
543. 

Oesterreich, Infektionskrankheiten 77; 
Auftreten der Cholera (1892) 121, 
(1893) 391, 440, 463, 492, 519, 544, 
575, 599, 636; Bewegung der Be¬ 
völkerung (1891) 245. 

Paraffinfabriken, in sanitätspolizei¬ 
licher Hinsicht 515. 

Pest, Auftreten der Cholera 27, 55, 80, 
104, 126, 519, 575, 600, 636; Ur¬ 
sache derselben 200. 

Pfnscherinnen und Hebammen 545. 

Pharmacopüa jocosa 123. 

Phosphor Vergiftung 41. 

Pocken, zur Aetiologie 77; Alter und 
Ursprung 417; in Gera 463; Poeken- 
todesfallstatistik im Deutschen Reiche 
(1891) 244. 

Preussen, Ertheilnng des Titels „Sani¬ 
tätsrath“ 39; Verhandlungen des Ab¬ 


geordnetenhauses 137, 173, 341; 

Medizinaletat 137, 173; Massregeln 
gegen Cholera 351, 341; Ergebnisse 
der öffentlichen Schlachthäuser 629, 
s. auch Medizinalreform. 

Prüfungen, Umgestaltung der medizi¬ 
nischen 542, der Thierärzte, Zahn¬ 
ärzte und Apotheker 575. 

Psychiatrie und Seelsorge 302. 

Querulanten-Wahnsinn 225,281,313. 

Randow, Kreis, Choleraepidemie 521. 

Regresspfliehtigkeit der medizinischen 
Gutachten 165. 

Rhein, gesundheitspolizeiliche Ueber¬ 
wachung 440, 463. 

Rötheln, Identität mit Masern 8, 168. 

Ruhrepidemie in Tilsit 463. 

Rumänien, Auftreten der Cholera 416, 
440, 463, 492, 519, 544, 575, 600, 
636. 

Russland, Auftreten der Cholera (1892) 
119, (1893) 27, 55, 80, 104, 126, 
248, 280, 312, 368, 392, 416, 440, 
463, 492, 519, 541, 573, 600, 636; 
in Russisch-Polen 380. 

Sachsen, epidemiologische Kurse 154; 
Sitzung des Landesmedizinal-Kollc- 
giums 634. 

Sachsengänger, Lage derselben 1. 

Salpetersäure, Vergiftung durch 455. 

Sanitätskonferenz, internationale, s. 
Konferenz. 

Sauitätsrath, statistische Uebersicht über 
die Ertheilung dieses Titels in 
Preussen 39. 

Seehospize für skrophulöse Kinder 245. 

Seelsorge und Psychiatrie 302. 

Sektion, des Gehirns 330, zur Geschichte 
der gerichtlichen Sektionen 509. 

Selbstmord 413, durch Erschiessen 454, 
Erdrosseln 454. 

Seminaristen, hygienische Kurse für 
dieselben 619. 

Seuchen, Schutz gegen 108. 

Seuchengesetz, Entwurf zu demselben 
26, 80, 104, 154, 386, 574; Verhand¬ 
lungen darüber im Reichstage 220, 
auf der Versammlung der preussisehon 
Mediziualbeamten 183 und Anhang 7, 
auf dem Aerztetage 147, 359. 

Sexualempfinduug, konträre 330, 409, 
411, 512. 

Spanien, Auftreten der Cholera 368, 
391, 492, 519, 544, 575, 60<\ 636. 

Spree, sauitätspolizeilicheUeberwaehnng 
440. 

Steil- oder Schrägschrift 241. 

Stettin, Choleraepidemie 521, 528, 

543, 575, 599, 636; Reg.-Bez., Ver- 



XX 


Sach - Register. 


saramlnng der Medizinalbeamten 237, 
528. 

Strafgefangene, geisteskranke, Fürsorge 
für dieselben 192 und Anhang 90. 

Strassen, Hygiene 50. 

Sturzgeburt 249, 

Syphilis, zur Aetiologie 77; Prophy¬ 
laxe 384. 

Schädelbrüche und Verletzungen 405, 
509, 510. 

Scharlach, zur Aetiologie 77; und 
Impfung 514. 

Schlaramkrankheit im Odergebiet 534. 

Schottland, Irrenwesen 630. 

Schrägschrift oder Steilschrift 241. 

Schulen, Gesundheitspflege in 25, 436, 
635; Steil- oder Schrägschrift 241, 
siehe auch Schulkinder und Volks¬ 
schulen. 

Schulkinder, gesundheitliche Verhält¬ 
nisse derselben im Kreise Isenhagen 
30, 60, 81, 109, 129, 157; Gesund¬ 
heitspflege der Schuljugend 25; Epi¬ 
demie hysterischer Krämpfe unter 
Schulkindern 47, 407; Verein für 
gesundheitsgemässe Erziehung der 
Jugend 635. 

Schussverletzung, atypische Eingangs¬ 
öffnung 454. 

Schweden, Auftreten der Cholera 519. 

Schwefelwasserstoff, Giftigkeit für die 
Fabrikarbeiter 46. 

Schwemmkanalisation in München 28. 

Tätowiren der Verbrecher, kriminal¬ 
psychologische und kriminalpraktische 
Bedeutung 511. 

Tagegelder, Berechnung derselben 565. 

Taxe, ärztliche in Preussen 278. 

Taxgesetz, Entscheidungen zu demsel¬ 
ben 91, 94, 565, Atteste für Staats¬ 
beamte 539. 

Teltow, Theilung des Kreisphysikats 
635. 

Teneriffa, Auftreten der Cholera 636. 

Teratofobia 431. 

Theerfabriken, in sanitätspolizeilicher 
Hinsicht 515. 

Thierärzte, Umgestaltung der Prüfung 
543, 575. 

Thiere, Beseitigung der Kadawer ge¬ 
fallener und getüdteter 377. 

Thierseuche, Üebertragung auf Men¬ 
schen 98. 

Thymusdrüse, gerichtsärztliche Bedeu¬ 
tung 217. 

Tilsit, Riibrepidemie 463. 

Tod durch Erfrieren, Leichenbefund 
über 201. 

Tollwuth, Verbreitung im Deutschen 
Reiche 97. 

Trauma und Infektion, forensische Be¬ 


deutung für Meningitis 218. 

Trichinenschau 153. 

Trinkwasser, s. Wasser. 

Trommelfellrupturen, traumatische 44. 

Tuberkulose, Verwerthung des Fleisches 
von tuberkulösen Thieren 363. 

Türkei, Auftreten der Cholera 368, 463, 
492, 514, 544, 575, 600, 636. 

Typhus im bayerischen Infanterie-Leib- 
regiraent in München 340, 368; Aetio¬ 
logie des Typhus 432; Typhusbacillus 
45, 433. 

Unfall und Bruchschaden 195 sowie 
Anhang 116. 

Unfallversicherungsgesetz, ärztlicher 
Kommentar 50, 277. 

Ungarn, Organisation der staatlichen 
Gesundheitspflege 634. 

Unterrichtskurse, s. Kurse. 

Venerische Krankheiten, s. Syphilis. 

Verblutung, traumatische aus den Ge- 
fässen der Nebenniere 616. 

Verbrecher, forensische Bedeutung des 
Tätowirens derselben 511; Zwangs¬ 
vorstellungen und Handlungen 76. 

Verfolgungswahn 11. 

Verletzte, Ablehnung einer Operation 
599. 

Verletzungen, des Schädels 405,509,510; 
schwere Körperverletzung 95; des 
Mastdarms 485. 

Verein, deutscher, für öffentliche Ge¬ 
sundheitspflege 26, 156, 331, 356, 
374; preussischer Medizinalbeamten 
56, 124, 127, 181, 280, 391, 600 u. 
Anhang; deutscher Irrenärzte 302, 
330; evangelischer Irrenseelsorge 462; 
für gesundheitsgemässe Erziehung 
der Jugend 635. 

Vergiftung, durch Phosphor 41; durch 
Arsen 191 u. 531 sowie Anhang 72; 
durch Salpetersäure 455; durch Fleisch 
und Wurst 340, 601. 

Versammlung, deutscher Naturforscher 
und Aerztc 200, 3^6, 433, 509, 635, s. 
auch Kongresse, Medizinalbeamte u. 
Vereine. 

Vcrwaltungsbeamte, hygienische Kurse 
für dieselben 248, 416. 

Verwesung, Dauer derselben in Gräbern 
219. 

Vibrio, Berolinensis 459. 

Volksbadeanstalten 310, 592. 

Volksernährung, richtige Grundsätze 
derselben 356. 

Volksschulen, gesundheitliche Verhält¬ 
nisse derselben im Kreise Isenhagen 
30, 60, 81, 109, 129 u. 157, s. auch 
Sehulen. 



Sach - Register. 


XXI 


Wahnsinn, Querulanten- 225, 281, 
313. 

Wanzen, Blutspuren zerdrückter 513. 

Wartenberg, Gross- Kreis, Massregeln 
gegen Cholera in demselben 71. 

Warthe, gesundheitspolizeiliche Ueber- 
wachung 420, 463 

Wasser, Bakterien desselben und deren 
Diagnostik 16, 276; Eisengehalt und 
dessen Entfernung 406; Beziehung 
zur Cholera 433, 518. 

Wasenplätze, s. Abdeckerei. 

Wasservergeudung, Vorbeugung da¬ 
gegen 374. 

Weil’ sehe Krankheit, zur Aetiologie 
150. 

Weichsel, gesundheitspolizeiliche Ueber- 
wachung 223, 440, 463. 

Wjederbelebte, nach Suspension, Er¬ 
scheinungen bei denselben 510. 

Wochenbettfieber, sanitätspolizeiliche 


Massnahmen 21; Verhütung 238; 
Häufigkeit der Todesfälle im Wochen¬ 
bett (Deutsches Reich) 366. 

Wohnungen, feuchte 219; Desinfektion 
360; Verbesserung der Wohnungs¬ 
verhältnisse 567; Arbeiterwohnungs¬ 
frage, Gesetzgebung in den verschie¬ 
denen Ländern 568; Beseitigung der 
Missstände in den Arbeiterwohnun¬ 
gen auf dem Lande 568. 

Wohnungspflege, Gesetz über dieselbe 
in Hamburg 312. 

Wunden des Herzens 630. 

Wurstvergiftung 701. 

Zahnärzte, Umgestaltung der Prü¬ 
fung 675. 

Zink, apfelsaures in Apfelschnitten 112. 

Zwangsvorstellungen bei Verbrechern 
76. 



Namen "V erzeichniss. 


Adnmkiewicz 543. 
Adickes 331, 334. 

Albers 360. 

Albrecht 567. 

Alter 408. 

Arnstein 218. 

Ascher 72, 101, 219. 

Ballet 11. 

Bar, von 126. 

Barth 384. 

Bartsch, von 147,174,180, 
194 n. Anhang, 3, 110. 
Battlehner 621. 

Bauer 360. 

Banmeister 332. 

Bebel 126. 

Becker 99, 546. 

Beckhaus 439. 

Berlepsch, von 124. 
Bessone 247. 

Beu 431. 

Blaschko 595. 

Bleisch 117, 308. 
Bötticher, von 125, 126, 
212, 213, 215, 216. 
Bosse 125, 140, 345, 352. 
Bra, de 76. 

Brandenburg 143. 
Brockhaus 462. 

Brouardel 219. 

Brunner 241. 

Büchner 16. 

Bülow, von 351. 

Bujwid 380. 

Burchard 214. 

Busch 359. 

Candela 246. 

Cazenenve 43. 

Cnyriem 358. 

Coester 193 u. Anhang 94. 
Corin 249, 484, 532. 

Dahmen 17. 

Dittrich 593, 613. 


Dornbluth 25. 

Dörfler 513. 

Döhle 77. 

Douglas, Graf 179, 344. 
Dunbar 45. 

Dyrenfurth 617. 

Elsner 274, 461. 

Elten 630. 

Emmerich 457. 

Endemann (Kassel) 126, 

212 . 

Endemann (Königsberg) 
598. 

Esinarch 627. 

Eykmann 376. 

Falk 543. 

Fielitz 57, 187 u. Anhang 
54, 66, 68, 69. 

Fischer 406. 

Flatten 8. 

Freyer 521. 

Freymuth 378. 

Friedrich 111. 

Fritsche 334. 

Fritzen 213. 

Gaflfky 455. 

Gebhardt 534. 

Gegner 597. 

Glogowski 9. 

Goldschmidt 178. 
Golebiewski 277. 

Gowers 385. 

Graf 144, 351. 

Grisar 195 u. Anhang 116. 
Günther 632. 

Haberda 394, 454, 594, 
601. 

Hagemann 417. 

Hartcop 592. 

Heidenhain 26. 

Heise 19. 

Hendel 334. 


Hertwig 18. 

Hirt 47. 

Hoelfel 126, 215. 
Hoffmann 515. 

Holleuffer, v. 211. 

Jacobson 187, 190, 465 
u. Anhang 23, 38, 39. 
Jäger 150, 358. 

Jerusalem 140, 143. 

Jolly 626. 

Ipsen 455. 

Iwanoff 598. 

Iwanowa 404. 

Kalle 336, 356. 

Kanzow 180, 190, 465 u. 

Anhang, 2, 67, 68,109. 
Karlinski 16. 

Karsten 187 u. Anhang 30. 
Katerbau 237. 

Kaufmann 50. 

Keferstein 201. 
Kerschensteiner, von 22. 
Kirchner 309. 

Kobert 275. 

Koch, A. (Zwiefalten) 100. 
Koch, R. (Berlin) 305,433, 
486. 

Körfer 515. 

Kolle 528. 

Kollm 197 u. Anhang 135, 
140, 144. 

Koppen 187 n. Anhang 
32, 145. 

Kornfeld 98. 

Kornstädt 597. 

Krafft-Ebing 409. 
Krannhals 118. 

Kühn 401. 

Kümmel 374. 

Kwilecki 46. 

Ladame 76. 

Landois 43. 



Namen - Verzeichniss. 


xxni 


Langerhans (Celle) 29, 60, 
81, 105, 129, 157. 
Langerhans (Berlin) 142, 
178, 215. 

Lebram 198. 

Lehmann 335, 596. 
Lenhartz 461. 

Lent 334. 

Leppmann 193, '511 und 
Anhang 80, 95, 145. 
Leseberg 187 u. Anhang 
26. 

Lesser 79. 

Lewin 625. 

Liersch 310. 

Liekiett 378. 

Litthauer 100 u. Anh. 66. 
Löblein 233. 

Lüttig 363. 

Lustig 276. 

Lydtin 375. 

Magnan 76, 633. 

Mair 221, 529. 

Muitzel 485. 

Marx 362, 569. 

Mattlies l:.7, 187, 441 u. 

Anhang 38. 

Mattiseu 431. 

Meudel 331. 

Menger 247. 

Merkel 116, 334. 

Mesnil, de 219. 

Mewius, Anhang 32. 
Meyhoefer 165, 193 u. 

Anhang 23, 96, 140. 
Mittenzweig 209,225, 281, 
313, 614 u. Anhang 109, 
111, 140. 

Möbius 187. 

Moeli 519. 

Molkenbulir 216. 

Moll 411. 

Monte fusco 433, 628. 
Moritz 95. 

Müller 405. 

Nauck 501. 

Neisser 532. 

Nesemann 2t. 

Nuttall 338. 

Ohlemann 493, 584. 
Ohlmiiller 19. 

Ostertag 48. 

Pactet 489. 

Pauly 361. 

Penkert 153. 


Petri 195, 460 n. Anhang 
113. 

Pettenkofer, von 367. 
Peyser 187,194 u. Anhang 
27, 45, 46, 107. 

Pfeiffer (München) 356. 
Pfeiffer (Berlin) 388,528. 
Pfuhl 432. 

Philipp 187, 194, 198 u. 
Auhang 28, 32, 38, 41, 
108, 144. 

Pilgrim, von 149, 352. 
Piudikowski 627. 

Plagge 219. 

Poniklo 218. 

Prausnitz 20, 336. 
Proskauer 514. 

Raabe 565. 

Rahts 244, 364, 366. 
Rapnmnd 183, 478 u. An¬ 
hang 5, 7, 15, 25, 30, 
32, 33, 38, 89, 40, 41, 
45, 46. 47, 49, 54. 

R‘nok 309. 

Krlitisch 413. 

Reich 621. 

Reimann 402, 591. 

Reinke 13. 

Rein bohl 17, 407. 

Reubold 509. 

Richter 71, 436, 577. 
Rickert 126. 

Ritter 453. 

Rohrs 453. 

Roth 187, 415 u. Auhang 
45, 46. 

Rother 168. 

Ruhner 459, 534. 

Rümeliu 358. 

Rusak 369, 451 508. 
Rzepuikowski 214. 

»Salomon 545. 
Sawtschenko 76. 

Scheier 624. 

Schilling 1, 217. 
Schlechtendahl 112 u. An¬ 
hang 30, 39. 

Schlüter 241. 

Schmidt 621. 

Schöfer 513. 

Schultz 41. 

Schnitze 310. 

Schulz Anhang 111. 
Schulze 521. 

Schumburg 531. 

Schräder 216. 

Schrank 533. 

Schruff 592. 


Seggel 242. 

Seitfardt 124. 

Scydel 217, 510, 512. 
Siemens 169, 302. 
Siemerling 330. 

Sioli 330. 

Stahl 595. 

Stauss 623. 

Steidle 358, 378. 

Stöcker 173. 

Stollberg - Wernigerode, 
Graf 213. 

Strack 221. 

Strassmann 191 u. Anh. 72. 
Strümpell 484. 

Stubben 568. 

Stumpf 242, 630. 

Tenholt 41. 

Tobicsen 16. 

Tsuboi 457. 

Trapp 219. 

Traugott 533. 

Uffclniann 309, 381. 

Uhl 46. 

Unruh, von 213. 

Veith 44. 

Venanzio 431. 

Virchow 213, 354. 

Vogel 118. 

Wallichs 187, 190, 193, 
198 u. Anhang 14, 15, 
26, 67, 69, 94, 111, 112, 
143, 144. 

Wassermann 383. 
Wehmer 187, 535 u. An¬ 
hang 31. 

Weigert 330. 

Weigmann 361. 

Wernich 187, 358, 375, 
535 u. Anhang 25. 
Weyl 50. 

Wichmann 336. 

Wiedner 198 u. Auhang 
46, 112, 143. 

Wiener 122, 278. 
Wiesemcs 361. 

Wilhelmi (Schwerin) 589. 
Wilhelmi (Swinemünde) 
237. 

Winckler 25. 

Woerner 623. 

Wolff 592 
Woltemas 614. 

Wurm 214. 

Zinn 303, 328. 





6. Jahr/?. 


Zeitschrift 

für 


1893 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rath u.^richtl.Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in Mimlci 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Medi/.inalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserat«, die durchlaufende Petit/.eile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlung und Rud. Hosse 

entgegen. 


No. 1. 


£rscheint am 1. and IS. jeden Monats. 
Preis Jährlich 10 Mark. 


1. Januar. 


Lage der Sachsengänger in den westlichen Provinzen. 

Von Kreisphysikus Dr. Schilling - Querfurt. 

Mit dem Wachsen der Zuckerindustrie in den mit schwerem 
Boden gesegneten Distrikten Sachsens stieg das Bedürfniss, für die 
Zuckerfabriken Arbeitskräfte aus der Nachbarschaft in grösserer 
Zahl heranzuziehen, um den Anbau der Zuckerrübe extensiver und 
intensiver zu gestalten und während der Winterkampagne genügend 
Leute zur schnellen Ausbeute zur Verfügung zu haben. Während 
die Benutzung der Maschinen in den letzten Jahrzehnten in den 
meisten Industriezweigen die Handarbeiter grossentheils entbehr¬ 
lich und vielfach brotlos machte, vermochte die Maschine die bei 
dem Rübenbau so nothwendigen mannigfachen landwirtschaft¬ 
lichen Verrichtungen der Hand, Pflanzen, Ziehen, Hacken, Gäten, 
Ausgraben und Mietenbauen, nicht zu ersetzen. Ja, die Nach¬ 
frage ging sogar so weit, dass nicht blos Erwachsene, sondern 
zu bestimmten Arbeiten wie das Rübenziehen selbst Kinder un¬ 
entbehrlich wurden, wodurch der Schuljugend allerdings eine Er¬ 
werbsquelle erwuchs, die jedoch sittlich und körperlich höchst nach¬ 
teilig wirkt. Die Kinder liegen nämlich halbe und ganze Tage lang 
auf dem Felde, essen wenig und trinken viel in der Hitze, und 
kehren erschöpft Abends spät nach Hause. Tags darauf sind sie 
noch müde und schlafen während des Unterrichtes in der Schule 
ein. Im Verkehr mit den halb Erwachsenen auf dem Felde lernen 
sie Lieder unmoralischen Inhaltes und Manieren, welche der Strassen- 
jugend eigen sind. Fällt ferner das Rübenziehen, wie meist, in 
die Zeit der Wiederimpfung, so entstehen in der Mai- und Juni¬ 
hitze durch das Reiben der Kleider bei dem Hantiren leicht Ent¬ 
zündungen und Eiterungen der Pocken, die zu länger dauernden 
Verschwärungen führen. 

Anfangs begnügte man sich, die benachbarten Ortschaften 








2 


Dr. Schilling. 


heranzuziehen, so viel der Betrieb erforderte. Die eine halbe oder 
ganze Stunde abwohnenden Arbeiter kamen Morgens auf das Land 
oder in die Fabrik und kehrten nach ihrer Arbeit Abends wieder 
in ihre heimathlichen Wohnungen zurück. Nur einzelne Unver- 
heirathete wurden gemeinschaftlich in kleine Zimmer am Orte des 
Fabrikanten eingemiethet. Als indessen der Zucker im Preise 
stieg und der Anbau des Getreides zurückging, weil der inlän¬ 
dische Markt von fremdem Getreide überschwemmt wurde, auch 
die Ortsangesessenen in Fabrikstädte zogen, wo sie höheren Lohn 
und ein genussreicheres Leben fanden, richteten die grösseren Land- 
wirthe ihre Blicke nach Auswärts, namentlich nach den östlichen 
Gegenden, aus denen alljährlich viele Auswanderer nach Amerika 
gingen. Die Fremden kamen nach dem Westen, wurden aber nicht 
ansässig — nur wenige verheirateten sich oder gingen dauernd 
in Dienst und blieben hier —, sondern kehrten nach vollbrach¬ 
ter Arbeit im Herbst wieder in ihre alte Heimath zurück. 

Der eigentliche Beginn des Zuzuges derartiger Arbeiter aus 
dem Osten nach Sachsen lässt sich, soweit meine Ermittelungen 
reichen, nicht mehr genau feststellen. In der Mitte der Sieben¬ 
ziger war das Erscheinen der „Polacken“, wie die Landsleute pol¬ 
nischer Zunge hier heissen, die in Sitte, Kleidung Und Sprache 
fremd erschienen, auffallend; alljährlich nahm der Strom zu und 
erreichte die heute bekannte Höhe von vielen Tausenden. Die im 
Frühjahr ankommenden und im Herbst abgehenden zahlreichen 
Expresszüge legen Zeugniss ab, zu welchem Maasse die Auswan¬ 
derung gestiegen ist, ohne dass man schon jetzt mit Recht sagen 
könnte, es sei der Kulminationspunkt erreicht oder überschritten, 
weil bereits jeder grössere Bauer sich Polacken anwirbt. Sie 
kommen aber längst nicht mehr aus Posen und Schlesien, sondern 
auch aus Ost- und Westpreussen, und zu Zeiten von Arbeitermangel 
sogar aus Russisch - Polen und Galizien. Auch haben sie längst 
Sachsens Grenze überschritten und sind nach Anhalt, Braunschweig, 
Hannover, Hessen und Westfalen vorgedrungen, weshalb die Be¬ 
zeichnung „Sachsengängerei“ längst nicht mehr zutrifft. 

Die sozialen Verhältnisse der ländlichen Arbeiter im Osten, 
welche die Liebe zur Arbeit und Sesshaftigkeit vielfach ersticken, 
erinnern oftmals an Leibeigenschaft und Frohndienste. Wer als Arzt 
Gelegenheit hatte, die Zustände an Ort und Stelle kennen zu lernen 
und nicht dort geboren und erzogen ist, begreift sehr wohl, dass sich 
die Sachsengänger im Westen wohler fühlen, da nicht blos die Er¬ 
werbsverhältnisse, sondern auch die Ernährung, Wohnungen und 
besonders die Behandlung im Durchschnitt günstiger sind. Aller¬ 
dings darf man nur sagen im Durchschnitt, denn es treten auch 
hier in Folge des gedrängten Zusammenwohnens Missstände zu 
Tage, die nicht blos die Pfleger der Moral, sondern auch der 
öffentlichen Hygiene dringend zur Abhilfe auffordern; nur der 
Agrarier, welcher den fremden Arbeiter als blosses Erwerbsmittel 
betrachtet, kann die Augen davor verschliessen. 

Während im Jahre 1857 im Kreise Querfort nur 8 Zucker¬ 
fabriken bestanden, bei denen nur 235 Arbeiter und zwar blos 



Lage der Sachsengänger in den westlichen Provinzen. 


3 


einheimische beschäftigt waren, bestehen jetzt 6 und weit grössere 
Fabriken, zu deren Unterhaltung nicht weniger als ca. 8000 meist 
ausländische, d. h. nichtsächsische Leute thätig sind. Schon die 
dreissigfache Zunahme der Zahl in etwa 15—20 Jahren musste 
nothwendig ungesunde Zustände hervorrufen, denen trotz der ge¬ 
setzlichen Reglements der Arbeiterverhältnisse schwer abgeholfen 
werden konnte. Dazu kommt, dass früher die Grossgrundbesitzer 
allein fremde Arbeiter in gemeinschaftlichen Wohnungen, sog. Ka¬ 
sernen, hielten; jetzt hat aber jeder grössere Bauer von April bis 
November mehrere polnische Mädchen, weniger Knechte, im Dienste, 
die er grossentheils in dunkle unheizbare Kammern unterbringt. 

Wie sich die Lage der fremden Arbeiter in der Provinz 
Sachsen gestaltet, lässt sich aus der Beobachtung der einschlägigen 
Verhältnisse unseres Bezirkes genügend ersehen. Magdeburg und 
Erfurt weichen wenig von Merseburg ab. 

Magdeburg mit der reichen Börde scheint schon früh das 
Ziel der Auswanderer gewesen zu sein, denn hier ist bereits 1857 
ein Polizei - Reglement über die Unterbringung und Haltung der Fa¬ 
brikarbeiter oder in grösseren Landwirtschaften be¬ 
schäftigten auswärtigen Arbeiter erlassen, welches dann 
im Jahre 1858 auch für Merseburg Geltung erhielt. Als Grund 
des Erlasses wurde angeführt, dass die Arbeiter in grösseren Fa¬ 
milienhäusern auf eine ihr leibliches und geistiges Wohl gefähr¬ 
dende Weise untergebracht würden, wodurch nicht selten der Ver¬ 
breitung ansteckender Krankheiten Vorschub geleistet würde. Das 
in unserm Amtsblatte seiner Zeit veröffentlichte Reglement ent¬ 
hält so treffende Vorschläge zur Abhilfe, dass sie noch heute als 
Muster dienen können, und, weil sie noch heute giltig siud, allge¬ 
meine Beachtung verdienen. Sie lauten mit einigen Abkürzungen 
wie folgt: 

§. 1. Jeder Besitzer einer Fabrikanstalt, bei welcher auswärtige Arbeiter 
zu Zwecken der Fabrik oder der Landwirtschaft beschäftigt werden, muss für 
die Unterbringung der Arbeiter in Arbeitshäusern, welchen die in den §§. 2—6 
dieses Reglements vorgeschriebenen Einrichtungen zu geben sind, sorgen und 
kann hierzu durch Exekutionsmassregeln angehalten werden. 

Kompetent ist zunächst die Ortsbehörde; wenn aber der Inhaber der¬ 
selben ein Interesse bei der Fabrik hat, der Landrath des Kreises. 

§. 2. Die Arbeitshäuser müssen enthalten: 

1) Schlaf- und Wohnungsräume behufs strenger Abson¬ 
derung der Geschlechter; 

2) getrennte Krankenstuben für jedes der beiden Ge¬ 
schlechter; , 

3) einen besonderen Raum zum Kochen und Waschen 
sowie zum feuersichern Trocknen der Wäsche und 
nassen Kleidungsstücke; 

4) sofern einzelne Familien darin Aufnahme finden sollen, besondere 
Zimmer für einzelne Familien; 

5) nach dem Ermessen der Ortspolizeibehörde bezw. des Kreislaml- 
raths besondere Schlaf- und Wohnungsräume für jugendliche Ar¬ 
beiter und schulpflichtige Kinder. 

§. 3. Die im §. 2 zu 1, 2, 4 und 5 gedachten Räume müssen mindestens 
1 Fuss über dem Erdboden liegen, mit einem festen und trocknen Fuss- 
boden und schliessenden Thüren und Fenstern versehen, geweisst und min¬ 
destens 7 Fuss — neu zu erbauende — hoch sein. 

§. 4. Die Lagerstätten in denselben müssen mindestens 1 Fuss über 



4 


Dr. Schilling. 


dem Fussboden erhoben sein und ans dem erforderlichen Stroh resp. einem 
Strohsack and einer mindestens 3 Fass breiten wollenen Decke bestehen. Ausser¬ 
dem sind in diesen Räumen angemessene Vorrichtungen zur Heizung und Er¬ 
leuchtung, beides jedoch nur, sofern dieselben auch im Spätherbst und Winter 
benutzt werden, anzubringen. 

§. 5. In angemessener Entfernung von dem Arbeitshause sind Latrinen 
in gehöriger Anzahl, und für beide Geschlechter gesondert, an¬ 
zubringen. 

§. 6. Der Fabrikbesitzer ist verpflichtet, einen besonderen Aufseher für 
das Arbeitshaus zu halten und demselben darin freie Wohnung anzuweisen. 

§. 7. 1) In den zur Aufnahme der Arbeiter bestimmten Räumen dürfen 
nicht mehr Personen untergebracht werden, als mit Rücksicht auf 
die Grösse der Räume und die Sittlichkeit für zulässig erachtet wird; 

2) die verschiedenen Geschlechter dürfen nur in den für sie bestimmten 
Räumen untergebracht werden; 

3) Familienwohnungen dürfen nur von einer Familie bewohnt werden; 

4) im Falle der Erkrankung eines Arbeiters an einer ansteckenden 
Krankheit muss die Ortspolizeibehörde binnen 24 Stunden hier¬ 
von benachrichtigt und der Kranke isolirt untergebracht 
und gewartet werden; 

5) die Wohnungsräume müssen täglich gehörig gereinigt und gelüftet, 
auch alljährlich frisch geweisst werden; 

6) das Lagerstroh muss von 14 Tagen zu 14 Tagen erneut, die Stroh¬ 
säcke alle 2 Monate mit frischem Stroh gefüllt und die Ueberzilge 
gewaschen werden. Die Wolldecken sind halbjährig zu walken; 

7) der Raum um das Arbeitshaus muss rein gehalten, auch die La¬ 
trinen mindestens wöchentlich gescheuert und nach Befinden der 
Ortspolizei so oft als erforderlich geräumt werden. 

§. 8. Der Fabrikbesitzer hat allen in dem Arbeitshause untergebrachten 
auswärtigen Arbeitern täglich einmal warme Kost zu verabreichen 

§. 9. Jedem auswärtigen Arbeiter ist, bevor er beschäftigt werden darf, 
von dem Fabrikbesitzer eine Arbeitskarte auszufüllen. Vorher hat der Arbeiter 
seine Legitimationspapicre vorzulegen. 

§. 10. Der Fabrikbesitzer, welcher gegen §. 7 verstösst, verfällt einer 
Geldstrafe von 3—10 Thlr. für jeden Contravcntionsfall 

§. 11. Die Ortspolizeibehörde hat für jedes Arbeitshaus eine polizeiliche 
Verordnung zu erlassen, durch welche die häusliche Ordnung bestimmt wird 
und nach welcher Zuwiderhandlungen der Arbeiter mit Strafe bedroht werden. 
Dieselbe ist in allen Wohn- und Schlafräumen des Hauses anzuschlagen. 

§. 12. Die Vorschriften finden auch hinsichtlich der auf Landgütern 
zu ökonomischen Zwecken beschäftigten auswärtigen Arbeiter 
Anwendung. 

Gelegentlich einer Revision der meisten Kasernen und Ar¬ 
beiterhäuser unseres Kreises vor 2 Jahren in Gemeinschaft mit dem 
Landrath stellte sich heraus, dass bisher in der Anlage nur neue 
Wohnungen, namentlich Einzelhäuser, den gesetzlichen Anordnungen 
entsprachen, dass hingegen die alten Dominien zum Theil schreck¬ 
liche, höchst ungesunde und mangelhafte Wohnräume besassen, 
an denen des Reglements Paragraphen spurlos verhallt waren. Es 
fehlen grösstentheils getrennte Wohn- und Schlafräume, so dass eine 
Begegnung der verschiedenen Geschlechter bei Tage wie bei Nacht 
leicht möglich ist. Wo der Zugang zwischen benachbarten oder 
über einander gelegenen Stuben nicht offen steht, steigen die 
jungen Burschen Abends durch die Fenster in die Stuben der 
Mädchen oder umgekehrt, wie ich es eines Abends erlebte, als die 
vom Tanze heimkehrenden Mädchen vom Hofmeister ausgeschlossen 
waren, nicht in ihre Stuben kommen konnten und in die der Bur¬ 
schen einstiegen. Trotz der an den Thüren angenagelten Haus- 



Lage der Sachsengiinger in den westlichen Provinzen. 


5 


Ordnung kommen selbst am Tage derartige Unsittlichkeiten vor, 
gegen die wahrscheinlich die grössten Anhänger der modernen 
ethischen Kultur vergeblich ankämpfen werden. Zum grossen Theil 
waren die Wohnstuben überfüllt, es standen 2—3 Betten wie in 
Militärkasernen übereinander längs der Wände und inmitten der 
Stube, die bei den Mädchen noch Koch-, Wasch- und Trockenraum 
bildete. Hier entwickelt sich deshalb reichlich feuchte, dumpfe 
Luft während des Tages in grosser Menge, die Nachts wegen 
der Scheu und der Faulheit zu lüften, noch schlechter wird. Zum 
Glück haben die Verheiratheten, deren Zahl hierorts sehr gering 
ist, das Bestreben, nur isolirte oder mit einem besonderen Eingang 
versehene Zimmer zu beziehen. Unangenehm wirkt das Zusammen¬ 
wohnen alter, dem Schnapstrinken und der Liderlichheit ergebener 
Weiber mit jungen Mädchen, denn nirgends verdirbt sclilechtes 
Beispiel mehr die guten Sitten als bei der empfänglichen Jugend. 
Das Lager befand sich vielfach zu ebener Erde auf den Dielen, 
über den Backsteinen oder gar direkt unter dem Dache und so 
dicht eins an dem andern, dass Bett an Bett stiess und der 
Arzt Mühe hat, an ein Krankenbett zu kommen. Unter dem Dache 
fehlte natürlich jede Heizanlage; die im November herrschende Kälte 
wird durch die natürliche Ventilation des durch die Lücken der 
Ziegel wehenden Windes noch vermehrt und ohne Gefährdung der 
Gesundheit entgeht selbst die abgehärtete Natur eines bei —3°C. 
barfuss oder ohne Strümpfe in Stiefeln gehenden Polenmädchens 
nicht immer der Schädlichkeit dieses Nachtquartiers. Wie oft das 
Stroh in den Strohsäcken erneuert wird, liess sich nicht ermitteln, 
doch geschieht es sicherlich höchstens alle Jahr einmal. 

Höchst unzugänglich waren die Abortanlagen auf den meisten 
Dominien. Nur hier und da gab es wirklich Aborte mit Sitz und 
Brille, getrennt für beide Geschlechter und in sauberem Zustande. 
Vielfach bestand als Latrinenraum ein einfacher Bretterverschlag, 
welcher nach der angrenzenden Düngergrube zu offen war und 
einen blossen Querbalken zeigte, auf den sich sans gene Männlein 
und Fräulein bei der Defakation niedersetzt. 

Die Anzeige des Ausbruches ansteckender Krankheiten ge¬ 
schieht seitens der Aerzte jetzt regelmässig dort, wo die Arbeiter 
einer Krankenkasse angehören. Meist weiden aber nur die Männer 
ärztlich behandelt, — die Mädchen sind meist nicht Mitglieder 
der Kasse —, und zwar in ihrer Stube, soweit es die Schwere der 
Krankheit und die Pflege durch Bekannte oder Verwandte zulässt. 
Ansteckende Kranke werden in die Isolirstube gebracht, wo eine 
existirt, selten in ein benachbartes städtisches Krankenhaus über¬ 
geführt, in der Regel aber in ihrer Stube gelassen. Der Mangel eines 
Kreis - Krankenhauses, dessen Zweck bei eiuer Zahl von 6—8000 
Arbeitern noch geleugnet wird, verschuldet, dass es selten bei einer 
Erkrankung bei Typhusausbruch, Krätze, Syphilis etc. bleibt, son¬ 
dern stets sich mehrere Fälle anschliessen. Schwere, eines grösseren 
operativen Eingriffes bedürfende Patienten werden in die Klinik 
verwiesen, deren Kosten bis zur dreizehnten Woche bekanntlich 
die Krankenkasse trägt. Wie die Reinigung der Zimmer, so ist 



6 


Dr. Schilling. 


die des Körpers ausserordentlich mangelhaft, Morgens früh gehen 
die Mädchen und Burschen meist ungewaschen zur Arbeit und 
kehren Abends spät ermüdet zurück; eine oft centimeterhohe Dreck¬ 
schicht bezeichnet auf Treppe und Dielen die Spuren des Auf- 
und Abganges. 

Die Kost ist quantitativ genügend, enthält Animalien und 
Vegetabilien, darunter jedoch die nahrhaften Leguminosen; dagegen 
lässt sich gegen die Zubereitung derselben nicht immer jedes Be¬ 
denken unterdrücken. Um nur ein Beispiel der ein für alle Mal 
festgesetzten Kost herauszugreifen, so giebt es auf einem von 150 
Arbeitern bewohnten Gute von Sonntag bis Sonnabend Mittags: 
Klos, Erbsen, Graupen, weisse Bohnen, Reis, Erbsen, Bohnen; 
Abends: dreimal Suppe und Fleisch oder Häring mit Kartoffeln; 
Morgens: Kaffee, zu dem sich die Leute selbst Brot kaufen müssen. 

Die Behandlung durch die Vorgesetzten ist human, so lange 
nicht Widersetzlichkeit in hohem Masse den Stock in Bewegung 
setzt; indessen ist das Selbstbewusstsein der meisten Sachsen¬ 
gänger bereits so weit entwickelt, dass sie sich nicht leicht einer 
Misshandlung aussetzen, ohne klagbar zu werden, während ich in 
schlesischer Gegend unter den Arbeitern oft hörte, dass der Pole 
nichts tauge, wenn er keine Prügel bekäme. 

Die sanitären Uebelstände summiren sich kurz dahin, dass 
die Wohnungsräume grösstentheils überfüllt, oft sehr feucht, dumpf 
und vielfach überaus schmutzig sind und Tags über ohne Venti¬ 
lation bleiben; dass Krankenpfleger nur da funktioniren, wo Ge¬ 
schwister den Kranken zur Seite stehen; dass eine Krankendiät 
unbekannt ist und die körperliche Reinlichkeit aus Mangel an 
Waschbecken, Handtüchern und Seife die grösste Vernachlässigung 
erfährt. Ferner widerspricht es dem Anstandsgefühl und giebt 
gelegentlich zu Ansteckungen Anlass, wenn Querbalken als Aborte 
für Jung und Alt, Burschen und Mädchen dienen. Schon das Auge 
eines Fremden wendet sich mit Widerwillen ab, wenn es diese 
Stätten zufällig sieht. 

Die Abhilfe gegen diese aufgedeckten Schäden ist in obigem 
Reglement zur Genüge gegeben. Es kommt aber darauf an, dass 
die in dem Reglement näher bezeiclmeten Paragraphen mit Strenge 
gehandhabt werden. Allein durch allwöchentliche Revisionen, 
welche Exekutivbeamten übertragen werden, und häufige Berichte 
an den Landrath, denen Geldstrafen gegen Säumige folgen, wird 
Besserung der Lage der ländlichen Arbeiter erzielt. Gutsbesitzer 
eignen sich nicht immer zur überwachenden Polizeibehörde. 

Nachträglich mögen noch einige Worte über falsche An¬ 
sichten folgen, die man hin und wieder hinsichtlich der Sachsen¬ 
gängerei vorbringt und vertheidigen hört. Dass die Auswanderung 
für die östlichen Gegenden, welche dadurch ihrer besten Arbeits¬ 
kräfte beraubt werden, höchst nachtheilig wirkt, bedarf keines 
Beweises. Der Arbeitermangel ist aber nicht der einzige Nachtheil. 
Die Arbeiter verlieren, indem sie von Ort zu Ort ziehen, und bald ein 
Jahr hier, bald dort arbeiten, das Gefühl der Sesshaftigkeit und 
verfallen einem reinen Nomadenleben. Das Nomadenleben demo- 



Lage der Sachsengänger in den westlichen Provinzen. 


7 


ralisirt in hohem Masse und lockert die Familienbande, indem die 
Jugend nicht erzogen wird und jeder korrigirenden Aufsicht an 
dem fremden Wohnorte ermangelt. Viele junge, kaum der Schule 
entrückte Mädchen und Burschen leben zu 80, 100 bis 150 mit 
unmoralischen Weibern und halbwüchsigen liderlichen Bengels 
zusammen, sehen das unsittliche Treiben Tags über, Sonntags im 
Gasthause und Abends auf der Strasse oder in der eigenen Stube, 
lernen das Schnapstrinken, acquiriren Geschlechtskrankheiten und 
verfallen andern Lastern. Schon 17—18 jährige Mädchen werden 
schwanger, und uneheliche Kinder, oft nachträglich Kindesmord, 
sind die Folgen dieses Treibens. — Schliesslich ist nicht zu unter¬ 
schätzen, dass der Körper zur Zeit seines besten Wachsthums 
schon intensiv abgenutzt wird, schnell verfallt und der Arbeiter 
als Invalide der Heimath später zur Last fällt. 

Dagegen beschuldigt man mit Unrecht den Aufenthalt in 
Sachsen als alleinige Ursache der wachsenden Unmoral und glaubt 
vielfach, die Anhänger der evangelischen Religion stünden in dieser 
Hinsicht schlechter da als die der katholischen. Zweifellos waltet hier 
einjgrosser Irrthum ob. Wo ein starker Conflux jugendlicher Arbeiter 
und Arbeiterinnen ,sei es in den Städten oder auf dem Lande, stattfin¬ 
det, tritt das Laster in evidenterem Lichte zu Tage, weil die Gelegen¬ 
heit Diebe macht, gegen welche die Prediger der Moral ihre 
Waffen richten mögen. Dass aber evangelische Mädchen häufiger 
schwanger werden als katholische, wie ich von schlesischen Pfar¬ 
rern ehemals hörte, kann ich nicht bestätigen. Hier hat sich 
gerade der stundenweite Weg an Fest- und Sonntagen über Land 
zu der weit abliegenden katholischen Kirche, von der sie nicht direkt 
wieder nach Hause, sondern oft erst in’s Gasthaus gehen, um spät 
Abends zurückzukehren, als Gelegenheit zu sexuellen Ausschwei¬ 
fungen und Ansteckungen erwiesen. Ueberhaupt wird die erste 
Ansteckung selten oder gar nicht hier acquirirt, sondern in der 
Regel bringen halbwüchsige Burschen oder entlassene Militärs 
oder unsaubere Mädchen den Krankheitskeim mit, mag es sich um 
Trachom, Gonorrhoe, Syphilis oder Krätze handeln. Die Krank¬ 
heitsfälle mehren sich dann später hier in Folge des dichten Zu¬ 
sammenwohnens. Trachom bricht meist hier im Hochsommer epi¬ 
demisch aus, weil die Beschäftigung im Staub und Schmutz der 
Landwirtschaft, der Mangel an körperlicher Reinlichkeit und die 
geringe Neigung zu lüften, die Entwickelung begünstigen und 
Uebertragung vermitteln. Gonorrhoe und Syphilis ist meist aus 
der Grossstadt importirt, Militärs und Dienstmädchen infizireu sich 
während ihres Aufenthaltes dort und werden die Quelle neuer Er¬ 
krankungen. Die Krätze stirbt auf vielen östlichen Gütern nicht 
aus, das Zusammen wohnen während des Winters und das Reisen 
in vollgefüllten Eisenbahnwagen sorgt für schnelle Verbreitung, 
der hier zu Lande eine grössere Aufmerksamkeit als dort ge¬ 
schenkt wird. 

Abgesehen von diesen unleugbaren und schwerwiegenden 
Missständen hat das Wandern aus den armen Distrikten des Ostens 
nach den reicheren des Westens ausserordentliche Vortheile, die 



8 Dr. Fl&tten: Zur Frage der Identität von Masern und Rötheln. 

nicht blos dem materiellen Gewinn, sondern dem Kulturleben eines 
Yolksstammes zu Gute kommen. Die Arbeit auf dem Felde ist 
schwer und anstrengend, aber lohnend im Hinblick auf den kärg¬ 
lichen Lohn im Osten. Die Kost ist kräftig und immerhin ge¬ 
nügend. Der materielle Gewinn, der sich nach den Berechnungen der 
Post auf viele Millionen Mark alljährlich beläuft, wird zum grössten 
Theil zur Unterstützung von Eltern und Verwandten oder Kinder 
nach Haus geschickt, am wenigsten selbst verbraucht oder ver¬ 
prasst, wie man im Osten oft hört; die Lebensweise der Arbeiter 
bleibt hier eine einfache und anspruchslose, trotz des höheren Ver¬ 
dienstes. Die nicht blos einmal nach Sachsen Gehenden, sondern 
öfter Wiederkehrenden lernen mit der Zeit Deutsch sprechen, 
nehmen deutsche Gewohnheiten und Lebensweise an, kleiden sich 
weniger bunt und auffällig und tragen bald Fussbekleidung wie 
die hier erzogenen sächsischen Arbeiter, kurz, sie werden ger- 
manisirt in einer Weise, welche dem Staate nicht Tausende 
kostet wie der doppelzüngige Unterricht und der Kampf des Deutsch¬ 
thums gegen das Polenthum in Posen und Schlesien. 


Zur Frage der Identität von Masern und Rötheln. 

Von Dr. Platten, Kreisphysikus in Wilhelmshaven. 

Henoch 1 ) erklärt, er habe noch nie eine grössere Epi-oder 
Endemie von Rötheln gesehen und er sei daher ausser Stande, 
ein Urtheil zu Gunsten ihrer Selbstständigkeit zu fällen. Ich er¬ 
achte daher nachfolgende Mittheilung für einen vielleicht nicht 
werthlosen Beitrag zu dieser Frage. 

Im Jahre 1890 herrschten in dem Flecken Wittmund und in 
Wilhelmshaven umfangreiche Masernepidemien, nach welchen 
1891 in der nördlichen Hälfte des Kreises, die übrigens im Ge¬ 
gensätze zur anderen Hälfte durch die von Wilhelmshaven aus 
über Wittmund verlaufende Küstenbahn der Einschleppung von 
Krankheiten in höherem Grade zugänglich ist, Masernepidemien in 
fast allen Gemeinden auftraten. Nur eine Gemeinde, Ochtersum, 
erhielt statt der Masern eine Röthelnepidemie, während in den 
umliegenden Gemeinden nur Masern vorkamen. Aber auch hier 
fanden sich 3 Masernkranke; die anderen Kinder erkrankten 
an Rötheln. 

Man könnte in diesem Falle neben einer Masernepidemie 
eine Röthelnepidemie annehmen, könnte aber auch die Rötheln für 
milde Masern halten, da ja das Röthelndorf auch über einige 
Masernfalle gebot. 

Einwandfreier als diese Röthelnepidemie ist folgende Beob¬ 
achtung. 

Etwa ein Jahr später, im März 1892, konstatirte ich in der 
im Bereiche des im Vorstehenden erwähnten Maserndistriktes des 
Kreises gelegenen Gemeinde Westeraccum eine Röthelnepidemie 

’) Vorlesungen über Kinderkrankheiten. 1881; l». *>07. 



Dr. Glogowski: Ein einfacher Dampfdesiufektionsapparat. 


9 


nachdem im Februar 1891 ebenda intensive Masern epidemisch 
geherrscht hatten. Von 40 Kindern einer Klasse der Gemeinde¬ 
schule waren 1 8 an Rötheln erkrankt, nachdem sie ein Jahr zu¬ 
vor die Masern überstanden hatten. Diese 18 Kinder waren also 
durch die Masern nicht röthelnimmun geworden. 

Auch die Mehrzahl der übrigen, im Jahre zuvor nicht masern¬ 
krank gewesenen Kinder war an Rötheln erkrankt. 

Wäre die Beobachtung die umgekehrte, hätten die Kinder 
nach den Rötheln die Masern bekommen — derartige Fälle führt 
Strümpell 1 ) gegen die Identität von Masern und Rötheln vor — 
so spräche dies allerdings ebenfalls für die Verschiedenheit beider 
Krankheiten, es wäre dies aber kein vollkommener Beweis. Es 
ist in solchem Falle immerhin mit der Möglichkeit zu rechnen, 
dass die Rötheln, obschon ätiologisch identisch mit den Masern, 
dennoch nicht ausreichen, um masernimmun zu machen, weil sie 
eine mildere, weniger virulente Form derselben Krankheit dar¬ 
stellen. 

Dass aber Masern nicht einmal für 13 Monate röthelnimmun 
machten, spricht noch deutlicher gegen die Identität beider Krank¬ 
heiten. 


Ein einfacher Dampfdesinfektionsapparat. 

Von Dr. Glogowski, Kreiswundarzt in Kempen. 

Die herrschende Cholerafurcht hat im Vorjahre wenigstens 
den Vortheil, dass das Verständniss für einige Fragen der Gesund¬ 
heitspflege tiefer ins Volk gedrungen ist, womit zugleich die Ver¬ 
waltungsbehörden geneigter wurden, Ausgaben für hygienische 
Zwecke zu bewilligen. Mancher Kollege wird jetzt den Ankauf 
vieler Gegenstände erreicht haben, um die er sich früher vergebens 
bemühte. Durch verschiedene MinisterialVerfügungen wurde darauf 
hingewiesen, wie wünschenswerth die Beschaffung von Desinfek¬ 
tionsapparaten wäre. Es kann jedoch, namentlich in dem ärmeren 
Osten der Monarchie den Kreis Vertretungen nicht zugemuthet 
werden, so viele von den theuren Apparaten anzuschaffen, wie bei 
dem Auftreten einer ausgedehnten Choleraepidemie notliwendig sein 
dürften — schon die Beschaffung eines einzigen grossen Apparates 
für’s Krankenhaus muss hier rühmend anerkannt werden. 

Unter diesen Erwägungen trat an mich amtlich die Frage 
heran, ob ich nicht einen Apparat angeben könne, der vielleicht 
bei geringen Kosten den gewünschten Zweck erfülle. Ich ging 
auf die Frage ein, weil man im praktischen Leben mit dem Er¬ 
reichbaren zufrieden sein muss, auch wenu es sich nicht voll¬ 
ständig mit dem Wünschenswerthen deckt. Ohne mich auf eine 
Entscheidung darüber einzulassen, ob heisse Luft oder strömende 
Dämpfe besser desinfiziren, hielt ich mich an die in der bekannten 
Ministerialverfügung vom; 18. Juli 1884 angegebene Instruktion zur 
Vornahme der Desinfektion bei Cholera, in welcher es unter Nr. 6 


*) Lehrbuch der spez. Patli. und Ther. 1890; p. 77. 



10 


Dt. Glogowski: Ein einfacher Dampfdosinfektionsapparat. 


heisst: „Zur Ausführung der Desinfektion mittelst heisser Wasser- 
dümpfe sind nur solche Apparate geeignet, in welchen ein fort¬ 
währendes Durchströmen von heissen Wasserdämpfen durch den 
Desinfektionsraum stattfindet, und bei welchen die Temperatur der 
Wasserdämpfe im Desinfektionsraume überall mindestens 100° C. 
beträgt. Diese Bedingung wird erfüllt, wenn ein in die Oeffnung, 
durch welche der Dampf den Apparat wieder verlässt, gebrachtes 
Thermometer die Temperatur von 100° C. erreicht.“ 

Im weiteren Verfolg der ebenda ausgesprochenen Ideen kam ich 
zur Konstruirung eines sehr einfachen Desinfektionsapparats, der bil¬ 
ligen Anforderungen völlig entsprechen dürfte, und den ich nach mei¬ 
nen Erfahrungen den Kollegen zur Anwendung empfehlen kann. Er 
ist folgendermassen gebaut. In einen runden Mantel aus starkem 
Eisenblech von 63 cm Höhe und 56 cm Durchmesser wird ein 
gusseiserner Kessel (in jedem Eisenladen käuflich) von 52 cm 
Durchmesser und 33 cm Tiefe eingehängt, was dadurch erreicht 
wird, dass der Kessel einen 5 cm breiten freien Rand hat. Letzterer 
hat eine etwas nach oben geschweifte Kante von Vs cm Höhe. 
Der Blechmantel, unten offen, wird einfach auf die Erde gestellt; 
er hat vorn eine kleine Thür zum Hineinwerfen des Heizmaterials 
und auf der entgegengesetzten Seite ein etwa 1,5 m langes 
knieförmiges Rauchrohr. Auf den erwähnten Kessel wird nun ein 
Holzbottich gestellt, der aus gutem Material angefertigt und sorg¬ 
fältig gefugt sein muss. Um ein möglichst luftdichtes Anliegen 
des Bottichs an dem Kessel zu bewirken, ist ersterer an seinem 
unteren Rande aussen mit einer nicht zu dicken Gummilage um¬ 
geben. Der Bottich ist wegen des besseren Schwerpunktes leicht 
konisch gebaut, 1,10 m hoch, mit einem lichten Durchmesser von 
unten 56, oben 50 cm; um das Herabfallen bei stärkerer An¬ 
füllung zu verhindern und zugleich einen besseren Verschluss 
des Kessels zu bewirken, wird er durch 3 kleine Haken an Oesen 
befestigt, die im Heizmantel angebracht sind. Der Bottich wird 
durch 4 feste eiserne Reifen zusammengehalten; sein Boden ist, 
um den Dampf durchzulassen, mit etwa 20 Löchern versehen, 
während auf dem Deckel sich nur 2 Löcher befinden, eines zur 
Aufnahme des Thermometers, welches in einem durchbohrten Korke 
während der ganzen Desinfektion sich dort befindet, und das zweite 
zur Aufnahme eines Messinghahnes, der zum Ablassen des über¬ 
schüssigen Dampfes dient. Ausserdem sind am Deckel innen 
mehrere Messinghaken angebracht zum Aufhängen der zu des- 
infizirenden Gegenstände. Auf der vorderen Wand endlich dieses 
Bottichs, zwischen dem obersten und dem zweiten eisernen Reifen, 
ist ein viereckiges Loch herausgeschnitten von je 30 cm Länge 
und Breite. Dieses Loch ist an seiner Umrandung mit einer 
dünnen Gummilage versehen und wird durch eine entsprechend 
geformte Thür aus starkem Eisenblech, die sich in zwei Angeln 
bewegt, verschlossen. Zum festeren Verschluss dient ein querer 
Eisenbügel, der zunächst mechanisch an dem Bottich befestigt und 
alsdann durch eine Schraube angedrückt wird, von demselben 
Mechanismus, wie er bei dem Verschluss der hermetischen Ofen- 



Kleinere Mtttheilongen und Referate aus Zeitschriften. 


11 


tliüren Anwendung findet. Dieses Loch dient dazu, die zu des- 
infizirenden Gegenstände in den Apparat zu bringen und von da 
wieder herauszunehmen. 

Der Gebrauch des Apparates ergiebt sich von selbst. In den 
Kessel kommt etwa die Hälfte Wasser, welches durch das unter¬ 
halb befindliche Feuer ins Kochen gebracht wird. Die sich ent¬ 
wickelnden Dämpfe gelangen in den Bottich und durchsetzen die 
in ihm befindlichen Gegenstände. 

Ich habe bereits sechs derartige Apparate anfertigen lassen, 
sie alle zeigten bei der Prüfung an der Ausströmungsöffnung des 
Dampfes anhaltend Temperaturen von 98 bis 100° C. Die Bottiche 
können entweder gefüllt auf den Kessel gestellt oder erst oben 
gefüllt werden. 

Die oben angegebenen Dimensionen sind natürlich nicht die 
einzig richtigen; ich habe sie nur gewählt, weil sie mir für die 
hiesigen Verhältnisse am besten zu passen schienen. Ich habe 
einen viel grösseren Apparat anfertigen lassen, der immer noch 
96° zeigte. Die geringere Temperatur dürfte für den Endzweck 
ohne Einfluss sein, da ja die meisten krankheiterregenden Bazillen 
und speziell der Cholerabacillus bei noch niedrigeren Temperaturen 
absterben. Der Apparat hat meines Erachtens folgende Vorzüge: 

1. Er ist sehr leicht herzustellen — von einem geschickten 
Böttcher in 2 Tagen. 

2. Er ist leicht transportabel event. auf einem Handkarren. 

3. Es kann jedes Brennmaterial benutzt werden. 

4. Er kann überall aufgestellt werden, am besten im Freien. 

5. Er verlangt keine geschulte Bedienung, eine zuverlässige 
Person, die eine Thermometerskala zu lesen versteht, genügt. 

6. Endlich, was doch sehr in Betracht kommt, er ist billig 
(Preis beim hiesigen Böttcher 50 Mark). 

Es braucht wohl nicht erst hervorgehoben zu werden, dass 
ich den geschilderten Apparat nur als einen Nothbehelf ansehe, 
der nur da in Anwendung zu ziehen ist, wo die Bevölkerung keine 
grossen Bettstücke, Matratzen u. dergl. besitzt, wie dies wohl bei 
der Landbevölkerung des Ostens fast durchweg zutrifft. Für wohl¬ 
habende Gegenden und Städte wird es natürlich immer bei den 
fabrikmässig, nach allen Regeln der Technik angefertigten Apparaten 
bleiben müssen. 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

A. Gerichtliche Medizin. 

Le delire de persecution ä evolution systematiqne. Von Prof. 
Dr. G. Ballet. Le progres medical 1892, Nr. 47. 

Diese Krankheitsgruppe wurde unter dem Namen „dfelire chronique“ be¬ 
sonders von Magnan hervorgehoben, dessen Buch auch ins Deutsche übersetzt 
ist (vergl. das Referat in Nr. 1 dieser Zeitschrift, Jahrg. 1892). Ihre Kenn¬ 
zeichen sind: keine hereditäre Belastung, Beginn im mittleren Lebensalter, typi¬ 
scher progressiver Verlauf mit sehr schlechter Prognose; die Verfolgungsideen 
sind stets von Halluzinationen begleitet. Die Degenerirten dagegen erkranken 
nicht in so typischer Weise, mehr akut, oft ohne Halluzinationen, mit Remissionen 



12 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


und bedeutend besserer Prognose. — In der That existiren diese beiden Gruppen, 
doch glaubt Ballet, dass es Zwischenforraen giebt, und dass auch Degenerirte 
an typischer Paranonia completa (um den M öbius’schen Namen türMagnan’s 
dölire chronique zu gebrauchen) erkranken können, vorausgesetzt, dass sie nicht 
schwachsinnig sind. Dr. Woltemas-Gelnhausen. 


B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Die Choleraepidemie im Jahre 1892. Die dem Reichstage vorgelegte, 
im Kaiserlichen Gesundheitsamt und im Reichsamt des Innern ausgearbeitete 
Denkscuiift berichtet im 1. Theil zunächst über die Entwicklung der 
Choleraepidemien in Persien, in Russland und Frankreich, um dann zur 
Schilderung des plötzlichen Ausbruchs der Seuche in Deutschlands grösstem 
Seehafen Hamburg-Altona überzugehen. Darnach wurden die ersten beiden 
Erkrankungsfälle zuerst in Altona am 20. August durch die bakteriologische 
Untersuchung festgestellt; in Hamburg geschah dies erst zwei Tage später, 
obwohl hier vom 16. bis 20. August bereits 85 höchst choleraverdächtige Er¬ 
krankungen mit 36 Todesfällen vorgekommen waren, die man von ärztlicher 
Seite aber als Brechdurchfälle bezw. Cholera nostras bezeichnet hatte, da mehr¬ 
fach ausgeführte Leichenöffnungen und bakteriologische Untersuchungen nicht 
die sichere Ueberzeugung gebracht hatten, dass es sich in jenen Fällen wirklich 
um asiatische Cholera handelte. Die Seuche nahm, wie aus den, auch in dieser 
Zeitschrift bereits früher gebrachten Mittheilungen bekannt ist, in Hamburg 
rasch einen ausserordentlichen grossen Umfang, so dass schon am 30. August 
die höchsten Erkrankuugs- und Sterblichkeitszüfern (1081 bezw. 481) erreicht 
wurden. Wenige Tage nach Beginn der Seuche waren nicht nur die am Hafen 
gelegenen Stadttheile, sondern auch die übrigen Stadtgegenden ergriffen. Diese 
explosionsartige Verbreitung ist nach Ansicht der Sachverständigen in erster 
Linie der schlechten Wasserversorgung in Hamburg zuzuschreiben. Die 
Denkschrift spricht sich darüber folgendermassen aus: 

„Hamburg entnimmt sein Wasser oberhalb der Stadt bei Rothenburgsort 
aus der Elbe und pumpt cs aus Ablagerungsbassins in die Röhrenleitung. Die 
Reinigung durch Ablagerung ist bei dem grossen Wasserverbrauch Hamburgs 
so wenig wirksam, dass sich das Leituugswasser schon dem äusseren Aussehen 
nach nicht von dem gewöhnlichen Elbwasser unterscheidet und stets gröbere 
Verunreinigungen enthält. Die Anlage von Sandtiltern zur Reinigung des 
Leitungswassers ist seit Jahren in Aussicht genommen. Dieselben befinden sich 
auch bereits im Bau, können aber voraussichtlich erst im nächsten Sommer dem 
Gebrauch übergeben werden. Einen Beweis für das ursächliche Verhältniss der 
Wasserversorgung Hamburgs zu der Verbreitung der diesjährigen Choleraepi- 
demie liefern die ungleich günstigeren Gesundheitsverhältnisse Altonas, dessen 
Wasserversorgung den zeitgemässen Anforderungen entspricht. Auch innerhalb 
Hamburgs selbst blieben einige Altona benachbarte Strassen, welche an die 
Wasserleitung dieser Stadt angeschlossen sind, von der Seuche verschont. Ein 
überzeugender Beweis von dem Zusammenhang des Wassers mit der Verbreitung 
der Cholera wurde ferner durch die Art der Betheiligung des in Hamburg be¬ 
findlichen Militärs an der Epidemie gebracht. In der Kaserne zu Hamburg, 
weiche vom Beginu der Epidemie bis zum 24. August durch zwei Bataillone 
des 85. Infanterie-Regiments, später durch Ersatzreservisten (mit Unteroffizier¬ 
familien etwa 500 Köpfe) belegt war, sind Choleraerkrankungeu nicht vorge¬ 
kommen. obwohl die Kaserne dieselben Boden- und Abfuhrverhältnisse hat wie 
der sie umgebende Stadttheil, in welchem viele Häuser von der Seuche heim- 
gesucht wurden. Dagegen ereigneten sich 17 Erkrankungen im 3. Bataillon des 
85. Regiments, welches bis zum 24. August in nächster Nähe der Kaserne in 
Biirgerquarticren lag, und 2 Cbolerafälle in einer Batterie, welche nur eine 
Nacht in Hamburg zubrachte und gleichfalls in Bürgerquartiere untergebracht 
war. Das auffallende Verschontbleiben der Kaserne kann nur durch deren 
Wasserversorgung erklärt werden, welche ausschliesslich aus Tiefbrunnen erfolgt. 
Die in den Gebäuden vorhandenen Auslässe der Elbwasserleitnng, welche auch 
vorher nur das Wasser zur Klosetspüluug geliefert hatten, waren bei Beginu 
der Epidemie geschlossen worden.“*) 


*) Aus einem am 13. v. M. gehaltenen Vortrage des Kreisphysikus 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften 


13 


Bei einem so gewaltigen Umfange den die Choleraepidemie in Hamburg 
erreichte (bis zum 17. November 17975 Erkrankungen = 2,9 °/ 0 der Einwohner¬ 
zahl mit 7611 Todesfällen), und bei dem ausgedehnten Verkehre, der von dieser 
Stadt ausgeht, sowie in Folge der panikartigen Flucht vieler Hamburger war 
selbstverständlich eine weitere Verschleppung der Seuche nach anderen Orten 
unvermeidlich. Am meisten bedroht waren die mit Hamburg unmittelbar zu¬ 
sammenhängenden Städte Wandsbeck und Altona und wenn hier trotzdem 
■die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle eine verhältnissmässig geringe blieb 
(in Wandsbeck 64 Erkrankungen = 0,32 °/ 0 der Einwohnerzahl mit 4» Todes¬ 
fällen und Altona 572 Erkrankungen = 0,4 % der Einwohnerzahl mit 328 Todes¬ 
fällen), so erklärt sich dies nach der Denkschrift lediglich durch die Art der 
Wasserversorgung der beiden Städte. Wandsbeck wird von der Elbe durch das 
dazwischen liegende Hamburg getrennt und bezieht sein Wasser mittelst einer 
guten Filtriranlage aus 2 mit der Elbe in keiner Verbindung stehenden Land¬ 
seen. Altona unterwirft dagegen sein der Elbe bei Blankenese entnommenes 
Wasser einer ausreichenden Filtration und war ausserdem seit dem Auftreten 
der Chvdera der Betrieb der Altonaer Wasserwerke einer unablässigen Beauf¬ 
sichtigung unterzogen und insbesondere die Filtrirgeschwindigkeit auf möglichst 
geringes Maass herabgesetzt worden. 

Insgesammt wurden in Deutschland 269 Orte von der Cholera heimge¬ 
sucht; die höchste Zahl der Erkrankungen (1181) entfiel im ganzen Reich auf 
den 27. August, diejenige der Todesfälle (516) auf den 30. August, diejenige 
der verseuchten Orte (55) auf den 2. September. Der letzte Todesfall ereignete 
sich am 9. November, der letzte Erkrankungsfall am 27. November; seitdem 
sind bekanntlich wieder vereinzelte Erkrankungs- und Todesfälle, besonders in 
der letzten Woche des Dezembers vorgekommen. Der Denkschrift sind zwei 
graphische Darstellungen beigegebeu, aus denen die Zahl der täglichen Erkran¬ 
kungen und Todesfälle wie der verseuchten Orte ersichtlich ist. Auf einer 
gleichfalls beigegebenen Karte ist die Lage dieser Orte unter Abstufung nach 
der Heftigkeit, mit der die Seuche aufgetreten ist, anschaulich dargestellt. 
Unter den Ortschaften befinden sich einige, für die der Nachweis einer Ein¬ 
schleppung aus Hamburg nicht gelang oder von vornherein auszuschliessen war, 
weil das verseuchte Ausland als Infektionsquelle angesehen werden musste; in 
der grossen Mehrzahl sind die verseuchten Orte aber von Hamburg aus infizirt. 

Eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung der Cholera spielen nach An¬ 
sicht der Denkschrift nicht nur die hygienischen Verhältnisse der infizirten Orte , 
sondern auch die Verkehrsverhältnisse. Die diesjährige Epidemie hat in dieser 
Hinsicht mit grosser Bestimmtheit die Thatsache ergeben, dass eine Verschleppung 
der Seuche auf dem Landwege bezw. durch den Eisenbahnverkehr bei Weitem 
nicht so zu fürchten ist, wie eine solche auf* dem Wasserwege. Die allseitig 
angeordnete polizeiliche Beobachtung der mit der Eisenbahn zugereisten Per¬ 
sonen ermöglicht es meist, diese, falls sie krank ankommen oder kurz nach ihrer 
Ankunft erkranken, sofort zu isoliren, ehe sie die Ursache einer anderen Epi¬ 
demie werden können. „Die Schifffahrt auf den grossen deutschen Strömen 
bringt dagegen auf weite Strecken einen regen Verkehr von Personen mit 
sich, die zum Theil keine andere Wohnung haben als ihr Schiff oder Floss; 
die ihnen zum Aufenthalt dienenden Kajüten mit Strohhütten pflegen aber 
den hygienischen Anforderungen nicht zu entsprechen. Schiffer, deren Familie 
nicht mit auf dem Schiffe wohnt, suchen diese von Zeit zu Zeit an 
ihrem festen, gewöhnlich an der von ihnen befahrenen Wasserstrasse liegenden 
Wohnsitze auf. Die polizeiliche Beobachtung dieser Schifferbevüikerung ist schon 
unter gewöhnlichen Verhältnissen ungemein schwierig, oft geradezu unmöglich; 
der bezeichncte Verkehr kann daher leicht eine Verschleppung der Seuche be¬ 
wirken. Hierzu kommt noch der Umstand, dass erkrankte Schiffer ihr Fahrzeug 
gewöhnlich nicht verlassen, auch nur selten ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen 
und sämmtliche Abgänge in den von ihnen befahrenen Fluss entleeren, so dass 


Reinke in Hamburg möge hier noch die interessante Thatsache erwähnt 
werden, dass die 4 geschlossene Anstalten in Hamburg, die nur Brunnenwasser 
benutzen (Alsterdorf, Pestalozzi-Stiftung, Zentralgefängniss und Korrektioushaus) 
keinen einzigen Cholerafall gehabt haben, dagegen die an die städtische Wasser¬ 
leitung angeschlossenen Anstalten Friedrichsberg, Werk- und Armenhaus schwer 
von der Cholera heimgesucht sind. 



14 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


eine Vergiftung des Wassers durch Ansteckungskeime die Folge ist. Endlich 
können die Schiffe und Kähne in ihrem Kielraum (Bilgeraum, Sumpf) Wasser 
aus verseuchten Häfen oder Flüssen mit sich führen, welches entweder direkt 
die Ansteckung vermittelt oder sich bei mangelhafter Dichtigkeit des Fahrzeugs 
allmählich dem Wasser des Stromes beimischt oder durch Pumpen in den Strom 
entleert wird, und so die in ihm enthaltenen Ansteckungskeime in vorher nicht 
verseuchtes Wasser anssät.“ Unter diesen Umständen war es daher nicht zu 
verwundern, dass die Mehrzahl der verseuchten Ortschaften an Wasserstrassen 
lag und die Betheiligung der Schifferbevölkerung an den Choleraerkrankungen 
eine auffällig grosse war. Der Nachweis von Cholcrakeimen im Wasser ist 
allerdings nur in zwei Fällen (im Duisburger Hafen und im Bilgewasser eines 
Elbschiffes) gelungen, gleichwohl konnte in vielen Krankheitsfällen mit Recht 
das Wasser als Infektionsquelle bezeichnet werden. Es ergab sich daraus die 
Nothwendigkeit einer schärferen Beaufsichtigung des Schiffsverkehrs und einer 
häufigen Desinfektion des Bilgewassers der Fahrzeuge. Die Folge davon war 
die Einrichtung von ärztlichen Schifffahrts - Kontrolstationen in den Stromge¬ 
bieten der Elbe (9), des Rheines (11), der Weichsel (15) und der Oder (12), von 
denen während ihrer Thätigkeit 686 200 Personen und 154962 Schiffe und Flösse 
untersucht sind. Die Zahl der von diesen Stationen desinfizirten Schiffe und 
Flösse betrug 87103, diejenige der festgestellten Cholera-Erkrankungen 127. 

Die Denkschrift geht sodann etwas näher auf die Verbreitung der Cholera 
in den einzelnen Orten ein und giebt hier zum Theil werthvolle Aufschlüsse in 
Bezug auf die Verschleppung der Cholera. So bilden z. B. die Epidemien in 
Boitzenburg und Lauenburg klassische Beispiele für die Verschleppung 
der Cholera stomaufwärts durch den Schiffsverkehr. Auch von den in Berlin 
erkrankten 32 Personen waren nur 7 aus Hamburg per Eisenbahn zugereist, 14 
gehörten dagegen der Schifferbevölkerung an und bei fast allen übrigen Hess 
sich irgend eine Beziehung zum Spreewasser ermitteln. Ebenso konnten die in 
Stettin vorgekornmenen Erkrankungsfälle mit wenigen Ausnahmen auf eine 
Infektion durch verseuchtes Oderwasser zurückgeftthrt werden. 

Verhältnissmässig frei blieb das Rheingebiet trotz der gefährlichen Nach¬ 
barschaft der Niederlande, Belgiens und Frankreichs. Die Einschleppung der 
Cholera in einige Ortsehafteu des Kreises Mayen (Meisenheim, Plaidt und Polch) 
scheint durch den Eisenbahnverkehr erfolgt zu sein. In gleicher Weise wie das 
Stromgebiet des Rheines blieb auch dasjenige der Weichsel verschont, obwohl 
die Gefahr einer Einschleppung von Polen oder Galizien aus sehr zu befürchten stand. 

Im zweiten Theile: Mas snahmen gegen die Cholera beschäftigt 
sich die Denkschrift sowohl mit den zur Verhütung einer Einschleppung der 
Seuche aus dem Auslande, als mit den zur Verhütung ihrer Weiterverbreitung 
im Inlande getroffenen Massregeln, auf die hier nicht mehr eingegangen zu 
werden braucht, da sie den Lesern dieser Zeitschrift aus den höheren Orts er¬ 
lassenen und seiner Zeit mitgetheilten Verfügungen und Anweisungen hinreichend 
bekannt sein dürften. Am Schluss dieses Theiles heisst es dann betreffs der 
Aussichten für die Zukunft, speziell für das Jahr 1893: „Wenn 
auch anzunehmen ist, dass die Cholera in Deutschland einstweilen beseitigt ist 
und voraussichtlich auch während des kommenden Winters durch die getroffenen 
Massregeln unseren Grenzen fern bleiben wird, so darf doch die Seuchengefahr 
für das Jahr 1893 nicht unterschätzt werden. Nach den Erfahrungen früherer 
Epidemien hat die Cholera, wenn sie einmal in das Wolgagebiet eingedrungen 
war, in Russland während der kalten Jahreszeit in der Regel wohl abgenommen, 
aber nicht ganz aufgehört. Es erfolgten vielmehr meist während des ganzen 
Winters vereinzelte Erkrankungen, welche sich beim Eintritt des Frühjahrs ver¬ 
mehrten und neue Epidemien erzeugten. Mit einer Wiederholung dieser Vor¬ 
gänge muss für das kommende Jahr gerechnet werden. Die Gefahr für das 
preussische Weichselgebiet wird dann beträchtlich grösser sein, als in diesem 
Jahre, weil das Andringen der Seuche für 1893 in der wärmeren Jahreszeit zu 
erwarten ist. Da eine ähnliche Ueberwinterung der Cholera, wie in Russland, 
auch für Ungarn, Frankreich uud die Niederlande nicht ausgeschlossen erscheint, 
so werden die Behörden forgesetzt ihr Angenmerk auf den in jenen Ländern 
herrschenden Gesundheitszustand richten müssen.“ 

Der dritte und letzte Theil der Denkschrift bringt in seiner Einleitung 
eine interessante Darstellu g des Einflusses der Choleraepidemie auf 
die Verkehrsbeziehungen zum Auslande. Mit Rücksicht auf die 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


lf> 


Wichtigkeit, jederzeit schnelle und zuverlässige Nachrichten über den jeweiligen 
Stand der Cholera im Auslande zu erhalten, wurden die Kaiserlichen Konsular- 
behürdeu mit entsprechender Anweisung versehen und hatte sich die Bericht¬ 
erstattung derselben nicht nur auf den Ausbruch und die weitere Verbreitung 
der Seuche, sondern auch auf die im Auslande dagegen ergriffenen Schutzmass- 
regeln zu erstrecken. Darnach hat das von dein Deutschen Reiche Russland 
gegenüber in Bezug aut' die Anwendung internationaler Verkehrsbeschränkungen 
gegebene gute Beispiel bei den ausländischen Regierungen leider verhältniss- 
massig wenig Nachahmung gefunden, sondern es sind von denselben beim Aus¬ 
bruch der Cholera in Hamburg dem Deutschen Reiche gegenüber vielfach so 
umfassende Yerkehrsbeschränkuugeu getroffen worden, dass die dadurch hüben 
und drüben verursachten wirtschaftlichen Storungen in ihren schädlichen Rück¬ 
wirkungen auf das Erwerbsleben sich noch lange Zeit hinaus fühlbar machen 
dürften. Gerade durch die gegenwärtige Epidemie ist aber die von den her¬ 
vorragenden deutschen Hygienikern und Epidemiologen verfochtene und auch in 
deu massgebenden wissenschaftlichen Kreisen Frankreichs und Englands vorherr¬ 
schende Ansicht, dass allen Unterbindungen des Verkehrs in der 
Reihe der Cholera-Abwendungsmittel nur eine sehr untergeordnete 
Rolle zuerkannt werden könne und insbesondere der Waaren- 
verkehr als relativ ungefährlich zu gelten habe, aufs Neue und 
in hervorragendem Masse bestätigt worden. Umsomehr mussten daher diejenigen 
Massnahmen als überflüssig und folge weise als schädlich bezeichnet werden, 
welche nach allen gemachten Erfahrungen als Ausdruck einer übertriebenen 
Vorsicht zu gelten haben. In welchem Umfange sich Waaren-Einfuhrverbote 
gegen choleraverseuchte Gegenden oder Orte überhaupt rechtfertigen lassen, dafür 
kann das auf Grund wissenschaftlicher Erwägungeu und auf Grund der bei frü¬ 
heren Epidemien gemachten Erfahrungen seitens der Cholerakommission des 
Kaiserlichen Gesundheitsamtes seiner Zeit erstattete Gutachten massgebend sein, 
und ist daher auch den Kaiserlichen Vertretungen im Auslande Auftrag ge¬ 
geben, den in dem Gutachten ausgesprochenen Grundsätzen Beachtung zu ver¬ 
schaffen. Von diesem Vorgehen ist die erhoffte günstige Wirkung nicht aus¬ 
geblieben; überhaupt sprechen mannigfache Anzeichen dafür, dass der Ver¬ 
lauf der diesjährigen Cholera - Epidemie auf die Anschauungen des Auslandes 
über den den Sicherheitsvorkehrungen zu gebenden Umfang vielfach auf¬ 
klärend und beruhigend in dem von der Kaiserlichen Regierung vertretenen 
Sinne [gewirkt hat. Es trifft dies theilweise auch auf die Regierungen 
solcher Länder zu, die sich gerade durch zwecklos weitgehende Verkehr.^er- 
schweruugen hervorgethan hatten. Von einzelnen dieser Regierungen ist ganz 
unumwunden der übertriebene Charakter ihrer Massnahmen zugestanden und der¬ 
selbe durch den Hinweis auf die ungenügenden sanitären Einrichtungen im 
Lande, die Stimmung der Bevölkerung oder aut sonstige innerpolitische Gründe 
gewissermassen zu begründen versucht. „Es steht somit zu hoffen, dass sich 
die obige Anschauung, welche mindestens ein richtiges Verhältnis zwischen 
den Massnahmen der präventiven Gesundheitspolizei und der gebotenen Rück¬ 
sichtnahme auf den internationalen Handelsverkehr sowie auf den Sinn und 
Geist^der bestehenden Handelsverträge herzustellen bestrebt, allmählich immer 
mehr Bahn brechen werde. Inwieweit zur Erreichung dieses Ziels der Weg 
internationaler Berathungen zu beschreiten sein möchte, untersteht zurZeit der 
Erwägung. Jedenfalls müsste es als ein grosser Gewinn betrachtet werden, 
wenn es gelänge, die Willkür in den durch Menschenseuchen bedingten gesund¬ 
heitspolizeilichen Massnahmen der einzelnen Länder gegeneinander einzudämmen, 
durch Beseitigung der Extreme auf diesem Gebiet einer Lahmlegung des inter¬ 
nationalen Verkehrs auch in Seuchezeiten vorzubeugen und nicht minder der 
unendlichen Vielgestaltigkeit der Kontrol- und Absperrungsinassregeln ein Ziel 
zu setzen, deren genaue Kenutniss oft nicht einmal im eigenen Lande zu finden 
sei und die neben allem anderen eine ausserordentliche, schädlich wirkende Un¬ 
sicherheit im Gefolge habe.“ — Hoffentlich werden diese Bemühungen seitens des 
Deutschen Reiches von Erfolg gekrönt sein; vor allem wird es allerdings dann 
nöthig sein, dass im eigenen Lande erst einmal vernünftige, mit der Wissen¬ 
schaft und den praktischen Erfahrungen im Einklang stehende Grundsätze und 
ein einheitliches Verfahren in Bezug auf die Bekämpfung ansteckender Krank¬ 
heiten durch den bevorstehenden Erlass eines Reichs-Seuchengesetzes geschaffen 
werden. _ Rpd. 



16 


Kleinere Mittheiliwgeu und Referate aus Zeitschriften. 


Ueber den Einfluss des Lichtes auf Bakterien. 2. Mittheilung. 
Von Prof. F. B u c h n e r. Mit 1 Abbildung. Zentralblatt für Bakteriologie. XII. 7. 

Es ist ein Bild von geradezu verblüffender Deutlichkeit, mit welcher 
Buchner’s Photogramm einer Typhus - Platte den mächtig schädigenden Ein¬ 
fluss des Lichtes auf Bakterien-Wachsthum und Entwicklung deinonstrirt. Agar, 
mit Typhus - Bakterien sehr stark besät, und in einer Petri’schen Schaale aus¬ 
gegossen, wurde 1 Stunde dem direkten Sonnenlicht oder 5 Stunden dem diffusen 
Tageslicht ausgesetzt, wodurch die Keime, wenn auch nicht vollständig abgetödtet, 
so doch in ihrer Entwicklungsfähigkeit derartig gestört waren, dass die aus¬ 
gegossene Agarschicht zunächst steril zu bleiben schien. Nun war aber ein Theil 
der Platte, und zwar durch aufgeklebte grosse Papierbuchstaben beschattet 
worden, so dass hier der schädigende Einfluss des Lichtes fortfiel und unter den 
aufgeklebten Buchstaben zahllose Kolonien zur Entwicklung kamen, welche in¬ 
mitten der glatten und durchsichtigen Agar-Fläche das Wort „Typhus“ mit 
grösster Schärfe und Deutlichkeit erkennen Hessen. Temperatur - Differenzen 
zwischen den belichteten und beschatteten Partien der Platte können für die 
Verschiedenheiten des Bakterienwachsthums nicht verantwortlicht werden, da 
diese Erscheinung sich mit derselben Schärfe ausbildete, auch wenn die Platte 
im Grunde eines */* m. tiefen Wassergefässes dem Lichte ausgesetzt wurde. 

Die kleine Arbeit Buchner’s dient als Ergänzung einer früheren Mit¬ 
theilung desselben Forschers (Zentralbl. f. Bakteriologie, XI., 25.), worin unter 
Anderem berichtet wird, dass in einem Wasser, welches pro ccm. 100 000 Keime 
des Bact. coli commune enthielt, nach 1 ständiger Beleuchtung durch direktes 
Sonnenlicht, auch nicht ein einziger lebensfähiger Keim nachzuweisen war, 
während eine im Dunklen gehaltene Koutrolprube desselben Wassers sogar eine 
geringe Vermehrung der Bakterienzahl erkennen Hess! Aehnliche Vernichtung 
innerhalb des Wassers zeigten Typhus - Bacillus, Cholera - Vibrio, B. pyocyaneus 
und verschiedene Fäulniss - Bakterien. Büchner schliesst hieraus: „Schliesslich 
wäre der Gedanke wohl nicht zu kühn, in solchen Fällen, wo die direkte Ueber- 
antwortung von städtischen Abwässern in einen Flusslauf unthunlich erscheint, 
eine Desinfektion derselben durch Einlassen in flache, weiss cementirte Klärbecken 
unter dem Einflüsse des Lichtes vorausgehen zu lassen. Jedenfalls stellt bei 
Berieselunganlagen die rasche Ueberführung der Sch mutz wässer in den Boden 
umgekehrt ein Verfahren dar, um die Bakterien dem für sie schädlichen Licht¬ 
einfluss möglichst zu entziehen und daher zunächst zu konserviren.“ 

Dr. Langerhans -Hankensbüttel. 

Zur Kenntniss der Vertheilung der Wasserbakterien in grossen 
Wasserbecken. Von Dr Justin Karlinski. Zentralbl. f. Bakteriologie, 
XU, 78. 

Der Borke-See im B'-zirk Conjica (Herzegowina), dessen Tiefen Verfasser 
in chemischer, physikalischer und biologischer Hinsicht im Aufträge der öster¬ 
reichischen Legierung zu untersuchen hatte, lässt eine sehr beachtenswerte 
Verschiedenheit des Bakterieureiehtliums in horizontaler und vertikaler Beziehung 
erkennen. Die Bakterienzahl an der Oberfläche des schilfreichen Ufers, 16UÜ0 
im ccm., sinkt allmählich bis auf 4000 in einer Entfernung von 200 in. vom 
Ufer, um in der Mitte des Wasserspiegels auf 30OO herabzugehen. Während 
in dem Oberflächen - Wasser 40ü0 Keime zur Entwicklung gelaugten, waren in 
5 m. Tiefe kaum noch 1000 nachweisbar und in grösserer Tiefe wurden höchstens 
200—300 gefunden. Wurde aber zufälliger Weise bei der Probe - Entnahme der 
schlammige Seegruud aufgerührt, so stieg die Bakterienzahl sofort auf 6000! 
Der Wechsel der wenigen Vorgefundenen, vonKarlinski kurz skizzirten Arten 
zeigt die interessante Erscheinung, dass nach der Tiefe zu einzelne Arten ver¬ 
schwinden, um anderen Platz zu machen, bis schliesslich die Auaeroben das Feld 
allein behaupten. Ders. 


Ueber das Vorhandensein des Löffler'sehen Bacillus im Schlunde 
bei Individuen, welche eine diphtheritiselie Angina durchgemacht 
haben. Von Fr. Tobicsen in Kopenhagen. Aus dem dortigen Labora¬ 
torium f. mediz. Bakteriologie. Zentralbl f. Bakteriologie, XII., 17. 

Das von R o u x und Ve r s i n zuerst beobachtete, seitdem durch andere Forscher 
bestätigte Vorkommen des Diphtherie - Bacillus noch längere Zeit nach dem Ver- 



Kleinere MittheUungen und Referate an» Zeitschriften. 


17 


schwinden der sichtbaren Schleimhaut • Auflagerangen und die grosse Wichtigkeit 
dieser Beobachtung in hygienischer, bezw. prohylaktiscber Beziehung veranlasste 
Verfasser zu einer sehr sorgfältigen Nachprüfung an dem Material des Bleg- 
dams-Hospitals zu Kopenhagen. Verfasser versuchte bei sämmtlichen, meist 
5—6 Tage nach dem Schwinden der Membranen und dem Nachlass aller übrigen 
Krankheitserscheinungen zur Entlassung kommenden Patienten durch Schaben 
mit der Impfnadel von der Scheimhaut des Schlundes Kulturen zu bekommen, 
indem er in bekannter Weise die Impfnadel auf Blutserum ausstrich und die so 
beschickten Reagensgläser im Brutschrank hielt. Die Zahl der Patienten betrug 
46 und zwar waren es meistens Kinder im Alter von 6—12 Jahren. 7 Fälle 
waren leichte, 85 inittelschwere, 4 schwere. Bei diesen 46 Personen war 24 mal 
der Diphtherie - Bacillus vorhanden, in 22 Fällen nicht nachweisbar. Von den 
24 Fällen, welche zur Zeit ihrer Entlassung lebensfähige Diphtherie - Bazillen 
auf der Halsschleimheit hatten, werden 4 als leicht, 18 als mittelschwer und 2 
als schwer bezeichnet, so dass die Art des klinischen Verlaufes ohne nachweis¬ 
baren Einfluss auf die längere kürzere Dauer des Diphtherie - Bacillus im Schlunde 
zu sein scheint. In 5 Fällen wurde der Diphtherie - Bacillus nur durch Unter¬ 
suchung der Kulturen identifizirt, während bei den übrigen 19 Fällen das Thier- 
Experiment zu Hülfe genommen wurde, welches die Virulenz der gefundenen 
Diphtherie - Bazillen durch den Tod der Versuchstiere erwies und das typische 
Krankheitsbild sowie den charakteristischen Sektionsbefund für echte Meer¬ 
schweinchen-Diphtherie erkennen liess. Es war damit die Möglichkeit 
erwiesen, dass die Hälfte der Patienten, die nach den für 
Diptheriehospitäler allgemein angenommenen Regeln zur 
Entlassung kamen, ihre Umgebung mit Diphtherie ansteken 
konnten. Verfasser hat sich nun bemüht, durch Nachforschungen in den 
Häusern festzustellen, wie oft etwa eine Ansteckung thatsächlich erfolgt sein 
mag. Es ist natürlich sehr schwer in einer Stadt, wie Kopenhagen, bei einer 
so verbreiteten Krankheit, wie Diphtherie, sichere epidemiologische Thatsachen 
zu erhalten. Es muss Verfasser aber beigestimmt werden, wenn er sagt, dass 
diese Nachforschungen zwar nichts Bestimmtes ergeben haben, 
aber doch sehr entschieden gegen eine grössere Ansteckungs¬ 
gefahr durch die entlassenen Patienten sprechen. Ders. 


Die Nährgelatine als Ursache negativen Befundes bei Unter¬ 
suchung der Fäces auf Cholera - Bazillen. Von Dr. Max Dahm en. Zentral¬ 
blatt für Bakteriologie; XII., 18. 

Verfasser bemängelt die Ausdrücke „schwach alkalisch“ und „deutlich 
alkalisch“, mit welchen die verbreitetsten Lehrbücher der Bakteriologie die 
wünschenswerthe Reaktion der Nährgelatine bezeichnen. Allerdings sind diese 
Bezeichnungen sehr relativ und eine genauere Bezeichnung des Alkalescenzgrades 
ist um so wünschenswerther, als der Letztere das Wachsthum einzelner Bak¬ 
terienarten quantitativ und qualitativ sehr erheblich beeinflussen kann. Ver¬ 
fasser hat festgestellt, dass gerade die Cholera-Bazillen zu raschem und freudigem 
Wachsthum einen ganz unerwartet hohen Alkalescenzgrad beanspruchen. Nach 
Verfasser ist ein Gehalt von 1 Prozent Soda (als krystallisirte Soda zu der 
genau neutralisirten Gelatinelösung nach Volum-Prozenten des Letzteren hinzu- 
gefiigt) für Fäces-Untersuchungen auf Cholera - Bazillen am geeignetsten, 
während hierzu ein „schwach alkalischer“ Nährboden ganz unbrauchbar ist. Ver¬ 
fasser ist sogar geneigt, die bekannten Schwierigkeiten und Verzögerungen bei 
der bakteriologischen Untersuchung der ersten Hamburger Cholerafälle aus einer 
in der angegebenen Richtung unpassenden Reaktion der verwendeten Nährgelatine 
zu erklären. Ein paar praktische Winke über die Zubereitung stark alkalischer 
Nährgelatine und empfindlicher Lacmustinktur, welche als brauchbarstes Reagens 
empfohlen wird, bilden den Schluss des interessanten kurzen Aufsatzes. Ders. 


Ein Besteck zur Untersuchung auf Cholera - Bakterien. Von Me¬ 
dizinalrath Dr. S. Rembold, Vorstand des bakteriologischen Laboratoriums 
des Medizinalkollegiums in Stuttgart. Zentralblatt für Bakteriologie; XII., 17. 
Verfasser bezeichnet, und zwar mit vollem Recht, das 



18 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


etwas sehr Problematisches! Er hält örtliche Untersuchung und per¬ 
sönliche Entnahme des Materials für erforderlich. Von Verarbeitung des Letzteren 
an Ort und Stelle, abgesehen von Deckglaspräparaten, nimmt Re mb old Ab¬ 
stand, da das Verfahren unter Umständen sehr zeitraubend sei und da gerade 
während der Cholera-Saison Verflüssigung der gegossenen Platten während des 
Transportes zu befürchten sei. Rembolds Besteck ist demgemäss ausschliesslich 
dazu bestimmt, dem an Ort und Stelle untersuchenden Medizinalbeamten die 
bequeme Entnahme des verdächtigen Materials und die sichere Ueberführung 
desselben in das Laboratorium zu ermöglichen, wo dann die weitere Verarbeitung, 
namentlich das Plattengiessen zu erfolgen hat. Das Besteck (bei Instrumenten¬ 
fabrikant Henger, Stuttgart für 32 M. käuflich), durch eine gute Abbildung 
erläutert, enthält die nöthigen Materialien und Gerätschaften für Anfertigung 
und Färbung von Deckglaspräparaten, für Aufnahme flüssiger Entleerungen und 
fester Organtheile. Die Entleerungen werden in Reagensgläser gefüllt, welche 
sodann zugeschmolzen werden — allerdings wohl die zuverlässigste und empfeh¬ 
lenswerteste Art des Verschlusses! Sämmtliche gebrauchten Gegenstände, nament¬ 
lich auch die mit dem Untersuchungsmaterial gefüllten Reagensgläser werden vor 
dem Zurückbringen in das Besteck mit Sublimat abgewaschen, die metallenen 
Instrumente in der Lampe ausgeglüht. Weingeistlampe mit Stichflamme und 
Glaakapsel mit Sublimatpastillen sind im Besteck vorhanden und, ebenso wie 
sämmtliche übrigen Theile, durch federnde Klammern an Ort und Stelle sicher 
und zuverlässig festgehalteu; eine Infektions- und Verschleppungsgefahr ist 
somit ihatsächlich wohl vollständig ausgeschlossen. Das Besteck ist zudem klein 
und leicht, so dass es auch bei anderen Infektionskrankheiten zweckmässige Ver¬ 
wendung finden dürfte. (Ders.) 


Ueber Koch verfahren zum Zwecke der Erhaltung des Fleisches 
kranker Thiere als Nahrnngsmittel. Von Dr. Hertwig, Direktor der 
städtischen Fleischschau in Berlin. Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheits¬ 
pflege, 1892, 3. Heft, S. 392—402. 

Die Frage der Versorgung des Volkes mit hinlänglicher Fleischnahrung 
muss in einem Lande wie Deutschland, welches notorisch nicht mehr im Stande 
ist, die Nahrungsmittel durch eigene Produktion in hinreichender Menge zu 
beschaffen, als eine äusserst wichtige angesehen werden. In diesem Sinne sind 
die Bemühungen des Verfassers, welche in der Ueberschrift seiner Abhandlung 
genügend gekennzeichnet sind, durchaus anzucrkenneu. 

Derselbe ist von der Ucberzeugung ausgegangen, dass von den grossen 
Mengen Fleisch, welche wegen gewisser Krankheiten der Thiere alljährlich dem 
Konsum entzogen und grösstentheils in Abdeckereien zu technisch-gewerblichen 
Zwecken ausgenutzt werden, ein erheblicher Theil als Nahrungsmittel für 
Menschen verwerthet werden könue, wenn die in dem Fleisch vorhandenen nach¬ 
theiligen Bestandteile unschädlich gemacht worden seien. Von diesem Gesichts¬ 
punkte aus haben auch die Ministerien des Innern und des Kultus durch die Er¬ 
lasse vom 16. Februar 1876 und 26. Juni 1890 genehmigt, dass das Fleisch von 
finnigen Schweinen und Rindern zum Verkauf und zum Hausgebrauch zugelassen 
werden dürfe, wenn dasselbe wenig mit Finnen durchsetzt und unter polizeilicher 
Aufsicht gar gekocht sei. Wenn dies für finnige«' Fleisch möglich sei, müsse 
dies auch für solches möglich sein, in welchem sich andere Parasiten oder Mikro¬ 
organismen befinden, wenn es gelingen sollte, in dasselbe mit genügenden Tempera¬ 
turen sicher einzudringen. — Verfasser hat nun mit einem Dr. R o h rb e ck’schen 
Dampfdesinfektor auf dem Zentralschlachthofe in Berlin Versuche nach dieser 
Richtung hin angestellt. Der Apparat, welcher mit einem Ueberdruck von etwa 
1 Athmosphäre arbeitet, besteht aus einem doppelwandigen cylindrischen Kessel, 
in welchem sich herausnehmbare eiserne Roste befinden, auf welche die Fleisch¬ 
stücke gepackt werden. Unter der Roste ist eine Vorrichtung zum Auffangen 
der aus dem Fleische träufelnden Flüssigkeit angebracht. Der Dampf kann nach 
Belieben entweder in den Raum zwischen der Doppelwandung (den äusseren 
Kessel) oder in den grossen iunern Raum (innern Kessel) und von hier aus in 
den äussern Kessel geleitet werden. Dadurch können in den Apparat gelegte 
Gegenstände auch in truekner Hitze allein behandelt werden. Als neu und eigen- 
thümlich besitzt der Rohr heck’sche Apparat eine Vorrichtung zur schnelleren 
Abkühlung des Dampfes, durch welchen der letztere leicht und schnell kondensirt 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


19 


und ein Theil der dadurch frei gewordenen Wärme an die ira Apparat befind¬ 
lichen Gegenstände abgegeben wird. Bei fortgesetzter Abkühlung entsteht 
Unterdrück bezw. Luftleere, in Folge deren auch die in den zu desinfizirenden 
bezw. zu vernichtenden Körpern befindlichen Luftheile aus denselben heraus¬ 
treten. Weun nun von Neuem Dampf hinzugelasseu wird, so dringt derselbe 
mit Leichtigkeit in die Objekte und tödtet die in denselben befindlichen an¬ 
steckenden Stoffe ab. — Die Wirksamkeit des Dampfes wurde nach Art der 
Prüfung der gewöhnlichen Desinfektionsapparate durch Kontaktthermoraeter fest¬ 
gestellt, welche in die Fleischstiieke hineingesteckt wurden. In Zeit von 
2 l / t Stunden wurden hierbei auch umfangreichere Fleischstücken bis auf 100° C. 
und darüber durchwärmt. Dieselben waren dann vollständig gar, sehr saftreich 
und von angenehmerem Geschmack als auf gewöhnlichem Wege gekochtes 
Fleisch. Der erhebliche Gewichtsverlust, 33 bis 40 °/ 0 , war dadurch ausgeglichen, 
dass in dem Auffangbecken genau die demselben entsprechende Menge konzentrirter 
Brühe sich vorfand. — Die Impfversuche, welche mit derartig behandeltem hoch¬ 
gradig tuberkulösen Fleische angestellt worden, gaben durchweg ein negatives 
Resultat. Hieraus folgert Verfasser, dass mit Bestimmtheit in dem so gekochten 
Fleisch jeder Ansteckungsstoff beseitigt sei, und erblickt darin einen Erfolg von 
der grössten volkswirtschaftlichen Bedeutung, indem durch denselben die Mög¬ 
lichkeit nachgewiesen sei, grosse Mengen von Fleisch, welche jetzt beinahe werth¬ 
los in die Abdeckerei wandern, als werthvolles Nahrungsmittel für den Konsum zu 
erhalten. Wie weit sich hieran das Fleisch von an anderen Krankheiten leidenden 
Thieren anreihen lasse, bleibe der Zukunft Vorbehalten. Auf dem Zentralschlachthofe 
in Berlin sei im letzten Jahre wegen Tuberkulose das Fleisch von 1334 Rindern 
und von 1934 Schweinen von dem Konsum ausgeschlossen worden, von welchem, 
in Rücksicht auf seine sonst gute Beschaffenheit, das Fleisch von 1000 bis 
1200 Rindern und ungefähr 1600 bis 1700 Schweinen für die Verwendung zu 
Nahrungszwecken hätte erhalten werden können. — Verfasser erklärt es für 
selbstverständlich, dass er das auf diese Weise unter amtlicher Aufsicht gekochte 
Fleisch nur an besonderen, für den ausschliesslichen Verkauf desselben bestimmten 
Verkaufsstellen feilhalten lassen wolle. Er will nicht das Kochverfahren an 
Stelle der vielfach schon eingeführten Freibänke für den Verkauf des sog. 
minderwerthigen Fleisches setzen. Für kleinere Gemeinden, welche im Stande 
seien, den Verbleib des in der Freibank verkauften Fleisches zu überwachen, 
seien dieselben bestimmt eine zweckmässige Einrichtung. Für alle grösseren 
Städte aber, wo diese Ueberwachung nicht möglich sei, erscheine es zweck¬ 
mässig, das sog. minderwerthige Fleisch ebenfalls nur in gekochtem Zustande in 
den Verkauf bringen zu lassen. Dr. Meyhoefer-Görlitz. 


Untersuchungen über die Verwendbarkeit des Alnminiums zur 
Herstellung von Ess-, Trink- und Kochgeschirren. Von Regierungsrath 
Dr. Ohlmüller und Dr. R. Heise. Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesund¬ 
heitsamte; Bd. 2, H. VIII. Verlag von Jul. Springer in Berlin. 

Wenn auch über die Verwendbarkeit des Aluminiums zu Kiichengeräthen 
und ähnlichen Zwecken schon eine Reihe Arbeiten vorliegen, so gingen die An¬ 
sichten in dieser Hinsicht bisher doch noch ziemlich weit auseinander. Es war daher 
im allgemeinen Interesse dringend erwünscht, durch eingehendere Untersuchungen 
grössere Klarheit über diese Frage zu schaffen und haben sich die Verfasser auf 
amtliche Veranlassung dieser dankenswerten Aufgabe unterzogen. Zu ihren 
Versuchen benutzten sie Becher bezw. Feldflaschen, die aus Aluminiumblechen 
I. und II. Sorte der Fabrik von G. Leuchs und Meis er in Nürnberg herge¬ 
stellt waren. Die Becher bezw. Feldflaschen wurden einer 2-, 4- bis 6tägigen 
Einwirkung von verschiedenen Versuchsflüssigkeiten (destillirtem Wasser, 
Wasserleitangswasser, 1 °/ 0 Essigsäure, käuflichem 1 °/ 0 Essig, 2 °/ 0 Weinsäure¬ 
lösung, 2 °/ 0 Citronensäurelösung, 2 °/ 0 Gerbsäurelösung, 5°/ 0 Buttersäure, Vs 0 /o 
Weinsteinlösung, 0,001 °/ 0 Natriumkarbonatlösung, 2 °/ 0 Kochsalzlösung, Roth- 
wein, Kaffee, Kognak, Branntwein und Citronenlimonade) ausgesetzt; ferner 
wurden halbstündige Kochversuche und Schüttelversuche mit theilweise ge¬ 
füllten Bechern (3 Stunden lang bei gewöhnlicher Temperatur und bei 35 bis 
40° C.) vorgenommen. Die Versuche wurden bei metallisch reiner und durch 
den Gebrauch veränderter Oberfläche der Versuchsgefässe ausgeführt; und 
schliesslich noch eine Anzahl Versuche über das Verhalten von Kupfer, Blei, 



20 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


Zinn und Zink gegen die vorgenannten Flüssigkeiten angestellt, um bestimmte 
Anhaltspunkte für die Beurtheiluug des Aluminiums in Bezug auf seine Ver¬ 
wendbarkeit zu Trink- und Kochgeschirren zu gewinnen im Vergleich zu den 
anderen in dieser Hinsicht in Betracht kommenden Metallen. Auf Grund 
dieser zahlreichen Versuche kommen die Verfasser zu folgendem Ergebniss: 

1. Das Aluminium wird innerhalb der für Ess-, Trink- und Kochgeschirre 
im Allgemeinen in Betracht kommenden Zeit durch saure und alkalische Flüssig¬ 
keiten, sowie durch Salzlösungen angegriffen und zwar bei Zimmerwärme in ver- 
hältnissmässig geringem Grade. Bei Siedehitze ist die Löslichkeit verschieden, 
erreicht jedoch in manchen Fällen eine beträchtliche Grösse. 

2. Die Angreifbarkeit der Geschirre ist in Folge von Veränderungen der 
Oberfläche des Metalls häufig geringer. 

3. Mit der Reinigung ist je nach der Art derselben stets ein verhältniss- 
mässig bedeutender Materialverlust verbunden. 

4. Eine Schädigung der Gesundheit durch den Genuss von Speisen oder 
Getränken, die im Alnmininmgeschirr gekocht oder aufbewahrt worden sind, ist 
bei den hierbei gewöhnlich in Betracht kommenden Verhältnissen nicht zu 
erwarten. 

Betreffs der letzten Schlussfolgerung stützen sich die Verfasser auf Ver¬ 
suche, die sie in Bezug auf die Einwirkung des Aluminiums auf den thierischen 
Körper gemacht haben. Darnach ertrug z. B. ein Hund basisch essigsaures 
Aluminium (14,8 °/ 0 Aluminium enthaltend) vier Wochen hindurch in Dosen von 
0,1—5 gr., des Morgens beim ersten Futter gereicht, ohne Schaden an seiner 
Gesundheit und seinem Körpergewicht; grössere Dosen (10 gr.) riefen geringe 
Reizerscheinungen im unteren Theil des Dünndarms hervor. Zwei Versuche an 
Menschen gemacht, (zwei Aerzte hatten täglich 1 gr. weinsaures Aluminium 
8,1 °/ 0 Aluminium enthaltend), genommen, ergaben ein gleiches Resultat; auch 
hier wurde im Verlaufe der Versuchstage nicht die geringste Störung des 
Appetits und des Wohlbefindens beobachtet. 

Auch Prof. Dr. A u b r y, Direktor der wissenschaftlichen Station für Brauerei 
in München kommt in einem kürzlich erstatteten Gutachten über das Verhalten des 
Aluminiums gegen Bier zu demselben Ergebniss und empfiehlt die Verwendung 
desselben zu Biertransportgefässen u. s. w. auf das Wärmste, obwohl nach seinen 
Versuchen das Bier bis 0,008 gr. Aluminium pro Liter aus den Gefässen auf¬ 
löst. Diesem Vorschlag tritt jedoch Prof. Dr. Ko b e r t in Dorpat in der Zeitschrift 
für Nahrungsmittel - Untersuchung und Hygiene (Nr. 14; 1892) mit Entschiedenheit 
entgegen und warnt vor der Benutzung des Aluminiums zu derartigen Zwecken, 
ehe nicht durch monatelang fortgesetzte Versuche die gänzliche Unresorbirbarkeit 
und Unschädlichkeit des Metalls dargethan sein wird. Die oben mitgetheilten 
Versuche des Kaiserlichen Gesundheitsamtes scheinen K o b e r t damals noch nicht 
bekannt gewesen zu sein, sonst würde er dem Aubry’sehen Vorschläge wohl 
nicht so abweisend gegenüber getreten sein. Rpd. 


Die Kost der Haushaltungsschule und der Menage der Friedrich 
Krupp'sehen Gussstahlfabrik in Essen. Ein Beitrag zur Volksemährung. 
Von Dr. W. Prausnitz, Privatdozent für Hygiene. Archivf. Hygiene XV., 4. 

Unter den verschiedenen Wohlfahrtseinrichtungen, welche Krupp in 
Essen für die von ihm beschäftigten Arbeiter eingerichtet hat, verdient die 
Haushaltungschule ein besonderes Interesse. Es werden in derselben Töchter 
von Bediensteten oder Arbeitern nach zurttckgelegtem 14. Lebensjahr in drei¬ 
monatlichen Kursen durch praktische Anleitung in der Führung eines Haus¬ 
haltes ausgebildet. Neben den übrigen Lehrgegenständen, welche hierbei in Betracht 
kommen, wird, dem Zwecke der Anstalt entsprechend, ein hervorragendes Gewicht 
gelegt auf die Erlernung der einfachen Küche, so wie dieselbe in Arbeiter¬ 
haushaltungen geführt werden sollte. Es ist sehr anzuerkennen, dass die jungen 
Mädchen nicht nur die Zubereitung der Speisen, sondern auch die Eintheilung, 
bezw. Abwägung der Lebensmittel für die einzelnen Mahlzeiten und die Be¬ 
rechnung des Geldwerthes der letzteren vorzunehmen haben, wobei die Führung eines 
Tagebuches mit vorgedrucktem Schema zur Befestigung und selbstthätigen 
geistigen Verarbeitung der mechanisch erworbenen Kenntnisse helfen soll. 
Prausnitz hat nun an der Hand dieser Tagebücher den Nährwerth der dort 
zubereiteten Kost berechnet und gefunden, dass daselbst pro Kopf und Tag 
durchschnittlich 100,5 gr Eiweiss, 74,6 gr Fett und 415,2 gr Kohlenhydrate ver- 



Kleinere Mittheilungen and Referate aas Zeitschriften. 


21 


abreicht werden and dass die Kosten für diese Verpflegung sich auf 54,2 Pf. 
pro Tag belaufen. Die bei dieser Kost während der dreimonatlichen Dauer des 
Kursus beobachtete Gewichtszunahme ist durchweg sehr bedeutend, auf jedeu 
Fall grösser, als die Durchschnitts - Zunahme bei Mädchen dieses Alters. Wenn 
nun allerdings die von Prausnitz zu seinen Vergleichen herangezogenen 
Quetelet'sehen Gewichtsangaben den jetzigen Ansprüchen an statistisch ver- 
werthbare Zahlen nicht genügen, so kann doch ohne Weiteres zugegeben werden, 
dass die dargereichte Quantität von Nährstoffen in der gegebenen Darreichungs- 
form für kräftig arbeitende Mädchen im Alter von 15—18 Jahren vollauf ge¬ 
nügend ist. Wenn aber Prausnitz meint, dass es allerwärts möglich sein 
müsste, für eine jugendliche Arbeiterin eine allen Anforderungen genügende Kost 
für 60—70 Pf. herzustellen, so ist dagegen geltend zu machen, dass nur aus¬ 
nahmsweise eine Arbeiterin in dem angegebenen Alter von ihrem Arbeitsverdienst 
so viel für ihre Verpflegung wird erübrigen können. 

Der zweite Theil der Arbeit beschäftigt sich mit der „Menage“, aus 
welcher etwa 800 Arbeiter der Krupp'sehen Werke beköstigt werden. Auch 
hier ist die Verpflegung, dem bekannten humanen Sinn der Krupp'sehen 
Fabrikleitung entsprechend, nicht nur ausreichend, sondern geradezu vorzüglich 
za nennen, nicht nur, was die quantitative Zusammensetzung der Speisen be¬ 
trifft, sondern auch wegen der genügende Abwechselung gewährleistenden Aus¬ 
wahl derselben. Die Menage liefert in Mittag- und Abendessen 115 gr Eiweiss, 
81 gr Fett und 480 gr Kohlenhydrate, dazu kommen noch 30 gr Butter, welche 
die Menage liefert and nach Prausnitz’s Anschlag 400 gr Roggenbrod 
(welches die Arbeiter selbst zu beschaffen haben) mit 24 gr Eiweiss, 2 gr. Fett 
and 197 Kohlenhydrate, so dass in Summa die Kost eines Krapp'sehen Arbeiters 
aas 139 gr Eiweiss, 113 gr Fett und 677 gr Kohlenhydraten besteht. Sehr be¬ 
herzige^'werth sind die Schlussbemerkungen, in denen Prausnitz entschieden 
Front macht gegen die neuerdings gemachten Versuche, auf Grund vereinzelter 
and nnr kurze Zeit durchgeführter Experimente eine geringere Eiweissmenge 
als aasreichend für die Ernährung gesunder, ausgewachsener, kräftig arbeitender 
Arbeiter hinstellen zu wollen. Auf das Allerentschiedenste warnt er davor, sich 
in der so überaus wichtigen Frage der Massenernährung durch solche, Nichts 
beweisende, mit den Experimenten der bekannten Hungerkünstler auf eine Stufe 
za stellenden Versuche zum Schaden der arbeitenden Klasse beeinflussen za 
lassen, statt sich bei Bestimmung des za gewährenden Kostsatzes nach guten 
Vorbildern zu richten, welche sich nach langjähriger reichhaltiger Erfahrung nach 
allen Richtungen hin bewährt haben. 

Dr. Langcrhans -Hankensbüttel. 


Die Entwickelnng der sanitätspolizeilichen Massnahmen in 
Preassen gegen das Wochenbettfleber und ihre Wirksamkeit. Vom 
Bezirksphysikus Dr. Nesemann in Breslau. Sonderabdruck aus der Viertel¬ 
jahrschrift für gerichtliche Medizin u. s. w. III. Folge 1892, VI. B. Heft 2. 

Nach einem kurzen Ueberblick über die Entwickelung der Erkenntniss 
des Kindbettfiebers und die zunächst ganz ungenügenden sanitätspolizeilichen 
Massnahmen werden die meistens im Anschluss an ‘die Allgemeine Verfügung, 
betreffend das Hebammenwesen vom 6. August 1883, erlassenen Polizeiverord- 
nnngen in Bezug auf Datum und Wirkungskreis angegeben, aber deren 
Wirksamkeit, auch in Verbindung mit §. 15 der Anweisung zur Verhütung des 
Kindbettfiebers, im Allgemeinen für ungenügend erachtet. Als Grund hierfür 
werden hauptsächlich augeführt, die Unzuverlässigkeit der Hebammen, bedingt 
durch den geringen Bildungsgrad, die schlechte soziale Stellung und die meistens 
überaus kümmerlichen Erwerbsverhältnisse, wobei unter anderen die von Löh¬ 
lein für Hessen mit Erfolg eingeführten 8 tägigen Wiederholungslehrgänge 
empfohlen werden; ferner aber die Fassung der Polizeiverordnungen, wonach 
auch bei Verpflichtung zur Anzeige verdächtiger Fälle eine gerichtliche Be¬ 
strafung erwiesenermassen Säumiger nicht immer erfolge, während in 8 Re¬ 
gierungsbezirken ohne diesbezügliche Polizeiverordnung eine gerichtliche Be¬ 
strafung der Hebammen auf Grund der Allgemeinen Verfügung allein überhaupt 
nicht möglich seiu dürfte. Mit Rücksicht auf die so beliebte Umgehung der 
Anzeigepflicht haben zwar einzelne Polizeiverordnungen eine strengere Fassung 
gewählt, so Minden, (Aerzte auch diejenigen Fälle, in denen der Verdacht nicht 
gänzlich ausgeschlossen ist), Stralsund (Hebammen, jeden Fall einer 



22 


Besprechungen. 


fieberhaften Erkrankung), Münster (Hebammen wenn stundenlanges Fieber 
über 38° C. besteht) und Hildesheim (Hebammen fieberhafte Erkrankungen, 
in denen ein Arzt nicht zngezogen oder solange derselbe die Anzeige nicht aus¬ 
drücklich für überflüssig erklärt). Ich vermisse hier die Erwähnung der Polizei¬ 
verordnung für die fiheinprovinz vom 2. April 1891, (die Anführung einer 
Polizeiverordnung für die Rheinprovinz vom 30. März 1891 S. 353 dürfte wohl 
auf einem Irrthum beruhen) die in §. 3 besagt: „Im Falle kein Arzt zugezogeu 
ist, hat die Hebamme, wenn bei einer Wöchnerin ein Fieber gleich sehr heftig 
mit starkem Schüttelfrost auftrift und die Körperwärme bis auf 40° C. und 
darüber steigt, oder wenn ausser dem Fieber noch andere Krankheitserschei¬ 
nungen, wie Schmerzen im Leibe, Empfindlichkeit gegen Druck, Störungen der 
Wochenreinigung u. s. w. zugegen sind, von der Erkrankung sofort dem Kreis- 
physikus mündlich oder schriftlich Anzeige zu machen.“ 

Verfasser will nun die Auzeigepflicht für die Aerzte auf diejenigen Fälle 
beschränkt sehen, wo dieselben zur Zeit der Erkrankung der Wöchnerin nur 
allein thätig sind und hofft dadurch in den Aerzten Verbündete für die Kontrole 
der Hebammen zu erhalten. Für die Anzeigepflicht der Hebammen aber ver¬ 
langt er die Aufstellung bestimmter, nicht misszudeutender krankhafter Er¬ 
scheinungen, von denen er aber nur das Fieber besonders erwähnt und bespricht. 
Nach Fritsch begründe zwar jede Temperatur von 38,5 die Isolirung der 
Wöchnerin, für die Privatpraxis also die Aufhebung der Kommunikation 
zwischen Hebamme und Wöchnerin, dagegen würde nach A h 1 f e 1 d die Anzeige 
jeder fieberhaften Erkrankung die ganze Massregel illusorisch machen, da auf 
dem Lande zwischen 30—50 °/„ der Wöchnerinnen dem Physikus gemeldet 
würden; andererseits haben sich tür den Stadtkreis Stralsund diese Anzeigen 
bewährt, für den Landkreis aber nur desswegen weniger gut, weil viele Heb¬ 
ammen keine Temperaturmessungen vorgenommen hätten. 

Jedenfalls muss man dem Verlangen des Verfassers nach bestimmten 
Kriterien beipflichten und würden sich für die Praxis solche in dem Fieber zu¬ 
mal in Verbindung mit anderen Erscheinungen wohl bewähren, wobei sehr gut 
ein Unterschied gemacht werden kann zwischen dem Fieber, wo die Hebamme 
allein und wo ein Arzt zugezogen ist. Bedauerlich ist, dass das „Neue Hebammen- 
Lehrbuch“ keine bestimmte Normen aufgestellt hat. Wenn die Hebamme für 
diese Anzeigen Formulare benutzen müsste, auf denen neben diesen Kriterien 
auch andere wichtige Fragen zu beantworten wären, so würde sie gewiss zur 
strengeren Beobachtung der Erscheinungen genöthigt sein, während die Kontrole 
über rechtzeitige Anmeldung und die Ausscheidung überflüssiger Anzeigen sehr 
erleichtert wäre. Eine Anzeigepflicht der Aerzte würde ich ungern vermissen, 
im Gegentheil würde ich schon der Kontrole wegen die Ausfüllung ähnlicher 
Formulare wünschen. 

Schliesslich betont Verfasser noch die Nothwendigkeit der Kontrole der 
Wirksamkeit, bestehend in den standesamtlichen Meldungen an die Physiker, 
wie sie in einzelnen Kreisen bereits eingeführt sind und sich bewährt haben. 

In Bezug auf meine in der vorstehenden Arbeit besprochene Statistik der 
Todesfälle an Kindbetttieber von 1888 möchte ich noch hervorheben, dass die 
Höhe der Prozentzahlcn welliger auf den Anzeigen der Aerzte und Hebammen im 
Allgemeinen als auf den theilweise kontrolirten ärztlichen Todtenscheinen der 
Stadtbezirke beruht. Dr. Blokusewski-Daun. 


Besprechungen. 

Dr. von Kerschensteiner, Kgl. Geheimer Rath, unter Mitwirkung von 
Nepomuk Zwikh, Funktionär im Kgl. statistischen Büreau: 
Generalbericht über die Sanitäts -Verwaltung im 
Königreiche Bayern, das Jahr 1889 umfassend. Im 
Aufträge des Kgl. bayerischen Staatsministeriums des Innern 
nach amtlichen Quellen hergestellt. XXI. Band (Neue Folge, 




Besprechungen. 


23 


X. Bd.). Mit 21 Tabellen, 6 Kartogrammen und 2 Diogrammen. 
München, Verlag von Fr. Bass ermann, 1892. 4°, 196 Seiten. 

Der Bericht enthält in seinem beschreibenden Theile Mittheilungen über 
A) Sanitäts-Verwaltung in den Regierungsbezirken. B) Sanitäts-Verwaltung 
in den Kreis-Irrenanstalten. C) Sanitäts - Verwaltung in den Zuchthäusern, 
Gefangenanstalten und Arbeitshäusern, D) Ergebnisse der Geschäftsführung der 
Medizinal - Komiteen an den Universitäten. — Wir entnehmen dem in vielfacher 
Beziehung interessanten und lehrreichen Berichte, dessen Studium wir ange¬ 
legentlichst empfehlen können, nur folgendes allgemein Wissenswerthes: Was 
die Bewegung der Bevölkerung im Jahre 1889 betrifft, welche nach der 
neuesten Volkszählung nur in den Städten zugenommen hat, während die Land¬ 
bevölkerung sogar etwas zurückgegangen ist, so ist zu bemerken, dass sich einer¬ 
seits die Zahl der Lebendgeborenen ziemlich erheblich vermehrt, andererseits aber 
jene der Sterbefälle bedeutend vermindert bat (-|- 2460 bezw. — 7944). Die 
Zahl der Todtgeborenen betrug 6707 oder 3,26 der Gesammtzahl der Ge¬ 
borenen; der unehelich Geborenen 14,1 °/ 0 sämmtlicher Geborenen. Die letzte 
Zahl steigt von Jahr zu Jahr. — Von 39515 Eheschliessungen sind im 
Berichtsjahre 259 zwischen Blutsverwandten abgeschlossen worden. — Die Zahl 
der Sterbefälle beträgt 2,66 auf je 100 Personen der Bevölkerung, sie ist 
gegen die Vorjahre kleiner geworden. Der Prozentantheil der männlichen Ge¬ 
storbenen gegenüber den weiblichen überwiegt regelmässig im ersten Lebens¬ 
jahre, dann vom 4t.—60. Jahre; umgekehrt ist dieser Prozentantheil beim weib¬ 
lichen Geschlechte höher vom 2.—44)., dann vom 61. Lebensjahre aufwärts. — 
Von den Todesursachen trifft der Haupttheil auf die lokalisirten Krank¬ 
heiten, ihnen erlagen von den zusammen auf 100000 Einwohner gestorbenen 
2646 Personen, 1157 oder 43 °/ 0 ; dann folgen die Infektions- und allge¬ 
meinen Krankheiten. — Die Zahl der ärztlich Behandelten unter den 
Gestorbenen nimmt langsam zu, aber die Steigerung beträgt seit 15 Jahren 
nur 5°/ n . Es ergiebt sich bei dieser auf Grund der Todtenscheine hergestellten 
Statistik, dass noch immer bei mehr als */„ der Gestorbenen ärztliche Hülfe nicht 
nachgesucht war. Neben der lokalen Gleichgültigkeit wirkt die Aerztezahl 
mit; denn in den Städten wurden 87°/ 0 , in den Landbezirken nur 50°/ 0 
der Gestorbenen ärztlich behandelt (Verhältniss der Aerztezahl auf je 100000 
Einwohner nach Stadt und Land = 78: 23). Mit der Zahl der Aorzte steigt 
auch die Zahl der ärztlich Behandelten. — In Bezug auf die Kindersterb¬ 
lichkeit hat man konstatiren können, dass die Sterblichkeit im ersten Lebens¬ 
monate 15 mal höher ist als im 12. Lebensmonate. Von je 100 Lebendgeborenen 
starben 27,7 im ersten Lebensjahre, von diesen letzteren 20,6 an angeborener 
Lebensschwäche, Atrophie, Darmkatarrh und Brechdurchfall. Von den an den 
aufgezählten Krankheiten gestorbenen Kindern waren nur 30 °/ 0 ärztlich behandelt 
worden. — Im Ganzen wurden im Jahre 1889 Sei bst morde verübt: a) bei der 
Zivilbevölkerung 708, b) beim Militär 29. Es kommen auf eine Million Ein¬ 
wohner 133 Selbstmorde, die relative Zahl derselben hat sich somit vermindert. 
Dem männlichen Geschlechte gehörten 779, dem weiblichen 221 Selbstmörder an; 
*/,— 2 /s aller Selbstmörder kommen auf die Altersgruppe von 41—60 Jahre. In 
Bezug auf Geistesstörung oder Selbstmord in der Familie des Selbstmörders 
blieben die Erhebungen in einem Drittel der Fälle erfolglos; auf je einen 
konstatirten Fall von Selbstmord oder Irrsinn in der Familie des Selbstmörders 
kommen 5 Fälle, in welchen dieses disponirende Moment nicht gegeben war. 
Stets wird die Hälfte der Selbstmorde und mehr durch Erhängen ausgeführt, dann 
folgen zu fast gleichen Zahlen ( l / 5 und darunter) das Ertränken oder Erschiessen; 
3 °/ 0 treffen auf Schnitt und Stich, 2 °/ 0 auf Vergiftung. Als häufigster Grund wird 
die Geisteskrankheit bezeichnet, sie umfasst 40 und mehr Prozent der Fälle, dann 
folgen als veranlassende Motive: Lebensüberdruss, Kummer u. s. w. In 20°/ 0 
der Fälle bleibt das Motiv unbekannt. — Todesfälle nach Verun¬ 
glückungen sind 1509 gemeldet, also 272 auf je 1 Million Einwohner (in der 
Stadt 216, auf dem Lande 288). Nach dem Geschlecht treffen auf je 1 Million 
Einwohner 121 tödtliche Unglücksfälle beim Weibe, dagegen 431 beim Manne; 
der letztere ist durch seine Berufsverhältnisse einer Verunglückung mehr aus¬ 
gesetzt. Mehr als ein Drittel der Verunglückungen trifft immer auf das Er¬ 
trinken (im Jahre 1889: 533 Personen), dann folgt das Herabstürzen, das Ueber- 
fahrenwerden; letzteres übrigens weit öfter durch Landfuhrwerk als durch 



24 


Besprechungen. 


Eisenbahn. 42 Personen erlagen der Verunglückung durch Blitzschlag. Einen 
grossen Tlieil der Ertrunkenen bilden in Folge mangelhafter Beaufsichtigung die 
Kinder unter 5 Jahren. 

Zur Aufstellung der Morbiditätsstatistik hatten sich auf Anregung 
des Geheimrathes Dr. von Kerschenstei.ner eine Anzahl von ärztlichen 
Vereinen, Bezirksärzten und praktischen Aerzten bereit erklärt, nach einem 
besonderen Formulare Monatstabellen über die zu Kenntniss gelangten Fälle von 
Infektionskrankheiten einznsenden, welche sodann im Medizinalreferat des Kgl. 
Staatsministeriums des Innern zusammengestellt und in der „Münch, med. 
Wochenschrift“ veröffentlicht wurden. Wenn auch vorerst das Ergebniss dieser 
Statistik noch lückenhaft genannt werden muss, so betheiligten sich doch 
schon von den 1950 Aerzten der Monarchie 922 daran; in den 6 grossen 
Städten von 533. Aerzten 400. In dem Jahre 1889, also dem ersten Jahre 
der Einführung der Morbiditätsstatistik, sind 77217 Erkrankungsfälle berich¬ 
tet. Mit den höchsten Morbiditätszahlen sind vertreten: Diphtherie und 
Krupp 13932, Masern 12867, Pneumonia crouposa 12878, Brechdurchfall 9135, 
akuter Gelenkrheumatismus 5849, Scharlach 5165, Keuchhusten 5153 Fälle. 
— Bei den einzelnen Infektionskrankheiten wäre folgendes hervor¬ 
zuheben: a) Blattern: 243 Personen sind im Berichtsjahre in Bayern er¬ 
krankt, davon treffen 133 dieser Fälle, also mehr als die Hälfte, allein auf 
den Regierungsbezirk Niederbayern. Mehr als 40 °/ 0 der ungeimpften Blattern¬ 
kranken erlagen der Krankheit, von den geimpften dagegen sind im Berichts¬ 
jahre nicht einmal 10 °/ 0 gestorben. Aerztlich behandelt wurden im Berichts¬ 
jahre 65,5°/ 0 der Gestorbenen, b) Scharlach: Im Winter 316, im Frühling 
315 Sterbefälle, dagegen im Sommer und Herbst zusammen nur 459. Aerztlich 
behandelt waren von den Gestorbenen 83 °/ 0 . Das Jahr 1889 mit 20 Scharlach- 
Sterbefällen auf je 100000 Seelen war das günstigste der letzten 14 Jahre. 

c) Masern: Von 922 Aerzten sind 12967 Erkrankungen gemeldet, und zwar 
im Winter 5038, im Frühling 5116; im Sommer und Herbst zusammen 2813. 
Während der letzten 14 Jahre war die grösste Masernsterblichkeit 5 Mal auf 
den Winter, 8 Mal auf den Frühling und 1 &lal (1886) auf den Herbst gefallen. 

d) Diphtherie: Gemeldet sind von den Aerzten: im Winter 4071, im Frühling 
3419, im Sommer 2682, im Herbst 3760 Fälle. Gestorben sind im 1. Lebens¬ 
jahre: 412, im 2.—6. Jahre 3522, im 6.—10. Lebensjahre 1255, im 11.—20. = 207, 
von 21 Jahren und darüber 44 Patienten. Aerztlich behandelt waren im Jahre 
1889 : 83,9°/ 0 der Gestorbenen, e) Keuchhusten: Die grösste Sterblichkeit 
fiel in den Frühling, wie in den letzten 13 Jahren ohne Ausnahme beobachtet 
wurde ; mehr als */„ Keuchhusten - Sterbefälle fallen aut das Säuglingsalter. 
Aerztlich behandelt wurden nur 42°/ 0 der Gestorbenen, f) Typhus: Seit 
30 Jahren ist diese Krankheit von 105 auf 14 von je 100 000 Einwohnern zurück¬ 
gegangen; der stärkste Rückgang trifft auf den Regierungsbezirk Oberbayern, 
in welchem die Typhus - Mortalität nur den 11. Theil von jener des Jahres 
1871 beträgt. Im Berichtsjahre fallen die meisten Typhus-Sterbefälle in den 
Sommer; ärztlich behandelt waren im Jahre 1889: 96,6°/ 0 der Gestorbenen. Von 
den Aerzten sind als an Typhus behandelt 2138 Patienten gemeldet worden und 
zwar im Winter 374, im Frühling 421, Sommer700, Herbst 643. g) Tuberku¬ 
lose: Im Jahre 1888 starben 18402, im Jahre 1889 nur 17479 Personen an 
Tuberkulose. Das männliche Geschlecht ist der Tuberkulose mehr unterworfen als 
das weibliche; es treffen im Durchschnitt der beiden letzten Jahre 353 männliche 
und 298 weibliche Gestorbene auf je 100000 Einwohner des bezüglichen Ge¬ 
schlechts. Auf die gleiche Seelenzahl berechnet treffen in den Städten über 
*/, Gestorbene mehr als auf dem Lande. Der absoluten Zahl nach ist abgesehen 
von den beiden ersten Lebensjahren, vorzugsweise eiue Krankheit des mittleren 
Alters. Von je 100 Sterbefällen treffen auf Tuberkulose im Alter von 21—30 
Jahren: 56,7; von 31—40: 46,0, von 41—50: 34,1 Sterbefälle. Die Sterblichkeit 
der beiden Geschlechter an Tuberkulose ist eine wesentlich verschiedene. 
Gemeinsam ist bei den Geschlechtern nur der nach dem Abgänge der hereditären 
Fälle eintretende starke Rückgang der Mortalität nach dem zweiten Lebens¬ 
jahre und das ebenso rapide Steigen der Sterblichkeit bei beginnender Geschlechts¬ 
reife. Die Mortalität ändert sich in der Periode von 21—30 Jahren in ganz 
auffallender Weise. Während sich die Sterblichkeit beim männlichen Geschlechte 
fast in gleich intensiver Weise bis in das Greisenalter steigert, erleidet jene des 
weiblichen Geschlechtes eine Abschwächung der Intensität und zwischen dem 



Besprechungen. 


25 


40.—60. Lebensjahre sogar einen erheblichen Rückgang und zwar im Gegensatz 
zur allgemeinen Sterblichkeit, welche auch beim weiblichen Geschlechte bis in 
das höchste Alter ununterbrochen steigt. Es darf vermuthet werden, dass dieser 
Rückgang ausgelöst wird durch akute Lebensbedrohungen, die aus dem Berufe 
der Kran als Mutter entspringen. — h) Kindbettfieber: 471 Todesfälle. Auf 
je 10 000 Gebärende 23,2 an Kindbettfieber gestorbene Frauen. 730 Fälle sind von 
den Aerzten als an Kindbettfieber behandelt gemeldet; die grösste Morbiditäts¬ 
und Mortalitäts-Zahl fällt in den Winter. i) Meningitis cerebro-spinalis 
epidemica: 141 Todesfälle, k) An Milzbrand sind 8 Personen gestorben; 
Trichinose: nur 2 Todesfälle, was als äusserst niedrige Sterbeziffer ange¬ 
sehen werden kann, da in Bayern die obligatorische Trichinenschau noch nicht 
eingeführt ist (Ref.). — 

Es würde der Rahmen eines Referates überschritten werden, wollte man 
über die vielen interessanten Einzelheiten der nunmehr folgenden Abschnitte 
berichten; wegen der Fülle des Materials soll daher auf das Original verwiesen 
werden. Dr. Israel-Medenau (Ostpr.). 


Dr. Axel Winckler, Badearzt in Steben. „Zur Beschränkung 
der Mineralwasserfabrikation“. Vortrag, gehalten am 
8. Oktober 1892 zu Kosen auf der I. Jahresversammlung des 
Allg. Deutsch. Bäderverbandes. Nürnberg, 1892, Verlag der 
Baln. Zeitung. 

Verfasser wendet sich gegen Mineralwasserfabrikation im allgemeinen, 
speziell gegen die Nachahmung natürlicher Quellen, die immer ungeschickt aus- 
fallen müsse, da die Chemie nicht im Stande sei, wirklich genaue Analysen zu 
liefern. — In der Verfügung vom 9. Febr. 1880 wie in der Verordnung vom 
27. Jan. 1890 werde ein Unterschied zwischen künstlichen Mineral- und Phantasie¬ 
wässern gemacht. Die letzteren dürfen — als Arzneibereitungen — nur in den 
Apotheken verkauft werden, die ersteren siud als gleichbedeutend mit natür¬ 
lichen Wässern keiner Beschränkung im Handelsverkehr unterworfen. Die 
Phantasiewässer unterstehen einer Revision durch die Aufsichtsbehörden, auch 
gäbe das Nahrungsmittel-Gesetz eine Handhabe, Unfug in der Mineralwasser¬ 
fabrikation zu steuern, da die meisten künstlichen Wässer mehr als Genuss-, 
denn als Arzneimittel verwendet werden. Eine Kontrole der Nachahmungen 
natürlicher Quellen fehle aber bisher und doch sei eine solche nach den Ausführungen 
des Verfassers wünschcnswerth, eine Ansicht, der wir gerne beipflichten. 

Kreisphysikus Dr. See mann-Northeim. 


Dr. Dornblueth, prakt. Arzt in Kustuck: Die Gesundheitspflege 
der Schuljugend. Für Eltern und Erzieher. Stuttgart, 
Leipzig, Berlin, Wien 1892. Deutsche Verlags-Austalt. 

Verfasser, dessen Feder wir schon manche hygienische Abhandlungen ver¬ 
danken, zeigt in dem Buche, dass es ausser einer Schulhygiene auch eine Schüler¬ 
hygiene giebt. Die erstere fällt den Aerzten, nur nicht in zu weitgehendem 
Masse zu, letztere ist Aufgabe der Eltern. Die Hygiene des Kindes vor der 
Schule, die häusliche Gesundheitspflege der Schulkinder je nach den einzelnen 
Schulstufen in Bezug auf Ernährung, Körperpflege und Diätetik des Gehirns und 
Geistes, der Pflege des Gemüths und Charakters sind die Kapitel über Schüler- 
hygieue. — Die Schulhygiene findet in den Abhandlungen über Gesundlieits- 
gemässe Einrichtung der Schulen, über Unterrichtsmittel, Lehrmethode, Schul¬ 
arbeit» *n gebührend Beachtung. Der Darstellung dieser so hochwichtigen Sache 
ist die Anerkennung nicht zu versagen. Möge das Buch die ihm gebührende 
Verbreitung finden, um die Schule von manchem Vorwurf in Bezug auf die Ge¬ 
fährdung der Gesundheit der Schulkinder zu entlasten und den Eltern und Er¬ 
ziehern ihre Aufgabe in der körperlichen Erziehung der Kinder klar zu machen. 

Dr. Overkamp-Warendorf. 



26 


Tagesnachrichten. 


Dr. Heidenhain, Kreiswundarzt: Erste Hülfe vor Ankunft des 
Arztes und Desinfektion nach dem neuesten mini¬ 
steriellen Erlass vom 28. Juli 1892. Rath für Schule 
und Haus. Köslin 1892. Verlag von C. G. Henders. 

Es war ein glücklicher Gedanke, die Rathschläge für erste Hülfeleistung 
mit der Aufzählung der Desinfektionmassregeln zu verbinden and beide dem 
grossen Publikum in leicht fasslicher Darstellung in Plakatform zn bieten. Dem 
recht ausführlich und durch mehrere Zeichnungen anschaulich gehaltenen Blatte 
wünschen wir die grösstmögliche Verbreitung. 

Dr. Israel-Medenau (Ostpr.). 


Tagesnachrichten. 

Aerztetag. In der am 11. Dezember v. J. stattgehabten Sitzung des 
Geschäftsausschasses des Deutschen Aerztevereinsbundes ist beschlossen, 
den nächsten Aerztetag Ende Juni oder Anfang Juli nächsten Jahres in Breslau 
abzuhalten. Auf die Tagesordnung sind zunächst gesetzt: 1. Der ärztliche 
Dienst in den Krankenhäusern und 2. die Anzeigepflicht der Aerzte bei an¬ 
steckenden Krankheiten. 


Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege wird seine 
diesjährige Jahresversammlung in der zweiten Hälfte der Pfingstwoche, vom 
25.—27. Mai d. J. in Würzburg abhalten. 


Den politischen Blättern zutolge wird dem Reichstage bald nach seinem 
Wiederzusammentritt das Reichsseuchengesetz als Vorlage zugehen. Der 
Gesetzentwurf ist im Reichsamt des Innern bereits vollständig ausgearbeitet und 
soll vor seiner Einbringung beim Bundesrath nur noch eine Ueberprüfung nach 
der verwaltungstcchnischen Seite unterzogen werden. Sehr zu bedauern ist, dass 
der um das Zustandekommen dieses Gesetzes hochverdiente Direktor des Kaiser¬ 
lichen Gesundheitsamtes Dr. Köhler an einem Lungcnleiden schwer erkrankt 
ist und in Folge dessen keinesfalls in der Lage sein wird, den Gesetzentwurf 
vor dem Reichstage zu vertreten. 


Zur Medizinalreform. Die Kreuzzoitung schreibt: „Das Wiederauf¬ 
tauchen der Cholera in Hamburg und andern Orten hat nicht nur die Aufsichts¬ 
behörden veranlasst, von Neuem die Anzeigepflicht einzuschärfen, sondern es 
kommen auch die alten Klagen über die Unzulänglichkeit der Medizinalpolizei 
zum Vorschein. Die bezüglichen Mängel sind auch schon an amtlicher Stelle 
längst erkannt und ebenso ist man auf Abhülfe bedacht gewesen, namentlich seit 
der neueren Berathungeu über das Seuchengesetz. Dem Vernehmen nach ist 
nun in den jetzt fertiggestellten preussischen Etat eine Summe eingestellt, um 
die Kreisphysiker selbstständiger zu stellen und sie von der Praxis, von welcher 
sie bis jetzt in ihrer wirthscbaftlicken Existenz abhängig waren, unabhängig zu 
machen. Bisher erhalten dieselben bekanntlich nur eine Remuneration von 
900 M. jährlich. Auch abgesehen von dem nothwendigen Gehalte wird den 
Kreisphysikem nach mehreren Richtungen hin eine grössere Selbstständigkeit 
gewährt werden.“ 

Wenn sich die Kreuzzeitung in Bezug auf die letztere Mittheilung nur 
nicht geirrt hat! Die Medizinalbeamten sind in ihren Hoffnungen schon so oft 
getäuscht worden, dass sie jetzt schliesslich derartigen Nachrichten gegenüber 
misstrauisch geworden sind. Um so mehr würden wir uns aber freuen, wenn 
der in allernächster Zeit dem Abgeordnetenhause vorzulegende Etat die Mit¬ 
theilung der Kreuzzeitung bestätigen sollte. 


Cholera. Leider ist die Cholera iu Hamburg und Altona wieder 
aufgetaucht, wenn auch die Erkrankungställe bis jetzt nur noch vereinzelte 



Tagesnachrichton. 


27 


geblieben sind. In Hamborg sind in der Woche vom 11.—17. Dezember 4 Per¬ 
sonen erkrankt und 1 gestorben, vom 17.—24. Dez. 11 erkrankt und 3 gestorben, 
vom 15.—31. Dez. 17 erkrankt und 3 gestorben. 

In Altona kamen in der letzten Dezemberwoche 5 neue Choleraerkran- 
knngen vor mit 3 Todesfällen. Auch aus Wandsbeck wird ein Erkrankung»- und 
Todesfall gemeldet. Wenn auch ein weiteres Umsichgreifen der Seuche zur 
Zeit nicht zu erwarten steht, so vermehren diese neuen vereinzelten Erkran¬ 
kungen doch die Gefahr eines Wiederausbruchs der Cholera mit Eintritt der 
wärmeren Jahreszeit. Dieser Befürchtung ist auch in dem jüngsten Ministerial- 
Erlass vom 14. Dezember v. J.*) Ausdruck gegeben und in diesem von Neuen 
auf die Wichtigkeit der rechtzeitigen Anzeige und der bakteriologischen Unter¬ 
suchung aller choleraverdächtiger Fälle hingewiesen worden. 

In Budapest betrug die Zahl der Cholera - Erkrankungen in der Woche 
vom 3.—9. Dezember 9, in derjenigen vom 10.—16. Dezember 7 und in der¬ 
jenigen vom 17.—23. Dezember 8 mit je 3 Todesfällen. In Galizien sind in 
der Zeit vom 23.—27. Dezember 12 Erkrankungen mit 6 Todesfällen vor¬ 
gekommen. 

In Russland soll die Seuche in den westlichen, der deutschen Grenze 
zunächst gelegenen Gouvernements erfreulicher Weise eine weitere Abnahme 
erfahren haben, desgleichen in den Gouvernements Kiew und Wolhynien, dagegen 
eine Zunahme in Podolien. 

Der von der russischen Regierung einberufene Cholera-Kongress 
hat während der letzten Woche des Dezembers in Petersburg getagt und sich 
am ersten Tage mit der Entstehung und Verbreitung der vorjährigen Epidemie 
(Zahl der Erkrankten, Geheilten und Verstorbenen, der verseuchten Bezirke 
u. s. w.) beschäftigt. An den folgenden Tagen sind dann die Massnahmen gegen 
die Einschleppung, sowie für die Bekämpfung der Cholera nach erfolgtem 
Ausbruch der Seuche besprochen worden. 


Znr Apothekenfrage. Der Vorstand des Deutschen Apotheker- 
Vereins ist mit Rücksicht auf die in jüngster Zeit erfolgte ausserordentlich 
zahlreiche Konzessionirung neuer Apotheken und die dadurch in den Kreisen der 
Apothekenbesitzer zu Tage getretene lebhafte Beunruhigung an massgebender 
Stelle vorstellig geworden. In der von dem Herrn Minister dem Vorsitzenden 
des Vereins am 29. v. M. gewährten Audienz nahm dieser nach der Apotheker¬ 
zeitung (Nr. 105, 1892) Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass durch diese ver¬ 
mehrte Konzessionirung von Apotheken eine schwere Schädigung des gegen¬ 
wärtigen Besitzstandes zn befürchten sei. Die Verordnungen über den Verkehr 
mit Arzneimitteln und über die Abgabe starkwirkender Mittel hätten ohnehin 
in einschneidender Weise auf die Rentabilität der Apotheken eingewirkt, und 
werde mit der Errichtung neuer Apotheken in gleichem Umfange wie in jüngster 
Zeit fortgefahren, so würde unausbleiblich eine grosse Zahl von Existenzen im 
Apothekenberufe in Frage gestellt werden. Dem gegenüber betonte der Herr 
Mmister, dass er keine Veranlassung zu den Beunruhigungen in Apotheker¬ 
kreisen sehen könne. Es liege ihm fern, die bewährte bisherige Verwaltungs¬ 
praxis zu verlassen, jedoch sehe er es als im wohlverstandenen Interesse des 
Apothekerstandes selbst liegend an, wenn eine gerechte Vermehrung der Apo¬ 
theken im Verhältnisse zu der wachsenden Bevölkerung stattfinde. Das sei 
gewiss das kleinere Uebel gegenüber den sonstigen Unzulänglichkeiten, die durch 
ein Znrückhalten mit Neuanlagen, wo sie angebracht seien, entstehen müssen. 
Jede Härte will der Herr Minister dagegen vermieden wissen und gestattete 
dem Vorsitzenden ausdrücklich, diese seine Absicht den Fachgenossen gegenüber 
zum Ausdruck zu bringen. 

Im weiteren Laufe der Audienz kamen noch andere, die Apotheker lebhaft 
beschäftigenden Fragen zur Erörterung und fand der Vorsitzende des Apotheker¬ 
vereins beim Herrn Minister ein bis in alle Einzelheiten tiefgehendes Verständ- 
niss und entgegenkommendes Wohlwollen, andererseits aber auch die Bestätigung, 
dass eine Regelung desApothekenwesens im Sinne der Personal¬ 
konzession in der Absicht liege. 


*) Vergl. S. 2 der Beilage zur heutigen Nummer. 



28 


Tagesnachrichten. 


In den Apothekerzeitungen wird ausserdem eine von dem Verein der 
Königsberger Apothekenbesitzer am 11. v. M. an Se. Majestät den Kaiser ein¬ 
gereichte Petition behufs Regelung des Apothekenwesens im Deutschen Reiche 
veröffentlicht und werden alle Apotheker zur nachträglichen Unterschrift auf¬ 
gefordert. Dass diese Eingabe in Bezug auf ihre Begründung, sowie in 
Bezug auf die in ihr vorgebrachten Wünsche sehr glücklich abgefasst wäre, kann 
nicht behauptet weiden. In Apothekerkreisen befürchtet man daher mit Recht, 
dass das Vorgehen der Königsberger Apothekenbesitzer der Sache eher schaden 
als nützen dürfte. 


In der neuen Arzneitaxe für 1893 haben ausser verschiedenen Ver¬ 
änderungen der Taxansätze für einzelne Arzneimittel (bei 61 Arzneimitteln ist 
eine Erhöhung, bei 119 eine Ermässigung der Preise eiugetreten) die allgemeinen 
Bestimmungen über die Abrundung der Rezepte und die Arbeitspreise für die 
Herstellung komprimirter Arzneiformen eine andere Fassung erfahren. Die 
Aenderung behufs der Abrundung der Rezepte ist nur stilistischer Art; die Be¬ 
stimmung über Komprimiren mehrerer Substanzen zu einer Tablette hat dagegen 
den Zusatz erhalten, dass für jedes Stück über 25 hinaus nur die Hälfte des 
sonst üblichen Arbeitspreises (10 Pf. für das Stück) in Anrechnung gebracht 
werden darf. Ausserdem ist eine Vorschrift über die Verwendung von Luxus- 
gefässen aufgenommen und dürfen künftighin „weisse Gläser“, Gläser mit ein¬ 
geriebenen Stöpseln, Tropfgläser, gefärbte Gläser, sowie Holzkork - Stöpsel und 
Kautschuk - Stöpsel nur zur Anwendung und Berechnung kommen, wenn sie aus¬ 
drücklich verlangt und verordnet worden sind, oder wo sie durch die Natur des 
Arzneimittels nothwendig erfordert werden. 

Ebenso wie früher wird am Schluss der Taxe für die Gefässe bestimmt, 
dass, wenn reine leere Gläser oder Kruken mit dem Rezepte in die Apotheke 
gesendet oder bei Wiederholungen zurückgegeben werden, nur die Hälfte der 
sonst üblichen Preise in Anrechnung kommen darf. Diese Bestimmung bedingt 
zweifellos eine ungerechtfertigte Benachtheiligung des Publikums in denjenigen 
Fällen, wo theurere Gefässe (sechseckige, gefärbte, Tropfgläser u. s. w.) wieder 
in die Apotheke zurückgebracht werden; denn der Apotheker ist nach der Taxe 
berechtigt, sich auch bei diesen Gefässen die Hälfte des in der Taxe vorge¬ 
sehenen Preises zu berechnen, obwohl seine Arbeit doch keine audere ist, als 
wenn billigere Gefässe zurückgebracht werden, und etwaige grössere Auslagen 
hierbei nicht mehr in Betracht kommen. Diesen Uebelstand zu beseitigen, em¬ 
pfiehlt es sich, in dem Preise für die Gefässe nicht denjenigen für Kork, Tektur 
und Signatur mit einzubegreifen, sondern beide von einander zu trennen. Werden 
dann Gefässe bei Wiederholungen von Rezepten wieder zurückgegeben, so dürfte 
für diese nichts in Anrechnung gebracht, sondern nur der in der Taxe vorge¬ 
sehene Preis für Tektur und Signatur mit oder ohne Kork berechnet werden. 
Um übrigens eine dadurch entstehende neue Position in der Taxe zu vermeiden, 
könnte auch der Preis für Tektur, Signatur u. s. w. sehr zweckmässig mit 
dem Arbeitspreis für die Anfertigung der verschiedenen Arzneiformen verbunden 
und dieser entsprechend erhöht werden. 


Schwemmkanalisation in München. Der verstärkte bayerische Ober¬ 
medizinalausschuss hat sich in seiner Sitzung vom 30. November v. J. einstimmig 
für die Einleitung der Fäkalien der Stadt München in die Isar ausgesprochen 
und wird nunmehr auch die staatliche Genehmigung in allernächster Zeit mit 
Sicherheit zu erwarten sein. Die Münchener mediz. Wochenschrift sagt mit 
Recht, dass Herr Geh. Rath v. Pettenkofer mit stolzer Genugthuung 
auf diesen Erfolg seiner unablässigen, nahezu ein Menschenalter hierdurch fort¬ 
gesetzten Bemühungen um das Zustandekommen jenes Werkes blicken könne; wir 
wollen nur wünschen, dass sich die von ihm aufgestellte Theorie in Bezug auf 
die Selbstreinigung der Flüsse demnächst auch in der Praxis bewährt. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.-u. Med.-Rath i. Minden i. W. 

J. C. 0. Bruns, Bochdruckcrei, Minden. 




6. Jahrg. 


Zeitschrift 

für 


1893. 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgesreben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rathu.gerichtl.Stadtphvsikus inBerlin. R n g.- und Mcdi/.inalrath in Minden. 

and 

Dr. WILH. SANDER 

Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer's mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verl Abhandlung und Rud. Motse 

entgegen. 


No. 2. 


Erscheint aut 1 . mid 15. jeden Monats. \\ * r Ton or 
Prols jährlich 10 Mark. H -IO. Januar. 


Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen 
und der Schulkinder des Kreises Isenhagen. 

Von Dr. Max. Langerhans, Kreisphysikus in Hankensbttttel. 

Die Untersuchungen, deren Ergebnisse auf den nachfolgenden 
Seiten zusammengestellt sind, wurden gelegentlich einer mehr¬ 
wöchentlichen Fusswanderung angestellt, welche ich in den Mo¬ 
naten August und September 1891 zu dem Zwecke unternahm, 
mich über die hygienischen Verhältnisse meines Physikatsbezirkes 
in eingehenderer Weise zu unterrichten, als es die Ausübung der 
Privatpraxis und der Physikatsthätigkeit, wie sie in Preussen zur 
Zeit leider noch eingerichtet ist, ermöglicht. Nun ist unter den 
einfachen Verhältnissen eines rein ländlichen Kreises von gross¬ 
artigen und mannigfaltigen hygienischen Einrichtungen natürlich 
nicht die Rede, die geologischen und hydrographischen Verhält¬ 
nisse des norddeutschen Flachlandes sind ebenfalls sehr einfache, 
so dass von vornherein klar war, dass das Hauptaugenmerk auf 
die Schulen zu richten sein würde. Hierbei aber war die Auf¬ 
gabe eine doppelte. Einmal mussten die Schulhäuser, deren 
Lage und Bauart, die Schulzimmer, die Beleuchtungsverhältnisse, 
Trinkwasser, Aborte und andere für die Gesundheit der Schul¬ 
kinder in Betracht kommende Einrichtungen den Gegenstand der 
Untersuchung bilden. Zur Erleichterung der Arbeit hatte ich mir 
Fragebogen drucken lassen, in welche ich dieJErgebnisse meiner 
Untersuchungen, Messungen und Ermittelungen eintrug. Die Zu¬ 
sammenstellung der wichtigsten Ergebnisse in tabellarischer Form 
bildet den ersten Theil meiner Arbeit. Es*ist~nichts Neues, was 
ich biete; derartige Zusammenstellungen für einen grösseren oder 
kleineren Bezirk sind bereits mehrfach veröffentlicht worden — 
ich erinnere nur an den schönen, von mir vielfach benutzten Auf- 






80 


Dr. Langerhans. 


satz von Gleitsmann (die ländlichen Volksschulen des Kreises 
Zauch-Belzig in gesundheitlicher Beziehung), an die Arbeit von 
Tischler (das ländliche Volksschulhaus vom Standpunkt der öffent¬ 
lichen Gesundheitspflege) und von Fizia (die Schulgesundheitspflege 
im politischen Bezirk Teschen, Zeitschr. f. Schulgesundheitspflege, 
IV., 8). Immerhin zeigen die Verhältnisse, wie ich sie schildern 
werde, von den andererseits beschriebenen so vielfache und bedeu¬ 
tende Abweichungen, dass die Darstellung ein gewisses Interesse 
beanspruchen dürfte. 

Ungleich interessanter gestaltete sich die Untersuchung der 
Schulkinder auf ihren gesundheitlichen Zustand. Freilich, wenn 
man meine Untersuchungen Zusammenhalt mit deu gewaltigen 
Zahlenreihen der bekannten dänischen und schwedischen Enquete 
oder wenn man an die Hunderttausende von Schüleraugen denkt, 
deren Untersuchung das Fundament abgiebt für die Bestrebungen 
der Schulhygiene in ophthalmologisbher Beziehung, dann dürfte 
meine Arbeit nur ziemlich dürftig aussehen; denn es sind im 
Ganzen nur etwa 2500 Schulkinder, über deren Untersuchung ich 
berichten kann. Es ist aber bisher eigentlich Nichts bekannt ge¬ 
worden von Untersuchungen der Schulkinder auf dem flachen Lande 
in Norddeutschland, wie denn überhaupt Deutschland sich in dieser 
wichtigen Angelegenheit von unseren nordischen Stammesgenossen 
bei Weitem hat überflügeln lassen. Die überwiegende Mehrzahl 
der Schüleruntersuchungen, auf welche man sehr weitgehende Schluss¬ 
folgerungen und praktische Forderungen hat aufbauen wollen, ist 
an Schülern brzw. Schülerinnen höherer Lehranstalten vorgenommen 
worden. Es ist dies ein Fehler! Freilich, die Thatsache dürfte 
aus Hertel’s und Axel Key’s Untersuchungen unzweifelhaft her¬ 
vorgehen, dass ein erschreckend hoher Prozentsatz der Gymna¬ 
siasten und ähnlicher Schüler (Mittelschüler der nordischen En¬ 
queten) an allerhand chronischen Krankheitszuständen leidet und 
ein Blick auf die engbrüstige, brillentragende und bleichwangige 
Jugend in den Kollegiensälen unserer Hochschulen beweist, dass 
auch bei uns Vieles im Argen liegt! Aber die Schlussfolgerung, 
die man so gern hieraus zieht, dass an all’ diesem Unheil einzig 
und allein die Schule Schuld sei, beruht doch im Wesentlichen auf 
einem: „Post hoc — ergo propter hoc!“ und kann daher als be¬ 
rechtigt nicht ohne Weiteres zugegeben werden. Erst, wenn in 
einwandfreier Weise an genügend grossem Material festgestellt 
ist, in welcher Weise die körperliche Entwickelung derjenigen 
Kinder und jungen Leute vor sich geht, bei denen ein schädigender 
Einfluss der Schule in nennenswei ther Weise nicht statt findet, 
wenn sich dann heraussteilen sollte, dass bei der letzteren Kate¬ 
gorie die Entwicklung kräftiger und ungestörter verläuft und dass 
hier eine ähnliche Zahl von Kranken nicht vorkommt, erst dann 
dürfte als bewiesen angesehen werden, dass thatsächlich die Schule 
an der grossen Kränklichkeit die Hauptschuld trägt — auch d ann 
noch mit der Einschränkung, soweit nicht Vererbung, verkehrte 
häusliche Erziehung, Mangel an körperlicher Bewegung und- die 
übrigen schädlichen Einflüsse städtischen Lebens mitwirken. Von 



Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 31 

diesem Standpunkt ans halte ich es für geboten, den Schülerunter- 
sucbungen eine breitere Basis zu verleihen und sie in ähnlicher 
Weise, wie es die dänische Enquete - Kommission gethan, über 
sämmtliche Bevölkerungsklassen auszudehnen. Erst der Vergleich 
von ländlichen, kleinstädtischen und grossstädtischen Schulen, von 
höheren und niederen Schulen, von geschlossenen Internaten und 
freien Schulen wird einen bindenden Schluss zulassen aut den Ein¬ 
fluss, welchen all’ diese verschiedenen Verhältnisse auf die Ent¬ 
wicklung und den Gesundheitszustand der Schüler ausüben. Dies 
der Grund, weshalb ich auch für Deutschland eine umfassende, 
amtliche Enquöte für durchaus nothwendig halte. Bis dahin aber 
ist die Herbeischaffung eines möglichst vielseitigen Materials ge¬ 
boten und dies veranlasst mich, auch meine Untersuchungen zu 
veröffentlichen in vollem Bewusstsein derjenigen Mängel, welche 
durch die Kleinheit des Materials bedingt sind. 

Bevor ich aber auf die Schulverhältnisse eingehe, wird es 
nothwendig sein, in kurzen Zügen Land und Leute zu skizziren. 
Der Kreis Isenhagen gehört der Lüneburger Haide an; er besteht 
im Wesentlichen aus einem unfruchtbaren, mit ausgedehnten For¬ 
sten, mit Hochmooren und namentlich mit Haide bedeckten, sehr 
spärlich bevölkerten, flachen Höhenrücken. Nur in den Thäleim 
der Flüsse, namentlich der Ise. welche von Norden nach Süden 
fliessend, den Kreis in zwei gleiche Theile scheidet, und der Ohra, 
welche längs der Nordgrenze des Kreises verläuft, ist ein zum 
Theil sehr fruchtbarer Boden und eine verhältnissmässig dichte 
Bevölkerung zu finden. Doch wohnen im Ganzen auf der 800 qkm 
grossen Fläche nur 16000 Einwohner. Die einzige Nahrungsquelle 
ist Ackerbau und Viehzucht; Industrie fehlt vollständig und auch 
die wenigen Gewerbetreibenden, die in den grösseren Orten an¬ 
sässig sind, treiben ausnahmslos nebenbei Landwirtschaft. Gross¬ 
grundbesitz ist fast gar nicht vertreten, nur an drei Orten befindet 
sich ein grösseres Gut mit einem kleinen Stamm in Tagelöhnerkathen 
untergebrachter Arbeiter. Sonst aber dominirt hier vollständig 
der mittlere Bauernstand, der sich durchweg in recht guten, wirt¬ 
schaftlichen Verhältnissen befindet, ja, zum grossen Theil reich 
genannt werden kann; aber auch die kleineren Besitzer (Kossäten, 
Brinksitzer, Anbauern oder Abbauern, je nach der Grösse ihres 
Besitztums genanut), ein Stand, der übrigens in vielen Dörfern 
gar nicht vertreten ist, erfreuen sich meistens eines recht guten 
Durchschnittswohlstandes, so dass die Mehrzahl der Gemeinden 
keine Ortsarmen aufzuweisen hat. Dem Wohlstände entsprechend 
ist namentlich die Beköstigung sehr auskömmlich, ja fast allerwärts 
überreichlich, namentlich zu reich an Fett und Eiweiss. Nicht 
nur der Bauer hält für Familie und Gesinde drei tägliche Fleisch¬ 
mahlzeiten für unumgänglich nothwendig, sondern auch die kleineren 
Besitzer und die Tagelöhner betreiben eine Verschwendung mit ani¬ 
malischen Lebensmitteln, welche dem Fremden zunächst in hohem 
Grade überraschend ist! Es ist dies für die Schulhygiene insofem 
von Bedeutung, als diejenigen Gesundheitsstörungen, welche sich 
in Folge unzulänglicher Nahrungszufuhr ausbilden, hier nicht zu 



32 


Dr. Langerhans. 


erwarten sind und auch thatsächlich nicht Vorkommen. Ferner ist 
noch zu erwähnen, dass nicht nur die Leinewand für die Wäsche, 
sondern auch die Wollstoffe, aus denen die übrigen Kleider gefer¬ 
tigt werden, Erzeugnisse eigenen Hausfleisses sind, da im Winter 
in jedem Hause Spinnrad und Webstuhl, d. h. nur für den eigenen 
Bedarf, im Gange sind. Der in Folge dessen reichliche Besitz 
an guter, wenn auch derber Kleidung ist hygienisch natürlich sehr 
förderlich und der regelmässige nnd häufige Wechsel der Wäsche, 
der auch im kleinsten Tagelöhnerhause üblich ist, um so wichtiger, 
als im Uebrigen die Reinlichkeit, wie wohl überall auf dem Lande, 
Alles zu wünschen übrig lässt. Auch die Wohnungen sind viel¬ 
fach so unhygienisch, wie nur denkbar, wovon später. 

Der Kreis hat nur Landgemeinden, denn auch das Städtchen 
Wittingen (ca. 2000 Einwohner) hat Landgemeindeverfassung. 
Ausser diesem erreichen nur der Marktflecken Brome und die Dörfer 
Hankensbüttel und Knesebeck die Zahl von etwa 1000 Seelen, alle 
anderen Gemeinden sind viel kleiner; die kleinsten Dörfer haben 
nur etwa 40—50 Einwohner. Die Zahl der selbstständigen Ge¬ 
meinden, von denen einige allerdings nur winzige Kolonien, Forst¬ 
häuser u. drgl. sind, beträgt 76. 

A. Die Schalen. 

Die grosse Zahl der Gemeinden und die weiten Entfernungen 
des ausgedehnten Kreises haben, um den Kindern übermässig lange 
Schulwege zu ersparen, die Schaffung einer verhältnissmässig sehr 
grossen Zahl von Schulstellen veranlasst; ja, man ist hierin offen¬ 
bar zu weit gegangen. Dass z. B. das Dorf Wunderbüttel mit 
67 Einwohnern eine eigene Schule besitzt, welche augenblicklich von 
7 Kindern besucht wird, ist um so überflüssiger, als dieser Ort 
nach vier Richtungen hin nur 4 km von den nächsten Dörfern ent¬ 
fernt ist. Die Zahl der Schulorte beträgt 46, von denen die über¬ 
wiegende Mehrzahl, nämlich 35, einklassige Volksschulen besitzt. 
An sechs Orten besteht die sog. „Halbtags-Schule“, d. h. der ein¬ 
zige Lehrer unterrichtet die Kinder in zwei vollständig getrennten 
Abtheilungen nacheinander in demselben Klassenzimmer — eine 
sehr geeignete Einrichtung, um den pädagogischen und hygienischen 
Uebelständen der Klassenüberfüllung abzuhelfen. An drei Orten 
bestehen drei Klassen mit nur zwei Klassenzimmern und 2 Lehrern, 
welche den Unterricht in der dritten Klasse abwechselnd ertheilen. 
Knesebeck besitzt eine dreiklassige Schule mit drei Lehrern und 
Wittingen eine dreiklassige Volksschule mit zwei Lehrern und eine 
gehobene Abtheilung, sog. Bürgerschule mit drei Klassen und drei 
Lehrern, In sämmtlichen Klassen (zusammen 65) werden Knaben 
und Mädchen gemeinschaftlich unterrichtet. 

Die Schulgebäude. 

Es sind 52 Schulgebäude vorhanden, sämmtlich mit nur je 
einem Klassenzimmer, nur das Schulhaus der Stadt Wittingen, 
ursprünglich als Rathhaus gebaut, enthält die 5 Klassenzimmer der 
beiden dortigen Abtheilungen, Für ein Schulhaus ist ein Neubau, 



Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 33 

der zwei Klassenzimmer enthalten soll, bereits in Angriff genom¬ 
men. Mehrere andere der ältesten Schulhäuser werden im künftigen 
Sommer ebenfalls einem Neubau bezw. einem vollständigen Umbau 
unterworfen werden. 

Was nun die Bauart der älteren und ältesten Schul¬ 
häuser betrifft, so lehnt sich dieselbe eng an den bekannten 
Typus des niedersächsischen Bauernhauses an, so dass das Schul¬ 
haus eigentlich nichts ist, als eine Diminutiv-Ausgabe des statt¬ 
lichen Gebäudes, welches der niedersächsische Bauer als gemein¬ 
same Behausung für Mensch und Vieh seit Jahrhunderten nach 
demselben Plan errichtet und welches den niedersächsischen Dorf- 
schaften ein so eigenartiges Gepräge verleiht. Das gewaltige, 
weit herabreichende Strohdach, an den abgeschrägten Giebeln mit 
den holzgeschnitzten Pferdeköpfen, dem Wahrzeichen des nieder¬ 
sächsischen Stammes geziert, bedeckt auch heute noch so manches 
Lüneburger Schulhaus. An der Giebelwand, welche mit dem un¬ 
verwüstlichen Balkenwerk, mit Konsolen und Kehlbalken, mit den 
gefälligen Mustern der Füllziegel und den geschnitzten, bunt¬ 
bemalten Spruchbändern sich gar stattlich repräsentirt, öffnet sich 
in einer Art von Vorhalle das weite Scheunenthor, durch welches 
man die „Diele“ betritt, den Ort, auf welchem der grösste Theil 
des bäuerlichen Lebens mit Freud und Leid, mit Arbeit und Er¬ 
holung sich abspielt. Hier wird gedroschen, von hier wird das 
Vieh gefüttert, dessen Häupter aus dem längs der Diele seitlich 
verlaufenden Stall zwischen den Tragbalken hindurch frei auf die 
Diele blicken. Hier spielen die Kinder, hier wird gekocht, denn 
am Ende der Diele steht der Heerd, ein gewaltiger Steinkasten, 
auf dem stets ein offenes Feuer flackert und von dem aus dichte 
Bauchwolken an der schwarzgeräucherten Balkendecke entlang 
ihren Weg über der Thüre oder durch sonstige Lücken hindurch 
in’s Freie suchen und bei günstigem Wetter meistens auch finden 
— denn die moderne Einrichtung eines Schornsteines hat in den 
Bauplan des niedersächsischen Hauses alten Styles keine Aufnahme 
gefunden. Vom Heerde aus wird auch der einzige Ofen geheizt, 
der sich in dem riesigen Bau befindet. Im Schulhause sind es 
ihrer zwei; denn hier öffnet sich beiderseits neben dem Heerd je 
eine Thür, rechts in die Wohnstube des Lehrers, links in die 
Schulstube, beides ein paar weite, aber niedrige Räume mit vielen 
Fenstern, deren kleine, bleigefasste Scheiben nur wenig Licht 
hereinlassen. Ueber die Sitzgelegenheiten, wie ich sie in solch 
alten Hänsem noch vorfand, wie sie aber nun, Dank dem uner¬ 
müdlichen Drängen der Regierung, glücklich fast allerwärts ver¬ 
schwunden sind, ist Schweigen das Beste! Ein charakteristisches 
Stück ist noch der Ofen, ein gewaltiger, auf gemauerten Füssen 
stehender, mit durchbrochenem Kachelaufsatz versehener Kasten 
aus zolldicken Gusseisenplatten, wie sie im 17. und 18. Jahrhun¬ 
dert in Goslar und Wernigerode gegossen wurden und welche mit 
ihrem Bilderschmuck, dem springenden Sachsenross, oder Fürsten¬ 
hut und Namenszug irgend eines vergessenen Braunschweig- 
Lünebnrgischen Herzogs oder auch einer frommen Darstel- 



84 


Dr. Langerhaus. 


lung vom verlorenen Sohn oder dem Urtheil Salomonis noch heute in 
unverwüstlicher Frische und Haltbarkeit in sehr vielen Lünebur¬ 
gischen Schulstuben zu finden sind — eine Heizvorrichtung, welche 
den Fortschritten der modernen Technik gegenüber allerdings etwas 
urvorweltlich erscheinen möchte, welche aber noch gar nicht das 
Unpraktischste ist! In der Familienstube des Lehrers fällt eine 
Art bretterne Wandschrankthür am meisten auf; sie fiilirt in die 
„Butze“, ein Mittelding zwischen Alkoven und Wandschrank, wel¬ 
ches als Nachtlager für die ganze Familie dient! Nur für etwaige 
erwachsene Töchter oder für die Magd findet sich wohl eine win¬ 
zige Kammer neben der Diele! 

So beschaffen ist das alte Lüneburger Schulhaus, wie 
ich noch eine ganze Reihe habe kennen lernen — interessante 
Bauten, ganz gewiss! wahre Perlen in den Augen der Maler, 
die, nach Motiven suchend, ab und an die Haide durchstreifen, 
fesselnd für Jeden, der Sinn hat für ein eigenartiges, in sich 
abgeschlossenes Volksthum — aber den Massstab des Hygie¬ 
nikers darf man an diese Bauten nicht anlegen! Es ist daher 
anzuerkennen, dass die Schulaufsichtsbehörde in stetem Kampfe 
gegen diese Art von Schulgebäuden liegt und nur an wenigen 
Orten hat es die an diplomatischen Winkelzügen so reiche Bauern¬ 
schlauheit vermocht, ein paar Exemplare dieser vor weltlichen 
Schulhäuser zu konserviren. Freilich, Umbauten haben sich auch 
diese nach allen Richtungen hin gefallen lassen müssen. An einem 
Orte haben die Bauern sogar einen ganz stattlichen kleinen Kirch- 
thurm auf ihr ehrwürdiges, moosbewachsenes Strohdach, mitten 
zwischen die Wodans-Rosse hineingepfianzt! Man hat Wände 
ziehen und Fenster einbrechen müssen, man hat die Butze besei¬ 
tigt und die Küche abgebaut, — vergebliche Mühe; die hygienischen 
Forderungen der Neuzeit und die Bauart des Lüneburgischen 
Hauses sind schlechterdings unvereinbar! Und so haben denn die 
Jahrzehnte lang fortgesetzten Bemühungen, beide miteinander in 
Einklang zu bringen, die unerfreulichsten Bastardgebilde an das 
Tageslicht befördert. Es ist keine Frage: die Regierung hat bis 
vor Kurzem bei der Bewilligung der. Baupläne den Gemeinden ein 
viel zu grosses Mass von Selbstständigkeit eingeräumt und die Ge¬ 
meinden haben es verstanden, mit dem konservativen Sinn, der 
den Bauern allerwärts eigen ist, die alte, mit ihren Lebensge¬ 
wohnheiten nun einmal verwachsene Bauart durch ein Hinterthür- 
chen wieder einzuführen. 

Das ist der Grund, welcher diese historische Abschweifung 
nothwendig machte; denn, abgesehen von den allerletzten Jahren, 
stellen alle Neubauten von Schulen schliesslich nur Varia¬ 
tionen dar über das Grundthema des niedersächsischen Bauern¬ 
hauses. Durchweg ist nicht die Schulstube, sondern die Diele 
als Mittelpunkt des Bauplanes gedacht — ganz entsprechend 
der Bauernauffassung, dass die Landwirtschaft doch eigentlich 
die Hauptsache für den Lehrer und dass es ein gauz unbilliges 
Ansinnen der Regierung ist, dass der Lehrer nicht hierdurch, son¬ 
dern durch Baarzahlungen der Gemeinde seinen Lebersunterhalt 



Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 


35 


gewinnen soll! Nun bin ich zwar auch der Ansicht, dass der 
Lehrer auf dem Lande Landwirtschaft betreiben soll, dass er auch 
hierin durch Lehre und Beispiel fördernd auf die Gemeinde ein¬ 
wirken soll und dass aus diesem Grunde die für den Betrieb der 
Landwirtschaft notwendigen Räume dem Schulhause nicht fehlen 
dürfen. Aber ebenso, wie die Lehrtätigkeit die Hauptsache ist 
und unter der landwirtschaftlichen Beschäftigung keinen Schaden 
erleiden darf, so muss auch im Schulhause die Schulstube die Haupt¬ 
sache sein; ihre Lage muss bestimmend sein für die ganze Anlage 
und sowohl die Wohnung des Lehrers, als auch vor Allem die 
landwirtschaftlichen Nebenräume kommen erst in zweiter Linie 
in Betracht. Hiergegen ist vielfach gesündigt worden und gerade 
die gesundheitlichen Verhältnisse sind es, die am ersten zu kurz 
kommen, wenn Schulstube und Lehrerwohnung nur als Anhäng¬ 
sel an die den ganzen Bauplan beherrschende Diele betrachtet 
werden. In neuerer Zeit freilich wird bei Neubauten das gesundheit¬ 
liche Moment voraussichtlich die ihm gebührende Berücksichtigung 
finden, da jeder Bauplan dem Regierungs- und Medizinalrath als Kor¬ 
referenten zur Beurteilung vorgelegt wird. Dementsprechend sind 
die in den letzten Jahren errichteten Schulbauten, da der Lüneburger 
Bauer, wenn er sich endlich zu einem Neubau entschlossen hat, 
seiner Neigung für solide Gediegenheit entsprechend, mit den Geld¬ 
mitteln nicht zu kargen pflegt, geradezu mustergültig zu nennen. 
Dagegen sind in älteren Gebäuden die Zustände stellenweise recht 
arg. Der Geruch aus dem Kuhstall und ungezählte Fliegenschwärme, 
ein mit Viehhaltung nothwendig verknüpftes Uebel, machen sich in 
der Schulstube breit, ja, stellenweise ist die Wand der Schulstube 
von dem unmittelbar daranstossenden Schweinestall aus durch¬ 
feuchtet und übelriechend! Dass derartige Verhältnisse einen über¬ 
aus günstigen Nährboden für alle möglichen Bakterien abgeben 
müssen, ist von vornherein zweifellos. Schwierig ist nur die Frage, 
wie diesen Uebelständen abzuhelfen ist, denn da die Vereinigung 
von Mensch und Vieh unter einem Dache ein ortsüblicher, durch 
Jahrhunderte lange Gewohnheit geheiligter Brauch ist, da die Leute 
sich wohl dabei befinden, da der Gesundheitszustand der Bevöl¬ 
kerung durchweg gut, die Sterblichkeit sehr gering (in den Jahren 
meiner Physikatsverwaltung durchschnittlich noch nicht einmal 
20 pro Mille) ist, würden die Leute es als eine ganz ungeheuer¬ 
liche Bedrückung empfinden, wenn sie nun auf einmal alle ihre, 
sonst noch baulich ganz guten Schulhäuser abschaffen sollten. 
Uebrigens bin ich auch nicht der Ansicht, dass die Vereinigung 
von Schulstube und Lehrerwohnungen mit Stallung und Scheunen 
unter einem Dach prinzipiell durchaus zu verwerfen ist. Ich glaube 
vielmehr, dass sich Einrichtungen treffen lassen und in einer Reihe 
von Fällen auch thatsächlich getroffen sind, welche alle gesund¬ 
heitlichen Gefahren ausschliessen. Ein paar Skizzen mögen dies 
erläutern: 

Fig. 1 stellt ein im Jahre 1850 gebautes, also auch noch 
relativ neues Schulhaus dar, welches sich indessen ziemlich streng 
an die alte Bauweise anschliesst. Namentlich hat die Diele deu 



36 


Dr. Laugerlmus. 


Eingang vom Giebel her und die Richtung der Diele fällt mit der 
Längsaxe des Hauses zusammen. Solch Haus ist in keiner Weise 
gesundbeitsgemäss herzustellen und hier ist Abbruch oder noch 
besser Verkauf des baulich noch ganz gut im Stande befindlichen 
Hauses und Neubau an anderer Stelle das richtige Auskunftsmittel, 
welches übrigens von der Regierung als Schulaufsichtsbehörde 





bereits angebahnt ist. Fig. 2 zeigt ein Schulhaus vom Jahre 1888, 
welches ich übrigens sonst auch nicht gerade als Ideal eines Schul¬ 
hauses hinstellen möchte. Beide Pläne sind im gleichen Verhältniss 
(1 : 200) gezeichnet und beide Schulhäuser sind für annähernd die 
gleiche Kinderzahl bestimmt, so dass man die gewaltige Steigerung, 
welche im Laufe von 30 Jahren die Ansprüche nicht nur an die 
Lehrräume, sondern auch an Wohnung und Wirthschaftsräume 
für den Lehrer erfahren haben, direkt entnehmen kann. 

In Fig. 2 ist die Anordnung von Stall und Scheunen ganz 
-^schickt getroffen. Man sieht, dass die Scheunendiele die Stal- 




t)ie gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volk «schulen etc. 37 

lungen von den Wohnräumen scheidet und diese Scheidung gestal¬ 
tet sich um so vollständiger dadurch, dass die Stallungen ebenso 
wie die Wohnräume auf einem Vs m hohen Feldsteinfundament 
liegen, während die Scheunendiele, um die Einfahrt der Erntewagen 
zu ermöglichen, natürlich im Niveau der Strasse liegen muss. Eine 
etwaige Jauche-Durchtränkung des Bodens unter den Viehställen, 
welche bei richtiger Anlage der letzteren allerdings nicht Vorkom¬ 
men darf, würde durch den festen Lehmschlag, welcher den Fuss- 
boden der Diele bildet, verhindert werden, sich dem Boden unter 
den übrigen Theilen des Hauses mitzutheilen. Schliesslich zeigen 
auch die Wände des Hauses eine vollständige Unterbrechung durch 
die grossen OefFnungen für die beiden Scheunenthore (e und t) 
so dass die beiden Abtheilungen des Hauses ausser dem Dach 
kaum noch etwas gemein haben. Diese Einrichtung bietet vieler¬ 
lei Vorzüge, und ich kann nicht finden, dass man einen wirklichen 
Fortschritt gemacht hat, wenn man bei den Neubauten der aller¬ 
letzten Zeit in engem Anschluss an die bekannten fünf Muster- 
Entwürfe die landwirtschaftlichen Räume gänzlich aus dem Schul¬ 
hause verbannt hat; denn wenn man ein eigenes Gebäude für Stall 
und Scheune errichtet, so findet dies naturgemäss seine Stelle dem 
Schulgebäude gegenüber auf der anderen Seite eines Hofes, der 
dann natürlich in seiner Mitte den Düngerhaufen enthält, gerade 
unter den Fenstern der Lehrerwohnung oder gar der Schulstube, 
ganz abgesehen davon, dass bei den gelingen Dimensionen, die 
für den Wirthschaftshof des Lehrers erforderlich sind, der Brunnen 
gar leicht mit dem Düngerhaufen, dem Komposthauten für die 
Wiesendüngung, dem Küchenausfluss oder der Abortgrube in ge¬ 
fährliche Kollisionen geräth! Dagegen hat die in Fig. 2 wieder¬ 
gegebene Einrichtung den Vortheil, dass die Thüren der Viehställe 
mit den davor lagernden Düngermassen, die nun doch einmal ein 
nothwendiges Uebel bilden, an dem äussersten Ende des Bauplatzes 
ihre Stätte finden, in der grössten überhaupt zu erreichenden Ent¬ 
fernung von Schulstube, Küche und Wohnräumen des Lehrers. 
Man kann ja dasselbe erreichen, wenn man das Schulhaus und das 
Stallgebäude nicht einander gegenüber, sondern nebeneinander stellt; 
dann aber kann man ebensogut die Durchfahrt zwischen beiden 
überdachen und durch ein paar Scheunenthore abschliessen, wo¬ 
durch nicht nur eine bessere Ausnutzung des Bodenraumes für 
Lagerung der Feldfrüchte, sondern auch wesentlich billigeres Bauen 
ermöglicht wird. Es ist daher durchaus nicht erforderlich, dass 
man, lediglich einer gewissen Uniformirungslust zu Liebe, da, wo 
die Anlage von Viehställen im Schulhause selbst dem Landesbrauch 
entspricht, dies prinzipiell untersagen will, vorausgesetzt natürlich, 
dass durch eine quer durch das Haus hindurchgehende Scheunen¬ 
diele eine vollständige Trennung der beiden Abtheilungen des 
Hauses erreicht ist. 

Was die Bauart der Stallungen betrifft, so ist mit grösster 
Entschiedenheit eine vernünftigere Einrichtung anzustreben, als 
sie jetzt meistens zu finden ist. Ausmauerung und Zementirung 
des Fussbodens mit Gefälle nach einer ebenfalls zementirten Jauchen- 



38 Dr. Langerhaus: Die gesundheitl. Verhältnisse der ländl. Volksschulen etc. 

rinne, welche die flüssigen Entleerungen in eine genügend grosse, 
ausgemauerte und zementirte, mit dichtem Deckel verschlossene 
und mit feststehender Jauchepumpe versehene Grube leitet, welche 
zweckmässig, wie in Fig. 2 gleichzeitig die Entleerungen aus Ab¬ 
ort und Pissoir aufnehmen kann, Zementverputz der Wände, we¬ 
nigstens in den Schweineställen in 1 m Höhe und Ventilation der 
Stallungen durch Dunstrohre, das wären Forderungen, deren Durch¬ 
führung allerwärts, und zwar nicht nur bei Neubauten, mit uner¬ 
bittlicher Konsequenz verlangt werden müsste und auch kaum auf 
unüberwindliche Schwierigkeiten stossen dürfte, da die Landleute 
den Werth solcher Einrichtungen, wenn auch nur vom ökonomischen 
Standpunkte aus einzusehen und dieselben vielfach einzuführen be¬ 
ginnen. Die Schule aber soll mit dergleichen nicht hinten nach¬ 
hinken, sondern sie hat auch hier die Pflicht, mit gutem Beispiele 
voranzugehen. Die Sache ist von sehr grosser Wichtigkeit, denn 
nur durch derartige Einrichtungen ist die Möglichkeit gegeben, 
Reinlichkeit in und vor den Ställen zu schaffen und der gefähr¬ 
lichen Durchtränkung des Bodens mit zersetzlichen organischen 
Substanzen ein Ende zu machen. Ganz besonders dringend ist 
diese Aufgabe natürlich da, wo die niedersächsische Bauart der¬ 
massen eingebürgert ist, dass von den 52 Schulhäusern, welche 
sich in den 46 Schulorten des Kreises finden, nicht weniger als 
45 gleichzeitig Stall und Scheune unter ihrem Dache bergen. Nun 
haben allerdings 14 Lehrer, und zwar meistens junge, vor dem 
zweiten Examen stehende Leute keine eigene Viehhaltung. Von 
diesen wohnen aber drei in Schulhäusern, welchen die Stallung fehlt; 
in vier anderen Fällen sind Theile der Lehrerwohnuugen mit den 
zugehörenden Stallungen an andere Leute vermiethet, ein Verhält- 
ni8s, zu welchem übrigens wegen mannigfacher hygienischer Be¬ 
denken die Schulaufsichtsbehörde die Genehmigung verweigern 
sollte. Es bleiben somit nur sieben Schulhäuser, in denen die vor¬ 
handenen Stallungen augenblicklich unbenutzt sind. Im Uebrigen 
sind von den 45 Schulhäusern in drei Fällen die landwirtschaft¬ 
lichen Räume ganz zweckmässig in einer Art von Anbau unter¬ 
gebracht; in 16 Häusern ist durch eine quer durch das Haus ver¬ 
laufende Diele eine ziemlich vollständige Trennung der Stallungen 
von den übrigen Räumen erreicht, bei 4 Häusern wäre eine der¬ 
artige Trennung wenigstens sehr leicht herzustellen. Eine Schule 
(Wahrenholz 2), welche bis zur Vollendung des bereits in Angriff 
genommenen Neubaues mietweise in dem allen hygienischen For¬ 
derungen hohnsprechenden Pfarrwittwenhause untergebracht ist, 
kann hier, wie im Folgenden überall, ausser Ansatz bleiben. Es 
bleiben dann immer noch 21 Schulhäuser, bei denen die Scheunen¬ 
diele in der Längsaxe des Gebäudes verläuft, so dass die Stal¬ 
lungen Wand an Wand mit bewohnten Räumen und auf gemein¬ 
schaftlichem Fundament errichtet sind. Hier kann natürlich die 
beste Bauart der Stallungen die gröbsten hygienischen Missstände 
nicht hintanhalten, hier wird man vielmehr zu radikaleren Mitteln 
greifen müssen und entweder, wo die Grösse des Bauplatzes es 
gestattet, ein eigenes Gebäude für Stall und Scheune errichten 
oder aber, da es sich meistens um ältere, auch sonst den heutigen 



Statistische (Übersicht über die Ertheilung • des Titels „Sanitätsrath“. 39 


Ansprüchen nicht mehr genügende Häuser handelt, einen Neubau 
in’s Auge fassen. Umbauten sind hier wenig zweckmässig, 
da sie nach Allem, was ich davon gesehen habe, so eingreifend 
sein müssen, dass die Baubeständigkeit der Häuser ernstlich ge¬ 
fährdet wird, ohne dass schliesslich wirklich gesunde Zustände 
erreicht werden. (Fortsetzung folgt.) 


Statistische Uebersicht Uber die Ertheilung des Titels 
„Sanitätsrath“ in Preussen. 

Von einem Kollegen sind der Redaktion nachstehende, auf 
Grund des Hirschwald’schen Medizinalkalenders zusammenge¬ 
stellte Uebersichten zur Verfügung gestellt, die für sämmtliche 
Kollegen von Interesse sein dürften. Sie zeigen, dass der Cha¬ 
rakter „Sanitätsrath“ nur ausnahmsweise Medizinalbeamten und 
praktischen Aerzten vor Ablauf von 25 Jahren nach erfolgter Ap¬ 
probation verliehen wird, dass von den Medizinalbeamten aber 
45,0 °/ 0 diese Auszeichnung besitzen gegenüber nur 5,5 °/ 0 der 
praktischen Aerzte. Auffallend ist ferner der Unterschied in den 
einzelnen Regierungsbezirken; so haben in den Regierungsbe¬ 
zirken Stralsund, Schleswig, Münster, Düsseldorf und Sigmaringen 
noch nicht 4 °/ 0 aller ansässigen Aerzte den Charakter als Sanitäts¬ 
rath gegenüber 10,7 °/ 0 in Berlin, 10,32 °/„ im Reg.-Bez. Erfurt, 
l,l°/ 0 im Reg.-Bez. Osnabrück und 12,32 °/ 0 im Reg-Bez. Lüneburg. 
Aehnliche Unterschiede treten auch bei den Eieisphysikern zu 
Tage und sind hier diejenigen der Reg.-Bez. Gumbinnen, Danzig 
und Magdeburg entschieden am ungünstigsten, diejenigen in Berlin 
und in den Reg.-Bez. Koblenz, Aachen und Oppeln am günstig¬ 
sten gestellt. 

Uebersicht I. 

Es sind vorhanden im: 


Regierungsbezirk Ae J^ pt Über ‘ 


Davon haben den 
Charakter 
als Sanitätsrath 


Von den Sanitätsräthen 
sind nach 1870 approbirt 


Königsberg 

368 

24 

= 

6,52 °/ 0 

1 

Gnmbinnen 

138 

6 

= 

4,35 „ 

• - 

Danzig 

187 

14 

= 

7,49 „ 

-- 

Marienwerder 

189 

14 

= 

7,41 „ 

1 

Berlin 

1605 

171 

= 

10,07 „ 

s 

Potsdam 

633 

43 

== 

6,79 „ 

o 

Frankfurt 

311 

19 

= 

6,11 n 

— 

Stettin 

266 

15 

-— 

5,64 „ 

—- 

Köslin 

177 

11 

— 

6,21 „ 

— 

Stralsund 

94 

3 

= 

3,19 „ 

— 

Posen 

272 

22 

= 

8,09 „ 

2 

Bromberg 

150 

10 

— 

6,67 „ 


Breslan 

691 

52 

= 

7,51 „ 

1 

Liegnitz 

353 

25 

= 

7,08 „ 

— 

Oppeln 

326 

31 

= 

9,50 „ 

1 

Magdeburg 

417 

22 

= 

5,28 „ 

— 

Merseburg 

427 

34 

— 

9,20 „ 

2 

Erfurt 

159 

19 

—~ 

10,32 „ 

— 

Schleswig 

546 

18 

= 

3,30 „ 

— 

Hannover 

267 

23 


8,62 „ 

1 

Hildesheim 

240 

17 

= 

7,08 „ 

1 



40 Statistische Uebersicht über die Ertheilung des Titels 

„Sauitätsrath 

U 



Ap rzt.e 


Davon haben den Von den SaoitAtarftüieti 

Regierungsbezirk 


hanpt 


JSSSSLk -* 1870 

Lüneburg 



138 


17 

= 

12,32 „ 


— 



Stade 



111 


6 

= 

5,41 „ 


— 



Osnabrück 



109 


12 

= 

11,01 „ 


— 



Aurich 



122 


8 

= 

6,55 „ 


— 



Münster 



218 


7 

= 

3,21 „ 

9,63 „ 


— 



Minden 



187 


18 

= 


— 



Arnsberg 



463 


28 

= 

6,05 „ 


1 



Kassel 



355 


19 

= 

5,35 „ 


1 



Wiesbaden 


585 


50 

= 

8,55 „ 


2 



Köln 



470 


39 

= 

8,30 „ 


— 



Düsseldorf 



737 


29 

= 

3,94 „ 


2 



Koblenz 



263 


24 

= 

9,13 „ 


— 



Aachen 



213 


15 

= 

7,04 „ 


— 



Trier 



181 


17 

= 

9,39 „ 


— 



Sigmaringen 


28 


1 

= 

3,57 „ 


— 



Zusammen: 11967 


889 

= 

7,35 % 


26 




Uebersicht II. Kreisphysiker. 



\ 

Es sind vorhanden im: 










Kreis¬ 

Davon sind 

Von diesen 

Von den 


Davon sind 

Reg.-Bez. 

physik. 

Sa 

Pro- 

seisoren 

sind approbirt 

vor 

Kreisphysi¬ 
kern sind 

approbirt 

vor 


ange¬ 
stellt als 

Kreis- 

über¬ 

nitdts- oder 

riithe 

nalrStbe 

15-20,20-26, 25 

noch nicht 

16-20,20-26,26 

Physiker 


haupt 

Jahren 


Sanitätsräthe 

Jahren 


vor 1880 

Königsberg 

21 

8 

1 

— 

2 

6 

12 = 57,1 o/o 

2 

3 

i 

i 

Gumbinnen 

16 

2 

— 

— 

— 

2 

14 = 87,5 „ 

3 

3 

6 

4 

Danzig 

11 

2 

— 

— 

— 

2 

9 = 81,8 „ 

— 

2 

3 

1 

Marienwerder 15 

8 

— 

1 

— 

7 

7 = 46,6 „ 

4 

— ■ 

— 

1 

Berlin 

14 

11 

1 

— 

2 

9 

2 = 14,3 „ 

— 

1 

— 

— 

Potsdam 

17 

6 

1 

— 

1 

5 

10 = 59,3 n 

6 

1 

1 

— 

Frankfurt 

19 

8 

— 

— 

— 

8 

11 = 58,0 „ 

4 

3 

2 

4 

Stettin 

12 

6 

— 

— 

— 

6 

6 = 50,0 „ 

3 

1 

— 

1 

Köslin 

11 

6 

— 

— 

— 

6 

5 = 45,4 „ 

2 

— 

1 

— 

Stralsund 

4 

— 

1 

— 

— 

— 

3 = 75,0 „ 

2 

— 

1 

— 

Posen 

26 

10 

1 

— 

1 

9 

15 = 57,7 „ 

4 

— ■ 

— 

— 

Bromberg 

13 

3 

— 

— 

— 

8 

10 = 77,0 „ 

3 

— 

1 

1 

Breslau 

26 

12 

1 

— 

1 

11 

13 = 50,0 „ 

2 

4 ■ 

— 

— 

Liegnitz 

19 

7 

— 

— 

— 

7 

12 = 63,2 „ 

2 

4 

3 

1 

Oppeln 

19 

12 

— 

— 

— 

12 

7 = 36,8 „ 

2 

2 

— 

— 

Magdeburg 

15 

2 

1 

— 

— 

2 

12 = 80,0 „ 

6 

1 

4 

7 

Merseburg 

17 

6 

— 

— 

1 

5 

11=64,7 „ 

3 

3 

2 

? 

Erfurt 

9 

4 

—- 

— 

— 

4 

5 = 65,5 „ 

1 

2 

— 

1 

Schleswig 

29 

10 

— 

— 

— 

10 

19 = 65,5 „ 

6 

— 

10 

10 

Hannover 

12 

4 

1 

— 

— 

4 

7 = 56,3 „ 

3 

2 

1 

1 

Hildesheim 

14 

3 

— 

1 

— 

2 

11 = 78,6 „ 

7 

2 

1 

— 

Lüneburg 

13 

6 

— 

— 

— 

6 

7 = 53,8 „ 

2 

2 

— 

— 

Stade 

14 

4 

— 

— 

= 

4 

10 = 71,4 „ 

5 = 50,0 „ 

4 

3 

1 

2 

Osnabrück 

10 

5 

— 

— 

— 

5 

4 

— • 

— 

— 

Aurich 

6 

2 

— 

— 

— 

2 

4 = 66,6 „ 

1 

1 ■ 

— 

— 

Münster 

10 

4 

— 

— 

— 

4 

6 = 60,0 „ 

8 

1 

1 

1 

Minden 

10 

6 

— 

— 

— 

6 

4 = 40,0 „ 

1 

2 

1 

1 

Arnsberg 

18 

10 

— 

— 

1 

9 

8 = 44,4 „ 

4 

2 

1 

1 

Kassel 

23 

11 

— 

— 

— 

11 

12 = 52,2 „ 

3 

— 

5 

2 

Wiesbaden 

17 

9 

1 

— 

1 

8 

7 = 41,3 „ 

5 

— 

1 

2 

Köln 

12 

6 

1 

1 

— 

5 

5 = 41,7 „ 

2 

2 

1 

1 

Düsseldorf 

17 

10 

— 

— 

— 

10 

7 = 41,3 „ 

1 

1 

8 

— 

Koblenz 

13 

10 

— 

— 

1 

9 

3 = 23,1 „ 

— 

1 

— 

— 

Aachen 

11 

8 

— 

— 

1 

7 

3 = 27,3 „ 

1 

1 

1 

1 

Trier 

13 

7 

— 

— 

— 

7 

6 = 46,2 „ 

4 

— ■ 

— 

1 

Sigmaringen 

4 

1 

— 

— 

— 

1 

3 = 75,5 w 

— 

2 

— 

— 

Zusammen: 

530 229 

10 

3 

12 214 291 = 55,0 # / 0 

100 

52 

52 

47 



Aua Verasmmlungen und Vereinen. 


41 


Aus Versammlungen und Vereinen. 

Bericht fiber die SS. Versammlung der Hed.< Beamten 

des Beg.-Bea. Arnsberg. 

Die Versammlung tagte am 5. November 1892 in Hagen unter dem Vor¬ 
sitz des Herrn Reg. - Med. - Rath Dr. Tenholt. Fast sämmtliche Medizinal- 
Beamten des Bezirks batten sich zu derselben eingefunden; auch der Herr 
Reg. - Präsident Winzer beehrte die Versammlung mit seiner Gegenwart. 
Ansserdem nahm Theil: Herr Reg.-Med.-Rath Dr. H ö 1 k e r aus Münster. Die 
Präsenzliste ergab ausser den Vorgenannten als anwesend: Die Kreisphysiker 
Geh. San.-Rath Dr. Klostermann-Bochum, Geh. 8an.-Rath Dr. Hagemann- 
Dortmund, San. - Rath Dr. Büren- Iserlohn, San.-Rath Dr. Gruchot - Hamm, 
Dr. Bremme-Soest, San.-Rath Dr. Terfloth-Lüdenscheid, Dr. Schulte- 
Hörde, Dr. Schulte-Lippstadt, San.-Rath Dr. L e m m e r - Schwelm, San.-Rath 
Dr. Mo or8s-Hagen, San.-Rath Dr. Li mp er-Gelsenkirchen, Dr. Pies-Brilon. 
Dr. Guder- Laasphe, Dr. Spanken -Meschede, Dr. Köper- Arnsberg, Dr. 
Graeve-Hattingen, die Kreiswundftrzte Dr. B ang e- Marsberg, Dr. Rose- 
Menden, Dr. Lenzmann -Camen, Dr. Red ek er -Bochum und die pro physicatu 
geprüften praktischen Aerzte Dr. Grüttner-Gelsenkirchen, Dr. vom Hofe- 
Altena, Dr. Schütz- Henrichshütte; ferner war von den eingeladenen Apotheken¬ 
revisoren der Apotheker Funke-Witten erschienen. 

Zum ersten Gegenstände der Tagesordnung: „Die Phosphorvergiftnng 
vom gerichtsärztlichen Standpunkte“ erhielt das Wort Herr Krei-physikus 
Dr. Schulte-Hörde. 

Der mit grossem Beifall aufgenommene Vortrag führte etwa Folgen¬ 
des ans: 

Die Phosphorvergiftungen kommen in Folge von Selbstmord, Mord oder 
Fahrlässigkeit vor. Der Phosphor ist leicht löslich in Alkohol, Aether und Oel, 
daher ist der Gehalt der Speisen an letzterem unter Umständen wichtig; in 
Wasser ist er dagegen fast gar nicht löslich, kann aber in demselben im feih- 
vertheilten Zustande enthalten, zu Vergiftungen Veranlassung geben. Am 
meisten zugänglich ist der Phosphor der Streichhölzchen, zu denen eine Phos¬ 
phorpaste benutzt wird; diese Pasten enthalten durchschnittlich 2 °/ 0 Phosphor, 
doch verlieren sie mit der Zeit an ihrem Gehalte. 

Der Gerichtsarzt hat bei Verdacht auf eine Phosphorvergiftnng auf die 
Krankheitserscheinungen, den Leichenbefund und den chemischen Nachweis 2U 
achten. Als Kranklieitssymptome kommen in Betracht: Durst, Aufstossen von im 
Dunkeln leuchtenden Gasen, Schmerzen in der Speiseröhre und dem Magen, 
Erbrechen, oft schwere Nervenzufälle: Konvulsionen, Bewusstlosigkeit u. a. Am 
zweiten Tage nach der Vergiftung tritt fast stets Ikterus ein, Leberschwellung 
ist meist nachweisbar. 

Die Krankheitsdauer ist meistens kurz, der Tod tritt entweder plötzlich 
oder nach Stunden, selbst nach dem 7. Tage ein. Der Befund nach dem Tode 
eigiebt häufig Ikterus, nicht selten Blutaustritte unter die Haut; aus den Kör¬ 
peröffnungen entweichen wohl bläuliche Dämpfe. Der Magen zeigt in frischen 
Fällen Phospborgeruch und Leuchten des Inhalts. 

Die früher als konstante Befunde angenommenen Anätzungen des Magens 
sind lediglich nach dem Tode entstandene Leichenerscheinungen. Orth be¬ 
hauptet mit Sicherheit, dass die Phosphorvergiftung keine korrosive Wirkung 
habe. Vortragender hat selbst eine Reihe von Versuchen mit Phosphorrer- 
giftungen bei Kaninchen angestellt, aber nie eine Aetzung der Magenschleimhaut 
gefunden. Ein fast konstanter Befund ist jedoch eine parenchymatöse Ent¬ 
zündung der Magenwand mit trüber, von den Drüsen ausgehender Schwellung, 
die sich anch im Dünndarm vorfindet. In der Leber die bekannten Verände¬ 
rungen, desgleichen in den Nieren. 

Das Blut enthält Fetttröpfchen und ist meist dünnflüssig. Der chemische 
Nachweis erfolgt durch die bekannten Proben und ist Sache des Chemikers. — r 

Darauf sprach Herr Reg.-Med.-Räth Dr. Tenholt über: ffassregeis 
zur Abwehr der Cholera. Der Vortrag beschränkte sich, wegen der bereits 
vozgeschrittenen Zeit, auf eine Besprechung der wichtigsten, gegen die Ein¬ 
schleppung und Weiterverbreitung der Cholera ergangenen Buniaterial- und 
Präsidial' - Erfasse mit Anknüpfung technisch-wissenschaftlicher Bemerkungen. 



42 


Ans Versammlungen und Vereinen, 


Unter anderem wurde ein Bescheid des Herrn Ministers auf einen Bericht des 
Herrn Reg.-Präsidenten zu Arnsberg, betreffend die Frage der Zulässigkeit der 
in den Eisenbahnwagen befindlichen bisherigen Abtritte während des Herrschens 
der Cholera erwähnt. Der bezügliche Erlass vom 3. September 1892 M. 8391 
enthält den Bescheid, „dass die Frage, ob die in den einzelnen Wagen der 
Personenztige befindlichen Aborte entweder ganz zu beseitigen oder derartig ein¬ 
zurichten sind, dass die etwaigen Stuhlgänge und der Urin in wasserdichte Be¬ 
hälter anstatt auf die Bahnkörper entleert werde, eingehender Erörterung unter¬ 
zogen, eine Abänderung des bisherigen Verfahrens jedoch nicht für erforderlich 
und zweckmässig erachtet worden sei.“ Die Gründe, welche höheren Orts für 
diese Ansicht massgebend gewesen sind, sind nicht mitgetheilt worden. Viel¬ 
leicht hat man die Möglichkeit, dass Fäces von cholerakranken Reisenden auf 
die Bahnkörper gelangen, deshalb für minder wichtig gehalten, weil die Bahn¬ 
körper fast nur von den Eisenbahnbediensteten begangen werden und nur zu¬ 
fällig die Exkremente auf Bahnübergänge, Bahnhöfe, Eiseübahnbrttcken, bezw. 
in den Fluss gelangen würden. 

Ein anderer, vom Vortragenden erwähnter, vom 4. Oktober 1892 datirte 
Erlass des Herrn Ministers des Innern und der Medizinal - Angelegenheiten 
beseitigt etwaige Zweifel bezüglich der Zulässigkeit der Ein- oder Durchfuhr 
von „Margarine“, indem hiernach letztere unter den Begriff „Butter“ nicht fällt 
und daher dem Ein- und Durchfuhrverbote nicht unterworfen ist. Infolgedessen 
mussten die seitens mehrerer Polizeibehörden getroffenen Anordnungen, nach 
welchen die aus Hamburg eingeführte Kunstbutter zurückgewiesen worden war, 
aufgehoben werden. Man war diesseits bis zu dem erwähnten Erlasse der An¬ 
sicht, dass die Margarine, weil bei der Herstellung derselben viel Wasser und 
etwa 10 bis 15°/ 0 Milch verwendet wird und eine Abtödtung der etwaigen 
Cholerakeime durch die Herstellung selbst nicht erfolgt, bezüglich der Gefahr 
der Uebertragung der Krankheit wie natürliche Butter zu betrachten sei, zumal 
auch die fertige Margarine nicht selten mit natürlicher Butter betrügerisch 
vermengt wird. 

Es scheint, dass Angesichts des weiteren Verlaufs der diesmaligen Cholera- 
Epidemie an massgebender Stelle sieh die Ansicht, dass der Verkehr mit Waaren 
betreffs der Weiterverbreitung der Seuche nur von sehr untergeordneter Be¬ 
deutung ist, mehr und mehr gefestigt hat. Und in der That, wenn man den 
grossartigen Konsum von Hamburger Waaren im hiesigen Industriebezirk berück¬ 
sichtigt, der trotz der Beschränkung immer noch ein recht erheblicher geblieben 
ist, so können die auf diesem Wege drohenden Choleragefahren nur geringfügige 
sein, da wir keinen Cholerafall im Bezirk erlebt haben* 

Redner geht hierauf auf die Frage näher ein, ob überhaupt den diesseits 
getroffenen Massnahmen die Thatsache, dass wir vollständig von der Invasion 
verschont geblieben sind, zu verdanken sein dürfte, oder ob nicht etwa der 
Schluss: „post hoc ergo propter hoc“, wie so häufig, so hier falsch sein würde. 
Seiner Ansicht nach würde es indessen noch viel gewagter sein, zu behaupten: 
die Massnahmen haben nichts genützt. Er weist hierbei auf die zahlreichen 
Dampfdesinfektions-Apparate hin, welche im Regierungsbezirk Arnsberg wohl 
mehr als in anderen Bezirken vorhanden sind und die, wenigstens in den grösse¬ 
ren Städten: Dortmund, Bochum, Hagen, Gelsenkirchen, Hamm u. a. fast be¬ 
ständig mit der Desinfektion von Reisegepäck und sonstigen Effekten der aus 
Hamburg kommenden Reisenden beschäftigt gewesen sind. In Freudenberg bei 
Siegen wurde eine aus Hamburg anlangende grössere Sendung von Lumpen, 
hauptsächlich wollenen Strümpfeu und Unterbeinkleidern, die daselbst und mög¬ 
licherweise noch zur Zeit der Hamburger Epidemie gesammelt waren, polizeilich 
mit Beschlag belegt Da die Vernichtung der Waaren durch den Kostenpunkt 
derselben — 3000 bis 4000 M. — verboten wurde und auch die Rücksendung 
unstatthaft war, so wurde die Desinfektion mittelst Ausbrühen in grossen, 
glücklicherweise in dem Fabrikorte Freudenberg vorhandenen Kesseln angeordnet 
und durchgeführt. Mehrere aus Hamburg eingetroffene Flüchtlinge, einzelne 
Personen sowohl, wie auch ganze Familien mit Sack und Pack, wurden recht¬ 
zeitig ermittelt und vorschriftsmässig desinfizirt. 

Nachdem Redner diese und ähnliche Massnahmen nur beispielsweise an¬ 
geführt hat, beschäftigt sich derselbe noch mit der Aetiologie der während der 
Hamburger Epidemie auch im diesseitigen Reg.-Bezirke auffallend häufig, nach 
Ansicht der mitanwesenden übrigen Medizinalbeamten wirklich ausserordentlich 



Kleinere Mittheilungen und Referate an» Zeitschriften. 


43 


zahlreich Torgekommenen Fällen von Cholera nostras. Eine nur scheinbare 
Häufigkeit derselben, erklärbar etwa durch die Annahme, dass solche Fälle mehr 
als sonst zur Kenntnissnahme der Medizinalbehörden gelangt sind, muss verneint 
werden. Insbesondere aber giebt die Thatsache, dass mehrere Todesfälle bei 
Erwachsenen infolge von Cholera nostras vorgekommen sind, zu denken Anlass, 
ob nicht gewisse, so zu sagen verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den 
Ursachen des Ausbruchs der Cholera asiatica und denen der Cholera nostras 
bestehen. Redner steht durchaus auf dem Standpunkt, dass cs sich um zwei 
verschiedene Krankheiten handelt, von welchen die eine auf der Infektion 
mittelst des Kommabacillns, die andere weder auf letzterem noch anf einem 
sonstigen bisher nachgewiesenen Erreger beruht. Seiner Ansicht nach ist die Cholera 
nostras eine Infektionskrankheit, deren Erreger voraussichtlich noch gefunden 
werden wird und dessen Gedeihen vielleicht durch dieselben zeitlichen Momente, 
wie bei Cholera asiatica, begünstigt werde. Eine gewisse örtliche und zeitliche 
Disposition zum Ausbruch der asiatischen Cholera müsse angenommen werden. 

Redner erwähnt hierauf einen tödtlich verlaufenen Fall von Cholera nostras 
bei einem etwa 85 jährigen Arbeiter in Bochum. Die von ihm in Gemeinschaft mit 
dem Kreisphysikus vorgenommene Leichenöffnung bot zunächst ein dem Befunde 
bei Cholera asiatica so ähnliches Bild, dass man zuvörderst an diese vorliegende 
Krankheit denken musste. Abgesehen von der Cyanose, der runzeligen Haut, 
wurde auch die „Fechterstellung“ der Arme nicht vermisst, und im Dünndarm 
fand sich eine grosse Menge farbloser mit weissen Flocken untermischter Flüssig¬ 
keit. Der Verlauf der Krankheit war nur ein kurzer mit stürmischen Brech¬ 
durchfällen und reiswasserartigen Stühlen gewesen. Die bakteriologische, unter 
allen erforderlichen Kautelen sofort in Angriff genommene Untersuchung des 
Darminhalts und der gezüchteten Reinkulturen ergab indessen keine Komma¬ 
bazillen. Wenn schon aus diesem negativen Befunde angenommen wurde, dass 
es sich höchstwahrscheinlich nur um Cholera nostras gehandelt habe, so wurde 
die Annahme später noch durch den Umstand bestätigt, dass die Krankheit 
nicht weiter um sich gegriffen hatte, obgleich dies für den Fall, dass Cholera 
asiatica vorlag, gewiss geschehen wäre, weil die Häuslichkeit und die sonstigen 
Einrichtungen in der Familie des Verstorbenen und der Mitbewohner des Hauses 
zur Weiterverbreitung dieser Krankheit wohl angethan waren. — 

Nach Schluss der an den Vortrag sich knüpfenden Debatten hielt ein 
fröhliches Mal die Theilnehmer der Versammlung noch mehrere Stunden lang 
zusammen. 


Kleinere Mittheilunqen und Referate aus Zeitschriften. 

A. Gerichtliche Medizin. 

Un cas d’infanticide par Hngestion d’un potage contenant des 
des fragments d’eponge. Le Propres medical; 1892, Nr. 48. 

In -der Sitzung der Pariser Gesellschaft für gerichtliche Medizin vom 
14. November 1892 wurde über einen von Cazeneuve in Marseille beobach¬ 
teten Fall von Kindesmord berichtet, der wohl ein Unikum darstellen möchte. 
Die Leiche eines 5 Monate alten Kindes wurde 16 Monate nach der Beerdigung 
aasgegraben, die Weichtheile bildeten nur noch eine unförmliche Masse, in der 
man vergeblich nach Giften suchte. An Stelle der Bauchhöhle aber fanden sich 
acht Stücke eines Schwammes, nnd Cazeneuve nahm an, dass sie die Todes¬ 
ursache gebildet hatten. Er erinnerte daran, dass in manchen Gegenden Hunde 
und Katzen dadurch getödtet würden, dass man sie kleine mit Fett getränkte 
Schwämme schlucken lässt, die dann aufquellen und eine tödtliche Darmver¬ 
schlingung herbeiführen können. Dem Kinde seien die Schwammstücke in Milch 
oder Suppe beigebracht worden, und hätten seinen Tod auf die gleiche Weise 
verursacht Der Angeschuldigte wurde verurtheilt. 

Dr. Woltemas -Gelnhausen. 


Ueber den Nachweis des Kohlenoxydgases im Blute. Von Prof. 
Dr. Laudois. Deutsche mediz. Wochenschrift Nr. 44; 1892. 

In der Sitzung des Greifswalder medizinischen Vereins hat Verfasser ein Ver¬ 
fahren zur Ausmittelung des CO - Gases im Blute demonstrirt, welches eine besonders 



44 


Kleiner« Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften. 


deutliche Reaktion zeigt und dazu in der Ausführung sich sehr einfach gestaltet. 
Man bereitet ans dem Kohlenoxydblut eine lackfarbene Lösung, indem man etwa 
3 ccm Blut mit 100 ccm Aq. destill. vermischt; es können aber auch stärkere 
oder schwächere Lösungen verwendet werden. Zur Kontrole dient eine gleich 
starke Lösung von normalem Blote; beide Lösungen werden in ganz gleicher 
Weise behandelt. Es werden einige Tropfen verdünnter Kalilauge hinzugefttgt, 
hierauf wenige Tropfen einer wässerigen Pyrogallollösung, dann schüttelt man 
e i n m a 1 um und setzt beide Gefässe, welche die Proben enthalten, vollständig 
gefüllt und vor Luftzutritt verschlossen, hin. Die Probe des normalen Blutes wird 
schnell, indem die Pyrogalluslösung den Sauerstoff an sich reisst, missfarbig • braut, 
während die CO-Probe eine rothe Färbung beibehält. Will man die Probe mit 
Blut machen, in welchem die Blutkörperchen unaufgelöst erhalten worden sind, 
so mischt man die abgemessenen kleinen Blutproben anstat mit Aq. destill. mit 
honzentrirter Natriumsulphatlösung. Zweckmässig ist es, beide Proben zu gleicher 
Zeit vorzunehmen. 

Das Verfahren wird denjenigen Herren Kollegen, denen ein Spektralapparat 
nicht zur Verfügung steht, wegen der Möglichkeit einer einfachen und schnellen 
Ausführung ein willkommenes Hilfsmittel sein. 

Dr. Israel-Medenau. 


Beiträge nur Kasuistik der traumatischen Trommelfellruptnren. 
Von Dr. Veith. Münchener medizinische Abhandlungen, 32. Heft, VIII. Reihe. 
München 1893. Verlag von J. F. Lehmann, 23 8. 

Die traumatischen Trommelfellrupturen nehmen mit den vom Verfasser 
ans dem Material der Münchener chirurgischen Poliklinik der letzten 5 Jahre 
znsammengestellten Fällen einen relativ geringen Prozentsatz ein; sie machen 
im Mittel etwa 0,65°/ 0 aller Ohrenerkrankungen aus. Die grösste Anzahl von 
Rupturen fand eich bei Patienten im Alter von 15—30 Jahren; in den meisten 
Fällen lag nur eine Oeflhung vor, in seltenen Fällen zwei und mehrere. Di« 
Grösse schwankte zwischen Stecknadelkopf- nnd Hanfkorngrösse. Die Herab¬ 
setzung der Hörne,härfe schwankte in den verschiedenen Fällen zwischen 0,5 m 
und 2,5 m Hörweite für Flüsterstimmen auf dem verletzten Ohre; ca. 10 */„ der 
Fälle waren mit Labyrintherschtttterung kombinirt. 

Für die Benrtheilung der forensischen Fälle der trauma¬ 
tischen Trommelfellruptnren ist zuerst die Frage zu beantworten, ob die 
Lücke im Trommelfelle wirklich durch ein Trauma gesetzt wurde oder 
nicht. Um dies festzustellen, ist es vor allen Dingen wichtig, dass der 
Verletzte in den ersten 2—3 Tagen nach dem Trauma zur Untersuchung 
kommt. Findet nämlich die gerichtsärztliche Untersuchung erst längere 
Zeit nach der Verletzung statt, so ist man, da eine Vernarbung bereits einge¬ 
treten sein kann, nicht mehr im Stande zn sagen, ob eine Verletzung vorliegt. 
Es heilen die traumatischen Perforationen vermöge der intensiven Regenerations¬ 
kraft des Trommelfellgewebes oft schon vollständig in 5—8 Tagen, während 
die dnreh Suppuration enstandenen Oeffnungen längere Zeit zur Heilung brauchen, 
und sich überhaupt nicht mehr schliessen, sobald einmal die Wundräuder über¬ 
bautet sind. Ein weiterer Unterschied ist folgender: Das Ausknitationsgeräusch 
der beim Vasalva’schen Versuch bezw. beim Politzer’scben Verfahren durch 
die Rupturöffnung strömende Luft ist bei Perforationen, die durch Erkrankungen 
des Mittelobres entstehen, ein scharf zischendes, selbst bei grossen Substanzve»- 
losten; dagegen hört man bei traumatischen Rupturen eines gesunden Ohres dt» 
Loft mit einem breiten, tiefen and hauchenden Geräusche aus dem Ohre strömen. 
Dabei ist zur Durchtreibnng der Luft durch die Tube ein viel geringerer Kraft¬ 
aufwand nöthig als bei Perforationen pathologischer Natnr. 

Die Bedingungen, unter deneo die Perforationenzn Staad« 
kommen, lassen sich in drei Gruppen bringen: 1) Verletzungen durch unmit¬ 
telbares Eindringen eines Gegenstandes in das Trommelfell (Strohhalme, Holz¬ 
splitter, Federhalter). Nach Untersuchungen an Lebenden und nach den vo» 
Z a n f a 1 angestellten Leichenversuchen hat sich ergeben, dass in der Mehrzahl 
der Fälle bei direkten Verletzungen der Sitz der Rupturen in der vorderen 
Hälfte des Trommelfells zn finden ist. 2) Perforationen, welche durch Fort¬ 
pflanzung einer Fraktur der Schädelknochen auf das Trommelfell entstanden 
sind oder dnreh starke Erschütterung desselben. 3) Perforationen durch plötz¬ 
liche Verdichtung der im äusseren Gehörgange befindlichen Loft. 



Kleinere Mittheilungen and Referate ans Zeitschriften. 


46 


Von 43 vom Verfasser zusammengestellten F&llen sind 32, also ca. 75 0 /„ 
aller traumatischen Rupturen auf diese Weise verursacht. Unter diesen sind 27 
d. i 58 °/ 0 in Folge von Schiftgen anf das Ohr, mit der Faust sowohl, als mit 
der flachen Hand entstanden. Als Rarität seien noch die bei Erhängten beob¬ 
achteten Rupturen zu erwähnen, von denen es noch nicht feststeht, ob es eine 
postmortale, durch Herabfallen der Leiche beim Abschneiden des Striches ver¬ 
ursachte Verletzung ist, oder ob es sich um eine indirekte Ursache (Luftver¬ 
dünnung in der Tube) handelt. 

Bei der Aufnahme der Anamnese muss man betreffs der Aussagen von Zeugen, 
der Patient sei bisher stets ohrengesund gewesen, sehr vorsichtig sein. Es kann 
einerseits eine Uebertreibung des Klägers zwecks Erlangung einer höheren Ent¬ 
schädigungssumme etc. vorliegen, andererseits liegt die Erfahrung vor, dass sich 
oft eine einseitige hochgradige Schwerhörigkeit nur durch einen Zufall zu er¬ 
kennen giebt und das betreffende Individuum bis dahin nicht nur von Anderen, 
als beiderseits normalhörig betrachtet wurde, sondern sich selbst beiderseits für 
ohrengesund gehalten hatte. Hat man einen Patienten vor, der zur Uebertrei¬ 
bung oder Simulation hinneigt, so muss man mit den einfachen und komplizirten 
Prüfungsmethoden vielfach ab wechseln, um ihn zu entlarven. Bei Beurtheilung 
der Frage, ob die Verletzung eine leichte oder schwere sei, wird man die letz¬ 
tere dann anzunehmen haben, wenn die Perforation mit einer Labyrintlierschüt- 
terung kombinirt ist, die Knochenleitung also vermindert ist und wenn sich eine 
Mittelohreiterung der Verletzung anschloss, weil hierbei eine stete Quelle der 
Lebensgefahr vorliegt. In jedem Falle ist eine längere Beobachtungszeit des 
Verletzten von mindestens 3 Monaten nothwendig. Ders. 

B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Untersuchungen über den Typhus * Bacillus und den Bacillus coli 
communis. Von Dr. Wm. Dunbar, Assistenten am hygienischen Institut zu 
Oiessen. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten. XII. 4. 

Die bei der überwiegenden Mehrzahl der bakteriologischen und epidemio¬ 
logischen Forscher vorherrschende Ueberzeugung, dass gerade durch das Trink¬ 
wasser besonders häufig ausgedehntere Typhusepidemien entstehen, sichert der 
Untersuchung des Wassers auf die Anwesenheit von Typhus-Bakterien eine 
ganz hervorragende Wichtigkeit unter den Aufgaben der praktischen Sanitäts¬ 
polizei zu. Doch ist bekanntlich diese Aufgabe nicht so leicht zu lösen, da das 
Vorhandensein einer Anzahl „typhusähnlicher Bakterien" die bestimmte Identifi- 
zirung des echten Typhus• Bacillus sehr schwierig, ja nach Ansicht einiger 
Forscher unmöglich machen kann. Namentlich ist es ein Theil der französischen 
Schule, welcher den Typhus-Bacillus für identisch mit dem gewöhnlichsten 
Dannbewohner, dem Bacillus coli communis erklärt, welcher unter gewissen 
Umständen pathogene Eigenschaften annehmen könne. Epidemiologische und, 
wie wir sehen werden, bakteriologische Gründe werden dieser Ansicht in Deutsch¬ 
land zwar wenig Freunde verschaffen, trotzdem ist von den häufiger vor¬ 
kommenden und genauer studirten Bakterien das Bacterium coli commune aller¬ 
dings am meisten geeignet, zu Verwechselungen Veranlassung zu geben. Denn 
es ist ein regelmässiger Bewohner des menschlichen Darmes, es gedeiht auch 
besser in gewöhnlichem Wasser, als der empfindlichere Typhus-Bacillus und 
man wird daher mit grösster Wahrscheinlichkeit da, wo man den Typhus-Bacillus 
erwarten darf, auch den Bacillus coli communis antreffen. 

Verfasser giebt nun in Tabellenform eine sehr vollständige und übersicht¬ 
liche, durch eigene Nachprüfungen ergänzte, bezw. berichtigte Zusammenstellung 
der gesammten morphologischen und biologischen Kennzeichen beider Arten. 
Weder die Beweglichkeit, noch das Wachsthum auf der Kartoffel lässt Verfasser 
als charakteristische und unterscheidende Eigentümlichkeiten des Typhus- 
Bacillus gelten; auch der Bacillus coli communis ist beweglich und ebenso, wie 
der Typhus-Bacillus mit Geisselfäden dicht besetzt; auch er vermag unter Um¬ 
ständen das „unsichtbare Wachsthum" auf der Kartoffelscheibe zu zeigen, 
während andererseits auch Typhus - Bazillen unter Umständen einen sichtbaren 
Rasen bilden können. Die übrigen, oft angeführten Unterschiede, welche sich 
im Aussehen der Platten-, Stich- und Strichkulturen auf gefärbten und unge¬ 
färbten Nährboden zeigen, sind nach Verfasser nur quantitativer Natur und 
lassen daher für eine einzelne Kultur inmitten des Bakteriengemisches einer 



46 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


stark besetzten Wasserplatte eine schnelle Entscheidung nicht mit Sicherheit zu. 
Für beweisend hält Verfasser dagegen die Gasbildung in einfachem Fleisch¬ 
wasser und die Gerinnung sterilisirter Milch, zwei Erscheinungen, die nur dem 
Bacillus coli communis zukommen, bei dem echten Typhus-Bacillus dagegen 
regelmässig fehlen. — 

Wenn Verfasser als die schwierigste Aufgabe bei der Untersuchung eines 
typhus - verdächtigen Wassers die Unterscheidung des Typhus - Bacillus vom 
Bacillus coli communis bezeichnet, so muss er aile diejenigen Methoden ver¬ 
werfen, welche das letztere Bakterium, welches sich auf der Platte vom 
Typhus - Bacillus hauptsächlich durch schnelleres und freudigeres Wachsthum 
unterscheidet, in seinem Wachsthum hemmen, da es dadurch dem Typhus- 
Bacillus nur ähnlicher gemacht wird. Diesen Vorwurf glaubt Verfasser keiner 
der von ihm im einzelnen beleuchteten Methoden ersparen zu können. Weder 
die Uffelmann’sche Methode, noch die Verwendung der Kartoffelgelatine 
nach Holz, noch endlich die Methoden von Parietti, Vincent, G'hante- 
messe-Vidal und Thoinot linden demgemäss Gnade vor seinen Augen, 
ja Verf. ist sehr geneigt, die verschiedenen positiven Funde, welche die betr. 
Erfinder mit ihren Methoden erzielt haben, dahin zu deuten, dass sie, durch die 
Mängel ihrer Methoden getäuscht, den Bacillus coli communis für den echten 
Typhus - Bacillus gehalten haben! Es wird dieser negative Theil der Arbeit 
vielleicht einige Einschränkung erfahren; auf jeden Fall ist der entschiedene 
Hinweis auf die grosse Bedeutung der Milchgerinnung und der Gasbildung des 
Bacillus coli communis im Gegensatz zum Typhus - Bacillus sehr beachtenswert!!. 

Dr. Langerhans-Hankensbüttel. 


Untersuchung der Marktmilch in Giessen. Von Dr. phil. U h 1. (Aus 
dem hygienischen Institut der Universität Giessen.) Zeitschrift für Hygiene und 
Infektionskrankheiten, XII. 4. 

Auf Veranlassung von Prof. Dr. Gaffky vorgenommoue Untersuchungen, 
welche ähnlich, wie Renk’s bahnbrechende Veröffentlichungen über die Ver¬ 
unreinigung der Marktmilch in Halle, bei der in Giessen zum Verkauf gelangen¬ 
den Milch in erster Linie den Schmutzgehalt feststellen sollen, daneben aber 
auch den übrigen hygienischen Eigenschaften der Milch, der chemischen Zu¬ 
sammensetzung, dem Grade der eingelciteten Säurebildung und dem Bakterien¬ 
gehalt die eingehendste Berücksichtigung schenken. Der Gehalt an Schmutz — 
der mikroskopischen Untersuchung gemäss ausschliesslich aus Kuhkoth, Haut- 
.schuppen und Härchen bestehend — schwankte innerhalb sehr weiter Grenzen, 
zwischen 3,8 mg bis zu 42,4 mg Trockensubstanz im Liter Milch, was einem 
Gehalt von 19, bezw. 212 mg frischen Kuhkoth entsprechen würde! Das Mittel 
der Verunreinigung, aus 29 Proben berechnet, betrug 19,7 mg Trockensubstanz 
oder 98,5 mg frischen Kuhkoth im Liter! Da nach derselben Methode in Würz¬ 
burg nur 2,02 mg, in Leipzig 2,8 mg, in München 9 mg, in Berlin 10,3 mg, 
in Halle 14,92 mg Trockensubstanz von Schmutz im Liter gefunden wurden, 
steht Giessen mit beinahe 20 mg in der Reihe bis jetzt obenan; doch ist wohl 
kaum zu bezweifeln, dass ähnliche Untersuchungen an vielen anderen Orten 
dieselben Verunreinigungen aufweisen würden; denn die Unsauberkeit des Milch¬ 
viehs, der melkenden Personen und der zum Melken benutzten Geräthschafteu 
ist häufig unglaublich gross! 

Die übrigen Ergebnisse der Uhl’ sehen Arbeit sind von untergeordneterem 
Interesse. Erwähnung mag das häufige Vorkommen des Bacterium coli commune 
finden. Ders. 


Ueber die Giftigkeit des von Menschen inhalirten Schwefelwasser¬ 
stoffs mit besonderer Rücksicht auf die Fabrikhygiene. Von A. 
Kwilecki. Inaugural - Dissertation. Würzburg 1890; 35 Seiten und 1 Tafel. 

Verfasser hat durch eine Reihe von Versuchen, die unter der Leitung 
von Prof. Lehmann im Würzburger hygienischen Institute an Menschen ange¬ 
stellt werden, den zulässigen prozentischen Gehalt der Luft an Schwefelwasser¬ 
stoff in bewohnten Räumen angestelit. Bei den zum ersten Male mit Menschen 
angestellten Versuchen wurden folgende wichtige Grenzwerthe für die Möglich¬ 
keit des Aufenthaltes von Arbeitern in Räumen, deren Luft durch Schwefel¬ 
wasserstoff verunreinigt wird, aufgestellt: Die Arbeit ist stundenlang möglich 



Kleinere Mittheilungen rund Referate ans Zeitschriften. 47 

bei einem (Jehalt von 0,1—0,145°/ 0 an Schwefelwasserstoff; die Arbeit ist noch 
kurze Zeit möglich, Aufenthalt aber lästig bei 0,145—0,3%; die Arbeit endlich 
ist unmöglich und der Aufenthalt beginnt gefährlich zu werden bei 0,575 %. 

Dr. Israel-Medenau. 


Eine Epidemie von hysterischen Krämpfen in einer Dorfschule. 
Von Prof. Dr. L. Hirt in Breslau. Berliner Klinische Wochenschrift 1S92, 
Nr. 50. 

In einem in der schlesischen Gesellschaft ftlr vaterländ. Kultur zu Breslau 
gehaltenen Vortrage berichtet Hirt über eine interessante Schulepidemie, zu 
der als Analoga aus der neuesten Literatur nur eine einzige Schulepidemie im 
Juli-Augustheft 1891 der Zentralblätter für Nervenheilkunde und Psychiatrie 
angeführt werden kann, welche Palmer in Bieberach beobachtete, wo 13 Mäd¬ 
chen an Kopfweh und darauf folgendem tiefen Schlaf erkrankten, der von schleu¬ 
dernden Bewegungen des ganzen Körpers, Halluzinationen und Delirien unter¬ 
brochen wurde und wobei es sich zweifellos um Hystero- Epilepsie handelte. 

Ende September 1892 wurden im Verlauf von 3—4 aufeinander folgenden 
Tagen Prof. Hirt durch Dr. Lindner in Gross-Tinz bei Liegnitz 3 je zwölf¬ 
jährige Mädchen zugeschickt, bei denen ungefähr folgendes Krankheitsbild be¬ 
stand: Die Kinder vermochten, wenn man sie autrichtete, nicht zu stehen, 
sondern knickten in den Beinen zusammen und waren nicht dazu zu bringen, 
einen Scliritt vorwärts zu tbun oder überhaupt zu laufen, so dass sie getragen 
werden mussten. Dabei war die Sensibilität am ganzen Körper, auch an den 
Unterextremitäten völlig normal, die Patellarreflexe Hessen nicht das mindeste 
Abnorme erkennen. Störungen von Seiten der Blase und des Mastdarms waren 
nicht vorhanden. Kurz nach Beendigung der Untersuchung durchlief ein kon¬ 
vulsivisches Zucken den ganzen Körper, die Muskeln wurden erst steif, dann 
brettartig hart, die Respiration wurde beschleunigt und unregelmässig, es ent¬ 
wickelten sirh, indem Schaum vor den Mund trat, klonische und tonische 
Krämpfe bei völligem Verluste des Bewusstseins. Die Kinder wurden 
auf dem Sopha auf- und niedergeschleudert, der Körper krümmte sich bogen¬ 
förmig und deutlich traten Halluzinationen ängstlichen und schmerzhaften In¬ 
haltes auf. (Ein Mädchen fürchtete sich in der Halluzinationsperiode beson¬ 
ders vor Hunden, so dass sie während der Anfälle wiederholt 2—3 Minuten lang 
wie ein Hund bellte und winselte.) Die einzelnen Anfälle dauerten zwischen 
*/. Stunde und 2—3 Stunden, dann brach allgemeiner Schweiss aus und die 
Kinder fielen in Schlaf. Diese Anfälle hatten seit August bei den Kindern etwa 
bestanden und waren 2—3 Mal täglich aufgetreten. 

Die Mittheilungen der Angehörigen, dass in der Tinzer Schule noch eine 
Menge analoger Erkrankungen vorgekommen wären, veranlassten Hirt, den Ort 
aufzusuchen und im Verein mit dem behandelnden Arzte und dem seit 26 Jahren 
an derselben Schule wirkenden Lehrer gelang es ihm, Folgendes festzustellen: 

Die erste Erkrankung innerhalb der Schule erfolgte am 28. Juni a. c., 
woselbst ein lOjähriges Mädchen ohne jede nachweisbare Veranlassung zunächst 
mit der rechten Hand, dann allmählich mit der ganzen Körpermuskulatur zu 
zittern anfing, ein Zustand, der etwa % Stunde anhielt und ohne alle weiteren 
Folgen vorüberging. Am nächsten Tage trat das Zittern schon bei mehreren 
Mädchen in der Schule auf, welche einige Bänke von einander getrennt sassen. 
Die Zitterattacken kamen nun regelmässig täglich wieder und dauerten immer 
länger, so dass der Schulunterricht, da die befallenen Mädchen nicht schreiben 
konnten, zu leiden begann. In den ersten Tagen des Juli wurde eines der 
zitternden Mädchen von Krämpfen befallen und stürzte unter die 
Bank; obwohl dieses Kind, welches während der Krämpfe das Bewusstsein nicht 
verlor, sofort aus der Klasse entfernt wurde, traten doch bald mehrere neue 
Krampfanfälle an bis dahin gesunden Mädchen auf und am 19. Juli betrug die 
Zahl der Erkrankten zwanzig. In der Zeit vom 14. bis 20. Juli traten fast auf 
jeder Bank Krampfanfälle auf, die Konvulsionen ergriffen die ganze Körpermus¬ 
kulatur, die Mädchen stürzten unter die Bänke und mussten von den in der 
Klasse mitbefindiichen Knaben hinaustransportirt werden, wo dann die Anfälle 
nach verschiedener langer, ca. %—1 Stunde variirender Dauer allmählich ver¬ 
schwanden. Von den 20 erkrankten Mädchen verloren 8 während der Krämpfe 
das Bewusstsein und wussten nach dem Erwachen nichts mehr von dem Gesche- 



4S 


Besprechungen. 


henen. Der Eintritt der Sommerferien am 27. Juli machte der Sache, nachdem 
38 Mädchen bereits am 20. Juli vom Unterricht disponsirt waren, ein vorläufiges 
Ende. Nach Wiederbeginn der Schulstunden am 19. August, war bei den Kin¬ 
dern von Zittern keine Rede mehr, dagegen klagten mehrere Kinder Über hef¬ 
tige Kopfschmerzen, welche so stark waren, dass man die Mädchen, es waren 
wiederum nur weibliche Patienten, nach Hause schicken musste. Während der 
Herbstferien schwanden auch die Kopfschmerzen und bei Wiederbeginn des 
Unterrichts am 20. Oktober konnte die Epidemie als beendet betrachtet werden. 

Was die Natur der Krankheit anbelangt, so ist Hirt der festen 
Ueberzeugung, dass es sich um hysterische Zustände handelt. Der Um¬ 
stand, dass von 32 Knaben, welche neben den Mädchen sassen, kein einziger 
erkrankte, bringt die Vermuthung nahe, dass unter gewissen Verhältnissen die 
Prädisposition des weiblichen Geschlechts für die Hysterie er¬ 
heblich grösser zu sein scheint, als die des männlichen. Will man 
die Art, wie die „Ansteckung“ oder die Weiterverbreitung der Krankheit 
unter den Kindern vor sich ging, erklären, so muss man auf das „Sehen“ 
zurttckgreifen und dem Ansehen des Vorganges, wie dem Triebe znr Nach¬ 
ahmung, eine Hauptrolle zuschreiben. Den Schullokalitäten war in der Aetio- 
logie umsoweniger etwas nachzusagen, als dieselben als vorzüglich geschildert 
werden. 

Hinsichtlich der Behandlung der Krankheit ist zu erwähnen, dass mit 
des Darreichung von Brom eine Art psychische Therapie verbunden wurde, welche 
darin bestand, dass man den Kindern ernsthaft und eindringlich versicherte, 
dass nach dem Gebrauche der Pulver ein Anfall oder überhaupt ein Unwohlsein 
nicht mehr eintreten könne. Bei zwei Kindern, welche im Anschluss an die 
in der Schule acquirirten Krämpfe an Hystero - Epilepsie als Schreckneurose er¬ 
krankten, erwies sich die Suggestionstherapie mit einem mässigen Grade von 
hypnotischer Beeinflussung von ausgezeichneter Wirkung. 

Dr. Dütschke-Aurich. 


Bewegung der Bevölkerung des Deutschen Reiches im Jahre 
1891. Nach der im Kaiserl. statistischen Amt zusammengestellten Nachweisung 
über die Bewegung der Bevölkerung im Jahre 1891 haben im Deutschen Reich 


stattgefunden: 

im Jahre 
1891 

Eheschliessungen .... 399 399 

Geburten \ einschliesslich 1903160 

Sterbefälle / Todtgeburten 1 227 409 

Mehr Geburten als 

Sterbefälle . . . 675 751 


im Durchschnitt 

auf 1000 der 

von 

Bevölkerung 

1882/91 

1891 

1882/91 

373 840 

8,03 

7,86 

1814226 

38,24 

38,16 

1247918 

24,66 

26,55 

566309 

13,58 

11,91 


Die Zahl der Eheschliessungen war demzufolge im vergangenen Jahre 
absolut wie relativ grösser, die der Sterbefälle dagegen kleiner als im Durch¬ 
schnitt der zehnjährigen Periode 1882 bis 1891 und der Geburten - Ueberschuss 
erreichte eine vergleichsweise sehr bedeutende Höhe. 


Unter den Geborenen waren: 

im Jahre im Durchschnitt 
1891 von 1882/91 

Unehelich Geborene . . 172456 168898 

Todtgeborene .... 62 988 66 499 


Prozent der Geborenen 
1891 1882/91 

9,06 9.31 

3,31 3,66 


Besprechungen. 

Dr. med. R. Ostertag, Professor an der thierärztlichen Hochschule 
in Berlin: Handbuch der Fleischbeschau für Thierärzte, 
Aerzte und Richter. Mit 108 in den Text gedruckten Abbildungen. 
Stuttgart, 1892. Verlag von Ferdinand En ke. Gr. 8°, 560 S. 



Besprechungen. 


49 


Das vorstehende Handbuch bringt in seinem ersten Haupttheil allgemeine 
Erörterungen über das Wesen und die Aufgaben des Fleischschau, die reichs¬ 
gesetzlichen Grundlagen für die Regelung des Fleischverkehrs, die Schlachtmethode 
und den Gang des gewerbsmässigen Schlachtens, wie die Untersuchung der aus¬ 
geschlachteten Thiere, die normale Beschaffenheit der einzelnen Theile der Schlacht- 
thiere und die Unterscheidung des Fleisches der verschiedenen Scblachtthiere. 
Es folgt sodann in der zweiten Hälfte eine (Iberall bis in die kleinsten Details 
gehende Schilderung der das sanitätspolizeiliche Interesse in Anspruch nehmenden, 
von der Norm abweichenden physiologischen, wie pathologischen Verhältnisse der 
Schlachtthiere, bedingt zum Theil durch Organkrankheiten, Blutanomalien und 
Intoxikationen, zum Theil durch thierische und pflanzliche Parasiten. Den Schluss 
bilden die Kapitel über Nothschlachtungen, postmortale Veränderungen des 
Fleisches, Mehlzusatz zu Würsten, Färben und Aufblasen des Fleisches, wie 
Konservirung des Fleisches und Kochen, Dampfsterilisation und unschädliche Be¬ 
seitigung des Fleisches. 

Bei der reichen Fülle des Gebotenen können selbstverständlich nur einige 
Einzelheiten hervorgehoben werden, welche ein besonderes Interesse für die 
Medizinalbeamten voraussetzen lassen. Dahin mag die Mittheilung des Verfassers 
gehören, dass im Königreich Preussen jetzt die obligatorische Fleischschau, ins¬ 
besondere aber die mikroskopische Untersuchung der Schweine, überall thatsäch- 
lich eingeführt ist, bis auf den Regierungsbezirk Aachen. Oeffentliche-Schlacht¬ 
häuser sind in den letzten 10 Jahren im Königreiche Preussen geradezu aus dem 
Boden gewachsen, und es giebt Regierungsbezirke, wie z. B. Oppeln, in welchem 
jede Stadt mit namhafter Einwohnerzahl ein öffentliches Schlachthaus bereits 
besitzt, oder doch die Erbauung eines solchen in Angriff genommen hat. Solchen 
Regierungsbezirken stehen aber andere, wie beispielsweise der westpreussische 
Bezirk Danzig gegenüber, in welchem noch kein einziges öffentliches Schlacht¬ 
haus besteht, wie auch nicht eine Gemeinde Uber Untersuchung des zur mensch¬ 
lichen Nahrung bestimmten Fleisches Vorschriften erlassen hat. 

Dem Referenten, welchem die erst vor Kurzem in dieser Zeitschrift 
(Nr.20—23, 1892) veröffentlichte ausführliche Abhandlung des Geh. San.-Rath 
Dr. Müller-Minden „Ueber die Verwendbarkeit des Fleisches tuberkulöser 
Thiere u. s. w.“ noch in lebhafter Erinnerung war, musste es besonders interessant 
sein, das Kapitel über die sanitätspolizeiliche Beurtheilung der Tuberkulose auch 
mal im Ostertag’sehen Licht betrachtet, zu lesen. Er kann jedoch zu seinem 
Bedauern nur versichern, dass die betreffenden Ausführungen ihn ebenso wenig 
wie die früheren geharnischten Artikel Ostertags in der Zeitschrift für Fleisch- 
und Milchhygiene, von der Ungefährlichkeit des Genusses des Fleisches noch nicht 
abgemagerter Thiere, welche lokalisirte Tuberkulose zeigen, überzeugt haben und 
dass er die Aufhebung des nach Ostertag „der wissenschaftlichen Begründung 
entbehrenden“ Mindener Verfügung, noch beute bedauert. 

Mit Recht fordert der Verfasser in dem Abschnitte, der von der Trichinen¬ 
schau handelt, dass die nachträgliche Untersuchung des amerikanischen Schweine¬ 
fleisches unerlässlich sei, nachdem in Deutschland wiederholt lebende Trichinen 
in demselben festgestellt seien, entgegen die Anschauungen Wasserfuhr’B 
und C. Fränkel’s. 

Für den gerichtsärztlichen Sachverständigen werden besonders die Kapitel 
über den Mehlzusatz zu Würsten und das Färben derselben, über das Aufblasen 
des Fleisches und die Konservirungsmethoden von Interesse sein, zumal sie 
gleichzeitig zahlreiche, hierauf bezügliche rcichsgerichtliche Entscheidungen ent¬ 
halten, während den Gesundheitsbeamten vornehmlich der Abschnitt Uber das 
Kochen, die Dampfsterilisation und unschädliche Beseitigung des Fleisches angeht, 
in dem auch der Rohrbeck'sehe Dampfdesinfektor eine gebührende Wür¬ 
digung findet. 

Das interessant und fesselnd geschriebene Werk wird gewiss bald einen 
grossen Abnehmerkreis finden und den Vertretern der Sanitätspolizei häufig zum 
schnellen Nachschlagen in Veterinärsachen dienen, zu welchem Zweck es sich 
seiner grossen Ucbersichtlichkeit wegen ganz besonders eignet. 

Dr. Dütschke-Aurich. 



50 


Besprechung«!. 


Dr. Th. Weyl: Studien zur Strassenhygiene mit besonderer 
Berücksichtigung der Müllverbrennung. Reisebericht, dem Ma¬ 
gistrat der Stadt Berlin erstattet, mit dessen Genehmigung er¬ 
weitert und veröffentlicht. Mit 5 Abbildungen im Text und 
11 Tafeln. Jena 1893. Verlag von Gust. Fischer. Gross 8°. 
142 Seiten. 

Der Verfasser schildert die Beobachtungen bezüglich der Strassenhygiene, 
welche er auf einer im Auftrag des Magistrats der Stadt Berlin im August 1891 
unternommenen Reise nach Brüssel, London und Paris angestellt hat. Der Be¬ 
richt zerfällt in zweiTheile; der erste Abschnitt enthält Beobachtungen, Erkun¬ 
digungen und literarische Ermittelungen über Verkehr, Pflaster, Strassenreinigung, 
Bedürfnissanstalten und Beseitigung der städtischen Abfallstoffe in den bereisten 
drei Städten. Auf Grund der dort gewonnenen Eindrücke schlägt Weyl vor: 

1. Die Berliner Schutzleute sollten nach dem Vorbilde der Londoner 
Policemen bei der Regulirung des Straßenverkehrs thätig sein. 

2. Das nach Pariser Vorbild zu verlegende Holzpflaster sollte in 
grosserem Umfang als bisher in Anwendung gezogen werden. 

3. Bei trockenem Wetter sollte der Strassenreinigung jedesmal 
die Besprengung der Strasse vorhergehen. 

4. Es sollte versucht werden, ob es durch ein über der Brause des Spreng¬ 
wagens angebrachtes Tuch von genügender Breite gelingt, dem beim Sprengen 
aufgewirbelten Staub niederzuhalten (Staubsegel nach Blasius). 

5. Die in London-City gebräuchlichen Hydranten sollten geprüft werden. 

6. Die Müllabfuhr sollte in grossen Städten nur nach einem vom 
Magistrate festzustellenden Plane und nur zu bestimmten Stunden, nicht 
aber den ganzen Tag hindurch gestattet seiu. Der Müll ist in festen Kästen 
aufzusammeln und in diesen Kästen auf die Müllwagen zu verladen, ohne 
dass eine Entleerung der Kästen auf den Müllwagen stattfände. Die gefüllten 
Müllkästen sind gegen leere Kästen umzutauschen. Eigenthümerin der Kästen 
ist die Stadt, welche für deren Benutzung und Erneuerung eine passend abzu¬ 
stufende Abgabe von den Hausbesitzern erhebt. 

7. Aus Gründen der Decenz, der Aesthetik und im Interesse des Verkehrs 
sollten die auf öffentlichen Plätzen und Strassen befindlichen freistehenden 
Bedürfnissanstalten aller Art allmählich verschwinden und nach Londoner 
Vorbild unterirdisch angelegt werden. 

9. Im Interesse des Verkehrs und aus Ersparnissrücksichten wäre die 
Verbringung des Schnees in die Kanäle und Flussläufe zu versuchen. 

Im zweiten Abschnitt versucht der Verfasser ein Bild von dem Stande 
der Verbrennung städtischer Abfallstoffe in England zu geben und 
schildert unter Zuhülfenahme anschaulicher Zeichnungen die gebräuchlichsten 
Verbrennungsöfen. Zum Schluss empfiehlt Weyl auch den deutschen Hygienikern 
und Stadtverwaltungen aufs Angelegentlichste die Müllverbrennung als eine nütz¬ 
liche und nachahmenswerte Methode der Städtereinigung und hebt hervor, dass 
sich in nicht kanalisirten Städten, Fäces, Hausmüll im weitesten Sinne, 
Marktreste und verdorbene Waaren wie Lebensmittel aller Art zur Verbrennung 
eignen, während in kanalisirten Städten, Hausmüll, Marktmüll, die Sink¬ 
stoffe der Kanäle, der Gullies, die Produkte der Kläranlagen, verdorbene Waaren 
und Lebensmittel aller Art für die Verbrennung in Betracht kommen. 

Das Buch wird besonders den grösseren Gemeinwesen ein willkommener 
Berather für die Strassenhygiene sein! Ders. 


Dr. Constantin Kaufmann, Dozent für Chirurgie an der Universität 
Zürich: Handbuch der Unfall-Verletzungen mit Be¬ 
rücksichtigung der deutschen, österreichischen und schweizeri¬ 
schen Unfallpraxis für Aerzte, Versicherungsbeamte und Juristen. 
Stuttgart 1892. Verlag von Ferdinand Enke. Gr. 8°, 256 S. 

Durch das vorliegende Handbuch der Unfallverletzungen ist die seit In¬ 
krafttreten der Unfallversicherung im schnellen AnfblUhen begriffene Literatur 



Tagesnachrichten. 


51 


jeues neuen Gebietes der ärztlichen Thätigkeit wiederum um eiuc grössere 
Arbeit bereichert worden und, dass Referent es im Eingang gleich betont, durch 
ein Werk, welches sich als das beste und vollkommenste in der Unfallsliteratur 
bislang erweist. Das Handbuch hat sich zur Aufgabe gestellt, die Unfallver¬ 
letzungen im Anschlüsse an die Unfallpraxis der drei Staaten zu behandeln. 
Es zertällt in zwei Tkeile: Der erste Theil enthält die allgemeinen Gesichts¬ 
punkte für die Untersuchung und Beurtheiluug, und erfahren, nachdem die ein¬ 
schlägige Literatur vorausgeschickt ist (wobei übrigens manches bekannte Werk, 
es mag nur an Seeligmüller's Abhandlungen über traumatische Neurose und 
Unfallkrankenhäuser erinnert werden, gar nicht erwähnt wird), die einzelnen 
Unfall- nml Haft.ptfichtgesetze der drei Staaten eine übersichtliche Zusammen¬ 
stellung; hieran schliesst sich die Definition des Betriebsunfalles, die Begut¬ 
achtung und Untersuchung der Todesfälle, wie der herbeigeführten Körperver¬ 
letzungen, während den Schluss dieses Abschnittes die Untersuchung auf Simulation 
und Bestimmung der Erwerbsunfähigkeit, wie Form und Inhalt der ärztlichen 
Gutachten bilden. Im zweiten Theile werden die Unfallverletzungen mit be¬ 
sonderer Berücksichtigung ihrer Heilungsdauer und ihrer Folgen für die Er¬ 
werbsfähigkeit besprochen, Der zweite Theil vornehmlich ist es, der durch seine 
bis in die kleinsten Details gehenden Vollständigkeiten den mit der Begutachtung 
betrauten Arzt voll befriedigen wird, da für die häufigsten Verletzungen eine 
grössere Zahl von Entschädigungsbestimmungen angeführt wird, an welche er 
sich halten kann. Die grössten Schwierigkeiten bereitet ja erfahrungsge näss 
dem Gutachter meist die von den Berufsgenossenschaften und Schiedsgerichten 
verlangte prozentuale Bestimmung der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit; dankbar 
wird es daher der Besitzer des Kaufmann’sehen Handbuches empfinden, dass 
ihm in dem zweiten Theil für diese Beurtheiluug eine erschöpfende Fülle von 
Beispielen geboten wird, denen er den zu beurtheilenden Fall leicht anpassen 
kann. Besonders ausführlich ist in dieser Beziehung das Kapitel über die 
oberen und unteren Extremitäten behandelt, welche ja nach den statistischen 
Zusammenstellungen bei Arbeitern das grösste Kontingent von Unfall Verletzungen 
naturgemäss bilden. 

Am wenigsten, will es dem Referenten erscheinen, ist das Kapitel der 
„traumatischen Neurose* geglückt und wäre hier eine minder stiefmütterliche 
Behandlung um so mehr am Platz gewesen, als unsere gebräuchlichsten medi¬ 
zinischen Handbücher bis jetzt diesen Punkt gar nicht berücksichtigen, der 
Arzt somit ausschliesslich auf die Unfallliteratur angewiesen bleibt, wie der 
Verfasser in der Einleitung zu jenem Kapitel selbst hervorhebt. Aus diesem 
Grunde hätte auch eine reichhaltigere Literatur herangezogen werden müssen, 
welche nicht nur die Oppen he im’scheu bezw. S trttm pelTschen An¬ 
schauungen vertritt, sondern auch Autoren das Wort gestattet, die eine trau¬ 
matische Neurose als ein Krankheitsbild sui generis nicht anerkennen. 

Diese kleine Ausstellung soll selbstverständlich den Werth der interessant 
und fesselnd geschriebenen Arbeit nicht herabsetzen, zumal eine gewiss bald 
erforderlich werdende Neuauflage diesem Mangel leicht abhelfen kann. Die 
Vorzüge des Buches, besonders in seinem zweiten Theil, sind für die Praxis so 
hervorstechend, dass sich dasselbe voraussichtlich schnell den begutachtenden 
Aerzten als unentbehrlich zeigen wird. Ders. 


Tagesnachrichten. 

Zu dem vom 24. September bis 1. Oktober d. J. in Rom st&tt- 
findenden XI. internationalen medizinischen Kongress hat der Geschäfts- 
ausschuss (Prof. G. Baccelli in Rom, Vorsitzender, Prof. L. Pagliani in 
Rom, Schatzmeister und Prof. E. Maragliano in Genua, Generalsekretär) die 
Einladungen erlassen unter Beifügung der Statuten, des Verzeichnisses der 
Sektionen und eines Formulars für etwaige Beitritts - Erklärungen und An¬ 
kündigungen von Vorträgen. Anmeldungen oder sonstige Schriftstücke sind an 
den Generalsekretär Prof. E. Maragliano, Institnto di Clinica Medica, Ospe- 
dale Pammatone -Genova (Italien) zu richten (vergl. auch weiter unten die Be¬ 
kanntmachung des 'Vorstandes des Preussischen Medizinalbeamten - Vereins). 



52 


Tagesnachriohten. 


Ebenso wie bei deu früheren internationalen medizinischen Kongressen 
sind auch diesmal 18 Sektionen vorgesehen: L Anatomie, II. Physiologie, 
III. allgemeine Pathologie nnd pathologische Anatomie, IV. Pharmakologie, 
V. Interne Medizin, VI. Kinderheilkunde, VII. Psychiatrie, Neurologie und 
kriminelle Anthropologie, VIII. Chirurgie und Orthopädik, IX. Qeburtshülfe und 
Frauenkrankheiten, X. Laryngologie, XI. Otologie, XII. Ophtalmologie, 
XIII. Zahnheilkunde, XIV. Militärische Medizin und Chirurgie, XV. Hygiene, 
XVI. Bau - Sanitätswesen, XVII. Hautkrankheiten und Syphiligraphie, XVÜI. Ge¬ 
richtliche Medizin. Gegenüber den auf dem Berliner internationalen medizini¬ 
schen Kongresse im Jahre 1890 getroffenen Eiutheilung der Sektionen ist, abge¬ 
sehen von der veränderten Reihenfolge, nur insofern eine Aenderung eingetreten, 
dass an Stelle der XVI. Sektion für medizinische Geographie und Klimatologie 
jetzt eine solche für Bau - Sanitätswesen eingerichtet ist. 

Die Statuten, die ebenfalls gegenüber denjenigen des Berliner Kon¬ 
gresses einige Abänderungen erfahren haben, lauten wie folgt: 

„Art. 1. Der elfte internationale medizinische Kongress wird in Rom 
am 24. September 1893 eröffnet und am 1. Oktober 1893 geschlossen werden. 

Art 2. An den Arbeiten des Kongresses können afle jene Aerzte theil- 
nehmen, die durch Erfüllung der mit der Inskription verbundenen Obliegenheiten 
in Besitz der Mitgliedskarte gelangt sind. 

Art. 3. Doktoren anderer Disziplinen, die sich wegen ihrer Spezial¬ 
studien für die Arbeiten des Kongresses interessiren, können mit den gleichen 
Rechten und Pflichten, wie die Aerzte, Kongressmitglieder sein, und steht ihnen 
ebenfalls das Recht zu, thätigen Antheil an den Arbeiten zu nehmen sowohl 
durch Vorträge, als durch Theilnahme an den Diskussionen. 

Art 4. Der Beitrag der Mitglieder des Kongresses ist auf fünfundzwanzig 
Lire (frs. 25.—, Mk. 20.—, L. 1.—) festgesetzt und berechtigt zum Bezüge eines 
Exemplars der Kongress-Akten, das ihnen sofort nach Drucklegung derselben 
zugesandt werden wird. 

Art. 5. Der Zweck des Kongresses ist ausschliesslich wissenschaftlich. 

Art. 6. Die Arbeiten des Kongresses werden unter 18 Sektionen ver¬ 
theilt; jeder Beitretende wird ersucht, gelegentlich der Beitrittserklärung die 
Sektion anzugeben, der er anzugehören wünscht. 

Art. 7. Das Zentral - Comitt wird in der Eröffnungssitzung die Wahl 
des definitiven Bureaus veranlassen. — Dasselbe wird bestehen aus 
einem Vorsitzenden, 
drei Stellvertretern und 

einer unbeschränkten Anzahl von Ehrenpräsidenten und Schriftführern. 

Jede Sektion wählt, bei Organisirung ihrer Sitzungen, die eigenen Vor¬ 
sitzenden und die geeignete Anzahl von Ehrenpräsidenten, die in bestimmter 
Reihenfolge die Sitzungen leiten. 

Ein Theil der Schriftführer wird aus den ausländischen Mitgliedern 
gewählt, denen die Redaktion der Vorträge und Diskussionen in fremden 
Sprachen obliegt. 

Art. 8. Die Versammlungen des Kongresses finden täglich statt, sei es 
zu allgemeinen Sitzungen, sei es zu den Arbeiten der Sektionen. 

Die Stunde, die Anzahl nnd die Tagesordnung der allgemeinen Sitzungen 
werden von dem Vorsitzenden bestimmt. 

Art. 9. Den allgemeinen Sitzungen sind Vorbehalten: 

a) die Diskussionen bezüglich der Arbeiten und der allgemeinen 
Interessen des Kongresses; 

b) die Vorträge und Mittheilungen von allgemeinem Interesse. 

Art. 10. Die Vorträge in den allgemeinen und eventuellen ausserordent¬ 
lichen Sitzungen werden vom Zentral -ComitS erwählte Mitglieder halten. 

Art. 11. Die am Kongresse zu haltenden Vorträge müssen bis spätestens 
30. Juni 1893 angemeldet werden. 

Von jedem Vortrage ist ein kurzgefasster Auszug mit den Schlussfolge¬ 
rungen einzusenden, dessen Druck und Verteilung an die Kongressteilnehmer 
die Präsidenz besorgt. 

Diese Auszüge sollen spätestens bis 31. Juli 1893 eingesendet werden. 

Nach diesem Tage eintreffende oder während des Kongresses angemeldete 



Tagealachrichten. 


53 


Vorträge können nur dann auf die Tagesordnung gesetzt werden, wenn die vor¬ 
her angesetzten Vorträge die hierzu nöthige Zeit frei lassen. 

Die Tagesordnungen für die Arbeiten der einzelnen Sektionen werden 
von den Vorsitzenden der Sektionen selbst und nach deren Gutachten festgesetzt. 

Art 12. Die Stunden für die Sitzungen der Sektionen werden von den 
Sektionen selbst bestimmt, unter Rücksichtnahme, dass selbe mit den nicht all¬ 
gemeinen Sitzungen kollidiren. 

Vereinigte Sitzungen zweier oder mehrerer Sektionen können nach Ver¬ 
einbarung der bezüglichen Vorsitzenden veranstaltet werden. 

Ueber wissenschaftliche Fragen ist die Abstimmung nicht zulässig. 

Art. 13. Die für jeden Vortrag bestimmte Zeitdauer ist fünfzehn Minuten. 

Die an der Diskussion Theilnehmenden können je einmal während fünf 
Minuten sprechen. Dem Autor des Vortrages sind nach Beendigung der Dis¬ 
kussion zehn Minuten zugemessen, um alle Entgegnungen zu beantworten. 

Die Vorsitzenden haben Vollmacht, in Berücksichtigung der Bedeutung 
eines Gegenstandes nach eingeholtem Gutachten der Sektion, Autoren von Vor¬ 
trägen ausnahmsweise eine längere Zeitdauer zu bestimmen. 

Art. 14. Der Text aller Vorträge, die sowohl in den allgemeinen 
Sitzungen als in denen der Sektionen gehalten werden, muss vor Schluss der 
bezüglichen Sitzung den Schriftführern übergeben werden. 

Ein von der Präsidenz ernanntes besonderes Redaktions -Comit6 bestimmt, 
ob und in welchem Umfange diese Texte im Kongressberichte veröffentlicht 
werden sollen. 

Die an der Diskussion Theilnehmenden sind gebeten, den Schriftführern 
innerhalb des Tages der bezüglichen Sitzung, einen schriftlichen Auszug der von 
ihnen vorgebrachten Entgegnungen zu übergeben. 

Art. 15. Die offiziellen Sprachen für alle Sitzungen sind: italienisch, 
französisch, deutsch und englisch. 

Die Statuten, Programme und Tagesordnungen werden in diesen vier 
Sprachen veröffentlicht. 

In den Sitzungen sind ganz kurze Bemerkungen in einer anderen Sprache 
gestattet, falls eines der anderen Mitglieder sich bereit erklärt, selbe in eine 
der offiziellen Sprachen zu übersetzen. 

Art. 16. Die Vorsitzenden leiten die Verhandlungen nach den in der¬ 
artigen Versammlungen gebränchlichen parlamentarischen Regeln. 

Art. 17. Im Art. 3) nicht inbegriffene Personen, die sich für die Arbeiten 
einer besonderen Sektion interessiren, können auf Entscheidung der Präsidenz 
des Kongresses zu denselben Zutritt erhalten. 

In solchem Falle empfangen selbe eine besonders bezeichnete Mitglieds¬ 
karte, haben den für die Kongressmitglieder vorgeschriebeuen Beitrag zu leisten 
und erhalten das Recht zum Bezug eines Exemplars der Kougressakten. 

Die auf Grund dieser Bestimmung zum Kongresse zugelasseuen Personen 
können weder in allgemeinen Sitzungen noch in denen jener Sektionen, bei 
welchen sie nicht eingeschrieben sind, das Wort ergreifen. 

Art. 18. Studenten der Medizin können vom Präsidenten eingeladen 
werden oder die Befugniss erhalten, den Sitzungen beizuwohnen, aber blos 
als Zuhörer. 

Die Eintrittskarten für dieselben werden unentgeltlich abgegeben.“ 


Das Preussische Medizinalwesen stellt sich nach dem Staatsliaus- 


halts-Etat für das Jahr 1993/94, wie folgt: 

1. Für Besoldungen der Mitglieder der Provinzial-Medizinal¬ 
kollegien, der Regierungs-Medizinalräthe u. 8. w. . . . 238 404,00 M. 

2. Für Besoldung der Kreis-, Bezirks- und Stadtphysiker, 

Kreiswundärzte etc. 727 695,82 „ *) 

[darunter 36000 Mark für Stellenzulagen]. 

3. Zu Wohnungsgeldzuschüssen für die Reg.-Medizinalräthe 21 780,00 n 


_ Zu übertragen 9S7 879,82 M. 

*) 2550 Mark weniger durch erledigte AussterbebesoMnng eines Amts- 
physikus im Reg.-Bez. Kassel und der entbehrlich gewordenen Kreiswnudarzt- 
stellen der Stadtkreise Hannover und Wiesbaden und des Kreises Düren; da¬ 
gegen 900 mehr für Besoldung eines Physikus auf der Insel Helgoland. 




64 


Tagesnachrichten. 


Uebertrag 987879,82 M. 

4. Zur Remunerirnng eines Medizinalassessors bei dem Polizei¬ 
präsidium in Berlin, sowie der Barean- nnd Kanzleihülfs- 

arbeiter bei den Provinzial-Medizinalkollegien . . . 12 598,00 „ 

5. Zu Bureaubedttrfnissen der Medizinalkollegien, sowie za 

Reisekosten and Tagegeldern für auswärtige Mitglieder 
der Provinzial • Medizinalkollegien and Dienstaufwands- 
Entschädigung (1200 Mark) za Reisekosten für den Re¬ 
gierungs- und Medizinalrath in Berlin. 9 642,00 „ *) 

6. Zur Remunerirung der Mitglieder und Beamten der Kom¬ 
mission f. die Staatsprüfungen d. Aerzte, Zahnärzte, Apo¬ 
theker u. Physiker, sowie zu sachl. Ausgaben bei denselben 159 500,00 „ 

7. Zuschüsse für Uuterrichts-, Heil- und Wohlthätigkeits- 

Anstalten (Charite - Krankenhaus in Berlin u. s. w ) . . 451 661,32 „ 3 ) 
darunter 233 055 Mark Zuschuss für das neu errich¬ 
tete Institut für Infektionskrankheiten. 

8. Für das Impfwesen (Remunerirung der Vorsteher nnd 
Impfärzte bei den Impf- und Lympherzeugungs- Instituten, 

sachliche Ausgaben u. s. w. 87 201,00 „ 

9. Für Reagentien bei den Apothekerrevisionen .... 1900,00 „ 

10. Zu Unterstützungen für aktive und für ausgeschiedene Me- 

dizinal beamte und deren Wittwen und Waisen ... 55 000,00 „ 4 ) 

11. Zu Almosen an körperlich Gebrechliche zur Rückkehr in 


in die Heimath, sowie für arme Kranke. 900,00 „ 

12. Für medizinalpolizeiliche Zwecke . 28 500,00 „ 


13. Verschiedene Ausgaben (Quarantäne-Anstalten, künftig 

wegfallende Besoldungen, Zuschüsse u. s. w.) . . . . 44 098,83 „ 

Zusammen 1 838 930,97 M. 
im Vorjahre 1 828 410,97 „ 

demnach mehr 10 520 M. 

Im Extraordinarium sind ausserdem 550190 Mark für Neu- und Um¬ 
bauten, Ergänzung des Inventars, Deckung von Fehlbeträgen bei verschiedenen 
Universitätskliniken tte. (in Königsberg, Berlin, Breslau, Greifswald, Halle, Kiel 
und Marburg) eingestellt; desgleichen 20 000 Mark als 2. Rate zur Abhaltung 
von Fortbildungskursen in der öffentlichen Gesundheitspflege 
für Regierungsmedizinalräthe und Kreisphysiker. 

Zu dieser Ausgabe heisst es in den Bemerkungen zum Etat: 

„Die Erfahrung hat gelehrt, dass den einberufeuen Beamten auch das 
Honorar für die Universitätslehrer, welche die Kurse abhalten nnd der Betrag, 
welcher für Verbrauch von Materialien zu entrichten ist, nicht füglich auferlegt 
werden kann, da die Beamten durch die Theilnahme an denselben nicht uner¬ 
hebliche Einbussen an ihren Einnahmen aus der Praxis, sowie aus dienstlichen 
Gebühren erleiden, ausserdem auch die Beschaffung der für die Kurse erforder¬ 
lichen Mikroskope ihnen Kosten bereitet. Es ist daher beabsichtigt, in Zukunft 
diese durchschnittlich etwa 60 Mark für jeden Theilnehmer an den Kursen be¬ 
tragenden Kosten auf Staatsfonds zu übernehmen. Eine Erhöhung der für die 
Kurse in Aussicht genommenen Summe von insgesammt löuOOO Mark wird da¬ 
durch nicht erforderlich werden.“ 

Man dürfte hier wohl mit Recht fragen, warum sollen die Kosten erst 
künftighin auf Staatsfonds übernommen und nicht auch den bisherigen Theil- 
nehmem wieder zurückerstattet werden? Wenn die Erfahrung gelehrt, hat, dass 
die Physiker durch Theilnahme an jenen Kursen in ihren sonstigen Einnahmen 
nicht unerbebliohe Einbusse erleiden, und dass dadurch auf einen ausreichenden 

*) 50 Mark mehr. 

*) 2120 Mark mehr. 

*) 10 Oi <0 Mark mehr, da sich dieser Fonds in seiner bisherigen Höhe als 
gänzlich unzureichend erwiesen hat. 







Tagesnachrichten 


56 


Besuch der Kurae nicht zu rechnen ist — ein Umstand, auf dem wir Übrigens 
gleich bei Einrichtung dieser Kurse aufmerksam gemacht haben — dann sollte 
man aber auch diejenigen Physiker, die trotz der pekuniären und sonstigen Opfer 
an den Kursen theilgenommen haben, nicht schlechter behandeln, als diejenigen, 
die bisher in kluger, ihnen nicht zu verdenkender Vorsicht ruhig zu Hause 
geblieben sind. 

Im Uebrigen bringt der Etat, ausser der schon längst nothwendigen, aber 
auch jetzt nicht ausreichenden Erhöhung des Fonds zur Unterstützung für aktive 
und für ausgeschiedene Medizinalbeamte und deren Wittwen und Waisen, für 
die Kreisphysiker nichts Erfreuliches. Die in der letzten Nummer der Zeitschrift 
mitget heilte, von politischen Blättern gebrachte Nachricht, dass in dem Etat 
eine Summe eingestellt sei, um die Kreisphysiker selbstständiger zu stellen 
und sie vou der Praxis unabhängig zu machen, hat sich, wie wir gleich 
befürchteten, nicht bewahrheitet und wenn nicht das Reichsseuchengesetz in 
dieser Hinsicht noch eine Aenderung nothwendig macht, dann sind die Medizinal- 
beamten in ihren Hoffnungen wieder einmal gründlich getäuscht worden. Bis 
jetzt lauten allerdings die Nachrichten betreffs der Fertigstellung des Reichs¬ 
seuchengesetzes noch immer günstig, denn nach einer in der Budgetkommission 
des Reichstags kürzlich vom Staatssekretär v. Bötticher gemachten Mitthei¬ 
lung wird der Entwurf des Gesetzes voraussichtlich noch im Januar dem Bun- 
desrathe und im Februar dem Reichstage zugehen. Die für dieses Jahr drohende 
Choleragefahr wird ausserdem nicht unwesentlich zur Beschleunigung der An¬ 
gelegenheit beitragen, die scheiubar in den letzten Wochen durch die Erkran¬ 
kung des Direktors des Reichsgesundheitsamtes eine Verzögerung erlitten hat. 

Das Seuchengesetz wird sich, wie jetzt mitgetheilt wird, auf alle gefähr¬ 
lichen ansteckenden Krankheiten beziehen und die zu ihrer Abwehr und Be¬ 
kämpfung erforderlichen Vorschriften enthalten. Dahin gehören: 1. die Regelung 
der Anzeigepflicht; 2. Abwehrmassregeln gegen das Ausland, als Grenzsperren, 
Beschränkung des Grenzverkehrs durch Einfuhrverbote, Quarantänevorschriften; 
3. Schutzmassregeln im Inlande, als Bekanntmachung der Krankheit., Isolirnng 
der Kranken und Desinfektion, Ausfuhrbeschränkung, Verbot von Märkten, Ver¬ 
sammlungen, Schulbesuch etc., Beschränkung einzelner Gewerbebetriebe, sowie 
des Verkehrs mit gewissen Nahrungs- und Genussmitteln, Vorschriften über 
Beerdigung und Leicbenbeförderuug; 4. Regelung der Entschädigungspflicht für 
das aus Anlass der Seuchengefahr vernichtete oder beschädigte Privateigenthum; 
5. Strafbestimmungen. 


Cholera. Die Zahl der Cholera-Erkrankungen hat sich in Hamburg 
mit Beginn dieses Jahres wesentlich verringert; in der ersten Woche vom 1.—7. 
Januar sind nur 7 Erkrankungen und 1 Todesfall vorgekommen, und vom 8.—12. 
Januar 4 Erkrankungen und 1 Todesfall; ausserdem sind aus Altona und 
Pinneberg noch je 2 Erkrankungen gemeldet. 

In den Niederlanden kommen immer noch vereinzelte Cholerafälle vor; 
anch in Frankreich ist die Seuche noch nicht völlig erloschen und werden 
besonders aus Dünkirchen, Calais und Nantes neue Erkrankungen gemeldet. 
Dasselbe gilt von Galizien, wo in den beiden letzten Dezemberwochen 22 Er¬ 
krankungen mit 7 Todesfällen in den Bezirken Borszcow und Husiatyn zur An¬ 
zeige gelangt sind. In Pesth betrug die Zahl der Erkrankungen an Cholera 
vom 27. Dezember bis 7. Januar nur noch 6, diejenige der Todesfälle 1. 

In Russland ist die Seuche immer weiter in der Abnahme begriffen, 
besonders in den westlichen Gouvernements. Nach den neuesten amtlichen Fest¬ 
stellungen sind im ganzen russischen Reiche bis zum November 551478 Personen 
an der Cholera erkrankt und 266200 = 48,9 % gestorben. 


In Hamburg ist vor Kurzem ein Gesetz, betreffend den Verkehr mit 
Kuhmilch erlassen worden. Dasselbe bestimmt u. A.: Frische Kuhmilch darf 
nur als Vollmilch oder Magermilch in den Verkehr gebracht werden. Voll¬ 
milch ist die Kuhmilch, welcher nichts zugesetzt und nichts genommen worden 
ist und welche einen Fettgehalt von mindestens 3 Proz. und ein spezifisches 



56 


Tagesnachrichten. 


Gewicht von mindestens 1,028 bei + 15° C. hat. Halbmilch ist die Kuh- 
milch, deren Fettgehalt durch theil weise Abrahmung oder durch Vermischung 
von Vollmilch mit abgerahmter Milch verringert worden ist. Sie muss noch 
einen Fettgehalt von mindestens 1,8 Proz. und ein spezifisches Gewicht von min¬ 
destens 1,080 bei —(-15 0 0. haben. Magermilch ist die Kuhmich, welche fast 
völlig, wie namentlich durch maschinelle Kraft, z. B. durch Zentrifugen ent¬ 
fettet worden ist. Sie muss einen Fettgehalt von mindestens 0,15 Proz. and ein 
spezifisches Gewicht von mindestens 1,085 bei -|- 15.° C. haben. 


Preus8ischer Medizinalbeamtenverein. 

Der Geschäftgausschuss des XI. internationalen medizinischen 
Kongresses hat nachfolgendes Einladungsschreiben an den Vorsitzenden unseres 
Vereins gerichtet: 

„Sehr geehrter Herr Kollege! 

Der Vorsitzende des Kongresses hat sich seiner Zeit beehrt, Sie 
und die Herren Mitglieder Ihres Vereins zu bitten, der Einladung des 
Zentral - Coraites zur Theilnahme am internationalen medizinischen Kon¬ 
gresse, der im Jahre 1898 in Rom tagen wird, Folge leisten zu wollen. 

Es ist der angelegentliche Wunsch des Komitees, dass der bevor¬ 
stehende Kongress sich derart gestalte, dass alle Kollegen zu dem¬ 
selben mit den Früchten ihrer persönlichen Thätigkeit beitragen mögen, 
so dass die Vereinigung der einzelnen Kräfte ein Ganzes gebe, würdig 
der hohen Stufe, welche die medizinische Wissenschaft erreicht hat. 

Deshalb füge ich der Einladung zur Theilnahme am Kongresse die 
Bitte bei, Sie und Ihre Herren Kollegen mögen zum vollen Gelingen 
der Arbeiten des Kongresses durch Vorträge beisteuern. 

Das Comit6 schmeichelt sich, dass Sie, geehrter Herr Kollege, in 
Ihrem eigeuen Namen den Mitgliedern Ihres Vereins den Ihnen im 
Vorstehenden mitgethoilten Wunsch ausdrücken wollen und spreche ich 
Ihnen im Vorhinein für den Eifer, mit dem Sie dessen Bestrebungen 
fördern werden, meinen verbindlichsten Dank aus. 

Der Präsident: Der General-Sekretär: 

G. Baccelli. E. Maragliano. 

Indem der Vorstand das vorstehende Schreiben zur Kenntniss der Vereins¬ 
mitglieder bringt, richtet er an diese gleichzeitig die Bitte, der Einladung thun- 
lichst Folge zu leisten. Statuten und Verzeichniss der Sektionen des Kongresses 
sind in der heutigen Nummer der Zeitschrift unter Tagesnachrichten mitgetheilt. 
Zu Beitrittserklärungen und zur Anmeldung etwaiger für den Kongress be¬ 
stimmter Vorträge hat der Geschäftsausschuss dem Vorstande eine Auzahl For¬ 
mulare zur Verfügung gestellt, in deueu die Sektion, welcher der Betreffende 
anzugehören wünscht, sowie der Titel des anzukündigenden Vortrages einzutragen 
sind. Wer von den Vereinsmitgliedern daher an dem Kongresse theilzunehmen 
beabsichtigt, kann ein solches Formular auf Verlangen jederzeit von dem Unter¬ 
zeichneten Schriftführer erhalten. Alle Anmeldungen und sonstige den Kongress 
betreffende Schriftstücke sind an den Generalsekretär E. Maragliano, Istituto 
di Clinica Medica — Ospedale Pammatone — Genova (Italien) zu richten. 

Der Vorstand des Preussischen Medizinalbeamtenvereins. 

Im Auftr. 

Dr. Rapmund, Schriftführer des Vereins. 

Reg.- und Med.- Rath in Minden. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmnnd, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i W. 

* J. 0. G. Bruns, Bnchdruckcrei, Minden. 









58 


Dr. Fielitz. 


erkrankt: gestorben: 


20. 

Jan. 

16 

1 

21. 

79 

9 (2 Aerzte, 1 Wärter) 

7 

22. 

79 

12 

4 

23. 

79 

8 

2 

24. 

71 

13 (1 Arzt) 

1 

25. 

79 

4 

5 

26. 

79 

2 

0 

27. 

79 

0 

2 

28. 

79 

2 (1 Beamtenfrau) 

2 


Zusammen 113 42 

Die Krankheit brach in einem alten Flügel der Anstalt aus, 
welcher 1866 eine starke Epidemie durchgemacht hatte, sprang 
aber sofort nach den meisten Gebäuden über, so dass auch von 
den neueren nur eins verschont blieb, obwohl es zwischen 2 infizir- 
ten Villen lag. Das ganze explosionsartige Auftreten der Seuche 
deutete auf eine Verbreitungsart, die für alle Insassen gemein¬ 
schaftlich war und man musste nach Lage der Sache ohne Wei¬ 
teres an das Wasser denken. Woher die Einschleppung erfolgt 
ist, hat sich bis zur Stunde noch nicht genügend aufklären lassen, 
aber man wird nicht fehlgehen mit der Annahme, dass der Keim 
von Hamburg durch eine Person, eventuell schon vor mehreren 
Wochen, in die Anstalt gebracht wurde. Das Waaren oder sonstige 
Gegenstände verantwortlich gemacht werden könnten, ist ausge¬ 
schlossen. Die überaus schnelle Ausbreitung und das verschiedene 
Befallenwerden der drei Verpflegungsklassen, ebenso wie der plötz¬ 
liche Abfall seit dem 25. Januar wird verständlich, wenn man die 
Wasserversorgung in’s Auge fasst. 

Die Anstalt hat eine Wasserleitung, welche ihren Bedarf aus 
einem Nebenarm der Saale, der sog. wilden Saale, schöpft, die 
Halle gar nicht berührt und verhältnissmässig reines Wasser führt. 
Das Wasser fliesst aus diesem Arme in ein Filter und wird aus 
dem Sammelbassin nach der Anstalt gepumpt und zwar in Wasser¬ 
reservoire, welche in Verbindung stehen und sämmtliche Gebäude 
versorgen. Die Abflusswässer werden über Rieselfelder geleitet 
und sammeln sich in einen Wassergraben, welcher an der Anstalt 
vorüberführt und seinen Inhalt der wilden Saale etwa 50 Meter 
oberhalb der Entnahmestelle zuführt. Es ist somit ohne Wei¬ 
teres klar, dass Infektionsstoffe, wenn solche aus der Anstalt ab- 
flossen und auf den Rieselfeldern nicht unschädlich gemacht 
wurden, wieder in die Anstalt zurückkehren konnten, sobald das 
Filter nicht ausgezeichnet funktionirte. Koch’s Untersuchungen 
ergaben sehr bald, dass weder Filter noch Rieselfelder ihre Schul¬ 
digkeit thaten, ersteres wegen falscher Anlage, letztere wegen der 
anhaltenden starken Kälte, die beim Ausbruch der Epidemie fast 
22° erreicht hatte. 

Die exakten Untersuchungen des Leitungswassers, welche 
im Institut für Infektionskrankheiten unter Pfeiffer’s Leitung 
vorgenommen wurden, förderten sehr bald den Kommaba- 



Karze Bemerkungen über die Choleraepidemie in der Irrenanstalt Nietleben. 59 

cillu8 auch in dem Wasser zu Tage, welches das Filter 
passirt hatte. 

Unterdessen war bereits am 23. Januar das Saalewasser von 
der Anstalt vollständig abgesperrt und ein Ersatz durch das vor¬ 
zügliche Hallesche Leitungswasser geschaffen worden. Diese Mass- 
regel entsprach vollkommen Koch’s Erwartungen, denn vom 
25. Januar ab fiel die Erkrankungsziffer, ohne dass eine meteoro¬ 
logische oder andere Erklärung zu finden wäre. Die Nachzügler 
sind nicht zu verwundern: so ist am 28. eine Beamtenfrau als 
erkrankt gemeldet, die seit dem 24. ihre Durchfälle verschwiegen 
hatte. Die zweite Erkrankte betraf eine vollständig irre Frau, 
die in der Abtheilung der schmutzigen Kranken wohnt, wo viele 
Erkrankungen jedenfalls deshalb vorkamen, weil die ersten Pa¬ 
tienten den Infektionsstoff überall herumgeschmiert hatten. v Es f 
handelt sich hier um Personen, welche viel an der Erde zubringen, 
ja selbst ihre Fäkalien verzehren u. dergl. Eine Räumung und 
Desinfektion dieser Abtheilung ist bereits eingeleitet. 

Dass im Saalewasser der Krankheitserreger von nun ab zu 
suchen war, bewies sehr bald ein Uebergreifen der Cholera nach 
Trotha, einem 3 Kilometer unterhalb der Irrenanstalt belegenen 
Dorfe. 

Vor dem Genüsse des Saalewassers war wiederholt und drin¬ 
gend gewarnt worden und Einheimische scheuen sich aus mancher¬ 
lei Gründen in dieser Gegend Flusswasser zu trinken oder zu 
anderen als gewerblichen Zwecken resp. für das Vieh zu gebrauchen. 
Anders denken schlesische Arbeiter, wie sie in einer am Ufer der 
Saale liegenden Kaserne in Trotha wohnen. 

Hier fand ich am 24. Januar früh 2 Pferde- und 2 Ochsen¬ 
knechte erkrankt, während keins der zahlreichen Familienglieder 
bis heute ergriffen wurde. Das Räthsel löste sich leicht, sowohl 
im Ochsen- wie im Pferdestalle des Gutes findet sich Wasserlei¬ 
tung, welche aus der Saale Fabrik und Oekonomiegebäude mit 
Ausnahme der Molkerei versorgt. Letztere hat einen eigenen sehr 
guten Brunnen, den auch die Arbeiter benutzen dürfen. Ekel 
kennen die schlesischen Knechte nicht und es war ihnen sehr be¬ 
quem, einfach aus den Wasserhähnen im Stalle zu trinken. 

Die durchgreifendsten Massregeln scheinen auch diesen In- 
fektionsheerd erstickt zu haben: heute finden sich in den Fäkalien 
der Ueberlebenden keine Kommabazillen mehr und es ist nicht 
eine Person weiter im Dorfe erkrankt. 

Gestern Abend wurde ein neuer Fall in Wettin a./S. kon- 
statirt, mehrere Stunden unterhalb Trotha. Es handelte sich um 
eine Frau von 70 Jahren, welche am 23. Januar den ganzen Tag 
gewaschen hatte, am 24. Januar mit Durchfall erkrankte, aber erst 
am 26. Januar in ärztliche Behandlung kam und als verdächtig 
gemeldet wurde. Obwohl sie Nachmittag 4 Uhr durchaus nicht 
wie eine Cholerakranke aussah, fanden sich in den flockigen Be- 
standtheilen der Entleerung dennoch die Koch’schen Bazillen fast 
in Reinkultur. Heute fand ich die Frau schwer asphyktisch! 

Hoffentlich gelingt es auch hier, den Heerd unschädlich zu 



60 


Dr. L&ngerhans. 


zu machen, obgleich bereits mehrfache Erkrankungen in leichter 
und deshalb unbeachteter Form vorgekommen zu sein scheinen. 
Auch diese alte Frau hat bis zu ihrer Erkrankung Flusswasser 
gebraucht, wie sie noch gestern sagte: „nur nicht zum Kochen!“ 

Ich brauche nicht hinzuzufügen, dass die genauesten Ermit¬ 
telungen darüber angestellt sind, ob die Kranken — sowohl in 
Trotha wie in Wettin — nicht auf andere Weise zu dem Infek¬ 
tionsstoffe gelangt sein können. Diese Möglichkeit ist aber aus- 
zuschliessen und eine Uebertragung durch das Saalewasser auch 
hier als sicher anzusehen. 

Ein abschliessendes Urtheil über die hochbedeutsame Epidemie 
lässt sich natürlich zur Zeit nicht fällen. Ich möchte nur darauf 
hinweisen, dass scheinbar unschuldige Fälle die gefährlichsten sind, 
weil sie die Krankheit verschleppen, ehe sie erkannt werden und 
dass es einer rücksichtslosen Energie bedarf, wenn zwischen indo¬ 
lenter Bevölkerung solche Funken gelöscht werden sollen. 

Augenblicklich weilen noch Herr Professor Dr. Pfuhl und 
Herr Stabsarzt Dr. Zenthoefer in Halle, um die Behörden mit 
ihrer Erfahrung in jeder Weise zu unterstützen und so können 
wir hoffen, doch noch Herr der schrecklichen Seuche zu werden. 


Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen 
und der Schulkinder des Kreises Isenhagen. 

Von Dr. Max Langerhans, Kreisphysikus in Hankensbüttel. 

(Fortsetzung.) 

Die Bauausführung der Schulgebäude. 

Der Holzreichthum des Kreises bringt es mit sich, dass die 
Gemeinden den Fachwerkbau bevorzugen und so sind 35 Schul¬ 
häuser aus Fachwerk errichtet, fast durchweg mit Ziegelstein¬ 
füllung; nur die älteren Gebäude haben an einzelnen Theilen 
Lehmfüllung. Massiv in Ziegelrohbau sind 16 Gebäude ausge- 
führt, wovon 3 eine Isolirschicht über dem Fundament und eine 
Hohlschicht in den Aussen wänden besitzen. Von den Häusern 
sind nur 30 in allen Theilen trocken, während 21, d. h. also rund 
40 Prozent mehr oder weniger feucht sind. Es hat dies verschie¬ 
dene Gründe. In sehr vielen Fällen ist die Lage des Schulhauses 
Schuld an der feuchten Beschaffenheit der Wände. Beispielsweise 
hat gerade in den bevölkertsten Theilen des Kreises, in den Nie¬ 
derungen der Ise und der Ohra, das Grundwasser einen so hohen 
Stand ( 1 / 8 —1 m), dass es kaum möglich ist, einen passenden 
Bauplatz zu wählen, selbst wenn man auf Anlage eines Kellers 
von vornherein verzichtet. Auch fallt die Wahl der Gemeinden 
aus Bequemlichkeitsrücksichten oder aus Sparsamkeitsgründen 
häufig auf ein ganz verkehrtes Grundstück, wie beispielsweise in 
Zasenbeck, wo die Gemeinde im Jahre 1883 ein anspruchsvolles 
und kostspieliges Haus an der allernassesten Stelle des tief ge¬ 
legenen Dorfes errichtet hat, so dass in der Schulstube das Wasser 
von den Wänden läuft und in der Lehrerwohnung die Tapeten in 



Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 


61 


Fetzen herabfallen, während dicht am Dorfe auf einem sandigen 
Hügel das schönste Bauterrain zu haben war. Um dergleichen 
Vorkommnissen vorzubeugen, ist Besichtigung des Grundstückes, 
Prüfung des Untergrundes und der Grundwasser- und Trinkwasser¬ 
verhältnisse durch den Kreismedizinalbeamten vor Beginn eines 
Neubaues eine der dringendsten Aufgaben der Schulgesundheits- 
pflege. Häufig ist auch die verkehrte Wahl des Baumaterials Schuld 
an feuchter Beschaffenheit der Wände. Ein gewöhnlicher Massiv¬ 
bau aus dem wenig hart gebrannten Material, welches die etwas 
primitiven Ziegeleien hiesiger Gegend liefern, wird bei den an¬ 
gegebenen Grundwasserverhältnissen an der Nord- und Westseite 
stets feucht bleiben, während ein Fachwerkbau aus gutem Eichen¬ 
holz mit Bretterverschlag an den Wetterseiten leichter trocken 
zu halten ist. Im Ganzen ist natürlich der Backsteinbau vorzu¬ 
ziehen und es ist anzunehmen, dass die in den letzten Jahren 
errichteten Gebäude, bei denen durch Fundamentisolirung und 
durch Anlage einer Hohlschicht für Trockenheit und Wärme der 
Wände gesorgt ist, ihren Zweck erreichen werden. In einem 
Falle (Wahrenholz 1) ist ein früher sehr feuchtes Schulhaus durch 
Ziehen von Drainröhren wesentlich verbessert worden und es 
wäre wünschenswerth, wenn von diesem Mittel ein weit ausgiebi- 
gererGebrauch gemacht würde. Auch Anbringung von Verschalungen, 
wo solche fehlen und Ventilirung feuchter Räume durch Luft¬ 
röhren würden an vielen Stellen gute Dienste thun. 

Das Dach besteht in 39 Fällen aus Dachpfannen, in 2 Fällen 
aus Schiefer, die übrigen 10 Häuser haben Strohdächer. 41 
Dächer werden als dicht bezeichnet, während 10 mehr oder weni¬ 
ger undicht sind. Meistens sind das die alten Strohdächer, an 
welche die Gemeinden, die sich auf einen Neubau gefasst machen, 
keine grossen Reparaturen mehr wenden wollen. 

Das Schulzimmer, 
a. Der Eingang. 

Für das ländliche Schulhaus, welches, bei uns wenigstens, 
regelmässig auch die Lehrerwohnung umfasst, ist mit aller Ent¬ 
schiedenheit darauf zu dringen, dass die Schulkinder ihren eigenen 
Eingang haben und mit den zur Lehrerwohnung gehörenden 
Räumen und mit der Familie des Lehrers in gar keine Berührung 
kommen. Es ist dies eine im Interesse der Schuldisziplin und der 
Schulhygiene gleich wichtige Forderung; denn, wenn die Schul¬ 
kinder über die Diele oder über den Flur der Lehrerwohnung 
hindurch gehen müssen, um in das Schulzimmer zu gelangen, ist 
Schliessung der Schule gar nicht zu umgehen, sobald in der 
Lehrerfamilie irgend ein Fall einer ernsteren ansteckenden Krank¬ 
heit auftritt. Für die, jedem Physikus altbekannte Häufigkeit 
derartiger Störungen ist die Tabelle von Fizia (1. c.) sehr be¬ 
zeichnend, wonach im Bezirk Teschen im Zeitraum von 7 Jahren 
wegen Infektionskrankheiten, welche unter den Schulkindern herrsch¬ 
ten, zusammen 57 Schulen während 1943 Tagen geschlossen 
werden mussten, während für die Schliessung von 64 Schulen 



62 


Dr. Langerhans. 


während 1587 Tagen der Ausbruch einer Infektionskrankheit im 
Schulhause die ausschliessliche Veranlassung abgab. Namentlich 
die mehrmals bald hintereinander nothwendig werdende Schliessung 
der Schule, wenn sich einmal Diphtherie mit der ihr eigenen 
Zähigkeit in einer Lehrerwohnung eingenistet hat und immer von 
Neuem wieder aufflackert, muss nothwendig den eigentlichen 
Zweck der Schule ernstlich gefährden und ist daher nur zu ge¬ 
eignet, beim Publikum, aber auch bei Lehrern und Lokalschul¬ 
inspektoren ernste Verstimmung über die Massregeln des mit der 
Handhabung der Schulhygiene (wenigstens in dieser einen Ange¬ 
legenheit) betrauten Medizinalbeamten zu erwecken. Und es liegt 
dann leider nur zu nahe, dass die angeordne.ten Massregeln lässig 
ausgefühlt werden und ihren Zweck verfehlen, selbst da, wo das 
Meldewesen und die Kontrole desselben straff genug orientirt sind, 
um eine Verheimlichung solcher Krankheitsfälle zu verhindern. 
Das von Fizia vorgeschlagene Radikalmittel, Unterbringung der 
Lehrerwohnung und der Unterrichtsräume in zwei vollständig von 
einander getrennten Gebäuden, ist, für das rauhe Klima Nord¬ 
deutschlands wenigstens, nicht geeignet, wie ich in dem Nachbar¬ 
kreise Salzwedel Gelegenheit gehabt habe, mich zu überzeugen. 
Denn ein solches, einzeln stehendes, nur das Schulzimmer ent¬ 
haltendes Gebäude ist im Winter gar nicht gleichmässig durch¬ 
zuwärmen; es bilden sich aber auch an den bei Nacht stark abge¬ 
kühlten Aussenwänden während der Schulzeit aus der feuchten 
Exspirationsluft der Schulkinder so starke Niederschläge, dass die 
Wände überhaupt gar nicht mehr austrocknen. Ein eigener Ein¬ 
gang aber, welcher durch eine kleine, als Garderobe benutzte 
Vorhalle in das Schulzimmer führt, ist fast allerwärts, und zwar 
mit geringen Kosten, herzustellen und es muss als eine der dring¬ 
lichsten Aufgaben der Schulhygiene für ländliche Verhältnisse 
bezeichnet werden, dass im Schulaufsichtswege die Schulgemeinden 
ausnahmslos angehalten werden, derartige Einrichtungen zu treffen. 
Allerdings muss bei der Bauausführung darauf geachtet werden, 
dass nicht etwa die Fenster verbaut werden, oder dass gar an 
Stelle eines Fensters die neue Eingangsthür angelegt wird; denn 
die Beleuchtungsverhältnisse sind nirgends derart, dass auch nur 
die geringste Beeinträchtigung geduldet werden könnte. 

In unserem Kreise findet sich ein derartiger eigener Eingang 
in 14 Schulhäusern = 27 Proz. und zwar nicht nur bei Neubauten, 
wo er sogar in einem Falle fehlt, sondern auch als neuerdings 
ausgefiihrter Anbau an ältere Häuser. Stets sind in solchem Anbau 
Haken zum Aufhängen der Garderobe vorhanden; 16 andere Schul¬ 
häuser haben solche Haken innerhalb der Schulzimmer, eine Ein¬ 
richtung welche wegen der üblen Ausdünstungen der durchnässten 
wollenen Kleidungsstücke entschieden fehlerhaft ist. Bei sechs 
Schulhäusern ist überhaupt keinerlei Vorrichtung für das Unter- 
briugen etwaiger Garderobe getroffen, während für die Schüler 
aller übrigen Klassen Haken auf dem für Schüler und Lehrer¬ 
familie gemeinschaftlichen Flur angebracht sind. 



Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 


68 


b. Grösse und Gestalt der Schulzimmer. 

Die Schülerzahl der Klassen und die von ihr abhängende 
Grösse der Klassenzimmer ist wegen der Kleinheit der Schulge¬ 
meinden auffallend gering. Auch in den grösseren Gemeinden ist 
durch die verschiedenen Organisationen, welche innerhalb des 
Rahmens der preussischen Volksschule möglich sind, namentlich 
durch die Einrichtung der Halbtagsschule und der dreiklassigen 
Schule mit zwei Lehrern, oder, soweit der herrschende Lehrer¬ 
mangel dies gestattet, auch durch Schaffung neuer Lehrerstellen 
der Ueberfüllung der Klassen seitens der königlichen Regierung 
zu Lüneburg in systematischer und erfolgreicher Weise vorgebeugt 
worden. Hält man sich an die Normen, welche in dem amtlich¬ 
statistischen Werk „Das gesammte Volksschulwesen im preussi¬ 
schen Staate im Jahre 1886“ aufgestellt werden, wonach die 
Schülerzahl bei einklassigen Schulen die Zahl 80 und bei zwei- 
und mehrklassigen Schulen die Zahl 70 nicht überschreiten soll, 
so kommt Klassenüberfüllung und zwar obenein in sehr geringem 
Grade im ganzen Kreise nur zweimal vor, in Knesebeck 3 mit 71 
Schülern und in Warenholz 1 mit 80 Schülern. Die Theilung 
der letzteren Klasse ist inzwischen bereits eingeleitet wor¬ 
den. Uebrigens lässt sich gar nicht verkennen, dass trotz aller 
Vorzüge die getroffenen Auskunftsmittel sich zum Theil doch auch 
nur als Nothbehelfe betrachten lassen; denn sowohl die Halbtags¬ 
schule, als die dreiklassige Schule mit zwei Lehrern leiden an 
dem Uebelstand, dass hintereinander zwei verschiedene Alters¬ 
klassen in demselben Klassenzimmer unterrichtet werden, wobei 
es natürlich nicht möglich ist, beiden Abtheilungen die richtige 
Grösse der Subsellien zukommen zu lassen, ausserdem aber die 
zweite Abtheilung gezwungen ist, die durch mindestens zwei¬ 
stündigen Unterricht der ersten Abtheilung bereits verdorbene 
Luft einzuathmen. Doch wird sich der ideale Zustand, dass jede 
Klasse auch ihr eigenes Klassenzimmer besitzen muss, in abseh¬ 
barer Zeit für die Halbtagsschule nicht erreichen lassen, während 
allerdings bei der dreiklassigen Schule mit 2 Lehrern der Bau 
eines dritten Klassenzimmers überall gefordert werden müsste 
(übrigens bei dem Neubau in Warenholz von der Regierung auch 
gefordert worden ist). Auf jedem Fall haben wir mit der hygie¬ 
nisch sehr erfreulichen Thatsache zu rechnen, dass eigentliche 
Klassenüberfüllung im hiesigen Kreise nicht im Entferntesten die 
bedenkliche Rolle spielt, wie in anderen Gegenden, beispielsweise 
im Kreise Belzig (vid. Gleitsmann 1. c.) oder gar im politi¬ 
schen Bezirk Teschen, wo nach Fizia 68 Proz. der Volksschulen 
mehr als 80 Schüler haben! Die geringe Klassenfrequenz ist 
natürlich in erster Linie eine Folge der schwachen, wenig zu¬ 
nehmenden Bevölkerung und der geringen Kinderzahl (der Kreis 
Isenhagen hat auf 1000 Einwohner nur 169 schulpflichtige Kinder 
gegen 189 im Staate Preussen). Andererseits hebt aber auch 
Friese (Die Volksschule des Reg.-Bez. Lüneburg, Lüneburg 1891) 
mit Recht hervor, „dass es unbillig und ungerecht wäre, darüber 
die Arbeit und Opfer zu vergessen, denen die Betheiligten sich 



64 


Dr. Langerhaus. 


zur Erzielung normaler Sehulverhältnisse grösstentheils in edler 
Bereitwilligkeit unterzogen haben.“ 

Die Frequenz der einzelnen Klassen zeigt nachstehende 
Tabelle: 


Schülerzahl 

1—10 

10—20 

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Die Form der Schulzimmer betreffend zeigt sich eine grosse 
Vorliebe für das quadratförmige Zimmer und zwar nicht nur da, 
wo eine sehr geringe Schülerzahl diese Form zweckmässig er¬ 
scheinen lässt. Bei grossen Klassenzimmern hat aber diese Form 
ernste Missstände zur Folge, da selbst bei zweiseitiger Beleuch¬ 
tung (von links und hinten), welche in solchen Fällen meistens 
gewählt wird, die Entstehung eines „todten Winkels“ in der den 
Fensterseiten abgewendeten Ecke gar nicht zu vermeiden ist, 
in welchem' dumpfige, muffige Beschaffenheit der Luft und die 
übrigen Uebelstände mangelhafter Ventilation und Beleuchtung sich 
meistens in widerwärtigster Weise kund thun. Am meisten tritt 
diese Erscheinung hervor in dem Klassenzimmer Wahrenholz 1, 
welches allerdings mit 8,18 und 7,10 Wandlänge das zweitgrösste 
Klassenzimmer des Kreises und daher für eine solche Form besonders 
ungeeignet ist. Es kommt sogar eine ganze Reihe von „Breitklassen“ 
vor, bei welchen die Längsaxe, in welcher die Kinder den Lehrer 
anblicken, die kürzeste der beiden Flächendimensionen ist. Zum 
Theil ist dies die Folge einer vor einigen Jahren angeordneten 
Umstellung der Subsellien, durch welche allerwärts der Lichtein- 
fall von links, bezw. links und hinten erzielt werden sollte. Es 
liess sich dies häufig nicht anders erzielen, als durch Aufstellung 
der Bänke parallel mit den Längswänden. Doch auch bei Neu¬ 
bauten findet sich diese auffallende Vorliebe für die in jeder Be¬ 
ziehung unpraktische Breitklasse. Beispielsweise zeigt das 1888 
vollendete Schulhaus Hankensbüttel 2 in seinem Schulzimmer eine 
Länge von 6,35 bei einer Breite von 7,83, so dass die circa 50 
Schulkinder auf nur 5 Reihen von je 10 Kindern vertheilt sind! 
Die Erscheinung der Breitklasse findet sich im Ganzen bei 18 
Zimmern, am Ausgesprochensten in Betzhorn mit 4,3 Länge und 
8 m Breite, wobei der fast ausschliesslich von hinten erfolgende 
Lichteinfall die ungünstigste Schattenbildung verursacht und der 
Lehrer ganz ausser Stande ist, die in Reihen von 13 bis 14 vor 
ihm sitzenden Schüler zu übersehen. 

Uebermässige Grösse der Schulzimmer, ein Vorkommen, über 
welches Gleitsmann vielfach zu klagen hat und welches nach 
den Tabellen von Fizia auch im Bezirk Teschen vielfach zu 
finden zu sein scheint, ist bei den geschilderten Verhältnissen 
unseres Kreises nicht zu erwarten; sie findet sich höchstens in 
einem Schulzimmer (Knesebeck 2) mit 10,8 Länge und 6 m Breite, 
ln nachstehenden Tabellen sind die Schulzimmer nach Länge und 




Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 


65 


Breite (unabhängig von der 
geordnet. 


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Schulzimmer 


Es ergiebt sich aus diesen Tabellen die Thatsache, dass 10 


66 


Dr. Langerhans. 


Schulzimmer = 18,2 Prozent nicht einmal die vorschriftsmässige 
Mindest-Höhe von 3 m erreichen und dass 2 Zimmer den Kindern 
nicht einmal den Flächenraum von 0,6 Quadratmeter, 4 Zimmer 
nicht den Kubikraum von 2 kbm darbieten, was um so ernster auf¬ 
zufassen ist, als diese Mindestmasse eigentlich für grosse Klassen 
von 70—80 Schülern zugeschnitten sind, während bei den kleinen 
Klassen grössere Ausmasse verlangt werden müssen, da bei ihnen 
ein unverhältnissmässig grosser Theil von dem Ofen, dem Schul¬ 
schrank, Katheder und ähnlichen Ausrüstungsstücken in Anspruch 
genommen wird. Und so ist denn thatsächlich die Zahl derjenigen 
Zimmer, welche an Flächenraum und Kubikinhalt nicht den An¬ 
sprüchen der Hygiene genügen, erheblich grösser. Natürlich sind 
es meistens die alten, strohgedeckten Häuser, in welchen der¬ 
artige Zimmer anzutreffen sind und man findet darin thatsächlich 
zuweilen Verhältnisse, welche lebhaft an Gleitsmann’s klassische 
Schilderungen erinnern und welche man gesellen haben muss, um 
es zu glauben, dass dergleichen überhaupt noch möglich ist! Das 
Musterbild einer solchen Schule, wie sie nicht sein soll, findet sich 
in Räderloh! Das Schulzimmer mit 3,70 Länge, 4,45 Breite und 
2,40 Höhe bietet den 23 Schulkindern nur je 0,72 qm Bodenfläche 
und 1,72 cbm Rauminhalt. Die beiden Fenster liegen an der 
Rückenwand, so dass das Licht den Kindern diiekt von hinten 
auf die Tische fallt und sind so klein, dass das Verhältniss der 
Glasfläche zur Bodenfläche nur weniger grösser, als 1:14 ist! 
Auf den alten, wackeligen, an den knüppelartigen Rücklehnen 
nicht einmal abgehobelten Subsellien von 3,50 m Länge drängen 
sich je 8 Kinder zusammen, so dass beim Schreibunterricht sich 
mindestens zwei Kinder mit an den Tisch setzen müssen, der dem 
Lehrer an Stelle eines Katheders dient. Die Kinder auf der letz¬ 
ten Bank sitzen mit dem Rücken direkt an der Rückwand, welche 
mit ihren undichten Fenstern gegen Wind und Kälte nur sehr 
mangelhaften Schutz verleiht. Das Strohdach ist undicht und zum 
Ueberfluss ist noch der grösste Theil der Lehrerwohnung und die 
Stallung an eine Häuslingsfamilie vermiethet, welche bei Vieh¬ 
haltung und Dünger-Handhabung und - Aufbewahrung natürlich 
nur an ihre eigenen ökonomischen Interessen und nicht an die 
Forderungen der Schulhygiene denkt. Das einzige Gute, was ich 
an der ganzen Schule gefunden habe, ist ein neues, schönes Ge¬ 
bäude für Pissoir und Abtritt, welches aber offenbar von den 
Schulkindern nicht benutzt wurde! Solche Zustände sind ja er¬ 
freulicher Weise selten, anscheinend, soweit dies aus den spärlich 
vorliegenden Nachrichten zu entnehmen ist, sogar seltener, als an 
vielen anderen Orten auf dem platten Lande, immerhin bleibt der 
Schulhygiene noch ein recht reiches Arbeitsfeld und es wird noch 
mancher Verhandlungen und des ergiebigsten Druckes von Oben 
bedürfen, ehe allerwärts mit solchen Verhältnissen aufgeränmt ist! 

c. DerFussboden. 

Sämmtliche Schulzimmer haben Dielen aus Weichholz, zwischen 
welchen meistens breite Fugen klaffen, in denen, namentlich bei 
den feucht gelegenen Schulzimmern der hereinfallende Staub und 



Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 67 


der zum Fegen verwendete Sand mit dem Aufwaschwasser einen 
widerwärtigen, hygienisch im höchsten Grade bedenklichen Brei 
zu bilden ptlegt! Es ist sehr zu beklagen, dass bei Neubauten 
diese wichtige Angelegenheit keineswegs die gebührende Beach¬ 
tung findet, dass nur zu häufig, frisches nicht genügend ausge¬ 
trocknetes Holz von minderwerthiger Beschaffenheit gewählt wird, 
ja dass die Bretter häufig nicht einmal mit Nuth und Feder ver¬ 
sehen werden, so dass der Stubenstaub direkt in den Füllboden 
hineinfällt. Es ist wahrscheinlich, dass die belehrende Thätigkeit 
und der persönliche Einfluss des Kreismedizinalbeamten, wenn er 
zu wichtigeren Berathungen der Schulvorstände zugezogen würde, 
die Wahl eines hygienisch zuverlässigeren Materials bewirken 
könnte, namentlich würde in hiesiger Gegend, da die Gemeinden 
ausnahmslos Eichenbestände besitzen, ein Fussboden aus Eichen¬ 
stabholz in Frage kommen. Nothwendig ist aber vor Allem 
eine Verfügung, wonach in sämmtlichen Schulzim¬ 
mern die Fussboden geölt, gefirnisst oder gestrichen 
werden müssen, damit an Stelledes verwerflichen 
Fegens mit Sand das nasse Aufwischen treten kann. 
Bis jetzt ist von den Schul^immern nur ein einziges 
(und zwar mit Carbolineum) gestrichen. 

Die Wände. 

Es ist bereits oben erwähnt, dass zahlreiche Schulhäuser 
mehr oder weniger feucht sind, ein Verhalten, welches natürlich 
auf die Beschaffenheit der Wände des Schulzimmers von Einfluss 
sein muss. Ich habe die betr. Frage nicht bei allen Fragebogen 
ausgefüllt, es sind aber ausdrücklich 12 Klassenzimmer als feucht 
bezeichnet. Die Wände sind durchweg sauber gehalten, denn sie 
werden ausnahmslos alljährlich frisch gestrichen; es ist nur zu 
bedauern, dass dabei der Kalkanstrich, der ja im Ganzen sehr 
zweckmässig ist, dem Landesbrauch entsprechend, ganz allgemein 
ohne jeden Farbenzusatz verwendet wird. Das grelle Weiss ist 
natürlich den Augen der Schulkinder ebensowenig zuträglich, wie 
denjenigen des Lehrers, auf dessen Augen bei der beliebten zwei¬ 
seitigen Fensteranordnung so wie so schon gar wenig Rücksicht 
genommen wird. Nur 7 Klassenzimmer sind grau, eins braun 
gestrichen, alle übrigen haben den grell weissen Anstrich. Eine 
Verfügung der Regierung, welche den weissen An¬ 
strich untersagt und eine leichte Tönung in Grau 
oder Braun vorschreibt, ist wünschenswerth. 

Holzpaneel, überall zweckmässig, nothwendig aber in allen 
feuchten Zimmern und überall da, wo Kinder direkt an Aussen- 
wänden sitzen, ist 28 mal vorhanden. 

Die Fenster der Schulzimmer. 

Einseitigen Lichteinfall besitzen 7 Schulzimmer, während bei 
49 Zimmern die Fenster auf zwei Wände vertheilt sind. Von 
den ersteren fällt bei sechs das Licht von links, bei einem (Räder¬ 
loh) von hinten hinein. Die Zimmer mit zweiseitigem Lichteinfall 
haben den letzteren sämtlich von links und hinten mit Ausnahme 



68 


Dr. Langerhans. 


des Klassenzimmers Oesingen 2, bei welchem das Licht von rechts 
und von links hereinfallt. Uebrigens ist, nach diesem Beispiel zu 
schliessen, die in Deutschland herrschende Abneigung gegen diese 
in französischen Schulen so verbreitete Fensteranordnung durchaus 
berechtigt. Die Schattenbildung beim Schreiben ist sehr störend 
und es bilden sich auf der Demonstrationstafel, welche in dem 
Volksschulunterricht eine so hervorragende Rolle spielt, sehr grelle, 
das Auge stark belästigende Reflexe. 

Das Nähere zeigen die Tabellen: 


Tabelle VII. Zahl der Fenster. 


Zahl der Fenster. 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 


Zahl d. Schulzimmer 


1 

6 

18 

23 

7 

— 



Tabelle VIII. Richtung der Fenster nach den Himmelsrichtungen, 
a) Zimmer mit einseitiger Beleuchtung, 


Richtung nach 

0. 

SO. 

s. 

sw. 

W. 

NW. 

N. 

NO. 

Zahl d. Schulzimmer 

2 1 

1 

— 

3 

1 

i 

i 1 

— 


— 


b) Zimmer mit zweiseitiger Beleuchtung. 


Richtung nach 

s. u. 0. 

S.u. W. 

W. u.N. 

1 

0. u. N. 

! 

SO.u.NO. 

N. u. S. 

Zahl d. Schulzimmer 

21 

17 

7 

2 

1 

1 


Tabelle IX. Relative Grösse der Fenster. 


Verhältnis der (Tlas-j 
fläche z. Rodenfläche 1 

Vaj 

1 


7. 1 7. 

./ 1 
ho j 

7 .. 

7,. 

Vis! 

7.« 

7i& 7.« 

Bemerk. 

Zahl d. Schulzimmer 

7 

1 9 

i 

8 j 8 

n | 

4 

4 

i 

1 

1 — 

2 Zimm«T 
nicht bekt. 


Tabelle X. Höhe der Wand unter dem Fenster. 


Höhe der Wand in cm 
unter dem Fenster 

60 

bis 

69 

70 

bis 

79 

80 

bis 

89 

90 

bis 

99 

100 
bis 
110 j 

110 

bis 

120 

Bemerkung. 

Zahl d. Sehulzimmer j — j 5 
Tabelle XL 1 

16 

lobe 

27 

der 1 

6 — 

Vaud über 

2 Zimmer uubekaunt. 

dem Fenster. 

Höhe der Wand in cm 
über dem Fenster j 

10 

bis 

19 

20 

bis 

29 

30 

bis 

39 

I 40 
! bis 
| 49 

50 

bis 

59 

00 

bis 

68 

: 70 
i bis 

79 

80 

bis 

89 

Bemerkung. 

Zahl d. Schulzimmer 

1 

5 

i 10 

13 

i 11 i 7 

1 3 | 
1 1 

3 

8 Zimmer un¬ 
bekannt. 


Ein erfreuliches Bild ist es nicht, welches sich in diesen 
Zahlenreihen entrollt und die Sache wird noch schlimmer dadurch, 
dass in 22 Fällen obendrein noch durch benachbarte Gebäude, 
herabhängende Weinranken, häufig auch durch von der Hand des 
Lehrers kunstvoll gezogene breite und dichte Obstspaliere der an 
und für sich schon dürftige Lichteinfall mehr oder weniger beein¬ 
trächtigt wird. Schon durch Entfernung der Bäume würde häufig 
Besserung zu erzielen sein, obgleich eine solche Massregel mit den 






Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschalen etc. 69 

an und für sich berechtigten Liebhabereien der Lehrer meistens 
in Kollision gerathen würde. Auf jeden Fall sind wir von der 
Erfüllung der Forderung, welche Nussbaum (Zeitschrift für 
Schulgesundheitspflege I. 70) aufstellt, dass nämlich auch bei Land¬ 
schulen die Fensterwand Nichts, als eine grosse Glasfläche dar¬ 
stellen soll, noch recht weit entfernt und zwar leider auch bei 
unseren besten Neubauten. Aber auch nach einer anderen Richtung 
hin, in diesem Falle aber erfreulicher Weise, befinden wir uns im 
Gegensatz zu Nussbaum, insofern nämlich dieser für die Fenster¬ 
wand die Nordseite gewählt wissen will. Wie Tab. VIII zeigt, be¬ 
vorzugen unsere Schulvorstände in ganz hervorragender Weise 
die Südseite und ich bin überzeugt, dass in diesem Falle unsere 
Landleute, im Gegensatz zu dem gelehrten Techniker, instinktiv 
das Richtige gefunden haben. Denn es trifft nicht den Kernpunkt 
der Sache, wenn Nussbaum den ganzen Werth der Besonnung 
des Schulzimmers in der Ersparung einiger Zentner Steinkohlen 
zu finden glaubt! Die Erwärmung ist doch nur einer, und zwar 
bei Weitem nicht der wichtigste der vielen Faktoren, welche bei 
Werthschätzung der hygienischen Bedeutung des Sonnenlichtes in 
Frage kommen, von denen aber ungeachtet der hohen Entwicklung 
der modernen Technik nur der kleinste Theil durch Vorrichtungen 
der letzteren ersetzt werden kann. Freilich sind wir noch weit 
entfernt von einer vollständigen Kenntniss der hygienischen Wirk¬ 
samkeit des Sonnenlichtes. Wir wissen nicht, wieviel von dem 
unzweifelhaft gesundheitsbefördernden Einfluss des Sonnenlichts 
auf die chemische Kraft desselben kommt, wieviel seiner Nerven¬ 
belebenden und Stoffwechsel - anregenden Wirkung zuzuschreiben 
ist; auch die oxydirende Wirkung auf die organischen Bestandtheile 
verunreinigter Luft wird gerade in Schulstuben sehr in Betracht 
zu ziehen sein. Schliesslich aber ist durch neuere Untersuchungen 
(Büchner, Centralblatt für Bakteriologie XII) im Anschluss an 
eine Beobachtung Robert Koch’s unzweifelnaft festgestellt, dass 
eine grosse Zahl von Mikroorganismen, namentlich auch pathogene 
Bakterien, Typhus- und Diphtherie-Bazillen in direktem Sonnen¬ 
licht sehr schnell, auf jeden Fall viel schneller, als in diffusem 
Tageslicht abgetödtet werden. Gerade für die Volksschulen, deren 
jugendliche Insassen dem Eiuflusse der ansteckenden Krankheiten 
in viel höherem Grade ausgesetzt sind, als die durchschnittlich 
älteren, von der Hygiene bisher mit besonderer Vorliebe berück¬ 
sichtigten Jahrgänge der Mittelschüler ist dieser bakterientödtende 
Einfluss des Sonnenlichtes von allergrösster Bedeutung. Und wenn 
ich das bescheidene Mass von Einwirkung, welches einem preussi- 
schen Physikus auf die Handhabung der Schulhygiene gestattet 
ist, bisher mit Vorliebe und theil weise auch mit Erfolg aut die 
Besserung der Beleuchtungsverhältnisse verwendet habe, so ge¬ 
schah dies in vollem Bewusstsein, dass es sich hierbei für die 
Volksschulen mit ihrem geringen Prozentsatz von Kurzsichtigen 
keineswegs hauptsächlich um die Verhütung der Kurzsichtigkeit 
handeln kann, welche allerdings in den höheren Schulen mit Recht 
die grösste Beachtung findet. Für die Volksschule stehen die 



70 


Dr. Langerhans: Die gesundheitlichen Verhältnisse etc. 


übrigen, gesundheitsfördernden Faktoren des Lichtes und speziell 
des Sonnenlichtes in erster Linie und es ist keine Frage, dass 
nicht nur die Gesundheit, sondern auch die geistige und körper¬ 
liche Frische, die Regsamkeit und Lernfreudigkeit der Blinder 
sich kräftiger und freudiger in einem hellen, freundlichen und 
luftigen Raum entwickeln muss, als in den dumpfen Mauerlöchern 
der alten Schulen. 

Leider bildet, wie Tab. IX, bei welcher übrigens die Glas¬ 
fläche im strengsten Sinne, mit Ausschluss von Fenster-Rahmen, 
-Kreuzen und dergl. gemessen ist, zeigt, das mangelhaft beleuch¬ 
tete Zimmer die Regel und zwar ist es viel weniger die geringe 
Zahl, als die geringe Grösse der Fenster, welche hieran die 
Hauptschuld trägt. Häufig nehmen auch die klotzigen Fenster¬ 
rahmen, welche die dörflichen Tischler für nothwendig halten, 
einen ganz ungebührlich grossen Theil der Fensternische für sich 
in Anspruch. Wichtig ist namentlich Tab. XI, aus welcher sich 
ergiebt, dass eigentlich nur in einem einzigen Zimmer die Fenster 
genügend hoch bis an den Deckensturz hinaufgeführt sind, dass 
dagegen beinahe die Hälfte aller Schulzimmer über dem Fenster 
eine für den Lichteinfall nicht benutzte Fläche von Vs m un ^ 
darüber besitzt! So sehr dies zu beklagen ist, so liegt doch ge¬ 
rade hierin die Handhabe für eine Besserung der Beleuchtungs¬ 
verhältnisse. Zumal in den Fachwerkgebäuden wäre es leicht 
und mit wenig Kosten möglich, die Steinfüllung aus dem Fach 
über dem Fenster herauszuschlagen und durch eine grosse Glas¬ 
scheibe zu ersetzen. Der Effekt würde häufig ein sehr bedeutender 
sein, zumal der grössere Winkel, in dem das Oberlicht einfällt, 
gerade bei den tiefen Klassen von grösster Bedeutung ist. In 
dem neu eingerichteten Klassenzimmer Knesebeck 2 beispielsweise 
ist es mir gelungen, durch Eingabe an die Regierung die Be¬ 
schaffung von Fenstern mit 10 Scheiben an Stelle der bereits 
angeschafften 8scheibigen durchzusetzen, wodurch die Glasfläche 
um ein Viertheil der ursprünglich beabsichtigten Grösse vermehrt 
und das Verhältnis der Glasfläche zur Bodenfläche von 14,1 
wenigstens auf 11,27 gehoben wurde — freilich noch wenig 
genug für ein erst 1889 neu eingerichtetes Schulzimmer! 

Bei der von mir für nothwendig gehaltenen allgemeinen 
Schul-Enquete, welche sich auch auf eine ärztliche Revision der 
hygienischen Verhältnisse sämmtlicher Schulgebäude zu erstrecken 
haben würde, müsste auf die Beleuchtung mit in erster Linie das 
Augenmerk gerichtet werden und ich bin überzeugt, dass es durch 
Anbringen neuer Fenster, durch Vergrösserung der vorhandenen, 
bezw. durch Anbringen von Lichtscheiben über denselben bei 
einer sehr grossen Zahl von Schulzimmern ohne erhebliche Kosten 
gelingen würde, eine sehr viel hellere Beleuchtung und dadurch 
gleichzeitig eine wesentliche Verbesserung der Schulluft und des 
gesammten hygienischen Charakters des Zimmers zu erreichen. — 

Die Vorhänge, welche bei dem beliebten weissen Kalkan¬ 
strich und der mit Vorliebe für die Fensterwände gewählten 
Sonnenseite zur Milderung allzu grellen Lichtes gar nicht zu ent- 



Dr. Richter: Die im Kreise Gross-Wartenberg getroffenen Massregeln etc. 71 

behren sind, sind häufig von mangelhafter Beschaffenheit, fehlen 
sogar wohl theilweise ganz! Ich habe 10 Zimmer notirt, welche 
in dieser Beziehung Mängel erkennen Hessen. — 

(Schloss folgt.) 


Die im Kreise Gross-Wartenberg getroffenen Massregeln 

gegen die Cholera. 

Von Kreisphysikus Dr. Richter, Gross - Wartenberg. 

Da eine Einschleppung der Cholera in unsern Kreis am 
meisten von Seiten Heimkehrender, sogenannter Sachsengänger zu 
fürchten war, so wurde: 

1. An der Hauptbahnstation des Kreises, d. i. in Gross- 
Wartenberg, und zwar etwa in der Mitte zwischen dem ca. zwei 
Kilometer von der Stadt abgelegenen Bahnhofe und dieser eine 
hölzerne Cholerabaracke für 6 Betten errichtet, welche von 
mir so berechnet worden war, dass zur Noth allenfalls 10 Betten 
darin Platz finden. Für die nothwendigen Nebenräume — Aerzte- 
zimmer, Wäscheraum, Spülraum und Desinfektionskammer — ebenso 
für einen besonderen Leichenschuppen ist gesorgt. 

2. Für Desinfektionszwecke wurde ein fahrbarer Desin¬ 
fektionsapparat für strömenden Wasserdampf angeschafft, 
welcher vorläufig im Desinfektionsraum der Baracke Platz fand, 
später überall im Kreise bei ausbrechenden Epidemien Verwendung 
finden wird. 

3. Zum Zwecke der Desinfektion wurden endlich im Kreise 
Desinfektoren ausgebildet und überallangestellt. Jeder Amts¬ 
bezirk schlug je einen, grössere Bezirke zwei geeignete Leute 
vor. Die drei Städte durften bis je drei Desinfektoren präsentiren. 

Die Ausbildung dieser, nach dem erhaltenen Eindruck im 
Ganzen geeigneten Leute musste ich selbst der Kostenersparniss 
wegen — die Leute erhielten 3 M. Tagegelder und Fuhrkosten- 
entschädigung — innerhalb drei Tagen an meinem Wohnort über¬ 
nehmen. Ich theilte den Unterricht so ein, dass ich an zwei 
Tagen das Theoretische vortrug und repetirte, am dritten Tage 
im Krankenhause sämmtliche Desinfektionsmittel übungsweise 
hersteilen und praktische Uebungen in der Desinfektion von 
Krankenräumen vornehmen liess. 

Ich hatte die Genugthuung, dass fast sämmtliche der Leute 
sich als anstellig und von gutem Begriffsvermögen erwiesen. 

Alsdann händigte ich jedem Schüler ein Exemplar einer von 
mir ausgearbeiteten Dienst - und Desinfektions - Anweisung ein; 
je eines derselben erhielten auch die Herren Amtsvorsteher über¬ 
sendet. 

Nunmehr wurden die ausgebildeten Desinfektoren durch die 
Polizeibehörden verpflichtet. — 

Für die erste Anschaffung der nöthigen Requisiten, welche 
durch die Polizeibehörden überwacht wurde, gab der Kreis eine 
Beihülfe von 6 M. pro Kopf der Desinfektoren. 



72 


Dr. Ascher. 


Als Gebühren für Desinfektoren wurden bis auf Weiteres 
50 Pf. pro Arbeitsstunde einschl. der zurückzulegenden Wege, 
wobei jede angefangene Stunde voll zu rechnen, festgesetzt, als 
Mindestbetrag für jede Verrichtung aber 1 M. 

Der Kreis behielt sich vor, im Falle der Unbemitteltheit für 
Erstattung der Kosten aufzukommen. 

Jeder Amtsvorstand erhielt aus Kreismitteln 1 Karton mit 
je 6 Röhrchen Anger er Pastillen zu 10 Stück ä 0,5 gr Sublimat 
mit der Weisung, für jede Desinfektion eines Krankenraumes dem 
beauftragten Desinfektor ein Röhrchen auszuhändigen. 

Dieser hat gleich bei Ankunft an Ort und Stelle sämmtliche 
10 Pastillen vorschriftsmässig zu lösen und nach stattgehabter 
Desinfektion alle Reste in den Abort zu giessen. 

Zur Herstellung von Kalkmilch hat jeder Amtsbezirk 25 Ctr. 
Stückkalk zu beschaffen. 

Unser Kreis ist einer der ärmsten der Monarchie. Dennoch 
war jetzt die nöthige Bereitwilligkeit da und dieselbe musste 
benutzt werden. 

Von den Desinfektoren waren je 5 Freistellenbauern und 
Häusler, 4 Schuhmacher, je 3 Barbiere bezw. Heildiener, Tischler 
und Fleischbeschauer, davon 2 gleichzeitig Gastwirthe und je 
1 Schneider, Gartenarbeiter, Gemeindevorsteher, Amtsbote, Stell¬ 
macher und emer. Lehrer, zusammen also 29 Desinfektoren auf 
ca. 50000 Kreisinsassen. 

Ich mache mir keine Illusionen Über die Vortrefflichkeit 
dieser Massregeln, sie tragen zum Theil die Spuren der Eile, aber 
es ist zunächst etwas geschaffen, worauf sich in Zukunft mit der 
nöthigen Zähigkeit weiter bauen lassen wird. 


Desinfektion auf dem Lande. 

Von Dr. Ascher, Kreiswandarzt in Bomst. 

Die Theilnahme an dem Weyl’schen Desinfektionskursus in 
Berlin im Oktober v. J., sowie der Versuch, ähnliche Einrichtungen 
wie dort auch bei uns auf dem Lande zu schaffen, sind die Ver¬ 
anlassung für die folgenden Zeilen geworden. 

Das Wichtigste bei einer ansteckenden Krankheit wird in 
Bezug auf deren Verbreitung sein, dass während der Krankheit 
selbst die Ausbreitung möglichst beschränkt wird. Ich sage 
„möglichst“, denn auf dem Lande ist die Absperrung eines Patienten 
deshalb meist unmöglich, weil die Leute nicht in ein Krankenhaus 
wollen oder können, und die ganze Familie, — wenigstens bei 
uns im Osten — oft in einem einzigen Raume und in zwei ge¬ 
meinschaftlichen Betten haust. Der Arzt kommt gewöhnlich erst, 
wenn die Krankheit auf ihrem Höhepunkt ist und bedrohliche Er¬ 
scheinungen gemacht hat; dann ist aber anzunehmen, dass alles, 
was infektionsfähig war, auch bereits infizirt ist. Nichtsdesto¬ 
weniger müssen wir alles, was mit dem Genesenen oder Gestor¬ 
benen in Berührung gekommen ist, reinigen und desinfiziren lassen. 



Desinfektion anf dem Lande. 


73 


Dazu ist im Allgemeinen zu zählen: Bett- und Leibwäsche, die 
Betten, Nachtgeschirre, Speigläser etc., ferner der Fussboden und 
seit Cornet’s Untersuchungen über Tuberkulose auch Wände und 
Decke, kurz, das ganze Krankenzimmer, nicht zu vergessen end¬ 
lich, den Genesenen selbst. Für letzteren genügt ein warmes 
Seifenbad — auf dem Lande allerdings meist ein frommer Wunsch. 
Wird das Krankenzimmer den Vorschriften der Berliner Desinfek¬ 
tionsanweisung nach desinfizirt, so ist als Bedingung autzustellen, 
dass die Desinfektion innerhalb eines Tages vollendet ist, weil 
man auf längere Zeit namentlich ärmere Angehörige kaum von der 
Benutzung der noch nicht desinfizirten Betten und Kleidungsstücke 
des Patienten zurückhalten kann. Zu beanspruchen ist ferner, 
dass das desinfizirte Zimmer am Abend wieder bewohnbar ist, es 
sei denn, dass mehrere Räume zu Gebote stehen. Bei der Des¬ 
infektion einer Wohnung in Berlin erzählte uns auf unsere Frage 
die Inhaberin, die erst vor Kurzem eine Desinfektion erlebt hatte, 
dass das Zimmer Abends in Folge der Feuchtigkeit nicht bezogen 
werden konnte. In der That ist auch wenig wahrscheinlich, dass 
eine so grosse Wassermenge, wie sie zur Desinfektion nach Ber¬ 
liner Muster gebraucht wird, von Mittag bis Abend selbst durch 
Heizen entfernt werden kann, ausgenommen vielleicht durch mehr¬ 
fach aufgestellte Koaksöfen etc. oder im Hochsommer. Dass aber 
die Leute ein noch feuchtes Zimmer beziehen, dürfen wir unter 
keinen Umständen zugeben, sonst hätten wir auch kein Recht, 
baupolizeiliche Vorschriften über Beziehen von Neubauten etc. zu 
verlangen. Und bei der Desinfektion ist es nicht allein die Feuch¬ 
tigkeit, sondern auch der unangenehme Karbolgeruch, der berück¬ 
sichtigt werden muss. Kommen diese Missstände aber schon in 
Berlin bei glatten Wänden und glattem Boden vor, um wieviel¬ 
mehr wird dies erst bei Lehm-Wänden und -Fussboden der 
Fall sein. 

Man wird mir nun vielleicht erwidern, dass wir uns mit der 
Desinfektion dessen, was mit dem Patienten und dessen Auswurf in 
unmittelbare Berührung gekommen ist, begnügen können. Das 
festzustellen, ist aber unmöglich; denn bis wir den Leuten bei- 
bringen, nicht auf den Fussboden zu spucken, namentlich, wenn 
es sie im Halse kratzt, darüber wird noch manche Zeit ver¬ 
gehen. Wollen wir wirklich die Desinfektion auf dem Lande ein¬ 
führen, wo die Wohlhabenheit geringer und andererseits die Aus¬ 
führung der Desinfektion schwieriger und kostspieliger ist, so 
müssen wir auch mit gutem Gewissen einen irgendwie sicheren 
Erfolg versprechen können, und das ist nur möglich, wenn wir 
versuchen, das möglichst Beste einzuführen. 

Zur Durchführung der Desinfektion nach Berliner Muster 
wird es in erster Linie auf die Beschaffung eines Desinfektions- 
Apparates für strömenden Dampf ankommen. Was für ein Apparat 
gewählt wird, ist ziemlich gleichgültig; die billigsten und als voll¬ 
kommen bewährt gefundenen sind zur Zeit die Kröne-Comet’- 
schen aus der Fabrik von Senking in Hildesheim (Kostenpreis: 
180—400 Mark, soweit mir bekannt). Für die ländlichen Verhält- 



74 


Dr. Ascher: Desinfektion auf dem Lande. 


nisse genügt ein Apparat, der so gross ist, dass ein Federbett 
hineingeht, also mit einem Raum von 50 : 80 cm. Matratzen kom¬ 
men hier selten vor, und wer solche besitzt, hat auch die Mittel, 
sie in einer näheren grösseren Stadt desinfiziren zu lassen. Die 
Frage, ob stationärer oder transportabler Apparat wird sich nach 
lokalen Verhältnissen beantworten lassen. Nur muss es als unstatt¬ 
haft angesehen werden, die infizirten Sachen „gelegentlich“, wie 
Matthes 1 ) meint, zur Desinfektionsanstalt zu senden; denn wir 
müssen eben als Norm festhalten, dass die gesammte Desinfektion 
innerhalb eines Tages bewerkstelligt ist. Ebenso unzulässig er¬ 
scheint der Vorschlag von Matthes, diese Sachen in mit 5°/ 0 
Karbollösung getränkten Säcken zu verschicken. Zwischen den 
Fäden des Sackes können die Bazillen sehr bequem heraus, und 
die bloss in den Fäden enthaltene Karbollösung, die bald ver- 
flüohtigt ist, hält sie ebensowenig zurück. Der Transport muss 
also keimdicht geschehen, denn sonst richtet so ein Bauer, der vor 
jeder Schenke hält, mit seinem Bakterien - Transport mehr Schaden 
an, als wenn die Sachen zu Hause ausgewaschen würden. In Bezug 
auf die Verpackung der Sachen müsste daher in den Kreisen, wo 
stationäre Apparate sind, die Absendung in festen, mit Blech aus¬ 
geschlagenen Kisten vorgeschrieben und in jeder Gemeinde der¬ 
artige Kisten beschafft werden; denn auf Abholung der Sachen 
durch besondere Wagen und von dazu geschultem Personal, wie 
in Berlin, müssen wir auf dem Lande von vornherein verzichten. 

Ist für die Desinfektion der transportablen Sachen genügend 
gesorgt, so handelt es sich weiter darum: Wer soll die Woh¬ 
nung desinfiziren? Entschieden ein dazu vorgebildeter Mann; 
denn einer Diakonissin, wie jüngst vorgeschlagen, können wir eine 
Wohnungs-Desinfektion nach Berliner Muster nicht zumuthen. 

Ausser dem eigentlichen „Desinfektor“ braucht man aber 
noch einen Mann oder auch eine Frau, die ihm dabei hilft. Zum 
Desinfektor wird man im Allgemeinen den Heildiener, wo sich ein 
solcher vorfindet, ausbilden lassen. Dass es einer eigentlichen Aus¬ 
bildung bedarf, wird Niemand bezweifeln, der die Desinfektion einer 
Wohnung praktisch ausgeführt oder unter seiner Leitung hat aus¬ 
führen lassen; man begreift oft nicht, wo all’ der Schmutz in den 
Wohnungen herkommt und andererseits verursacht in den besseren 
Wohnungen die Desinfektion der geschnitzten Möbel, der Spiegel 
u. s. w. oft die grössten Schwierigkeiten. — Ist kein Heildiener 
im Ort, so wird man auch bildungsfähige Elemente schon finden, 
wenn nur die Bezahlung eine entsprechende wird. Die letztere 
Frage ist nicht zu unterschätzen, namentlich, da man schwerlich 
die ländlichen Desinfektoren als Beamte anstellen, sondern ihnen 
voraussichtlich eine ähnliche Stellung anweisen wird, wie den Heb¬ 
ammen, also staatliche Kontrolle, aber privater Erwerb. Das Bei¬ 
spiel mit den Hebammen hinkt jedoch in zweifacher Beziehung: 
in Bezug auf die Ausrüstung und in Bezug auf die Bezahlung. 
Die Ausrüstung ist wesentlich theurer — diejenigen der Berliner 


') Zeitschrift für Uedizinalbeamte, Heft 19, 1892. 



Aas Versammlungen and Vereinen. 


75 


Desinfektoren als Muster angenommen — und muss ausserdem 
auch für die Hilfsperson vorhanden sein; und bei der Bezahlung 
fragt es sich, wer die Kosten trägt. Denn dass ein Bauer die 
Hebamme bezahlt, die seine Frau entbindet, das leuchtet ihm ein, 
dass er aber den Desinfektor bezahlen soll, nachdem sein Kind 
gesund geworden oder gestorben ist, — also bloss, damit Andere 
sich nicht anstecken — das wird man ihm schwer plausibel machen. 
Dazu kommt, dass, wenn erst einmal die Kosten und die Umstände 
einer Desinfektion bekannt werden, die Leute noch mehr als bis¬ 
her Krankheiten geheim zu halten versuchen werden. Hier also 
muss ein grösserer Verband, Kreis oder Provinz eingreifen, und 
auch die Kosten für Ausbildung und Ausrüstung der Desinfek¬ 
toren übernehmen, wogegen sich diese verpflichten müssen, die 
Desinfektionen bei Armen unentgeltlich vorzunehmen und, was 
die Hauptsache ist, eine gewisse Zeit an einem bestimmten Orte 
zu bleiben. 

Die Frage nach der Anzahl der Desinfektoren wird sich 
ebenfalls nur nach lokalen Verhältnissen beantworten lassen. Als 
erstrebenswerth muss gelten, dass womöglich in jeder grösseren 
Landgemeinde oder wenigstens in jedem Orte, wo sich ein Arzt 
oder eine Apotheke befindet, auch mindestens ein Desinfektor ist, 
damit die Kosten der Desinfektion nicht noch durch grössere Reisen 
des Desinfektors unnöthig erhöht und dieser auch möglichst früh 
am Tage mit der Desinfektion beginnen und sie stets bis zum 
Abend vollenden kann. 

Wir kommen also zu folgenden Schlüssen: 

1) Die Desinfektion nach der Berliner Desinfektions - Anwei¬ 
sung ist auf dem Lande wünschenswerth und mit geringen Abän¬ 
derungen durchführbar. 

2) Es ist auch hier zu verlangen, dass dieselbe innerhalb 
eines Tages vollendet und, wo kein zweiter Wohnraum vorhanden 
ist, der desinfizirte Raum am Abend wieder beziehbar ist. 

3) Die infizirten Sachen müssen in demselben Zeitraum des- 
inflzirt und getrocknet werden. 

4) Die Desinfektion muss von einem geprüften, ausgebildeten 
Desinfektor vorgenommen werden. 

5) Der Transport infizirter Sachen nach einem Desinfektions- 
Apparat darf nur in keimdichter Verpackung erfolgen, also am 
besten in Kisten, die mit einem Blech ausgeschlagen sind. 


Aus Versammlungen und Vereinen. 

Bericht über die Versammlung; der Physiker des Herzog- 

thums Braunsehweig;. 

In der am 10. Dezember v. J. in Börssam abgehaltenen Versammlung 
deaaVereins der Physiker des Herzogthums Braunsehweig wurden zunächst die 
vorgelegten Statuten, die mit denjenigen des Preussischen Medizinalbeamten- 
Vereins im Wesentlichen übereinstimmen, berathen und genehmigt. Den wei¬ 
teren Gegenstand der Tagesordnung bildete eine Eingabe an das Herzogliche 
Obersanitäts-Kollegium, betreffend Einrichtung von Fortbildungkursen, 
die damit begründet wurde, dass die Lehre von den hygienischen Untersuchungs- 



76 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


methoden in der jüngsten Zeit eine bedeutende Ausdehnung genommen habe nnd 
nicht nur auf dem Gebiete der Bakteriologie, sondern auch in allen übrigen Dis¬ 
ziplinen der Hygiene eine Reihe neuerer Verfahren entdeckt und ausgebildet 
seien, deren Kenntniss für die Medizinalbeamten sowohl in ihrem eigenen ab 
im öffentlichen Interesse unerlässlich sei. Im Königreich Preussen habe man 
daher mit Erfolg hygienische Fortbildungskurse für sämmtliche Physiker und 
Regierungs- und Medizinalräthe eingerichtet; ein Gleiches sei auch für die Phy¬ 
siker des Herzogthums Braunschweig erforderlich, wenn diese ihre Pflichten als 
Gesundheitsbeamte in vollkommener Webe als bbher genügen sollten. 

Die anwesenden Physiker erklärten sich mit der Eingabe einverstanden, 
in der ausserdem die Erwartung ausgesprochen war, dass bei Einrichtung solcher 
Kurse den tbeilnehmenden Physikern Tagegelder und Reisekosten sowie eine 
Entschädigung für Stellvertretung in ihrer Praxis gewährt werden möge. 

Den Schluss der Berathung bildete eine kurze Mittheilung des Physikus 
Dr. de Bra über die gerichtsärztlichen Gebühren. Von einer ein¬ 
gehenden Besprechung dieser Frage wurde mit Rücksicht darauf, dass ein dar¬ 
auf bezüglicher Antrag bereits der Aerztekammer Vorliegt, Abstand genommen. 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

A. Gerichtliche Medizin. 

L’obsession criminelle morbide par le Dr. Magnan und l’obsession 
de meurtre par le Dr. Lada me, zwei auf dem letzten Anthropologen - Kon¬ 
gress in Brüssel gehaltene, von Dr. Lewald-Liebenburg übersetzte und in 
den Nummern 3—6 des Irrenfreundes veröffentlichte Vorträge beschäftigten sich 
mit dem forensisch hochwichtigen Gebiet der Zwangsvorstellungen bezw. Zwangs¬ 
handlungen. 

Die Ausführungen Magnan’s kommen zu dem Satze, dass Zwangsvor¬ 
stellungen bei gebtig normalen Menschen nicht zu Zwangshandlungen führen, 
weil hier die konstrastirenden Gegenvorstellungen zur Geltung kommen. Bei 
hereditär zu Psychosen Disponirten, also bei Degenerirten ist letzteres trotz leb¬ 
haften inneren Kampfes oft nicht der Fall, und deshalb das Zur - Thatwerden 
des Gedankens, die impulsive Handlung. Magnan unterscheidet 4 Reihen von 
Zwangsvorstellungen: 

1. solche, die zum Morde treiben, 2. die auf Eigenthumsverletzung ge¬ 
richteten Zwangsvorstellungen (Kleptomanie resp. Kleptophobie), 3. Zwangsvor¬ 
stellungen in Bezug aufs Feuer (Pyromanie resp. -phobie) und 4. das auf den 
Geschlechtssinn gerichtete Zwangsdenken — Erotomanie, Priapismus, konträre 
Sexualempfindung, Bestialitäten und platonische Narrheiten. — Man sieht, dass 
ein so hervorragender Psychiater, wie Magnan — vergl. z. B. dessen neueste 
Arbeit: Psychiatrische Vorlesungen, übersetzt von P. J. Möbius 1 ) — sich doch 
noch nicht ganz frei machen kann von der Monomanienlehre der älteren franzö¬ 
sischen Autoren. 

Ladame, dessen Vortrag im Wesentlichen ältere und neue Kasuistik 
bringt, sondert aus den mit Mordtrieb verbundenen Geisteskrankkeiten diejenigen 
ab, in denen primordial auftauchende oder durch aufregende Lektüre, durch das 
Ansehen von Hinrichtungen u. drgl. geweckte Zwangsvorstellungen zum Morde 
trei ben. Auch er unterscheidet solche Kranke, deren Zwangsvorstellungen theoretisch 
bleiben und solche, welehe dem Drange zur That erliegen, also das Verbrechen 
begehen; rechnet aber alle Fälle von der in Frage stehenden Zwangsvorstellung 
zum hereditären Irrsinn und betont den wichtigen Umstand, dass sich die Zwangs¬ 
vorstellung zu morden bei Hereditarien manchmal ganz isolirt findet. 

Dr. Kühn-Uslar. 


B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Die Beziehungen der Fliegen zur Verbreitung der Cholera. Aus 
dem Institute der allgemeinen Pathologie zu Kiew. Von Dr. J. Sawtschenko, 
Assistenten am Institute. Zentralblatt f. Bakteriologie, XU, Nr. 25. 


l ) Leipzig 1892; Verlag von Georg Thieme; besprochen in Nr. S. 21 und 
22 (S. 590) dieser Zeitschrift, Jahrg. 1892. 



Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften. 


77 


Es ist durch Untersuchungen verschiedener Forscher festgestellt worden, 
dass Cholera-Bakterien, welche an der Körperoberfläche, namentlich an den 
Füssen von Fliegen hangen geblieben sind, stundenlang ihre Lebensfähigkeit 
und Uebertragbarkeit behalten können. Verfasser ist nun der Meinung, dass 
hieraus eine wesentliche Gefahr für die Cholera - Uebertragung kaum entstehen 
könnte, da beim Herumschärmen der Fliegen im Freien die Austrocknung und 
die Wirkung der Sonnenstrahlen für rasche Abtödtung der Bazillen Sorge tragen 
würden. Für viel bedenklicher hält er die Möglichkeit, dass die Fliegen Cholera- 
Bazillen mit der Nahrung aufnehmen und in lebensfähigem Zustand mit dem 
Kothe wieder abgeben könnten. Die Details der Versuchsanordnung, die Art 
und Weise, wie Verfasser seine Fliegen durch Laufenlassen auf mit Sublimat 
getränktem Fliesspapier zur Desinfizirung veranlasste und wie er sie zur Ab¬ 
gabe ihres Kothes gerade zu dem von ihm beliebten Zeitpunkt zu bringen 
wusste, sind recht spasshaft zu lesen; die Ergebnisse sind aber sehr ernsthaft! 
Denn es ergab sich, dass die Fliegen nach Fütterung mit Cholera - Entleerungen 
und mit Reinkulturen längere Zeit hindurch — bis zu 4 Tagen — lebensfähige 
und durch das Thierexperiment als vollviruleut erwiesene Cholera - Bazillen 
entleerten. Verfasser ist sogar geneigt, eine lebhafte Vermehrung der aufge¬ 
nommenen Keime innerhalb des Fliegendarmes anzunehmen und der Thätigkeit 
der Fliegen einen ganz hervorragenden und in diesem Umfang ohne Widerspruch 
wohl kaum allgemein anzuerkennende Bedeutung für die Entstehung von Cholera- 
Epidemien zuzuweisen. Erwähnung verdient übrigens, dass die gewöhnliche 
Stubenfliege Cholera-Exkremente nur ungern aufnahm, so dass die Versuche, 
soweit es sich um Cholera-Exkremente bezw. um den Darminhalt von Cholera- 
Leichen handelt, nicht mit der Stubenfliege, sondern mit einer andern Art, nach 
Verfassers wenig exakter Beschreibung vermuthlich der blauen Schmeissfliege 
(dem sog. Brummer), Calliphora vomitoria angestellt sind. Im Darm dieser 
Fliegen fand sich übrigens neben dem Cholera - Bacillus häufig noch ein anderer, 
für Meerschweinchen und Tauben ebenfalls pathogener Vibrio, dessen Kulturen 
mit dem Vibrio Metschnikoff grosse Aehnlichkeit haben. 

Dr. Langerhans -Hankensbtittel. 


Zur Aetiologie von Masern, Pocken, Scharlach, Syphilis. Von 
Dr. P. Döhle, Privatdozenten und 1. Assistenten am pathologischen Institut 
zu Kiel. Zentralblatt f. Bakteriologie, XII, Nr. 25. 

Verfasser glaubt die lange gesuchten Erreger der Masern, des Scharlachs, 
der Pocken (incl. Vaccine) und der Syphilis gefunden zu haben in Gestalt klein¬ 
ster, frei im Blute lebender und sich daselbst lebhaft bewegender Protozoen. 
Die beigegebenen Abbildungen, welche leider nur nach Zeichnungen statt nach 
Photograinmeu angefertigt sind, zeigen die angeblichen Protozoen in Gestalt 
glänzender Körner, zum Theil umgeben von einem helleren Hof, häufig auch mit 
Geissein versehen. Auch zu mehreren zeigen sich die glänzenden Körper, 
welche in diesem Fall wohl als Sporen zu deuten sein würden, innerhalb eines 
solchen Hofes. 

Nach Verfassers Mittheilungen ist ihm auch die künstliche Züchtung seiner 
Organismen geglückt — eine Angabe von der allergrössten Bedeutung, nicht nur 
weil dadurch das Studium dieser Wesen und die Sicherstellung ihrer Bedeutung 
iür die fraglichen Krankheiten ganz wesentlich erleichtert würde, sondern vor 
Allem, weil die gelungene Züchtung der schmarotzenden Protozoen (allenfalls 
mit Ausnahme der Dysenterie-Amöbe von Kartulis) ausserhalb des Thier¬ 
köpers noch Niemand geglückt ist, und gerade aus diesem Mangel erklären sich die 
vielfältigen Lücken in unserer Kenntniss dieser Thierklasse, welche für die 
Aetiologie der Infektionskrankheiten stetig an Bedeutung gewinut. Man darf 
daher den in Aussicht gestellten weiteren Veröffentlichungen Döhle’s mit einer 
gewissen Spannung entgegen sehen. Ders. 


Die Infektionskrankheiten in Oesterreich wahrend des Jahres 

1891. Oestcrreichisches Sanitätswesen, Beilage zu Nr 52, 1892. 

Aus den vorliegenden Berichten lässt sich entnehmen, dass der Anzeige¬ 
pflicht beim Auftreten von Infektionskrankheiten in Oesterreich im Jahre 1891 
besser entsprochen ist, als in den Vorjahren (vgl. Ref. in Nr. 8 der Zeitschr., 

1892, S. 205); immerhin bleibt in dieser Hinsicht besonders in den Landge¬ 
meinden noch viel zu wünschen übrig und wird voraussichtlich erst mit völliger 



78 


Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften. 


Durchführung der Organisation des Gemeinde - Sanitätsdienstes in den im Reichs¬ 
lande vertretenen Königreichen und Ländern eine gründliche Besserung jenes 
Missstandes erreicht werden. 

Im Vergleich zu den Vorjahren hat eine bedeutend geringere Ausbreitung 
bei Masern und Unterleibstyphus stattgefunden; dagegen eine Zunahme 
bei Blattern, Schar lach und Diphtherie. Die Zahl der Blatter n kranken 
ist von 24412 auf 28873, also um 18,' °/ 0 gestiegen. Von 100 Erkrankten 
starben 16,9 °/ 0 , und zwar von den Geimpften 9,4 °/ 0 , von den Ungeimpften 29,3 °/ 0 
gegen 14,7 °/ 0 . bezw. 7,7 und 24,8 °/ 0 im Vorjahre. Auf Tausend Einwohner 
kommen 1,21 Erkrankungs- und 0,2 Todesfälle an Blattern, gegen 1,02 bezw. 
0,55 im Jahre 1890; diese Ziffern wurden besonders in Böhmen (mit 2,01 und 
0,32 °/ 00 ) erheblich überschritten, während Oberösterreich, Kärnthen, Triest, 
Görz und Gradiska, Istrien und Vorarlberg von der Seuche fast vollständig ver¬ 
schont geblieben sind. Die verhältnissmässig grosse Verbreitung der Blattern 
in Oesterreich erklärt sich daraus, dass von je 100 Lebendgeborenen alljährlich 
noch der vierte Theil ungeimpft bleibt und somit eine grosse Anzahl gegen 
Blattern nicht geschützter Personen vorhanden ist. Auffallend erscheint es nur, 
dass z. B. in Böhmen, Mähren und Galizien durchschnittlich in den Jahren 1881 
bis 1890 77 bezw. 79,5 # / 0 und 85 # / 0 der lebendgeborenen Kinder geimpft wurden 
und hier trotzdem die meisten Blattern • Erkrankungen vorkamen, während in 
den von der Krankheit gar nicht oder fast gar nicht betroffenen Ländern Vorarl¬ 
berg und Triest die Zahl der geimpften Kinder während desselben Zeitraums 
durchschnittlich nur 59.4 bezw. 45,5 °/ 0 betrug. 

Auch bei dem Scharlach hat im Jahre 1891 nicht nur die Zahl der 
Bezirke und Gemeinden, in denen solche Erkrankungen zur Anzeige gelangten, 
sondern auch die Zahl der angezeigten Fälle eine erhebliche Zunahme gegenüber 
dem Vorjahre erfahren, besonders in der Bukowina, Kärnthen, Galizien, Salz¬ 
burg und Istrien, wo auch die Mortalität im Verhältniss zur Einwohnerzahl am 
höchsten war: 5,0, 2,63, 2,46, 2,18 und 2,14 °l 00 gegenüber 1,71 °/ 00 im Gesammt- 
staate. Von 40985 Erkrankten starben 8577 = 29,9°/ 0 ; die höchste Sterblich¬ 
keitsziffer hatte die Bukowina (28,5 °/ 0 ). die niedrigste Vorarlberg (4,3 °/ 0 ), das 
auch eine sehr niedrige Erkrankungsziffer zeigte und in dieser Hinsicht nur 
noch von Dalmatien übertroffen wurde. 

Ebenso wie früher scheint auch im Jahre 1891 der Anzeigepflicht bei 
Krupp und Diphtherie am wenigsten entsprochen zu sein. Angemeldet 
sind im ganzen Staate nur 25478 Erkrankungen mit 10263 Todesfällen, das 
sind auf 100<> Einwohner 1,06 Erkrankungen und 0,43 Todesfälle gegenüber 0,84 
und 0,36 °/„ 0 im Vorjahre. Die Zahl der infizirten Bezirke hat sich hier gegen 
früher wenig verändert; diejenige der infizirten Gemeinden ist aber ebenso wie 
die Zahl der Erkrankungen gestiegen. Die höchsten Erkrankungs- und Sterb¬ 
lichkeitsziffern zeigten auch hier wieder die Bukowina (2,56 und 1,41 °/ 00 ), die 
niedrigsten Vorarlberg (0,19 und 0,6 # / oo ) und Dalmatien (0,17 und 0,61 °/ 00 ). 

Die Masern, welche im Vorjahre besonders mehr in den östlich uud im 
Centrum gelegenen Ländern aufgetreten waren, haben sich im Jahre 1891 mehr 
nach Norden, Westen und Süden ausgebreitet; die Gcsammtzahl der Erkrankungen 
(168086) ist aber erheblich zurückgegangen (von 9,6 auf 5,l°/ 00 der Einwohner), 
dagegen die Mortalität gestiegen; denn von 100 Masernkranken starben 5,8 
gegenüber nur 5,1 °/ 0 im Vorjahre. Die meisten Erkrankungsfälle kamen in 
Salzburg (38,1 °/ 00 der Bevölkerung) vor; auch in Istrien, Vorarlberg, Steiermark 
und Tyrol stieg die Morbidität über 10,0 °/ 00 der Bevölkerung, während sie in 
Dalmatien unter 2°/ 0? zurückblieb (1,92 °/ 00 ). 

Der Abdominaltyphus tritt in einer grossen Zahl von Bezirken 
endemisch auf, besonders in der Bukowina und in Galizien, wo ebenso wie in 
den Vorjahren die Typhus-Morbidität am höchsten war: 2,03 und 1,99°/ 00 der 
Bevölkerung gegenüber nur 0,86 °/ 00 in allen Ländern zusammen. Von den Er¬ 
krankten sind 15,4 °/ 0 gestorben, fast genau soviel als im Jahre 1890 (15,5 °/ 0 ). 

Der Flecktyphus ist nur in Böhmen und besonders in Galizien in 
einer grösseren Anzahl von Bezirken aufgetreten, in allen übrigen Ländern ist 
er aber seltener geworden. Die Gesammtzahl der Erkrankten betrug 4422 mit 
518 Todesfällen = 11,6 °/ 0 , davon entfallen auf Galizien allein 4303 Erkran¬ 
kungen mit 483 Todesfällen. 

Auch die epidemische Ruhr ist nur in Galizien und in der Bukowina 
in grösserer Ausbreitung aufgetreten (23174 bezw. 3130 Erkrankungen mit 



Besprechungen. 79 

3255 = 14,6 °/ 0 und 324 = 26,3°/ 0 Todesfällen), in den anderen Ländern da¬ 
gegen nur sporadisch. 

Von den Erkrankungen am Kindbettfieber scheint nur ein verschwin¬ 
dend kleiner Theil (1153 Erkrankungen mit 675 = 57,7 °/„ Todesfällen) zur An¬ 
zeige gekommen zu sein; denn danach würde nur ungefähr 1 Erkrankung auf 
1000 Geburten kommen, jedenfalls eine recht niedrige Ziffer. Rpd. 


Bewegung der Bevölkerung in Frankreich im Jahre 1891. Nach 
dem soeben veröffentlichten amtlichen Berichte betrug die Zahl der Eheschliessungen 
in Frankreich im Jahre 1891: 285458, die der Geburten 866377 (im Vorjahre 
nur 838059), die der Todesfälle 876882. Im Vergleich zum Vorjahre haben die 
Eheschliessungen um 16126, die Geburten um 28318 und die Todesfälle um 317 
zagenommen. Es zeigt sich somit eine Verbesserung. Während die Zahl der 
Todesfälle fast die nämliche geblieben ist, sind die Eheschliessungen um 6%, 
die Geburten um 3,37 °/ 0 gestiegen. Die Gesammtbevölkerung Frankreichs betrug 
im Jahre 1891 38348122 Personen. 


Besprechungen. 

Dr. Adolf Lesser, a. o. Professor und gerichtlicher Stadtphysikus 
in Breslau: Atlas der gerichtlichen Medizin. Zweite 
Abtheilung. Achtzehn Tafeln in Chromolithographie mit er¬ 
läuterndem Text. Breslau 1889—1892. Verlag der schlesischen 
Buchdruckerei, Kunst- und Verlagsbuchhandlung (vorm. S. 
Schottländer). Folio, 211 Seiten. 

Die zweite Abtheilnng des Lesser’ sehen Atlas der gerichtlichen Medizin, 
deren erste Lieferung bereits vor mehreren Jahren erschienen ist, liegt nunmehr 
vollendet vor und hat Verfasser damit ein Werk geschaffen, das ebenso wie der 
erste, 1883/84 herausgegebene, die Vergiftungen behandelnde Theil seines Atlas 
als unübertroffen in der medizinischen Litteratur dastehen dürfte. Auf 18 
chromolithographischen Tafeln sind die für den Gerichtsarzt besonders wichtigen 
traumatischen Verletzungen, die bedeutungsvollsten Befunde bei Neugeborenen 
und die wesentlichsten Leichenerscheinungen in zahlreichen Abbildungen darge¬ 
stellt, die in Bezug auf Naturtreue, Feinheit der Zeichnung und Kolorirung als 
wahre Kunstwerke bezeichnet werden müssen. Dabei hat der Verfasser mit 
dem ihm zu Gebote stehenden reichhaltigem Beobachtungsmateriale die be¬ 
treffenden Objekte mit grosser Sorgfalt ausgewählt, um dem Gerichtsarzte ein 
klares Bild nicht nur von den alltäglichen, sondern auch von den selteneren Be¬ 
funden bei derartigen gerichtlichen Obduktionen zu geben. 

In den ersten neun Tafeln werden besonders charakteristische Fälle von 
Verletzungen der Haut, des Gehirns und Rückenmarks, der Schädelknochen, des 
Halses und Kehlkopfes (besonders in Folge von Strangulation), der Brust- und 
Bauchorgane (durch Ueberfahrenwerden) zur Anschauung gebracht, in den darauf¬ 
folgenden Tafeln (10 u. 11) die Gebärmutter- und Scheidenverletzungen durch 
kriminellen Abort. Die Tafeln 12 und 13 zeigen die forensisch wichtigen Be¬ 
funde bei Neugeborenen (Veränderungen des kindlichen Schädels bei der Geburt, 
luftleere und lufthaltige Lungen mit und ohne post mortale Veränderungen, 
Pauckenhöhlen - Inhalt, Kindspech, Knochenkern in der Oberschenkel - Epiphyse 
u. s. w.); während die Tafeln 14—17 lediglich den kadaverösen Veränderungen 
der verschiedenen körperlichen Gewebe und Organe gewidmet sind. Den Schluss 
des Atlas bilden auf Tafel 18 vorzügliche Abbildungen mikroskopischer Prä¬ 
parate von rothen Blutkörperchen des Menschen und anderer Säugethiere, von 
Häminkrystallen, Seiden-, Baumwollen-, Hanf- und Jutefasern, von Menschen- 
und Thierhaaren. 

Der die Abbildungen begleitende Text beschränkt sich keineswegs auf 
eine Erklärung und Beschreibung der dargestellten Objekte, sondern bringt neben 
zahlreichen kasuistischen und statistischen Mittheilungen hochinteressante, zum 
Theil völlig neue Gesichtspunkte bietende wissenschaftliche Untersuchungen und 
Beobachtungen des Verfassers über die hier in Betracht kommenden gerichts¬ 
ärztlichen Fragen. Insonderheit mögen hier die Abschnitte über Strangulation 
und Verletzungen des Kehlkopfs, über kriminellen Abort, über die forensische 
Bedeutung der Lungen-, Magen- und Darmprobe, über den Tod durch Er- 



80 


Tagesnachrichten. 


trinken n. s. w. erwähnt werden, die den betreffenden Abschnitten der besten 
Handbücher der gerichtlichen Medizin nach jeder Richtung hin mindestens gleich* 
stehen. Dadurch wird aber der Atlas besonders für die weniger beschäftigten 
Gerichtsärzte um so werthvoiler; denn er bietet ihnen in seinen vortrefflichen 
Abbildungen nicht nur den besten Ersatz für die etwa fehlende eigene An¬ 
schauung, sondern die in dem Texte gegebenen kasuistischen Beleuchtungen werden 
ihnen auch die richtige Beurtheilung selten vorkommender forensischer Fälle 
wesentlich erleichtern. 

Wenn beim Erscheinen des ersten Theils des Besser’sehen Atlas die 
Gerichtsärzte von kompetenter Seite beglückwünscht wurden ob des grossen 
Vorzuges, allen anderen Fachgenossen gegenüber das beste und zuverlässigste 
Bilderwerk zu besitzen, so dürfte dies im Hinblick auf den vorliegenden zweiten 
Theil des Atlas nicht minder gerechtfertigt sein. Jedenfalls sind die Gerichts¬ 
ärzte dem Verfasser für sein verdienstvolles Werk den grössten Dank schuldig; 
auch die Verlagsbuchhandlung verdient denselben; denn sie hat keine Kosten 
gescheut, um den Atlas so vollkommen als möglich herzustellen. Möge derselbe 
daher in den Kreisen der Fachgenossen die weiteste Verbreitung finden! Der 
Preis (90 Mark) muss mit Rücksicht auf die grossen Vorzüge wie auf die vor¬ 
zügliche Ausstattung des Werkes als ein niedriger bezeichnet werden. 


Tagesnachrichten. 

Die zweite Lesung des Entwurfs eines Reichsseuchengesetzes, welche 
im Reichsamte des Innern unter Mitwirkung von Kommissarien der betheiligten 
Centralstellen des Reiches und Preussens stattgefunden hat, ist am Mittwoch zum 
Abschluss gebracht worden. Es darf nunmehr als sicher angenommen werden, 
dass Anfangs Februar der Bundesrath mit dem Entwürfe befasst werden wird. 
Bei der durch die Vorgänge der letzten Tage wiederum ernst in Erinnerung ge¬ 
brachten Dringlichkeit der Sache liegt es in der Absicht, die Erledigung der 
gesetzgeberischen Arfgabe jedenfalls noch in der laufenden Tagung 
des Reichstages herbeizuführen. 

In der am 14. Januar d. J. stattgehabten Sitzung der Aerztekammer 
der Provinz Brandenburg und des Stadtkreises Berlin ist betreffs 
der Forderung, die Entmündigung und Unterbringung der Geistes¬ 
kranken durch eine Laienkommission entscheiden zu lassen, einstimmig dem 
Vorschläge der Referenten Geh. San.-Rath Dr. Liersch und Prof. Dr. Mendel 
gemäss folgende Resolution gefasst worden: Die Aerztekammer legt öffentlich 
Protest ein gegen den in eine Anzahl von Zeitungen ergangenen Aufruf, wonach 
es im Interesse der Kranken erstrebenswerth sei, dass in Zukunft eine Laien¬ 
kommission über die Annahme Geisteskranker und die Entmündigung zu ent¬ 
scheiden habe; und beauftragt ihren Vorstand, diese Angelegenheit dem Aus¬ 
schuss der preussischen Aerztekammer zu unterbreiten, um ein gemeinsames 
Vorgehen gegen jene Bestrebungen hervorzuheben. 

Cholera. Ueber das explosionsartige Auftreten der Cholera in der 
Provinzial-Irrenanstalt in N i e 11 e b e n bei Halle a. d. Saale ist bereits an anderer 
Stelle (s. S. 58) berichtet worden. In Hamburg sind in der Woche vom 
8.—14. Januar 13 Erkrankungen und 2 Todesfälle (nicht 4 bezw. 1 wie in der 
vorhergehenden Nummer angegeben war) vorgekommen, in der Woche vom 15. 
bis 21. Januar: 7 Erkrankungen und 2 Todesfälle. In Altona betrug die 
Zahl der Erkrankungen während desselben Zeitraums 2; in der darauffolgenden 
Woche vom 22.—28. Januar sind aber 5 neue Erkrankungen und 2 Todesfälle 
hinzugekommen. Auch in der Gemeinde Schulau (Kreis Pinneberg) wurden 
in der Woche vom 15.—21. Januar 3 Erkrankungen mit 1 Sterbefall festgestellt. 

In Oesterreich hat sich die Cholera dem Laufe des Zbruz entlang und 
zwar in der Richtung nach Süden zu etwas ausgebreitet. In dem hier liegenden 
Bezirk Borszczow (Galizien) sind 12 Erkrankungen und 4 Todesfälle in 
dem Zeitraum vom 1.—14. Januar zur amtlichen Kenntniss gelangt. Auch in 
P e s t ist die Zahl der Erkrankungen wieder gestiegen und betrug in der Woche vom 
8.—14. Jan.: 4 mit 2 Todesfällen, in derjenigen vom 16.—24.: 16 mit 5 Todesfällen. 

In Russland scheint die Seuche besonders in den westlichen Gouverne¬ 
ments dem Erlöschen nahe zu sein. 

Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.-u. Med.-Rath i. Minden LW. 

J. 0. C. Bros*, Buohdrockerel, Mlndtn. 




6. Jahrg. 


Zeitschrift 


1893. 


für 


MEDIZINALBEAMTE 

. Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMÜND 

San.-Ruth u.gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in Minden 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Medizinal rat h und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer's mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserat«, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlang and Rad. Mosse 

entgegen. 


No. 4. 


Emeheint am 1. und 15. Jeden Monats. 
Preis j&hrlleh 10 Mark. 


15. Febr. 


Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen 
und der Schulkinder des Kreises Isenhagen. 

Von Dr. Max Langerhans, Kreisphysikus in Hankensbüttel. 

(Fortsetzung.) 
f. Heizung. 

Sämmtliche Schulklassen haben Ofenheizung. Einen eisernen 
Ofen hat nur eine Schule; alle anderen haben die landesübliche 
Kombination von Kachel- und Eisen-Ofen, derart, dass sich auf 
einem eisernen Kasten ein thönemer Aulbau, meist mit ein paar 
Durchsichten, erhebt. Und zwar finden sich von dem oben ge¬ 
schilderten altväterlichen Urbild an alle möglichen Abschattirungen 
bis zum Mantelofen und anderen mit Regulirung, Luftzuführung 
und Füllvorrichtung versehenen Erzeugnissen moderner Ofen- 
Technik. Das grösste Schulzimmer, Knesebeck 2, hat zwei der¬ 
artige Oefen. Die Heizung geschieht in der Hälfte der Fälle vom 
Schulzimmer aus, sonst von aussen, von der Diele oder von der 
Küche her. Man ist meist geneigt, diese Einrichtung für 
etwas Unvollkommenes zu halten. Ich bin nicht dieser Meinung; 
denn die Ventilation durch die ansaugende Kraft des brennenden 
Ofenfeuers kommt für die Schule schon aus dem Grunde nicht 
zur Geltung, dass bei gehöriger Heizung die Flamme bereits nieder¬ 
gebrannt und die Ofenthür zugeschraubt sein soll, wenn die Kinder 
in die Schule kommen und die Kohlensäure-Produktion und Luftver¬ 
schlechterung in Gang kommt. Auf jeden Fall ist der Vortheil 
der Ofen-Ventilation ein so unbedeutender, dass er gar nicht in 
Betracht kommen kann gegen die Nachtheile, welche die tägliche, 
ohne grossartige Staubentwicklung im Zimmer gar nicht mögliche 
Ausräumung der bedeutenden Aschenmengen, welche die landes¬ 
übliche Heizung mit Torf und Kiefernbuschholz liefert, nothwendig 
mit sich bringt. Heizung mit Steinkohlen findet sich nur in sieben 







82 


Dr. Langerhans. 


Klassen. Die bedeutende Verteuerung, welche der Achsentrans- 
port für dieses Brennmaterial in unserem, von der Eisenbahn noch 
nicht berührten Kreise bedingt, giebt wohl hierfür und für die 
langsame Einführung des sonst für Schulen so zweckmässigen 
Eisenofens die Erklärung ab. 

Die Oefen werden ausnahmslos alljährlich gereinigt und ver¬ 
schmiert, waren auch sonst gut im Stande gehalten, was bei der 
unverwüstlichen Bauart der alten Oefen freilich kein Kunststück 
ist. Nur in drei Fällen wurde Klage darüber geführt, dass die 
Oefen rauchen. Mehrere Zimmer, namentlich in den feuchteren 
Lagen des Kreises sind schlecht zu erwärmen. Ein grosser 
Uebelstand ist der, dass in einigen Zimmern die Kinder sehr nahe 
— bis zu 30 cm — an dem Ofen sitzen, ohne durch einen Ofen¬ 
schirm, der nur in drei Zimmern vorhanden ist, gegen die strahlende 
Wärme Schutz zu finden. Thermometer sind in allen Schulzimmern 
vorhanden. 

g. Ventilation. 

Keinerlei VentilationsVorrichtung ist in vier Schulzimmern: 
Wunderbüttel, Oerrel, Langwedel - Lingwedel und Alt-Isenhagen 
vorhanden! Alle anderen haben, zum Theil etwas ursprüngliche 
Lüftungs - Vorrichtungen. Sehr verbreitet sind Blechröhren von 
15 bis 20 cm Durchmesser, welche, innen häufig mit einer Klappe 
zum Schliessen versehen, unter der Decke vom Zimmer aus in’s 
Freie führen. Meistens sind zwei bis drei solcher Köhren auf 
zwei Wände vertheilt; zuweilen finden sich ähnlich konstruirte 
Holzkasten oder thönerne Drainröhren, welche die Kommunikation 
zwischen Zimmer- und Aussenluft herstellen. In einem Falle 
fand ich die Ventilationsröhren sorgfältig zugestopft! Luftabzug 
durch ein Loch in der Mitte der Stubenecke findet sich in fünf 
Zimmern. Achtmal ist eine Ventilationseinrichtung, so wie sie in 
den „Erläuterungen zu den fünf Entwürfen für einfache 
Schulhäuser“ empfohlen wird, in Verbindung mit der Heizungs¬ 
anlage eingerichtet worden und bewährt sich recht gut. Es muss aber 
doch betont werden, dass die Achtsamkeit der Lehrer in viel 
höherem Grade für Reinheit der Schulluft Gewähr leistet, als die 
schönste Lüftungsanlage und dass ganz gewöhnlich die älteren 
Lehrer auf ausgiebiges Oeffnen der Fenster — was schliesslich 
doch die Hauptsache bleibt — nicht annähernd ein solches Gewicht 
legen, wie die jüngere Generation, denen auf dem Seminar in er¬ 
freulichster Weise das Bedürfniss nach reiner Luft anerzogen ist. 

Untersuchungen der Schulluft nach der Pettenkofer’schen 
Methode habe ich nur in drei Klassen in Wittingen und Hankens- 
büttel angestellt. Die Ergebnisse weichen in keiner Beziehung 
von dem anderwärts auch Gefundenen ab und ich kann von ihrer 
Veröffentlichung um so eher Abstand nehmen, als solche einmalige 
Beobachtungen sehr von Zufälligkeiten, Temperaturdifferenzen 
zwischen Aussen- und Innenluft und dergl. abhängen und daher 
einen sicheren Rückschluss auf gute oder schlechte hygienische 
Beschaffenheit der Schulzimmer nicht ohne Weiteres zulassen. 
Ich habe sodann Versuche gemacht mit dem von Wolpert kon- 



Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 83 


struirten und von Wolpert selbst und Anderen (Tischler, 
Fizia) mehr oder weniger warm empfohlenen Luftprüfer. Ich 
kann aber dies Instrument, wo wissenschaftliche Genauigkeit in 
Frage kommt, in keiner Weise empfehlen; es ist eine für Laien 
sehr interessante und auch unterrichtende, wissenschaftlich ange¬ 
hauchte Spielerei, auf deren Resultate aber, wie wiederholte Ver¬ 
suche in demselben Zimmer oder der Vergleich mit den Ergeb¬ 
nissen der Pettenkofer’sehen Methode zeigen, keinerlei Ver¬ 
lass ist! 

h. Subsellien. 

Neue Subsellien mit veränderlicher Distanz haben nur die 
fünf Schulklassen der Stadt Wittingen und zwei Dorfschulen; alle 
anderen haben unveränderliche Distanz und zwar natürlich sämmt- 
lich Plusdistanz. Ich habe mich der Mühe unterzogen, die sämrat- 
lichen Maas^e aller Subsellien zu ermitteln. Es ist eine unfrucht¬ 
bare Arbeit und ich halte es für vollständig überflüssig, die Maasse 
dieser alten, weder nach festen Prinzipien, noch nach irgend wel¬ 
cher Kenntniss der Maassverhältnisse des kindlichen Körpers, 
sondern lediglich nach dem Gutdünken irgend eines Dorftischlers, 
häufig aus den • vorhandenen Brettern noch älterer Bänke und 
Tische recht und schlecht zusammengeschlagenen Subsellien, im 
Einzelnen anzuführen! Es mag genügen, dass die meisten in allen 
Dimensionen zu gross sind, dass namentlich die Distanz in einzel¬ 
nen Klassen ganz unzulässig hohe Werthe — bis zu 24 cm! — 
erreicht und dass auf den wenigsten Bänken eine ungezwungene 
natürliche Körperstellung beim Schreiben möglich ist. Ich lege 
nun der Subsellienfrage für die ländliche Volksschule mit der ge¬ 
ringen Zahl der Schreibstunden nicht annähernd einen so hervor¬ 
ragenden Werth bei, wie für höhere Schulen; ich halte es 
für übertrieben, wenn man mit Rücksichtslosigkeit 
von allen Schulen die sofortige Beschaffung von Sub¬ 
sellien neueren Systems verlangen wollte, denn es 
giebt wichtigere und dringlichere hygienische Auf¬ 
gaben zu lösen. Ich halte auch eine unverrückbare Plus¬ 
distanz von einigen cm, wie beispielsweise bei der preussischen 
„Normal-Schulbank“ nicht für durchaus verwerflich. Aber selbst 
mit all diesen Konzessionen und mit Herabschraubung der An¬ 
sprüche auf das denkbar bescheidenste Maass habe ich doch in 
meinen Tabellen die Subsellien von 44 Prozent aller Schulklassen 
als „schlecht“ bezeichnen müssen! Es lässt sich leider nicht ver¬ 
kennen, dass wir in der „Subsellienfrage“ etwas zurückgeblieben 
sind und dass die Volksschulen anderer Länder, namentlich Sach¬ 
sens, Oesterreichs und der Schweiz in Beseitigung der alten, un¬ 
brauchbaren Subsellien ein viel schnelleres Tempo eingeschlagen 
haben und bei Neuanschaffungen viel weitergehende Anforderungen 
zu erfüllen haben, als die preussische Schulverwaltung für 
nöthig hält. 

Uebrigens würde ein verhältnissmässig grosser Theil der un¬ 
zweckmässigen Schulbänke durch geringe Abänderungen in brauch¬ 
baren Zustand zu versetzen sein, wenn dem Kreismedizinalbeamten 



84 


Dr. Langerhans. 


ein grösserer und vor Allem unmittelbarer Einfluss auf die Schul¬ 
hygiene zustande. Denn bei der jetzigen Einrichtung, wo die 
Anordnungen der Regierung erst auf dem Umweg durch den 
Schulvorstand dem ausflihrenden Handwerker zukommen, wird dem 
letzteren der Kernpunkt, auf den es bei einer solchen Reparatur 
ankommt, überhaupt gar nicht klar, so dass die wunderlichsten 
Missverständnisse und Missgriffe Vorkommen, welche bei persön¬ 
licher Besprechung mit dem Kreisphysikus leicht zu vermeiden 
wären. — 

i. Reinlichkeit der Schulzimmer. 

Ein eigentlich schmutziges Schulzimmer habe ich 
nur einmal angetroffen; bei allen übrigen war innerhalb der¬ 
jenigen Grenzen, welche von der Schulaufsichtsbehörde verlangt wer¬ 
den, für Reinlichkeit gesorgt worden. Ich muss mich hierbei auf das¬ 
jenige beziehen, welches in dem Kapitel „Fussboden“ gesagt worden 
ist und nochmals darauf zurückkommen, dass der Schulstaub und der 
ihm anhaftende, ganz eigenthümliche Geruch erst aufhören werden, 
integrirende Bestandtheile der „Schulluft“ zu sein, wenn durch 
Streichen oder Oelen der Fussboden ein tägliches nasses Auf¬ 
wischen derselben ermöglicht sein wird. Allerdings wird diese, 
sowie jede andere Art gründlicher Reinigung durch die Fussbretter, 
mit denen so viele Schulbänke versehen sind, wesentlich erschwert. 
Erwähnung verdient noch, dass auf und unter dem Schulschrank 
sich häufig der reinigenden Thätigkeit des Besens unzugängliche 
Stellen finden, wo der Staub ein ganz ungestörtes Dasein führt 
und zu dichten flockigen Massen zusammengeballt liegen bleibt! Bei 
Neubauten wird man daher zweckmässig auf Anlage eines Wand¬ 
schrankes Bedacht zu nehmen haben. — 

Mit der Reinlichkeit in engstem Zusammenhang steht die in 
letzter Zeit so viel erörterte „Spucknapffrage“. Es ist durch 
Verordnung der Königlichen Regierung bestimmt worden, dass in 
jeder Schulstube Spucknäpfe aufzustellen sind, welche täglich -zu 
reinigen und mit frischem Wasser anzufüllen sind. Es sind aber 
zum Theil recht unzweckmässige Modelle, auf welchen die, des 
ärztlichen Beirathes entbehrenden Schulvorstände verfallen sind. 
Man findet gewöhnliche, flache Porzellanspucknäpfe, die gar nicht 
hinausgetragen werden können, ohne dass der Träger mit dem 
Finger in die Flüssigkeit hineingeräth und auch wohl einen Theil 
des Inhaltes verschüttet oder grosse, kugelabschnittförmige Näpfe 
aus starkem Glase, die allerdings bequem zu entleeren und leicht 
zu reinigen sind, dafür aber, wenn zufällig dagegengestossen wird, 
leicht umkippen; man findet auch zierlich geschweifte Milchglas¬ 
vasen mit so enger Oeffnung, dass das Hineinspucken gar keine 
leichte Aufgabe, eine ordnungsmässige Reinigung aber ganz un¬ 
möglich ist! Als Kuriosum sei erwähnt, dass in der Schule in 
Emmen die drei als Spucknäpfe dienenden flachen Glasbecken in 
eisernen Gestellen ruhend im Mittelgang in der Höhe der Tisch¬ 
platten angebracht waren, wo sie einen ganz widerwärtigen An¬ 
blick darboten und den Knaben zu allerhand Spielereien den will- 
kommsten Anlass boten, nebenbei aber natürlich zu Besudelungen 



Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 


85 


der Kleider des Lehrers und der Schüler führen mussten. Ich 
kann nicht sagen, ob diese widersinnige Einrichtung inzwischen 
beseitigt worden ist. 

Die Spucknäpfe wurden in einigen wenigen Fällen ohne jede 
Füllung, in anderen Fällen mit der beliebten Sandtüllung vorge¬ 
funden, bei Weitem die meisten waren vorschriftsmässig mit Wasser 
angefüllt. Uebrigens waren die Lehrer von der neuen Einrichtung 
durchweg recht wenig erbaut — nicht mit Unrecht, denn ich 
glaube nicht, dass dieselbe, so wie sie faktisch zur Ausführung 
gelangt ist, lange bestehen bleiben kann. Die Spucknäpfe werden 
natürlich nur äusserst selten benutzt; denn im Interesse der Schul¬ 
zucht wird es wohl kein Lehrer dulden, dass jeder Knabe, dem es 
in den Sinn kommt, aufstehen und seinen Platz verlassen darf, um 
einmal in den Spucknapf zu spucken. Es kann sich immer nur 
um diejenigen Schüler handeln, welche an langwierigen Husten 
und Auswurf leiden. Die Zahl solcher Kinder ist aber, wie ich 
festgestellt habe, eine so verschwindend geringe, dass es sehr 
leicht durchführbar, für die Verhütung der Tuberkulose sehr viel 
wirksamer und dem Interesse der Patienten am meisten dienlich 
sein würde, wenn dieselben einem „Schularzt“ vorgeführt und falls 
sie tuberkulös befunden werden sollten, vom Schulbesuch ausge¬ 
schlossen würden. Dasselbe gilt — mutatis mutandis — von der 
Tuberkulose verdächtigen Lehrern, deren zweifelhafter Gesundheits¬ 
zustand einem achtsamen Lokal - Schulinspektor doch nicht unbe¬ 
kannt sein kann. Die Absicht, durch die Aufstellung wasserge¬ 
füllter Spucknäpfe der Tuberkulose entgegenzuwirken, kann, bei 
der Art und Weise, wie diese Massregel seitens der Schulvorstände 
ausgeführt worden ist, ihren Zweck nicht erreichen, muss vielmehr 
zu unerträglichen Missständen führen. Denn selbst bei strengster 
Handhabung der Schulzucht kann es nicht ausbleiben, dass in die 
wassergefüllten Näpfe, die auf dem Fussboden einer stark besuch¬ 
ten Schulklasse autgestellt sind, gelegentlich Kirschkerne, sonstige 
Obstreste, Brotkrümel, Papierschnitzel und dergl. absichtlich oder 
unabsichtlich hineingerathen und dass einmal der eine oder der 
andere Napf überschwappt, umkippt oder auch zertreten wird. 
Man muss es selbst gesehen haben, wie diese Näpfe auf einer 
stets durchfeuchteten Stelle des Fussbodens stehen, wie sie im 
Hochsommer von Insekten umschwärmt werden und von zappelnden 
Fliegen und Fliegen - Kadavern wimmeln, um sich zu sagen, dass 
im Laufe der Jahre der Fussboden an den Standorten der Spuck¬ 
näpfe nothwendig eine nichts weniger als hygienische Beschaffen¬ 
heit nothwendig annehmen muss! Will man die Schulstuben mit 
Spucknäpfen ausstatten, was, schon des Beispiels wegen, ganz 
zweckmässig sein mag, so sind dazu Gläser von der Form der 
Lazareth - Speigläser, aus ästhetischen Gründen von dunkler Farbe, 
auf jeden Fall aber mit einem Deckel versehen zu wählen und 
ihnen ein Platz auf Konsolen an der Wand, wie in einigen öffent¬ 
lichen Gebäuden anzuweisen. Auf jeden Fall zeigt auch 
diese Angelegenheit, dass es nicht möglich ist, hy¬ 
gienische Massregeln für die Volksschule lediglich 



86 


Dr. Langerhans. 


durch Verordnungen von oben herab in wirksamer 
Weise zur Ausführung zu bringen, dass vielmehr 
solche Massregeln, wenn die Art und Weise ihrer 
Ausführung nicht von sachkundiger Seite und zwar an 
Ort und Stelle überwacht wird, in den meisten Fällen 
ihren Zweck verfehlen, ja sogar häufig das Gegentheil 
des Beabsichtigten erreichen werden. 

k. Nebenbenutzung der Schulzimmer. 

Im Kirchspiel Brome findet sich vielfach die Einrichtung, dass 
der Lehrer Sonntags im Schulzimmer eine Andacht abzuhalten 
hat, welche namentlich von den älteren Leuten, welche die weiten 
Wege zum Kirchdorf scheuen, zahlreich besucht zu werden pflegt. 
Es ist gewiss anerkennenswerth, dass in dieser Weise für das 
religiöse Bedürfniss der streng kirchlich gesinnten Bevölkerung 
Sorge getragen wird, umsomehr, als diese Einrichtung wesentlich 
den Gebrechlichen und Kranken zu Gute kommt. Es muss aber 
doch hervorgehoben werden, dass der Benutzung der Schulzimmer 
zu diesem Zwecke ernste hygienische Bedenken entgegenstehen. 
Es ist schon nicht gleichgültig, dass der an und für sich knapp 
genug bemessene freie Raum in einem Schulzimmer durch die 
Bänke, welche für die Theilnehmer der Sonntagsandachten be¬ 
stimmt sind, noch mehr geschmälert wird. Viel wichtiger aber 
ist es, dass alle Bemühungen der Lehrer, durch Fernhalten der¬ 
jenigen Kinder, in deren Häusern ansteckende Krankheiten herr¬ 
schen, der Weiter Verbreitung dieser Krankheiten entgegenzu¬ 
wirken, nothwendig scheitern müssen, wenn die Eltern der kranken 
Kinder Sonntags auf denselben Bänken Platz nehmen, welche am 
nächsten Tage von den Schulkindern benutzt werden sollen! Und, 
wenn es auch ganz unbedenklich ist, wenn altersschwache Leute, 
Emphysematiker und dergl. Sonntags eine Stunde in der Schulstube 
sitzen, so gilt dies doch nicht in gleicher Weise von den Schwind¬ 
süchtigen, von denen doch anzunehmen ist, dass sie in den letzten 
Monaten ihres Lebens die regelmässigsten Besucher dieser An¬ 
dachten sein werden. Als ein noch viel bedenklicherer und unbe¬ 
dingt der Abhülfe bedürfender Missbrauch muss es aber bezeichnet 
werden, dass an einem Orte sogar die Leichenandachten in der 
Schulstube abgehalten werden, so dass die Wände der Schulstube 
als befremdlichen Schmuck die Todtenkränze tragen!! Wir be¬ 
sitzen in der Provinz Hannover eine Verordnung des Königlichen 
Konsistoriums vom Jahre 1884, worin die Leichenbegleitung durch 
die Schulkinder bei ansteckenden Krankheiten verboten wird, um 
die Schulkinder vor dem Betreten des Sterbehauses und vor Be¬ 
rührung mit den Angehörigen des Verstorbenen zu behüten — 
gewiss sehr zweckmässig; aber diese Vorsichtsmassregeln können 
keinerlei Wirkung haben, wenn das ganze Trauergefolge im Schul¬ 
zimmer zusammen kommt! Die ganze Einrichtung, dass diese 
Sonntags - Andachten, auf deren Beibehaltung die Bevölkerung 
allerdings wohl grosses Gewicht legen dürfte, in den Schulstuben 
stattfinden, ist mit Forderungen der Schulhygiene unvereinbar. 



Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 87 

Das Wünschenswertheste wäre es ohne Frage, wenn irgend 
welche andere Benutzung der Schulzimmer, als zum Unterricht 
überhaupt nicht stattfände. Denn die Untersuchungen der Schul¬ 
luft liefern den Beweis, dass die ausgiebigste Anwendung der 
künstlichen und natürlichen Ventilation, selbst mit thunlichstem 
Offenhalten von Thüren und Fenstern während der ganzen schul¬ 
freien Zeit bei der baulichen Beschaffenheit der meisten Zimmer 
nur eben ausreicht, um bis zum Wiederbeginn des Unterrichts 
eine leidliche Reinheit der Luft herzustellen. Dieser für die Ge¬ 
sundheit der Schulkinder so wichtige Reinigungsprozess muss aber 
durch jede Nebenbenutzung unterbrochen werden. Trotzdem ist 
eine solche vielfach nicht zu vermeiden; namentlich ist für den so 
wichtigen Fortbildungsunterricht für die Handwerkslehrlinge, 
welcher an den grösseren Orten zweimal wöchentlich in den Abend¬ 
stunden stattfindet, kaum ein anderes Lokal zu finden. Auch die 
Uebungen dörflicher Gesangvereine werden meist, und mit Recht, 
in den Schulstuben abgehalten. Bedenklicher ist es jedenfalls, dass 
verhältnissmässig viele Schulstuben als Impflokale* benutzt werden. 
Da aber der Impfarzt in den meisten Fällen nur zwischen Gast¬ 
stube und Schulstube zu w r ählen hat, so wird Jeder, der mit den 
hygienischen Schattenseiten dörflicher Gaststuben bekannt ist, der 
Wahl der Schulstube den Vorzug geben und es wird Sache des 
Impfarztes und der Organe der Sanitätspolizei sein, den unleug¬ 
baren Gefahren einer solchen Benutzung der Schulzimmer durch 
umsichtige Thätigkeit vorzubeugen. — 

Hervorgehoben sei schliesslich noch, dass bei zu dürftiger 
Beschaffenheit der Lehrerwohnung nicht nur der Lehrer bei seinen 
scliriftlichen Arbeiten, sondern auch die Lehrerfrau mit einem 
Theil ihrer wirtschaftlichen Thätigkeit, Wäsche-Plätten und dergl. 
gern auf die Schulstube tibergreift und dass aus diesem Grunde 
eine den jetzigen Verhältnissen des Lehrerstandes angemessene 
Beschaffenheit der Lehrerwohnungen als eine notwendige Forde¬ 
rung der Schulhygiene bezeichnet werden muss. — 

Trinkwasser. 

46 Schulhäuser besitzen einen Brunnen, zum Theil allerdings 
in Gemeinschaft mit anderen Häusern. 4 Schulhäuser, und zwar 
ausschliesslich solche, bei denen die Anlage eines Brunnens auf 
grosse Schwierigkeiten stossen würde, sind auf die Benutzung 
fremder Brunnen angewiesen. In Steinhorst endlich wird das 
Wasser des Lachteflusses benutzt. Die Beschaffenheit der Brunnen 
ist sehr verschieden. Die ältesten Brunnen bestehen aus einem 
Kessel, der aus Feldsteinen ohne jedes Bindemittel zusammengefügt 
ist und aus dem das Wasser mittelst der bekannten Wippe oder 
bei tieferem Wasserstande mittelst einer Winde heraus befördert 
wird. Man findet ausserdem aus Sandsteinplatten zusammengefügte, 
oder aus Backsteinen gemauerte, neuerdings mit Vorliebe aus 
Zementringen bestehende Brunnenkessel, daneben auch einige 
Abessynier. Zum Verdecken eines Brunnens und Anlage einer 
Pumpe können sich die Schulvorstände in einer unbegreiflichen, 



88 


Dr. Laugerhans. 


hartnäckigen Vorliebe für die, jeder Verunreinigung so leicht zu¬ 
gängigen offenen Brunnen, meist nur schwer entschliessen. Die 
Trinkwasserverhältnisse, welche ich durch eine sehr grosse Anzahl 
chemischer und bakteriologischer Untersuchungen studirt habe, 
können innerhalb des Rahmens dieser Arbeit nur in ganz allge¬ 
meinen Umrissen gekennzeichnet werden; denn die Güte eines 
Trinkwassers hängt nicht in erster Linie von der baulichen Ein¬ 
richtung und Unterhaltung des Brunnens ab, sondern in viel höhe¬ 
rem Grade von den gesummten Untergrunds Verhältnissen. Diese 
sind durchweg günstig auf dem Haiderücken, wo das Grundwasser 
durchschnittlich recht tief (bis zu 20 m) in reinem, grobkörnigen 
Sande steht, sehr ungünstig dagegen in den Thälern der Ise und 
der Ohra, wo eine mächtige Schicht blauen Thones von spärlichen 
diluvialen Lehm- und Kiesschichten und einem überaus ungünstigen, 
von Schlick- und Moor-Bildungen durchsetzten, an organischen 
Stoffen und Eisenoxyd reichen Alluvium bedeckt ist, in welchem 
der Grundwasserstand ein so hoher ist, dass bei Brunnenbauten 
schon nach welligen Spatenstichen das Wasser von allen Seiten 
hervorquillt. Unter diesen Umständen ist es überaus schwierig, 
gutes Trinkwasser zu gewinnen und man darf an die chemische 
Zusammensetzung desselben nicht zu hohe Ansprüche machen. 
Denn ein Gehalt an organischen Substanzen, an Ammoniak und an 
Chloriden, welcher auf dem Haiderücken auf eine ganz grobe Ver¬ 
unreinigung des Brunnens, vermuthlich auf einen direkten Jauche¬ 
zufluss hindeuten würde, findet sich, namentlich in der Ise-Niede- 
rung ganz gewöhnlich, selbst bei sehr gut gehaltenen Brunnen. 
Andererseits üben doch auch die Bauart und die Art und Weise der 
Unterhaltung der Brunnen einen mächtigen Einfluss auf die Be¬ 
schaffenheit des Wassers aus und in Folge dessen liefern die Schul¬ 
brunnen, auf deren Instandhaltung die Schulvorstände sel¬ 
ten erhebliches Gewicht legen, ganz gewöhnlich das 
schlechteste Wasser im Dorfe. Diese Thatsache veranlasste 
mich, im Jahre 1890 in dem an die Regierung einzuliefernden Jahres¬ 
bericht 10 Schulen namhaft zu machen, deren Brunnen ungeniessbares 
Wasser lieferten, wodurch die Königliche Regierung sich veranlasst 
sah, mich mit Vorschlägen zu beauftragen, wie dem abzuhelfen sei. 
Ich muss es mit Dank anerkennen, dass die Regierung sich meinen 
Vorschlägen, welche sich theils auf Reinigungs- und Herstellungs¬ 
arbeiten, theils auf den Bau neuer Brunnen bezogen, fast durchweg 
anschloss und die Durchführung derselben den betr. Schulgemeinden 
auferlegte. Leider war der Erfolg nicht allerwärts der gewünschte 
und zwar aus dem Grunde, dass dem Kreisphysikus die Möglich¬ 
keit fehlt, die Schulvorstände bei solchen Ausführungen anzuleiten, 
bezw. zu beaufsichtigen! Beispielsweise stand im Dorf Schöne¬ 
wörde, welches im Ganzen an sehr ungünstigen Wasserverhält¬ 
nissen leidet, der Brunnen der Schule gegenüber auf einer tiefge¬ 
legenen Wiese in einer alten, zugewachsenen und verschütteten 
Flussrinne, wo der Wasserstand so hoch war, dass das Wasser 
aus dem offenen Brunnen einfach mittelst Handeimers herausge¬ 
schöpft wurde. An der sehr schlechten Beschaffenheit des Wassers 



Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 89 


war also vor Allem die ungünstige Lage des Brunnens Schuld 
und ich hatte demgemäss Bau eines neuen Brunnens beantragt. 
Das geschah denn auch; aber der neue Brunnen fand seinen Platz 
an derselben Stelle und liefert nun, nachdem durch den Abbruch 
des alten und den Bau des neuen Brunnens die schlick- und 
moorhaltigen Schichten der alten Flussrinne gründlichst durchein¬ 
ander gerührt sind, ein Wasser, welches viel schlechter ist, als 
vorher, vollständig undurchsichtig, von dicken Flocken durchsetzt 
und dunkelbraun, wie ziemlich starker, schwarzer Kaffee. Ich 
habe nunmehr probeweise einen Berckefeld’sehen Kieselguhr- 
filter dort aufgestellt, der wenigstens klar durchsichtiges, wenn 
auch gelblich gefärbtes, ganz appetitliches Wasser liefert. Die 
grösseren Modelle dieser so brauchbaren Filter, wie sie Bercke¬ 
feld liefert, würden demnach ausgedehntere Anwendung verdienen. 
In Wahrenholz hat sich die Schulgemeinde beim Neubau der zweiten 
Schule endlich zu der von mir bisher vergeblich beantragten Tief¬ 
bohrung entschlossen und der Erfolg wird zeigen, ob unter der 
blauen Thonschicht, deren bedeutende Mächtigkeit allerdings durch 
eine vergebliche Bohrung an anderem Orte des Kreises festgestellt 
worden ist, trinkbares Wasser zu finden ist. Sollte dies der Fall 
sein, so würden auch in anderen Orten die Gemeinden zur Vornahme 
von Tietbohrungen zu veranlassen sein. Auf jeden Fall würde 
die Besserung der Trinkwasserverhältnisse für den mit den geolo¬ 
gischen und hydrographischen Verhältnissen des Kreises vertrauten 
Medizinalbeamten ein sehr dankbares Arbeitsfeld sein, dessen 
Früchte nicht nur der Schuljugend, sondern des gegebenen Bei¬ 
spiels wegen, der gesammten Bevölkerung zu Gute kommen wür¬ 
den, wenn nicht durch die Mängel der bestehenden Medizinal- 
Organisation dem Medizinalbeamten nach allen Richtungen hin die 
Hände gebunden wären. 

Eine Anzahl von Missständen, welche dadurch erwachsen, 
dass die Misthaufen oder Jauchegruben in zu grosser Nähe der 
Brunnen angelegt sind, würden bei geregelter ärztlicher Schulauf¬ 
sicht sehr schnell verschwinden. — 

Wünschenswerth ist es, dass das Trinkwasser den Kindern 
leicht zugänglich gemacht wird, wozu sich am besten ein in der 
Eingangshalle aufgehängter Wassereimer mit Trinkbecher eignet. 
Diese Einrichtung habe ich nur einmal vorgefunden; dagegen findet 
sich mehrfach ein am Brunnen festgeketteter Becher. An den 
meisten Orten gehen indessen die Kinder, wenn sie trinken wollen, 
in die Küche des Lehrers, wodurch eine, vom Standpunkte der 
Gesundheitspolizei nicht wünschenswerthe Verbindung zwischen 
Schulkindern uud Lehrer-Wohnung und Familie unterhalten wird.— 

Aborte und Pissoirs. 

Jede Schule ist mit einem Abort und neuerdings auch mit 
einem Pissoir versehen worden. Allerdings ist es häufig weniger 
das Verständnis für die Nothwendigkeit solcher Anlagen, als die 
Zwangslage, die Verordnungen der Regierung ausführen zu müssen, 
was die Gemeinden zur Anlage dieser hygienisch so wichtigen 



90 


Dr. Langerhans: Die gesandheitlichen Verhältnisse etc. 


Anlagen bewogen hat. Demgemäss sind die hygienischen Anfor¬ 
derungen, welche man an ein Abortgebäude auf dem Lande zu 
stellen hat, nur bei etwa 6 Schulhäusern nothdürftig erfüllt, alle 
anderen lassen jedes Verständniss dafür vermissen, dass mensch¬ 
liche Fäkalien ein Gegenstand sind, dessen gleichgültige Behand¬ 
lung unter Umständen die ernstesten Gefahren für Leben und Ge¬ 
sundheit herbeiführen kann! Meist ist weder ein Kübel, noch 
eine Grube vorhanden, sondern die Fäces fallen einfach auf die 
Erde, wo sie liegen bleiben, bis sich im landwirtschaftlichen 
Betrieb des Lehrers dafür eine Verwendung findet. Die Pissoirs 
haben gewöhnlich eine Holz- oder Blechrinne, aber keinerlei Ge- 
fass zum Auffangen des Urins, so dass an dieser Stelle eine be¬ 
denkliche Durchtränkung mit fäulnissfahigem Stoffe entstehen würde 
— wenn eben die Pissoirs regelmässig benutzt würden. Die ganze 
Beschaffenheit vieler Pissoirs zeigt aber nur zu deutlich, dass sie 
kaum je benutzt sind und dem Kundigen ist es nur zu bekannt, 
dass auf dem Lande nicht nur die Jugend, sondern auch die Er¬ 
wachsenen in dem Abraachen derartiger natürlicher Bedürfnisse 
coram publico weder etwas Anstössiges, noch in der Besudelung 
des Bodens etwas Bedenkliches finden. Hier wäre eine strengere 
Handhabung der Schuldisziplin, welche den Kindern ein schick¬ 
licheres und den Regeln der Hygiene mehr angemessenes Verhalten 
von vornherein zur Gewohnheit machen müsste, den Lehrern 
dringend anzurathen. 

Schulhöfe, Schulplätze und Turnplätze. 

Mit Ausnahme von Wittingen und Knesebeck 2 sind aller- 
wärts weite, geräumige Tummelplätze vorhanden, welche in den 
Frei Viertelstunden eifrig benutzt werden. Auch die Turngeräthe, 
welche dort meistens aufgestellt sind, erfreuen sich bei der männ¬ 
lichen Jugend grosser Beliebtheit und nicht nur in den Frei Vier¬ 
telstunden, sondern auch ausser der Schulzeit sieht man die Knaben 
sich fleissig an Reck und Barren üben, wobei sie häufig eine an¬ 
erkennenswerte Gewandtheit zeigen, während die für die Dorf¬ 
jugend besonders wichtigen Ordnungs- und Freiübungen sich ge¬ 
wöhnlich geringerer Beliebtheit erfreuen. — 

Ich schliesse hiermit die Betrachtungen über die 
gesundheitlichen Einrichtungen der Schulgebäude des 
hiesigen Kreises. Dieselben liefern den Beweis, dass 
auch im Kreise Isenhagen, obgleich er nach den spär¬ 
lich vorliegnden Nachrichten aus anderen Gegenden *), 
hinter diesen nicht zurückbleibt, ihnen im Gegentheil 
vielfach überlegen ist, die ländlichen Volksschulge¬ 
bäude eine sehr grosse Zahl zum Theil recht bedeu¬ 
tender hygienischer Mängel besitzen, welche wohl 

*) Erst während des Druckes kommt mir die Besprechung eines Vortrages 
von Dieckmann (Aerztl. Vereinsblatt 1893, 2) über die schulhygienischen 
Verhältnisse des Kreises Franzburg zur Kenntniss. Meine Ansicht, dass es 
anderwärts vielfach noch viel schlimmer um die Schulhygiene bestellt ist, als 
im Kreise Isenhagen, findet auch durch diesen Vortrag Bestätigung. Verf. 



Entscheidungen zum Taxgesetz. 


91 


geeignet sind, die Gesundheit der heranwachsenden 
Jugend zu beeinträchtigen, dass aber die jetzige Or¬ 
ganisation der Sanitätspolizei nicht genügt, um diesen 
Mängeln abzuhelfen. 

(Fortsetzung folgt.) 


Entscheidungen zum Taxgesetz. 

Der Sachverständige ist verpflichtet, bei derihm 
gerichtsseitig aufgetragenen Untersuchung einer zu 
entmündigenden, ausserhalb seines Wohnorts wohnen¬ 
den Person sich vorher über deren Anwesenheit.zu er¬ 
kundigen. Unterlässt er dies, und wird dadurch seine 
Reise eine vergebliche, so hat er diese Resultatlosig¬ 
keit verschuldet und in Folge dessen keinen Anspruch 
auf Gebühren bezw. Reisekosten und Tagegelder. 

Beschluss des Königl. Landgerichts zu Köslin vom 
10. November 1891 und des Königlichen Oberlandes¬ 
gerichts zu Stettin vom 28. Dezember 1891. 

Am 16. Juli 1891 erhielt der Kreisphysikus Dr. L. zu N. 
folgende gerichtliche Vorladung: 

„In Sachen, betreffend die Entmündigung der verehelichten M. zu 
W. soll der Kr.-Phys. San.-Rath Dr. L. als zweiter Sachverständiger 
zugezogen werden. Derselbe wird beauftragt, nach vorheriger Infor¬ 
mation aus den Akten die Provokatin in ihrer Wohnung zu besuchen 
und Bericht zu erstatten, ob die Provokatin transportfähig ist oder ob 
es angezeigt erscheint, dass der Explorationstermin in ihrer Wohnung 
zu W. abgehalten wird.„ 

In Folge dieser Verfügung begab sich der betreffende Kreis- 
phykus am 27. Juli 1891 in die Wohnung der zu entmündigenden 
Person, traf diese aber nicht anwesend, da sie verreist war. Vier 
Tage später machte der Sachverständige sodann einen zweiten 
Besuch und liquidirte hierauf für beide Besuche die taxmässigen Reise¬ 
kosten und Tagegelder. Das Königl. Amtsgericht zu N. lehnte jedoch 
durch Bescheid vom 16. Oktbr. 1891 die Zahlung der Tagegelder und 
Reisekosten für die erste Reise ab, „da die Resultatlosigkeit dieser 
Reise von dem Sachverständigen verschuldet sei.“ Gegen diesen 
Bescheid wurde von dem letzteren bei dem Königl. Landgericht zu 
Köslin Beschwerde erhoben und damit begründet, dass eine Be¬ 
stimmung, die den Sachverständigen zur zuvorigen Anmeldung 
seines Besuchs verpflichte, nicht bestehe, durch eine solche Anmel¬ 
dung auch keineswegs die Anwesenheit der zu entmündigenden 
Person sicher gestellt werde. Bei den Vorbesuchen behufs Ex¬ 
ploration von Gemüthskranken sei ausserdem gerade ein unver- 
muthetes, nicht vorher angemeldetes Eintreffen im Interesse der 
Sache geboten und im vorliegenden Falle ausserdem eine zuvorige 
Benachrichtigung um so weniger angezeigt gewesen, als es sich um 
eine angeblich „nicht transportfähige“ Person gehandelt habe. 

Trotz dieser Begründung wurde die Beschwerde durch Beschluss 
des Königl. Landgerichts Köslin vom 10. Nov. 1891 kostenpflichtig 
zurückgewiesen, 



92 


Entscheidungen zum Taxgesetz. 


„weil sich der Beschwerdeführer vor der ersten Reise nach W. nach 
der Anwesenheit der zu Entmündigenden daselbst bei dem dortigen 
Gemeindevorsteher brieflich erkundigen konnte und die Unterlassung 
dieser Erkundigung als jedenfalls unverzeihlich zu bezeich¬ 
nen ist, so dass die Schuld der vergeblichen Reise den Herrn Be¬ 
schwerdeführer trifft.“ 

Gegen diesen Beschluss wurde seitens des betreffenden Sach¬ 
verständigen Beschwerde bei dem Oberlandesgericht zu 
Stettin erhoben, diese aber durch Beschluss vom 2 3. Dezember 
1891 als unzulässig verworfen, 

„da nach Absatz 2, §. 531 der Givilprozessordnung eine weitere Be¬ 
schwerde gegen die Entscheidung des Beschwerdegerichts nur insoweit 
zulässig ist, als in der letzteren ein neuer selbstständiger Beschwerde¬ 
grund enthalten ist. Diese Voraussetzung trifft im vorliegenden Falle 
nicht zu, da die Entscheidungen des Königlichen Amtsgerichts zu Neu- 
* Stettin vom 16. Oktober 1891 und des Königl. Landgerichts zu Köslin 
vom 10. November 1891 vollständig nicht nur in der Endentscheidung, 
sondern auch in der Begründung derselben übereinstimmen. Nach 
§. 537 der Civ -Proz.-Ordn. ist daher die weitere Beschwerde als un¬ 
zulässig zu verwerfen.“ 

Die im vorliegenden Falle ergangenen gerichtlichen Urtheile 
werden mit Recht die Verwunderung der betheiligten Kreise er¬ 
regen. Jedenfalls mahnen sie zur Vorsicht, um in ähnlichen Fällen 
nicht Gefahr zu laufen, nicht nur eine Reise umsonst gemacht zu 
haben, sondern auch noch den völlig ungerechtfertigten Vorwurf 
eines „unverzeihlichen“ Verhaltens einstecken zu müssen. Soviel 
bekannt, ist eine zuvorige Anmeldung bei derartigen Vorbesuchen 
nirgends üblich und auch nirgends vorgeschrieben, desgleichen 
tragen die gerichtlichen Vorladungen keineswegs einen dahin lau¬ 
tenden Zusatz; aber selbst dann würde es Sache des Gerichtes 
und nicht des Sachverständigen sein, dafür Sorge zu tragen, dass 
die zu untersuchende Person von jenem zu Hause angetroffen 
wird. 

Es darf wohl angenommen werden, dass der hier mitge- 
theilte Fall nicht vereinzelt steht; bei der prinzipiellen Bedeutung 
der Angelegenheit bitten wir daher die Kollegen um Mittheilung 
etwaiger in analogen Fällen gemachten Erfahrungen bezw. ergan¬ 
genen gerichtlichen Entscheidungen. 

b. Durch Abhalten eines gerichtlichen Termins an 
verschiedenen Oerelichkeiten wird dieser nicht unter¬ 
brochen. Es steht dem Sachverständigen daher keine 
Gebühr für die äussere Besichtigung einerLeiche zu, 
wenn diese an einer anderen Oertliclikeit vorgenommen 
wird, wie die unmittelbar darauf folgende Obduktion. 

Beschluss der Strafkammer des Königl. Landge¬ 
richts II zu Berlin vom 23. März 1892. 

Der Kr.-Phys. Dr. F. zu B. war zur Vornahme einer gericht¬ 
lichen Obduktion vorgeladen. Dieselbe begann in der Sterbewoh¬ 
nung mit der Augenscheinseinnahme der Leiche und der Untersuchung 
auf etwaiges Vorhandensein von Blutflecken in den Kleidungs¬ 
stücken u. s. w., während die eigentliche Obduktion an einem andern 
Orte, in der Leichenhalle des Friedhofes, stattfand. Der vorge- 



Entscheidungen zum Taxgesetz. 


93 


nannte Sachverständige liquidirte sowohl für die Leichenbesichti¬ 
gung wie für die Obduktion, erhielt aber nur die Gebühr für die 
letztere von dem Königl. Amtsgerichte in K. zugebilligt. Eine 
hiergegen erhobene Beschwerde wurde von der Strafkammer des 
Königl. Landgerichts in Berlin kostenpflichtig als unbegründet 
zurückgewiesen und lautet das betreffende Urtheil vom 23. März 
v. J. wie folgt: 

„Die Gründe des angefochtenen Beschlusses sind durchaus zutreffende. 
Der Beschwerdeführer war zu einem gerichtlichen Termin vorgeladen, dessen 
Zweck eine Leichenöffnung war; er hatte deshalb drei verschiedene Thätigkeiten 
zu leisten: den Termin wahrzunehmen und zu diesem Behufe alle ausserhalb des 
eigentlichen Bereiches der Leichenöffnung liegenden Erklärungen abzugeben, 
den Leichnam zu besichtigen und denselben zu obduziren. Diese drei Thätig¬ 
keiten und nicht mehr hat er geleistet und ist dafür durch die erhaltene Ge¬ 
bühr von 12 M., abgesehen von den nicht in Frage stehenden Reisekosten, ent¬ 
schädigt worden. Allerdings sind die vom Sachverständigen gerichtsseitig bean¬ 
spruchten Verrichtungen nicht an einem und demselben Orte, sondern in drei 
verschiedenen Lokalitäten erfolgt: an der Gerichtsstelle, in der Wohnung des 
Ermordeten und in der Leichenhalle; so wenig aber der Beschwerdeführer für 
das Erscheinen an Gerichtsstelle, wohin seine Volladung lautete, eine besondere 
Gebühr fordern konnte, hatte er eine solche dafür zu beanspruchen, dass er sich 
in die Wohnräume des Verstorbenen begab. Denn er nahm immer nur denselben 
in mehrere Abschnitte zerfallenden gerichtlichen Termin wahr. Die Leitung 
dieses Termins lag lediglich in den Händen des Richters. Dieser hätte z. B., 
wenn er dies für zweckmässig im Interesse der Sache gehalten hätte, die ge- 
sammte äussere Besichtigung der Leiche in der Sterbewohnung und die Obduk¬ 
tion im engeren Sinne dieses Wortes in der Leichenhalle vornehmen lassen 
können; in diesem Falle wäre es nicht zweifelhaft gewesen, dass der Beschwerde¬ 
führer eine besondere Gebühr aus §. 3, Abs. 2 des Gesetzes vom 9. März 1872 
nicht hätte beanspruchen können. Im gegenwärtigen Falle hat der Richter 
dieses Verfahren nicht beliebt, sondern die äussere Besichtigung in zwei Theile 
zerlegt: eine allgemeine, die in der Sterbewohnung, und eine in’s Einzelne 
gehende, die auf dem Friedhofe stattfand. Hierzu war er berechtigt, und er 
hat nicht etwa dadurch einen zweiten neben dem ersten herlaufenden gericht¬ 
lichen Termin anberäumt. Dazu war er gar nicht im Stande, denn der Termin 
hatte an Gerichtsstellc, wohin die Sachverständigen geladen waren, begonnen, 
wurde in der Grunauerstrasse fortgesetzt und auf dem Kirchhofe vollendet. Er 
ist nicht unterbrochen worden, um inzwischen einen anderen Termin stattfinden 
zu lassen, als welcher sich eine während der Terminsdauer erfolgende Testa¬ 
mentsaufnahme dargestellt haben würde, sondern das gesammte gerichtliche Ver¬ 
fahren hat von Anfang bis zu Ende dem einen von vornherein in’s Auge ge¬ 
fassten Ziele, der Leichenöffnung des B., gedient, und es haben nur die 
Zwecke der Untersuchung es nothwendig gemacht, dass dies in drei verschie¬ 
denen Räumlichkeiten erfolgen musste. So wenig der Beschwerdeführer dafür 
eine Vergütung hätte beanspruchen können, wenn er sich in drei verschiedene 
Zimmer des Gerichtsgebäudes hätte begeben müssen, so wenig erwächst ihm ein 
Anspruch aus dem Umstande, dass der Richter ihn veranlasst hat, sich in drei 
verschiedene Gebäude zu begeben. Erst wenn die von ihm zurückzulegcnden 
Entfernungen eine Länge von 2 Kilometern im Sinne der hierfür massgebenden 
Vorschriften überschritten haben würden, wäre ein Recht zur Forderung von 
weiteren Reisekosten entstanden. Dies ist in vorliegender Sache nicht der Fall 
gewesen. Eine Gebühr aus §. 3, Abs. 2 a. a. 0. hätte dem Sachverständigen 
nur dann zugestanden, wenn von ihm eine andere Besichtigung als die innerhalb 
des Rahmens des für ihn anberaumten Termines liegende gefordert wäre. Hätte 
er also vielleicht noch eiue zweite in demselben Hause liegende Leiche in Augen¬ 
schein nehmen müssen, so wäre in der That der erste Termin unterbrochen ge¬ 
wesen und es hätte ein zweiter Termin selbst dann stattgefunden, wenn sich 
sämmtliche in beiden Terminen stattgehabten Vorgänge in einem und demselben 
Raume abgespielt hätten. Allein, derartiges ist nicht in Rede. 

In dieser Sache hat sich nicht das Geringste ereignet, was einem andern 
Zwecke als dem der Besichtigung und Oeffnung des B.’schen Leichnams 



94 


Entscheidungen zum Taxgesetz, 


gedient hätte. Diese ist nur in einem einzigen Termine geschehen, und hätte 
es selbst der Richter für geboten erachtet, den Termin in noch mehr einzelne, 
in noch mehr verschiedenen Lokalitäten vor sich gehenden Abschnitte, als hier 
geschehen, zu zerlegen. Wäre der Richter sogar, was hier nicht geschehen, 
dabei zweckwidrig verfahren, so würde dem Sachverständigen daraus nur mög¬ 
licherweise ein Beschwerderecht bei der Dienstaufsichtsbehörde, aber nicht in 
Anspruch auf Zahlung erhöhter Gebühren entstanden sein. 

Der Beschwerdeführer scheint andeuten zu wollen, als habe sich in der 
B.'schen Wohnung die Besichtigung nicht auf die Augenscheinseinnahme 
hinsichtlich der Leiche beschränkt, sondern sei auch weiteres etwa die vorhan¬ 
denen Blutspuren oder dergleichen besichtigt worden. Allein, abgesehen davon, 
dass es äusserst zweifelhaft ist, ob dies eine weitere Liquidation gerechtfertigt 
erscheinen lassen würde, ob nicht viel mehr die Sachverständigen sogar ver¬ 
pflichtet gewesen wären, ohne Mehrentschädigung sich über weitere mit den 
Untersuchungszwecken in Verbindung stehende Fragen, etwa über Beschaffenheit 
und Grösse der soeben erwähnten Blutspuren, über das Viirhandensein von Blut¬ 
flecken in den Kleidungsstücken des Ermordeten und der muthmasslichen Thäter, 
über die Art von in den Händen des Todten befindlichen Haaren u. s. w. gut¬ 
achtlich zu änssern, ist ausweislich des allein hierfür ausschlaggebenden gericht¬ 
lichen Protokolls die Besichtigung in der Sterbewohnung auf die Einnahme 
des Augenscheines an der Leiche beschränkt gewesen.“ 

c. Amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte. 

Wir sind in der Lage, wiederum zwei Fälle mitzutheilen, in 
denen die Frage, ob die Physiker verpflichtet sind, auf behördliche 
Aufforderung Staatsbeamte auf ihren Gesundheitszustand und auf 
ihre derzeitige Dienstbrauchbarkeit von Amtswegen ohne besonderes 
Entgelt zu untersuchen und zu begutachten, in höchster Instanz 
zu Gunsten der Kreisphysiker entschieden ist. In einem Falle 
handelte es sich um die auf Requistion eines Königlichen Haupt¬ 
zollamts ausgeführte Untersuchung und Begutachtung eines Zoll¬ 
beamten mit Rücksicht auf seinen körperlichen und geistigen Zu¬ 
stand. Der Anspruch auf eine Gebühr für das erstattete Gutachten 
wurde zunächst von dem Oberzolldirektor unter Hinweis auf den 
§. 1 Abs. 1 des Gesetzes vom 9. März 1872 und die Verfügung 
vom 16. Februar 1844 als ungerechtfertigt zurückgewiesen, eine 
dagegen eingelegte Beschwerde von dem Herrn Finanzminister 
aber als begründet erkannt und die Auszahlung der von dem Physikus 
beanspruchten Gebühr angeordnet. 

Aehnlich verlief ein zweiter Fall, in dem ein anderer Kol¬ 
lege auf Requisition der Eisenbahnbehörde einen Rangirmeister 
untersucht und begutachtet hatte, aber mit seinem Anspruch auf 
Gebühren unter Hinweis auf die oben erwähnten Bestimmungen 
abgewiesen war. Auch hier erfolgte auf die dagegen eingelegte 
Beschwerde ein für den Physikus günstig lautender Bescheid der 
höheren Instanz. 

Beide Fälle zeigen von Neuem, dass sowohl vom Finanz¬ 
ministerium als vom Ministerium der öffentlichen Arbeiten die Be¬ 
rechtigung des von den Physikern erhobenen Anspruchs auf Ge¬ 
bühren bei Ausstellung amtsärztlicher Gutachten für Staatsbeamte 
rückhaltlos anerkannt wird, auch wenn diese Ausstellung auf Re¬ 
quisition der Staatsbehörde erfolgt. Es ist nun nicht anzunehmen, 
dass diese Entscheidungen ohne Mitwirkung des für die Medizinal¬ 
beamten zuständigen Ressortministers getroffen sind, es würde 



Kleinere Mittheilungen und Referate au» Zeitschriften. 


95 


dies wenigstens dem sonst bei derartigen Fragen üblichen Ge- 
schäftsvertahren vollständig widersprechen. Man kann vielmehr 
mit Bestimmtheit annehmen, dass die betreffenden Entscheidungen 
im Einverständniss mit dem Herrn Kultusminister er¬ 
folgt sind. Dadurch erhalten sie aber für die Medizinalbeamten eine 
besondere Wichtigkeit; denn diese sind darnach entschieden berech¬ 
tigt, in allen hier in Betracht kommenden Fällen, in denen es sich 
nicht um die blosse Ausstellung eines Befundattestes handelt, son¬ 
dern von ihnen ein Gutachten auf amtliche Aufforderung erstattet 
wird, für dieses nach Massgabe des §. 3 Nr. 6 des Gesetzes vom 
9. März 1872 eine Gebühr zu beanspruchen. 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

A. Gerichtliche Medizin. 

Ueber schwere Körperverletzung. (§. 224, D. St. G. B.) Von Kreis- 
physikus Dr. Moritz in Schlochau. Separat - Abdruck aus der Viertcljahrs- 
schrift für gerichtliche Medizin. III. Folge, IV., 2. 

Um die Unsicherheit bei der Beurtheilung der „schweren Körperverletzung“ 
Aöglichst einzuschränken, sind vom Gesetzgeber in dem betreffenden Paragraphen 
des Deutschen Strafgesetzbuches diejenigen Merkmale, welche eine solche Ver¬ 
letzung charakterisiren, namhaft gemacht worden. Trotzdem ist in Bezug auf 
die Auffassung so häufig eine Verschiedenheit bei den Richtern und begutach¬ 
tenden Aerzten zu bemerken, dass es nützlich erscheint, die Interpretation des 
§. 224, dem Sinne des Gesetzgebers gemäss und nach den in den Entscheidungen 
des höchsten Gerichtshofes normirten Grundsätzen zu präzisiren. Verfasser hat 
in der vorliegenden Arbeit seine Betrachtung, nachdem er eine geschichtliche 
Einleitung gegeben und besonders das dem Paragraphen zu Grunde liegende 
Gutachten der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen vom 
24. März 1869 besprochen, an der Hand der äusserst sorgfältig gesammelten 
Littcratur an folgende Stichwörter angckuüpft: 1. Folge, 2. Verlust, 3. wich¬ 
tiges Glied des Körpers, 4. Sehvermögen, 5. Gehör, 6. Sprache, 7. Zeugungsfähig¬ 
keit, 8. erhebliche dauernde Entstellung, 9. Verfall in Siechthum, 10. Verfall 
in Lähmung, 11. Verfall in Geisteskrankheit. 

Wir heben im Folgenden folgende bemerkenswerthe Gesichtspunkte her¬ 
vor: Bei der Beurtheilung der „Folge“ liegt der Fall einfach, wenn eine Ver¬ 
letzung einen der Zustände des §. 224 ira sofortigen Gefolge hatte oder im 
normalen Verlauf der Dinge zu ihr führte, ebenso werden Zweifel kaum ent¬ 
stehen, wenn die Vermittelung zwischen Insult und Erfolg auf psychischem 
Wege, durch Schreck, Furcht u. s. w. geschah. Schwieriger wird die Beur¬ 
theilung der Fälle, bei denen der Insult die faktisch eingetretene Folge nicht 
gehabt hätte, sondern diese nur eintrat durch das Hinzukommen von Nebenum¬ 
ständen, die auf den Heilungsverlauf ungünstig einwirken (Vernachlässigung der 
Wunde, zu schlechte oder zu späte Behandlung, ungünstige allgemeine sanitäre 
Verhältnisse u. s. w.). ln dieser Beziehung hat das Reichsgericht anlässlich 
eines Spezialfalles entschieden: „Entscheidend ist, ob nachweislich der Biss einer 
der Faktoren war, die den Schaden nach sich zogen, und der dann vorhandene 
Kausalzusammenhang wird nur dann aufgehoben, wenn nachweislich letztere auch 
ohne die qn. That den qu. Erfolg gehabt hätten.“ Ferner ist entschieden 
worden, dass als „Folge“ nur ein wirklich vorhandener Zustand, nicht ein, 
wenn auch noch so sicher bevorstehender zu betrachten sei. 

Unter „Verlust“ versteht der vulgäre Sprachgebrauch das physische 
Abhandenkommen; indem der höchste Gerichtshof in seinen Entscheidungen dieser 
Auffassung folgt, führt er weiter ans, dass der Verlusst eines wichtigen Gliedes 
nicht den Fall umfast, wenn dieses Glied als ein Theil des menschlichen 
Körpers physisch dauernd vorhanden, dasselbe jedoch zu seinen Funktionen völlig 
oder in erheblicher Weise unbrauchbar sei. 



96 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


Unter „Glied* versteht man gewöhnlich einen Theil des Ganzen, be¬ 
sonders wenn er gegen das Ganze freie Beweglichkeit hat. Der Aasdruck 
„Glied* umfasst nicht jeden Theil des Körpers, sondern nur einen solchen, 
der eine in sich abgeschlossene Existenz mit besonderer Funktion im Gesammt- 
organismus hat. Fingerglieder sind nur Bestandtheile des Fingers, nicht aber selbst¬ 
ständige Giieder des Körpers. Zu den Körpergliedern wären hiernach Arme, Beine, 
Hände, Füsse, Finger und Zehen zu rechnen. Welches Glied ist nun als „wich¬ 
tiges* zu bezeichnen ? Es kann, wie auch das Reichsgericht entschieden hat, 
für den Begriff der Wichtigkeit nicht der relative Werth in Betracht kommen, 
welchen der Besitz oder Verlust eines Gliedes für den Verletzten nach seinem 
individuellen Lebensberufe, besonders seinem Nahrungs- und Erwerbszweige be¬ 
sitzt und dasselbe Glied kann nicht für den einen werthvoll, für den anderen 
werthlos sein. Es muss für das einzelne Körperglied das Werthverhältniss ent¬ 
scheiden, in welcher cs seiner Wichtigkeit nach zu dem Gesammtorganismus 
steht, ohne Berücksichtigug der besonderen Zwecke, zu denen in konkreto das 
verlorene Glied benutzt wurde. Arme, Beine, Hände und Füsse, vielleicht auch 
der Daumen sind als wichtige Glieder anzusehen, nicht die Finger. 

Wann ist das Sehvermögen als verloren zu betrachten? Der Werth 
des Sehvermögens liegt weniger in der Fähigkeit, Hell und Duukel zu unter¬ 
scheiden, als vielmehr darin, die Gegenstände der Aussenwelt als solche zu 
erkennen und unter einander zu unterscheiden. Es ist also nicht erforderlich, 
dass jede Empfindung für Lichteindrücke ausgeschlossen sei. Das Analoge ist 
auch vom Verlust des Gehörs zu sagen. 

Was den Verlust der Sprache betrifft, so ist zu beachten, dass das¬ 
jenige was die menschliche Sprache kennzeichnet die Artikulation ist un<J 
dass der Verlust der Sprache somit in dem Verlust der Artikulationsfähigkeit 
besteht. Die Sprache ist ja ohne Stimme als Flüstersprache, wenn auch nur 
für kurze Entfernung, immer noch möglich. 

Die Zeugungsfähigkeit im engeren Sinne ist die Fähigkeit des 
Mannes oder Weibes einen befruchtenden Beischlaf auszuführen. Der Verlust 
derselben kann in dem Verlust der Potentia coeundi oder der Potentia generaudi 
resp. concipiendi oder beider zugleich bestehen. Hierher wird man wohl auch 
den Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit rechnen müssen, (wie dies Li man 
that) also die Fähigkeit des Weibes, die konzipirte Frucht in ihrem Uterus zur 
Reife gelangen zu lassen (potentia gestandi) und schliesslich zu gebären (pot. 
parturiendi), zumal solche meist mit Zuständen, welche mit denjenigen der 
Zeugungsunfähigkeit im engeren Sinne Zusammenhängen, verbunden zu sein pflegen. 

Bei der Beurtheilung, ob eine erhebliche dauernde Entstellung vor- 
licge, kann nur die Frage entscheiden, ob der entstellte Körpertheil nach den 
natürlichen und sozialen Lebensverhältnissen des Verletzten, Dritten gegenüber 
derart verdeckt zu werden pflegt, dass der Mangel als wesentliche Entstellung 
nur unter besonderen Umständen nach aussen erkennbar sein und als solche 
empfunden würde. Eine Entstellung liegt im Sinne des Paragraphen nur dann 
vor, wenn sie sich als solche auch unter den Verhältnissen, bei der Bekleidung 
darstellt, unter denen der Entstellte sich in der Oeffeutlichkeit bewegt. Es ist 
unerheblich, ob der entstellte Körpertheil bekleidet oder unbekleidet ist, sofern 
nur die Entstellung als solche auch unter der Bekleiduug augenfällig bleibt. 
„Erheblich* ist die Entstellung, wenn sie den Gesammtorganismus betrifft. 

Bezüglich des „S i e c h t h u m s* hat die wissenschaftliche Deputation begut¬ 
achtet, dass in dem Worte Siechthum der Begriff der Unheilbarkeit nicht unbe¬ 
dingt liegt, dass sich ein bestimmtes Maass für die minimale Dauer eines als 
Siechthum zu bezeichnenden Krankheitszustandes nicht aufstellen lasse. —- 
„Lähmung* ist eine andauernde, wenn auch nicht unheilbare Unfähigkeit, den 
betreffenden Körpertheil zu denjenigen Bewegungen zu gebrauchen, zu welchen 
er von der Natur bestimmt ist. — Bezüglich der „Geisteskrankheit* besagt eine 
Reichsgerichtsentseheidung: „Es kann nicht bestritten werden, dass es auch heil¬ 
bare Geisteskrankheiten giebt, und §. 224 giebt nicht zu erkennen, dass von 
seiner Strafbestimmung nur die Verursachung einer unheilbaren Geisteskrank¬ 
heit getroffen werden solle. Auch bezüglich des Siechthums und der Lähmung 
wird vom Gesetze eine Unheilbarkeit nicht gefordert.* 

Dr. Israel-Medenau (O.-Pr.) 



Kleinere Mitthueilungen und Referate aus Zeitschriften. 


97 


B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Verbreitung der Tollwnth im Deutschen Reiche während des 
Jahres 1891. 

Nach dem im Kaiserlichen Gesundheitsamte bearbeiteten, vor Kurzem 
erschienenen (Verlag von Julius Springer; Berlin 1892) sechsten Jahres¬ 
bericht über die Verbreitung von Thierseuchen im Deutschen 
Reiche ist die Tollwuth unter den Thieren im Jahre 1891 gegen das Vorjahr') 
sowohl dem Grade der Verseuchung als auch der räumlichen Verbreitung nach 
erheblich zurückgegangen; denn es sind an der Seuche erkrankt und ge¬ 
fallen oder getödtet nur 543 Thiere gegenüber 714 im Vorjahre, also 23,9°/ 0 
weniger. Die Fälle vertheilen sich auf 445 Hunde (590 im Vorjahre), 3 Katzen 
(11), 10 Pferde (4), 1 Esel, 70 Rinder (98), 8 Schafe (2), 1 Ziege (0) und 4 
Schweine (9). 

Von der Seuche betroffen wurden ausser den vom Vorjahre her ver¬ 
seuchten Staaten Preussen, Bayern, Sachsen, Sachsen-Weimar, Oldenburg, Sachsen- 
Meiningen, Elsass-Lothringen noch: Schwarzburg-Rudolstadt und Waldeck; wäh¬ 
rend Sachsen-Koburg-Gotha, Reuss j. L. Lippe und Hamburg diesmal verschont 
geblieben sind. Die einzelnen Tollwuthfälle vertheilen sich auf 36 Regierungs¬ 
bezirke (davon 23 in Preussen) und 146 Kreisen (davon 141 in Preussen) gegen 
40 und 178 im Vorjahre. 

Die meisten Tollwuthfälle wurden ebenso wie früher in den Re¬ 
gierungsbezirken Posen (164 gegen 83 im Voijahre), Königsberg (86 gegen 56), 
Gumbinnen (51 gegen 53), Liegnitz (47 gegen 82), Breslau (36 gegen 78), Op¬ 
peln (33 gegen 20) und Bromberg (28 gegen 52) festgestellt. Von den einzelnen 
Kreisen waren von der Seuche am meisten betroffen die Kreise Schrimm (33), 
Mohrungen (29), Pieschen (22), Koschmin (18), Osterode in Ostpr. und Schroda 
{je 17), Wreschen (15). Heilsberg (12), Lyck (11) und Krotoschin (10). Die¬ 
jenigen Kreise, in denen im Vorjahre verhältnissmässig viele Tollwuthfälle vor¬ 
gekommen sind, wurden im Berichtsjahre, abgesehen von dem Kreise Osterode, 
verhältnissmässig wenig oder gar nicht von der Seuche heimgesucht. Das 
Verbreitungsgebiet ist gleichwohl im Allgemeinen dasselbe geblieben: 
Die östliche Grenzzone des Königreichs Preussen, und die an Böhmen grenzen¬ 
den Gebiete des Königreichs Sachsen und der Provinz Schlesien und die west¬ 
lichen Grenzbezirke von Elsass-Lothringen, jedoch sind. Westpreussen, Sachsen 
und Schlesien weniger, Ostpreussen und Posen dagegen stärker verseucht. 

Nach den einzelnen Vierteljahren vertheilen sich die Tollwuthfälle 
wie folgt: 

Es sind erkrankt und gefallen oder getödtet: 
im ersten Vierteljahre 116 Thiere, darunter 108 Hunde und 3 Rinder, 


zweiten 


191 „ 

71 

167 „ 

, 17 * 

dritten 


138 „ 

7} 

84 „ 

T) 41 „ 

vierten 

V 

98 „ 

7) 

86 „ 

, 9 » 


Uebereinstimmend mit den Vorjahren erreichte die Seuche auch im Be¬ 
richtsjahre unter den Hunden im zweiten, unter den Rindern im dritten Viertel- 
jatre ihren höchsten Stand. 

Von je 100 im Reiche an Tollwuth erkrankten Hunden entfielen aut* 


die Provinz Posen . . . 

140 = 

31,46 

°/o 

gegen 

17,46 

[>/ 

Io 

im Vorjahre, 

„ Schlesien . . 

112 

25,17 

J1 

7) 

28,14 

Yf 

7) 

n Ostpreussen . 

103 

23,15 

7) 

V 

11,69 

7) 

n 

das Königreich Sachsen . 

24 = 

5,39 

n 

n 

12,03 

7) 

71 

Elsass-Lothringen . . . 

15 = 

3,37 

n 

n 

1,53 

n 

71 

die Provinz Westpreussen 

14 = 

3,15 

71 

71 

12,03 

n 

71 

das Königreich Bayern 

8 = 

1,80 

* 

n 

10,34 

7) 

71 


Der Grad der Verseuchung hat sich hiernach gegen das Vorjahr in der 
Weise verschoben, dass er in Schlesien, Westpreussen, Bayern und Sachsen abge¬ 
nommen, in Ostpreussen, Posen und Eisass-Lothringen dagegen zugenommen hat. 

Von ansteckungsverdächtigen Hunden wurden auf polizeiliche An¬ 
ordnung getödtet: 1253 gegen 2164 im Vorjahre (42.1 °/ 0 weniger); auf je 
einen wuthkranken Hund kamen somit 2,82 getödtete ansteckungsverdächtige 

*) Vergleiche das betreffende Referat in Nr. 2 dieser Zeitschrift, Jahrg. 
1892 S. 43. 




98 Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

Hunde, gegen 3,67 im Vorjahre. Ausserdem wurden 30 ansteckungsverdäch¬ 
tige Hunde, 79,2 °/ 0 weniger als im Jahre 1890 (144) unter polizeiliche Beob¬ 
achtung gestellt, und 276 herrenlose wuthvcrdächtige Hunde getödtet, 10,7 w / 0 
weniger als im Vorjahre (309). 

In auswärtigen Staaten scheint die Tollwuth nach der dem Berichte 
beigeftlgten Zusammenstellung etwas zugenommen zu haben; in Belgien sind 
z. B. 216 Tollwuthfälle gemeldet gegen 182 im Vorjahre, in Frankreich 1407 
(1221), in Rumänien 68 (49), Schweiz 15 (5); auch in Bulgarien, Italien und 
Oesterreich hat sich die Zahl der verseuchten Ortschaften gesteigert. 

Einschleppungender Toi lwuth aus Russland,Böhmen u. Frankreich 
konnten in einzelnen Fällen bestimmt nachgewiesen werden. 

Die Inkubationsdauer schwankte, soweit eine Feststellung überhaupt 
möglich war, bei Hunden zwischen 6 und 102 Tagen, bei Pferden zwischen 19 
und 63 Tagen, beim Rindvieh zwischen 19 Tagen und 11 Monaten, bei Schafen 
zwischen 25 und 57 Tagen. 

Fälle von Uebertragung der Tollwuth auf Menschen sind 3 
gemeldet, die sämmtlich tödtlieh endigten und zwar je 50 und 59 Tage nach 
dem erfolgten Bisse. Rpd. 


Uebertragungen von Thierseucben auf Menschen im Deutschen 
Reiche während des Jahres 1891. 

Nach dem vorerwähnten Jahresberichte sind im Berichtsjahre 68 Fälle von 
Uebertragungen des Milzbrandes auf Menschen gemeldet (gegen 111 im 
Vorjahre), und 12 Personen der Ansteckung erlegen. Die häufigste Veranlassung 
bildete wieder die Nothschlachtung und das Abhäuten. Unter den erkrankten 
Personen befanden sich 1 Kreisthierarzt, 33 Fleischer und deren Gehülfen. 

Uebertragung des Rotzes auf Menschen hat bei einem Kutscher im 
Kreise Ragnit stattgefunden, der sich bei der Pflege eines rotzkranken Pferdes 
angesteckt hatte. Er erkrankte unter typhösen Erscheinungen und starb nach 
23 tägigem Leiden. An der Leiche fanden sich unter den Augen, um die Nase 
und auf der linken Hand erbsengrosse Gesehwüre mit gelbem Grunde. Ausser¬ 
dem wird noch über drei Fälle von Rotzinfektion berichtet, von denen 2 gleich¬ 
falls tödtlieh verliefen, während in dem dritten Genesung nach 7 Monaten eintrat. 

Uebertragungen der Maul- und Klauenseuche auf Menschen sind 
verschiedentlich beobachtet worden und zwar besonders in Folge des Genusses 
ungekochter Milch seuchekranker Thiere. Die Krankheit zeigte sich dann 
meist in Form eines Ausschlages an den Lippen und der Schleimhaut des Mundes. 
In einigen Fällen war die Infektion durch Melken erkrankter Thiere hervorge¬ 
rufen, bei einer von diesen Personen traten neben Bildung besonders grosser 
Blasen beträchtliche Schwellung der Hände sowie ein heftigeres Allgemein- 
leiden auf. _ Rpd. 


Ueber Anstellung von Bezirkshebammen. Von Kr.-Phys. San.-Rath 
Dr. K o r n f e 1 d - Grottkau. 

Die allgemeine Verfügung vom 6. August 1883, betreffend das Heb¬ 
ammenwesen, ist bekanntlich von verschiedenen Kreisen für nicht verbindlich 
erklärt und die Anstellung von Bezirkshebammen unterlassen worden. Viel¬ 
fach ist gegen die Nothwendigkeit der Anstellung der Einwurf erhoben 
worden, dass ja durch die Anwesenheit einer oder, wie oft, mehrerer frei- 
praktizirender Hebammen das Bedürfniss gedeckt ist. Die Hebamme reicht 
ihre Liquidation bei Zahlungsunfähigen dem Armenverband ein und nach Prü¬ 
fung erfolgt eventuell deren Berichtigung. Für die Nothwendigkeit muss indess 
angeführt werden, dass eine freipraktizirende Hebamme jederzeit fortziehen 
kann, wodurch der Bezirk eine Zeit lang ganz ohne Hebamme bleiben kann, 
und dass sie ausserdem nach dem angeführten Min.-Erl. §. 8, insbesondere An¬ 
merkung 3 im neuen Hebammen - Lehrbuch S. 280 sich gar nicht der unentgelt¬ 
lichen Dienstleistung zu unterziehen braucht. Sie braucht sich dem Risiko nicht 
auszusetzen, nach einer oft sehr schweren Mühe und unter Verwendung einer 
Zeit, in der sie zu einer lohnenderen Praxis vielleicht gerufen worden wäre, 
ihre Liquidation vom Armenverbande abgewiesen zu sehen. Dies gilt allerdings 
nur für die nichtvereidigten Hebammen, seitdem die Vereidigung nicht ange- 



Besprechungen. 


99 


stellter Hebammen nicht mehr obligatorisch *) ist. Ein Fall, wo eine Hebamme 
bestraft worden ist, weil sie — ohne besondere Verpflichtung — eine zahlungs¬ 
unfähige Person nicht entbunden hat, ist mir übrigens nicht bekannt. Nicht 
selten liegt es so, dass in der Nacht zur Hebamme geschickt wird. Sie kann 
keinen Auftrag des Armenvorstandes abwarten und doch soll sie gehen, obschon 
ihr aus Erfahrung bekannt ist, dass sie von der Betreffenden nichts erhält und 
vom Armenverbande nachträglich abgewiesen wird. Das gilt übrigens auch von 
der angestellten Hebamme bezüglich der nur für den täglichen Unterhalt sor¬ 
genden unteren Klasse, die theils nicht zahlen kann, theils böswilliger Weise 
nicht will und gerichtlich nicht zu fassen ist. 

Dürfte es nicht gerecht sein, wenn die Hebamme, die ja in solchen Fällen, 
wo es sich um die Qefahr für zwei Menschenleben handelt, helfen soll, auch 
die Sicherheit hat, für ihre Mühe entschädigt zu werden? 

Die Hebammen sollten nicht bloss bei „notorisch der Armenpflege Anheim¬ 
gefallenen“ (die wohl allermeistens keine Hebammen mehr bedürfen werden), 
und nicht bloss’in einem zweifelhaften „Spezialfall“, sondern in allen Fällen 
von nachgewiesener Unmöglichkeit, gerichtlich zu ihren Gebühren zu kommen, 
durch den Armenverband oder Kreis, je nach der Auffassung der Kreisvertretung, 
entschädigt werden. 


Besprechungen. 

Dr. R. Becker, Medizinalrath und Amtsphysikus in Gotha: Samm¬ 
lung gerichtsärztlicher Gutachten. Berlin 1892. Ver¬ 
lag von S. Karger. Gr. 8°, 116 S. 

Die 28 Gutachten sind von dem Verfasser während seiner zwanzigjährigen 
gerichtsärztlichen Thätigkeit abgegeben worden und behandeln zum Theil Be- 
urtheilungen bei Verbrechen, zum Theil Untersuchungen zweifelhafter Geistes¬ 
zustände. Die Gutachten sind eingehend und sehr geschickt abgefasst und be¬ 
weisen die grosse Kenntniss und Erfahrung des Verfassers auf den einschlägigen 
Gebieten. 

Als Beispiele für Untersuchungen zweifelhafter Geisteszustände sind die 
dem Gerichtsarzte wohl am häufigsten zur Beurtheilung kommenden Formen 
der Verrücktheit ausgewählt, des Verfolgungs-, Querulanten- und Grössenwahnes, 
ferner der erotischen Verrücktheit, der Melancholie, der folie raisonante oder 
chronischen maniakalischen Exaltation, der senilen Atrophie und der Fall eines 
jugendlichen Verbrechers, welcher wegen der äusserlich ganz unkenntlichen Mo¬ 
tive der Unthat psychologisches Interesse bietet. Der Thatbestand und die Ent¬ 
wickelung der Krankheiten sind vom Verfasser in psychologisch richtigster 
Schlussfolgerung hergeleitet. Freilich lässt sich über seine Auffassung des letzt¬ 
genannten Falles streiten. Gewandte Sprache macht das Studium doppelt an¬ 
ziehend. 

Die Auswahl aus dem Gebiete der gerichtlichen Medizin umfasst vier 
Fälle von Kindesmord. Die Fragen über die Möglichkeit der Unkenntniss der 
Angeschuldigten von ihrer Schwangerschaft, über die präzipitirte Geburt, über 
Verletzungen durch die Geburt und durch äussere, absichtlich zugefügte Gewalt, 
über gewaltsame oder zufällige Erstickung der Neugeborenen werden darin be¬ 
sonders behandelt. In drei Fällen von Anklagen auf Mord war durch die Gut¬ 
achten die verbrecherische Ursache des Todes festgestellt, obschon zweimal 
Selbstmord durch Erhängen, einmal durch Ertrinken angenommen war. Eine 
Phosphorvergiftnng wurde durch den Leichenbefund und den chemischen Nach¬ 
weis des Giftes in Substanz bewiesen; ein Gutachten über Raubmord ergeht sich 
ausführlicher über Blutfleckenuntersuchung. Von sechs mitgetheilten Fällen, in 
denen die Anklage auf fahrlässige Tödtung oder Körperverletzung lautete, 
gerichtet gegen Aerzte und Kurpfuscher, beanspruchen zwei, welche dem Ka¬ 
pitel der Gebärmutterzerreissung angehören, wegen der verschiedenen Auffassungen 
der Begutacchter ein besonderes Interesse. 

Das Buch kann jedem Gerichtsarzte empfohlen werden. 

Dr. R u m p - Osnabrück. 

>) Ist nicht zutreffend, denn durch Rundverfügung vom 27. Dezember 1888 
(8. Wernich S. 289) ist die Vereidigung der freipraktizirenden Hebammen obli¬ 
gatorisch. 



Besprechungen. 


100 

Dr. J. L. A. Koch, Direktor der Irrenanstalt Zwiefalten: Die 
psychopathischen Minderwertigkeiten. Ravensburg 1892. 
Verlag von 0. Maier. Zwei Abtheilungen. 337 S. 

Die psychischen Abnormitäten, welche zwischen dem gesunden Geistes¬ 
leben und der ausgesprochenen Geisteskrankheit liegen, — das ist ein Gebiet, 
dessen Ausdehnung sich nach subjektivem Ermessen richtet! Dieses Gebiet will der 
Verfasser näher untersuchen, alle auf demselben vorkommenden psychischen Ab¬ 
weichungen in klinische Gruppen bringen und das Ganze mit dem Namen der 
psychopathischen Minderwerthigkeiten umfassen. Unter diesem Terminus — so 
präzisirt Koch den Ausdruck selbst in der Einleitung zu seinem Buche — 
sollen alle, seien es angeborene, seien es erworbene, den Menschen in seinem 
Personenleben beeinflussenden psychischen Regelwidrigkeiten zusaramengefasst 
werden, welche auch in schlimmen Fällen doch keine eigentliche Geisteskrank¬ 
heit darstellen, welche aber die betreffenden Individuen auch im günstigsten 
Falle nicht als im Vollbesitz geistiger Normalität und Leistungsfähigkeit stehend 
erscheinen lassen. 

Dass der Verfasser eine grosse Kenntniss aller dieser psychopathischen Zu¬ 
stände besitzt, und dass er mit grossem Fleiss und redlichem Bemühen den 
bunten Wirrwarr der hierher gehörigen Krankheitserscheinungen zu ordnen 
sucht, wer wollte Das bestreiten! Und immerhin bleibt eine einheitliche Bear¬ 
beitung dieses forensisch so wichtigen Kapitels ein Verdienst. Ob sich aber der 
Ausdruck psychopathische Minderwerthigkeiten und besonders der Versuch jener 
schematischen Gruppirung des oben skizzirten Materials, welchen der Verfasser 
macht, einen grossen Freundeskreis erwerben wird, das dürfte fraglich sein. Wo 
sich so viele fliessende Uebergänge, so viele Wiederholungen einzelner Krank¬ 
heitszüge bei unbegrenzter Mischung der Symptome in den Einzelfällen finden, 
da hat ein strenges System von vornherein etwas Prekäres. Giebt es doch zur 
Zeit noch nicht einmal für die ausgebildeten Psychosen ein allgemein anerkanntes 
System. Was soll uns bei dieser Sachlage die Systematisirung eines Grenz-, 
eines Uebergangsgebietes zwischen psychischer Normalität und psychischer Er¬ 
krankung ! 

Der Verfasser theilt seine Stoffe: 

1) in die angeborenen Minderwerthigkeiten — das erste Heft des in 
zwei Abtheilungen erschienenen Buches — und 

2) in erworbene psychopathische Minderwerthigkeiten. 

Mit letzteren beschäftigt sich das zweite Heft. Jede der beiden Gruppen 
wird dann in leichtere und schwere Fälle dadurch geschieden, dass die leichten 
als disponirt, die schwereren als belastete Minderwerthige besprochen werden. 

Was wir nun als angeborene psychopathische Minderwerthigkeiten vor¬ 
geführt bekommen, das sind allbekannte Bilder psychischer Sonderbarkeiten und 
Anomalien, welche wir als angeborene Disposition zu Psychosen, als leichte De¬ 
generationsformen, auch wohl als leichte Fälle originärer Verrücktheit zu be¬ 
zeichnen gewohnt sind. Von den erworbenen psychopathischen Minderwerthig¬ 
keiten scheidet der Verfasser eine besondere Gruppe als gemischte psychopathische 
Minderwerthigkeiten aus und rechnet alle jene Fälle dahin, in denen psychische 
Insulte oder durch irgend welche somatische Ursachen bedingte Schwächung des 
Centraluervensystems bei angeborenen Minderwerthigen die Disposition zur Er¬ 
krankung an deutlichen Psychosen erhöhen oder ein Schwererwerden der ange¬ 
borenen Anomalien bedingen. Und Koch’s erworbene Minderwerthigkeiten oder, 
wie der Verfasser der Kürze wegen von S. 200 an zu sagen beliebt: die erwor¬ 
bene psychopathische Belastung? Da kommen zuerst als leichtere idiopathische 
Belastung Krankheitsbilder an die Reihe, welche Jeder trotz des Verfassers Dif- 
ferenzirung für Neurasthenien erklären wird, und zwar für Formen der Neu¬ 
rasthenie, bei denen aber die psychischen Symptome stark ausgeprägt sind. Von 
diesen sollen sich die schwerer idiopathisch Belasteten dadurch unterscheiden, 
dass die psychischen Anomalien ihr Gepräge durch eine allerdings heilbare 
intellektuelle Schwäche bekommen. Ja, solche Krankheitsbilder bezeichnet der 
Psychiater doch als leichte Fälle heilbaren Stumpf- resp. Blödsinns. Dann kommt 
eine Abtheilung der konstitutionell beeinflussten Belastungen (S. 248ff.), 
welche wieder eingetheilt werden in allgemeine konstitutionelle und in spe¬ 
zifisch konstitutionell beeinflusste Belastungen. Der Verfasser zerlegt dann 
wieder die erstere Gruppe (S. 252) in leichtere und schwere Fälle und giebt nur 



Besprechungen. 


101 


zur Erkennung der leichteren Fälle der allgemeinen konstitutionell beeinflussten 
Belastung — ich gebrauche jetzt die eigenen Worte des Verfassers — andere 
Leser finden sich vielleicht eher darin zurecht wie ich seihst — folgenden An¬ 
halt: „Die einzelnen Fälle von allgemein konstitutionell beeinflusster Belastung 
sind nicht nur nach ihren individuellen Verschiedenheiten, sondern auch darnach 
zu beurtheilen, wie weit die einen oder die andern derselben Uubergänge dar¬ 
stellen mögen zu den gemischten und den verbundenen und den verstärkten 
angeborenen psychopathischen Minderheiten.“ Nachdem wir dann noch in einem 
Abschnitt die spezifischen konstitutionell beeinflussten Belastungen, d. h. also 
einfach die psychischen Anomalien kennen gelernt haben, welche durch Intoxi¬ 
kationen (Alkohol, Morphium u. s. w) nach Krankheitszuständen (Influenza etc.) 
und besonderen Lebensvorgängen (Entwicklung, Schwangerschaft etc.) bedingt 
werden können, folgt ein Schlusskapitel C: Die konstitutionellen Belastungen, 
also wieder etwas Anderes, als die konstitutionell beeinflussten Belastungen. 

Kapitel C soll unheilbare Leiden vorführen, welche wieder in allgemein 
konstitutionelle Belastungen — gewöhnliche Schwächeformen — und in spezi¬ 
fische — Hypochondrie und Hysterie — zerfallen. 

Wer sich nun durch das Ganze wirklich durchgelesen hat und wollte 
einen Menschen, der durch Onanie neurasthenisch geworden ist, in Koch’s 
Schema einstellen, der müsste den Kranken also zu den onanistisch konstitutionell 
beeinflussten erworbenen psychopathischen Minderwerthigkeiten resp. zu der 
onanistisch konstitutionell beeinflussten Belastung rechnen: Eine langathmige 
Bezeichnung! 

Auch die therapeutischen Winke des Verfassers lehnen sich an bekannte 
Grundsätze an. 

Das Werkchen bietet also im Ganzen nichts Neues, sondern bringt nur 
Dinge, welche seit Beard, Sander, Westphal, Samt, Krafft-Ebing 
u. A. wohlbekannt geworden sind, in neuer Gruppirung und mit neuen Bezeich¬ 
nungen. Aber in dieser Anordnung findet sich selbst der Irrenarzt mit dem 
besten Willen nicht leicht zurecht; und das Verständnis wird dadurch nicht 
erleichtert, dass in dem Werkchen durch reichliche Ausnutzung von fettem und 
gesperrtem Druck die Aufmerksamkeit bei dem Wichtigeren festzuhalten gesucht 
wird. Wir können ja den Ausdruck psychische — nicht psychopathische — Min¬ 
derwertigkeit für die psychischen und somatischen Eigentümlichkeiten be¬ 
halten, welche ausserhalb dos psychisch Normalen liegen und zu den leichtesten 
krankhaften Affektionen hinül erleiten. Für das Verständniss ist es unseres Er¬ 
achtens nach aber weit werthvoller, wenn wir darin leichte Formen von Entar¬ 
tungspsychosen resp. Paranoiasehen, denen sich dann die psychischen Anoma¬ 
lien anschliessen, welche, ohne zu ausgesprochenem Irrsinn zu führen, durch In¬ 
toxikationen, Erschöpfungszustände u. dergl. bedingt worden sind. Die Dege¬ 
nerationsanomalien sind ja in den letzten Jahren in ihren verschiedenen Erschei¬ 
nungsformen gründlich studirt, so dass wir die leichtesten Formen, deren psychische 
Abneigung nur eine Disharmonie des geistigen Seins zeigt, ebensogut, wie die 
verschiedenen Grade des Schwachsinns kennen gelernt haben. Behalten wir 
doch den Rahmen, in dem wir bisher das von Koch Besprochene unterzu¬ 
bringen gewohnt waren. Die Psychiatrie ist schon lange mit einer Fülle der 
Bezeichnung für Gleiehwerthiges belastet! Es thut uns deshalb eine Verein¬ 
fachung der Terminologie, keine Einführung neuer Namen für bisher Bekanntes 
Noth. Dr. Kühn- Uslar. 


Dr. B. Ascher: Zur staatlichen Beaufsichtigung der 
Irrenanstalten. Berlin 1893. Verlag von S. Karger. 
36 Seiten, gross 8°. 

Verfasser knüpft in seiner Schrift an die bekannten Vorgänge der letzten 
Monate an und berichtet zur Belehrung für diejenigen Kreise, welche noch 
immer der Ansicht sind, dass bei uns Vergewaltigungen von gesunden Personen 
von Seiten der Irrenärzte in den Anstalten Vorkommen, über die zur Zeit be¬ 
stehenden gesetzlichen Bestimmungen. Dieselben erstrecken sich über die Ein¬ 
richtung und Verwaltung von Irrenanstalten; ganz besonders ausführlich ist das 
Kapitel des Aufnahmeverfahrens und der Entmündigung behandelt. Am Schlüsse 
der lesenswerthen Arbeit fasst Verfasser seine Vorschläge betreffend die Aus¬ 
dehnung der staatlichen Aufsicht u. s. w. in folgenden Sätzeu zusammen, die 



102 Besprechungen. 

Übrigens theilweise auch schon früher von anderer Seite aofgestellt worden 
sind: 

1. Es ist eine Zentralbehörde für das preussische Irren wesen zu schaffen, 
welche aus einem erfahrenen Irrenanstaltsleiter, einem höheren Verwaltungs¬ 
beamten und einem technischen Beirath zusammengesetzt ist. Dieser Behörde 
liegt ausser den sub 2 anzuführenden Pflichten eine Begutachtung aller Pläne, 
welche neu einzurichtende Irrenanstalten sowie die Umänderung bestehender 
betreffen, ob. Sie hat ferner ein stetes Augenmerk darauf zu richten, ob die 
von den dazu verpflichteten Verbänden gemachten Aufwendungen für die Irren¬ 
pflege den Bedürfnissen genügen. Sie hat alle Neuerungen in der Irrenpflege 
zu versorgen und der Ordnung der Verpflegungsart geisteskranker Verbrecher 
und verbrecherischer Geisteskranker ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. 

2. Die öffentlichen Irrenanstalten werden in fünfjährigen Fristen, die 
Privatanstalten einmal alljährlich von der Zentralbehörde besichtigt. 

3. Das Aufnahmeverfahren ist möglichst zu vereinfachen. Erforderlich 
ist zur Aufnahme das Attest eines approbirten Arztes, in welchem dargethan 
wird, dass die Aufnahme der betreffenden Person in eine Irrenanstalt uothwendig 
ist. Ausser den Polizei- und Gerichtsbehörden müssen die Ehegatten, Ange¬ 
hörigen, der Vormund, das Vormundschaftsgericht und die Armenpflege zur Auf¬ 
nahmerequisition berechtigt sein. 

4. Ueber jede Aufnahme eines Geisteskranken hat die Anzeige an die 
Staatsanwaltschaft zu erfolgen (Geschieht auch jetzt schon. Ref.). Eine Entmündi¬ 
gung der Geisteskranken in den öffentlichen Irrenanstalten hat nicht nothwendiger 
Weise stattzufinden; die in den Privatanstalten befindlichen Geisteskranken 
müssen entmündigt werden, sobald sie als unheilbar erkannt sind, bezw. ihre 
Heilung binnen einer festzusetzenden Zeit nicht zu erwarten ist. 

Ders. 


Deutscher Hebammen-Kalender fDr das Jahr 1893. V. Jahrgang. 
Berlin 1893. Verlag von Elwin Staude. 12°. 

Der vorliegende Jahrgang des Deutschen Hebammen - Kalenders für 1893 
enthält neben anderen Erweiterungen als wichtigste die von Gleitsmann- 
Wiesbaden kurz und zweckmässig zusammengestellten Pflichten und Rechte 
der Hebammen nebst den hauptsächlichsten Unterschieden des alten 
und neuen Lehrbuchs. Zu erwähnen wäre etwa Folgendes: Bei Kapitel Wohn¬ 
sitz (S. 2) müssten die in Klammer gesetzten Worte lauten: „auf dem Lande 
meistens der Amtsvorsteher bezw. auch Bürgermeister“: bei Kapitel „Geburten- 
Verzeichniss“ (S. 8) wäre wohl hinzuzufügen „bezw. das Tagebuch selbst einzu¬ 
senden“, wie es ganz zweckmässig in den meisten Bezirken eingeführt ist. 
Im Uebrigen sind die Rechte der Bezirkshebammen (S. 25) noch immer nicht 
überall, zumal in diesem Umfange, statutarisch geregelt, weil seitens der Re¬ 
gierungen ein Zwang auf die Hebammenbezirke nicht ausgeübt werden kann. 

Recht praktisch sind auch die Anweisung zur Ernährung und 
Pflege der Kinder, die zehn goldenen Regeln von Prof. Leopold, 
der Diätzettel und die Meldebriefe an den Arzt. Ob die Bezugs¬ 
quellen nicht besser fortzulassen wären, will ich dahingestellt sein lassen, 
jedenfalls können sie die Hebamme leicht zu einer durch das neue Lehrbuch 
noch besonders streng verbotenen selbstständigen Anordnung bezw. Verordnung 
verleiten. Ferner dürfte die Hebamme ihre Klienten in erster Reihe auf die 
nächstgelegene Apotheke bezw. Drogenhandlung zu verweisen haben. 

Besonders erörtern muss ich aber die im Vordruck über den Gebrauch 
des Kalenders gegebene Anweisung, dass erst nach Vollendung der Ge¬ 
burt und nach Einstellung der Besuche die Tagebuchnotiz und als¬ 
dann das eigentliche Tagebuch auszufüllen ist. Das Hebammen - Tage¬ 
buch ist das urkundliche Journal, das über die Handlungen der Hebammen 
jederzeit Auskunft geben soll, daher sind die Einträge sobald als möglich, in 
der Regel spätestens innerhalb 24 Stunden zu machen. Alle anderen Aufzeich¬ 
nungen, so zweckmässig und lehrreich sie sein mögen, bleiben schwerer kon- 
trolirbare Privatnotizen. Uebrigens erleichtert das Quartformat des Tagebuchs 
die Mitführung in der Hebammentasche behufs sofortiger Eintragung bezw. Vor¬ 
lage vor dem Arzte. Wo dieses Verfahren nicht angeordnet ist, kann wenig¬ 
stens die sofortige Eintragung in die dieselbe Rubriken führende Tagebuchnotiz 



Tagesnachrichten. 


103 


▼erlangt werden. Hierbei wäre die Einführung des früher wohl allgemein 
üblichen Folioformats zu erwägen, das in vieler Hinsicht, z. B. für Zählungen, 
Addiren der Karbolsäure, bequem, auf jeden Fall aber sparsamer gewesen ist. 

Der geringe Preis (1 Mark) ermöglicht jeder Hebamme wenigstens die 
einmalige Anschaffung des Kalenders, die im äussersten Fall auf Kosten der 
Hebammenbezirke zu veranlassen wäre, da der Kalender, wenigstens in je einem 
Exemplare, zu den für die Hebamme erforderlichen Büchern zu rechnen ist. 

Dr. Blokusewski-Daun. 


Tagesnachrichten. 

Der 12. Kongress für innere Medizin findet vom 12. bis 15. April 
1893 zu Wiesbaden statt. Zur Verhandlung werden folgende Themata ge¬ 
langen: Am ersten Sitznngstage, Mittwoch, den 12. April: Die Cholera. 
Beferenten: Prof. Dr. R u m p f - Hamburg und Prof. Dr. Ga ff ky-Giessen. Am 
dritten Sitzungstage, Freitag, den 14. April: Die traumatischen Neu¬ 
rosen. Referenten: Prof. Dr. Strümpell -Erlangen und Prof. Dr. W e r n i c k e- 
Breslau. Ausserdem sind folgende Vorträge bereits angemeldet: Ueber parenchy¬ 
matöse Injektionen bei Tonsülenerkraukungen: Geh. Rath Prof. v. Ziemssen- 
München. — Die Herstellung, Konserrirung und Verwerthung des Immuntoxin¬ 
proteins (Immunprote'idins) zur Schutzimpfung und Heilung bei Infektionskrank¬ 
heiten: Prof. Dr. Emmerich-München. — Ueber den Krebs und seine 
Behandlung: Prof. Dr Adamkiewicz-Krakau. — Zur Chemie des Blutes: 
Prof. Dr. v. Jak sch-Prag. — Ueber die Funktion des Magens: Prof. Dr. 
v. Me ring-Halle. — Ueber die Behandlung einiger Reizerscheinungen und 
Blutungen des Magens: Prof Dr. Flei n er-Heidelberg. — Haben die Karls¬ 
bader Wässer ekkoprotische Wirkung?: Dr. Pollatschek-Karlsbad.— Ueber 
Phloridzinwirkung: Dr. Rosenfeld-Breslau. — Ueber Blutuntersuchungen im 
Gebirge: Dr. Koeppe-Reiboldsgrttn. 


Der XII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie wird 
vom 12.—15. April d. J. in Berlin im grossen Hörsaale des Langenbeckhanses 
stattfinden. Etwaige Vorträge oder Ankündigungen von Demonstrationen sind 
so bald als möglich bei dem ständigen Schriftführer, Herrn Geh. Med.-Rath 
Prof. Dr. Gnrlt (Berlin W., Keithstrasse Nr. 6.) anzumelden. 


Unterrichtskurse für die bakteriologische Ermittelung der Cholera. 
Der Reichskanzler hat unter dem 30. Januar d. J. an sämmtliche ausserpreussi- 
schen Bundesregierungen nachstehendes Rundschreiben erlassen, betreffend die 
Abhaltung von Unterrichtskursen im Kaiserlichen Gesundheitsamte für die bak¬ 
teriologische Ermittelung der Cholera: 

„Bei der vorjährigen Cholera - Epidemie in Deutschland hat sich an man¬ 
chen Orten ein Mangel an Aerzten geltend gemacht, welche im Stande gewesen 
wären, die zur Feststellung der Cholera erforderlichen bakteriologischen Unter¬ 
suchungen auszuführen. Um diesem Missstande für den Fall eines neuen Seuchen- 
ansbruchs vorzubeugen, ist in Aussicht genommen, im Kaiserlichen Gesundheits¬ 
amt durch Abhaltung von Kursen, gleichwie dies im Jahre 1884 geschehen ist, 
Aerzten die Gelegenheit zu bieten, sich für die bakteriologische Ermittelung der 
Cholera auszubilden. Der Beginn der Unterrichtskurse, an welchen je acht Aerzte 
theilnehmen könnten, ist für die erste Hälfte des nächsten Monats in Aussicht 
genommen. Der Unterricht, für welchen je eine Dauer von 14 Tagen vorge¬ 
sehen ist, würde von dem Regiernngs - Rath im Kaiserlichen Gesundheitsamt 
Dr. Petri geleitet und sowohl auf die bakteriologische Erkennung der Cholera, 
als auch auf die Epidemiologie der Seuche erstreckt werden. Für die Theil- 
nahme an den Kursen können nur Aerzte in Betracht kommen, welche sich in 
der bakteriologischen Technik von früher her schon eine gewisse Vorbildung er¬ 
worben haben und im Besitze eines ausreichenden Bakterienmikroskops sind, 
welches zu dem Unterrichtskurse mitzubringen sein würde. Für den Fall, dass 
dortseits der Wunsch bestehen sollte, Aerzte zur Theilnahme an den Unterrichts¬ 
kursen zu entsenden, beehre ich mich dem etc. (der etc., Eurer etc.) ergebenst 
anheimzustellen, die hierfür in Aussicht genommenen Aerzte dem Direktor des 



104 


T&gesn&chrichten 


Kaiserlichen Gesundheitsamts, der den Zeitpunkt der Einberufung nach dem 
Umfang der Betheiligung festzusetzen haben wird, gefälligst bezeichnen zu 
wollen.“ 


Reichsseuchengesetz. Der Entwurf eines Gesetzes, betreffend 
die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten, ist nunmehr 
dem Bnndesrathe zugegangen und im Reichsanzeiger veröffentlicht. Dasselbe 
ist in der heutigen Beilage in extenso abgedruckt. Eine eingehende Besprechung 
des Entwurfes behalten wir uns vor. 


Die Cholera kann im Saalkreis als erloschen angesehen werden. In 
der Provinzialirrenanstalt zu Nietleben sind seit dem 8. Februar keine neue 
Erkrankungen mehr vorgekommen; die Gesammtzahl der Erkrankten seit Auf¬ 
treten der Epidemie stellt sich auf 119 mit 49 Todesfällen. Ausser den ver¬ 
einzelten Erkrankungen in Trotha (5) u. Wettin (1) sind noch 3 solche in Lettin 
und 4 in Kröllwitz mit je einem Todesfall beobachtet worden. 

In Hamburg ist seit dem 21. Januar nur noch eine einzige Erkrankung 
an Cholera vorgekommen; während in Altona die Zahl der Erkrankungen in der 
Woche vom 22.-28. Januar 7 mit 5 Todesfällen, in derjenigen vom 29. Januar 
bis 4. Februar 15 mit 9 Todesfällen und in der Woche vom 5.—11. Februar 11 
mit 4 Todesfällen betrug. 

In Galizien scheint die Seuche völlig erloschen zu sein, wenigstens sind 
seit dem 30. Januar keine Cholera-Erkrankungen mehr zur amtlichen Kenntniss 
gelangt. 

In Pest betrug die Zahl der Erkrankungen vom 22.-28. Januar 16 mit 
11 Todesfälle, vom 29. Januar bis 4. Februar 14 mit 9 Todesfällen. 

Ueber den Stand der Cholera in Russland liegen keine näheren Nach¬ 
richten vor; dagegen wird das Auftreten der Seuche in Marseille (Frank¬ 
reich) gemeldet. 

Im Preussischen Kultusministerium ist am 10. d. M. unter dem Vorsitz 
des Ministerialdirektors Bartsch eine Konferenz zur Berathung von 
Massnahmen gegen die Cholera zusammengetreten, an der Kommissare 
aus den Ministerien für Handel, Landwirthschaft, öffentliche Arbeiten und Me¬ 
dizinalangelegenheiten, der Oberpräsident v. Gossler und der Reg.-Rath Del¬ 
brück aus Danzig theilgenommen haben. Die Verhandlungen dieser Konferenz 
dürften im Zusammenhang stehen mit der vom Deutschen Reich und Oesterreich 
in Anregung gebrachten internationalen Konferenz behufs Berathung 
der gegen die Cholera mit Rücksicht auf den Verkehr zu ergreifenden Mass- 
regeln. Als Versammlungsort dieser Konferenz ist Dresden in Aussicht 
genommen. _ 


Leichenverbrennong. Die freireligiöse Gemeinde in Berlin hat auf die 
an den Minister des Innern gerichtete Vorstellung um Zulassung der Leichen- 
verbrennnng einen von diesem und dem Kultusminister Unterzeichneten ablehnen¬ 
den Bescheid erhalten, in dem es am Schlüsse heisst, „dass die Minister nach 
wiederholter Erwägung der Sache auf dem von ihren Amtsvorgängern einge¬ 
nommenen Standpunkte verharren müssen und daher nicht in der Lage sind, 
dem erneuten Gesuche um Zulassung der Leichenverbrennung weitere Folge 
zu geben.“ 

Auch in der am 3. d. M. stattgehabten Landtagssitzung wurde die vom 
Abgeordneten Dr. Langerhans in Anregung gebrachte Frage der Leichen¬ 
verbrennung vom Herrn Ministerpräsidenten und Minister des Innern Grafen 
zu Eulenburg ablehnend beantwortet. Die Angelegenheit sei aus Anlass der 
Cholera - Epidemie von den Verwaltungsbehörden und betheiligten Ministerien 
von Neuem unter Zuziehung von Sachverständigen und von allem zu Gebote 
stehenden Material auf das Sorgfältigste in Erwägung gezogen, „das Ergebniss 
dieser Erwägung aber dasselbe gewesen, wie dasjenige der Kommission des Ab¬ 
geordnetenhauses im vorigen Jahre: nämlich auf dem Standpunkte zu bleiben, 
dass die Genehmigung zur Leichenverbrennung nicht zu erthcilen sei“. 

Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med -Rath i. Minden i. W. 

C. C. Bmn», Boohdruckerei, Mindun. 



6. Jahrg. 


Zeitschrift 

für 


1893. 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rathu.gerichtl.Stadtphysikus inBerlin. Reg.- und Meduinalrath in Minden. 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalld«rf-lk-rlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlung und Rud. Mosso 

entgegen. 


No. 5. 


Erscheint am 1. und 15. jeden Monats. 
Preis j&hrlioh 10 Mark. 


1 . 


Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen 
und der Schulkinder des Kreises Isenhagen. 

Von Dr. Max Langerhans, Kreispliysikus in Haukensbüttel. 

(Fortsetzung.) 

B. Die Schulkinder. 

Genaue Untersuchungen grösserer Mengen von Schülern ver¬ 
danken wir bekanntlich vor Allem (len in Dänemark und Schweden 
zur Untersuchung der Schulgesundheits - Verhältnisse eingesetzten 
Untersuchungs - Ausschüssen und das klassische Werk, in dem 
Axel Key als Berichterstatter des schwedischen Ausschusses die 
Ergebnisse dieser auf viele Tausende von Schülern ausgedehnten 
Untersuchungen niedergelegt hat, wird iiir ewige Zeiten einen 
Markstein in der Entwickelung der Sehulgesimdheitspiiege bilden. 
Es ist nicht nur die überraschende Fülle neuer und wichtiger 
Thatsachen, mit denen uns diese in grossartigstem Styl vorge¬ 
nommene Untersuchung bekannt gemacht hat, sondern vor Allem 
wird auch die dabei verwendete Methode, namentlich die um¬ 
fassende Verwendung von Maass und Waage bei allen ähnlichen 
Untersuchungen als Muster zu dienen haben. Dagegen wird das 
Zusammenwirken von Schule und Haus, von welchem Key mit 
bestem Erfolg bei Feststellung des Gesundheitszustandes der 
Mittelschüler so ausgedehnten Gebrauch macht, für die ländliche 
Volksschule kaum in Betracht kommen. Denn, wer die schrift¬ 
lichen Elaborate unserer Landleute aus eigener Erfahrung kennt, 
wird mir darin Recht geben, dass auf dem Wege des Zählblätt¬ 
chens, dessen Fragen durch die Eltern beantwortet werden sollen, 
brauchbares Material nicht zu gewinnen ist. Ich bin daher, ebenso 
wie übrigens auch H e r t e 1 bei den dänischen Volksschulen, anders 
verfahren; ich habe die sämmtlichen Schulkinder des Kreises 
selbst untersucht und mich auf die Ergebnisse meiner Unter- 











106 


Dr. Langerhans. 


suchung verlassen, wobei ich natürlich den vorgebrachten Klagen 
der Schulkinder, den Anmerkungen in den Schulversäumnisslisten, 
vor Allem aber auch den Angaben der Lehrer die gebührende 
Beachtung schenkte. 

1. Messung und Wägung. 

Bei der Untersuchung bin ich so verfahren, dass ich zunächst 
bei sämmtliehen Kindern einer Klasse Körperlänge, Brustumfang 
und Gewicht feststellte. Für die Längenmessungen benutzte ich 
einen zusammenlegbaren und leicht tragbaren Messapparat, wel¬ 
chen ich, da mir Virchow’s Reise-Messapparat und Topinard’s 
toise anthropomdtrique nicht geeignet, bezw. zu tlieuer erschienen, 
nach eigenem Modell hersteilen liess. Gemessen wurde nach Ab¬ 
legung des Schuh Werkes — ein Akt, der sich bei der pantoffel- 
bekleideteu Dortjugend mit grosser Leichtigkeit vollzieht. Der 
Brustumfang wurde über dem Hemde, bei Mädchen meistens über 
dem am Unterrock befestigten Leibchen gemessen. Bei der 
Wägung, zu der die gewöhnliche, auf jedem Bauernhüte vorhandene 
Dezimal-Briiekenwaage verwendet wurde, wurden Oberkleider und 
Schuhwerk abgelegt. Maasse unter cm, bezw. Gewichte unter 
1 2 kg wurden vernachlässigt. Die gesummte Zahl der unter¬ 
suchten Kinder der sämmtliehen Schulklassen des Kreises betrug 
2393, davon 1170 Knaben und 1217 Mädchen; dazu kommen noch 
51 nicht den Volksschulen angehörende Knaben im Alter von 14 
bis 17 Jahren, Präparanden, Privatschüler und Schüler der ge¬ 
werblichen Fortbildungsschulen, welche ich ebenfalls untersucht 
habe, da ich die Fortsetzung der Wägungen und Messungen über 
das schulpflichtige Alter hinaus für besonders wichtig liälte wegen 
des Vergleiches mit gleichaltrigen Schüler höherer Lehranstalten. 
Leider ist das mir hierin zu Gebote stehende Material zu klein, 
um für eine zuverlässige Statistik Verwendung zu finden. 

Die Grössen- und Gewichtsverhältnisse der Volksschüler er- 
giebt nachstehende Tabelle: 

Tabelle I. 

Durchschnittdange und Durchschnittsgewicht der Volksschüler, 
i Knaben. Mädchen. 


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12 

101 

j 1.48,0 

- 

-2,5 

; 44 

- 

-2,0 | 

148 

141 

+6,5 45 


-4 

12 1 

140 

144,5 

- 

-5 

47,5 

- 

k& 

164 

! 1+7 

+4 40 

- 


14 

13 

1 142.5 

- 

1 

! 4S 

- 

-0,5 | 

12 

| 145 

—2 40 

J 

n 


Sa. 1170 , , Sa. 1217 





Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 107 


Hierzu ist Folgendes zu bemerken: 

Auffallend könnte zunächst die Abnahme der 14jährigen 
Kinder, welche sich sowohl bei Knaben, wie bei Mädchen in Kör¬ 
perlänge und Gewicht zeigt, erscheinen. Die Zahlen — 13 Knaben 
und 12 Mädchen — sind allerdings nur klein; ich möchte trotzdem 
diese schwächliche Beschaffenheit der 14 jährigen Kinder nicht für 
ein Spiel des Zufalles halten; denn im normalen Verlauf sind im 
Herbst in der Volksschule 14 jährige Kinder überhaupt nicht vor¬ 
handen; es kann sich also bei diesen Kindern nur um irgendwie 
abnorm, körperlich oder geistig zurückgebliebene Individuen handeln, 
welche das Ziel der Volksschule rechtzeitig zu errreichen nicht 
im Stande waren. Es wäre daher unbillig, diese wenigen, zurück¬ 
gebliebenen Kinder als Repräsentanten ihrer Altersklasse ver- 
werthen zu wollen und habe ich sie daher aus der nachfolgenden 
Statistik grundsätzlich ausgeschlossen, ebenso wie die wenigen 
5 jährigen Kinder, so dass stets nur die normalen 8 Jahrgänge der 
Volksschule berücksichtigt werden. Somit sinkt die Zahl der 
Kinder auf 1160 Knaben und 1204 Mädchen. — 

Im Uebrigen zeigt sich die bekannte, durch sämmtliche ähn¬ 
liche Untersuchungen zu der Gültigkeit eines allgemeinen Gesetzes 
erhobene Erscheinung, dass die Knaben im Anfang sowohl grösser, 
als schwerer sind, wie die Mädchen, dass aber bei den letzteren 
in Folge der früher auttretenden Geschlechtsreife eine ungemein 
viel schnellere Entwickelung eintritt. Schon mit 11 Jahren sind 
daher die Mädchen den Knaben an Länge und Gewicht ziemlich 
gleich und lassen sie von diesem Zeitpunkt an in beiden Be¬ 
ziehungen weit hinter sich. Es ist dies ein Unterschied in der 
Entwickelung, der erst nach Ablauf der schulpflichtigen Jahre 
seine endgültige Ausgleichung zu Gunsten der Knaben zeigt. 

Von Interesse ist ferner ein Vergleich mit den Zahlen anderer 
Untersucher, wie sie die nachfolgenden Tabellen zeigen. 

Tabelle II. 

Körperlänge der Knaben verschiedener Nationen. 


iZ 

o 

< 

Jahr 

n Belgier nach 

B Quetelct 

„ Bostoner nach 

B Bowditch 

Ä Italiener nach 

3 Pagliani 

„ Schweden nach 
3 Key 

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w | 

cm cm 

nach Michailoff 
cm ein | cm 

6 

104,6 

111,1 

103,5 

116 

112 

_ J 

_ 

_ 

_ 

_ i 

110,2,111 

7 

110,4 

116,2 

112.6 

121 

115 1 


121,1 

114.0 

120,1 

— 

114,4 116 

8 

116,4 121,3 

118,3 

126 

120 ' 

1 

117,8 

117.7 

120,1 

1 

119.4 121,5 

9 

121,4 

126,2 

123,9 

131 

125 

124,9 

122,8 

121,0 

124,4 

128,5 

124.9 126 

10 

127,3 131,3 

126,4 

133 

130 

127,9 

130.9 

126.6 

129,5 

130,75 

129.1 131 

11 

132,5 

135,4 

129,4 

136 

135 

132,2 

135,6 

129,6 

131,0 

135,06 

132,4 135 

12 

137,5 

140,0 

133,7 

140 

138 

138.1 

140,1 

133,9 

133.5 

139,91 

138,2 138,5 

13 

142,3 145,3 

139,6 

144 

143 

142,6 

145,4 

137,9 

139,9 

143,1 9 

140,7 143,5 


I 







108 


Dr. Langerhans. 


Tabelle III. Körpergewicht der Knaben verschiedener Nationen. 


< 

Jahr 

^ Belgier uach 
<*£ Quetelet 

a 2 

O "fl 

o 

x O 

kg j 

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fl —« 

5 ^ 

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kg 

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3 1 

fl 

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3 ö 

£ 

OO 

kg 

Dänen nach 
*» Hertel 

Moskauer nach 
35 Nestroff 

Russen 

Stadtkinder 

1 Russen 
j Dorfkinder 

Russen 

Fabrikkimler 

p- Hamburger uach 
Kotelmanu 

^ üohlis-Leipzig 
Volksschule 

1 

gl 

btoJZ 
CÖ 3 

Sä 

kg 

nachMichailoff 
kg 1 kg i kg 

6 

17,8 

20,49 

16,7 

: 20,5 

21,0 

j _ 

1 _ 

I 

| _ 

1 

1 _ 

21,4 

20,5 

7 

19,7 

22,26 

19,4 

| 22,8 

2,5 

— 

20,0 

20,5 

j - 

j — 

22,9 

22 

8 

21,6 

24,46 

20,7 

26,2 

24.0 

— 

! 22,0 

22.2 

— 


24,6 

24 

9 

23,5 

26.37 

22,4 

1 29,3 

26,0 

27,78 

24,1 

23,4 

— 

26,89 

26,7 ; 

26,5 

10 

25,2 

129,62 

24.8 

3* >,3 

28,5 

28,52 

27,7 

26,0 

28,0 ! 

28,31 

28,7 ! 

29,5 

11 

27 

31,84 

26,6 

1 32,2 

31.0 

32,21 

30,5 i 

28,2 , 

29,3 | 

30,751 

30,9 

31 

12 

29,0 

34.8!) 

29.3 

34,5 

33,5 

35,44 

33,2 j 

30,0 | 

31,0 

33,941 

34,6 

33,5 

13 

33,1 j 

38,49 

33,0 

37,6 | 

36,5 | 

39,13 

i 

37,6 

i 

31,6 j 

32,5 j 

35,80 1 

35,9 j 

37,5 


Tabelle IV. Körperläuge der Mädchen verschiedener Nationen. 


c 

fl 

•*—> 

< 

.lahr 

„ Belgier nach 

B Quetelet 

n Bostoner nach 

B Bowditch 

„ Italiener nach 

B Pagliani 

n Schweden nach 

3 Key 

„ Dänen nach 

B Hertel 

Russen 

Stadtkinder 

Russen 

Dorfkinder 

Russen 

Fabrikkinder 

0 Gohlis-Leipzig 

3 Volksschule 

0 Isenhagen 

3 Volksschule 

nach 

cm 

Michailoff | 
cm | cm { 

6 

103,1 

1 110,1 

102,2 

113 

112 

1 _ 

. _ 

! _ 

109,3 

1 111,5 

7 

108,7 

115,6 

109,2 

116 

115 

111,6 

113,2 

— . 

113,7 

115 

8 

114,2 

1 120,9 

115,6 

123 

120 

116,4 

117,6 

118,8 

117,7 

119,6 

9 

119.6 

125,4 

120.8 

127 

125 

119,6 

121,6 

123,0 

124,0 

124,5 

10 

124,9 

130,4 

127,3 

132 

130 

125,0 

126,1 

129,5 

128,6 

130 

11 

130,1 

135,7 

181,5 

1 137 

133 

| 129,7 

128,5 

131,0 

133,9 

134,5 

12 

135,2 

141,9 

136,7 

■ 143 

138 

132,9 

133,1 

135,5 

139,5 

141 

13 

140,0 

I 147,7 

142,6 

i 148 

! 146 

I 

138,3 i 

137,8 

139,9 

14ö,l 

147 


i 


Tabelle V. Körpergewicht der Mädchen verschiedener Nationen. 


Alter. 

o ** 

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Dänen nach 
Hertel 

Russen 

Stadtkinder 

1 Russen 
| Dorfkinder 

Russen 

Fabrikkinder 

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Volksschule 

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nach 

Michailoff 

o 


Jahr 

kg 

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kg 

kg 

kg 

kg 

kg 

kg 

kg 

kg 

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19.0 

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19,0 

1 25.0 

23,5 

21.3 

21.3 

— 

24,0 

23,5 

9 

21,0 

25,91 : 

21.9 

26.9 , 

25,5 

22,0 

23.1 

— 

26,2 

25,5 

10 

23.1 

28,29 

24.7 

29,4 

28.0 

25,6 

25,0 

— 

28,5 

29,0 

11 

| 25.5 

31.23 

26,9 

31.9 

30,5 

27,3 

27,1 

— 

31,6 

31,0 

12 

| 29,0 

35,53 

2 5), 5 

35.9 

34,0 

30,3 

29,0 

— 

35,2 

35,0 

13 

32,5 

40,21 

34,:> 

39.6 

38,0 

3H,5 

32,0 ! 

— 

38,6 , 

40,0 


Die. ganz bedeutenden Unterschiede, welche in dem grossen 
Zahlen-Material dieser Tabellen enthalten sind, lassen sich in sehr 










Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 109 


übersichtlicher Weise, wobei allerdings manches interessante und 
wichtige Detail verwischt wird, auf die Art zur Anschauung 
bringen, dass man von jeder Kategorie von Schulkindern durch 
Zusammenfassen aller acht Jahrgänge Durchschnittslänge- und 
-Gewicht berechnet. 

Tabelle VI 


Dnrchschnittslänge und Durchschnittsgewicht der Schulkinder verschiedener 

Nationen. 



Knaben 

Mädchen 

Länge 

cm 

Gewicht 

kg 

Länge 

cm 

Gewicht 

kg 

Belgier. 

124,0 

24,5 

122,0 

23,0 

Amerikaner .... 

128,5 

28,5 

128,0 

27,0 

Italiener. 

123,0 

24,0 

123,0 

23,5 

Schweden. 

131,0 

29,0 

129,5 

29,0 

Dänen . 

127,0 

28,0 

127,0 

27,5 

Sachsen . 

126,5 

28,0 

126,0 

28,0 

Lüneburger .... 

127,5 

28,0 

128,0 

28,0 


Es ist von vornherein klar, dass es in erster Linie Racen- 
Eigenthümlichkeiten sind, welche in den grossen Längen- 
und Gewichts - Unterschieden zur Anschauung gelangen. Und 
wenn die auffallend starke körperliche Entwickelung, welche als 
Stammes - Eigentümlichkeit der germanischen Völker den Römern 
bei der ersten Begegnung in die Augen fiel, sich auch heute noch 
bei den Schulkindern germanischer Abstammung ihren gleichaltri¬ 
gen Genossen romanischen und slavischen Stammes gegenüber 
durch Waage und Gewicht nachweisen lässt, so muss diese beach- 
tenswerthe anthropologische, bezw. ethnologische Thatsache 
den hygienischen Werth dieser Untersuchungsmethode nothwendig 
in hohem Grade beeinträchtigen. Den nordischen Völkern freilich 
hat ihre isolirte Lage es ermöglicht, den germanischen Typus 
verhältnissmässig rein und unvermischt zu bewahren und hier 
mag der von Axel Key nahe gelegte Schluss, dass Zurück¬ 
bleiben der Schulkinder in Länge und Gewicht auf hygienische 
Mängel der betreffenden Schule hinweisen dürfte, berechtigt sein. 
Anders in Deutschland! Denn hier hat das Durcheinanderwirbeln 
der verschiedensten Stämme während der Völkerwanderung, die 
darauffolgende Besiedelung durch die Wenden und das Jahr¬ 
hunderte lange Hin- und Herwogen zwischen diesem Volksstamme 
und den wieder rückwärts drängenden Germanen, dazu allerlei 
Beimengungen romanischen und polnischen Blutes eine so mailich- 
faltige Blutmischung zur Folge gehabt, dass gar nicht anzunehmen 
ist, dass Waage und Maass allerwärts gleiche Befunde geben 
sollten. Thatsächlich ist das Vorkommen von Volksschlägen klei¬ 
neren oder grösseren Körperbaus auf räumlich oft recht eng um¬ 
grenzten Gebieten eine Erscheinung, welche den Militär - Ersatz- 
Kommissionen sehr wohl bekannt ist. Auch im Freiberger Distrikt 
war dem Schulrath Lolise aufgefallen, dass die nach den sächsi¬ 
schen Normalmaassen angefertigten Subsellien durchweg zu gross 
waren und die auf seine Veranlassung vorgenommene Messung und 








110 


Dr. Langerhans: Die gesnndheitlichen Verhältnisse etc. 


Wägung sämmtlicher Schulkinder ergab denn auch, dass sie 
durchschnittlich erheblich kleiner waren, als die Kinder im übrigen 
Sachsen! Es ist ferner bekannt und ja auch nur zu verständlich, 
dass mangelhafte Ernährung und die übrigen Schädigungen sozialer 
und hygienischer Missstände hemmend auf die körperliche Ent¬ 
wickelung ein wirken; es erklärt dies aber nur zum Theil die 
Thatsache, dass die Schüler der höheren Lehranstalten allerwärts 
grösser befunden werden, als die Kinder der Volksschulen und es 
ist nicht unwahrscheinlich, dass auch hierbei vererbte ethnologische 
Eigenthümlichkeiten in die Erscheinung treten. 

Es war mir nun seit langer Zeit bekannt, dass auch in un¬ 
serem Kreise derartige Verschiedenheiten vorhanden sind, dass 
namentlich im Süden und Westen des Kreises die Bevöl¬ 
kerung durchweg längeren Körperbau besitzt, als die 
gedrungener gebauten Bewohner des östlichen, an die 
Altmark angrenzenden Theiles. Ich muss es mir leider ver¬ 
sagen, an dieser Stelle näher einzugehen auf die sehr interessanten 
Thatsachen, welche sich mir bei näherer Prüfung dieser Verhältnisse 
aufdrängten, welche zum grossen Theil aber mehr auf anthropolo¬ 
gischem, als auf eigentlich hygienischem Gebiet liegen. Für diejenigen 
Leser, welche ländlichen Verhältnissen näher stehen, wird es keiner 
näheren Ausführung bedürfen, warum ich bei dieser Betrachtung nicht 
das einzelne Dorf, sondern das Kirchspiel als Einheit zu Grunde legen 
konnte, wobei allerdings von den elf Kirchspielen des Kreises die 
unter 1000 Einwohner zählenden Kirchspiele Ohrdorf, Oesingen, 
Sprackensehl, Steinhorst und Zasenbeck wegen der kleinen Zahl 
der Schulkinder keine Berücksichtigung fanden. Das kleine Kirch¬ 
spiel Isenhagen (300 Einwohner) konnte zu dem räumlich nicht 
von ihm getrennten Hankensbüttel zugezogen werden, so dass 
fünf grössere Kirchspiele: Brome (2825 E.), Knesebeck (2080E,), 
Hankensbüttel - Isenhagen (3244 E.), Wahrenholz (1448 E.) und 
Wittingen (3524 E.) für die Vergleichung übrig bleiben. Ich will 
von Aufführung der Tabellen Abstand nehmen und nur das Schluss¬ 
resultat anführen, dass thatsächlich in Brome und Knesebeck die 
Schulkinder kleiner und leichter sind, als in Wahrenholz, Wittingen 
und Hankensbüttel - Isenhagen, ja, dass diese Differenzen, die sich 
in sehr gleichmässiger Weise, bei Knaben, wie bei Mädchen und 
einige unbedeutende Schwankungen abgerechnet, Jahrgang für 
Jahrgang wiederholen, sehr beträchtliche — bis 3cm und 2 1 j a kg — 
sind. Ich kann ferner anführen, dass die Rekrutirungs-Stamm- 
rollen, welche mir Seitens des Landrathsamts in freundlichster 
Weise zur Verfügung gestellt w r orden, dies Resultat durchaus be¬ 
stätigen, dass z. B. die Rekruten der drei Jahrgänge 1890, 1891 
und 1892 aus dem Kirchspiel Brome durchschnittlich nur 165,0 cm 
lang und 59,5 kg schwer, aus Walirenholz dagegen 168,3 cm lang 
und 62.3 kg schwer waren. Die Ursache dieser Erscheinung ist 
nicht ohne Weiteres festzustellen; die Erklärung, mit der das 
Volk sich der allbekannten Thatsache gegenüber ablindet, dass 
nämlich die Grossen und Kräftigen germanischen und die Kleinen 
und Gedrungenen wendischen Stammes seien, findet durch ge- 



Dr. Friedrich: Maseru und Rüthein. 


111 


schichtliche Nachrichten, soweit sie mir zugängig waren, vorge¬ 
schichtliche Funde und durch das Studium der Orts- und Eigen¬ 
namen nur eine sehr bedingte Bestätigung. Von den übrigen 
Mitteln anthropologischer Forschung, Schädelmessung, genauerer 
Würdigung der Haar- und Augenfarbe u. s. w. habe ich, um die 
Untersuchung nicht zu sehr auszudehnen, mit Bedauern Abstand 
nehmen müssen. Ich bin aber der Meinung, dass eine allgemeine 
Schul - Enquete, wie ich sie für nothwendig halte, auch auf diese 
Verhältnisse wird Rücksicht nehmen müssen; denn die beiden 
Disziplinen, Schulhygiene und Anthropologie haben so viele ge¬ 
meinschaftliche Berührungspunkte, dass ein Handinhandgreifen für 
beide die erspriesslichsten Folgen haben müsste. Zu dem Schul¬ 
mann, dem Arzt und dem Statistiker, welche die Elemente des 
nordischen Untersuchungs-Ausschusses bilden, hätte also als Vier¬ 
ter der Anthropologe hinzuzutreten. Es ist bereits oben ausgeführt 
worden, dass eine solche Enquete, welche festzustellen hätte, wie 
die von Axel Key und Hertel aufgedeckten Entwickelungsgesetze 
sich für unsere Schuljugend gestalten, gleichmässig die verschieden¬ 
sten Bevölkerungsklassen, wohlhabende, ärmere, städtische und länd¬ 
liche, Ackerbau- und Gewerbetreibende Klassen zu berücksichtigen 
haben würde. Ja, man wird noch weiter gehen müssen und nicht 
umhin können auf die von mir betonten örtlichen Unterschiede 
das Augenmerk zu richten. Die Resultate der Messung und 
Wägung, für jeden Schulort inTabellenform zusammen¬ 
gestellt,würden nicht nurunmittel bar praktische Ver- 
werthbarkeitbesitzen,beispielsweisebeiBe8timmung 
der Ausmaasse für Subsellien, sondern sie würden vor 
Allem die Grundlage abgeben für regelmässige, perio¬ 
disch wiederkehrende Messungen und Wägungen sämmt- 
licher Schüler, wie sie nach AxelKey’s denkwürdigen 
Forschungen eine unabweisbare Forderung der Schul¬ 
hygiene bilden, zum wenigsten für alle diejenigen 
Schulen, welche weitgehende Ansprüche stellen an die 
körperlichen und geistigen Kräfte der Schüler. 

(Fortsetzung folgt.) 


Masern und Rötheln. 

Von Kreisphysikus Dr. Friedrich in Landsberg a. W. 

Zur Frage, ob Masern und Rötheln identisch sind, welche 
in Nr. 1 dieser Zeitschrift besprochen ist, bin ich in der Lage 
Material beizubringen, welches meines Erachtens den unzweifel¬ 
haften Beweis bringt, dass beide Krankheiten völlig selbstständige 
Arten sind, wie ja auch Herr Kollege Flatten annimmt. 

Vor etwa 8 Jahren traten hier zwei sehr ausgedehnte Epi¬ 
demien beider Krankheiten neben einander auf. Die Symptome 
beider Krankheiten waren dieselben nur mit dem Unterschiede, dass 
die Rötheln eine durchschnittlich in jeder Beziehung leichtere Er¬ 
krankung darstellten, sodass schwere Röthelfälle den mittelschweren 
Maserfallen glichen. Im Einzelfalle war oft die Diagnose zwischen 
beiden nicht zu machen, sondern nur, wenn ein Kind nachweislich 



112 


Dr. Schlegtendal. 


schon eine der beiden Krankheiten überstanden hatte, oder wenn 
die Quelle der Infektion sicher gestellt war. 

Da die Rötheln viele Jahre vorher nicht aufgetreten waren, 
so nahmen sie eine sehr bedeutende Ausdehnung an und befielen 
die Mehrzahl sämmtlicher Kinder der damals etwa 22000 Ein¬ 
wohner zählenden Stadt, verschonten auch nicht die älteren in den 
obersten Klassen des Gymnasiums. Von den Masern hingegen 
wurden, wie der Regel nach, diejenigen verschont, die die Krank¬ 
heit bereits überstanden hatten. In vielen kinderreichen Familien 
wurde also die Beobachtung gemacht, dass, wenn zufällig die 
Rötheln zuerst eingeschleppt waren, sämmtliche Kinder daran er¬ 
krankten, und dann etwa 2—3—4 Wochen später nur die Jüngeren, 
die bisher die Masern noch nicht gehabt hatten, an dieser Krank¬ 
heit. Ebenso häufig traten auch zuerst die Masern bei den jünge¬ 
ren und einige Wochen später bei den gesammten Geschwistern 
die Rötheln auf. Es wurden auch selbstredend eine Anzahl Fälle 
beobachtet, in denen, wie sich aus den Erkrankungen im Umgangs¬ 
kreise, bezw. in der Schulklasse nachweisen liess, von zwei Ge¬ 
schwistern eines die Masern, das andere fast gleichzeitig die 
Rötheln bekam und beide dann nach zwei Wochen die Rollen 
vertauschten. Durch Hunderte von Fällen wurde also der Nachweis 
geliefert, dass das Ueberstehen der einen Krankheit vor der In¬ 
fektion mit der anderen nicht den geringsten Schutz gewährt. 

Nach jener grossen Röthel-Epidemie sind in meinem Bezirk 
noch einige kleine in ländlichen Ortschaften und vor 2 Jahren 
abermals in der Stadt beobachtet. Die Diagnose stützte sich 
darauf, dass die Kinder befallen wurden, gleichviel ob sie die 
Masern überstanden hatten oder nicht, und wurde dadurch nach¬ 
träglich sicher gestellt, dass in mehreren Fällen später Maser- 
Erkrankungen folgten. — 

Bei dieser Gelegenheit möchte ich daran erinnern, dass es 
ausser der hier in Betracht gezogenen Röthelkrankheit noch andere 
Röthel-Arten giebt. Jene dürfte nach Felix Niemeyer wegen 
ihrer Aehnlichkeit mit Masern am Besten als Maser-Rötheln be¬ 
zeichnet werden. Nach meinen Beobachtungen giebt es sicher 
noch wenigstens zwei Krankheits - Arten dieser Kategorie, die 
übrigens viel seltener und stets eng begrenzt erscheinen. Die 
eine hat mit leichtem Scharlach Aehnlichkeit — Seharlach-Rötheln; 
die andere, die ich in ausgeprägter epidemischer Form zweimal 
beobachtet habe mit je etwa 15 und 8 Fällen, zeigte kreisrunde, 
linsengrosse, spärliche Flecken, ähnlich der Typhus-Roseola, etwa 
20 bis 100 gleichmässig über den ganzen Körper vertheilt. 


Aepfelsaures Zink in amerikanischen Apfelschnitten. 

Mittheilung von Dr. Schlegtendal, Kreisphysikus in Lennep. 

In der Beilage zu dieser Zeitschrift 1892 Nr. IG, Seite 114 
findet sich folgende Rundverfügung des Ministers der u. s. w. Me- 



Aepfelsaures Zink in amerikanischen Apfelschnitten. 


113 


dizinalangelegenheiten vom 28. Juli 1892 — AL N. 6484 — an 
8ämmtliche Königlichen Regierungspräsidenten abgedruckt: 

„Nach einer Mittheilung des Herrn Reichskanzlers ist in den aus Amerika 
eingeführten getrockneten Aepfeln bezw. Apfelschnitten vielfach ein Gehalt von 
äpfelsaurem Zink und zwar zum Theil in solcher Meng^ festgestellt worden, dass 
für die Konsumenten die Gefahr einer (Tesundheitssehädigung entstehen kann. 

Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich um gefällige Anzeige, ob im dortigen 
Verwaltungsbezirk bei der Kontrole über den Verkehr mit Nahrungsmitteln 
derartige Beobachtungen gleichfalls gemacht sind, eventuell in welchem Umfange, 
ob ferner Gesundheitsbeschädigungen durch den Genuss solcher Aepfel bekannt 
geworden, und ob Strafanträge bezw. Bestrafungen auf Grund des Nahniug.s- 
mittelgesetzes, eventuell in welchem Umfange erfolgt sind.“ 

Wohl in Folge dieser Anregung wurden im Sommer v. J. 
seitens der Polizeiverwaltung in Remscheid zahlreiche Proben von 
Apfelschnitten aus den Läden entnommen und zur chemischen 
Untersuchung gebracht. Der Chemiker stellte fest, dass in der 
Mehrzahl dieser Proben äpfelsaures Zink enthalten war. Es wurde 
hieraufhin Strafantrag gestellt, zunächst gegen fünf dieser Händler, 
wegen Vergehens gegen das Nahrungsmittelgesetz, speziell wegen 
„fahrlässigen“ Feilhaltens von gesundheitsschädlichen Nahrungs¬ 
mitteln. Der Termin vor der Königlichen Strafkammer in Elber¬ 
feld fand am 1. Februar 1893 statt. 

Die Angeklagten hatten tlieils keine Ahnung davon gehabt, 
dass ihre Waare zinkhaltig war, theils hatten sie sich zu sichern 
geglaubt durch die Atteste amerikanischer Chemiker, nach denen 
die betreffenden Apfelschnitte zinkfrei seien. Sie hatten selbst 
von der Waare häufig genossen und weder bei sich selbst Schädi¬ 
gungen gemerkt, noch solches von Käufern jemals gehört. 

Die Untersuchung der beiden Chemiker Dr. Will in Elber¬ 
feld und Dr. Kays er in Dortmund hatte übereinstimmend den 
Zinkgehalt nachgewiesen, ferner hatten sie gefunden, dass derselbe 
ganz ausserordentlich schwankte. Es beruht die Zinkaufnahme 
darauf, dass in Amerika die Apfelschnitte auf verzinkten Eisen¬ 
stäben getrocknet weiden. Dieselben bleiben dann möglichst 
weiss, während sie braun oder schwarz werden, wenn sie beim 
Trocknen auf Holz oder unverzinktem Eis.*n lagern. Je nach dem 
Zustand der Verzinkung löst sich nun von dem Zink in der Aepfel- 
säure auf und bleibt an den Apfelsclmitten haften. Es ist klar, 
dass unter diesen Umständen der Gehalt an äpfelsaurem Zink ganz 
beträchtlich schwanken kann, sowohl von Fass zu Fass als auch 
von der einzelnen Apfelschnitte zur anderen desselben Fasses. 
Uebrigens waren stets nur je ca. 200 g einer Probe zusammen 
untersucht, nicht aber einzeln ausgesuchte Apfelschnitte; diese 
Proben hatten ‘bis zu 0,23 °/ 0 äpfelsaures Zink, berechnet zur 
Trockensubstanz, ergeben. 

Unser sachverständiges Gutachten ging davon aus, dass das 
Zink und seine Salze zu den nicht indifferenten Stoffen gehören; 
deshalb sind sie in der Pharmakopoe zu den Separanden gerechnet, 
deshalb sollen die Kautschuck - Mundstücke etc. zinkfrei sein 
(Reichsgesetz vom 25. Juni 1887, §. 2), deshalb dürfen zinkhaltige, 
weil gesundheitsschädliche Farben zur Herstellung von Nahrungs¬ 
und Genussmitteln, welche zum Verkauf bestimmt sind, nicht ver- 



114 


{Die Enttäuschung der Medizinalbeamten. 


wendet werden (Reichsgesetz vom 5. Juli 1887 §. I). Im All¬ 
gemeinen sei der berechnete Zinkgehalt allerdings nicht so hoch, 
dass von ihm ohne Weiteres Gesundheitsschädigungen zu erwarten 
seien. Andererseits könne wohl schon manche Indisposition uner¬ 
kannter Weise mit dem Genuss derartiger Apfelschnitten Zu¬ 
sammenhängen. Am bedenklichsten sei nach unserem Dafürhalten 
der ausserordentlich wechselnde Gehalt an Zink. Während eine 
grosse Zahl von Proben nur Spuren aufweisen, seien andere viel 
reicher daran. Als noch bedeutungsvoller sei die Diiferenz 
zwischen den einzelnen Apfelschnitten anzunehmen, und zwar auf 
Grund der jetzt erst bekannt gewordenen Herstellungsweise und, wie 
mit Wahrscheinlichkeit auch zu befürchten sei, nach den Exposes der 
Chemiker. Es wäre nur zu gut denkbar, dass eine einzelne zink¬ 
reiche Apfelschnitte, ohne weitere Zubereitung, einem Kinde ge¬ 
geben werden könne, oder dass durch ein zufälliges Zusammen¬ 
treffen ein Gericht gerade vorwiegend aus stark zinkhaltigen 
Apfelschnitten zusammengesetzt werde. In solchen Fällen sei 
mit Bestimmtheit eine Einwirkung auf den Körper zu erwarten, 
zumal auch bekannt sei, dass gewisse Personen sehr empfindlich 
auf Zinksalze reagirten. 

Das Gericht erkannte, dass 1. bewiesen sei, dass der Zink¬ 
gehalt die Apfelschnitten zu solchen Nahrungsmitteln zu zählen 
veranlasse, deren Genuss „geeignet ist, die menschliche Gesundheit 
zu beschädigen“, dass aber 2. nicht bewiesen sei, dass die Ange¬ 
klagten „fahrlässig“ gehandelt hätten. Die Unkenntniss sei ent¬ 
schuldbar, entschuldigend sei ferner, dass ihnen niemals faktische 
Gesimdheitsschädigungen bekannt geworden seien. Die Ange¬ 
klagten wurden freigesprochen, und die Kosten aut die Staatskasse 
übernommen. 

Wie mir Herr Dr. Kay sei* aus Dortmund hernach mit¬ 
theilte, seien dort die Angeklagten Anfangs ebenfalls freigesprochen; 
seitdem aber das Feillialten von zinkhaltigen Apfelschuitten 
durch Polizeiverordnung verboten sei. würden nunmehr Strafen 
verhängt, sobald sich in den untersuchten Waaren Zink vorfinde. 


Die Enttäuschung der Medizinalbeamten. 

Unter dieser Ueberschrift bringt die Berliner „Post“ in der 
Beilage zu Nr. 48 ( vom 18. Februar d. J.) einen ihr von beach- 
tenswerther Seite eingeschickten Artikel, dessen nach allen Rich¬ 
tungen hin zutreffenden Ausführungen jedenfalls ■sämmtliche Me- 
dizinalbeamten zustimmen werden. Der Artikel lautet wie folgt: 

n Die Enttäuschung“ der Medizinalbeamten über den diesjährigen Etat des 
Medizinalwesens ist eine allgemeine und berechtigte, nachdem sie der festen 
lÜberzeugung sein durften, dass endlich die auch von uns vor einiger Zeit ge¬ 
schilderte ganz unhaltbare Stellung der Kreisphysiker eine Aenderung erfahren 
wurde. Der Etat bringt aber auch in diesem Jahre keine Summe zur Auf¬ 
besserung der Phvsikatsgehälter. Nicht das langjährige Bedürfnis, nicht der 
eiinnüthige Wunsch aller Parteien, ja nicht einmal das drohende Gespenst der 
(’holera haben dem Herrn Minister eine verliältnissmässig geringe Summe ent¬ 
locken können zur Reform des preussischen Medizinalwesens! Es liegt uns fern, 



Die Enttäuschung der Medizinalbearaten. 


115 


nochmals die Dringlichkeit nachzuweisen: wir wissen, dass hiervon auch die 
Regierung überzeugt ist. Aber wir halten es für unsere Pflicht zu betonen, 
dass die Enttäuschung unserer Sanitätsbeamten vom ganzen Lande getheilt wird. 
Das wird sich bei der Berathung des Medizinaletats zeigen. 

Welchen Zweck hat unter diesen Umständen eine Verfügung des Herrn 
Ministers vom 23. November 1892, welche eine 'U ebersicht über die jähr¬ 
lichen Einnahm cn der Physiker aus ihrer ain11 ichen Ste 11 ung 
für die letzten fünf Jahre einfordert? Soll nach dem Ausfälle die er 
Uebersicht die Nothwendigkeit einer Aufbesserung der Physikate beurtheilt 
werden? Das können wir kaum anuehmen, denn wie würden sonst Tagegelder 
und Reisekosten zu den Einnahmen gerechnet werden dürfen? Und welchen 
Nutzen hat der Staat von der Thätigkeit seiner Sanitätsbeamten in deren Eigen¬ 
schaft als Krankenhaus- oder Eisenbahnarzt? Diese Stellungen pflegt man hier 
und da — auch nicht überall — den Medizinalbeamten zuzuweisen, um ihre 
Existenz zu sichern, aber nicht, um ihnen Zeit zu verschaffen, sich um die 
sanitären Verhältnisse ihrer Kreise zu bekümmern. Nur solche Einnahmen 
können hier in Betracht kommen, die aus sanitätspolizeilichen und event. aus 
gerichtsärztlichen Geschäften fliessen — und das sind sehr winzige Summen. 
Welchen Nutzen hat das Land, wenn die Physiker auf diese oder jene Neben¬ 
einnahmen angewiesen sind und dafür ihre Zeit und Kraft opfern müsseu? 
Unsere Gegenwart verlangt Gesundheitsbeamte, die in erster Reihe 
ihr em Amte leben müssen, und dazu gehört eine gänzliche Umgestaltung 
des heutigen Medizinalweseus. Nicht nur das Gehalt, sondern auch die Stellung 
der Physiker muss eine Aenderung erfahren. Man darf ihnen nicht nur in 
Cholerazeiten Machtbefugnisse auf Wochen verleihen, denn es giebt noch andere 
Feinde zu bekämpfen, welche vielleicht grösseren Widerstand entgegensetzen 
als die Cholera. Der Entwurf des Reichsseuchengesetzes will ja den Kampf 
gegen die Diphterie aufnehmen: Das ganze Reich kann damit zufrieden sein, 
aber man verhehle sich doch nicht, dass ein solcher Kampf aussichtslos ist, 
wenn nicht Beamte ihn ansfechten können. Diphtherie und Typhus erfordern ein 
genaues Studium der sämmtlichen Bedingungen, unter denen die Bewohner eines 
ergriffenen Landes leben, und Sachverständige wissen, welche Zeit und Mühe 
solches Studium kostet. Soll hierzu unser heutiger Physikus befähigt sein? Wir 
müssen es verneinen, denn seine Zeit ist durch Bahnarzt- und Krankenkassen- 
thätigkeit allzusehr in Anspruch genommen. 

Noch wäre es Zeit, eine Summe flüssig zu mächtig um endlich den 
Wünschen des Volkes in dieser Beziehung gerecht zu werden. Wir sind über¬ 
zeugt, dass ein Seuchengesetz nicht durchführbar ist ohne Gesundheitsbeamte 
nach unserem Sinne. Mau wird gezwungen sein, früher oder später eine Aende¬ 
rung vorzunehmen. Aber gerade hier ist jedes Jahr nicht nur, nein jeder Monat 
kostbar, denn die Beamten müsseu sich zunächst einarbeiten und vorbereiten. 

Die Cholera hat an verschiedenen Orten gezeigt, wie die Hülfe der Me¬ 
dizinalbeamten nöthig ist und wie sich deren privatärztliehe Praxis schlecht 
verträgt mit ihren amtlichen Funktionen. Bricht solche Seuche aus, 
dann hat der Physikus keine Z ei t zu anderen Leistungen und 
er wird auch von furchtsamen Leuten gemieden. Und ist die Epidemie beendet, 
dann soll er sich fortwährend bereit halten, wenn eine andere Gefahr droht, 
Gerade die nächsten Jahre werden viel Arbeit bringen, wenn der Entwurf zur 
Bekämpfung ansteckender Krankheiten Gesetz wird. Von Stunde ab werden die 
Kreisphysiker angestrengt, ihrer schweren Verantwortlichkeit gemäss thätig 
sein müssen. 

Sollen wir nicht die Mittel finden, diesen Beamten in einer Weise beizu¬ 
springen, welche Lust uud Freudigkeit am Berufe und eine angemessene 
Stellung gewährleistet?“ 

Leider hat die am 25. Februar stattgehabte Berathung des 
Medizinaletats im Abgeordnetenhause die Aussichten auf eine bal¬ 
dige Medizinalreform nicht sehr verbessert, wenn auch die von 
dem Herrn Minister auf die Anfrage des Abg. Jerusalem, wie 
weit die Medizinalreform gediehen sei, gegebene Antwort etwas 
günstiger lautete, als die seiner Amtsvorgänger in früheren Jahren. 



116 


Kleinere Mittliciluugeu uml Referat« aus Zeitschriften. 


Nach dem in den politischen Blättern gebrachten Bericht sprach 
sich der Herr Minister ungefähr wie folgt aus: 

„Der Gedanke einer Medizinalreform wird im Kultusministerium seit 
Jahren eingehend erwogen. Aber auch hier gilt der Spruch: Am Golde hängt, 
nach Golde drängt doch alles. Es ist eine grosse Schwierigkeit, für neue 
Zwecke erhebliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Wir müssen Rücksicht 
nehmen auf unsere Finunzverhältuisse. Im vorigen Jahre wies besonders das 
Auftreten der Cholera darauf hin, zu erwägen, wie weit wir mit unsern 
jetzigen Ortsorganen der Medizinalverwaltung den im gesundheitlichen In¬ 
teresse zu stellenden Anforderungen gegenüber gerecht werden können. Leider 
muss ich eingestehen, dass zu den ilassrcgeln, wie sie wirklich nothwendig 
gewesen wären, unsere Organe nicht ausreichten; andererseits muss ich aber 
hervorheben, dass namentlich die Ortsorgane der Medizinalverwaltung sich mit 
grosser Umsicht, Hingebung und Pflichttreue den ihnen gestellten schwierigen Auf¬ 
gaben unterzogen haben und daher die vollste Anerkennung verdienen. Dank 
dem Entgegenkommen der Militärbehörde ist es uns aber gelungen, die Cholera 
zu lokalisiren, wie Sie aus der erhaltenen Denkschrift über die Cholera ersehen 
werden. Was nun die Kreisphysici anlangt, so sind diese nicht nur auf die 
900 M. Einkommen aus dem Kreisphysikat angewiesen, sondern beziehen 
daneben noch für gewisse Amtshandlungen Gebühren, deren Höhe allerdings in 
den einzelnen Kreisen sehr verschieden ist. Es kommt ferner in Frage, 
wie weit sie ihre Praxis beibehalten sollen, doch ist dabei auch nicht zu ver¬ 
gessen, dass sie gerade durch die Privatpraxis Fühlung mit dem praktischen 
Leben behalten. Ich erkenne aber an, dass die Sache so schwerlich weiter 
gehen kann. Ich habe mich mit dem Herrn Finanzminister in Verbindung ge¬ 
setzt und es werden zunächst genaue Erhebungen über die materielle Lage der 
Kreisphysiker angestellt. Diese Erwägungen sind noch nicht abgeschlossen, so 
dass ich zur Zeit noch nicht bestimmte Versprechungen geben kann, wann die 
Organisation fertig zu stellen möglich ist. Ganz leicht ist die Sache nicht, denn 
es handelt sich nicht blos um die Gehaltsfrage, sondern um die ganze Stellung 
der Physiker, um die Abgrenzung ihrer Obliegenheiten u. s. w. Seien Sie aber 
überzeugt, dass die Verhältnisse selbst uns drängen, die Organisation fertig zu 
stellen und haben Sie das Vertrauen, dass wir den Ernst der Verhältnisse voll 
anerkennen und die Sache mit aller Energie in die Wege leiten. Mir persönlich 
ist es auffallend, dass auch unter den jetzigen ungünstigen Verhältnissen der 
Andrang zu den Physikatsstellen ein ausserordentlicher ist. Auch jetzt ist 
seitens unserer Kreisphysiker trotz der ungünstigen Besoldung und Stellung 
Grosses geleistet worden, und mit einer Hingabe, Treue und Aufopferung ge¬ 
arbeitet, die ich nirlit genug rühmen kann. Jedenfalls wird die Frage nicht 
von der Tagesordnung verschwinden und hoffe ich, demnächst dem hohen Hause 
eine Vorlage in der Angelegenheit machen zu können.“ 

Wir werden in der nächsten Nummer der Zeitschrift den 
stenographischen Bericht der betreffenden Berathung vollständig 
bringen. 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

A. G e r i c h 11 i c he M c d i z i n. 

Der Einfluss von Bewegungen einer Kimlesleiehe anf deren 
Respirations- und Digestionstractus. Von Dr. Sigismund 31 er kt* 1. Fried- 
reiclis Blätter für gerichtliche .Medizin u. s. w. lieft VI. 1892. 

Die Frage, oh durch Bewegungen, welche mit einer Kindesleiche vorge¬ 
nommen werden, Luft in den Respirationstractus derselben gelangt, hat lange 
Zeit verschiedene Beantwortung erfahren, nachdem zuerst Prof. Runge die 
Aufmerksamkeit auf die Wirksamkeit, richtig ausgeführter S c hu 11 ze ’ scher 
Schwingungen für den Luftgehalt in den Lungen sclieintndter sowie todtgebore- 
ner Kinder gelenkt hatte. Auf dem letzten internationalen Kongress hob 
Ungar hervor, dass Luft in die tieferen Tlieile des Dünndarmes durch künst¬ 
liche Respiration nicht gebracht weiden könne, da die aktiven Bewegungen der 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


117 


Magenmuskulatur nach dem Tode aufhören und daher die Luft aus dem Magen 
nicht weiter befördert wird. Aus den Versuchen, welche von verschiedenen 
Forschern gemacht wurden, geht hervor, dass Bewegungen der Kindesleiche 
durch Transport, Stossen oder Schütteln derselben, durch absichtliches Kornpri- 
miren und Dehnen des kindlichen Thorax, durch wenige Schnitze’ sehe 
Schwingungen keine Luft in den Respirationstractus des Kindes gelangen lassen. 
Nach 15 Schnitze’sehen Schwingungen, sowie durch Pacini’sehe Schwingungen 
wurden die Lungen theilweise, aber ganz ungleichmässig, lufthaltig; nach ca. 30 
Schultze’schen Schwingungen nahm der Luftgehalt der Lungen zu, doch 
wurden die Unterlappen nie in toto lufthaltig und schwiramfähig. Dadurch 
unterscheiden sich die Lungen von den Lungen der Kinder, welche gelebt hatten 
und dann gestorben waren. Die Versuche wurden gemacht bei vor dem Blasen¬ 
sprung abgestorbenen reifen Früchten, zu welchen aus anderen Ursachen keine 
Luft gelangen konnte. Der Gerichtsarzt wird also eventuell, wenn von irgend 
einer Seite angegeben wird, es seien regelrecht ausgeführte Schultze’sehe 
Schwingungen in grösserer Anzahl gemacht worden, den Luftgehalt der Lungen 
auf die Schwingungen zurückführeu und nicht auf Gelebthaben des Kindes. 
Doch wird ein solcher Fall in praxis sich kaum ereignen, da die heimlich Ge¬ 
bärende oder ihre Komplizen Wiederbelebungsversuche kaum vornehmen oder, 
wenn sie solche wirklich vornehmen sollten, sie ohne Effekt ausführen 
würden. Denn für die Zuführung der Luft sind eine grössere Anzahl Schwing¬ 
ungen und die regelrechte Ausführung derselben nöthig. Eine Hebamme wäre 
freilich im Stande, dies mit Erfolg zu thun. Liegen jedoch solche Angaben 
nicht vor, so wird der Gerichtsarzt nach wie vor und mit vollem Rechte den 
Luftgehalt der Lungen (Fäulniss ausgeschlossen) von stattgehabtem Luftathmen 
nach der Geburt ableiten. 

Kann durch Bewegungen Luft in den Digestionstractus des Kindes hin¬ 
eingebracht werden ? Bei Anwendung von ca. 30 S c h u 11 z e ’ sehen Schwingungen 
wird der Magen schwimmfähig, der Anfang des Darmtractus lufthaltig. Paci- 
nische Schwingungen blieben ohne Resultat. Einige wenige (4—5 )Schultze- 
sche Schwingungen konnten nach Haun Luftbläschen in den Magen gelangen 
lassen, nach anderen Experimentatoren jedoch selbst mehr Schwingungen nicht. 
Zweifelhaft erscheint auch, ob durch Schwenken der Kindesleiche Luft in den 
Magen des Kindes gelangt. Mit Rücksicht hierauf wird in Zukunft ein Befuud 
von Luft im Magen eines Neugeborenen erst dann als ein Beweis für das 
extrauterine Leben des Kindes zu verwerthen sein, wenn eine intrauterine 
Luftaufnahme auszuschliessen ist und nach der Geburt keine Luft in den Magen 
durch Schwingungen eingetrieben sein kann. Die eigenen Versuche des Ver¬ 
fassers ergänzen die Thatsachen/dass durch wenige Schultze’sche Schwingungen, 
durch rhythmische Kompressionen des Thorax, Trausportiren, durch Ma rschal 1- 
Hall’sche Schwingungen keine Luft in den Magen oder Darm von Kindesleichen 
gelangen konnte. Dr. Rum p-Osnabrück. 


B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Beitrag zur bakteriologischen Differenzial-Diagnose der Cholera. 
Von Dr. Max Bleisch, Königl. Kreisphysikus zu Kosel, 0.-Schl. Zeitschrift 
für Hygiene und Infektionskrankheiten XIII. 

Eine der zahlreichen durch die jüngste Cholera-Epidemie veranlagten 
und ohne Frage sehr nothwendigen Beschreibungen von „cholera- ähnlichen 
Bakterien“. Das von Bleisch aus den Dejektiouen eines unter cholera-ähn¬ 
lichen Erscheinungen gestorbenen Mannes isolirte Bacterium ist mit dem Koch- 
schen Komma-Bacillus nicht verwandt, es ist ein plumpes, nicht gekrümmtes 
Kurzstäbchen, welches aber namentlich auf der Platte eine sehr bedeutende 
Aehnlichkeit der Kolonien mit denjenigen des echten Komma - Bacillus zu zeigen 
scheint. Freilich ist die bakteriologische Differential - Diagnose nicht schwer; 
das Wachsthum des Blei sch ’ scheu Bacteriums ist bedeutend schneller und 
kräftiger, dasselbe wächst auch bereits bei Zimmertemperatur auf Kartoffeln 
und bringt im Brüfcschrank schon in IG Stunden Gerinnung in der Milch hervor. 
Eine Verwechslung beider Bakterien ist somit wohl ausgeschlossen; mit Recht 
macht Bleisch aber auf die Gefahr aufmerksam, dass, bei dem besonders im 
Anfang so ähnlichen Verhalten beider Organismen auf der Gelat inplatte, etwa 
auf der Platte in der Minderzahl gleichzeitig gewachsene Cholerakolonien über- 



118 


Kleinere Mittheilongen and Referate aas Zeitschriften. 


sehen werden können and mahnt daher zur Vorsicht bei Stellung einer end¬ 
gültigen, negativ ausfallenden Diagnose, ehe man nicht sicher ist, alle ihrem 
Aussehen nach an Cholerakolonien erinnernden Ansiedelungen sachgemäss unter¬ 
sucht zu haben. 

Beachtung verdient ferner die von Bleisch mitgetheilte Thatsache, dass 
er in seinen Kulturen des echten Komma-Bacillus, welche Schmidtmann aus 
einem Cholerafall iin Kreise Gross-Strelitz isolirt hatte, weder Häutchenbildung 
auf Bouillon, noch die Cholerarothreaktion mit Schwefelsäure erzielen konnte 
und dass dieser Komma-Bacillus auch bei Bruttemperatur auf Kartoffeln nicht 
wachsen wollte. Dr. L a n g e r h a n s - Hankensbttttel. 


Zur Kenntnis» des Wachsthums der Kommabazillen auf Kartoffeln. 
Von Dr. Hans Krannhals, prakfc. Arzt, Prosektor am Stadtkrankenhause zu 
Riga. Zentralblatt für Bakteriologie XHI., 2. 

Verfasser sah sich als Prosektor und Bakteriologe am Stadtkrankenhause 
vor die Aufgabe gestellt, den obersten Medizinalbeamten der Stadt Riga durch 
Demonstration von mikroskopischen Präparaten und von Kulturen von dem 
thatsächiichen Vorhandensein der Cholera in der Stadt ad oculos zu demonstriren. 
Auch er musste mit dem Geständniss hervortreten, dass der gefundene und von 
ihm als Cholera - Bacillus angesprochene Bacillus das in den Lehrbüchern be¬ 
schriebene Wachsthum auf saueren Kartoffeln im Brutschrank vermissen liesse. 
Wunderbarer Weise wurde nun Krannhals, so überzeugend seine übrigen 
Kulturen auch ausgefallen sein mochten, die Nachlieferung von Kartoffelkulturen 
zur Bedingung gemacht!!! Er half sich, indem er mit Soda alkalisirte Kar¬ 
toffelscheiben verwendete, auf denen sich dann im Brutschrank, aber auch bei 
Zimmertemperatur typische Kulturen entwickelten, welche dann auch bei den 
Vätern der Stadt die gebührende Anerkennung fanden. Verfasser sah sich nun 
veranlasst, durch eingehendere Versuche die Bedingungen festzustellen, unter 
welchen das Kartoffelwachsthum des Cholera - Bacillus stattfindet. Er verwen¬ 
dete drei verschiedene Kartoffelsorten 1. eine gelbe Kartoffel, Oschlapping ge¬ 
nannt, schottischer Abstammung, 2. Rosenkartoffeln in den beiden bekannten 
Species early rose und late rose, 3. weisse Kartoffeln Rieht er’s Imperator und 
Champion. Uebrigens spielt nach Verfasser die Sorte bei dem Ausfall der Ver¬ 
suche nur insofern eine Rolle, als trockenere Beschaffenheit der Kartoffel das 
Wachsthum zurückhält. Das Ausschlaggebende ist vielmehr die Re¬ 
aktion der Kartoffel. Denn es fand ausnahmslos auf sämmt- 
lichen alkalischen Kartoffeln Wachsthum des Cholera-Bacillus 
statt und zwar nicht nur im Brutschrank, sondern auch bei 
Zimmertemperatur. Dagegen erhielt Verfasser auf den saueren 
Kartoffelscheiben in der Mehrzahl der Fälle auch beiBruttem- 
peratur kein Wachsthum; auf 23 von 136 solchen Scheiben entwickelte 
sich ein Rasen, der indessen zu den Schilderungen anderer Forscher nur wenig 
passte und auf Verfasser den Eindruck machte, als ob weniger die Substanz der 
Kartoffelscheibe, als die mitgeimpfte Gelatine den spärlich erfolgten Bakterien¬ 
wachsthum die Nährstoffe geliefert habe. Nur in vier Fällen sah Verfasser ein 
einigermassen charakteristisches, den klassischen Rotzbazillen ähnlichen Rasen 
entsprechendes Wachsthum erfolgen, hier aber ergab die Kartoffelsubstanz, auf 
Lakmuspapier gedruckt, alkalische Reaktion. Die Ursache dieses Umschlagens 
der saueren Reaktion ist Verfasser nicht im Stande zu erklären. 

Verfasser empfiehlt auf Grund dieser Beobachtungen Vorsicht bei Beur- 
theilung von Kartoffelkulturen und fornmlirt folgende Vorschläge: Bei Angabe 
des Kartoffelwachsthums eines Organismus ist zu notiren: 1. die Sorte der be¬ 
nutzten Kartoffel, 2. die Reaktion derselben nach stattgehabtem Beginn des 
Wachsthums eines Pilzrascns, 3. das Verhalten dergleichen Bakterien auf künst¬ 
lich alkalisirten Kartoffeln. Ders. 

Schutz gegen Seuchen. Ein Weck- und Mahnruf für Stadt und Land. 
Die Unschädlichmachung von Fäkalstoffen und deren Nutzbarmachung zu Dünge¬ 
mitteln. Von Dr. J. H. Vogel, Geschäftsführer des Sonderausschusses für Ab- 
lüllstoffe der deutschen Landwirthschaftsgesellschaft. 

Titel und Preis des frisch und flott geschriebenen Sehriftebens zeigen, 
dass dasselbe für die Massenverbreitung bestimmt ist und dieser Zweck mag die 



Kleinere Mittheilungen und Referate am* Zeitschriften. 


119 


Kürze der Darstellung (14 Seiten), sowie die Art der Beweisführung, welche 
auf vorgebrachte Gegengründe keine Rücksicht nimmt, bestimmt haben. Es ist 
natürlich hier nicht der Platz für eine ausführliche Würdigung aller Vorzüge 
und Nachtheile des von Vogel für Mittel- und Grossstädte mit grosser Wärme 
empfohlenen Liernur’schen Systems. Wenn aber Vogel ganz apodiktisch sagt: 
„Nachtheile sind mit demselben überhaupt nicht verbunden“, so mag nur auf 
die ernsten Bedenken hingewiesen werden, welche der Einleitung der nur durch 
Entschlammung gereinigten — nach Vogel gefahrlos gemachten — Hauswässer 
in die öffentlichen Wasserläufe entgegenstehen. Gegen diese Gefahren ist die 
vom Verfasser hervorgehobene Möglichkeit, in jedem Hause, wo eine Epidemie 
ausbricht, durch eine einfache Vorrichtung die Abwässer von der für sie bestimmten 
Leitung abzusperren und der Fäkalleitung zuzuführen, denn doch ein sehr un¬ 
sicheres Mittel! Verfassers Vorstellungen über die Funktion der „Nothauslässe“ 
bei den Berliner Schwemm - Kanälen entsprechen übrigens dem wirklichen Sach¬ 
verhalt ebenso wenig, als seine Ausführungen über die Kostspieligkeit der Riesel¬ 
felder gegenüber den stetig ansteigenden Reinerträgen der letzteren aufrecht 
erhalten werden können. Uebrigens steht Ref. auf dem von F. Hoffmann 
vertretenen Standpunkt, dass die Frage nach der besten Beseitigung der mensch¬ 
lichen Abfallstoflfe nicht principaliter, sondern nur von Fall zu Fall zu ent¬ 
scheiden ist und es mag gern zugegeben werden, dass für viele grössere und 
Mittelstädte, namentlich, wo örtliche Verhältnisse die Einführung der Schwemm- 
k&nalisation verbieten, das Liernur’sche System eine wesentliche Verbesserung 
der hygienischen Verhältnisse bedeuten würde. 

Der zweite Theil der Arbeit „Vorschläge für die kleinen Städte und das 
platte Land“ enthält eine warme Empfehlung selbstthätiger Torfmull-Streu¬ 
klosetts — ein Vorschlag der gewiss beherzigenswerth ist, dessen allgemeiner 
Durchführung leider zahlreiche Hindernisse entgegenstehen dürften. Ders. 


Die Cholera in Russland im Jahre 1892. Im russischen Regierungs¬ 
anzeiger vom 15. (3) Dezember v. J. ist eine Uebersiehtstabellc über Gang, 
Dauer und Intensität der Choleraepidemie veröffentlicht, welche bis zum Monate 
November reicht und den Gang, welchen die Epidemie auf ihrem Zuge nach 
Norden und Westen eingeschlagen hat, genau veranschaulicht. 

Darnach gelangte die Seuche aus den persischen Häfen zuerst nach der 
russischen Provinz Transk asp ien, von wo sie Anfang Mai offiziell gemeldet 
wurde und von hier aus Anfang Juni nach zwei Richtungen sich ausbreitete 
und zwar gelangte dieselbe auf dem Landwege gegen Osten Anfang Juni in die 
asiatischen Gebiete der Gouvernements Syr-Darja, Ferghana, trat in der 
zweiten Hälfte Juni in den Bezirken Sem iretsc h je und Samarkand, gegen 
Ende dieses Monats in Sakatala und Ak molinsk auf, so dass um diese Zeit 
das ganze russische Gebiet östlich vom Kaspischen Meere und dem Aralsee 
bereits verseucht war. 

Gleichzeitig aber war die Seuche auf dem Seewege an das westliche Ufer 
des Kaspisee’s und mit dem Schifffahrtsverkehr auf der Wolga in die 
Gouvernements längs dieses Flusses eingeschleppt worden, erschien zuerst in der 
Hafenstadt Baku der gleichnamigen Provinz, gelangte im Handelsverkehr am 
12. Juni nach Astrachan und von hier aus gegeu Norden in die Gouverne¬ 
ments am rechten und linken Ufer der Wolga und zwar am 14. nach Saratow, 
von da im raschen Laufe am 23. nach Ssamara, am 24. nach Simbirsk, am 
25. nach Kasan und am 27. nach Wjatka. 

Gleichzeitig hatte sich die Seuche jedoch auch in den kaukasischen 
Provinzen ausgebreitet, eingeschleppt aus Baku längs der ins Gebirge führenden 
Handelsstrassen. 

Am 13. Juni zeigte sich die Cholera in Tiflis, war am 18. schon gegen 
Westen in das Kubans’che Gebiet gedrungen und gleichzeitig im Norden in 
Terek und im Osten in Dagest an zum Ausbruche gekommen. Am 28. Juni 
war die Seucheninvasion bereits in das Gebiet des Donisehen Heeres gleich¬ 
zeitig ans dem nördlich gelegenen Saratow, von Westen aus Astrachan und von 
Süden aus Kuban erfolgt. 

Die längs der Wolgaufer liegenden verseuchten Distrikte bildeten ein 
von Süd nach Nord sich erstreckendes Seuchengebiet, von wo aus die Cholera 
nach Westen und Osten im Laufe des Monats Juli ihren verheerenden (Tang 
fortsetzte. 



120 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


In dem an Transkaspien, Astrachan und Ssamara angrenzenden Ural¬ 
gebiete trat die Seuche am 8. Juli, in den nördlich von Semiretschje gelegenen 
Gouvernements Tomsk am 12. und Tobolsk am 17. Juli auf. In rascher 
Reihenfolge folgten die an das asiatische Russland angrenzenden Gebiete von 
Perm am 6. Juli, Orenburg am 8. Juli, Ufa am 18. ferner in der asiati¬ 
schen Proviuz Turgai am 24. Juli. 

Im Bereiche des Kaukasus war die Infektion am 7. Juli nach Eriwan, 
am 18. nach Jelissabetpol, am 20. nach Kars und Stawropol, am 
22. Juli nach Kutais eingeschleppt worden. 

Auch gegen Westen hatte sich von den Wolgadepartements aus die 
Seuche ihre Wege gebahnt und im Fluge neue Gebiete erobert. Offiziell wurden 
die ersten Cholerafälle gemeldet in Woronesch am 2. Juli, in Nischni- 
Nowgorod am 7., in Poltawa, Charkow und Pensa am 8., in Rjasan 
am 10., in Kursk am 14., in Tambow am 16., in Orel am 17., in Wladi¬ 
mir am 19. Fast gleichzeitig, am 20. Juli, hielt die Krankheit ihren Einzug 
in Moskau und Petersburg, wurde am 21. aus Jaroslaw und Jakate- 
rinoslaw, am 25. in Kostroma und am 26. Juli in Tula gemeldet. 

Während im Mai nur das Gebiet von Transkaspien verseucht war, 
herrschte die Cholera Ende Juni in 19 Verwaltungsgebieten und hatte seit 
Beginn ihres Auftretens bis Ende Juli 47 Gouvernements ergriffen; im Juni 
waren 18, im Juli 28 Provinzen des russischen Reiches in den Ausweisen zuge¬ 
wachsen. 

Im Monate August hatte sich die Cholera im asiatischen Theile des 
Reiches in den grossen Ländergebieten von Irkutsk am 2. August, Jenis- 
seisk am 4. und Semip alatinsk am 12. August ausgebreitet, wo sie jedoch 
in Irkutsk nach 2, in Semipalatinsk nach 11 und in Jenisseisk nach 9 Wochen 
erlosch. 

Dagegen aber war die Seuche im europäischen Russland weiter gegen 
Westen und Norden vorgerückt und war, begünstigt durch den regen Verkehr, 
im Norden des Reiches am 5. August in Twer, am 15. in Nowgorod, am 
20. in Wologda und am 21. in Olonez aufgetreten. Im südlichen Theile 
war die Seuche erschienen in den Gebieten Taurien am 3. August, Cherson 
am 8., in Kiew am 16., in Bessarabien am 26. und in Podolien am 
30. August. Infektionsinseln bildeten die Gouvernements Lublin, wohin der 
Krankheitskeim am 1. August wahrscheinlich durch den regen Verkehr der 
Provinz Polen mit den Städten Petersburg und Moskau eingeschleppt worden 
sein dürfte, und ferner das Gouvernement Mohilew, welches von der Moskau- 
Warschauer Bahn durchquert wird und wo die ersten Erkrankungen am 30. Aug. 
gemeldet wurden. 

Im August waren abermals 14 Seuchenbezirke zugewachsen, so dass die 
Zahl der Choleradistrikte seit Beginn der Pandemie um diese Zeit auf 61 ge¬ 
stiegen war. 

Während des Monats September wurde eine Weiterverbreitung der 
Cholera im Osten des Reiches nicht gemeldet, dagegen aber dehnte sich das 
Epidemiegebiet auf den grössten Theil der bisher verschont gebliebenen Ver¬ 
waltungsgebiete im Westen aus. 

Am 3. September machte sich die Cholera im Gouvernement Wolhy nien, 
am 5. im benachbarten Tsehernigow und gleichzeitig in dem südlich von 
Petersburg liegenden Livland bemerkbar, erschien am 11. in Warschau, 
am nächsten Tage in Kielce, am 19. in Radom, am 29. in Petrokow 
(sämmtlieh in Russisch-Polen), nachdem vorher am 12. aus Gradno, am 19. aus 
Minik, am 23. aus Pskow und am 2G. aus Smolensk Erkrankungen ge¬ 
meldet worden waren. Per Zuwachs der verseuchten Gebiete betrug im Sep¬ 
tember 11 Gouvernements und war die Gesammtsumme der bis dahin von der 
Cholera ergriffenen Distrikte auf 72 gestiegen. Bei der geringen Zahl von 
Gouvernements, in denen die Krankheit bis dahin noch nicht aufgetreten war, 
konnte die weitere Ausbreitung im Oktober keine nennenswerthe sein. Es 
wurden auch tatsächlich in diesem Monate (’holerafälle nur aus dem mitten 
im Seucbengehiete gelegenen, aber bis dabin verschont gebliebenen Gouverne¬ 
ment Kaluga am 17. Oktober, daun am 10. Oktober aus Kurland und end¬ 
lich aus den polnischen Gebietsteilen am 14. aus Piozk und am 22. aus 
Ln ms ha gemeldet. Pie Zahl der bis dahin verseuchten Bezirke hatte die 
Ziffer von 70 erreicht. 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


121 


Die Gesammtzahl der Erkrankungen betrug bis November 551478, jene 
der Todesfälle 266200 = 48°/ 0 . In mehreren Gouvernements (Astrachan, 
Samarkand, Ferghana-Gebiete) ist die genaue Zahl der Erkrankungsfälle nicht 
bekannt geworden, nnd für die Uebersichtstabelle aus der Zahl der Todesfälle 
unter der Voraussetzung berechnet, dass die Lethalität 50 Prozent betrug. 


Die Erkrankungshäufigkeit (auf 100000 Einwohner) wird berechnet in 


den Gouvernements : 




Dagestan. 

3912 

Bezirk Sakatnla .... 

. 1320 

Terek-Gebiet. 

3883 

Eriwan. 

. 1294 

Astrachan. 

2494 

Kars-Gebiet. 

. 1273 

Ferghana-Gebiet .... 

2415 

Jelissabetpol. 

. 1079 

Samarkand. 

2139 

Syr-Darja-Gebiet . . . 

. 1038 

Stawropol. 

2115 

Ssimbirsk. 

. 1025 

Kuban-Gebiet. 

1937 

Ural-Gebiet. 

. 1023 

Tobolsk. 

1865 

Woronesch. 

. 893 

Gebiet des Donischen Heeres 

1811 

Tiflis. 

. 748 

Saratow. 

1719 

Orenburg . 

. 745 

Baku. 

1603 

Tambow. 

. 721 

Ssamara. 

1547 

Lublin. 

. 509 

In sechs Gouvernements 

betrag 

somit die Zahl der Erkranten 

mehr als 


2 Prozent, in 13 Gouvernements 1—2, und in vier Gouvernements 0,5—1,0 
Prozent der Bevölkerung. In allen übrigen Gouvernements blieb die Erkrankungs¬ 
ziffer unter 0,5 Prozent der Einwohner. In den Gouvernements und Gebieten 
Sibiriens, Zentral-Asiens nnd des Kaukasus war die Zahl der Choleraerkr&nkungen 
durchweg eine ungleich höhere als im europäischen Russland, in welchem nur 
in vier Gouvernements die Seuche sehr intensiv auftrat. 

In den grösseren Städten blieb die Morbidität an Cholera weit unter der 
analogen Ziffer der Gouvernements und erreichte in keiner die Höhe von 0,5 
Prozent der Bevölkerung. (Oesterreichisches Sanitätswesen Nr. 5, 1893.) 


Die Verbreitung der Cholera in den im österreichischen Reichs- 
rathe vertretenen Königreichen und Ländern im Jahre 1892. Oesster- 
reichisches Sanitätswesen; Beilage zu Nr. 3, 1893. 

Von den österreichischen Kronländern ist nur Galizien in stärkerem 
Maasse von der Cholera betroffen worden. Der erste Cholerafall ereignete sich 
am 8. September in Podgorze (Westgalizien), dem schon am 11. September 
die erste Erkrankung in der Stadt Krakau folgte. lu welcher Weise und auf 
welchem Wege die Krankheit iu Podgorze Eingang gefunden hat, konnte nicht 
nachgewiesen werden. Die Mehrzahl der später in Westgalizien ergriffenen 
Gemeinden (Bezirke Wieliczka u. Krakau) lag iu nächster Nähe der beiden zuerst 
infizirten Städte und am Weichselfluss. Im Monat November erschien hier die 
Seuche allenthalben erloschen, als plötzlich iu Ostgalizien, in dem längs des 
Zbrucz an der russischen Grenze belegenen Bezirke Husiatyn und Borszczow sich 
mehrere Seuchenheerde entwickelten, deren Entstehung jedenfalls auf Einschlep¬ 
pung aus Russlaud zurückzuführen war. Die Gesammtzahl der in Galizien 
von der Cholera heimgesuchten Gemeinden betrug 32; diejenige der Erkrankungen 
207, der Todesfälle 119 — 57,5 °/ 0 . Auffällig war, dass die zuerst erkrankten 
Personen in ihrer Beschäftigung hauptsächlich mit Nahrungs- und Genussmittelu 
zu thun hatten. 

Eine Verschleppung der Cholera aus den verseuchten galizischeu Ge¬ 
meinden nach den übrigen im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Län¬ 
dern oder nach Ungarn hat nicht stattgefunden. Im Ganzen sind ausserhalb 
Galiziens nur 7 Cholera - Erkrankungen, darunter 6 mit tödtlichem Ausgange 
vorgekommen, und zwar 4 in Niederösterreich (Wien), 2 in Steiermark 
(Sabofzen) und 1 in Böhmen (Posek). Die Ursache dieser Erkrankungen wird 
auf die Cholera-Epidemie in Ungarn, namentlich in Budapest zurückgeführt. 

Was die gegen die Einschleppung der Cholera von aussen an¬ 
geordneten sanitätspolizeilichen Massregeln anbetrifft, so stimmen 
diese im Allgemeinen mit den in Deutschland getroffenen Massnahmen überein: 
sanitäre Kontrole der aus Russland, Deutschland und der Schweiz kommenden 
Reisenden, Revision und Desinfektion ihrer Kleider, Wäsche und Effekten; Ein¬ 
fuhrverbote für Hadern, alte Kleider, altes Tauwerk, gebrauchte Leibwäsche 





















122 


Besprechungen. 


und gebrauchtes Bettzeug, Obst, Gemüse, Kaviar, Fische, thierische Häute oder 
sonstige thierische Produkte. Nahezu alle längs der ganzen Grenze von der 
Schweiz bis Rumänien eingerichteten Revisionsstationen waren mit Dampf-Des¬ 
infektionsapparaten versehen; die Thätigkeit dieser Stationen war im Allge¬ 
meinem eine sehr ausgedehnte, besonders in Niedergrund und Schandau für den 
Schiffsverkehr auf der Elbe, wo 54346 Personen, 44 261 Gepäcks- und 11088 
Frachtstücke zur sanitären Revision gelangten. Die Zahl der auf den Stationen 
konstatirten verdächtigen Fälle war eine verhältnissmässig geringe; denn bei 
allen mit der Eisenbahn zugereisten und wegen Erkrankung oder Verdacht 
unter Beobachtung gehaltenen Personen stellte sich alsbald der unverdächtige 
Zustand heraus und nur unter den Passagieren der Elbschifte wurde ein Cholera¬ 
kranker gefunden, 

Um der Ausbreitung der Cholera im Inlande wirksam zu be¬ 
gegnen und die Seuche in ihrem Anfänge zu bekämpfen, wurde der Schwerpunkt 
darauf gelegt, durch möglichst ausgedehnte Assanirungsmassnahmen, 
durch Beseitigung sanitärer Miss stände dem etwa eingeschleppten 
Krankheitskeim den Boden für die Weiterentwicklung und Verbreitung zu ent¬ 
ziehen. Bewährt haben sich hierbei die zu diesem Zwecke fast überall in’s 
Leben gerufenen „Sanitätswehren“, die etwa unsern Sanitätskommissionen 
entsprechen. Nicht minder bewährt hat sich auch die Bestallung von inspi- 
zirenden Amtsärzten für grössere Bezirke, die die Aufgabe hatten, „der 
auf die Abwehr und eventuellen Tilgung der Cholera erforderlichen Abstellung 
von sanitären Uebelständen, der Erzielung zweckmässiger Vorkehrungen und Ein¬ 
richtungen, sowie der sachverständigen Ausführung der angeordneten Massregeln 
ihr besonderes Augenmerk zuzuwemlen.“ Hierdurch traten sie mit den politischen 
Behörden der Bezirke und Städte, mit den Amtsärzten, Gemeindevertretungen, 
Sanitätskommissionen u. s. w. in persönliche Berührung, regten manches Unter¬ 
lassen an, lösten Zweifel, bewirkten ein einheitliches Handeln der zahlreichen 
betheiligten Kreise, förderten das in erfreulichem Maasse rege gewordene Interesse 
an sanitär-fortschrittlichen Einrichtungen und erzielten auf diese Weise Erfolge, 
die im gewöhnlichen Gange der Dinge niemals zu Stande gekommen wären. 

Besondere Aufmerksamkeit wurde der Beschallung von Dampf-Desin¬ 
fektionsapparaten und der Bereitstellung genügender Mengen von De sin - 
fcktionsmiteln gewidmet und von der Mehrzahl der Landesvertretungen 
erhebliche Geldmittel zu diesem Zwecke bewilligt. 

Anzeigepflicht, auch der chuleraverdächtigen Fälle, Feststellung der 
ersten Erkrankungen durch bakteriologische Untersuchung, amts¬ 
ärztliche Revisionen u. s. w. waren in ähnlicher Weise wie in Deutsch¬ 
land geregelt. Zum Zwecke der Isolirung wurden Epidemie - Nothspitäler in 
grosser Menge errichtet, so dass z. B. in Niederösterreich von 1611 Gemeinden 
i486, in Kärnthen sogar alle Gemeinden mit Ausnahme von zwölf derartige 
Isolirspitäler besassen. 

Am Schluss des höchstinteressanten Berichtes heisst es dann: „Der Gang 
und die Verbreitung der Cholera in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen 
und Ländern, die Einschränkung der Epidemie in Krakau und Umgebung, die 
rasche Unterdrückung der Verbreitung des eingesehleppten Krankheitskeimes 
in einer Reihe von Gemeinden sind der sprechendste Beweis für den Werth der 
eingeleiteten Vorkehrungen, der wohl unabhängig ist von den wechselnden 
Theorien, die hinsichtlich der Verbreitungsursachen der Cholera die wissenschaft¬ 
liche Welt beschäftigen, da alle Forscher darin einig sind, dass die Dejokte der 
Cholerakranken hauptsächlich die Infektion verursachen und daher der Aussaat 
des Choleraagens und der Vermehrung desselben durch eine möglichst «ausge¬ 
dehnte Schmälerung des für den Cholerakeim geeigneten Nährbodens, durch 
Assanation vor Allem vorgebeugt werden muss.“ Rpd. 


Besprechungen. 

Dr. Wiener, Geh. Sanitätsrath und Kreispliysikus in Graudonz: 
S a in m 1 u n «f g e r i <• li 11 i e h - medizinischer übereil t,a <•, li- 



Besprechungen. 


123 


ten. Berlin 1891—92. Fisch er’s medizinische Buchhandlung. 
Gross 8°; 633 Seiten. 

Die 91 Gutachten behandeln, systematisch geordnet: 

I. Verletzungen durch mechanische Gewalt. 

1. Durch Schlag, Stoss, Fall, Wurf, Stich, Schuss, Schnitt, lliss. 

a. Kopfverletzungen: Fall 1—10. 

b. Hals- und Brustverletzungen: Fall 11—22. 

c. Unterleibs-Verletzungen: Fall 23—28. 

d. Verletzungen der Extremitäten: Fall 29 - 32. 

e. Komplex örtlich zerstreuter Verletzungen: Fall 33—36. 

2. Mechanischer Verschluss der ßespirations-Organe. 

a. Strangulation: Fall 34—44. 

b. Verschluss der Respirations - Organe durch Fremdkörper: Fall 45. 

c. Erstickung durch Kompression des Brustkorbes: Fall 46. 

EL. Sexuelle Insulte (Krimineller Abort, Stuprum) Fall 47—50. 

HI. Dynamische Einwirkungen: 

1. Vergiftungen: durch Schwefelsäure, Salpetersäure, Dynamit, Arsen, 
Phosphor, Mohnköpfe, Atropin, Alkohol, Sckwefelwasserstoftgas, Kupfersalze: 
Fall 51—65. 

2. Exzessive Temperaturen (Erfrieren): Fall 66. 

IV. Fragliche Kunstfehler der Medizinal - Personen: Fall 67—75. 

V. Kurpfuscherei: Fall 76—79. 

VI. Tödtung Neugeborener: Fall 80—91. 

Der reichhaltige Inhalt beweist schon, dass die Sammlung Gutachten über 
die verschiedenartigsten, nicht nur häutigsteu, sondern auch seltenen Verletzungen, 
Todesarten und Todesursachen enthält. Die Gutachten haben hohen Werth, 
weil sie von der preussischen wissenschaftlichen Deputation für das Me¬ 
dizinalwesen , von Medizinal - Kollegien, Medizinal - Comit6es, Universitäts- 
Fakultäten und angesehenen Professoren erstattet sind; und in den dem 
grössten Theile der Obergutachten beigefügten epikritischen Bemerkungen 
hat der Verfasser die in den periodisch erscheinenden Zeitschriften nieder¬ 
gelegten Ergebnisse der neuen und neuesten wissenschaftlichen Forschungen 
und Untersuchungen zusammengetragen. In den epikritischen Bemerkungen 
finden sich ausserdem werthvolle Definitionen und Deklarationen bedeutender 
Fachmänner und höchster Gerichtsbehörden über Begriffe des Strafgesetzbuches, 
welche verschiedene Deutung zulassen, z. B. der Begriffe Siechthum, Lähmung, 
Verlust wichtiger Körperglieder. 

Das Werk ist ebenso sehr ein lehrreiches Lehrbuch der angewandten gericht¬ 
lichen Medizin mit einer Summe klinischer Erfahrungen, als ein Nachschlage¬ 
werk für den begutachtenden Gerichtsarzt, so dass nicht nur dieser, sondern 
auch der praktische Arzt sich stets Rath aus demselben holen kann, wenn ihn 
seine Thätigkeit als Sachverständiger mit dem Richter zusamraenbringt. Wenn 
auch nicht ein jeder Fall als Paradigma gelten kann, — denn es liegt ja kaum 
je ein Fall genau wie der andere iu der forensischen Praxis — so bietet doch 
jeder einzelne genug, um daraus Belehrung zu schöpfen, die Auflassung zu er¬ 
leichtern und der Beurtheilung einen sicheren Stützpunkt zu gewähren. Das¬ 
selbe behält dadurch bleibenden Werth und sein Erscheinen ist von allen Seiten 
aufs Beste beurtheilt worden. 

Ein ausführliches Inhalts- und Autoren-Verzeichniss wird die Benutzung 
des Werkes erleichtern. 

Die Ausstattung ist eine sehr gute. Dr. R u m p - Osnabrück. 


Der kleine Liebreich. Pharmacopoea jocosa van Otho Aquila. 
Verlag von Fischer’s med. Buchhandlung, Berlin. Gross 8°, 47 Seiten. 

Die trocknen Maximaldosen, das Kreuz aller Staatsexaminanden, sind in 
dem vorliegenden Büchlein in lustigen Versen mit mnemotechnischen Regeln zu¬ 
sammengestellt. Wir empfehlen allen Freunden eines gesunden Humors die 
Lektüre der lustigen sieben Kapitel über die „Maximal -Kunst“. 

Dr. Israel-Medenau (O.-Pr.). 



124 


Tagesnachrichten 


Tagesnachrichten. 

Der Vorstand des Preussisclien Medizinalbeamtenvereins hat in 
der am 27. Februar stattgehabten Vorstandssitzung beschlossen, die im Herbst 
vorigen Jahres wegen der Cholera ausgefallene X. Hauptversammlung des 
Vereins am 10. und 11. April d. J. abzuhalten. Den ersten Gegenstand der 
Tagesordnung wird die Besprechung des Reichsseuchengesetzes bilden. 
Mit Rücksicht darauf sind auch die Medizinalbeamten der anderen deutschen 
Bundesstaaten zur Theilnahme an der Versammlung freundlichst eingeladen. 

Die Tagesordnung ist am Schluss der heutigen Nummer der Zeitschrift 
abgedruckt. 


Im Hinblick auf ein etwaiges Wiederauf treten der Cholera hat der Herr 
Minister der u. s. w. Medizinalangelegenheiten die Errichtung einer bakterio¬ 
logischen Anstalt in Bonn zunächst für die Dauer von 6 Monaten angeordnet. 
Zum Leiter dieser Anstalt ist der Assistent am Institute für Infektionskrank¬ 
heiten, Dr. Frosch in Berlin, ernannt. 


In Folge einer Interpellation des Abgeordneten Seif far dt-Magdeburg 
beschäftigte sich das Abgeordnetenhaus in seiner Sitzung vom 14. Fe¬ 
bruar mit der Frage der Vernnreinigung cler Elbe durch die Abflüsse der 
Stassfurter Soda- und Kalifabriken und der Mansfelder Bergwerke. Seitens 
des Handelsministers Frhr. v. Berlepsch wurde zugegeben, dass für 
Magdeburg in Folge dieser Zuflüsse eine ernste Kalamität bestehe, indem das 
Elbwasser dadurch einen so hohen Salzgehalt erhalte, der es, wenn auch nicht 
direkt gesundheitsgefährlich, so doch als Trinkwasser unbrauchbar mache. Die 
Beseitigung dieses Misstandes sei aber eine sehr schwierige, da den gesundheit¬ 
lichen Verhältnissen der Stadt Magdeburg die gewerblichen Interessen wichtiger 
Industrien gegenüberständen. Die Anlage eines unterhalb in die Elbe einmün¬ 
denden Vorfluthskanal, in den die betreffenden Abwässer sämmtlieh abgeführt 
werden sollten, sei wegen des hohen Kostenaufwandes und der schwierigen tech¬ 
nischen Ausführung wieder aufgegeben; auch eine Klärung der Abwässer vor 
ihrem Abfluss sei mit so holieu Kosten verbunden, dass die Kalifabriken dann 
gezwungen werden würden, ihren Betrieb gänzlich einzustellen, da unter diesen 
Umständen von irgendwelchem Reinertrag nicht mehr die Rede sein könnte. 
Die schon seit Jahren bestehende Kalamität sei im Laufe des vorigen Jahres 
noch besonders durch den Zufluss der salzigen Abwässer des Mansfelder Berg¬ 
baues und durch den auffallend niedrigen Wasserstand der Elbe vermehrt; denn 
bei mittlerem Wasserstaude (405 cbm pro Sekunde) würden der Elbe per cbm 
0,41 kg Salze aus den Mansfelder Bergwerken und 0,024 kg Salze (darunter 
0,08 Magnesia) aus den chemischen Fabriken, also 0,434 kg zugeführt, bei nie¬ 
drigem Wasserstande (139 cbm pro Sekunde) dagegen pro cbm 1,2 und 0,072 kg 
= 1,272 kg Salze. Eine Besserung des Zustandes stehe daher bei höherem 
Wasserstande zu erwarten, ausserdem würden auch voraussichtlich die Abwässer 
des Mansfelder Bergbaus durch die beabsichtigte Expropiation und Entwässerung 
des salzigen Sees erheblich verringert werden. Dem jetzigen Zustande jedoch 
dauernd abzuhelfen, sei nur durch eine Klärung der Abwässer der Kalifabriken mög¬ 
lich, das sei aber gleichbedeutend mit Untergrabung dieser für die Laudwirth- 
scliaft so wichtigen und unentbehrlichen Industrie. Ehe man daher zu einem 
solchen Mittel greife, müsse versucht werden, ob dasselbe Ziel nicht auch auf 
anderem Wege erreicht werden könne. Dies sei aber möglich und zwar dadurch, 
dass die Stadt Magdeburg künftighin ihren Wasserbedarf nicht aus der Elbe, 
sondern aus anderen Quellengebieten und Tiefbrunnen entnehmen würde. Zur 
Anlage einer derartigen Wasserleitung würden die betheiligten Kaliindustrien 
einen Kostenbeitrag zu leisten haben und wenn sie es nicht, wie zu erwarten 
stehe, freiwillig thun würden, könnten sie indirekt durch Auflage der zu- 
vorigeu Klärung ihrer Abwässer gezwungen werden. Dieser Mittelweg, in ver¬ 
ständiger Weise und so rasch als möglich eingeschlagen, werde sicher zur Be¬ 
seitigung des jetzigen Uebelstandes führen. Nach Lage der Gesetzgebung habe 



Tagcsnachrichton. 


125 


übrigens keine Stadt einen gesetzlichen Anspruch darauf, dass das Wasser eines 
öffentlichen Flusslaufes so rein gehalten wird, dass sie ihr Trinkwasser daraus 
bestreiten könne, sondern den Staatsbehörden läge nur die Verpflichtung ob, das 
Wasser der öffentlichen Flussläufe soweit wie irgend möglich in einem Zustande 
zu erhalten, dass es zu gewerblichem Zwecken von den Anwohnern benutzt 
werden könne. 

Auf die im Laufe der Debatte ausgesprochene Besorgniss, dass der jetzige 
Zustand de9 Elbwassers möglicher Weise eine grosse Gefahr für den Ausbruch 
einer Cholera-Epidemie bedingen könne, erwiderte der Minister der u. s. w. 
Medizinalangeiegenheiten, Dr. Bosse, dass nach den auf seine Ver¬ 
anlassung von dem Direktor des Berliner hygienischen Instituts, Prof. Dr. Rubner 
angestellten Untersuchungen der Magdeburger Verhältnisse eine derartige Ge¬ 
fahr nicht bestehe. Der Cholerabazillus bleibe in versalztem Wasser kürzere 
Zeit als in gewöhnlichem Wasser am Leben; ausserdem werde er durch gute 
Filtrationsanlagen überhaupt zurüekgehalreu. Die Versalzung des Elbe- und 
Saalewassers habe sogar für die Nichtverbreitung einen gewissen Vortheil, da 
das Flusswasser daun überhaupt nicht getrunken und dadurch die sonst beste¬ 
hende grosse Gefahr einer Verschleppung der Cholera auf diesem Wege ausge¬ 
schlossen werde. Auch er stehe auf dem Standpunkt, dass sich die Stadt Magde¬ 
burg an anderer Stelle ein besseres Trinkwasser suchen müsse, damit die jetzige 
Kalamität dauernd beseitigt werde, da ein gutes und einwandfreies Trinkwasscr 
eine der ersten Lebensbedmgungcn der Bevölkerung sei. Nach den ihm zuge¬ 
gangenen Nachrichten werde es voraussichtlich auch gelingen, in den fiskalischen, 
nördlich von Magdeburg gelegenen Waldgebieten ausreichendes uud gutes Trink¬ 
wasser für eine neue Wasserleitung zu erhalten. 


Aus dem Reichstage. Bei der zweiten Berathung des Etats des Reiclis- 
amts des Innern wurde beim Kapitel „Reichsgesundheitsamt“ in der 
Sitzung vom 22. Februar die Frage der Leichenverbrennung durch die 
Abgeordneten Lingens, Goldschmidt, Schröder, Baumbach und 
Frohme angeregt. Der Staatssekretär v. Bötticher erwiderte, dass in 
Hamburg eingehende Versuche über die Lebensfähigkeit des Cholerabazills in 
der Erde bei begrabenen Choleraleichen angestellt seien und, wenn diese Ver¬ 
suche auch noch nicht völlig abgeschlossen seien, so stehe doch schon jetzt fest, 
dass der Cholerabazill sehr bald in der Erde absterbe. Betreffs der von ver¬ 
schiedenen Rednern verlangten Einführung der fakultativen Feuerbestattung käme 
ein Eingreifen des Reiches nur dann in Frage, wenn sich solches aus sanitäts¬ 
polizeilichen Gründen rechtfertigen lasse. Erweise sich aber die Leichenver¬ 
brennung behufs der Bekämpfung der Seuche als nothwendig, dann müsse sie 
auch obligatorisch gemacht werden, wenigstens für die Zeit, in der Seuchen 
herrschen. Andererseits müsse man aber sagen, dass in sehr vielen Kreisen der 
Bevölkerung eine energische Gegnerschaft gegen die obligatorische Leichenver¬ 
brennung besteht und dass die Durchführung dieser Massregel an vielen Orten, 
besonders auf dem platten Lande, gar nicht möglich ist. Eine positive Lösung 
der Frage sei daher bei den ausserordentlichen Schwierigkeiten nicht zu er¬ 
warten; auch empfehle es sich nicht, einen auf Einführung der fakultativen 
Leichenverbrennung lautenden Antrag bei Berathung des Reichsseuchengesetzes 
einzubringen, wie dies von dem Abgeordneten Dr. Bau mb ach beabsichtigt 
werde, da dadurch möglicher Weise die Annahme des Seuchengesetzes ernstlich 
gefährdet werden dürfte. 

Ueber die vom Abg. Frohme angeregte Frage einer Erweiterung der 
Befugnisse des Reichsgesundheitsamtes äusserte sich der Staatssekretär 
dahin, dass das Reichsgesundheitsamt gar nicht als eine Exekutivbehürde gedacht 
und es seiner Ansicht nach auch nicht richtig sei, es als solche auszugestalten, 
da dann Kollisionen mit anderen Ressorts nicht ausbleiben dürften. Das Reichs- 
gesnndheitsamt müsse auch fernerhin eine dem Reichsamt des Innern unterge¬ 
ordnete, in der Hauptsache zu wissenschaftlichen Forschungen und zur Abgabe 
von Gutachten berufene Behörde bleiben. Der Vorwurf jedoch, dass dasselbe 
während der Cholera-Epidemie nicht das seinige gethan hätte, sei in aller Schärfe 
zurückzuweisen: denn vom ersten Moment ab, wo die Besorgnis« einer Einschlep¬ 
pung der Cholera von Osten Vorgelegen, haben das Gesundheitsamt und alle seine 
Mitglieder mit einer seltenen Pflichttreue, mit einem Eifer, der den vollen Dank 



126 


Tagesnachrichten. 


der Nation verdiene, sich den ihm obliegenden Aufgaben unterzogen. Jedenfalls 
sei es der vereinten Tätigkeit aller berufenen Organe zu verdanken, dass die 
im verflossenen Jahre in Deutschland überraschend zum Ausbruch gekommene 
Cholera-Epidemie keine weitere Ausbreitung gefunden habe. 

In der nächstfolgenden Sitzung, am 23. Februar, kam sodann ein von dem 
Abgeordneten Baumbach uud v. Bar gestellte Antrag betreffs Zulassung 
der Frauen zur Approbation als Arzt zur Berathung. Der Antragsteller 
führte aus, dass sich bereits die Kammern in Baden und iu Hessen günstig zu 
der Frage gestellt hätten, auch die Beschlüsse des preussischen Abgeordneten¬ 
hauses seien entgegenkommend. Während früher die Petitionskommission des 
Reichstages durch den Uebergang zur Tagesordnung über die jene Zulassung 
fordernden Petitionen empfohlen habe, habe die Kommission jetzt einstimmig 
einen anderen Standpunkt eingenommen und halte eine Revision der von dem 
Bundesrath auf Grund des §. 29 der Gewerbeordnung erlassenen Vorschriften 
über den Nachweis der Befähigung als Arzt nach der Richtung für nothwendig, 
dass auch Frauen die Approbation als Arzt ertheilt werden könne. 

Der Staatssekretär v. Bötticher erwiderte, dass schon jetzt Frauen die 
Heilkunde in Deutschland ausüben dürfen und auch thatsächlich ausüben. Die 
Gesetzgebung gestatte nur nicht die Approbation der Frauen als Arzt; denn 
diese sei von bestimmten Vorbedingungen, dem Reifezeugniss des Gymnasiums 
uud dem Universitätsstudium abhängig. Diese Vorbedingungen für die Frauen 
zu beseitigen, könne in keiner Weise empfohlen werden; soll daher der Wunsch 
der Antragsteller durchgeführt werden, so müsse den Frauen gleichfalls die 
Möglichkeit gegeben werden, sich die verlangte Vorbildung zu erwerben. Hierzu 
die Wege zu ebneu, sei aber Sache der Einzelstaaten und nicht des Reiches, an 
die Adresse jener müsste in Folge dessen auch der Antrag gerichtet werden. 

Während die Abgeordneten Dr. Endemann und Dr. Hoeffel die Ab¬ 
lehnung des Antrages empfahlen, da den Frauen zum ärztlichen Berufe die 
erforderliche Thatkraft, Einsicht und Sachlichkeit fehle und ihre Urtheilskraft 
zu sehr dem Gefühle unterworfen sei, vertraten die übrigen Redner v. Bar, 
Bebel und Rio kort den entgegengesetzten Standpunkt. Schliesslich wurde 
die weitere Berathung der Angelegenheit bis zur Verhandlung der denselben 
Gegenstand betreffenden Petitionen verschoben. 


Die im ausserordentlichen Etat eingestellte Summe für die Erwerbung 
eines Bauplatzes und Errichtung eines neuen Dienstgebäudes ftir das Reichs¬ 
gesundheitsamt ist vom Reichstag in seiner Sitzung vom 24. Februar ge¬ 
nehmigt worden. 


Cholera - Erkrankungen sind vom 12.—25. Februar in Altona nur 7 
mit 2 Todesfällen; in Hamburg und in Niet leben je 1 vorgekommen. 

In Galizien ist die Seuche vollständig erloschen; auch in Pest scheint 
dies der Fall zu sein, wenigstens siud seit dem 10. Februar Cholera-Erkrankungen 
dort nicht mehr zur Anmeldung gelangt wnd die letzten beiden Cholerakranken 
am 21. Februar geheilt aus dem Barackenspital entlassen. Die Gesammtzahl der 
in der ungarischen Hauptstadt seit Beginn der Seuche (26. September v. J ) an 
Cholera erkrankten Personen betrug 1063; davon sind 459 = 43,3% gestorben. 

In Marseille sind vom 25. Januar bis 9. Februar 75 Personen au 
Cholera gestorben; die Seuche hat aber scheinbar ihren Höhepunkt bereits er¬ 
reicht uud ist in der Abnahme begriffen. 

Ueber den Stand der Cholera in Russland liegen auch diesmal keine 
nähere Nachrichten vor. 


Berichtigung. In dem Referat über Koch’s psychopathische Min- 
derwerthigkeiten, S. 100 und 101 voriger Nummer muss es heissen auf S. 100, 
Zeile 32 „seinen Stoff“ statt „seine Stoffe“, Zeile 54 „eben“ statt „aber“ und iu 
der letzten Zeile „dann“ statt „nur“. Auf S. 101, Zeile 11 und 12 ist ferner 
zu lesen „durch“ Krankheitszustände und besondere Lebensvorgänge statt 
„nach“ Krankheitszuständen u. s. w., sowie in Zeile 43 „Abweichung 4 * statt „Ab¬ 
neigung“ und in den Zeilen 46 und 47 „von Bezeichnungen“ statt „der Be¬ 
zeichnungen“. 




Tages-Ordn. der X Hauptversamml. des Preuss. Mcdizinalbeamt-en-Vereins. 127 


Tages-Ordnung 

der 

am IO. und 11. A] >i*i 1 1898 

zu 

I3ei*lin 

im 

Langenbeck - Hause (Ziegelstrasse) 

stattfindenden 

X. Hauptversammlung 

des 

Preussischen ttedizinalkamlen-V ereins. 


Sonntag, den 9. April. 

8 Uhr Abends: Gesellige Vereinigung zur Begriissung bei 

Sedlmayr (Friedrichstrasse 172). 

Montag, den 10. April. 

9 Uhr Vormittags: Erste Sitzung im Langenbeck-Hanse. 

1. Eröffnung der Versammlung. 

2. Geschäfts- und Kassenbericht; Wahl der Kassenrevisoren. 

3. Der Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Bekämpfung 

gemeingefährlicher Krankheiten. Herr Reg.- uud Med. - Rath 

Dr. Rapmund in Minden i. W. 

4. Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten. Herr 

Kreisphysikns Dr. Fielitz in Halle a./S. 

5. Anträge und Diskussionsgegenstände: 

a. Amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte, sowie Unter¬ 
suchungen in der Wohnung des Gerichtsarztes ohne 
vorheriges Aktenstndinm behufs Abgabe eines münd¬ 
lichen Gutachtens im Termin (Antrag der Medi¬ 
zinalbeamten in Berlin). 

b. Die Hnfeland'sehen Stiftungen. (Antrag der Medi¬ 
zinalbeamten des Regierungsbezirks Minden.) 

4 Uhr Nachmittags:‘Festessen im „Engli sehen Hause“ 
(Huster) Mohrenstrasse Nr. 4!). 



128 Tages-Ordn. der X. Hauptversamml. des Prenss. Medizinalbeamten-Vereins. 


9 Uhr Abends: Gesellige Vereinigung bei Sedlmayr (Fried¬ 
richstrasse 172). 

Dienstag, den 11. April. 

9 Uhr Vormittags: Zweite Sitzung im Langenbeck-Hanse. 

1. Zur Lehre der Arsen Vergiftung. Herr Privatdozent und gericht¬ 

licher Stadtphysikus Dr. Fr. Strassmann in Berlin. 

2. Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. Herr 

Dr. Leppmann, Arzt der Königl. Strafanstalt zu Moabit. 

3. Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens. Herr Kreis- 

physikus Dr. Meyhof er in Görlitz. 

4. Vorstands wähl; Bericht der Kassenrevisoren. 

5. Unfall- und Bruchschaden. Herr Kreisphysikus Dr. Grisar in 

Trier. 

Nach Schluss der Sitzung: Besichtigung der Königlichen 
Strafanstalt zu Moabit und der damit verbundenen Beob¬ 
achtungsanstalt für geisteskranke Verbrecher, Lehrterstr. 3. 

9 Uhr Abends: Gesellige Vereinigung bei Sedlmayr (Fried¬ 
richstrasse 172). _ 

Indem der Unterzeichnete Vorstand auf eine recht zahlreiche 
Betheiligung der Vereinsmitglieder, sowie auch derjenigen Kol¬ 
legen hofft, die dem Verein bisher noch nicht beigetreten sind, 
bittet er, etwaige Beitrittserklärungen, Anmeldungen zur Theil- 
nahme an der Versammlung oder sonstige Wünsche demnächst dem 
Schriftführer des Vereins gefälligst mittheilen zu wollen. 

Medizinalbeamte anderer deutscher Bundesstaaten werden 
zur Theilnalime an der Versammlung freundlichst eingeladen. 

Berlin, Ende Februar 1893. 

Der Vorstand des PrenssiscDen MedizinalDeamten- Vereins. 

Dr. Kanzow, Vorsitzender, Dr. Rapmund, Schriftführer, 

Regierungs- u. Geh. Medizinal-Rath iu Regierungs- u. Medizinalrath in 

Potsdam. Minden. 

Dr. Schulz, Dr. Wallichs, 

Polizei-Stadtphysikus, Sanitätsrath und Kreisphysikus u. Geh. Sanitätsrath in 
Direktor des Königl. Impf-Iustituts in Altona. 

Berlin. 

Dr. Mittenzweig, 

Gerichtlicher Stadtphysikus und Sanitätsrath in 

Berlin. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. liapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W. 

J. C. C. Bruns, Buchdruckerei, Minden. 




6. Jahrg. 


Zeitschrift 


1893 . 


für 


MEDIZINALBEAMTE 

Heraasgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rathu.gerichtl.Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medi/.in.drath in .Vli,,.i, . 

and 

Dr. WILH. SANDER 

Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer's mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

iDunte, die durchUafende PetlUeile 46 Pf. nimmt die VerUgshondlung and Rad. Moese 

entgegen. 


No. 6. 


Emhelit m 1. und 15. jeden Monate. 
Preis Jährlich 10 Mark. 


15. März. 


Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen 
und der Schulkinder des Kreises Isenhagen. 

Von Dr. Max Langerh&ns, Kreisphysikus in H&nkensbttttel. 

(Fortsetzung.) 

2. Untersuchung: des Gesundheitszustandes. 

Ich habe mich bei der Untersuchung ganz genau an die von 
Axel Key eingefUhrte Fragestellung gehalten. Das von mir be¬ 
nutzte Formular enthielt also ausser den Kolumnen für Namen, 
Alter und Wohnort des Kindes, für Länge, Gewicht und Brust¬ 
umfang je eine Rubrik für die nachfolgenden chronischen Krank¬ 
heitszustände : Blutarmuth, Nasenbluten, Nervosität, 
Appetitlosigkeit, Kopfschmerz, Angen krankheit, 
Kurzsichtigkeit, Rückgratsverkrümmung, Skrofeln 
und „Andere langwierige Krankheit“. Bei der Unter¬ 
suchung musste mir die ausgedehnte Personalkenntniss, welche ich 
mir durch 15 jährige Thätigkeit in Amt und Praxis, früher in 
Wittingen, jetzt in Hankensbüttel erworben habe und in Folge 
deren ich wohl jede Familie des Kreises mit Ausnahme des abge¬ 
legenen Kirchspiels Brome persönlich kenne, ebenso zu Statten 
kommen, wie das lebhafte Interesse und die bereitwillige Unter¬ 
stützung, welche meinen Untersuchungen seitens der Lehrer zu 
Theil wurde. Anch die bei den Physikats - Akten befindlichen 
Listen über Infektionskrankheiten, welche bei der streng durch¬ 
geführten Anzeigepflicht als vollständig und zuverlässig gelten 
können, lieferten sehr werth voll es Material, so dass die Anamnese 
mindestens ebenso vollständig zu ihrem Rechte kam, wie bei der 
Key'sehen Methode der Befragung des Hauses. Die körperliche 









Dr. Langerhans. 


180 

Untersuchung - erstreckte sich daun auf die Betrachtung des ganzen 
Körperbaues, auf die Entwickelung der Armmuskulatur und des 
Fettpolsters, die Farbe der sichtbaren Schleimhäute, die Hals¬ 
drüsen, die Beschaffenheit der Augen und auf die Prüfung der 
Gehör- und Sehschärfe. Natürlich wurden in denjenigen Fällen, 
wo dazu eine Veranlassung vorlag, auch weitergehende Unter¬ 
suchungen, namentlich physikalische Untersuchungen der Brust¬ 
organe, Besichtigungen der Racheuorgane u. s. w. vorgenommen. 
Zufällige Krankheiten, Erkältungszustände, akute Infektionskrank¬ 
heiten, in Folge deren mehrere Kinder nicht zur Untersuchung 
kamen, wurden nicht berücksichtigt, auch wurden diejenigen Kinder, 
welche am Untersuchungstage aus anderen Gründen vom Schul¬ 
besuch entschuldigt waren, ausser Ansatz gelassen, so weit sie 
mir nicht als „gesund“ oder „krank“ persönlich bekannt waren. 

Von den untersu chten 2367 Kindern waren 
gesund 1752 = 74,0 Proz. 
krank 615 = 26,0 „ 

und nach Abrechnung der Kurzsichtigkeit 
gesund 1879 = 79,4 Proz. 
krank 488 = 20,6 „ 

Von den 1160 Knaben waren 

gesund 845 = 72,9 „ 

krank 315 = 29,1 „ 

und nach Abrechnung der Kurzsichtigkeit 
gesund 907 = 78,2 Proz. 
krank 253 = 21,8 „ 

Von den 1207 Mädchen waren 

gesund 907 = 75,2 „ 

krank 300 = 24,8 „ 

und nach Abrechnung der Kurzsichtigkeit 
gesund 972 = 80,6 Proz. 
krank 235 = 19,4 „ 

Tabelle VII. 

Kränklichkeit der Knaben. 


u 

a> 

< 

Jahr 

Zahl der 
Untersuchten 

inclusive Kurzsichtigkeit 

exclusive Kurzsichtigkeit 

ge¬ 

sund 

krank 

ge¬ 

sund 

0/ 

Io 

krank 

°/o 

ge¬ 

sund 

krank 

ge¬ 

sund 

X 

krank 

°/o 

6 

141 

113 

28 

80,0 

20,0 

114 

27 

80,7 

19,3 

7 

143 

111 

32 

77,6 

22,4 

118 

25 

82,6 

17,4 

8 

153 

100 

53 

65,4 

34,6 

109 

44 

71,3 

28,7 

9 

145 

108 

37 j 

74,5 

25,5 

114 , 

31 

78,5 

21,5 

10 

138 

99 

1 39 ! 

71,8 

28,2 

108 1 

30 

78,3 

21,7 

11 

139 

95 

44 | 

68,4 

31,6 

100 

39 

72,0 

28,0 

12 

161 

114 ; 

47 , 

70,9 

29,1 

131 ; 

30 

81,3 

18,7 

13 

140 

105 | 

| 35 

75,0 

25,0 

113 ] 

27 

80,7 | 

19,3 











Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschalen etc. 181 


Tabelle VIII. Kränklichkeit der Mädchen. 


< 

Jahr 

P 

© 

«,P 

inclusive Kurzsichtigkeit 

exclusive Kurzsichtigkeit 

al 

as 

P 

ge¬ 

sund 

krank 

ge¬ 

sund 

*/. 

krank 

*/. 

ge¬ 

sund 

krank 

ge¬ 

sund 

*lo 

krank 

0/ 

/ 0 

6 

142 

119 

23 

83,8 

16,2 

121 

21 

85,2 

14,8 

7 

167 

124 

43 

74,3 

25,7 

138 

29 

82,6 

17,4 

8 

150 

125 

25 

83,4 

16,6 

135 

15 

90,0 

10,0 

9 

161 

123 

38 

76,7 

23,3 

130 

31 

80,8 

19,? 

10 

131 

97 

! 34 

74,1 

-5,9 

105 

26 j 

80,2 

19,8 

11 

144 

102 

42 

70,9 

29,1 | 

118 1 

31 

78,5 

21,5 

12 

147 

105 

■ 42 j 

71,5 

28,5 

108 j 

39 1 

! 73,5 

26,5 

13 

165 

112 

53 

67,9 

32,1 | 

122 

43 

74,0 

| 26,0 


Tabelle IX. 

Kränklichkeit sämmtlicher Kinder. 


inclnsive Kurzsichtigkeit 


exclusive Kurzsichtigkeit 


4J 

< 

Jahr 

p 

p 

' 

ge¬ 

sund 

krank 

ge¬ 

sund 

°/o 

krank 

°/o 

ge¬ 

sund 

krank 

ge¬ 

sund 

0/ 

Io 

krank 

°/o 

6 

283 

232 

51 

82,0 


235 

48 

83,1 

16,9 

7 


235 

75 

75,8 

24,2 

256 

54 

82,3 

17,7 

8 


225 

78 

74,3 

25,7 

244 

59 


19,5 

9 


231 

75 

75,5 

24,5 

244 

62 

79,8 

20,2 


269 

196 

73 

72,9 

27,1 

213 

56 

79,2 

20,8 

11 

283 

197 

86 

69,1 


213 

70 

75,3 

24,7 

12 


219 

89 

71,1 

28,9 

239 

69 

78,6 

22,4 

13 


217 

88 

71,0 


235 


77,0 


Sa. 2367 

1752 

615 

74,0 ! 

26,0 

1879 

488 

79,4 

20,6 


Aus diesen Tabellen geht hervor, dass die Kränklichkeit der 
Schulkinder des Kreises Isenhagen verhältnissmässig recht gering 
ist, auf jeden Fall sehr viel geringer, als sie bei den Schülern 
höherer Lehranstalten gefunden wird, wo die Krankenzahl, zumal 
in den obersten Klassen bekanntlich eine erschreckend hohe zu 
sein pflegt. Doch auch den Volksschülern anderer Gegenden 
gegenüber, beispielsweise den dänischen ländlichen Volksschülern, 
welche 29 Prozent Kranke aufzuweisen haben, erweist sich unsere 
Schuljugend mit 20,6 Prozent Kränklicher als verhältnissmässig 
recht gesund. 

Die Kleinheit der Zahlen muss zu einer gewissen Vorsicht 
bei weitergehenden Schlussfolgerungen mahnen! Immerhin dürfte 
der Schluss gestattet sein, zumal unter Berücksichtigung des Um¬ 
standes, dass allerwärts die gleiche Erscheinung festgestellt wurde, 
dass das Krankenprozent während der Zeit des Schulbesuches, 
wenn auch nur in geringem Grade zunimmt. Diese Zunahme ist 
aber, wenn man namentlich Tab. VII und VIII in das Auge fasst, 
so wenig gleichmässig, dass man kaum ein sich gleich bleibendes, 
allmählich in schädlichem Sinne auf die Gesundheit der Kinder 
einwirkendes Agens als die wesentliche Ursache annehmen kann. 
Der Gedanke liegt vielmehr nahe, dass es zufällig einwirkende, 










132 


Dr. Langerhans. 


bald hier, bald da sich geltend machende und dann ein plötzliches 
Anschwellen der Krankenziffer hervorrufende Einflüsse sind, welche 
in dieser allmählichen, im Ganzen aber doch so wenig stetigen 
Zunahme der Krankenziffer zur Geltung kommen. Die eingehen¬ 
dere Betrachtung wird in der That zeigen, dass es zumeist epide¬ 
mische Einflüsse, mit anderen Worten die Infektionskrank¬ 
heiten und ihre Folgezustände sind, welche gewissen Oertlich- 
keiten und auch gewissen Altersklassen das Gepräge einer grösseren 
Kränklichkeit aufdrücken! 

Die Art und Weise, wie die oben angeführten Krankheiten 
an dem Zustandekommen des Kranken - Prozentes für beide Ge¬ 
schlechter und für die einzelnen Jahrgänge betheiligt sind, ergeben 
die nachfolgenden Tabellen: 

Tabelle X. 

Krankheits-Prozente für die einzelnen Krankheiten. Knaben. 



- 

a 





Kurzsichtig¬ 

keit 

Rückgrats- 

Ver¬ 

krümmung 


1 ^ 

** 1 
2 

<5 

Jahr 

Blutarmut] 

Nasenblute 

Nervosität 

Appetit¬ 

losigkeit 

Kopfschmei 

Augen¬ 

krankheit 

Skrofeln 

Andere lanj 
wierige 
Krankheit 

6 

■a 

___ 

r 



1,4 

0,7 

1,4 

4,2 

12,7 

7 

2,4 

— 

— Ul 


0,7 

2,8 

7,0 


3,5 

6,3 

8 

K&l 

— 


— 

1,3 

3,3 

7,2 

0,7 

11,1 

13,7 

9 


mm 

— 

1,4 

0,7 

4,8 

5,6 

0,7 

6,2 

12,4 


2,2 

— 



3,6 

4,4 

9,3 


6,6 

8,0 

11 

2,9 


1,4 

1,4 

7,9 

4,2 

4,2 

0,7 

8,6 

10,7 

12 

0,6 

K&3 

— 


3,1 

3,7 

12,9 

0,6 

4,8 

8,0 

13 


Mam 



3,5 

2,1 

7,1 

0,7 

5,0 

8,1 

Sa. 1,6 | 

0,3 | 

0,3 ( 

0,5 i 

2,6 | 

U i 

6,7 i 

0,6 | 

6,3 | 10,0 


Tabelle XI. 

Krankheits-Prozente für die einzelnen Krankheiten. Mädchen. 


c 

0> 

4» 

< 

Jahr 

Blutarmuth 

Nasenbluten 

Nervosität 1 

Appetit¬ 

losigkeit 

Kopfschmerz 

Augen¬ 

krankheit 

Kurzsichtig-1 
keit 

Rückgrata- 

ver- 

krümmung 

Skrofeln 

Andere lang¬ 
wierige 
Krankheit 

6 

2,1 

- , 



r ,, 

- 

1,4 

i . 

4,2 

7,7 

7 

1,2 

— 

— 

— 

1,2 

mjm 

raxa 

2,4 

5,4 

7,2 

8 

3,3 

— 

— 

0,6 

1,2 

2,6 

7,3 

0,6 

3,3 

5,3 

9 

2,4 

— 

0,6 

1,8 

1,2 

4,9 

6,8 

1,8 

3,0 

7,4 


2,1 

wm 


1,4 

4,2 

4,2 

6,1 

14 

3,5 

5,3 

11 

2,1 

n&Sl 

— 

2,1 

2,1 

— 


4,9 

7,0 

7,6 

12 

2,1 

Ät$l 

— 


7,5 

4,9 

2,1 

Wi*« 

3,5 

13,6 

13 

5,4 

— 

— 

— 

7,8 

6,5 

10,3 

1,2 

3,5 

5,4 

Sa. 2,6 

0,3 

0,2 

0,8 

3,2 | 3,2 

6,6 

1,6 

4,1 

7,4 


Bemerkenswerth ist bei diesen Tabellen (X und XI) vor 
Allem das vollständige Zurücktreten der eigentlichen „Schul¬ 
krankheiten“, denen ein so grosser Theil der Spalten des 
Key’schen Formulars gewidmet ist und zwar mit Recht gewidmet 
ist; denn die hohe Kränklichkeitsziffer, welche die von K ey unter¬ 
suchten „Mittelschüler“ aufzuweisen haben, setzt sich zum über- 






l)ie gesundheitlichen Verhältnisse der läudlicheu Volksschulen etc. UW 

wiegenden Theile gerade aus diesen Krankheitszuständen zusammen 
und es sind bereits in den untersten Klassen nicht weniger, als 
14—16 Prozent der Schüler bleichsüchtig, während etwa 5 Proz. 
an Nasenbluten und 12 Proz. an Kopfschmerz leiden! Auch für 
Nervosität und Appetitlosigkeit finden sich viel höhere Prozent¬ 
angaben, als ich bei der Isenhagener Dorfjugend finden konnte. 
In diesem Sinne könnte das von mir benutzte Key’ sehe Formular 
für das mir vorliegende Untersuchungsobjekt eigentlich etwas un¬ 
praktisch erscheinen. Trotzdem habe ich geglaubt, daran fest- 
halten zu müssen! Denn es verliert beispielsweise die hübsche 
Arbeit von Nester off über den Gesundheitszustand der Schüler 
des klassischen Gymnasiums zu Moskau sehr erheblich an prak¬ 
tischer Verwerthbarkeit dadurch, dass Nesterolf dem gewöhn¬ 
lichen Gebrauch entgegen die Rubrik „Kopfschmerz“ gestrichen 
und dieses Leiden unter „Nervosität“ mit eingerechnet hat. Es 
kann ja zugegeben werden, dass es Fälle von Nervosität giebt, 
die sich zu Zeiten hauptsächlich als Kopfschmerz äussern, es giebt 
aber doch noch vielerlei andere Ursachen für Kopfschmerz und 
gerade der spezifische „Schülerkopfschmerz“ ist doch im Wesent¬ 
lichen als Ermüdungserscheinung aufzufassen und kommt oft genug 
während des Schülerlebens bei Leuten vor, die sonst keinerlei 
Zeichen einer nervösen Anlage zeigen und auch später keineswegs 
Neurastheniker werden. Vor Allem aber halte ich es für noth- 
wendig, sich an die von Key und Hertel gegebenen Normen zu 
halten; denn alle diese statistischen Arbeiten haben doch im 
Wesentlichen nur den Werth von Bausteinen! Selbst die kolos¬ 
salen Zahlenreihen der nordischen Enqueten genügen nicht zu 
allseitiger Aufklärung der so wichtigen Frage nach dem Einfluss 
des Schulbesuches auf die Gesundheit der Schüler. Es ist viel¬ 
mehr die Herbeischaffung eines umfangreicheren und vielseitigeren 
Materials die Vorbedingung einer gründlichen Beantwortung. Wie 
aber der Architekt bei demselben Bau nur Bausteine desselben 
Formats verwenden kann, so ist auch bei unserem Material eine 
gewisse Gleichmässigkeit thunlichst anzustreben! Dies ist der 
Grund, weswegen ich u. A. auch die Rubriken „Nasenbluten“ und 
„Nervosität“ in mein Formular aufgenommen habe, obgleich diese 
Zustände unter unserer Schuljugend in erheblicher Verbreitung 
keineswegs zu erwarten waren. Kopfschmerz, welcher bei 2,6 Proz. 
der Knaben und 3,2 Proz. der Mädchen beobachtet wurde, zeigt 
eine beachtenswerthe Zunahme bei den der Pubertät sich nähern¬ 
den, beiden ältesten Jahrgängen der Mädchen (7,5 und 7,8 Proz.). 

Dieselbe Erscheinung zeigt sich auch bei der Blutarmuth, 
welche nur bei 1,5 Proz. der Knaben und 2,6 Proz. der Mädchen 
vorkam. Auch hier steigt die Zahl der Blutarmen im letzten 
Jahrgang der Mädchen von 2,1 auf 5,4 Proz. 

Nasenbluten mit 0,3 Proz. und Nervosität mit 0,2 Proz. 
bei Mädchen und 0,3 Proz. bei Knaben spielen nur eine sehr 
untergeordnete Rolle. Ich bemerke aber, dass ich den dehnbaren 
Begriff „Nervosität“ ziemlich eng gefasst habe, dass ich also nur 
Zittern, Ohnmächten, krankhafte Schreckhaftigkeit, Weinkrämpfe 



134 


l)r. Langerlialis. 


und dergleichen hierunter verstanden habe, dass ich dagegen die 
eigentlichen Neurosen: Chorea, Epilepsie, Stottern, ebenso wie die 
schwereren Störungen der Gehirnthätigkeit, Blödsinn und Schwach¬ 
sinn unter der Sammelrubrik „ andere langwierige Krankheit“ ein¬ 
getragen habe. 

Appetitlosigkeit, als solche kam kaum je vor! Ja die 
darauf hin gerichtete Frage, die ihnen ganz fremde Vorstellung, 
als ob einer von ihnen sich nicht des allerbesten Appetits erfreuen 
könnte, pflegte den Kindern sehr spasshaft vorzukommen. Unter 
den sämmtlichen Kindern waren es nur 16 und zwar meistens 
Rekonvalescenten oder sonst schwächliche Individuen, von denen 
über Appetitlosigkeit geklagt wurde oder eine solche den Lehrern 
oder Banknachbarn bekannt war. 

Die äusseren Krankheiten des Auges, welche so 
zahlreiche Kinder, namentlich der niederen Volksklassen in die 
Sprechstunden der Aerzte und die Polikliniken treiben, fanden sich 
recht zahlreich, nämlich bei 39 Knaben (3,3 Proz.) und bei 41 
Mädchen (3,2 Proz.). Die nachstehende Tabelle, bei welcher beide 
Geschlechter unbedenklich gemeinschaftlich abgehandelt werden 
konnten, enthält nähere Angaben über die Art der Krankheit und 
über die Verkeilung auf die einzelnen Jahrgänge. 


Tabelle XII. Augenkrankheiten. 


h 

< 

Jahr 

Conjunctivitis 

follicularis 

andere For¬ 
men von Con¬ 
junctivitis 

Blepharitis 

ciliaris 

Keratitis 

* £3 

~ S> 

|| 
11 
° s 
w « 

Nystagmus 

Schielen 

Andere 

Augenkrank¬ 

heiten 

Augenkrank- 
lieit ohne nä¬ 
here Angabe 

Summa 

Bemerkungen 

6 



2 

_ 


_ 


_ 


2 


7 

3 

i 

1 

i 

2 

— 

i 

i*) 

— 

10 

*) Ooloboma 












iridis. 

8 

3 

i 

2 

i*) 

1 

— 

— 

— 

i 

9 

*) phlyctaenosa. 

!* 

3 

i 

8 

i 

— 

1*) 

— 


i 

15 

*) Amaurosis 












congenita bei¬ 












derseits. 

10 

4 

— 

5 

— 

1 

1 

— 

i*) 

— 

12 

*) Phthisis bulbi 












n. Hypopion. 

11 

1 

i 

i 

2*1 

1 _ 1 

— 

— 

i**) 

— 

f> 

*) traumatica. 












**) Dacryocystis 

12 ! 

3 

i 

3 

1 

1 

1 - 

i 

— 

2 

12 


13 

8 

— 

3 

— 

2 

1*) 

— i 



14 

*) mit einseiti¬ 









— 



gem Cataract, 

Sa. 2ö 

5 

25 

! 6 

7 

1 3 

2 

1 3 

4 

80 



Trotz der Kleinheit der Zahlen darf man wohl den Schluss 
ziehen, dass eine Zunahme der Augenkrankheiten während des 
Schulbesuches unter den hiesigen Schulkindern nicht festzustellen 
ist. Im Uebrigen bemerke ich, dass diejenigen Augenkrankheiten, 
welche man mit Vorliebe skrophulös nennt oder doch nannte, nicht 
unter „Skrophulose“, sondern nur hier notirt sind, falls nicht noch 
andere Symptome der Skrophulose Anlass gaben, den Fall ausser¬ 
dem noch unter „Skrophulose“ zu verzeichnen. — 

Epidemischer Follikular-Katarrh, der in unserer 
(übrigens beiläufig bemerkt, ganz trachom - freien) Gegend seit 





Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 13?> 

vielen Jaliren nicht aufgetreten war, herrschte im Frühjahr des 
Untersuchungsjahres, aus Braunschweig eingeschleppt, in ausge¬ 
dehntester Verbreitung in den drei Klassen des Marktfleckens 
Brome und in dem nahe gelegenen Tülau. Ich hatte damals den 
Versuch gemacht, die beiden Schulvorstände zu energischen 
Schritten gegen diese Krankheit zu veranlassen und hatte nament¬ 
lich regelmässige Revision sämmtlicher Schulkinder und ärztliche 
Behandlung der Erkrankten durch einen der in Brome ansässigen 
Aerzte in Vorschlag gebracht! Leider bildete der Geldpunkt und 
der scheinbar milde Verlauf der Krankheit ein unüberwindliches 
Hinderniss und der Ausgang war, dass bei meiner im August 
vorgenommenen Untersuchung fast ein Drittel der Kinder eine 
mehr oder weniger follikuläre Beschaffenheit der Bindehäute zeig¬ 
ten! Dagegen konnte ich in dem, meinem Wohnorte nahegelege¬ 
nen Dort Schweimke, wo im Juni eine ebensolche Epidemie nach 
und nach wohl sämmtliche Schulkinder ergriff, den dortigen sehr 
intelligenten Lehrer für die Behandlung interessiren, welche er 
unter meiner Anleitung auf das Sorgfältigste durchführte mit dem 
schönen Erfolg,dass unter 55 Schulkindern nur ein einziges Follikel- 
Bildung auf der Bindehaut zeigte 1 ). Uebrigens habe ich nicht jeden 
Fall, wo sich bei genauester Untersuchung ein paar Follikel auf 
der Lid-Schleimhaut sehen Hessen, als „Augenkrankheit“ einge¬ 
tragen, sondern nur diejenigen, wo Reizerscheinungen, Zusammen¬ 
ziehungen des Ringmuskels, Zwinkern oder Thränenfliessen beim 
Umklappen des Lides eine noch bestehende grössere Empfindlich¬ 
keit des Auges kennzeichneten oder bei denen die ganze Ueber- 
gangsfalte hahnenkammartig mit dicht gedrängten Follikeln bedeckt 
war, da ein solcher Zustand für die Zukunft des Auges doch 
gewiss nicht gleichgültig sein kann. Als Curiosum sei erwähnt, 
dass ich in zwei Fällen auf der Hornhaut festsitzende Fremdkörper 
(Flügeldecke eines kleinen Käfers und Stahlsplitter) vorfand und 
entfernte, von deren Vorhandensein die Kinder keine Ahnung 
hatten. 

Die Funktionsprüfung der Augen habe ich ausschliess¬ 
lich mit Hülfe der Schweigger’schen Sehproben vorgenommen. 
Spiegeluntersuchungen habe ich nicht angestellt und auf die Fest¬ 
stellung der Hypermetropie Verzicht geleistet. Ich habe ferner 
sehr bald die sechsjährigen Kinder von der Funktionsprüfung aus¬ 
geschlossen. Die Grande sind sehr naheHegende. Denn einmal 
waren in einigen Schulen die Kinder beim Studium ihrer Fibel 
noch nicht bei der Druckschrift angelangt und wenn es auch leicht 
gewesen wäre, dem Mangel von Sehproben in Schreibschrift durch 
Selbstanfertigung solcher Proben abzuhelfen, so wäre dabei doch 
nicht viel herausgekommen. Denn es zeigte sich, dass die Kinder 
im geistigen Erfassen der ihnen vorgehaltenen Schriftproben sich 
ganz verschieden verhielten. Einige Kinder, namentUch in den 
besser geleiteten Schulen beherrschten allerdings die Formen der 


*) Sehr erfreulich ist es, dass der Entwurf des Reichsseuchengesetzes unter 
Berücksichtigung dieser Verhältnisse unter Umständen die zwangsweise Anord¬ 
nung eines Heilverfahrens für zulässig erklärt, vid. §. 21. 



l.'tfj Dr. Langerhans: Die Gesundheitlichen Verhältnisse etc. 

Buchstaben mit grosser Sicherheit, während die anderen unsicher 
wurden, sobald die Buchstaben in Form und Grösse auch nur die 
geringste Abweichung von den aus der Fibel gewohnten Gestalten 
zeigten. Es hat dies ja auch nichts Auffallendes, wenn man be¬ 
denkt, dass die Kinder erst seit wenigen Monaten die Schule be¬ 
suchten, dass im Sommer die Zahl der Unterrichtsstunden nur sehr 
klein ist und dass ausserdem für diese beginnenden ABC-Schützen 
ein guter Theil der Zeit durch die Nothwendigkeit, sich erst an 
das ihnen fremde Hochdeutsch gewöhnen zu müssen, verloren geht. 
Somit würde die Sache schliesslich mehr auf eine Prüfung der 
Lehrgeschicklichkeit des Lehrers, als der Sehschärfe der Kinder 
hinauskommen. — Ich habe daher nur einige wenige 6jährige 
Kinder, bei denen die Kurzsichtigkeit unzweifelhaft und bedeutend 
war, eingetragen, habe aber den ganzen Jahrgang bei der Statis¬ 
tik ausser Acht gelassen. 

Es erwiesen sich von den 2084 Schulkindern der ältesten 
7 Jahrgänge 106 = 7,6 Prozent als kurzsichtig. Von den Mäd¬ 
chen waren 7,5, von den Knaben 7,8 Proz. kurzsichtig. Es konn¬ 
ten daher beide Geschlechter, zumal der Unterricht gemeinsam 
stattfindet und, abgesehen von dem geringfügigen Handarbeits¬ 
unterricht der Mädchen, gleiche Ansprüche an die Sehkraft gestellt 
werden, auch hier gemeinschaftlich abgehandelt werden, wodurch 
zufällige Schwankungen, die bei der Kleinheit des Zahlen-Materials 
unvermeidlich sind, besser ausgeglichen werden. 

Tabelle XIII. Kurzsichtigkeit. Knaben uud Mädchen zusammen. 


Alter 

j Zahl der 1 

i Untersuchten i 

i i 

Zahl der 
Kurzsichtigen 

Prozent der 
Kurzsichtigen 

7 Jahr 

310 

25 

8,0 

« » 

, 303 

22 

7,2 

9 * 

306 

19 

6,2 

10 „ 

260 

21 

7,8 

H * 

1 283 

21 

7,5 

12 * 

309 

25 1 

8,9 

13 * 

i 304 

28 | 

9,2 


Summe 2084 ; 

160 i 

7,6 


Wenn es nach dieser Tabelle auch scheinen möchte, als ob 
die Zahl der Kurzsichtigen mit der Dauer des Schulbesuches zu¬ 
nähme, so ist doch diese Zunahme so gering, dass der Zufall dabei 
eine Rolle spielen kann, sie entbehrt auch so vollständig diejenige 
Regelmässigkeit, welche andere Uutersuclier bei anders geartetem 
Untersuchungsmaterial schon bei viel kleinerer Schülerzahl fest¬ 
stellen konnten, so dass bei unseren Schulkindern eine regelmässig 
und gleichmässig wirkende Ursache für Entstehung und Zunahme 
der Kurzsichtigkeit, wie sie in höheren Schulen die Ueberan- 
strengung der Augen bildet, sicher keine erhebliche Rolle spielt. 
Die Hauptursache ist hier offenbar Vererbung! Es 
wurde mir in sehr vielen Fällen (ich habe leider keine näheren 
Notizen gemacht) von dem Lehrer angegeben, dass die Eltern 






Dr. Matthe«: Erwiderung auf den Artikel: Zur Desinfektion auf dem Lande. 137 

oder die älteren Geschwister ebenfalls kurzsichtig seien. Inter¬ 
essant war auch, dass unter den fünf Zwillingspaaren, welche sich 
in den Schulen vorfanden, in zwei Fällen beide Zwillinge kurz¬ 
sichtig waren. Es verdient ferner Erwähnung, dass der Lehrer¬ 
stand, der wohl mit Recht als der brillentragende Stand xax’ 
eine ganz unverhältnissmässig grosse Zahl kurzsichtiger 
Kinder in die Schulen geliefert hat. Meistens sind es gerade 
die höheren Grade der Kurzsichtigkeit, bei denen Erblichkeit nach¬ 
zuweisen war. Im Ganzen ist die Zaül der Kurzsichtigen erheb¬ 
lich höher, als sie in Dorfschulen sonst angetroffen wird (Cohn 
fand in schlesischen Dorfschulen 1,4 Proz. Kurzsichtige). Eine 
Erklärung für diese auffallende Thatsache vermag ich nicht an¬ 
zugeben. — 

(Schluss folgt.) 


Erwiderung auf den Artikel: Zur Desinfektion auf 

dem Lande. 

Von Kreisphysikus Dr. Matthes in Obornick. 

In Nr. 3 dieser Zeitschrift wird in obigem Artikel Bezug ge¬ 
nommen auf meine Veröffentlichung in Heft 19 vom Jahre 1892 
„Die Durchführung der Desinfektion bei Infektionskrankheiten in 
ländlichem Kreise“ und als unstatthaft bezeichnet, die infizirten 
Sachen „gelegentlich“ zur Desinfektionsanstalt zu senden, indem 
darauf Gewicht gelegt wird, die Desinfektion an einem Tage zu 
beendigen. Ich lege dasselbe Gewicht darauf und habe mit den 
Worten „die Sachen können gelegentlich befördert werden“ durch¬ 
aus nicht sagen wollen, dass die Beförderung aufgeschoben werden 
soll, vielmehr damit gemeint, dass zum Zwecke der Beförderung 
jede Gelegenheit benutzt werden kann, denn ich sprach kurz vor¬ 
her von den Kosten des Transportes und Kollege Ascher sagt 
ja selbst „auf Abholung durch besondere Wagen müssen wir auf 
dem Lande verzichten“. Es wird ferner als unzulässig bezeichnet, 
infizirte Sachen in eng gewebten, mit 5 °/o Karbollösung getränk¬ 
ten Säcken zu befördern. Ich bemerke hierzu, dass die bezügliche 
Verordnung in meinem Amtsbezirke besagt, „die Sachen sind in 
doppelten Säcken, die in 5°/ 0 Karbollösung getränkt sind, zu ver¬ 
senden“. Vielleicht hat Herr Kollege Ascher dadurch Beruhigung, 
ich meinerseits halte die Versendung für vollständig gefahrlos, 
obgleich ich es ja als wünschenswerth in meiner Veröffentlichung 
bezeichnete, Blechkasten zu haben, doch damals mir schon sagte, 
„am Gelde hängt etc.“ manches Problem in der Sanitätspolizei. 


Die diesjährigen Verhandlungen des preussischen Abgeord¬ 
netenhauses über den Medizinaletat. 

Wir haben bereits in der letzten Nummer der Zeitschrift 
einen kurzen Bericht über die am 25. v. M. stattgehabte Berathung 



138 Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 

des Medizinaletats im Abgeordnetenhause gebracht. Nach dem 
jetzt vorliegenden stenographischen Berichte lautet übrigens die 
von dem Herrn Minister in Bezug auf die Medizinalreform gegebene 
Erklärung günstiger, als nach den in den politischen Blättern ge¬ 
brachten Berichten. Nicht minder wichtig ist die bei der am 5. 
d. M. stattgefundenen dritten Berathung des Medizinaletats im 
ministeriellen Aufträge abgegebene Erklärung des Herrn Ministerial¬ 
direktors Dr. Bartsch: dass auch der Herr Finanzminister im 
Prinzip mit einer finanziellen Verbesserung der Stellung der Kreis¬ 
physiker einverstanden sei. Aber wenn diese Verbesserung etwa 
abhängig gemacht werden soll von der Höhe der Nebeneinnahmen, 
welche die Physiker noch etwa sonst aus ihrer amtlichen Thätig- 
keit beziehen, so würde dies unseres Erachtens vollständig unge¬ 
rechtfertigt sein. Es mag ja sein, dass einzelne Physiker erheb¬ 
liche Nebeneinnahmen haben, aber darauf kommt es doch bei der 
Entscheidung der vorliegenden Frage gar nicht an, sondern ledig¬ 
lich darauf, ob die jetzigen Gehalts- oder Kompetenzverhältnisse 
der Medizinalbeamten ausreichen, um an diese Beamten solche 
Anforderungen zu stellen, wie sie im öffentlichen gesundheitlichen 
Interesse gefordert werden müssen. Und diese Frage ist unbedingt 
zu verneinen, sie wird auch vom Herrn Minister ebenso wie von 
seinen Amtsvorgängern verneint und man muss sich nur wundern, 
dass dieser allseitig anerkannten Thatsache gegenüber erst noch 
Ermittelungen angestellt sind, die für die Entscheidung der Frage 
selbst keine Bedeutung haben. Ebenso wie die Thätigkeit eines Me¬ 
dizinalbeamten mit der ärztlichen Praxis unvereinbar ist, ebensowenig 
liegt es im Interesse seiner dienstlichen Thätigkeit, ihn für das geringe 
Gehalt, dass er für diese erhält, durch Zuwendung von Nebenein¬ 
nahmen schadlos zu halten; denn auch in dieser Hinsicht muss 
alles vermieden werden, um die beamteten Aerzte zum Konkurrenten 
der praktischen Aerzte zu machen, ohne deren bereitwillige Mit¬ 
wirkung sie in ihrer amtlichen Wirksamkeit mehr oder weniger 
lahm gelegt werden. Das Reichsseuchengesetz und die Cholera 
wird ja endlich dafür sorgen, dass die Besserstellung der Physiker 
in Bezug auf Gehalt und Kompetenz thatsächlich zur Durchführung 
gelangt und dass sie nicht wieder in den Akten begraben bleibt, 
wie so manche nothwendige Reformen des Medizinalwesens. Wenn 
der Abg. Dr. Graf von einer „Stagnation“ auf diesem Gebiete 
spricht, so hat er damit nur das richtige Wort getroffen; denn 
was nützen alle noch so schönen Vorarbeiten der wissenschaftlichen 
Deputation, was nützen alle Umfragen bei den zuständigen Be¬ 
hörden, Erörterungen u. s. w., wenn sie keine Früchte tragen, 
wenn dem Worte nicht die That folgt? Und sehen wir uns um 
nach diesen Thaten, so ist davon wenig zu spüren, besonders nach 
Abzug desjenigen, was eigentlich auf Konto der Reichsregierung 
gesetzt werden muss, wie das Impfgesetz, die Regelung des Ver¬ 
kehrs mit Arzneimittel u. s. w. Gerade der grösste deutsche Staat 
ist in der Fortentwickelung seines Medizinalwesens hinter den 
meisten anderen deutschen Staaten zurückgeblieben, während er 



Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 130 

auf dem Gebiete des medizinischen Unterrichtswesens jenen weit 
vorangeeilt ist; der beste Beweis, dass die Unterrichtsverwaltung 
der Medizinalverwalt.ung keinen Vortheil gebracht, sondern sie 
nur in den Hintergrund gedrängt und ihre Interessen gefährdet 
hat. Wir können auch jetzt die Befürchtung nicht unterdrücken, 
dass trotz des Wohlwollens, die der jetzige Herr Minister diesem 
Zweige seiner ausgedehnten Verwaltung entgegenbringt, demselben 
die zu seinem Gedeihen erforderlichen Lebenskräfte von dem über¬ 
mächtigen anderen Zweigen des Kultusministeriums beschnitten 
werden und er nicht eher zur vollen Entwickelung gelangen wird, 
als bis er einen eigenen Boden (Medizinalministerium) oder einen 
ihm mehr zusagenden Boden (Ministerium des Innern) erhält, von 
denen das erstere vorläufig noch ein frommer Wunsch bleiben wird. 

Ebenso wie in früheren Jahren sind die Abgeordneten Dr. 
Langerhans, Dr. Graf und v. Pilgrim wiederum bei der 
Etatsberathung in eindringlicher und zutreffender Weise für die 
Besserstellung der Kreisphysiker eingetreten, diesmal noch unter¬ 
stützt von zwei Mitgliedern der Centrumspartei, den Abgeordneten 
Brandenburg und Jerusalem. Die Anerkennung, die vom 
Ministertische aus an beiden Verhandlungstagen den Medizinal¬ 
beamten für ihre aufopfernde Thätigkeit während der vorjährigen 
Cholera - Epidemie im vollsten Maasse zu Theil geworden ist, wird 
sie für das ihnen seiner Zeit ertheilte Misstrauensvotum in Bezug 
auf die bakteriologische Untersuchungen einigermassen entschädi¬ 
gen. Ob die bei Bekämpfung der Cholera erzielten Erfolge „wirk¬ 
lich glänzend“ genannt werden können, darüber werden allerdings 
die Ansichten ebenso getheilt sein wie darüber, ob wir, falls die 
Seuche noch einmal ihr Haupt erheben sollte, thatsächlich voll¬ 
kommen vorbereitet sind? Der Herr Ministerialdirektor scheint 
jedenfalls nach dieser Richtung hin zuversichtlicher zu sein als 
der Herr Minister selbst, der ja offen zugestanden hat, dass die 
Ortsorgane der Medizinalbeamten zur Durchführung der erforder¬ 
lichen Massregeln nicht ausgereicht haben, so dass die Militär¬ 
medizinalverwaltung aushelfen musste. Man trägt sich daher 
unwillkürlich, was denn seitdem geschehen ist, um jene Zuversicht¬ 
lichkeit zu rechtfertigen? Mit der Einrichtung bakteriologischer 
Kurse und bakteriologischer Stationen ist in dieser Hinsicht doch 
nicht viel erreicht; denn der Schwerpunkt bei der Cholera und 
den anderen Volksseuchen liegt nicht allein in der bakteriologi¬ 
schen Feststellung der Krankheit, sondern vielmehr in den vor¬ 
beugenden Massregeln, in der Prophylaxe. Man sollte sich daher 
hüten, die Medizinalbeamten, um mit v. Pettenkofer zu reden, 
einseitig als Bazillenfänger und zwar speziell als Kommabazillen- 
fanger auszubilden! Ohne den Werth der Bakteriologie für den 
Medizinalbeamten unterschätzen zu wollen, müssen diese doch in erster 
Linie Hygieniker und vor allem ihrer Stellung nach volle Sanitätsbe¬ 
amte sein; ehe aber letzteres nicht erreicht ist, wird man der Bevölke¬ 
rung auch nicht die Garantie geben können, dass alle Schutzmassregeln 
gegen den drohenden Feind getroffen sind! 



140 Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 


Wir lassen im Nachstehenden den stenographischen Bericht 
der Verhandlungen des Abgeordnetenhauses folgen, soweit sie die 
Medizinalreform betreffen. In der Sitzung vom 5. d. M. kam auch 
die Irrenfrage zur Verhandlung; der Bericht hierüber hat wegen 
Mangels an Raum bis zur nächsten Nummer zurückgestellt werden 
müssen. 

1. Medizinalreform. 

a) Sitzung vom 25. Februar d. J. 

Abg Jerusalem: M. H.! Ich möchte mir an den Herrn Minister die 
Anfrage gestatten, ob und eventuell bis wann die Medizinalreform durchgeführt 
werden soll. Schon seit Jahrzehnten wird auf eine Medizinalreform gewartet, 
aber bisher ohne jeden Erfolg, und in letzter Zeit ging durch die Zeitungen die 
Nachricht, dass die Medizinalreform abgeschlossen oder wenigstens nahe bevor¬ 
stehend sei. Trotzdem finden wir im diesjährigen Etat noch nichts hiervon, ob¬ 
schon namentlich mit Rücksicht auf das dem Reichstage vorgelegte Reichs¬ 
seuchengesetz eine solche Reform sehr zu wünschen wäre. 

M. H., ich möchte in Verbindung damit in Anregung bringen, die Kreis- 
physiker als Staatsbeamte im Hauptamte anzustellen und ihnen jedwede Privat¬ 
praxis zu verbieten. Die neuere medizinische Wissenschaft erfordert ein tie¬ 
feres Eingehen auf die einzelnen Krankheitserscheinungen, namentlich, da man 
vielfach zu der Ansicht gekommen ist, dass viele Krankheiten auf Bazillen als 
Krankheitserreger zurückzuführen sind. Es ist daher zur Auffindung der Heil¬ 
mittel nothwendig, diese Bazillen aufzusuchen und eine intensive bakteriologische 
Untersuchung vorzunehmen; diese Arbeit setzt ein grosses Wissen und Können 
voraus. M. H., wenn der Kreisphysikus nebenbei Privatpraxis betreiben soll, so 
ist er kaum in der Lage, diesen namentlich in der Folge an ihn zu stellenden 
Ansprüchen, wie solche auch heute schon an ihn gestellt werden, vollständig 
gerecht zu werden; hat er aber keine Privatpraxis, so wird er kaum in der 
Lage sein, mit dem Gehalt von 900 Mark auszukommen. 

M. H., ich möchte nun der Ansicht sein, dass es möglich ist, dem Kreis¬ 
physikus noch eine Reihe vou besoldeten Geschäften zu übertragen oder ihnen 
die ärztliche Praxis, z. B. in öffeutlichen Krankenhäusern oder in Gefangenen- 
anstalten, auzuvertrauen. Dadurch würde er von mancher Seite Gehaltszulagen 
bekommen, die es unnöthig machten, das Gehalt als solches so sehr hoch in den 
Etat einzustellen. Ich möchte daher nur die Bitte wiederholen: der Herr Mi¬ 
nister möchte uns Aufschluss darüber geben, wie es mit der Medizinalreform 
aussieht, und ob insbesondere beabsichtigt wird, in Bälde eine anderweitige Re¬ 
gelung der Gehalts- und Kompetenzverhältnisse der Kreisphysici vorzunehmen. 

Kultusminister Dr. Bosse: M. H.! Der Gedanke einer organischen Re¬ 
form der Medizinalverwaltung — ich kann wohl sagen — an Haupt und Glie¬ 
dern, also einschliesslich der Frage einer Abzweigung der Medizinalverwaltung 
vom Kultusministerium, namentlich aber der Gedanke einer Reform der Medi¬ 
zinalverwaltung in ihren örtlichen Organen, den Kreisphysikern, ist seit Jahren 
im Kultusministerium erwogen worden. Als ich in mein jetziges Amt eintrat, 
habe ich die Frage bereits im Fluss vorgefunden. Sie ist in gewisser Weise ein 
Schmerzenskind des Kultusministeriums. Auch für sie gilt, wie in so vielen 
Dingen meines Ressorts, der Satz: Am Golde hängt, nach Golde drängt doch 
alles. Aber Sie wissen doch Alle, wie schwierig es unserer jetzigen Finanzlage 
gegenüber ist, erhebliche Mittel für an sich höchst wünschenwerthe Zwecke 
flüssig zu machen. Ich habe die Pflicht — und darin wird das Hohe Haus mit 
mir einverstanden sein —, auch meinerseits Rücksicht auf das zu nehmen, was 
der Herr Finanzminister unter den jetzigen Umständen thun kann. Natürlich 
dürfen dadurch die Dinge selbst nicht wesentlich geschädigt werden. Und zu 
den dringenden Anträgen, mit welchen ich an die Finanzverwaltung herantrete, 
gehört auch die Frage einer Reform der Medizinalverwaltung. 

M. H., im vorigen Jahre wies uns das Auftreten der Cholera ganz beson¬ 
ders darauf hin, zu erwägen, wie weit wir mit unsern jetzigen Ortsorganen 
der Medizinalverwaltung den bedeutsamen Anforderungen, die an sie gestellt 
werden, gerecht werden können. Die Antwort darauf konnte nicht zweifelhaft 
sein, dass für die abwehrenden Massnahmen, zu denen wir verpflichtet waren, 
unsere Organe nicht voll ausreichten. Man hat mir gesagt, das wäre doch 



t)ic diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses ctc. 141 


eigentlich ein beschämendes Ergebniss unserer Einrichtungen, und das ist bis zu 
einem gewissen Grade auch richtig. 

Auf der anderen Seite aber muss ich hervorheben, dass die Organe unserer 
Medizinalverwaltung, namentlich auch die Ortsorgane sich mit einer Umsicht, 
Hingebung und Pflichttreue den ihnen gestellten schwierigen Aufgaben unterzogen 
haben, die vollste Anerkennung verdienen. Es ist uns in Preussen gelungen, 
wobei ich der ausserordentlich entgegenkommenden Hülfe der Militärverwaltung 
dankend gedenken darf, im Grossen und Ganzen die Cholera, wo sie Sich zeigte, 
zu lokalisiren. Das ist ein grosser Erfolg, den wir früher nicht erreicht haben, 
und der offenbar zusammenhängt mit dem Stande der bakteriologischen Forschung* 
Ueber diese Frage werden die Herren noch in einer besonderen Denkschrift Aus¬ 
kunft erhalten; ich werde heute nicht näher darauf eingehen. 

Was unsere Physiker anlangt, so muss sich ja Jedermann die Frage auf¬ 
drängen: wie kann man von Leuten, die mit einem nicht pensionsfähigen Ein¬ 
kommen von 900 Mark jährlich angestellt sind, Angesichts der täglich wachsen¬ 
den Aufgaben der prophylaktischen Medizinalverwaltung verlangen, dass sie 
allen Anforderungen ihres schwierigen und umfassenden Amtes gerecht werden? 
Nun, m. H., die Frage hat sich auch die Medizinalverwaltung in der Zentral¬ 
instanz längst vorgelegt. Aber so ganz einfach ist sie doch nicht zu entscheiden. 
Denn unsere Physiker sind nicht ausschliesslich auf das Gehalt von 900 Mark 
angewiesen, sie beziehen daneben für gewisse Amtshandlungen Gebühren, und 
diese sind in den verschiedenen Kreisen, ebenso wie Umfang und Art der Amts¬ 
geschäfte selbst, ganz ausserordentlich verschieden. Hier wird sich ein Ausgleich 
nicht leicht finden lassen. Dazu kommt die schwierige Frage, die ja auch der 
Herr Vorredner bereits berührt hat: wie weit sollen die Physiker ihre Praxis 
beibehalten dürfen und wie bisher auf ihre Praxis angewiesen sein? Einerseits 
ist es wohl ganz zweifellos, dass Angesichts der oft sehr dringenden, sehr weit 
reichenden, sehr verantwortungsvollen Aufgaben, welche die amtliche Stellung 
den Kreisphysikern auferlegt, die Privatpraxis — ich will mich nur ganz milde 
ausdrücken — hindernd sein kann und letztere wohl auch die Stellung zu den 
nicht beamteten Aerzten mitunter in unerwünschter Weise erschwert. Anderer¬ 
seits hat die Privatpraxis auch wieder ihre Vorzüge, selbst nach der amtlichen 
Seite hin; sie erhält die Physiker in Zusammenhang mit der praktischen Medizin, 
giebt ihnen eine engere Fühlung mit den Bedürfnissen des praktischen Lebens 
und bietet ihnen mehr Gelegenheit, Einblick in die örtlichen Zustände und in 
die Lebensverhältnisse der Kreiseinwohner zu nehmen, sowie die dabei gesam¬ 
melten Erfahrungen fruchtbringend zu verwerthen, als wenn sie ausschliesslich 
auf die unmittelbaren Aufgaben ihres Amtes beschränkt wären. Ich will alle 
diese Bedenken nur angedeutet haben. Aber ich erkenne an, wie die Sache 
jetzt ist, wird sie schwerlich auf die Dauer weitergehen. Ich habe auch sofort 
Angesichts der Gefahr, die, wie erwähnt, im vorigen Jahr hervorgetreten ist, 
mich aufs Nene und sehr dringend mit dem Herrn Finanzminister in Verbin¬ 
dung gesetzt. Es hat das den Erfolg gehabt, dass zunächst neue Ermittelungen 
angestellt worden sind über die jetzige Lage der Physiker, ihr Gehalt, ihre Be¬ 
züge aus Amtsgeschäften und ihre Nebeneinnahmen als Impfärzte, als Aerzte 
bei Krankenhäusern, Gefängnissen u. s. w. Die Ermittelungen sind noch nicht 
abgeschlossen; unmittelbar nach ihrem Abschluss werde ich die Frage weiter 
verfolgen und Vorschläge machen, wie die Organisation des Physikats künftig 
zu gestalten sein wird. Ganz leicht ist die Sache nicht, denn es handelt sich 
nicht blos um die Gehaltsfrage, es handelt sich dabei auch um die ganze Stel¬ 
lung der Physiker, um die Abgrenzung ihrer Obliegenheiten und Befugnisse, um 
ihre Einreihung in die Organe der Verwaltung, die für die Gesundheitspflege zu 
sorgen haben. Also ich kann zur Zeit nicht ein bestimmtes Versprechen abgeben, 
ich kann nicht sagen: bis zu dem oder jenem Zeitpunkte wird die Organisation 
fertig sein. Ich kann nur sagen: Seien Sie überzeugt, dass die Verhältnisse selbst 
uns drängen, und haben Sie das Vertrauen, dass wir den Ernst der Verhält¬ 
nisse anerkennen und wir die Sache mit allem Ernst und mit aller Energie in 
die Wege leiten. 

Allerdings ist es ja auffallend und mir persönlich auffallend gewesen, ein 
wie grosser Andraug auch unter den jetzigen ungünstigen Besoldungsverhält¬ 
nissen zu jeder erledigten Physikatsstelle bei uns stattfindet, und wie sehr die 
Aerzte sich auch zu der kleinen Einnahme aus dem Physikat drängen. Inwie¬ 
weit dies auf die ungünstigen Einnahmeverhältnisse der Aerzte überhaupt 



142 Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 

zurückznführen ist, will ich hier nicht weiter erörtern. Hervorheben muss ich 
aber, dass die Klagen über die im Verh&ltniss zu der Arbeitslast ungenügende Besol¬ 
dung allgemein sind, und dass nicht selten bald nach der Anstellung die Kreisphy¬ 
siker auf ihr Amt verzichten oder Versetzung in ein besseres Physikat verlangen. 

Endlich fühle ich mich verpflichtet, ausdrücklich anzuerkennen, 
dass ungeachtet dieser vielfach unzulänglichen Besoldung und 
ungeachtet der mannigfach verbesserungsbedürftigen Stellung 
dieser Beamten unsere Physiker Tüchtige s geleist et haben, das s 
sie mit einer Hingabe, mit einer Treue, mit einer Aufopferung 
<}ie Geschäfte, die ihnen von Amtswegen aufgetragen werden, 
erledigen, die ich nicht genug rühmen kann. 

M. H., wir sind uns der grossen Aufgabe, die wir auf diesem Gebiete 
haben, vollständig bewusst, und ich hoffe, demnächst in der Lage zu sein, dem 
Hohen Hause eine Vorlage in der Angelegenheit machen zu können. Jedenfalls 
kann die Frage nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden. (Bravo!) 

Abg. Dr. Langerhans: M. H.! Ich theile ganz den Wunsch des Herrn 
Abgeordneten Jerusalem, dass möglichst bald eine Medizinalreform in’s 
Leben tritt, wenngleich ich darin auch dem Herrn Abgeordneten Jerusalem 
widersprechen muss, dass die Privatpraxis für die Physici den Uebelstand nicht 
hat, den Herr Abgeordneter Jerusalem in der Privatpraxis der Physici findet. 
Es ist nicht zweckmässig, wenn die Leute, die über das pulsirende Leben ein 
Urtheil abgeben sollen, nicht mitten im Leben stehen, wenn sie nicht eine Ah¬ 
nung von den Krankheiten haben, wenn sie nicht die Anschauung haben, in 
welcher Weise die epidemischen Krankheiten, gegen die man Vorkehrungen 
treffen will, verlaufen. Deshalb, glaube ich, ist das vollständig zu rechtfertigen, 
was der Herr Minister mit Recht hervorgehoben hat. Auch der andere Grund, 
den der Herr Abg. Jerusalem für eine schnelle Medizinalreform anregte, näm¬ 
lich die Einführung eines Seuchengesetzes, möchte eher dafür sprechen, lieber 
eine derartige grosse Medizinalreform anfzuschieben, bis man sich über ein 
Seuchengesetz verständigt hat; denn das Ministerium ist Uber diese Angelegen¬ 
heit ausserordentlich gut berathen, und es wird wahrscheinlich auch das Reichs¬ 
gesundheitsamt mit recht zweckmässigen Vorschlägen horvortreten. 

Aber dessen ungeachtet kann ich es nicht unterlassen, doch der Regierung 
einen kleinen Vorwurf zu machen. Seit Jahren sind hier die Wünsche nach 
besserer Stellung der Physici laut geworden; wenn eine Mediziualreform in dem 
Umfange, wie es gewünscht wird, nicht ausgeführt werden kann, und wenn die 
Jetztzeit auch in Beziehung auf die Finanz Verhältnisse nicht günstig ist, um 
diese Medizinalreform vollständig durcbznführen, so könnte man doch sagen, es 
könnte etwas mehr geschehen in Betreff der Stellung der Kreisphysici. Die 
Kreisphysici sind Staatsbeamte. Als solche sind die Kreisphysici so besoldet, dass 
sie in der That den Anforderungen nicht genügen können, die an sie gestellt 
werden. Es ist ganz richtig, auch die Kreisphysici haben durch ihre Stellung 
eine Reihe von Einnahmen. Für bestimmte Atteste, die sie geben, können sie 
etwas fordern. Ausserdem sind sie als Kreisphysici angesehene Personen im 
Kreise, und deshalb werden sie zur Privatpraxis mehr gesucht, wie vielleicht 
manche andere Aerzte. Daher kommt trotz des minimalen Gehalts von 900 M. 
der dauernde Andrang zu diesen Stellen. Indessen, wenn Sie gerade auf die 
Cholera Rücksicht nehmen, wie wir sie erlebt haben, so würden ohne Zweifel 
die Vorsichtsmassregeln zweckmässiger durchgeführt werden können, wenn die 
Kreisphysici sowohl in ihrem Gehalt, wie in ihrer Kompetenz eine andere Stel¬ 
lung bekämen. 

Es ist mir sehr zweifelhaft, ob die Kreisphysici heute schon alle in dem 
Besitz derartiger Instrumente sind — ich weiss bestimmt, dass sie in einem 
Theil des Ostens nicht im Besitz der uothwendigen Mikroskope sind, — um 
z. B. die Natur der Vorgefundenen Bazillen festzustellcn. Da das vorläufig nach 
unserer bis jetzt gewonnenen Ueberzeugung in der Wissenschaft von ausseror¬ 
dentlicher Bedeutung ist, so würde man wenigstens in dieser Beziehung den 
Kreisphysikern zu Hülfe kommen müssen. Die Untersuchung ist nicht so leicht, 
wie das Manchem scheint, und wir, die wir vielleicht etwas mehr davon wissen 
und davon verstehen, müssen sagen, es werden eine ganze Menge von Gutachten 
abgegeben von Leuten, denen wir ein vollständiges Urtheil darüber, ob die Ba¬ 
zillen gerade derartig, wie behauptet, sind, nicht Zutrauen. Es gehört dazu 
eine ganz grosse Erfahrung und eine grosse Vorbildung. Deshalb wäre es 



Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 143 

wirklich sehr wichtig, wenn man den Kreisphysikern durch Gewährung eines 
höheren Gehalt« die Möglichkeit gäbe, sich mit den nöthigen Instrumenten zu 
versehen und einen Theil ihrer Privatpraxis abzugeben, um ihren sonstigen Ge¬ 
schäften mehr obliegen zu können. 

Wir haben das nun schon seit Jahren gefordert-, und nach meiner Ansicht 
ist ein Vorwurf der Regierung um so mehr zu machen, als unsere Medizinal¬ 
verwaltung dem Finanzministerium gegenüber schon lange nicht mit ihren For¬ 
derungen durchdringen kann. Nach Lage unserer Finanzverhältnisse ist das ja 
wohl auch vom Finanzminister zum grossen Theil richtig erkannt. Aber, meine 
Herren, deshalb komme ich immer wieder auf unsere alte Forderung zurück, 
dass wir diese Leute, in denen doch schliesslich die wirklichen Sachverständigen 
gefunden werden müssen bei Beurtheilung der bakteriologischen Erscheinungen 
u. s. w., entschieden besser stellen müssten. Ich glaube, das könnte die Regie¬ 
rung thun, ohne übermässige Kosten, das könnte die Regierung ohne die volle 
Durchführung der Medizinalreform. 

Eine Medizinalreform vollständig durchzuführen, wird ausserordentlich 
schwer sein, auch sachlich sehr schwer, nicht bloss finanziell. Es werden eine 
Menge von Widersprüchen erscheinen, es werden grosse Fragen da in Betracht 
kommen, z. B. die Frage: wie weit soll man Aerzte zu Beamte machen, wie 
weit soll man das nach Möglichkeit vermeiden? Ich halte es für ein Unglück, 
wenu die Aerzte in zu grosser Zahl Beamte werden. Ich halte es für glück¬ 
licher, wenn man den Aerzten, denen man in bestimmten Richtungen und für 
bestimmte Dinge Beamtenqualität geben will, auch noch ihre freie Praxis über¬ 
lässt, wie das sehr treffend der Herr Kultusminister ausgeführt hat. Darum 
erhebe ich wieder den Anspruch, dass vor allen Dingen einer der ersten Schritte 
der wäre, dass man die Kreisphysici besser stellt. Sie können sich ja doch eine 
Medizinalreform gar nicht anders denken, als für jeden bestimmten Kreis — ob 
gerade die jetzige Einteilung der Kreise dabei massgebend ist oder nicht, ist 
ganz gleichgültig —, aber Sie können sich die Medizinalreform doch gar nicht 
anders denken, als dass in kleineren Kreisen bestimmte Anhaltspunkte gegeben 
werden für die Medizinalverwaltuug; denn wenn das nicht der Fall ist, dann 
tritt die Erledigung in den einzelnen Landestheilen durch die Zeitverschwendung 
so sehr zurück, wie es irgend möglich ist. Aber es handelt sich auch inn die 
Kompetenz: die Kreisphysici müssen in Beziehung auf die hygienischen Mass- 
regeln etwas mehr Macht haben dem Landrath wie den sonstigen Verwaltungs¬ 
behörden gegenüber, und das, glaube ich, liesse sich ohne wesentliche Mehr¬ 
kosten durchführen. 

Ich glaube, wenn der Herr Minister die Schwierigkeiten einer vollstän¬ 
digen Medizinalreform durchschaut und er sich vorläufig dahin wenden wollte, 
dass eine grössere Sicherheit gegeben wird dadurch, dass in den lokalen Be¬ 
zirken vorläufig die Kreisphysici etwas grösseres Gehalt und etwas mehr Kom¬ 
petenz bekämen, dadurch schon vorläufig der Gesundheitspflege in unserem 
Staat wesentlich Dienste geleistet würden. (Bravo!) 

Abg. Brandenburg: Es war meine Absicht, für die Medizinalbeamten, 
die Kreisphysici, hier einzutretcu; nachdem der Kultusminister sich so entgegen¬ 
kommend geäussert hat, ist das unnöthig geworden. Ich muss sagen, schon als 
ich die Vorlage geleseu habe, die wegen des Seuchenengesetzes zunächst an den 
Bundesrath gebracht und im Reichsanzeiger veröffentlicht ist, habe ich die Auf¬ 
besserung der Stellung der Medizimilbeamten als hieraus gegeben erachtet. 

Was aber die in dieser Vorlage vorgesehene Erhöhung der Kompetenz 
anbetrifft, so möchte ich doch glauben, dass man darin etwas vorsichtig sein 
möchte. Es kanu sich fragen, ob man gegenüber dern Hausrecht und gegenüber 
dem Familienverbande nicht reichlich weit gegangeu ist, indem man das ge¬ 
waltsame Einschreiten von dem Ermessen der Kreisphysici abhängig gemacht hat. 

Abg. Jerusalem: M. H.! Ich möchte dem Herrn Abgeordneten Dr. 
Langerhans entgegnen, dass cs doch wohl nicht gut augeht, den Kreisphysi¬ 
kern zu sagen: Privatpraxis darfst du haben; aber dieselbe darf deine ganze 
Thätigkeit nicht in Anspruch nehmen. Ich meine, da muss eine reinliche 
Scheidung vorgenommen werden; mau muss sagen, er darf gar keine Privat¬ 
praxis übernehmen oder er darf eine solche übernehmen; das letztere würde 
meines Erachtens von üblen Folgen für sein Arnt als Kreisphysikus sein. Wenn 
ihm neben den bisherigen vielen Amtsgeschäften noch die grossen Aufgaben 
auferlegt werden, die das Reiehsseuchengesetz in Aussicht nimmt, so wird er 



144 Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 

nicht in der Lage sein, noch Privatpraxis nebenher zu treiben. Wird man aber 
ihm Privatpraxis nebenher gestatten, so wird es für ihn selbst schwer sein, das 
Mass seiner Privatpraxis zu bestimmen, und dabei wird sein Amt leicht Schaden 
leiden können. Ich möchte mich deshalb dafür entscheiden, dass man den Kreis¬ 
physikern jede Privatpraxis, nicht aber eine solche in öffentlichen Kranken¬ 
häusern verbietet. Durch seine Thätigkeit in diesen Anstalten wird er sich 
einen genügenden Einblick in die gesundheitlichen Verhältnisse verschaffen 
können, und es wird nicht nöthig sein, ihm noch eine ärztliche Praxis in den 
Familien zu gestatten. 

b) Sitzung vom 5. März. 

Abg. Dr. Graf (Elberfeld): M. H.! Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, 
wie ich das alljährlich gethan habe, über die Fata Morgana der Medizinalreform 
hier zu sprechen. Da aber der Gegenstand bei der zweiten Lesung in einer 
Sitzung, welcher beizuwohnen ich verhindert war, doch schon behandelt worden 
ist, so sehe ich mich veranlasst, dem dort Gesagten einiges hinzuzufügen. 

Ich habe bereits öfter nachgewiesen, dass bei der enormen Steigerung 
unseres Etats, in specie auch des Kultusetats, allein der Medizinaletat gar keine 
Berücksichtigung gefunden hat. Ich habe das durch Zahlen bewiesen. Im 
Jahre 1870 betrug der ganze Kultusetat 19 Millionen. Davon entfielen auf den 
Medizinaletat l 1 /, Millionen. Für das Jahr 1892/93 sehen wir die Summe 
1838000 Mark eingestellt, während der gesammte Etat auf über 103 Millionen 
sich beziffert. In diesen 1838000 Mark sind aber noch enthalten erstens ein 
durchlaufender Posten von 159000 Mark für Examinationsgebühren, welcher 
lediglich ein rechnerischer Posten ist, der sich in den Einnahmen wiederfindet; 
cs ist ferner darin enthalten der Beitrag für das Charitekrankenhaus mit 
206000 Mark und das Institut für Infektionskrankheiten mit 233000 Mark, so 
dass für Ausgaben, die die eigentliche Medizinalverwaltung betreffen, nicht ganz 
1 */« Millionen übrig bleiben. Da habe ich mich denn fragen müssen, ob nicht 
doch vielleicht die Ursache dieser Stagnation in der Verbindung mit Kirche und 
Schule zu finden ist. Ich habe früher stets für die Verbindung mit dem Kultus¬ 
ministerium plädirt, weil ihm die Sorge für die medizinische Lehre und Wissen¬ 
schaft obliegt, und weil dasselbe der Sitz der wissenschaftlichen Deputation für 
das Medizinalwesen ist. Es ist mir auch fraglich, ob an der Stelle, wo die 
Sorge für die Medizinalpolizei und -Verwaltung obwaltet, beim Ministerium des 
Innern, uns ein günstigeres Loos blühen wird, und so muss ich als das Ziel der 
Zukunft unbedingt hinstellen ein eigenes Medizinalministerium. In den 
10 Jahren, die ich Abgeordneter bin, habe ich drei Kultusminister erlebt, alle 
nicht nur von dem landesüblichen Wohlwollen beseelt, sondern alle mit Sach- 
kenntniss und klarer Erkenntnis des Nothwendigen ausgestattet, und ich erinnere 
mich recht wohl der Zeit, wo der jetzige Herr Kultusminister als Medizinal¬ 
referent im Kultusministerium Pläne für die Mcdizinalreform ausgearbeitet hat. 
Alle diese Herren sind aber nicht im Stande gewesen, die nothwendige finanzielle 
Grundlage zu schaffen; wir haben auch einen Finanzminister, dessen ganze Ver¬ 
gangenheit sich in hervorragender Weise auf dem Gebiet der öffentlichen Ge¬ 
sundheitspflege bewegt hat, und dem wir wohl Zutrauen müssen, dass er deren 
Bedürfnisse erkennt. Dennoch liegt die Sache so, wie ich eben geschildert habe. 

Heute muss ich die letzte Hoffnung daran knüpfen, dass die Cholera, 
die grosse Lehrmeisterin der Menschheit, wieder an unsere Pforten geklopft hat, 
ja, dass sie nicht blos an unseren Grenzen, sondern auch im engeren Vaterlande 
schon Eingang gefunden und zahlreiche Opfer gefordert hat, dass also durch sie 
die Frage der Abwehr und der Bekämpfung der Seuche und damit die Medizinal¬ 
reform wieder in Fluss gekommen ist. Der Herr Minister hat selbst anerkannt, 
dass die Organe unserer Medizinalverwaltung nicht ausreichten, dass die Mili¬ 
tärverwaltung aushelfen musste. M. H., dass das nicht so bleiben kann, ist gar 
keine Frage. 

Als im September des vorigen Jahres im Reichsgesundheitsamt die Vor¬ 
berathungen für das Reichsseuchengesetz stattfanden, haben wir Preussen mit 
berechtigtem Neid auf die anderen deutschen Staaten blicken müssen, in denen 
die einschlägigen Verhältnisse weit besser geordnet sind. Kommt dieses 
Seuchengesetz zur Verabschiedung, was wir hoffen wollen, sei es in der jetzt 
geplanten weiteren Ausdehnung, sei es nach den Wünschen vieler in seiner Be¬ 
schränkung auf die mehr exotischen Krankheiten, auf Cholera, Pocken, Pest, 
Gelbfieber, Rückfallfieber, während die mehr einheimischen Seuchen der Gesetz- 



Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 145 

gebung der einzelnen Länder Vorbehalten bleiben sollen — wird also das Seuchen¬ 
gesetz perfekt, dann bringt es eine Seihe von Aufgaben für den beamteten und 
den praktischen Arzt mit sich, die unbedingt eine Neuordnung des Medizinal- 
wesens erfordern. 

Nach dem vorliegenden Entwürfe des Reichsseuchengesetzes soll der 
Amtsarzt beim Ausbruch einer Seuche sich augenblicklich an Ort und Stelle 
begeben, dort Ermittelungen über Art, Stand und Ursache der Krankheit vor¬ 
nehmen, im Nothfalle auch ohne Requisition der Polizeibehörde; er soll den 
Gang der Krankheit örtlich und zeitlich verfolgen, soll im Nothfalle auch auf 
Anordnung der Behörde jeden einzelnen Krankheits- und Todesfall seiner Er¬ 
mittelung unterziehen; der Amtsarzt soll ferner Zutritt zu dem Kranken und 
zur Leiche und das Recht zu den erforderlichen Untersuchungen haben; er soll 
auf seinen Antrag die Sektion der Leiche vornehmen dürfen; Hausarzt und 
Haushaltungsvorstände sind verpflichtet, ihm Auskunft zu ertheilen; ferner kann 
er in Gemeinschaft mit der Behörde die Ueberführung in das Krankenhaus und 
die Isolirung des Kranken anordnen; er kann Wohnungen räumen lassen; er 
kann die Desinfektion oder die Vernichtung von Gegenständen anordnen. M. H., 
das sind alles tief einschneidende Massregeln, welche viel Geld kosten, namentlich 
auch durch die zu zahlenden Entschädigungen. 

Aber sollte auch das Reichsgesetz sich nur auf den Kriegszustand, auf 
jene genannten Krankheiten, Cholera, Pocken u. s. w. beschränken, so bleibt 
dann noch ebenso wichtig, ja noch viel wichtiger der Kampf gegen unsere täg¬ 
lichen Feinde, Typhus, Scharlach u. s. w. Und da möchte ich auch hier vor 
dem vielfach im Publikum verbreiteten Irrthum warnen, als seien Bakterio¬ 
logie und Hygiene identisch. Wir sind stolz auf unsere bakteriologischen 
Entdeckungen, auf den Nachweis der Träger der Ansteckung bei Tuberkulose, 
Cholera u. s. w. Aber, meine Herren, diese Wissenschaft ist fortwährend im 
Fluss begriffen; ihre letzten Konsequenzen sind noch nicht gezogen: wir kennen 
noch nicht genügend die Lebensbedingungen für diese kleinsten Lebewesen, die 
Verhältnisse, unter denen sie gedeihen und nicht gedeihen. Da ist es mit dem 
Nachweis eines Bacillus oder mit der Schaffung der nöthigen Instrumente für 
den Pbysikus nicht gethan. Deshalb bleibt nach wie vor von der hervor¬ 
ragendsten Bedeutung die unausgesetzte Bekämpfung der Krankheitsursachen 
und der Krankheitsbedingungen, die Prophylaxe der Krankheit. Dahin ge¬ 
hört die Sorge für alle Anforderungen der öffentlichen Gesundheitspflege, 
Nahrungsmittel, Sorge für Reinhaltung der Wasserläufe und Kanäle, Trink¬ 
wasserversorgung u. s. w. 

Für die Erfüllung aller dieser Aufgaben bedarf es einer veränderten Or¬ 
ganisation und einer erweiterten Kompetenz jener Beamten, ln England 
gipfelt die Organisation des öffentlichen Gesundheitswesens in einem Gesund¬ 
heitsamte, local government of health, und wie ich soeben lese, geht man auch 
dort mit dem Gedanken um, ein Ministerialdepartement für das öffentliche Ge¬ 
sundheitswesen mit einem verantwortlichen Minister zu schaffen. Für Deutsch¬ 
land stehen einer solchen Zentralisirung ganz bestimmte politische Schwierig¬ 
keiten entgegen. Aber für den grössten deutschen Bundesstaat, fürPreussen, 
ist eine straffe Organisation doch sicher durchführbar. In England giebt es 
dann Gesundheitsbeamte für grössere Bezirke von 80 bis 150000 Ein¬ 
wohnern ohne Privatpraxis und mit dem Nachweis spezialistischer Kenntnisse. 
Dazu tritt aber noch das Institut der Armenärzte, welche gleichfalls Auf¬ 
gaben der öffentlichen Gesundheitspflege zu erfüllen haben, und in grossen 
Gemeinden dann noch die Einrichtung der Gesundheitsaufseher, welche 
die Häuser auf Schädlichkeit zu untersuchen haben, die Kanäle, Klosets, die 
Herbergen, Schlachthäuser u. s. w. Die finanzielle Seite ist in England derartig 
geregelt, dass der Staat einen Zuschuss an die Physiker und Armenärzte giebt 
im Betrage von 6 Millionen Mark, also etwa das drei- bis vierfache unseres 
gesammten Etats. M. H., dass wir auch nicht annähernd daran denken können, 
solche Summen für Preussen flüssig zu machen, ist ja klar; aber ebenso sicher 
ist, dass die jetzige Bezahlung der Physiker mit 900 Mark geradezu wie ein 
Holm klingt. Alle sachverständigen Kreise stimmen darin überein, dass ein 
festes pensionsfähiges Gehalt nothwendig ist, welches jene Aerzte von der Ueber- 
nahme einer Privatpraxis unabhängig stellt und ihnen ihr Amt nicht als reines 
Nebenamt erscheinen lässt. Wie weit bei der Beschaffung dieses Gehalts die 
Gemeinden und Kreise, in deren Interesse ja ein grosser Theil der Aufgaben 



146 Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 

jener Beamten liegt, heranzuziehen sind, das dürfte wohl zu erwägen sein. Da¬ 
gegen gehen bekanntlich die Meinungen darüber auseinander, ob diese Physiker 
in Zukunft von der Privatpraxis gänzlich auszuschliessen seien. Für grosse 
Städte und Bezirke, wie zum Beispiel für die Mehrzahl der Regierungsmedizinal- 
räthe, hat die Macht der Thatsachen das schon bewirkt, es bleibt ihnen einfach 
keine Zeit. Meines Erachtens muss sich in Zukunft das mehr und mehr so 
vollziehen. Und wenn hier der Einwand erhoben ist, jene Aerzte müssten im 
Interesse ihrer Wirksamkeit mit der Praxis in permanenter Berührung bleiben, 
so steht dem entgegen, dass es sich bei diesen Gesundheitsbeamten wesentlich 
um ältere Aerzte handelt, welche eine längere praktische Vergangenheit hinter 
sich haben. 

Soll ich meine persönliche Idee darüber entwickeln, wie sich diese Sache 
weiter gestalten soll, so würde ich zunächst dafür plädiren, die kleineren Physi- 
katbezirke zu grösseren zusammenzulegen, sodass dieselben dann für einen Ge¬ 
sundheitsbeamten genügende Beschäftigung bieten, während für die kleineren 
Bezirke bestimmten praktischen Aerzten, z. B. Distrikts- oder Armenärzten, 
gewisse Pflichten der öffentlichen Gesundheitspflege überwiesen werden können. 
Diese Beamten würden natürlich das Recht der Initiative und Exekutive nicht 
haben. Dagegen möchte ich dringend davor warnen, etwa eine Aufbesserung 
des Gehalts der Physiker durch Anweisung derselben auf solche Nebenein¬ 
nahmen, wie sie aus Kassenstellen, Impfwesen u. s. w. hervorgehen, zu bewirken. 

M. H., eine gründliche Reform ist aber nöthig auch noch aus einem 
anderen Grunde, und das ist das Verhältnis des praktischen Arztes zum be¬ 
amteten Arzt. Schon heute erheben sich darüber mannigfache Klagen, weil 
gerade der Amtsarzt der schärfste Konkurrent des praktischen Arztes ist. 
Dauert ein solches Verhältniss fort, so wird — das ist meine feste Ueberzeugung 
— das Seuchengesetz nicht zur vollen Wirkung kommen. Dieses Seuchengesetz 
beruht in erster Linie auf einer sorgfältig durchgeführten Anzeigepflicht 
und belastet also die praktischen Aerzte in der erheblichsten Weise. Es ist 
nicht die kleine Mühe der Anzeige, nein, es ist die Rückwirkung auf das Ver¬ 
hältniss zur Familie, welcher durch die gemachte Anzeige die schwersten Be¬ 
lastungen erwachsen, wodurch das Gesetz für die Aerzte ein äusserst drückende« 
wird. Dazu soll nun nach dem Entwurf noch treten, dass der beamtete Arzt 
gewissermassen zum Vorgesetzten und Kontroleur des praktischen Arztes ge¬ 
macht wird. Der Amtsarzt soll, wie ich schon erwähnt habe, Zutritt in die 
Familien haben; er stellt die Diagnose fest, wenn nöthig, durch erzwungene 
Leichenschau; er kann den behandelnden Arzt vernehmen, und dieser muss ihm 
Auskunft geben bei Strafe. Alle diese Quälereien fallen fort, wenn ein Patient 
zugleich ein Patient des Amtsarztes ist. Dann macht dieser die Anzeige an 
sich selbst und trifft selbstständig Anordnungen, die der praktische Arzt allein 
zu treffen nicht befugt ist. Was liegt nun also näher, als dass die Familien 
sich lieber den Amtsarzt zum Hausarzt nehmen, der ihnen in Zeiten von Epide¬ 
mien so grosse Erleichterung verschaffen kann. Der Herr Minister hat es vor 
einigen Tagen ja auch schon gestreift, dass die Privatpraxis in vieler Beziehung 
ein Hinderniss für die Thätigkeit der beamteten Aerzte darstellt. 

Es ist ja nun fraglich, ob das Seuchengesetz in der vorgelegten Form 
auch zur Annahme gelangt. In jedem Falle ist es aber wichtig, dass dasselbe 
nicht auf dem Papier stehen bleibt, und da ist doch der gute Wille des prak¬ 
tischen Arztes eine sehr wichtige Vorbedingung. Den Arzt zwingen, eine richtige 
Diagnose zu stellen, kann Niemand. Darum ist nicht blos eine gänzlich ver¬ 
änderte Stellung der beamteten Aerzte, nein, auch derjenigen der praktischen 
Aerzte angebracht. 

Die Gewerbeordnung hat dazu geführt, dass im §. 2 jenes Gesetzes als 
unter den zur Anzeige Verpflichteten neben dem Arzt auch „jede mit der Pflege 
und Behandlung des Kranken beschäftigte Person“ genannt wird, und wir müss¬ 
ten ja eigentlich noch dankbar sein, dass der Kurpfuscher hier nicht vor uns 
genannt wird. Diese Anzeige der Kurpfuscher ist aber eine ganz nutzlose. 
Welcher Werth ist der Diagnose eines nicht sachverständigen Mannes beizulegen? 
Und ein Zwang gegen dieselben wird auch trotz der gesetzlichen Vorschrift 
nicht ausgeübt werden, denn die Herren wissen ganz genau, dass sie schliesslich 
doch nicht bestraft werden, weil man bei ihnen die mangelnde wissenschaftliche 
Vorbildung in Betracht zieht. 

Sie werden sich erinnern, mit welchem geringen Wohlwollen der ärztliche 



Die diesjährigen Verhandlungen des prcuss. Abgeordnetenhauses etc. 147 

Stand bei Gelegenheit der Krankenkassennovelle im Reichstage behandelt worden 
ist. Da ist es sicher nicht zu verwundern, wenn neben aU den Lasten und 
Opfern, welche nns die sozialpolitische Gesetzgebung auferlegt hat, keine beson¬ 
dere Begeisterung für die Uebernahme solcher neuen Lasten besteht. Der Herr 
Minister hat selbst die schlechte Lage der Aerzte anerkannt. Er hat sie be¬ 
wiesen durch den grossen Andrang, welcher auch trotz der geringen Besoldung 
zu den Physikaten stattfindet. 

Also es muss auch den praktischen Acrzten ein Ausgleich gewährt werden. 
Nicht etwa wie in England, wo jede gemachte Anzeige seitens eines praktischen 
Arztes mit 2,60 Mark und seitens eines Krankenhausarztes mit 1 Mark honorirt 
wird. Dafür plädire ich nicht. Aber, m. H., noch immer warten wir vergeb¬ 
lich auf die Wiedereinführung des Befähigungsnachweises fiirdie 
Heilkunde, während ein solcher längst für Schornsteinfeger und Hufschmiede 
anerkannt ist.. Wir wollen, dass die Kurpfuscher aus der Gewerbeordnung und 
aus dem Krankenkassengesetz ansgewiesen werden. Wir wollen nicht länger, 
dass diese Gesellschaft durch Gesetze anerkannt und legalisirt werde. Mögen 
sie ihr Unwesen im Dunkeln weiter treiben, wir wollen sie nur in den Winkel 
zurückgedrängt sehen, iu den sie gehören. 

Wir wollen weiter die endliche Durchführung der Organisation des 
ärztlichen Standes. Im nächsten Jahre ist ein Vierteljahrhundert verflossen, 
seit die Gewerbeordnung, ein Gesetz, welches damit beginnt, dass es die Heil¬ 
kunde ausdrücklich ausschliesst, in 5 Paragraphen die Verhältnisse des ärzt¬ 
lichen Standes geregelt hat. Vergeblich haben wir seitdem auf eine Abän¬ 
derung jener Gesetzgebung und auf ein neues Gesetz, eine deutsche Aerzte- 
ordnung gewartet. Vergeblich hat der Reichstag im Jahre 1883 auf Antrag 
des Abg. Windhorst diesem Verlangen in einer Resolution Ausdruck gegeben. 
Und noch im Jahre 1889 sind wir seitens des Reichskanzlers Fürsten Bismarck 
wieder auf die Hülfe der Einzelstaaten hingewiesen worden, aber auch hier sind 
leider Resultate nicht zu verzeichnen. 

M. H., die ärztlichen Vereine haben sich redlich bemüht, der drohenden 
Auflösung einen Damm entgegenzusetzen, aber sie sind machtlos; denn die ausser¬ 
halb stehenden Aerzte kümmern sich nicht um ihre Beschlüsse. Bayern und 
Sachsen haben diesen Vereinen wenigstens dadurch eine moralische Unterstützung 
zu Thuil werden lassen, dass sie dieselben als Repräsentanten des ärztlichen 
Standes anerkannt haben. Die preussischen, auf allgemeinem Wahlrecht beruh¬ 
enden Aerztekammern kranken an ihrer mangelndon Kompetenz und ihrer un¬ 
gesicherten Finanzirung. Zunehmende Ueberfüllung des ärztlichen Standes macht 
das Innehalten des alten Standesbewusstseins und der alten Ehrbegriffe, der Be¬ 
griffe von dem, was sich schickt, immer schwieriger. M. H., da kann man nur 
mit schwerer Sorge in die Zukunft des deutschen Aerztestandes blicken. Es liegt 
hier nicht ein blosses Standesintercsse vor; es sind schwerwiegende Interessen 
des Staates und der öffentlichen Gesundheitspflege, welche hier gefährdet sind. 
(Bravo!) 

Ministerialdirektor Dr. Bartsch: M. H.! Der Herr Medizinalmiuister, in 
dessen Aufträge ich das Wort nehme, ist dem Herrn Vorredner sehr dankbar, 
dass er eine so wichtige Frage angeregt hat, wie die der Medizinalreform ist. 
Der Herr Minister seinerseits ist tief durchdrungen von der Nothwendigkeit, 
dass auf diesem Gebiete etwas weiteres geschehen muss, so dass ich nicht nöthig 
habe, dies noch besonders zu versichern. Der Herr Vorredner hat seine Aus¬ 
führungen mit der sehr interessanten Frage der Trennung der Medizinalabthei¬ 
lung vom Kultusministerium eröffnet. Ich glaube annehmen zu sollen, dass der 
Herr Vorredner nicht von mir erwartet, dass ich diese wichtige Organisations¬ 
frage bei der gegenwärtigen Geschäftslage des Hohen Hauses gründlich erörtere. 
Nur auf ein paar Bemerkungen glaube ich mich beschränken zu sollen. Der 
Herr Kultusminister ist der Meinung, dazs diese Frage mit allergrösster Vor¬ 
sicht behandelt sein will. Man darf, glaube ich, meine verehrten Herren, nicht 
vergessen, dass die Medizinalverwaltung aus der Unterrichtsverwaltung ihre 
Lebenskraft zieht, kann ich geradezu sagen. Ich will sie nur erinnern an das 
weite und wichtige Gebiet des medizinischen Prüfungswesens, an das Gebiet der 
klinischen Universitätseinrichtungen und sonstige Anstalten. Wollte man auf 
eine Trennung ausgehen, so würde man, wie ich glaube, wichtige Interessen der 
Medizinalverwaltung gefährden. Wie gesagt, diese Frage ist augenblicklich 
nicht spruchreif, und ich möchte mich daher nur auf die Bemerkung beschrftn- 



148 Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 

ken, dass, ehe man dieselbe spruchreif macht, man sie noch sehr eingehend und 
genau erwägen muss. 

Der Herr Vorredner ist dann näher eingegangen auf die Nothwendigkeit 
der Medizinalreform. Da wird es mir gestattet sein, daran zu erinnern, dass 
wir bereits im Jahre 1885 einen vollständigen Plan der Medizinalreforra aufge¬ 
stellt haben. Er liegt in unseren Akten und ist aus den Akten nicht ver¬ 
schwunden; im Gegentheil, diese Frage hat noch in den allerletzten Tagen die 
ernsteste Aufmerksamkeit des Herrn Ministers erregt. Ich will nur daran er¬ 
innern, dass das damalige Projekt der Medizinalreform in zwei grosse Theile 
zerfiel. Der erste Theil behandelte die Reform der beamteten Stellen der Medi¬ 
zinalverwaltung; der zweite Theil die Organisation des ärztlichen Standes. 
Dieser zweite Theil, meine Herren, ist bereits praktisches Recht. Im Jahre 
1887 ist durch eine Allerhöchste Verordnung vom 25. Mai eine ärztliche Stan¬ 
desvertretung eingerichtet worden mit Aerztekammem, die, wie dem Herrn Vor¬ 
redner ja ausreichend bekannt ist, vortrefflich funktioniren. Wir sind auch in 
diesem Augenblick mit der Frage beschäftigt, ob es möglich sei, die Funktionen 
dieser ärztlichen Standesvertretung nach gewissen Richtungen hin zu erweitern. 

Was nun im Uebrigen die Reform der Medizinalverwaltung betrifft, meine 
# Herren, so hat sich der Herr Minister sagen müssen, dass im Hinblick auf die 
bevorstehende Reichsseuchengesetzgebung der gegenwärtige Moment ein ausser¬ 
ordentlich unglücklicher wäre, um sie von neuem in Augriff zu nehmen. Ich glaube, 
wir werden den Erfolg dieser wichtigen Gesetzgebung abzuwarten haben, ehe 
wir weitere Entschlüsse fassen. Das hat aber nicht ausgeschlossen, dass der 
Herr Medizinalminister wenigstens einzelne Theile dieser Reform weiter geführt 
hat, und namentlich in der Richtung, dass er fortgesetzt bemüht ist, die Stellung 
der Kreisphysiker zu verbessern. Ich glaube, es wird keiner Ausführung bedür¬ 
fen, dass ein nicht pensionsfähiges Gehalt von 900 Mark eine wenig ausreichende 
Unterlage ist, um ein so wichtiges Amt hinlänglich zu dotiren. Der Herr Mini¬ 
ster hat sich daher auch fortgesetzt — und es ist dies eine der Sorgen, die er 
von seinem Herrn Amtsvorgänger überkommen hat — bemüht, die Stellung der 
Kreisphysiker finanziell zu verbessern. Es gereicht dem Herrn Medizi¬ 
nalminister zur ausserordentlichen Befriedigung, erklären zu 
können, dass auch der Herr Finanzminister im Prinzip mit 
ihm vollkommen einig ist; aber, m. H., bei der gegenwärtigen Fi¬ 
nanzlage wird es nicht leicht sein, in der Beziehung Reraedur zu schaffen. 
Um aber die Frage vorzubereiten, werden zur Zeit im ganzen Lande dar¬ 
über Erhebungen angestellt, wieviel Einnahme jeder einzelne Kreisphysikus 
bezieht. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die Physiker nicht blos 
ein Staatsgehalt von 900 Mark beziehen, sondern dass sie auch gewisse 
Nebencinnahmen haben, welche man kennen muss, um sich über die Frage 
schlüssig zu machen, ob und inwieweit eine Erhöhung ihres Gehalts einzutreten 
habe. Der Herr Medizinalminister ist also fortgesetzt bemüht, die Medizinal- 
reform, soviel an ihm liegt, weiter zu führen. 

Wenn nun aber der Herr Vorredner noch ein Wort gebraucht hat, welches 
möglicherweise zu Missdeutungen führen kann, das Wort „Stagnation“, so bin 
ich doch verpflichtet, ihn daran zu erinnern, was wir bei der gegenwärtigen 
Mcdizinalverwaltung, die er für unvollkommen erklärt, geleistet haben. Ich kann 
erinnern an die wirklich glänzenden Erfolge, die wir bei der Bekämpfung der 
Cholera in den letzten Monaten erzielt haben. In den Händen der Herren Mit¬ 
glieder dieses Hauses befindet sich eine ausführliche Denkschrift, in welcher 
dargelegt ist. welche Massregeln die preussische Medizinalverwaltung getroffen 
hat, um die drohende Seuche von unserm Vaterlande fern zu halten, und wenn 
auch die vorgekommeneu Todes- und Krankheitsfälle in hohem Maasse und tief 
zu beklagen sind, so muss ich doch hier konstatiren, dass diese im Verhältnis» 
zu der Gesammtbevölkerung einen verschwindend kleinen Prozentsatz bilden, so 
dass man wirklich sagen kann, wir haben Unerwartetes geleistet. Dieser Erfolg 
ist auch von seiner Majestät dem Kaiser und König anerkannt, Allerhöchstwel- 
cher die Gnade gehabt hat, in einer Allerhöchsten Ordre vom 17. Oktober 
vorigen Jahres, die durch den Druck Ihnen zugänglich gemacht ist, anzuerkennen, 
dass durch die Hingabe aller betheiligten Beamten an ihrem Beruf auf diesem 
Gebiete solche Erfolge erzielt siud. Wir sind auch für den Fall, dass die Seuche 
noch einmal im Frühjahr ihr Haupt erheben sollte, vollkommen vorbereitet. Der 
Herr Minister hat bakteriologische Kurse für beamtete Aerzte eingerichtet, er 



Die diesjährigen Verhandlungen den preuss. Abgeordnetenhauses etc. 149 

hat ferner bakteriologische Stationen in Bonn und Danzig hergestellt, und es 
sind auch sonst Vorkehrungen mancherlei Art getroffen worden, welche der Be¬ 
völkerung im Lande die ausreichendste Sicherheit dafür gewähren können, dass 
wir, falls die Seuche wiederkehren sollte, ebenso gute Erfolge erzielen werden, 
wie wir sie, Gottlob, in den letzten Monaten erzielt haben. 

Um den Ausdruck „Stagnation“ nicht zu einer Mythenbildung kommen 
zu lassen, möchte ich den Herrn Vorredner auch daran erinnern, was die preussi- 
sche Medizinal Verwaltung ihrerseits gethan hat, um das Reichsseuchengesetz 
vorbereiten zu helfen. Der Herr Vorredner ist selbst ein hervorragendes Mitglied 
der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen und er weiss sehr 
wohl, dass wir in ernster Arbeit uns bemüht haben, die Vorarbeiten für dieses 
wichtige Gesetz zu schaffen. Ich erinnere ihn daran, dass wir eine vollständige 
Desinfektionsordnung, sowie die Grundsätze für die Ausübung der Anzeigepflicht 
festgestellt und dadurch der Reichsseuchengesetzgebnng unsere Dienste zur Ver¬ 
fügung gestellt haben. Ich darf ihn ferner daran erinnern, dass wir dabei sind, 
eine Apothekengesetzgebung zu schaffen; wir haben in jahrelanger mühsamer 
Arbeit Entwürfe festgestellt, sind auch mit dem Herrn Reichskanzler in Ver¬ 
bindung getreten, und es ist alle Aussicht vorhanden, dass auch diese Vorarbei¬ 
ten in der Reichsgesetzgebung ihre Früchte tragen werden. Ich erinnere ihn 
endlich daran, dass wir die Grundsätze für eine Leichenschauordnung, sowie für 
den Gifthandel erörtert haben, — lauter Gegenstände von nicht minderer Be¬ 
deutung, so dass wohl kaum im Ernst die Rede davon sein kann, dass in der 
Medizinal Verwaltung eine Stagnation eiugetreten ist. Im Gegentheil, ich kann 
in der That bezeugen, dass ein sehr frisches und thatkräftiges Leben und Wirken 
in der Medizinal Verwaltung herrscht, und dass wir nicht auf hören werden, nach 
allen Richtungen hin dafür zu sorgen, dass die sanitären Verhältnisse in Stadt 
und Land sich bessern; denn darin erblicken wir eine der wichtigsten Aufgaben 
der Medizinalverwaltuug. Ich glaube, der Herr Vorredner wird aus diesen kurzen 
Bemerkungen die Ueberzeugung gewonnen haben, dass der Herr Medizinal- 
minister nicht ruhen wird, bis die wichtige Frage der Medizinalreform ihren 
gedeihlichen Abschluss gefunden hat. 

Abg. v. Pilgrim: Wir haben heute vom Ministertisch die beruhigende 
Mittheilung bekommen, dass die Medizinalreform im Fluss ist und nicht wieder 
zum Stillstand kommen wird. Es ist für das Land in jedem Falle eine beru¬ 
higende Erklärung Angesichts der grossen Gefahren, die uns durch ansteckende 
Krankheiten von Jahr zu Jahr bevorstehen. 

Zu dem Wesen der Reform gehört aber vor allen Dingen die Thätigkeit 
der beamteten Aerzte. Will man diese Thätigkeit zur Wahrheit werden lassen, 
so muss man denselben auch das nöthige Auskommen gewähren, ungehindert 
von Nebenbeschäftigung ihrem wichtigen Amte obzuliegen. Der Herr Minister 
hat ja durch seinen Kommissarin« auch heute erklären lassen, dass er das sehr 
wohl einsehe und das dringende Bedürfnis« nicht verkenne. Er hat zu dem 
Zwecke eine Erhebung im Lande veranstaltet über das Einkommen der beam¬ 
teten Aerzte, der Kreisphysiker, in den letzten fünf Jahren aus anderer Beschäf¬ 
tigung, als gerade aus dem unmittelbaren Gehalt für ihre amtliche Thätigkeit. 
M. H., diese Erhebungen können sich doch nur darauf erstrecken, was die be¬ 
amteten Aerzte aus der Stellung, die sie vielleicht als Krankenkassenärzte, als 
Krankenhausärzte, Eisenbalinärzte u. s. w. nebenbei verdienen. Diese Erhebungen 
können aber schwerlich den Erfolg haben, dass man von der Aufbesserung des 
amtlichen Gehaltes des Kreisphysikus Abstand nehmen könne. Was sind diese 
Beschäftigungen anders, als eine Art von Privatpraxis, und gerade davor möchte 
ich die beamteten Aerzte bewahren, dass sic zu viel Privatpraxis und zu viel 
Nebenbeschäftigung haben. Ich meine, wir haben das Recht, nach der Erklärung 
des Herrn Ministers zu fordern, dass die beamteten Aerzte bald so gestellt 
werden mögen, dass sie ihr wichtiges Amt im vollen Umfange versehen können. 
Die Pensionsverhaltnis.se sind dabei selbstverständlich mit inbegriffen in die For¬ 
derung. Nun meine ich, wenn man die Reform vornehmen will, so lasse man 
doch die wichtige Frage der Aufbesserung der beamteten Aerzte nicht hinterher 
hinken, sondern nehme sie vorher in erster Reihe als einen Abschlag auf die 
Medizinalreform; denn hat man die Organe, so kann man auch die Reform leichter 
in’s Leben rufen. Auf die Organe im Lande kommt es hauptsächlich an, um 
ansteckenden Krankheiten zu rechten Zeit entgegenzutreten und alle diejenigen 
Massregeln zu ergreifen, die, wie der Herr Abg. Dr. Graf vorhin schon er- 



150 


Kleinere Mittheilungeu und Referate aus Zeitschriften. 


wähnte, das neue Seucheugesetz mit sich bringt. Ich will also bei dieszr Gele¬ 
genheit nochmals im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege und damit des 
Wohles des ganzen Landes bitten, diese Verbesserung der Kreisphysiker beson¬ 
ders im Auge zu behalten, und dieselbe vor allen anderen Aenderungen iui 
Medizinalwesen zur Wirklichkeit werden zu lassen. 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Die Aetiologie des infektiösen fieberhaften Ikterus (Weil 'sehe 
Krankheit). Ein Beitrag zur Kenntniss septischer Erkrankungen und der Patho¬ 
genität der Proteusarten. Von Stabsarzt Dr. H. Jäger, Privatdozeuten für 
Hygiene an der technischen Hochschule in Stuttgart. Zeitschrift für Hygiene 
und Infektionskrankheiten, XII. 4. 

Verfasser, dem wir werthvolle Untersuchungen zur Epidemiologie des 
Unterleibstyphus verdanken, hatte Gelegenheit, in Ulm eine Reihe von Fällen 
der „Weil 1 sehen Krankheit“, jener in ihrer Stellung zu den anderen Infektions¬ 
krankheiten, namentlich zu Griesinger’s biliösem Typhoid vorläufig mit 
Sicherheit nicht zu bestimmenden, mit Betheiliguug der Nieren, der Milz und 
des Zentralnervensystems unter schwerem Ikterus und hohem Fieber einher¬ 
gehenden Infektionskrankheit zu beobachten und bakteriologisch zu bearbeiten. 
Es sind in der Garnison Ulm in den Jahren 1885 bis 1891 neunzehn Fälle 
dieser Krankheit und zwar sämmtlich in den Monaten Juni bis September zur 
Beobachtung gelangt. Bemerkenswerth ist hierbei, dass unter diesen neunzehn 
Soldaten nicht weniger als elf Pioniere, deren dienstliche Beschäftigung sie in 
nahe Berührung mit dem Flusswasser bringt, waren und dass auch von anderen 
Erkrankten das Baden in der Donau als die Ursache der Erkrankung angegeben 
wurde. Verfasser hat nun bei zwei tödtlich verlaufenden Fällen in Organ- 
Schnitten eine wohl charakterisirte Bakterienart in charakteristischer Anordnung 
angetroffen. Er hat dann dieselbe Bakterienart im Harn der Lebenden vorge¬ 
funden und hat sie aus den Organen rein gezüchtet und die Reinkulturen erfolg¬ 
reich unter Erzeugung von der Weil’ sehen Krankheit ähnlichen Symptomen 
verimpfen können. Er glaubt daher, den spezifischen Erreger der Weil’ sehen 
Krankheit in Händen zu haben. Von eingehender Beschreibung des Bacillus, 
welche ohne die dem Original in grosser Zahl und vorzüglicher Beschaffenheit 
beigegebenen Abbildungen doch nur mangelhaft ausfallen kann, muss an dieser 
Stelle abgesehen werden. Es mag genügen auf den sehr weitgehenden Pleomor¬ 
phismus hinzuweisen, der diesem Bacillus eigen ist und der ihn in morphologi¬ 
scher Beziehung innerhalb sehr weiter Grenzen vnriiren lässt, so dass er bald 
in Kokken- bald in Stäbchenform erscheint. Aber auch die Kulturen zeigen 
sehr weitgehende Verschiedenheiten im Aussehen, im Pcptonisirungsvermögen 
und in der Fluorescenz, die einigen Kulturen eigen ist. Verfasser glaubt den 
Organismus den Protens - Arten anreihen zu müssen. Das massenhafte, durch 
einfache mikroskopische Untersuchung leicht festzustellende Vorkommen im 
Harn der Kranken würde für die bei vereinzelten Fällen unter Umständen 
recht schwierige Diagnose natürlich von der grössten Bedeutung sein. — 

Bedeutendes Interesse beanspruchen die vom Verfasser mit grosser Um¬ 
sicht und Sorgfalt angestellten Untersuchungen über die Aetiologie dieser in 
auffallender Weise auf die militärische Bevölkerung von Ulm beschränkte Krank¬ 
heit. Ein paar sehr übersichtliche Situationspläne von Ulm und Umgegend und 
zahlreiche Tabellen über bakteriologische Wasseruntersuchungen bilden die Be¬ 
läge für Verfassers wohl begründet erscheinende Ansicht, dass thatsächlich die 
Militär-Badeanstalt, welche in der Donau liegt unterhalb des Einflusses der Blau, 
eines namentlich in Ulm durch städtischen Unrath stark verunreinigten Flüss¬ 
chens, in ursächlichem Zusammenhang mit der Infektion zu bringen ist. Ver¬ 
fasser ist indessen der Meinung, dass die Stadt Ulm, deren Zivilbevölkerung von 
der Weil’ sehen Krankheit fast vollständig frei ist, den Infektiousstoff, den er 
im Wasser der Blau voraussetzt, nicht hat in diese liefern können, dass die 
Quelle der Verunreinigung vielmehr weiter stromaufwärts zu suchen sein dürfte. 
Es wurde nun festgestellt, dass daselbst in dem Dorfe Söflingen seit Jahren 



Kleinere Mittheilungen mul Referate aus Zeitschriften. 


151 


in <len Sommermonaten unter dem Geflügel eine verderbliche, häufig mit Ikterus 
verlaufende Seuche herrschte und dass die krepirten Thiere meistens in die Blau 
geworfen wurden. Verfasser konnte nun dnreh die Sektion von fünf Geflügel- 
Kadavern denselben Bacillus, wie bei der Weil’ sehen Krankheit seiner Soldaten 
feststellen, er erfahr ferner von dem in Söflingen praktizirenden Arzt, dass 
unter der dortigen Zivilbevölkerung, welche das Wasser der Blau als Gebrauchs¬ 
wasser benutzt, wiederholt Weil’ sehe Krankheit vorgekommen war; es gelang 
Verfasser schliesslich auch noch, seinen Bacillus im Wasser eines Armes der 
Blau direkt nachzuweisen, so dass die Aetiologie der Krankheit vollständig auf¬ 
geklärt erscheint. — Dr. Langerhans-Hankensbüttel. 


Ueber die in Preussen 1892 getroffenen Massnahmen gegen die 
Cholera ist dem Abgeordnetenhause eine im Kultusministerium ausgearbeitete 
Denkschrift vorgelegt worden, die mit dem Ausbruch der Cholera in Altona 
am 19. August u. s. w. beginnt. Schon vor diesem Ausbruche waren in Ham¬ 
burg eine bedeutende Zahl gleichartiger, aber nicht als echte Cholera festgestellte 
Erkrankungen vorgekommen, der grösste Theil der in Altona aufgetretenen Fälle 
betraf ausserdem Personen, die in Hamburg oder am Hamburger - Altonaer Hafen 
gearbeitet oder sonstwie sich dort aufgehaltcn oder mit solchen Personen in 
Verkehr gestanden hatten, nur bei einem geringen Rest blieb die Erkrankungs¬ 
ursache unaufgeklärt. Wenn die Seuche in der mit Hamburg unmittelbar zu¬ 
sammenhängenden Stadt Altona nur eine geringe Zahl von Opfern (578 Erkran¬ 
kungen mit 332 = 0,23 °/„ der Bevölkerung gegenüber 1,24 u /„ in Hamburg) ge¬ 
fordert hat, so ist dies jedenfalls lediglich der besseren Art der VVasser- 
versorgung zu verdanken. Ausser Altona wurden alsbald die mit Hamburg 
ebenfalls eng zusammen hängenden oder in regem Verkehr stehenden Orte 
Wandsbeck (mit 64 Erkrankungen und 44 Todesfällen), Lauenburg (mit 
43 Erkrankungen und 21 Todesfällen), die preussischen Orte auf der Elbinsel 
Wilhelmsburg (mit 116 Erkrankungen und 61 Todesfällen), die Elbinseln 
Finken werder und Altenwerder (mit 28 Erkrankungen u. 16Todesfällen), 
die diesen gegenüber liegende Ortschaft Neuen fei de (mit 47 Erkrankungen 
u. 25 Todesfällen), sowie eine grössere Anzahl vornehmlich in den Hamburg 
benachbarten Reg.-Bez. Stade, Lüneburg und Schleswig liegenden Orte ergriffen. 
Auch hier war im weitaus grössten Theile der Fälle die Krankheit von Hamburg 
unmittelbar eingeschleppt, nur ein geringer Theil ist durch Weiterverbreitnng 
der Krankheit an den Orten selbst entstanden. Die Verschleppung fand 
sowohl durch den Landverkehr als durch den Wasserverkehr statt und zwar 
hauptsächlich durch die Flussschifffahrt. Die Erklärung hierfür liegt darin, dass 
die C'holerakeirae längere Zeit im Wasser lebensfähig bleiben, dass die Fluss¬ 
schiffer allgemein ihren Wasserbedarf zum Trinken und zu allen sonstigen 
Zwecken da entnehmen, wo es ihnen gerade am bequemsten ist, unbekümmert, 
ob das Flusswasser bereits infizirt ist oder nicht, und dass sie ferner ihre Fäka¬ 
lien dem Flosse überliefern ohne Rücksicht darauf, dass diese ansteckend sind 
oder nicht, und dass infizirtes Wasser durch die undichten Stellen der Fahrzeuge 
in diese (Bilge- oder Kielräume) eindringen kann, von denen es durch Auspum¬ 
pen, Ausschöpfen oder freiwilliges Austreten wieder in den Fluss geräth. Die 
Verbreitung vollzieht sich daher nicht etwa nur flussab-, sondern auch flussauf¬ 
wärts. Auf diese Weise gelangte die Cholera durch die Elbe, Havel. Spree und 
die damit verbundenen Schifffahrtskanäle in die Oder, sowie von den Nieder¬ 
landen ans in den Rhein und von Polen aus in die Weichsel. Dank dem ener¬ 
gischen Eingreifen der Landes- und Ortsbehörden ist die Cholera selbst an den 
grösseren, von auswärts infizirten Orten lokalisirt geblieben. In Berlin er¬ 
krankten 37 Personen, von denen 7 aus Hamburg zu Lande zugereist waren 
und 14 der Schifffahrtsbevölkerung angehörten, die übrigen hatten meist infizirtes 
Spreewasser getrunken. Unaufgeklärt blieb die Ursache von 2 kleinen Epidemien 
in Mie senheim (Kreis Mayen) und Kiewo (Kreis Culm). 

Als erloschen konnte am Schlüsse des Jahres 1892 die Cholera in Preussen 
leider nicht betrachtet werden; denn noch in der letzten Woche waren in Altona meh¬ 
rere aus Hamburg eingeschleppte Fälle vorgekommen, und es müssen auch noch wei¬ 
terhin neue Invasionen von dort her befürchtet werden. Die gleiche Gefahr droht fort¬ 
dauernd von den westlichen und östlichen Grenzländern her, da noch aus der letzten 
.Tahreswoche Krankheitsfälle aus Nordfrankreich und den Niederlanden, wie auch aus 



162 


Kleinere Mitthoilungen und Referate aus Zeitschriften. 


den rassisch-polnischen Gouvernements Radom, Lublin, Warschau, Plock nnd Lomza 
gemeldet worden sind. Auch in Preussen selbst sind möglicherweise von den 
bisherigen Fällen her Keime unvernichtet und lebensfähig verblieben, welche 
nach unbestimmt langer Latenz unter günstigeren Bedingungen, z. B. in der 
wärmeren Jahreszeit, sich weiter entwickeln und einen neuen Akt der Epidemie 
herbeiführen können. 

Die Denkschrift geht dann näher auf die zum Zwecke der Abwehr und 
Unterdrückung der Cholera getroffenen Massregeln unter Beifügung der be¬ 
treffenden Erlasse ein, die den Lesern der Zeitschrift hinreichend bekannt sein 
dürften. Interessant dürfte daraus die Mittheilung sein, dass in zwei Fällen die 
völlige Absperrung einer Ortschaft angeordnet ist, und zwar der Insel Helgo¬ 
land zu ihrem eigenen Schutze und des Ortes Kiewo zum Schutze der Umgebung. 
Nach der am Schluss des Berichts beigefügten Uebersicht sind die Regierungs¬ 
bezirke Königsberg, Gumbinnen, Danzig, Breslau, Liegnitz, Merseburg, Erfurt, 
Münster, Arnsberg, Kassel, Trier, Aachen, Köln und Sigmaringen von der Seuche 
völlig verschont geblieben; aber auch in der Mehrzahl der übrigen Bezirke sind 
nur vereinzelte Erkr ankung en vorgekommen, wie die nachstehende Uebersicht 
zeigt. Danach betrug die Zahl der 

infizirten 


Regierungsbezirke: 

Kreise: 

Ortschaften: 

Erkrankungen: Todesfälle 

Marienwerder 

4 

6 

20 

9 

Berlin 

1 

1 

32 

14 

Potsdam 

9 

22 

67 

43 

Frankfurt 

4 

7 

11 

9 

Stettin 

9 

21 

103 

68 

Köslin 

1 

1 

1 

— 

Stralsund 

2 

8 

3 

3 

Posen 

1 

1 

1 

1 

Bromberg 

2 

3 

3 

— 

Oppeln 

2 

2 

3 

1 

Magdeburg 

7 

11 

24 

16 

Schleswig 

18 

77 

81)2 

475 

Hannover 

3 

8 

5 

1 

Hildesheim 

8 

3 

5 

4 

Lüneburg 

8 

2f> 

204 

116 

Stade 

6 

31 

164 

89 

Aurich 

1 

1 

1 

— 

Osnabrück 

2 

2 

2 

2 

Minden 

1 

1 

1 

— 

Wiesbaden 

1 

1 

3 

3 

Koblenz 

4 

6 

24 

12 

Düsseldorf 

3 

3 

3 

2 


92 

231 

1572 

878 


= 55,9 «/ 0 


Ueber die Maassnahmen gegenüber der Gefahr einer nenen 
Cholera - Epidemie in Hamburg hat die Cholerakommission des dortigen 
Senats eine Denkschrift veröffentlicht, aus der wir entnehmen können, dass sich 
Hamburg in jeder Weise gerüstet hat, um den Kampf gegen die Seuche erfor¬ 
derlichenfalls mit allen Mitteln aufnehmen zu können. Die Anzeigepflicht und 
Untersuchung choleraverdächtiger Fälle ist streng geregelt, desgleichen der 
Kranken- und Leichentransport. 36 Krankenwagen und 10 Leichenwagen stehen 
zur Verfügung, deren Zahl durch Vereinbarungen mit Privatunternehmern sofort 
auf die doppelte Zahl erhöht werden kann. Zur Bedienung der Wagen ist eine 
Sanitätakolonne vorhanden, die erforderlichenfalls bis auf 300 Mann verstärkt 
werden kann. 

Zur Aufnahme der Kranken sind 26 neuerbaute Baracken mit 822 
Betten und ausserdem noch eine Anzahl Baracken mit 450 Betten, zusammen 
1272 Betten verfügbar; auch ist Vorsorge getroffen worden, dass für den Fall 
eines etwaigen Wiederausbraches der Epidemie hinreichend Aerzte und Pflege¬ 
personen zur Verfügung stehen. 

4 grosse Leichenhallen vermögen mit den in den Baracken zu diesem 
Zwecke vorgesehenen Räumlichkeiten mehr als 1000 Leichen aufzunehmen. 



Besprechungen. 


153 


Streng geregelt ist ferner die Desinfektion, die durch die von der Polizei¬ 
behörde eingerichteten Desinfektionskolonnen geschieht. Ansser zwei bereits 
vorhandenen Desinfektions-Anstalten sind noch zwei transportable Apparate 
vorhanden, ansserdem sind Vorkehrungen getroffen, dass im Bedarfsfälle 
sechs Desinfektionsanstalten an geeigneten Plätzen eingerichtet und in Betrieb 
gesetzt werden können. An geschultem Desinfektionspersonal ist kein Mangel. 

Um erforderlichen Falls Wohnungen oder Häuser vollständig evakuiren zu 
können, steht der Behörde ein grosses Logirhaus fttr 450 Personen mit 250 Schlaf¬ 
räumen zur Verfügung. Die hier untergebrachten gesunden Personen erhalten minde¬ 
stens 6 Tage lang auf Staatskosten Wohnung und Verpflegung und werden vor 
ihrer Entlassung ebenso wie ihre Kleidung sorgfältig desinfizirt. 

Eine wichtige Aufgabe, die Untersuchung der Wohnungen auf ihre 
sanitäre Beschaffenheit, liegt den über die ganze Stadt vertheilteu, aus freiwil¬ 
ligen Mitgliedern bestehenden 25 Gesundheitskommissionen ob, die auch darüber 
zu wachen haben, dass eine genügende Desinfektion der inflzirten Wohnungen 
erfolgt. 

Die wichtigste aller angeordneten Vorsichtsmassregeln dürfte aber die vorläu¬ 
fig eingerichtete Wasserversorgung sein, die bis zur Fertigstellung des Sandfiltra¬ 
tionswerkes durch 56 öffentliche Brunnen, 84 Privatbrunnen, 43 Kochstellen, 126 
Zapfstellen der Altonaer und Wandsbecker Wasserwerke, 98 Wasserwagen und 
6 Barkassen besorgt werden soll. Die Brunnen stehen unter einer steten Kon- 
trole des neu eingerichteten hygienischen Instituts; der Betrieb der Kochstellen, 
von denen einige 60 cbm Wasser täglich liefern, ist jetzt überall vom Staate 
übernommen; die Kosten stellen sich auf 0,2 pro Liter. Die mit Trinkwasser 
nmherfahrenden Wagen entnehmen ihr Wasser zum erheblichen Theile den 
artesischen Brunnen, während die Barkassen den Schiffen gekochtes Wasser 
zuführen. 

Die getroffenen Massregeln müssen als äusserst zweckmässig erachtet 
werden; sie werden auch ihre Wirksamkeit nicht versagen, wenn, was Gott ver¬ 
hüten möge, die Seuche von Neuem in Hamburg zum Ausbruch kommen sollte. 
Jedenfalls hat der Hamburger Senat keine Kosten zur Verbesserung der sani¬ 
tären Verhältnisse und Einrichtungen der Stadt gescheut; seit Beginn der vor¬ 
jährigen Epidemie sind nahezu 4 Millionen aus staatlichen Mitteln für Cholera¬ 
zwecke ausgegeben und für die jetzt bestehenden Einrichtungen betragen die 
täglichen Ausgaben mehrere Tausend Mark. ßpd. 


Besprechungen. 

Dr. Penkert, Sanitätsrath und Kreisphysikus zu Merseburg: Kurze 
Anleitung zur Trichinenschau. Merseburg 1893. Verlag 
bei Friedrich Stollberg. 8°, 31 Seiten mit Abbildungen. 

Trotz der vielen demselben Zwecke dienenden Schriftchen hat das vor¬ 
liegende einem wirklichen Bedürfnisse insofern abgeholfen, als es alles Wissens- 
nöthige in einer Form bringt, welche auch dem einfachen ungebildeten Menschen 
leicht verständlich ist. Der Verfasser sagt im Vorwort selbst, dass er den 
Stoff s o bearbeitet habe, weil die meisten Trichinenschauer auf einer nicht gerade 
hohen günstigen Entwicklungsstufe stehen. Dabei findet der Fleischbeschauer 
auf 30 Seiten alles, was er überhaupt in seinem Berufe gebrauchen kann, so 
dass ihm nicht nur ein Leitfaden beim Unterricht, sondern auch ein Berather 
für spätere zweifelhafte Fälle geboten wird. Die Eintheilung der Materie ist 
dieselbe wie in anderen ähnlichen Schriften und die Ausstattung bei billigem 
Preise (1 Mark) eine vorzügliche. 

Den Herren Kollegen kann das Buch warm empfohlen werden, besonders 
auch für ältere Fleisch besohauer, die bei den Nachprüfungen so häufig zeigen, 
was sie alles vergessen haben. Dr. Fie 1 itz-Halle. 


Tagesnachrichten. 

ln der am 17. Februar d. J. stattgehabten Sitzung der Aerzte- 
kammer der Provinz Pommern wurde auf Antrag des Medizinalraths 



154 


Tagesnachrichten 


Dr. Siemens (Lauenburg) einstimmig folgender Beschluss in Bezug auf die 
Entmündigung und Unterbringung von Geisteskranken gefasst: 

„Die Poinraer’sche Aerztekammer legt Verwahrung ein gegen den in einer 
Anzahl von Zeitungen verbreiteten Aufruf, betreffend die Aufnahme von Geistes¬ 
kranken in Irrenanstalten und die Entmündigung derselben, und ersucht ihren 
Vorstand ein gemeinsames Vorgehen aller Aerztekammern gegen diese Be¬ 
strebungen herheizufUhren. Insbesondere ist die Zuziehung von Laienkommissionen 
zur Beurtheilung der Nothwendigkeit auf Unterbringung in Irrenanstalten oder 
der Entmündigung entschieden abzulehnen. 

Bakteriologische Unterrichtskurse. Nach einem Erlass des Herrn 
Ministers vom 10. d. M. werden im Laufe des Aprils für eine Anzahl von Me¬ 
dizinalbeamten Lehrkurse zur eingehenden Unterweisung in der sanitätspolizei¬ 
lichen Bekämpfung der Cholera durch den Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Koeh in 
Berlin abgehalten, um die betreffenden Beamten bei etwaigem erneuten Auftreten 
der Seuche innerhalb und erforderlichenfalls auch ausserhalb ihrer Kreise als 
Kommissarien zur Anleitung und Unterstützung der örtlichen Behörde zu ver¬ 
wenden. Zu diesem Zwecke sollen besonders umsichtige und thatkräftige, zu¬ 
gleich körperlich rüstige und bereite Beamte herangezogen werden. 

Auch im Königreich Sachseu macht das.Ministerium des Innern bekannt, 
dass es mit Rücksicht auf den nicht ausgeschlossenen Fall des Wiederausbruchs 
der Cholera erwünscht sei, dass die im öffentlichen Dienste befindlichen beamte¬ 
ten, sowie die an Krankenhäusern angestellten Aerzte mit den zur Erkenntnis« 
der Cholera erforderlichen bakteriologischen Kenntnissen ansgestattet sind und 
dem Ministerium ausserdem noch eine Anzahl mit bakteriologischer Bildung ver¬ 
sehener approbirter Aerzte zur unmittelbaren Verfügung stehen, um dieselben 
zu Dienstleisten an Lazarethen u. s. w. verwenden zu können. 

Zur Erreichung dieses Zweckes finden unter Leitung des Prof. Geh. Med.- 
Rath Dr. Hoffmann und Geh. Med.-Rath Dr. Birch-Hirschfeld in Leipzig 
vom 13. d. M. ab 14 tägige bakteriologische Unterrichtskurse statt. Den Theil- 
nehmern an diesen Kursen werden Tagegelder bis zu 18 Mark pro Tag gewährt; 
die Kurse aber unentgeltlich ertheilt. 

Ebenso werden auf Veranlassung der bayerischen Staatsregierung an 
den hygienischen Universitätsinstituten in München und Würzburg bakteriolo¬ 
gisch-epidemiologische Kurse für Aerzte und Medizinalbeamte während der 
Osterferien abgehalten werden. 


Der Entwurf des Reichsseuchengesetzea wird sowohl in den Fach¬ 
blättern als in der politischen Presse lebhaft angegriffen; besonders macht sich 
in Süddeutschland eine starke Bewegung gegen das Gesetz bemerkbar. Man 
beklagt die Hast, mit welcher dieses für die ganze Bevölkerung, für Handel 
und Verkehr und vor allem für die Aerzte so wichtige und einschneidende Ge¬ 
setz ausgearbeitet sei und zur Entscheidung gebracht werden soll, ohne zuvorige 
gutachtliche Anhörung der kompetenten Organe der einzelnen Landesregierungen, 
der Aerztekammern u. s. w. Von einer Seite werden die im Gesetze vorgesehe¬ 
nen Vorschriften über die Anzeigepflicht, Absonderung der Kranken, Desinfektion 
u. s. w. als viel zu rigoros, von anderer Seite dagegen als nicht weitgehend 
genug erachtet. Aehnliche Meinungsverschiedenheiten machen sich geltend be¬ 
treffs der im Gesetz den Landesbehördeu angewiesenen Befugnis«, die Gemeinden 
zur Beseitigung der Vorgefundenen gesundheitsgefährlichen Missstände und zur 
Herstellung öffentlicher Einrichtung für Versorgung mit Trink- und Wirthschafts- 
wasser und zur Fortschaftüng der Abfallstofle auzuhalten. Dagegen herrscht in 
dem Punkte allgemeine Uebereinstimmung, dass die Durchführung des Gesetzes 
nur möglich sei, wenn die Kompetenzverhältnisse der beamteten Aerzte ent¬ 
sprechend erweitert und den Medizinalbeamten ein sie von der ärztlichen Praxis 
vollständig unabhängig machendes Gehalt gewährt wird. 

Wir werden bei Gelegenheit der Generalversammlung des preussischeu 
Medizinalbeamtenvereins noch genügend Gelegenheit haben, aut die verschiedenen 
gegen den Entwurf gemachten Einwürfe zurückzukommen; möglicherweise wird 
derselbe schon bei den Berathuugen im Bundesrathe einige Abänderungen er¬ 
fahren, die aber hoffentlich nicht im Sinne der unter Nr. 1 vou dem erweiter¬ 
ten Geschäftsausschuss des Deutschen Aerztevereinsb undes in 



Tagosnachricktcn. 


155 


seiner am 5. d. AI. stattgehabteu Sitzung gefassten Beschlüsse ausfullcn; denn 
ein Reichsseuchengesetz, das nur auf Cholera, (Gelbfieber, Pest, Pocken und 
Flecktyphus beschränkt ist, würde nur wenig Werth haben. Alit den übrigen 
Beschlüssen des Ausschusses kann man sich einverstanden erklären, nur der 2. Ab¬ 
satz in Nr. 5 ist unter den jetzigen Verhältnissen der Gesetzgebung nicht auf¬ 
recht zu halten. 

Die Beschlüsse lauten wie folgt: 

1. Dem vorliegenden Gesetzentwurf gegenüber halten wir für zweckent¬ 
sprechend, dass dem dringendsten Bedürfnisse durch eine Beschränkung des Ge¬ 
setzes auf die in §. 1 Absatz I des Gesetzentwurfes genannte Krankheitsgruppe 
(Cholera, Gelbfieber, Pest, Pocken, Flecktyphus) genügt werde, unbeschadet des 
Rechtes der einzelnen Landesbehörden, für weitere Krankheiten Bestimmungen 
zu treffen. 

2. Die Anzeigepfiicht soll den approbirten Aerzten möglichst erleichtert 
werden und erachten wir nach, dieser Richtung hin die einmalige Anzeige für 
ausreichend. Dass den zur Anzeige verpflichteten Aerzten keinerlei Auslagen 
erwachsen dürfen, halten wir für selbstverständlich. 

3. Wenn Ermittelungen durch den beamteten Arzt vorzunehmen sind, 
halten wir es für wünschenswert!!, dass der behandelnde Arzt hiervon benach¬ 
richtigt wird. 

4. Für die Entwickelung der Gesetzgebung auf diesem Gebiete ist es 
nothwendig, dass die beamteten Aerzte durch gesetzlich geregeltes pensions¬ 
fähiges Gehalt von der Praxis unabhängig gestellt werden, so dass das Amt 
nicht mehr die Nebenfunktion bildet. 

5. Die Bekämpfung der gemeingefährlichen Krankheiten ist wesentlich 
gefährdet durch die Freigebuug der Heilkunst an nicht dafür vorgebildete Per¬ 
sonen (Kurpfuscher). Eine Anzeigepflicht derselben halten wir für nutzlos, und 
wünschen die gemeinschädliche Aufhebung des Kurpfuschereiverbotes nicht durch 
die Anzeigepflicht der Kurpfuscher weiter gefestigt zu sehen, wie es der Para¬ 
graph 2 al. 2 des Gesetzes bestimmt. 

6. Für die Hinterbliebenen der Aerzte inkl. Amtsärzte, Geistliche, Kran¬ 
kenpfleger, Polizeibeamte, weiche im Aufträge der zuständigen Behörden mit 
Personen, welche an übertragbaren Krankheiten leiden, in Berührung kommen, 
dabei selbst erkranken und in Folge der Krankheit sterben, hat Fürsorge 
aus öffentlichen Mitteln nach Alassgabe der landesgesetzlichen Regelung zu 
erfolgen. 

Die internationale Sanitäts - Konferenz ist am 12. d. Mts. in 
Dresden zusammengetreten. Der sächsische Staatsminister v. Metzsch 
eröffnete im Namen des deutschen Kaisers und des Königs von Sachsen die Kon¬ 
ferenz mit einer Rede, in der er die Bedeutung derselben für die öffentliche 
Gesundheitspflege hervorhob. Hierauf wurde der preussische Gesandte Graf 
Dönhoff zum Vorsitzenden gewählt. Die eigentlichen Verhandlungen haben 
am 15. d. Mts. begonnen und werden voraussichtlich drei Wochen dauern. Ver¬ 
treten sind auf der Konferenz fast alle europäischen Staaten, und zwar 
Deutschland: durch den preussischen Gesandten Graf Dönhoff, Geh. Ober- 
Reg.-Rath im Reichsamt des Innern Hopf, königl. Bayer. Ober - Reg. - Rath 
Ritter von Landmann, königl. Säcks. Geh. Reg.-Rath von Criegern, 
Geh. Medizinal - Rath Professor Dr. Koch und kaiserl. Legations - Rath Dr. 
Lehmann; — Oesterreich-Ungarn: durch den k. und k. Gesandten 
Hengeimüller von Heugervär, General - Konsul Ritter von Gsiller, 
k. k. Mininsterial-Rath Ritter Dr. Kusy und Sektions - Rath von Ebner, 
k. nngar. Ministerial - Rath von Fascho-Moys und Ober - Ingenieur der k. 
Ungar. Staatsbahnen Karl Vaikay; — Belgien: durch den General - Sekre¬ 
tär Becco und Professor Dr. van Ermengen (Gent); — Dänemark: durch 
den Gesandten in Wien von Loewenoern; — Spanien: durch den Minister- 
Residenten im Haag Raminez de Villa-Ue rrutia und Dr. San Martin; 
— Frankreich: durch den Gesandten in München Bar rer e, Professor Dr. 
Brouardel (Paris) und General-Inspektor des Sanitätswesens Professor Dr. 
Proust; — Grossbritannien: durch den Alinister - Residenten in Dresden 
M. Strachey und den Chef der Medizinal - Abtheilung des Lokal-Government 
Board Dr. Thorne; — Griechenland: durch den Legations-Sekretär in 
Berlin Antonopoulos und den Delegirten beim internationalen Gesundheits- 




156 


Tagesnachrichten. 


amt in Konstantinopel Dr. Vaffiades; — Italien: durch den Gesandten 
Grafen Cnrtopassi und den Direktor des Gesundheitsamts im Ministerium 
des Innern Prof. Dr. Pagliani; — Montenegro: durch den k. u. k. öster¬ 
reichisch‘Ungarischen Gesandten Hengelmttller von Hengerv&r; — 
Niederlande: durch den ehemaligen Minister-Besidenten van Ruyssenaers 
und den Rath im Königlichen Ministerium des Innern Dr. Rnysch; — Por¬ 
tugal: durch den Geschäftsträger in Berlin Grafen Selir; — Rumänien: 
dnrch den Gesandten in Berlin Gregor Ghika und den General - Direktor des 
Sanitätswesens in Rumänien Dr. Felix; — Russland: durch den Geh. Rath 
und Gesandten Yonine, ersten Legations-Sekretär Baron Wrangell und 
den Delegirten bei der europäischen Donaukommission Ladijenski; — Ser¬ 
bien: durch den Geschäftsträger in Berlin Pavlowitsch; — Schweden 
und Norwegen: durch den Gesandten von Lagerheim; — Schweiz: 
durch den Gesandten in Berlin Dr. Roth und des Dr. Schmied, Mitglied des 
Gesnndheitsrathes in Bern. 

Eine der wesentlichsten Aufgaben der Konferenz wird in der Festsetzung 
der Maximalgrenze bezüglich der Absperrungsmassregeln bestehen und zugleich 
darin, eine allgemeine Richtschnur dafür zu gewinnen, wenn solche Massregeln 
überhaupt anzuwenden seien. _ 

Die Tagesordnung der in der zweiten Hälfte der Pfingst- 
woche in Würzburg stattfindenden XVIII. Versammlung des Deutschen 
Vereins fttr öffentliche Gesundheitspflege ist dieselbe wie im vorigen 
Jahre. Sie lautet: 

Donnerstag, den 25. Mai: Die unterschiedliche Behandlung der 
Bauordnungen für das Innere, die Aussenbezirke und die Umgebung von Städten. 
Referenten: Oberbürgermeister Ad ick es (Frankfurt a. M.) und Oberbaurath 
Professor Baumeister (Karlsruhe). — Reformen auf dem Gebiete der Brot¬ 
bereitung. Referent: Professor Dr. K. B. Lehmann (Würzburg). 

Freitag, den 26. Mai: Die Grundsätze richtiger Ernährung und die 
Mittel, ihnen bei der ärmeren Bevölkerung Geltung zn verschaffen. Referenten: 
Privatdozent Dr. Ludwig Pfeifer (München) und Stadtrath Fritz Kalle 
(Wiesbaden). — Vorbeugungsmassregeln gegen Wasservergeudung. Referent: 
Wasserwerkdirektor Kümmel (Altona). 

Samstag, den 27. Mai: Die Verwendung des wegen seines Aus¬ 
sehens oder in gesundheitlicher Hinsicht zu beanstandenden Fleisches, ein¬ 
schliesslich der Kadaver kranker getödteter oder gefallener Thiere. Referent: 
Oberregierungsrath Dr. Lydtin (Karlsruhe). 

Sonntag, den 28. Mai: Ausflug nach Rothenburg an der Tauber. 
Daselbst Aufführung des historischen Festspiels: „Der Meistertrunk.“ 

Ferner hat der Ausschuss beschlossen, wie dies auch bei gleicher Veran¬ 
lassung in früheren Jahren geschehen ist, für 1898 von den bisherigen 
Mitgliedern einen Jahresbeitrag nicht zu erheben. 

Der XV. Internationale Kongress fttr Hygiene und Demographie 
wird in der ersten Hälfte des Monats September 1894 in Budapest statt¬ 
finden. Se. Majestät der König und Kaiser soll um Uebernahme des Pro¬ 
tektorats, Graf K & r o 1 y i um Uebernahme des Präsidiums gebeten werden. Als 
zweiter Präsident ist Prof. Dr. Fodor, als [Generalsekretär Prof. Dr. Koloman 
Müller gewählt worden. Die ständige Organisirungs-Kommission besteht aus 
dem Bürgermeister Kammermayer als Präsidenten, dem Vizebürgermeifcter 
Gerlöczy und dem Magistratsrath Dr.Haberhauer als Vizepräsidenten, sowie 
aus Vertretern der einzelnen Ministerien, der wissenschaftlichen Anstalten und 
Körperschaften, der ärztlichen und naturwissenschaftlichen Vereine, der Univer¬ 
sitäten und der Apothekervereine. Die Kommission zerfällt in 4— 5 Sektionen: 
a. für Hygiene, b. für Demographie, c. für Empfang und Feierlichkeiten, d. für 
Ausstellung und e. für finanzielle Angelegenheiten. Als Sekretäre werden 
fungiren: Dr. S. Gerlöczy, Dr. 0. Pertik, Dr. G. Dirner, Dr. S. Löw, 
Zolt&n R&th, G. Thierring, Michael Kaillinger und E. Toik. 

Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W. 

J. 0. C. Brno*, Buchdrucker«!, Kindts. 



Zeitschrift — 

für 

MEDIZINALBEAMTE 


Herausgegeben von 


Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rnthu.gerichtl.Stadtphysikus in Berlin. Reg.-und Meduinalrath in Mii 


and 

Dr. WILH. SANDER 

Mediiinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer's mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Yerl&gshandlung and Rad. Mosse 

entgegen. 


No. 7. 


Erscheint am 1. und 15. Jeden Monats. 
Preis jfthrlioh 10 Mark. 


1. April. 


Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen 
und der Schulkinder des Kreises Isenhagen. 

Von Dr. Max Langerhans, Kreisphysikus in Hankensbüttel. 

(Schluss.) 

Rückgratsverkrümmung kam bei 7 Knaben (0,6Proz.), 
dagegen bei Mädchen in der erstaunlich grossen Zahl von 20 
Fällen (2 Proz.) zur Beobachtung, wobei zweifelsohne eine grosse 
Zahl leichterer Fälle übersehen wurde. Es ist mir mehr als 
zweifelhaft, ob mit dieser Erscheinung der Schulbesuch überhaupt 
etwas zu thun hat. Ich glaube vielmehr, dass das Tragen jüngerer 
Geschwister die Hauptschuld an der grossen Zahl der Rückgrats¬ 
verkrümmungen der Mädchen trägt. Die blinde Liebe, mit der 
der Bauer an seinen Kindern, namentlich den kleineren hängt, 
lässt es ihm ganz undenkbar erscheinen, dass ein Kind einmal 
sich selbst überlassen sein könnte, sondern solch ein kleiner Erden¬ 
bürger wird den ganzen Tag entweder in sausendem Tempo ge¬ 
wiegt oder auf dem Arm getragen, wozu, da die Mütter keine 
Zeit finden und ein Kindermädchen selbstverständlich nicht ge¬ 
halten wird, regelmässig ältere Schwestern und zwar in einem 
Alter, wo sie zu anderer Arbeit noch nicht zu brauchen sind, ver¬ 
wendet werden. So sieht man denn kleine sechs- bis siebenjährige 
Mädchen sich stundenlang mit schweren ein- bis zweijährigen Ge¬ 
schwistern herumschleppen und es ist nur verwunderlich, dass 
nicht noch viel mehr Rückgratsverkrümmungen Vorkommen! 

Skrophulose kam sehr häufig vor. Ich stehe auf dem 
Standpunkt, dass auch nach der Entdeckung, dass bei skrophu- 
lösen Individuen der Tuberkel-Bacillus sehr häufig vorgefunden 
wird, die Begriffe Skrophulose und Tuberkulose nicht identifizirt 
werden dürfen. Ich halte es für eine grosse Einseitigkeit, wenn 
man nur die Fälle von stationär geschwollenen oder eiternden 
Halsdrüsen, von Lupus und Knochentuberkulose in’s Auge fassen 







158 


Dr. Langerhans. 


und sich blind verhalten will gegen die zahllosen, jedem Kinder¬ 
arzt, ja jeder sorgsamen Mutter so wohl bekannten und so über¬ 
aus klaren Krankheitsbilder, wo ein Kind Jahre lang bald diese, 
bald jene Affektion, Hautkrankheiten, Schleimhautentzündungen, 
Gerstenkörner u. s. w., u. s. w. bekommt und dies Alles begleitet 
von ganz unverhältnissmässig starken, aber so sehr wechselnden 
Drüsenschwellungen! Trotz Entdeckung des tuberkulösen Ober¬ 
flächenkatarrhs glaube ich nicht, dass diese Drüsenschwellungen, 
die wir doch bei geeigneter Behandlung der die Grundkrankheit 
bildenden Ernährungsstörung so schnell zurückgehen sehen, sämmt- 
lich tuberkulöser Natur sind! Der Organismus gerade der skro- 
phulösen Kinder müsste dann wenigstens eine ganz besondere 
Kraft besitzen, mit dem Tuberkel - Bacillus leicht und sicher fertig 
zu werden, die mit der Thatsache, dass gerade diese Kinder mit 
Vorliebe an anderen Bakterienkrankheiten erkranken, als welche 
wir doch das ganze Heer der oben genannten Krankheiten aufzu¬ 
fassen haben, in lebhaftem Widerspruch steht! Nicht eine erhöhte 
Vernichtungsfähigkeit gegen eindringende Bakterienkeime tuber¬ 
kulöser oder anderer Natur ist es, was die skrophulöse Ernährungs¬ 
störung kennzeichnet, sondern im Gegentheil die mangelnde Wider¬ 
standskraft, eine zeitweise fehlende Immunität, welche es zur Folge 
hat, dass die ganze Schaar der pathogenen Bakterien, Tuberkel- 
Bazillen, Eiterkokken u. s. w. auf Wegen, welche ihnen beim 
gesunden Organismus verschlossen sind, in den skrophulösen Or¬ 
ganismus eindringt. Das primäre ist die Ernährungsstörung, das 
sekundäre die Bakterienansiedelung! Die Untersuchung einer Klasse, 
die einen grösseren Prozentsatz skrophulöser Kinder enthält, ist 
in dieser Beziehung sehr lehrreich und derjenige, welcher alle 
diese Kinder, welche beispielsweise in der Rekonvalescenz von 
Scharlach oder unter dem Einfluss anderer Schädlichkeiten eine 
Zeit lang das typische Bild der Skrophulose darbieten, für tuber¬ 
kulös halten wollte, dürfte weit über das Ziel hinaus schiessen. 
Auf jeden Fall kann der Schulhygieniker den Begriff 
Skrophulose noch weniger entbehren, wie der ärzt¬ 
liche Praktiker. 

Das Bild der Skrophulose ist in den ausgeprägten Fällen, 
wie erwähnt, ein überaus klares, auf den ersten Blick zu er¬ 
kennendes: dagegen ist die Abgrenzung nach oben und nach unten 
hin so einfach nicht! Ich habe zunächst alle offenbar tuberkulösen 
Alfektionen, Gelenkleiden u. s. w. ausgeschlossen; ich habe auch 
eiternde Halsdrüsen u. s. w., sobald sie das einzige Symptom 
bildeten, unter Tuberkulose und nicht unter Skrophulose einge¬ 
tragen, ich habe andererseits aber auch nicht jedes Kind, bei dem 
die sorgfältigste Untersuchung eine einzelne geschwollene Hals- 
drüse erkennen Hess, nun gleich skrophulös genannt. Es verhält 
sich hiermit, wie mit den anderen chronischen Krankheiten auch. 
Blutarmuth z. B. ist ein ähnlicher Begriff: über die ausgeprägten 
Fälle kann kein Zweifel sein, — ob aber im gegebenen Fall die 
blasse Farbe der Wangen und der sichtbaren Schleimhäute noch 
innerhalb der Breite normaler Schwankungen liegt, oder ob sie 
•reits ein Zeichen krankhafter Blutbeschaffenheit ist, mit einem 



Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 159 


Worte, ob der Strich in die Rubrik „Gesund“ oder „Krank“ ein¬ 
zutragen ist, ist oft schwer zu entscheiden. Der einzelne Arzt 
freilich gewöhnt sich bei einer grösseren Untersuchungsreihe sehr 
schnell an eine grosse Gleichmässigkeit der Beurtheilung; bei ver¬ 
schiedenen Aerzten wird aber die Entscheidung je nach der sub¬ 
jektiven Natur des Arztes verschieden ausfallen. Was dem einen 
gleichgültig erscheint, wird der andere bereits als ausgeprägten 
Krankheitszustand ansehen. Dies der Grund der mich veranlasste, 
meinen Standpunkt hier etwas eingehender klar zu legen. — 

Die Zahl der Skrophulöseu ist, selbst mit der Einschränkung, 
in der ich den Begriff angewendet habe, recht gross; es sind 73 
Knaben (6,2 Proz.) und 52 Mädchen (4,3 Proz.) unzweifelhaft 
skrophulös. Auffallend ist und vielleicht durch die Verschiedenheit 
der Auffassung seitens der untersuchenden Aerzte bedingt, dass 
unter den dänischen Kindern so sehr viel mehr (20—36 Proz. 
aller Krankheitsfälle) als skrophulös bezeichnet werden, während 
unsere Zahlen sich den schwedischen nähern. Allerdings mit einer 
sehr wesentlichen Einschränkung! Denn während in Schweden 
Skrophulose meist als Begleiterscheinung anderer Krankheitszu¬ 
stände vorkam, für sich allein dagegen überaus selten war, ist es 
bei uns umgekehrt; hier ist es gerade die Skrophulose, die für 
sich allein vorkommt oder doch das Krankheitsbild beherrscht und 
in Folge dessen ist es gerade diese Krankheit, die bei häufigerem 
Vorkommen in einer Klasse zur Erhöhung des Kränklichkeits- 
Prozents am Meisten beiträgt! 

Die Rubrik „Andere langwierige Krankheit“ enthält 
natürlich eine Zusammenstellung der allerverschiedensten leichten 
und schweren Krankheitszustände. 

Es sind darunter zunächst die Ohrenkrankheiten zu er¬ 
wähnen, welche in einigen Schulen das Krankenprozent nicht un¬ 
erheblich beeinflussen und welche um so wichtiger sind, als sie 
häufig den Grund zu unheilbarer Schwerhörigkeit legen. Der Zahl 
nach am häufigsten waren eitrige Ohrenausflüsse, die bei 40 Kindern 
(24 Knaben, 16 Mädchen) verzeichnet sind. Schwerhörigkeit, ohne 
dass zur Zeit der Untersuchung Ausfluss vorhanden war, war in 
15 Fällen (5 Knaben, 10 Mädchen) vorhanden. Indessen handelte 
es sich auch hier häufig um die Folgen eitriger Ohrenausflüsse. 
In anderen Fällen waren Erkrankungen des Rachens, Schwellungen 
der Mandeln oder Wucherungen im Nasenrachenraum als Ursache 
der Schwerhörigkeit anzusehen. Indessen habe ich auf diese Ver¬ 
hältnisse nicht eingehender geachtet, was ich bereitwillig als einen 
Fehler eingestehen will, den ich bei etwaiger Wiederholung sol¬ 
cher Untersuchungen vermeiden würde. Auch sonst mögen, ob¬ 
gleich in jedem Falle auf die Gehörschärfe geachtet wurde, bei 
der etwas kursorischen Art dieser Untersuchung einige leichtere 
Fälle von Schwerhörigkeit unerkannt geblieben sein. Auf jeden 
Fall aber ist die Zahl der schwerhörigen Kinder auch nicht im 
Entferntesten so hoch, Avie Schmigelo.w angiebt, der von 581 
Kindern einer Volksschule in Kopenhagen die Hälfte in höherem 
oder geringerem Grade schwerhörig fand und bei den meisten von 
diesen chronischen Nasen- und Rachenkatarrh oder adenoide Vege- 



160 


Dr. Langorbans. 


tationen im Nasenrachenraum fand. Derartige Uebertreibungen 
des Spezialistenthums sind es nach meiner Erfahrung hauptsäch¬ 
lich, welche die ärztliche Schulaufsicht bei Lehrern und Eltern in 
Misskredit bringen. Auf jeden Fall sind es bei uns viel weniger 
die genannten Krankheiten der Rachenorgane, als die Infektions¬ 
krankheiten, und ihre Folgezustände, die namentlich zu den höhe¬ 
ren Graden von Schwerhörigkeit führen. So ergab sich aus den 
Physikatsakten, dass von den 40 Kindern mit Ohreneiterung 26 
in den beiden letzten Jahren Scharlach durchgemacht hatten, 
während bei 5 Kindern der Ohrenfluss als Folge einer schweren 
Masernepidemie zurückgeblieben war. Auch bei den 15 Kindern, 
die, ohne Ohrenfluss zu haben, als schwerhörig verzeichnet sind, 
ist sieben Mal Scharlach, ein Mal Masern als Ursache der Schwer¬ 
hörigkeit anzusehen! 

Von Hautkrankheiten wurden 5 Fälle von Ekzem und 
8 anderen Hautkrankheiten notirt, ausserdem aber 18 Fälle von 
Impetigo contagiosa. Diese Krankheit trat urplötzlich in 
Vorhop, Kirchspiel Knesebeck im Frühjahr 1891 bei einigen 40 
Kindern epidemisch auf, ohne dass es gelungen wäre, die Quelle 
der Ansteckung festzustellen. Zur Zeit meiner Schülerunter¬ 
suchungen war diese Epidemie bereits erloschen, während in der 
Umgegend, namentlich in Knesebeck und Hankensbüttel immer 
wieder neue kleine Haus- und Gruppen-Epidemien auftraten (und 
auch noch auftreten). Interessant ist, dass unter den 18 Impetigo- 
Kranken 16 Knaben waren, offenbar eine Folge der geringer ent¬ 
wickelten Reinlichkeit bei der männlichen Schuljugend. Aus dem 
Pustelinhalt züchtete ich einen Streptococcus, anscheinend den¬ 
selben, welchen dann im Reichsgesundheitsamt Stabsarzt Dr. Kurth 
aus dem von mir aus Vorhop eingesandten Material isolirte und 
gleichzeitig mit Impetigo - Streptokokken anderer Herkunft näher 
untersuchte. 

Herzkrankheiten wurden bei 10 Kindern vorgefunden, 
worüber unten Näheres gesagt werden wird. 

Lungenkrankheiten waren, wenn man absieht von den 
meist epidemisch verbreiteten sog. Erkältungskrankheiten, in Folge 
deren mehrmals notirt war: „fast sämmtliche Schüler husten!“ 
recht selten. Länger dauernder Husten mit Auswurf 
fand sich nur bei 5 Kindern, von denen eines an vorge¬ 
schrittener Lungen- und Kehlkopftuberkulose litt, ein anderes der 
Lungentuberkulose mindestens sehr verdächtig war. Vom Schul¬ 
besuch zurückgehalten wurde ferner ein Kind mit Tuberkulose der 
Lungen und der Rückenwirbelsäule. 

Knochen- bezw. Gelenktuberkulose fand sich bei drei 
Kindern. Zwei Kinder waren wegen ähnlicher Leiden in auswär¬ 
tigen Kliniken untergebracht. Zwei Kinder litten an Zahnfistel. 

Rachitis höheren Grades war bei drei Kindern vorhanden, 
Magen- und Leib schm erzen wurde häufig, nämlich bei 17 
Mädchen und 9 Knaben angegeben, wohl meist Folge der über¬ 
reichlichen und derben Kost! 

Defekte der psychischen Thätigkeit von leichtem, 



Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 161 


aber entschieden krankhaften Schwachsinn bis zum ausgebil¬ 
detsten Blödsinn wurden bei 20 Kindern, (10 Knaben, 10 Mäd¬ 
chen) festgestellt, häufig mit anderen krankhaften Zuständen, 
anscheinend auch mit Schwerhörigkeit, die bei diesen Kindern 
allerdings sehr schwer festzustellen ist, zuweilen auch mit körper¬ 
lichen Missbildungen komplizirt. Eins der unglücklichen Kinder 
litt gleichzeitig an Hasenscharte, Missbildung der Ohren und 
Aphasie, ein anderes hatte einen ausgeprägten Microcephalus. 
Leider sind die Eltern in falsch angebrachter Zärtlichkeit wenig 
geneigt, dem weitgehenden Entgegenkommen unserer humanen 
Kreisvertretung entsprechend, diese Kinder, die ein für die Volks¬ 
schule durchaus ungeeignetes Element bilden, der idiotenanstalt 
zur Erziehung zu übergeben! 

Chorea wurde bei zwei Mädchen, die derselben Schulklasse 
angehörten, Epilepsie sechs Mal (drei Knaben, drei Mädchen) 
vorgefunden. 

Stottern fand sich bei 23 Kindern und zwar bemerkens- 
werther Weise bei 19 Knaben und 4 Mädchen. Soweit die kleinen 
Zahlen einen Schluss zulassen, scheint die Zahl der Stotterer 
und die Heftigkeit des Stotterns während des Schulbesuches zu¬ 
zunehmen. 

Ein Knabe litt an Incontinentia urinae, mehrere an 
Bettnässen. Vier Knaben hatten Leistenbrüche, einer litt 
an Wasserbruch. 

Schliesslich finden sich noch einige Missbildungen, ein 
Mal beiderseitige Klumpfüsse (inzwischen auf Kosten des Kreises 
in Göttingen operativ beseitigt), ein Mal Defekt beider Ellen¬ 
bogengelenke, ein Mal eine Missbildung des Schädels, einige ge¬ 
heilte Hasenscharten und zwei kleinere Gefässgeschwülste. 

Es erübrigt schliesslich noch die Vertheilung der Krank¬ 
heiten auf die einzelnen Kirchspiele, welche sehr inter¬ 
essante Gesichtspunkte ergiebt, zu erörtern, wobei die Kurzsich¬ 
tigkeit ausserhalb der Betrachtung bleiben kann. 

Tabelle XTV. 

Vertheilung der Krankheiten auf die verschiedenen Kirchspiele in Prozenten. 


Kirchspiel 


Wittingen . . . 

Hankensbttttel- 
Isenhagen. . . 

Knesebeck . . . 

Wahrenholz. . . 

Brome. 

Oesingen. . , . 

Ohrdorf . . . . 

Sprackensehl . . 

Steinhorst . . . 

Zasenbeck . . . 





478 17,2 1,8 1,1 0,4 0,4 0,8 3,9 1,1 4,1 7,5 

423 18,0 1.2 1,2 — 0,2 2,2 2,4 1,4 4,4 5,5 

352 21,4 1,8 — 0,9 1,2 2,7 4,1 1,2 3,2 7,7 

250 24,1 4,0 — - 0,4 1,2 2,0 0,8 10,2 11,4 

405 27,3 1,7 — 0,2 1,0 5,7 5,7 1,2 5,2 9,3 

106 19,8 4,7 — — — 6,6 0,9 2,7 0,9 4,7 

97 20,6 4,1 — — 1,0 — 3,1 — 3,1 9,3 

59 18,6 1,7 — — — 8,5 3,4 — 10,2 3,4 

73 20,5 2,7 — — 4,1 5,5 1,4 1,4 2,7 6,8 

124 18,5 2,4 0.8 — — 1,6 3,2 — 5,0 10,0 

2367 20,6 2,2 0,3| 0,2 0,7 2,9 3,4 1,1 5,3 8/7 












162 i)r. Langerhans. 

Ich bemerke zunächst, dass ich die 5 kleinen Kirchspiele 
Oesingen, Ohrdorf, Sprackensehl, Steinhorst und Zasenbeck bei 
Seite lasse, wobei ich mich auf Axel Key’s treffende Ausfüh¬ 
rungen berufe, dass in einer Klasse von 50 Kindern ein einziges, 
zufällig an Kopfweh leidendes Kind die Verhältnisszahl ftir diese 
Krankheit gleich um 2 Proz. erhöhen würde. Uebrigens zeigen 
diese 5 Kirchspiele im Ganzen mittelgünstige Gesundheitsverhält¬ 
nisse. Die günstigsten Verhältnisse zeigen unter den 5 grossen 
Kirchspielen Wittingen und Hankensbüttel, auch Knesebeck über¬ 
steigt nur um ein Geringes den Durchschnitt, sowohl in der Pro¬ 
zentzahl für die Gesammtkränklichkeit, als für die einzelnen 
Krankheiten. Dagegen zeigen Wahrenholz und Brome ein den 
Durchschnitt erheblich übersteigendes Krankenprozent von 24,1, 
bezw. 27,3, welches bei der Grösse der Zahlen auf Zufall nicht 
beruhen kann und eine eingehendere Betrachtung erfordert. 

Ein Blick auf Tabelle zeigt, dass es ganz verschiedene 
Krankheiten sind, an welchen in diesen beiden Kirchspielen die 
Kinder leiden. Im Kirchspiel Brome überwiegen die Augen¬ 
krankheiten und der Kopfschmerz und zwar sind es die 
drei Schulklassen des Marktfleckens Brome, in welchen der grösste 
Theil dieser Krankheiten zu finden ist, während die Aussendörter 
verhältnissmässig frei davon sind. 



Zahl 

krank 

Kopfschmerz 

Augen¬ 

krankheit 

Skrofeln 

Andere lang¬ 
wierige 
Krankheiten 

Flecken Brome . . . 
Aussendürfer .... 

143 

262 

36.4 

22.5 

lü 

■Boi 

8,4 

4,2 

4,8 

5,3 

11,8 

8,0 

Zusammen 405 

27,3 

5,7 5,7 

5,2 

9,3 


Wir haben es bei der grossen Zahl der Augenkrankheiten 
mit den Ueberbleibseln der oben erwähnten Epidemie von Folli- 
kularkatarrh zu thun. Uebrigens ist es mir unzweifelhaft, dass 
der in Brome so sehr häufig beobachtete Kopfschmerz in vielen 
Fällen ebenfalls eine Folge der lange dauernden Konjunktival- 
reizung ist, was um so weniger auffallend ist, als es gerade die der 
Geschlechtsentwickelung nahe stehenden, besonders empfindlichen 
beiden ältesten Jahrgänge der Mädchen waren, welche über Kopf¬ 
schmerz klagten. Aber auch abgesehen von diesen beiden 
Krankheiten bleibt der Gesundheitszustand im Kirchspiel Brome, 
namentlich im Flecken Brome selbst, wenigstens um einige Pro¬ 
zente hinter dem Durchschnitt des Kreises zurück und es ist nicht 
ausgeschlossen, dass die verhältnissmässig schlechte wirthschaft- 
liche Lage, in der sich ein Theil der Einwohner des Fleckens 
Brome den anderen Theilen des Kreises gegenüber befindet, in 
diesen Zahlen zum Ausdruck kommt. Immerhin handelt es sich 
hierbei höchstens um einige Prozente und die Hauptschuld an dem 
hohen Krankenprozent trägt ohne Frage jene, vom Publikum ihres 












Die gesundheitlichen Verhältnisse der ländlichen Volksschulen etc. 163 


anscheinend milden Charakters wegen vernachlässigte Epidemie 
von Follikularkatarrh. 

Wesentlich anders lag die Sache in Wahrenholz, dem zwei¬ 
ten Kirchspiel, welches eine den Durchschnitt des Kreises über¬ 
schreitende Kränklichkeit besitzt. Hier war es zu einer eigen¬ 
tümlichen Häufung der akuten Infektionskrankheiten gekommen, 
indem die Kinder wohl ausnahmslos im Sommer 1890 von Keuch¬ 
husten, dann, kaum von dieser Krankheit genesen, im Oktober 
und November desselben Jahres von den Masern, schliesslich auch 
noch im Dezember 1890 und in den ersten Monaten des Jahres 
1891 vom Scharlach befallen wurden. Nun hatte dieselbe Epidemie 
von Masern und Scharlach zwar zum Theil auch in den Kirch¬ 
spielen Wittingen und Knesebeck geherrscht; allein beide Krank¬ 
heiten waren hier zeitlich durch einen viel längeren Zwischenraum 
getrennt, hatten ausserdem einen so überaus milden Verlauf ge¬ 
zeigt, dass nur in einigen wenigen Ohreneiterungen Spuren, nament¬ 
lich des Scharlachs, aufzufinden waren. Anders in Wahrenholz! 
Denn hier, wo Masern und Scharlach recht bösartig aufgetreten 
waren, wurde das Gesammtbild der Kränklichkeit, wie ich es 
bei meiner Schuluntersuchung vorfand, ausschliesslich durch die 
Folge- und Nachkrankheiten beider Infektionskrank¬ 
heiten, namentlich des Scharlachs beherrscht. Es war 
ein ganz eigentümlicher, von Allem, was ich bisher gesehen hatte, 
abweichender Anblick, den diese Schulklassen darboten! Nicht 
nur war die Zahl der Blutarmen unter den Bonst so kräftig 
entwickelten Kindern gerade dieses Kirchspieles eine sehr grosse, 
sondern auch die Zahl der Skrophulösen, wobei noch hervor¬ 
zuheben ist, dass gerade hier mit der Diagnose Skrophulose keines¬ 
wegs freigiebig verfahren wurde! Denn die Thatsache, dass nach 
der sog. Scharlachdiphtheritis sehr oft Anschwellungen der Hals¬ 
drüsen Zurückbleiben, musste die Bedeutung dieses sonst für 
Skroph ulose so wichtigen Symptoms wesentlich herabdrücken. Es 
fanden sich hier bei fast allen Kindern Drüsenschwellungen, theils 
als dicke Packete, theils als einzelne, perlschnurartig an einander 
gereihte bewegliche Knoten, ich habe diese Zustände indessen, 
wenn die Kinder sonst gesund waren, nicht als Krankheit notirt! 
Erwähnt ist bereits die grosse Zahl der Ohreneiterungen; 
es litten hieran im Kirchspiel Wahrenholz 11 Kinder (4,4 Prozent 
gegen 1,7 im ganzen Kreise), mit einer Ausnahme sämmtlich in 
Folge von Scharlach. 

Noch wichtiger und medizinisch sehr interessant ist das 
häufige Vorkommen von Herzkrankheiten. Herzkrankheiten 
sind im Ganzen unter Schulkindern sein- selten, ich habe unter den 
2117 übrigen Kindern nur drei Mal eine solche notirt, während 
unter den 250 Kindern des Kirchspiels Wahrenholz nicht weniger 
al.s sieben unzweifelhafte Zeichen einer Erkrankung des Herzens 
aufzuweisen hatten; und zwar war ein Mal ein Klappenfehler, ein 
Mal eine Verschiebung des Herzens mit Herzklopfen in Folge 
eines schrumpfenden Exsudats, drei Mal Vergrösserung des Herzens 
mit Herzklopfen und Kurzathmigkeit, ein Mal Unregelmässigkeit 



164 


Dr. Langerhans: Die gesundheitlichen Verhältnisse etc. 


und Schwäche der Herzthätigkeit, ein Mal nur Herzklopfen vor¬ 
handen. Es ist wohl zweifellos, dass diese Herzaffektionen in den 
meisten Fällen die Folge des Scharlachs, bezw. einer damit ver¬ 
bundenen Nierenkrankheit waren, obgleich es nur bei zwei von 
diesen sieben Kindern zu wassersüchtigen Schwellungen gekommen 
zu sein schien! — 

Fassen wir die Resultate unserer Schuluntersuchun¬ 
gen in w enigen Worten zusammen, so würde sich ergeben, dass 
im Ganzen die körperliche Entwickelung unserer Lüneburger Dorf¬ 
jugend eine recht kräftige ist und dass der Gesundheitszustand 
derselben im Vergleich zu anderen Kindern, die unter anderen 
Verhältnissen aufwachsen, recht günstig zu nennen ist. Denn die¬ 
jenigen langwierigen Krankheitszustände, welche sich als Folge 
sozialen Elends, vor Allem ungenügender Ernährung, ausbilden, 
spielen hier eben so wenig eine erhebliche Rolle, wie die eigent¬ 
lichen „Schülerkrankheiten“, die als Folge geistiger Ueberanstren- 
gung anzusehen sind; es sind vielmehr fast ausschliesslich die 
Seuchen, welche, ebenso wie sie für die grössere oder geringere 
Sterblichkeit alljährlich das ausschlaggebende Moment abgeben, so 
auch die Kränklichkeit der Schüler in hervorragendster Weise be¬ 
einflussen. Es ist daher zu hoffen, dass das vom ärztlichen Stande, 
namentlich aber von den Medizinalbeamten seit Jahren mit steigen¬ 
dem Nachdruck geforderte, nunmehr der Verwirklichung endlich 
nahe erscheinende Reichsseuchengesetz dazu beitragen wird, den 
verderblichen Seuchenzügen ein Ende zu bereiten, welche Jahr 
für Jahr so zahlreiche Opfer unter der blühenden Schuljugend 
fordern und Siechthum und Elend in ihrem Gefolge zurücklassen! 
Freilich, mit dem Gesetz allein ist es auch nicht gethan! Denn 
je eingehender man sich in die Schulverhältnisse hineinvertieft, je 
näher man die Verhältnisse zu ergründen sucht, wo die bessernde 
Hand einzugreifen haben würde, je gewissenhafter man sich die 
Frage vorlegt, wie, selbst an der Hand des zu erhoffenden Reichs¬ 
seuchengesetzes, im gegebenen Fall der Ausbreitung beispiels¬ 
weise einer Scharlach- oder Diphtheritis - Epidemie vorgebeugt 
werden soll, um so ernstere Bedenken müssen auftauchen, 
ob der Zustand unserer Medizinal Verfassung eine 
wirksame Thätigkeit thatsächlich ermöglichen wird, 
ob nicht eine vollständige Umwälzung in der Stel¬ 
lung der Medizinalbeamten die Vorbedingung hier¬ 
für ist! Denn — darüber dürfen wir uns keinen Hlusionen 
hingeben — mit ein paar Ausschliessungen von Schulkindern oder 
auch mit ein paar Schliessungen von Schulen ist es nicht gethan; 
worauf es ankommt, das ist die systematische, nur durch jahre¬ 
lange, zielbewusste Arbeit zu erreichende Hebung der gesammten 
hygienischen Beschaffenheit aller Einrichtungen der Schule, das 
ist ferner die Erweckung hygienischen Verständnisses und hygie¬ 
nischen Geistes bei den Lehrern, was aber nicht zu erreichen ist 
durch ein paar hygienische Stunden auf dem Seminar, sondern 
nur durch stetige, gemeinsame Thätigkeit des Lehrers und des 



Dr. Meyhoefer: Zur Regresspflichtigkeit des medizinischen Gutachters. 165 

Hygienikers, durch eine organische Verbindung des Letzteren mit 
der Schule, die ihm nicht etwa eine vorwiegend polizeiliche, son¬ 
dern vor Allem eine anregende, belehrende, befruchtende Thätigkeit 
sichert. Der Nutzen einer solchen Thätigkeit wird sich nach beiden 
Seiten hin geltend machen; ich wenigstens denke mit lebhaftem 
Vergnügen zurück an die nahe Berührung, in welche mich meine 
Untersuchung zu den Schulen, namentlich auch zu den Kreis- und 
Lokal-Schu’inspektoren, sowie zu den Lehrern gebracht hat und, 
wenn ich häufig das Gefühl hatte, dass meine Anregungen nicht 
auf unfruchtbaren Boden fielen, so habe ich auch diesen, inmitten 
der Praxis des Schulwesens stehenden Männern eine Fülle der 
mannichfaltigsten Belehrungen zu verdanken. Und ich bin 
überzeugt, dass die ärztliche Schulaufsicht, wenn sie 
in diesem Sinne ausgeübt wird, den erwarteten, hier 
und da wohl auch thatsächlich bestehenden Wider¬ 
stand Seitens der Schulmänner mit Leichtigkeit über¬ 
winden und eine überaus segensreiche Thätigkeit ent¬ 
falten muss zum Segen der heran wachsenden Jugend! 


Zur Regresspflichtigkeit des medizinischen Gutachters. 

Eine Hittbeilung aus der Praxis, von Dr. Meyhoefer, Kreisphysikus in Görlitz. 

Nachstehendes Erlebniss, welches nachweist, in welche fatale 
Lage man auch bei gewissenhafter Ausstellung eines Gutachtens 
gerathen kann, dürfte den Herren Kollegen nicht uninteressant 
sein. Häufen sich doch von Jahr zu Jahr die Anforderungen, 
welche von Behörden und Berufsgenossenschaften an die Sachver- 
8tändigenthätigkeit gerade der Medizinalbeamten gestellt werden. 

Am 15. Juni 1891 wurde mir von dem Königl. Eisenbahn- 
Betriebsamt Cottbus der Knecht H. zur Untersuchung zugeschickt, 
welcher am 19. Juli 1890 einen Eisenbahnunfall erlitten hatte. 
Als derselbe mit einem Fuhrwerk durch den unverschlossenen Ueber- 
gang den Bahndamm erreicht hatte, war ein Zug vorbeigebraust, 
hatte die Pferde getödt^t, den Wagen zur Seite und den darauf 
sitzenden H. zu Boden geschleudert. Die unmittelbare Folge dieser 
Verletzung war eine ausgedehnte Quetschung der Lenden- und 
Bauchmuskulatur der linken Seite gewesen, welche Erscheinungen 
hervorgebracht hatte, die unter ärztlicher Behandlung bald zurück¬ 
gegangen waren. Es waren aber Störungen von Seiten des Ma¬ 
gens zurückgeblieben, welche sich allmählich gesteigert hatten. 
Da der H. vorher nach dieser Richtung stets gesund gewesen sein 
sollte, so hatte der behandelnde Arzt Dr. S. die Magenbeschwerden 
auf den vorausgegangenen Unfall bezogen und den Verletzten 
6 Wochen als vollständig, 6 weitere Wochen als halb erwerbsfähig 
erklärt; von da ab wurde ihm eine Erwerbsfähigkeit von 75 Proz. 
und eine Monatsrente von 10 Mark zuerkannt. 

Diese Einzelheiten sind mir erst später bekannt geworden, 
zur Zeit der Untersuchung am 15. Juni 1891 war ich bezüglich 
der Anamnese im Wesentlichen auf die Aussagen des H. angewiesen 



166 


Dr. Meyhoefer. 


Bei dieser Untersuchung fand ich in demselben einen Mann 
von gutem Ernährungszustände, gesunder Gesichtsfarbe und ohne 
alle und jede nachweisbare krankhafte Veränderungen. Insbeson¬ 
dere war seine Zunge rein und bot die Besichtigung und Betastung 
der Magengegend irgend etwas Auffälliges nicht dar. H. klagte 
über Appetitlosigkeit und häufige Magenschmerzen, wodurch es ihm 
schwer werden sollte, seine Arbeit zu leisten. 

Im Uebrigen erschien derselbe bei mir im Arbeitsanzuge, und 
auf meine Frage, welche Arbeit er denn verrichte, erklärte er mir, 
„dieselbe wie früher“. Er sagte weiter aus, dass er nach wie 
vor „mit Pferden fahre“. 

Ich bemerke auch noch, dass ich ihn zunächst zu einem Termin 
auf den Tag vorher bestellt hatte, dass er aber durch seinen Herrn 
schriftlich entschuldigt worden war mit der Begründung, dass an 
diesem Tage die Arbeit besonders dränge. 

Mein Gutachten ging dahin, dass ich bei dem nach jeder Rich¬ 
tung negativen Befunde keinen Anhalt dafür hätte entnehmen 
können, dass der H. nicht voll arbeitsfähig sein sollte. 

Einige Zeit darauf wurde mir von dem Betriebsamt ein am 
30. Juni ausgestelltes Gutachten des behandelnden Arztes zuge¬ 
schickt mit dem Ersuchen, mich zu äussern, ob ich nach Kennt- 
nissnahme von demselben bei meiner Erklärung stehen bleiben 
wolle. In diesem Gutachten wurde gesagt, dass die Gesichtsfarbe 
des H. eine krankhafte, seine Zunge belegt, die Magengegend 
„geschwollen“ und er nur theilweise arbeitsfähig wäre. Da ich 
von diesen Symptomen keines bemerkt hatte, musste ich natürlich 
bei meiner Ansicht beharren. 

Sehr erstaunt war ich nun, als ich geraume Zeit darauf, am 
28. April v. J., ein Schreiben von dem Königl. Eisenbahn-Betriebs¬ 
amt erhielt, in welchem dieses mir mittheilte, dass es gestützt 
auf mein Gutachten dem H. die Rente entzogen hätte, dass H. 
aber klagbar geworden wäre und bei dem Landgericht Cottbus ein 
obsiegendes Erkenntniss erstritten hätte, dass nunmehr das Betriebs¬ 
amt mich für die ihm entstandenen Kosten haftbar machen müsste, 
da ich es bei der Ausfertigung meines Gutachtens an der erfor¬ 
derlichen Aufmerksamkeit hätte fehlen lassen. „Der Abgabe des 
Gutachtens,“ so wurde ausgeführt, „kann unseres Erachtens eine 
eingehende Untersuchung des Klägers nicht vorangegangen sein, 
da sonst der chronische Magenkatarrh an der Hand der vom Pa¬ 
tienten gemachten Angaben hätte entdeckt werden müssen.“ Nach 
§§. 219, 220, Theil I, Titel 13 des Allgemeinen Landrechts hafte 
ein Sachverständiger, wenn er in Angelegenheiten seiner Kunst 
oder Wissenschaft gegen Bezahlung oder Belohnung Rath ertheile, 
für ein mässiges Versehen. Ein mässiges Versehen heisse aber 
dasjenige, welches bei einem gewöhnlichen Grade von Aufmerk¬ 
samkeit vermieden werden konnte (§. 20, Theil I, Titel 3 a, a. 0.). 

Da ich nun die übliche Belohnung in Höhe von 6 Mark er¬ 
halten hatte, sollte ich meine Bereitwilligkeit erklären, die „nicht 
unerheblichen Kosten“, welche durch das Prozessverfahren dem 
Betriebsamt erwachsen waren, zu erstatten. „Dieselben betragen,“ 



Zur Regresspflichtigkeit des medizinischen Gutachters. 


167 


so hiess es in dem Schreiben, „für unsere Vertretung durch einen 
Rechtsanwalt 113,40 Mark, die dem Gegner zu erstattenden Rechts¬ 
anwaltkosten sind uns noch nicht bekannt, werden aber ungefähr 
dieselbe Höhe erreichen. Dazu treten noch die einstweilen von 
der Gerichtskasse verauslagten Gebühren der Zeugen und Sach- 
Aerständigen.“ 

Da ich das an mich gestellte Ansinnen ablehnte, so reichte 
das Betriebsamt die Klage bei dem hiesigen Landgericht gegen 
mich ein, welches, wie vorauszusehen war, beschloss, ein Obergut¬ 
achten von dem Medizinal-Kollegium der Provinz einzuholen. 

Des erheblichen allgemeinen Interesses wegen lasse ich den 
hauptsächlichen Inhalt dieses Obergutachtens nachstehend wörtlich 
folgen. 

„Die vorliegende Klage gegen den Kreisphysikus Dr. Meyhoefer stützt 
sich wesentlich auf die Anschauung, dass das von demselben am 15. Jnni 1891 
erstattete Gutachten in Folge Mangels an Anfmerksamhcit so oberflächlich und 
ungenau abgefasst worden sei, dass dadurch der Eisenbahnfiskus irregeführt 
warde. Wer das betreffende Dr. Meyhoefer’sche Gutachten ohne Kenntniss 
der übrigen Akten durchliest, wird bei strenger Kritik nichts Anden, was eine 
derartige Auffassung rechtfertigen könnte. Das Gutachten ist zwar kurz, be¬ 
rücksichtigt aber in sachlicher und dabei ganz bestimmter Weise die wesent¬ 
lichen Punkte, welche nach den von H. vorgebrachten Klagen in’s Auge zu 
fassen waren. Die ungünstige Kritik des betreffenden Gutachtens konnte somit 
nur auf Grund der Differenzen zwischen demselben und den Aussagen des Dr. S. 
gefällt werden. Und da der weitere Verlauf der Sache dem Letzteren Recht 
gegeben hat, so konnte wohl mit Recht der Verdacht entstehen, dass Dr. Mey¬ 
hoefer leichtfertig geurtheilt habe. Wir müssen hier darauf hinweisen, dass 
es zu den häufigen Vorkommnissen gehört, dass in ärztlichen Gutachten von 
verschiedenen Personen ausgesprochene Meinungen wesentlich von einander diffe- 
riren, ja nicht selten einander gegenüberstehen, ohne dass man das Recht hätte, 
dem einen oder andern Arzt den Vorwurf der Leichtfertigkeit zu machen. Selbst 
bei krankhaften Zuständen, deren Symptome objektiv leicht und sicher nachzu¬ 
weisen sind, ist oft eine verschiedene Auffassung in der Bedeutung dieser Symp¬ 
tome möglich; umsomehr wird dies der Fall sein, wenn gar keine greifbaren, 
objektiv sicheren Erscheinungen vorliegen, wie es zweifellos beim E. H. der 
Fall war. 

Die Differenz im Urtheil der beiden Sachverständigen gestattet somit an 
und für sich keinen Schluss in Betreff der von denselben angewendeten Sorgfalt. 

Wenn wir auf die Differenzen in Bezug auf die thatsächlichen Angaben 
der beiden Sachverständigen eingehen, so können wir nur folgende Punkte als 
wesentlich ansehen. 

1. Dr. Meyhoefer sagt aus, der p. H. sei ein kräftiger Mann in gutem 
Ernährungszustände, während Dr. S. ihn als abgemagert, von gelblichgrauer 
Gesichtsfarbe bezeichnet. 

2. Dr. Meyhoefer sagt, die Magengegend zeige sowohl bei der Be¬ 
sichtigung als bei der Betastung keine krankhaften Veränderungen, Dr. S. da¬ 
gegen, dass die Magengegend geschwollen und druckempfindlich sei. 

3. Dr. Meyhoefer sagt, die Zunge des H. sei rein, während Dr. S. 
angiebt, dieselbe habe bei allen Untersuchungen einen weisslichen festen Belag 
gehabt. 

Hierzu ist zu bemerken, und zwar 

ad 1. Die Beurtheihing des Ernährungszustandes eines Menschen ist 
Sache einer Schätzung, die namentlich bei Personen, die nur einmal und vorüber¬ 
gehend gesehen werden, bei denen also der Vergleich mit einem früheren Er¬ 
nährungszustand fehlt, keinen Anspruch auf besondere Genauigkeit haben kann. 
Ebenso verhält, es sich mit der Angabe über die Gesichtsfarbe. In Betreff der 
letzteren ist es übrigens ganz gut denkbar, dass die beiden Aerzto den H. in 
relativ verschiedenem Zustande gesehen haben, denn es lag ein Zeitraum von 
2 Wochen zwischen der Untersuchung des Dr. Meyhoefer und der nächstfol¬ 
genden des Dr. S. 



168 


Dr. Rother: Masern und Rüthein. 


ad 2. Dasselbe lässt sich über den Befund an der Magengegend sagen. 
Dass die Magengegend „geschwollen“ gewesen sei, wie Dr. S. angiebt, ist auch 
nur auf eine ungefähre Schätzung zu beziehen, die für die Diagnose eines 
Magenleidens nicht den geringsten positiven Anhaltspunkt giebt. Die Druck- 
einpfindlichkeit der Magengegend hat dagegen Dr. Meyhoefer nicht über¬ 
sehen, er führt sie nur unter den subjektiven Beschwerden an, die er eben anders 
gedeutet hat, als Dr. S. 

ad 8. Hier widersprechen sich zwei positive, eindeutige Angaben. Wenn 
man die betreffende Angabe des Dr. Meyhoefer beanstandet, so beschuldigt 
man ihn, wissentlich eine falsche Aussage gemacht zu haben. Dazu liegt aber 
kein Grund vor, denn der H. kann doch wohl am 15. Juni 1891 eine reine, und 
2 Wochen später eine belegte Zunge gehabt haben. 

Es muss zum Schluss noch nachdrücklich hervorgehoben werden, dass Dr. S. 
in keiner seiner Aussagen durch objektive Symptome ein Magonleiden bei H. 
wissenschaftlich festgestellt hat. Er giebt auch keine präzise wissenschaftliche 
Diagnose, sondern beschränkt sich auf vage Angaben, welche keineswegs ein 
Urtheil über die Art des Magenleidens gestatten. Es sei hier bemerkt, dass 
eine genaue Diagnose von Magenkrankheiten oft zu den schwierigsten Aufgaben 
der Diagnostik gehört und meist nur mit Hülfe von schwierigen und kompli- 
zirten Methoden zu stellen ist, die hier von keinem der beiden Aerzte ange¬ 
wandt worden sind. 

Aus dem Gesagten ergiebt sich die Beanwortung der an uns gestellten 
Fragen wie folgt: 

1. Es lässt sich nach den Akten als wahrscheinlich annehmen, dass der 
Knecht H. an einem chronischen Magenübel leidet; ein sicherer wissenschaft¬ 
licher Nachweis ist aber hierfür nicht erbracht. 

2. Ob der H. am 15. Juni 1891 an diesem Magenübel gelitten hat, lässt 
sich nicht bestimmen. 

3. Noch weniger lässt sich behaupten, dass Dr. Meyhoefer an jenem 
Tage das vorausgesetzte Magenleiden erkennen musste, wenn er den gewöhn¬ 
lichen Grad von Aufmerksamkeit angewendet hätte.“ 

Ist es wohl einem der Herren Kollegen bei Abgabe eines 
Gutachtens, welches mit dem von einem anderen Sachverständigen 
erstatteten nicht üboreinstimmte, schon einmal in den Sinn ge¬ 
kommen, dass er für den Ausgang eines Prozesses civilrechtlich 
verantwortlich gemacht werden könne? Soll es vielleicht gar 
noch möglich werden, dass bei dissentirendem Ausspruch der eine 
der beiden Gutachter sich gegen die Beschuldigung der „wissent¬ 
lich falschen Aussage“ zur Wehr setzen müsste? 

Fürwahr: Difftcile satyram non scribere! 


Masern und Rötheln. 

Von Kreisphysikus Dr. R. Rother in Falkenborg O./Sehl. 

Zur Frage der Selbstständigkeit der Rötheln, welche von 
einigen Autoren noch immer für modifizirte Formen von Scharlach 
oder Masernangesehen werden, möchte auch ich, nachdem diese Ange¬ 
legenheit durch den Kollegen Flatten angeregt worden ist, einen 
Beitrag liefern, welcher wohl an Beweiskraft für die Selbstständig¬ 
keit des akuten Exanthems nichts zu wünschen übrig lassen dürfte. 

Im April 1890 überfiel unser kleines Landstädtchen das 
Scharlachfieber und hauste in bösartiger Weise bis Ende 
November. 

Im Oktober desselben Jahres rückten die Masern ein und 
überzogen in ruschem Fluge den Ort. Den Höhepunkt erreichte 
die Epidemie im November; sie erlosch Anfang Januar 1891. 



Zur Frage der Entmündigung der Geisteskranken etc. 


169 


Mitte Februar 1891 wurde plötzlich der Wiederausbruch der 
Masern gemeldet und zwar in solcher Ausbreitung, dass eine amt¬ 
liche Untersuchung angeordnet wurde. In den zahlreich betroffenen 
Familien waren die Kinder ohne vorherige auffallende Krankheits¬ 
erscheinungen von einem masernähnlichen Ausschlage befallen wor¬ 
den. Kleinfleckiger Ausschlag, zerstreut, ohne Neigung zu kon- 
fluiren, ohne febrile oder katarrhalische Erscheinungen trat plötz¬ 
lich hervor. 

Sämmtliche Kinder, die ich untersuchte, hatten entweder in 
früheren Jahren oder während der eben abgelaufenen Epidemie 
die Masern überstanden. In wenigen Tagen waren die Kinder 
völlig genesen. Kurzum, es bestand und entwickelte sich eine 
ausserordentlich ausgebreitete Epidemie der Rötheln. 

Es war interessant zu beobachten, wie in zahlreichen Fami¬ 
lien die Kinder in rascher Aufeinanderfolge die sog. Kinderkrank¬ 
heiten: Scharlach, Masern und Rötheln, glücklicher Weise in dieser 
Abstufung zur milderen Krankheitsform, jedoch ohne Beeinträch¬ 
tigung des charakteristischen Krankheitsbildes überstanden. 


Zur Frage der Entmündigung der Geisteskranken und deren 
Unterbringung in eine Irrenanstalt. 

Der im Juli vorigen Jahres veröffentlichte und mit zahl¬ 
reichen Unterschriften, — darunter auch mit denjenigen mehrerer 
Rechtsgelehrten, Professoren, Mitglieder des Preussischen Herren- 
und Abgeordnetenhauses — versehene Aufruf 1 ), betreffs Reform 
der Irrengesetzgebung, hat der Aerztekammer der Provinz Pommern 
Veranlassung gegeben, in ihrer am 17. Februar d. J. stattgehabten 
Sitzung die Frage der Entmündigung der Geisteskranken und die 
Aufnahme derselben in eine Irrenanstalt einer Besprechung zu 
unterziehen. Dieselbe wurde von Herrn Med.-Rath Dr. Siemens 
(Lauenburg) durch nachstehendes Referat eingeleitet: 

M. H.! Der Verein der Aerzte des Reg.-Bez. Stettin hat unsere Aerzte- 
k&mmer ersucht, den Bestrebungen ihr Augenmerk zuzuwenden, welche sich in 
einem Aufruf 1 ) kundgeben betreffend die Entmündigung von Geisteskranken 
und ihre Unterbringung in Irrenanstalten. Wenn Jemand, m. H., der den Stand 
der Sache nicht genau kennt, die Eingangsworte dieses Aufrufs und die weitere 
Ausführung liesst, so muss er den Eindruck haben, dass das Irrenwesen und die 
rechtlichen Verhältnisse der Geisteskranken bei uns auf einer bedenklich schlech¬ 
ten Stufe stehen. Der Willkür, dem Irrthum und der bösen Absicht ist nirgends 
ein so grosser Spielraum gewährt, als auf dem rechtlichen Gebiet der Irrsinns¬ 
erklärung! Dem als geisteskrank Angeschuldigten ist die Vertheidigung nahezu 
unmöglich gemacht, dem im Irrenhaus Begrabenen ist sie vollkommen genommen! 
Das müssen ja furchtbare Zustände bei uns sein. 

Eine solche Uebertreibung richtet sich selbst. Mit derselben Berechtigung 
könnte man aus der Thatsache, dass zuweilen Unschuldige vom Gericht oder den 
Geschworenen verurtheilt werden, folgern, dass in unserer Kriminalrechtspflege 
dem Irrthum, der Willkür und der bösen Absicht ein grosser Spielraum gewährt 
sei. Dies ist aber, wie alle Einsichtigen wissen, so wenig der Fall wie Jenes, 
und es ist daher die Fassung des Aufrufs geeignet, in weiteren Kreisen falsche 
Anschauungen über das Irrenwesen und die rechtlichen Verhältnisse der Geistes- 


*) Derselbe ist in dieser Zeitschrift, Nr. 14; Jahrgang 1892, Seite 370 
abgedruckt. 



170 


Zur Frage der Entmündigung der Geisteskranken etc. 


kranken zu verbreiten, und Richter und Aerzte in der Achtung der Leute 
herabzusetzen. 

Dies ist der erste Vorwurf, den wir den Unterzeichnern des Aufrufs 
machen müssen, mehr in formeller Hinsicht. Wir verwahren uns dagegen, dass 
so etwas in die Welt hinausgerufen wird. 

Sehen wir nun zu, wie es mit der materiellen Berechtigung des Aufrufs 
steht. Die Beispiele, welche die behaupteten Missstände beweisen sollen, sind 
alle höchst zweifelhafter Natur; bei einigen der angeführten Leute handelt es 
sich sicher um Geisteskranke. So wurde der Letzte, de Jon ge, kurz nachher 
von der Anklage der Beleidigung wegen vorliegender geistiger Störung vom 
Gericht freigesprochen! Alle diese Leute aber haben in und ausserhalb der 
Irrenanstalt — falls sie in einer solchen gewesen sind — ihre Rechte ausgiebig 
wahren können, es hat ihnen an dem Schutz der Oetfentlichkeit, an berufenen 
und unberufenen Vertheidigern nicht gefehlt, und über sie uud von ihnen selbst 
sind ganze Stösse von Broschüren und Zeitungsartikeln geschrieben worden. 

Entsprechend ihrem meist nahe der Grenze zwischen geistiger Gesundheit 
und Krankheit liegenden Zustand ist die Beurtheilung dieser Fälle naturgemäss 
eine schwierige; die Gutachten mögen sich daher mitunter widersprochen haben, 
je nach ihrer genaueren oder mangelhafteren Kenntniss der betreffenden Zu¬ 
stände. Die Parteinahme der Laien für oder wider hängt zum Theil von ausser¬ 
halb der wissenschaftlichen Beurtheilung liegenden Gründen ab, es haben 
Farailieninteressen oder Rücksichter anderer Art, auch wohl die Parteipolitik 
und der Eigennutz mitgcspielt. Aus diesen wenigen Beispielen streitiger Art 
(streitig z. Th. nur für die Laien) so schwerwiegende allgemeine Vorwürfe gegen 
die Irrenanstalten, gegen die Richter und die sachverständigen Aerzte herzu¬ 
leiten, dazu haben die Unterzeichner des Aufrufs keine Berechtigung. 

Es ist vor einigen Jahren vom Vorstand des Vereius der deutschen 
Irrenärzte eine Enquete veranstaltet worden darüber, ob in Deutschland Fälle 
von widerrechtlicher Einsperrung geistig Gesunder in Irrenanstalten zur Kennt¬ 
niss gekommen oder Gegenstand amtlicher Erörteruug gewesen seien — es hat 
sich kein einziger Fall der Art ermitteln lassen. Auch für Oesterreich hat der 
verst. Prof. Schleger die wenigen Fälle, welche zum Gegenstand von Angriffen 
gegen die Irrenanstalten wegen angeblicher widerrechtlicher Einsperruug ge¬ 
macht, und welche von den Behörden untersucht wurden, als solche erwiesen, 
in welchen ein inkorrektes Vorgehen der Irrenanstaltsbeamten nicht vorlag, und 
es ist dies auch von den Behörden anerkannt worden. (Allg. Zeitschr. f. Psycli. 
Band XXXX S. 1.) 

Dass die Gesetzgebung Sicherheitsmassregeln ergreift, damit eine solche 
Freiheitsberaubung nicht Vorkommen kann, ist in der Ordnung, und auch bei 
uns fehlen solche gesetzlichen Vorschriften nicht. Es fehlt auch nicht an staat¬ 
licher Beaufsichtigung der Irrenanstalten. Dass letztere noch anders uud besser 
gehandhabt werden kann, soll zugegeben werden. Es kann hinsichtlich der 
staatlichen Kontrole der Irrenanstalten noch mehr gethan werden. Es wird dem 
ganzen Irrenwesen nur zum Vortheil gereichen, wenn die oberen Staatsbehörden 
sich mehr darum kümmern, und die Aerzte an den Anstalten werden sich am 
meisten freuen, wenn einmal die ganze Irrenversorgung nach grossen allgemeinen 
Gesichtspunkten einheitlich im Staate behandelt wird, und wenn in alle klein¬ 
lichen, unpraktischen uud unzureichenden Verhältnisse energisch hineiugeleuchtet 
und bessernd eingegriffen wird. 

Gerade von irrenärztlicher Seite ist wiederholt und öffentlich gefordert 
worden, dass besondere staatliche Aufsichtskommissionen für die Irrenanstalten 
eines Bezirks eingesetzt würden, welche öftere und eingehende Revisionen vor¬ 
zunehmen hätten. Sie werden am besten aus einem erfahrenen und psychiatri¬ 
schen Fachmann, einem Verwaltungsbeamten bezw. Juristen und — für die 
baulichen Angelegenheiten — aus einem Techniker zu bestehen haben. Auch 
an der Centralstelle, im Ministerium, sollte ein psychiatrischer Fachmann 
als Berather des Ministers und Dezernent für diese Angelegenheiten vor¬ 
handen sein. 

Aber durch alle diese Reformen werden die Unterzeichner des Aufrufs 
schwerlich befriedigt werden. Insbesondere ist es nicht wahrscheinlich, dass die 
bewährten und völlig ausreichenden gesetzlichen Bestimmungen über die Ent¬ 
mündigung Geisteskranker, welche ich hier als bekannt voraussetze, dahin un- 
geändert werden, dass eine Laienkommission über die Irrsinnserklärung befindet. 



Zur Frage der Entmündigung der Geisteskranken etc. 


171 


Die Herren unterschätzen die technischen Schwierigkeiten einer solchen gericht¬ 
lich-psychologischen Expertise — von den unzweifelhaften Fällen abgesehen, 
bei denen jeder verständige Mensch den Irrsinn sogleich erkennt. Und oft, sehr 
oft ist Gefahr im Verzugo! Wie viel Vermögen ist schon verloren gegangen 
oder vergeudet worden, weil die Geistesstörung des Besitzers nicht rechtzeitig 
erkannt und weil nicht rechtzeitig dem Kranken die Verfügung über sein und 
der Seinigen Besitz entzogen wurde! Und nun soll dies Verfahren noch so un¬ 
endlich erschwert werden!? 

Auch in Bezug aut die zweite Forderung des Aufrufs, dass die Ent¬ 
scheidung üher jede Unterbringung in Irrenanstalten von der Laienkommission 
gegeben werden soll, dürfte eine Reform des Irrenwesens den Unterzeichnern 
nicht entgegenkommen. Im Gegentheil! Die Tendenz einer verständigen Ver- 
waltungsgesetzgebung muss dahin zielen, die Aufnahmebedingungen der Irren¬ 
anstalten zu erleichtern, die Anstalten immer mehr zu dem zu machen, was sie 
eigentlich sind, zu Krankenhäusern! Ich brauche hier vor Aerzten nicht daran 
zu erinnern, dass die Aussichten auf Heilung bei den Geisteskranken um so 
günstiger sind, je eher die Kranken aus den Verhältnissen, in denen sie erkrankt 
sind, unter sachverständige Behandlung und in eine Anstalt gebracht werden. 
Bei manchen Universität« - Irrenkliniken ist man schon soweit gegangen, dass zur 
Aufnahme ein einfaches ärztliches Attest genügt, wie es in jedem Krankenhause 
verlangt wird. Wieviel Unglücksfälle, wieviel Selbstmorde, wieviel Fälle von 
Unheilbarkeit sind nicht dem erschwerten, verschleppenden Aufnahmeverfahren 
zur Last zu legen! 

Man erleichtere also die Aufnahmebedingungen noch mehr und ersetze das 
Freigegebene durch eine intensivere Kontrole der Anstalten in der oben ange¬ 
deuteten Weise! Das wird den Anstalten wie den Kranken nützen. — 

Gestatten Sie mir nun noch, m. H., einige kurze Bemerkungen. Wenn 
man die Namen der meisten Unterzeichner des Aufrufs betrachtet und die 
Zeitungen, in welchen der Aufruf zuerst erschien, und dann weiter diejenigen 
Zeitungen, welche im Verlauf der Diskussion die schärfsten Angriffe gegen die 
Anstalten, und die Richter und Sachverständigen richteten, so verkennt man 
nicht, dass die ganze Bewegung nicht ganz frei von Parteipolitik ist. Hoch- 
konservative, orthodox-kirchliche, antisemitische und sozialdemokratische Organe 
sind es vorzugsweise, welche die Angriffe enthalten. Wir denken nicht daran, 
den Angreifern auf das politische Gebiet zu folgen; zu bedauern bleibt es, dass 
solche Dinge, welche doch eigentlich an sich mit Politik nichts zu thun haben, 
je nach der Parteirichtung so oder so behandelt werden. 

Nur eine Gruppe unserer Gegner möchte ich ein wenig beleuchten, das 
ist die orthodox-kirchliche. Sie wissen, dass die Erörterungen über Irrsinns¬ 
erklärung und Irrenanstalten eingeleitet wurden durch einen heftigen Angriff 
des Herrn Stöcker im Landtage, und dass Herr Stöcker auch unter dem 
Aufruf steht als Hauptagitator. 

Herr Stöcker und die Herren von der evangelisch-orthodoxen innem 
Mission sind ja überhaupt auf die Aerzte und die ärztliche Leitung der Irren¬ 
anstalten nicht gut zu sprechen. Die innere Mission hält dafür, und Herr Pastor 
von Bodelschwingh spricht es klar und offen aus, dass die Pflege und Be¬ 
handlung der Geisteskranken nicht Sache der Aerzte, sondern Aufgabe der 
Kirche, der Geistlichkeit sei. Die innere Mission hat daher beschlossen und den 
Beschluss bereits thatsächlich hier und da ausgeführt, selbst Heil- und Pflege¬ 
anstalten zu errichten, welche unter geistiger Leitung stehen. Dass schon viele 
Anstalten unter geistlicher Leitung bestehen für Idioten, Epileptische u. s. w., 
wissen Sie; in ihnen wird überall jetzt tapfer gebaut, auch für Geisteskranke, 
und manche Provinzial-Verwaltungen (auch unsere) haben nach dem Erlass des 
Gesetzes vom 11. Juni 1891 über die erweiterte Armenpflege ihnen reiche 
Mittel gegeben zu Neu- und Erweiterungsbauten. Dass in diesen Anstalten der 
Arzt gar keine oder doch nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt, ist selbst¬ 
verständlich. Herr von Bodelschwingh will seinem eigenen Ausspruch nach 
(vergl. Verh. d. I. Konferenz deutscher evang. Irrenseelsorgcr) „die ärztliche 
Hülfe nur insoweit in Anspruch nehmen, als dieselbe für die mit den Seelen¬ 
krankheiten verbundenen leiblichen Krankheiten nöthig ist“, — denn „der nackten 
(so sagt v. B.) medizinischen Wissenschaft fehlen gewaltige Faktoren sowohl 
zur Beurtheilung der Geisteskrankheiten, als zu deren vollständigen Heilung; 
sie rechnet nicht mit Sünde und Gnade, Gebet und Glauben, Heiligung und Er- 



172 


Zur Frage der Entmündigung der Geisteskranken etc. 


lösung.“ (Verh. d. IL Conf.) — Herr von Bodelschwingh hat den Grund¬ 
satz: „Im Allgemeinen kann gesagt werden, dass je weniger der leibliche Arzt 
seine medizinischen Mittel bei den Geisteskranken anwendet, desto besser ist es. 
Dieselben wirken in den meisten Fällen nur schädigend auf Leib und Seele. 
Der leibliche Arzt kann aber immerhin manche gute Hülfe auch in der Seelen¬ 
pflege bieten. Demnach ist die Behandlung der kranken Seele die Hauptsache, 
und diese sollte nicht in erster Linie oder gar allein dem Arzte zustehen.“ 
(Verh. d. I. Conf.) — 

Sie sehen, m. H., die klare Tendenz der Herren geht dahin, den Aerzten 
die Leitung und wesentliche Mitwirkung bei der Heilung und Pflege der Geistes¬ 
kranken aus der Hand zu nehmen und den geistlichen Organen zu überantworten. 
Ob dadurch das wahre Wohl der Kranken gefördert wird, müssen wir bezweifeln; 
man denke nur an die bekannt gegebene Auffassung der Geisteskrankheiten als 
Ausfluss der Sünde und als Besessenheit, an den bei den orthodoxen Herren 
noch vorherrschenden Dämonen- und Teufelsglauben, — aber das will ich hier 
nicht weiter untersuchen; ich hoffe an anderer Stelle bald die Gelegenheit dazu 
zu finden. 

Aber eine Frage müssen wir doch thun, mit Rücksicht auf den Aufruf, 
mit dem wir uns hier beschäftigen. Wie steht es in den pastoralen Anstalten 
mit der staatlichen Kontrole und mit dem Schutz der persönlichen Freiheit der 
Internirten? Denn interniren wollen und müssen doch die Herren Pastoren die 
unruhigen und gefährlichen Kranken auch, ganz ebenso wie alle anderen Irren¬ 
anstalten!? Sie sehen hier, m. H., ein Flugblatt des Herrn von Bodel¬ 
schwingh, Mittheilung Nr. 89, Magdala. Er spricht seine Freude aus und 
dankt Gott, jetzt ein festes Haus zu haben mit versicherten Thüren und Fenstern 
und mit einer hohen Mauer umgeben, in welchem weibliche Gemüthskranke 
untergebracht werden können, ohne die Gefahr, dass sie sich entfernen können, 
und er bittet Gott, dass Er ihm sobald wie möglich auch für männliche Kranke 
eine solche Zufluchtstätte schenken möge. Er sei im Laufe der Jahre zu seinem 
Kummer öfter genöthigt gewesen, solche Kranke seiner Anstalt, bei denen ein 
schweres Gemüthsleiden sich zeigte, und die auch wohl für längere Zeit in Tob¬ 
sucht verfielen, in eigentlichen Irrenanstalten unterzubringen, weil es an einem 
Hause mit festen Mauern und versicherten Fenstern und Thüren gebrach. Das 
sei jetzt nicht mehr nöthig, er könne sie jetzt selbst unterbringen. 

Soll nun über die Einsperrung von Kranken in diesen Häusern auch erst 
eine Laienkommission urtheilen ? 0 nein, daran denkt Niemand. Diese, wie alle 
pastoralen Anstalten bis jetzt, beaufsichtigt und kontrolirt man nicht. Den 
Regierungen ist es in das diskretionäre Ermessen gestellt (vergl. Minist.-Erlass 
vom 4. Juni 1873), sie machen aber für gewöhnlich keinen Gebrauch davon. 
Wollte der Kreisphysikus da einmal revidiren, käme er schön an. 1 ) 

Wo bleibt hier nun die Gleichheit vor dem Gesetz? Diese eingesperrten 
Kranken haben doch auch ihre Rechte; wer wacht denn nun über diese? Hier 
bleibt noch viel nachzuholen, und hoffentlich dringen die Unterzeichner des Auf¬ 
rufs mit uns darauf, dass es geschieht. 

Wir aber, m. H., erkennen die Vorwürfe, welche der Aufruf gegen Aerzte 
und Richter schleudert, nict als gerechtfertigte an, wir verwahren uns dagegen. 
Ich bitte Sie daher nachfolgenden Antrag anzunehmen: 

„Die Pommersche Aerztekammer legt Verwahrung ein gegen den in einer 
Anzahl von Zeitungen verbreiteten Aufruf betreffend die Aufnahme von Geistes¬ 
krankheiten in Irrenanstalten und die Entmündigung derselben, und ersucht 
ihren Vorstand, ein gemeinsames Vorgehen aller Aerztekammer gegen diese Be- 


*) Der Referent befindet sich hier in einem grossen Irrthum: Die von 
Bodelschwing’sehen Anstalten bei Bielefeld werden genau so revidirt, wie 
alle anderen Kranken- und Irrenanstalten im hiesigen Regierungsbezirke. Der 
Leiter jener Anstalten hat auch bisher noch niemals irgend welche Schwierigkeiten 
bei diesen Revisionen bereitet, sondern im Gegentheil den Medizinalbeamten 
wie der Aufsichtsbehörde gegenüber stets das grösste Entgegenkommen gezeigt. 
Ebenso unterliegt das Aufnahmeverfahren in der obengenannten Anstalt Magdala 
für weibliche Geisteskranke den in dem Ministerialerlass vom 19. Januar 1888 
gegebenen Vorschriften. Desgleichen ist <lie ärztliche Behandlung dieser Kranken 
einem erfahrenen Irrenarzte übertragen, der lange Zeit hindurch als Assi¬ 
stenzarzt der La ehr’schen Irrenanstalt Schweizerhof bei Zehlendorf fungirt hat. 

Bpd. 



Die diesjährigen Verhandlungen des preusg. Abgeordnetenhauses etc. 173 


strebongen herbeizuführen. Insbesondere ist die Zuziehung von Laienkommissio¬ 
nen zur Beurtheilung der Nothwendigkeit auf Unterbringung in Irrenanstalten 
oder der Entmündigung entschieden abzulehnen.“ 

Die vorstehenden Ausführungen werden voraussichtlich bei 
allen Aerzten und Medizinalbeamten die gleiche Zustimmung finden 
wie in der Pommerschen Aerztekammer, die den vom Referenten 
gestellten Antrag einstimmig angenommen hat. Unseres Erachtens 
würde es ein schwerer Fehler sein, die Aufnahmebedingungen in 
eine Irrenanstalt noch zu verschärfen, hier ist eher eine Erleich¬ 
terung angezeigt; dagegen müsste die staatliche Kontrole der Privat¬ 
anstalten eine viel schärfere sein, üb das Letztere aber durch die 
von dem Referenten wie von der Wissenschaftlichen Deputation in 
Vorschlag gebrachte Einrichtung von besonderen „Revisionskommis¬ 
sionen“ (8. den nachstehenden stenographischen Bericht über die am 
5. März d. J. stattgehabte Sitzung des Abgeordnetenhauses) erreicht 
werden wird, dürfte sehr zweifelhaft sein. Derartige Kommissionen 
arbeiten viel zu schwerfällig und können eigentlich nur für Super¬ 
revisionen, aber nicht für die erforderliche stete Kontrole in Frage 
kommen; diese wird nach wie vor in erster Linie den zuständigen 
Medizinalbeamten verbleiben müssen. 


Die diesjährigen Verhandlungen des preussischen Abgeord¬ 
netenhauses Uber den Medizinaletat. 

2. Die Unterbringung von Geisteskranken in Privat - Irrenanstalten 
und Beaufsichtigung dieser Anstalten. 

(Sitzung vom ö. März.) 

Abg. Stoecker: -Indess das ist es nicht, wozu ich mir das 

Wort erbeten habe; ich wollte vielmehr auf eine Angelegenheit zurückkommen, 
die ich schon in der vorigen Session berührt habe. Das ist die Irrensache, die 
während des letzten Jahres in der Presse, im öffentlichen Leben so vielfach 
erörtert worden ist. Eine ganze Anzahl von Prozessen, auf die ich nicht im 
einzelnen eingehen mag, haben herausgestellt, dass hier Punkte sind, welche 
mit den Anforderungen, die man an einen Rechtsstaat zu stellen hat, nicht im 
Einklang stehen, Punkte, die auch mit den Pflichten einer christlichen Gesell¬ 
schaft im Widerstreit sind. Wir haben aus gerichtlichen Verhandlungen gesehen, 
dass Leute, die keineswegs den Eindruck von Irren machten, in Irrenhäuser ein¬ 
gesperrt worden sind auf den leichtesten Verdacht hin. Es hat sich klar her- 
ausgestellt, dass es unrecht war, sie einzusperren. Ein Gutachten des Arztes, 
auf Grund dessen die Einsperrung geschah, ist von den Richtern selbst für ein 
leichtfertiges erklärt. Landgerichte haben die Erkenntnisse von Amtsgerichten 
kassirt, unter den schwersten Beschuldigungen gegen die Rechtsprechung und 
gegen das medizinische Gutachten. Ich brauche das nur zu erwähnen, um all¬ 
gemein das Gefühl zu erwecken, dass es angezeigt ist, die Königliche Staats¬ 
regierung zu fragen, wie sie diese Sache auffasst. 

Ich möchte besonders drei Punkte betonen; erstens: lässt sich keine 
Aenderung schaffen, dass bei der grossen Unsicherheit der Irrenheilkunde, bei 
der grossen Unwissenheit mancher Aerzte, bei dem Widerstreit der Meinungen, 
wo oft ein Sachverständiger gegen den andern steht, mit grösserer Sorgfalt 
schon bei dieser medizinischen Begutachtung verfahren wird? Das zweite: 
sollte es nicht möglich sein, die Irrenhäuser einer besseren Aufsicht zu unter¬ 
werfen? Wir haben Verhältnisse vor Augen gehabt, dass Leute, die sich für 
unschuldig und grundlos eingesperrt hielten, Monate lang im Iirenhause ver¬ 
weilen mussten, ohne dass sie Gelegenheit hatten, ihre Beschwerden zur Sprache 
zu bringen. 

Ich meine, das darf nicht sein in einer Gesellschaft, der die persönliche 
Freiheit das höchste politische Gut ist. Ist das so, so muss die persönliche 



174 Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 


Freiheitsberaubung so schwer gemacht sein, dass nur in äussersten Ausnahme¬ 
fällen ein Missbrauch damit getrieben werden kann. Und doch haben wir jetzt 
vielfach das Gegentheil davon vor Angen. 

Man hat in anderen Staaten die Gegenmittel dagegen gesucht und ge¬ 
funden. In unserem Nachbarlande Sachsen ist die Anordnung getroffen, dass in 
Privatirrenhäuser überhaupt Niemand aufgenommen wird, der nicht zuvor in 
einem öffentlichen Irrenhanse in Bezug auf seinen Zustand geprüft ist. Dadurch 
sind namentlich die Fälle, wo der Eigennutz von Anverwandten in Kombination 
mit unredlichen Aerzten die Einsperrung betreibt, nahezu unmöglich gemacht. 
Dass solche Fälle Vorkommen, haben allbekannte Thatsachen gezeigt. 

Meine Meinung ist, dass die Irrenhäuser, welche in Privathänden sind, 
mindestens alle Monate einmal zu revidiren seien, und zwar nicht blos durch 
einen Arzt, am wenigsten durch einen solchen, der in geschäftlichen Beziehungen 
zum Irrenhause steht, sondern durch eine Kommission, bei der nicht blos Aerzte, 
auch nicht blos Juristen sein sollen, sondern auch Männer aus anderen Ständen, 
die nicht nach Fachkenntnissen urtheilen, auch nicht durch medizinische Gut¬ 
achten beeinflusst sind, sondern auf den Augenschein sehen. 

Seitdem ich im vorigen Jahre mich hier über die Irrensache äusserte, 
habe ich eine Menge Menschen kennen gelernt, die zu mir kamen mit der Klage: 
wir haben so und so lange im Irrenhause gesessen, wir sind für unmündig, für 
blödsinnig, für geistig todt erklärt. Die Leute hatten vielleicht hie und da einen 
wirren Gedanken, sie hatten vielleicht, wie man sagt, einen Sparren zu viel; 
aber sie waren im ganzen völlig gesund, sprachen Uber alles vollkommen richtig 
und unterhielten sich mit vollem Verständniss der Dinge. Ich kenne einen 
Fall, wo ein Mädchen, welches für unzurechnungsfähig erklärt ist, ihren Vater 
mit redlicher Arbeit aufs beste ernährt und von ihm für ein ausgezeichnetes 
Kind gehalten wird; aber sie ist vor Gericht blödsinnig und bürgerlich todt. 

Damit komme .ich zum dritten Punkt: das ist die gerichtliche Praxis. 
Ich höre zu meiner Freude, dass seit den Anregungen, die hier gegeben sind, 
zwischen der Einsperrung und der gerichtlichen Feststellung nicht mehr so viel 
Zeit verfliegst, wie früher. Sonst sind oft Monate darüber hingegangen, ehe die 
Sache zum gerichtlichen Urtheil kam. Das gehört ja nicht in das Ressort des 
Kultusministers, sondern greift in andere Gebiete Uber — aber ich meine, wenn 
man einem Menschen, bei dem vielleicht der Irrsinn ausgebrochen ist, seine Frei¬ 
heit nimmt und ihn in ein Irrenhaus einsperrt, so müsste in der kürzesten 
Zeit, spätestens binnen 8 Tagen, darüber befunden und ein Zeugenverhör ange¬ 
stellt werden — kurz, es müsste ein ordentliches, öffentliches Rechtsverfahren 
stattfinden, um die Sache zur völligen Klarheit zu bringen. Nur das entspricht 
den Anforderungen eines Rechtsstaates, wie der christlichen Sympathie, die 
solche Unglückliche von uns in Anspruch nehmen können. Ich höre, dass auch 
in den Kreisen des Kultusministeriums Uber diese Sache Rath gepflogen ist. 
Und meine Anregungen sollten nichts anderes bezwecken, als die Staatsregie¬ 
rung zu bitten, uns mitzutheilen, was in dieser Sache bisher gethan ist. (Leb¬ 
haftes Bravo.) 

Ministerialdirektor Dr. Bartsch: M. fl.l Der Herr Vorredner hat am 
Schlüsse seiner Rede eine Angelegenheit zur Sprache gebracht, welche dem 
Herrn Medizinalminister sehr am Herzen liegt, und ich hoffe, dass die von mir 
in seinem Namen abgegebene, wenngleich nur kurze Erklärung dazu beitragen 
wird, eine gewisse Beunruhigung, welche sich auf diesem Gebiete in weiten 
Kreisen gezeigt hat, thunlichst zu beschwichtigen. Die Frage ist ja von der 
allergrössten Tragweite; denn es handelt sich in jedem einzelnen Fall der Auf¬ 
nahme in eine Irrenanstalt um das bürgerliche Sein oder Nichtsein. Man kann 
deshalb von vorneherein überzeugt sein, dass die Königliche Staatsregierung 
dieser Frage ihre vollste Aufmerksamkeit zuwendet. 

Zunächst möchte ich der Auffassung entgegentreten, der man nicht etwa 
in diesem Hause begegnet, aber doch ausserhalb desselben und namentlich in 
der Presse, der Auffassung, als ob die Staatsregierung diesem Zweige der Ver¬ 
waltung nicht die gehörige Aufmerksamkeit zugewendet oder ihn wohl gar 
vernachlässigt habe. Nichts wäre unrichtiger, m. H., als diese Auffassung. Ich 
könnte Ihnen, wenn ich nicht auf die Geschäftslage dieses Hohen Hauses Rück¬ 
sicht zu nehmen hätte, in einem längeren Vortrage darlegen, wie die Staats¬ 
verwaltung, um nur von diesem Jahrhundert zu reden, von Anfang desselben 
an, in gewissen Zwischonräumen sich immer von Neuem mit der Regelung dieser 



Die diesjährigen Verhandlungen des preuss. Abgeordnetenhauses etc. 175 

ernsten nnd schwierigen Frage beschäftigt hat. Die neuesten Vorschriften auf 
dem hier in Rede stehenden Gebiete datiren aus den Jahren 1888 und 1889. 
Es ist damals, was insbesondere die Frage der Aufnahme in eine Irrenanstalt 
betrifft, durch die betheiligten Herren Ressortchefs angeordnet worden, dass 
Niemand in eine Irrenanstalt aufgenommen werden solle, es sei denn auf Grund 
eines eingehend motivirten Attesten eines beamteten Arztes. Nur nach einer 
Richtung hin ist auf Anregung einer Aerztekammer eine Ausnahme von dieser 
Regel gestattet worden, nämlich die, dass die Aufnahme auch auf Grund des 
Attestes eines Privatarztes soll erfolgen dürfen, wenn die Aufnahme erfolgt 
auf Requisition einer Gerichts- oder Polizeibehörde, indem man von der Auf¬ 
fassung ausging, dass in diesem Falle die requirireude Behörde selbst die Ver¬ 
pflichtung habe, sich die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit der Aufnahme 
eines angeblich Geisteskranken in eine Irrenanstalt zu verschaffen. Andere Vor¬ 
schriften in Bezug auf die Aufnahme bestehen nicht, und ich muss sagen, dass, 
abgesehen von einzelnen Irregularitäten, die ja vorgekommen sein mögen auf 
diesem schwierigen und delikaten Gebiete, doch im Wesentlichen sich die Vor¬ 
schriften als ausreichend erwiesen haben; die Staatsverwaltung ist auch in dor 
That nicht in der Lage, eine andere Garantie zu bieten, als das Gutachten 
eines beamteten Arztes gewährt. 

Als nun aber, m. H., im vorigen Jahre ein bekannter Fall das öffentliche 
Interesse weiter Kreise in Anspruch nahm, da hat der damalige Herr Medizinal¬ 
minister, ich darf es sagen: auf meinen Rath — diese Frage der Wissenschaft¬ 
lichen Deputation für das Medizinal wesen, deren Geschäfte zu leiten ich die 
Ehre habe, zur Begutachtung überwiesen, die Frage nämlich, ob die gegenwärtig 
bestehenden Vorschriften für ausreichend zu erachten seien, um eine Sicherheit 
dafür zu geben, dass Jemand nicht wider seinen Willen in eine Irrenanstalt 
aufgenommen oder in derselben detinirt werden könne. Die Wissenschaftliche 
Deputation, m. H., die ich heute schon einmal von dieser Stelle aus erwähnen 
durfte, besteht aus Mitgliedern, die unbedingt als medizinische Autoritäten 
ersten Ranges bezeichnet werden dürfen; sie hat auch hervorragende Psychiater 
in ihrer Mitte, und war daher recht eigentlich berufen, diese Frage zu begut¬ 
achten. Die Wissenschaftliche Deputation bat aber aus eigenem Antriebe die 
Frage erweitert, nicht blos die Frage der Aufnahme eines Kranken in eine 
Irrenanstalt in den Kreis ihrer Begutachtung gezogen; sie hat vielmehr das 
ganze Material gutachtlich erörtert. Wir haben uns in den Gesetzgebungen 
anderer Staaten nmgesehen, in den Gesetzgebungen Frankreichs, Belgiens, der 
Schweiz, Norwegens und anderer Kulturstaateu, um zu prüfen, ob die dort be¬ 
stehenden gesetzlichen und administrativen Vorschriften etwa Material enthalten, 
welches auch für uns verwerthbar wäre. So haben wir im vorigen Jahre in 
monatelanger, ernster Arbeit und in wiederholten Lesungen ein umfangreiches 
Gutachten über die gesummte Frage des Irrenwesens fertig gestellt, welches 
demnächst auch weiteren Kreisen durch den Druck zugänglich gemacht werden 
wird. Es ist ja bei der kurzen Zeit ausgeschlossen, auch nur anuähernd den 
Inhalt dieses umfangreichen Gutachtens wiedergeben zu können; nur auf zwei 
Punkte und namentlich auf denjenigen, dessen auch der Herr Vorredner erwähnt 
hat, möchte ich kurz eingehen. 

Zunächst die Aufnahmefrage. Die Wissenschaftliche Deputation 
steht im Allgemeinen auf dem Standpunkt, dass in diesem Punkte die bestehen¬ 
den Vorschriften vielleicht zu verschärfen wären. Aber, m. H., es ist doch dabei 
auch nicht zu vergessen, dass eine solche Verschärfung mit grosser Vorsicht 
gehandhabt werden müsste; denn es kommen doch auch nicht selten Fälle vor, 
in denen die Erschwerung der Aufnahme eines so unglücklichen Kranken in eine 
Irrenanstalt unter Umstäuden eine grosse Härte ist, — für ihn und seine Ange¬ 
hörigen. Man wird also suchen müssen, die richtige Mitte zu finden; and wie 
das zu geschehen hat, m. H., das unterliegt noch weiterer Erwägung. 

Eine nicht minder wuchtige Frage, die auch von dem Herrn Vorredner 
in dankenswerther Weise erwähnt worden ist, ist die Frage der Aufsicht. 
Es werden die Irrenanstalten ja schon jetzt von Zeit zu Zeit amtlich revidirt, 
und zwar durch den Kreisphysikus und den Regierungsmedizinalrath. Die 
Wissenschaftliche Deputation ist nun aber auf Grund der Erfahrungen, die in 
anderen Länderen gemacht worden sind, zu der Ueberzeugung gekommen, dass 
die in dieser Beziehung bestehenden Vorschriften einer Erweiterung bedürftig 
seien. Wir sind mit dem Herrn Vorredner der Auffassung, dass die Kraft eines 



176 


Ein Vorschlag zur Medizinalreforiü; 


einzelnen Beamten nicht genügt, um eine hinreichende Aufsicht zu üben; wir 
sind der Meinung, dass eine Kommission, die wir salva redactione „Besuchs¬ 
kommission“ genannt haben, einzusetzen sein wird für bestimmte Bezirke, be¬ 
stehend aus einem hervorragenden Kenner der Psychiatrie, etwa dem Direktor 
einer Irrenanstalt, aus einem höheren Verwaltungsbeamten und aus sonst geeig¬ 
neten, auch von dem Herrn Vorredner gekennzeichneten Elementen. Diese Be¬ 
suchskommission würde die Irrenanstalten, die ihr bezirksweise unterstellt sind, 
nicht blos nach der Seite der sanitären Einrichtungen zu untersuchen haben, 
sondern namentlich auch nach der Seite der Krankengeschichte jedes einzelnen 
Patienten; sie würde berufen sein, deren Beschwerden und diejenigen ihrer An¬ 
gehörigen entgegenzunehmen, und so würde die Kommission ein reiches und 
ergiebiges Feld der Thätigkeit haben. Dieses Gutachten der Wissenschaftlichen 
Deputation, auf dessen Einzelheiten ich ja, so interessant sie auch sind, nicht 
näher eingehen kann, ist dem Herrn Medizinalminister unterbreitet worden, und 
derselbe hat sich im Wesentlichen mit dem Gutachten und den darin entwickel¬ 
ten Grundsätzen einverstanden erklärt; er ist sodann mit denjenigen Herren 
Ressortchefs, die bei dieser Angelegenheit in gleicher Weise betheiligt sind, 
nämlich mit den Herren Ministern des Innern und der Justiz in Verhandlung 
getreten, und auch diese haben im Grossen und Ganzen das, was die Wissen¬ 
schaftliche Deputation ihnen unterbreitet hat, als zutreffend anerkannt. Da nun 
aber, m. H., die Angelegenheit bei ihrer grossen Schwierigkeit noch einer ein¬ 
gehenden Durcharbeitung bedarf, so haben die Herren Ressortminister kommissa¬ 
rische Berathungen in Aussicht genommen, und diese finden gegenwärtig statt. 
Wir sind also mitten in der Arbeit, und ich glaube, ich darf mich auf diese 
Bemerkungen beschränken, um bei Ihnen die Ueberzeugung zu begründen, dass 
die Herren Ressortministers Alles daran setzen werden, um diese schwierige und 
ernste Frage zu einem gedeihlichen Abschluss zu bringen. (Bravo!) 


Ein Vorschlag zur Medizinalreform. 

Die „Berliner neuesten Nachrichten“ bringen in Nr. 134 nach¬ 
folgenden, jedenfalls von sachkundiger Hand verfassten Artikel zur 
Medizinalreform: 

Mehrfach gingen in den letzten Monaten des vergangenen Jahres Nach¬ 
richten durch die Presse, dass eine Reform des Medizinalwesens in Angriff ge¬ 
nommen und vom Finanzminister eine entsprechende Summe in den Etat einge¬ 
stellt sei. Zur grossen Enttäuschung der Medizinalbeamten und zum Erstaunen 
eines grossen Theiles der Bevölkerung brachte der Etat nichts derartiges. 

Auf Anregung eines Abgeordneten konstatirte der Minister bei Lesung 
des Etats, dass ein Bedürfnis einer Reorganisation unzweifelhaft vorhanden 
sei, es habe sich bei der jüngsten Choleraepidemie die vollständige Unzuläng¬ 
lichkeit in beschämender Weise herausgestellt, aber am Gelde hänge doch alles, 
der Geldpunkt sei der Stein des Anstosses; und dieser Standpunkt wurde auch 
bei der dritten Lesung von dem Ministerial - Direktor vertreten. Ausserdem sei 
die Frage desshalb schwierig, weil es sich darum handele, ob man die Physiker 
zum Theil auf Privatpraxis anweisen oder sie von derselben unabhängig 
stellen solle. 

Die absolute Nothwendigkeit der Aenderung einer Organisation, die in 
beschämender Weise ihre Unzulänglichkeit bewiesen hat, einer Seuche entgegen¬ 
zutreten, so dass nur durch Unterstützung der Militärbehörde ein erfolgreiches 
Einschreiten möglich war, bedarf keines Wortes und ist allgemein anerkannt. 
Man denke nur an die Zustände, die entstehen, wenn in einem Kriege gleich¬ 
zeitig im Lande eine Seuche ausbricht, man denke nur an die Tausende von 
blühenden Kindern, die alljährlich der Diphtheritis zum Opfer fallen, ohne dass 
die jetzige Einrichtung genügt, der Krankheit energisch entgegenzutreten. Es 
bedeutet dies, ganz abgesehen von dem Jammer zahlreicher Familien eine erheb¬ 
liche Schwächung unserer Wehrkraft. 

Es müsste daher logischer Weise die Organisation geändert werden, 
und wenn auch bedeutende Mittel dazu gehörten. Dies ist aber gar nicht der 
Fall. Bei geeigneter Organisation kommen die Mittel gegenüber anderen Auf- 



Ein Vorschlag zur Modizinalreform. 


177 


Wendungen, die nicht nothwendiger sind als die Medizinalreorganisation, gar 
nicht in Betracht, wie gleich bewiesen werden soll. 

Zunächst ist za erwähnen, dass ohne Loslösung des Physikus von der 
Nothwendigkcit der Privatpraxis eine für die Gesammtheit wirklich erspriessliche 
Thätigkeit desselben nicht möglich ist. Kollisionen kommen immer vor; ich 
erwähne nur die unangenehme Lage, in die der Physikus kommt, wenn er 
gleichzeitig zu einem eiligen Falle in seiner besten Privatpraxis gerufen wird 
und eine amtliche Verrichtung vornehmen soll; er riskirt dabei immer, seine 
Privatpraxis an einen andern Arzt zu verlieren. Oder der Physikus ist zur Be¬ 
gutachtung einer Fabrik aufgefordert, die in irgend einer Weise gemeinschädlich 
wirkt und bei deren Besitzer er Hausarzt ist oder für deren Arbeiter er Kassen¬ 
arzt ist. Ein Gutachten, welches dem Besitzer erhebliche Schwierigkeiten oder 
Schaden bereitet, kann dem Physikus seine Hausarztstelle und seine Kassenpraxis 
kosten, auf die er doch, um für sich und seine Familie den Unterhalt zu erwer¬ 
ben, angewiesen ist. Derartige Kollisionen kommen in der That vor und sie 
werden später, wenn die Thätigkeit des Physikus erweitert werden sollte, noch 
öfter Vorkommen. 

Durch seine Privatpraxis wird ausserdem der Physikus nur mit den Ver¬ 
hältnissen der Stadt, in der er wohnt, und höchstens mit der nächsten Umgebung 
vertraut, nicht aber mit dem bei weitem grössten Theile seines Bezirkes, und 
gerade die Kcnntniss der Verhältnisse der Stadt u. s. w. kann er sich besonders 
leicht auf andere Weise verschaffen, durch die Besuche bei Epidemien und be¬ 
sonders durch den persönlichen Verkehr mit den im Orte wohnenden Aerzten, 
die dem selbst nicht praktizirenden Physikus gerne Auskunft ertheilen werden, 
da er ja nicht mehr Konkurrent ist. Es ist auch nicht mehr zu befürchten, 
dass etwa der nicht praktizirende Physikus nur Theoretiker werde; denn schon 
jetzt wird vor lOjähriger Praxis nur ausnahmsweise eine Physikus angestellt, 
wie sich leicht aus dem Medizinkalender ersehen lässt, und später würde es 
voraussichtlich noch länger dauern, er ist also auf alle Fälle lange Zeit hindurch 
praktisch geschult. Ausserdem kann man ihm ja auch, wie jetzt den Medizinal- 
räthen, das Recht lassen, sich mit Privatpraxis, wenn auch nur konsultativ, zu 
befassen, soweit es ohne Schädigung seines Amtes möglich ist. 

Jetzt zum Kostenpunkte. 

Es giebt in Preussen ca. 570 Bezirks-, Polizei-, Stadt-, Kreis-, Oberamts- 
physikatssellen, die aber nicht alle von einem Physikus versehen werden, mehr¬ 
fach sind zwei und selbst drei Stellen in einer Hand vereinigt. Ebensoviel 
Kreiswundarztstellen sind vorhanden, wenn anch nicht alle besetzt. Erstere 
bringen 900, letztere 600 Mark. Es kostet also zusammen 855 000 M. pro Jahr. 
Wenn man nun die Grösse und Einwohnerzahl der einzelnen Bezirke vergleicht, 
so zeigt sich, dass ein ganz ungeheurer Unterschied herrscht. In Berlin mit 
1600 000 Einwohnern giebt es 14 Gerichts-, Polizei- und Bezirksphysiker. Der 
Kreisphysikus des Kreises Teltow, der auch Charlottenburg versieht, hat ca. 
300000 Seelen in seinem ca. 1665 Qu.-Kilometer grossen Bezirke. Essen (Stadt 
und Land) hat ca. 252000 Seelen und ca. 198 Qu.-Kilometer. Eine grosse Zahl 
von Kreisen, besonders in Oberschlesien, Rheinland und Westfalen hat 120—200000 
Einwohner, und nicht blos Stadtbezirke, sondern auch Landbezirke, z. B. Oppeln 
ca. 120000 Einwohner und 1400 Qu. - Kilometer. Dagegen hat Haigerloch in 
Hohenzollern ca. 11700 Einwohner auf 135 Qu. - Kilometer, Haramertingen ca. 
13000 auf 328 Qu. - Kilometer, Dannenberg in Hannover ca. 14000, Montjoie im 
Rheinland ca. 18400 auf 361 Qu. - Kilometer und eine grosse Zahl anderer hat 
unter 20000, eine grosse Zahl 20—30000 Einwohner. 

Dass nun ein Physikns einen grossen Kreis verwalten kann, ist erwiesen; 
denn sonst hätte man nicht, wie in Teltow, Essen, Frankfurt a. 0. sogar zwei 
grosse Kreise in eine Hand gegeben. Ausserdem befinden sich grade die grossen, 
von nur einem Physikus verwalteten Kreise in Industriegegenden, wo an sich 
erheblich mehr gerichtliche Fälle den Physikus in Anspruch nehmen, wie in den 
mehr Ackerbau treibenden Gegenden, besonders Hannovers und Hessens, wo sich 
gerade die kleineren Kreise befinden. 

Wenn nun auch nach der Reorganisation erheblich mehr Ansprüche an 
den Physikus gestellt werden, so tritt dem doch entgegen das Fortfällen der 
Privatpraxis, worauf der Physikus jetzt zum grössten Theile angewiesen ist. 
Es ist also anzunehmen, dass ein nur als Beamter fnngirender Physikus auch 
später recht gut die grösseren Kreise wird versehen können, wenn man auch 



178 


Tagesnachrichteu 


von den ganz exzeptionell grossen Kreisen absieht, besonders in dünn bevölkerten 
Gegenden mit schlechten Verkehrsmitteln. 

Es liesse sich daher durch Zusammenlegen der kleineren Bezirke (in ein¬ 
zelnen Fällen ist dies schon lange durchgeführt) die Zahl der Physikatsstellen i echt 
gut von ca. 750 auf ca. 350 reduziren. Es beruht diese Zahl auf einer Berechnung 
der Grösse, der Einwohnerzahl und der geographischen Lage der einzelnen Kreise. 

In diesen Kreisen müsste dem Physikus ein Kreisassistenzarzt (Kreis¬ 
wundarzt) zur Seite gestellt werden, der 1) die Vertretung des Physikus in 
Erkrankungsfällen, 2) die Mitbesorgung der gerichtlichen Geschäfte und 3) im 
Nothfalle zur Aushülfe sanitätspolizeiliche Geschäfte (bei grossen Epidemien) 
übernehmen müsste. Bleibt man hier bei einem Gehalt von 600 M., wie bisher, 
was auch hoch genug ist, da der Kreiswundarzt nur wenig in Thätigkeit tritt, 
und er seine Thätigkeit fast immer extra bezahlt bekommt, daher hauptsächlich 
Privatpraxis ausüben kann, so macht das pro Jahr 210000 M. Die nöthige Zahl 
dieser Beamten würde leicht dadurch zu erhalten sein, dass man nur solche 
Aerzte zu Kreisphysikern beförderte, die vorher Kreiswundärzte gewesen sind. 
Im Nothfalle könnten auch, wie bisher, die Stellen kommissarisch mit geeigneten 
und bereiten Aerzten besetzt werden. 

Setzt man nun das Gehalt des Physikus auf 3500 M. im Mittel (2000 
bis 5000 M.) fest, so dürfte das unter Hinzurechnen der amtlichen Nebenein¬ 
nahmen, die durch die Vergrösserung der Bezirke theilweise auch steigen würden, 
eine entsprechende Existenz gewähren, wenn man noch einen Wohnungsgeld¬ 
zuschuss (im Mittel ca. 500 M.) hinzurechnet. Die Kosten würden also betragen 
350 X 4000 = 1400000 M., dazu für die Kreiswundärzte 210000 M. = 
1610000 M. Hiervon abgerechnet die jetzt schon entstehenden Kosten von 
855 000 M. würde ein Mehrbetrag von 755 000 M. entstehen. Hierzu kämen noch 
die Kosten der Pension und einige sachliche Kosten, sodass mit weniger als 
einer Million sich die ßeorganisation durchführen liesse. Dies ist aber im Ver- 
hältniss zu dem grossen Vortheile, den die zweckentsprechende Bekämpfung der 
Seuchen bringt, eine verschwindend kleine Summe, und es ist kaum zu verstehen, 
dass an einer solchen gringen Summe die absolut nothwendige Reorganisation 
scheitern müsste. 

Es liesse sich nun zwar nicht die Zahl der Stellen sofort auf 350 herab¬ 
setzen, denn es sind erheblich mehr Physiker angestellt; es würde einige Zeit 
dauern, aber beschlennigt würde es sicher dadurch, dass nach Einführung einer 
Gehaltserhöhung mit Pensionsfähigkeit eine grosse Zahl sehr alter Physiker, die 
jetzt nicht pensionirt werden können, freiwillig sich pensioniren lassen würden, 
da sie vielfach wohl nur, um das Gehalt nicht zu verlieren, noch bleiben. 
Pekuniär würde auch die Anfangs grössere Zahl der Stellen dadurch zum Theil 
aufgewogen, das vorläufig keine Pension zu zahlen wäre und jede Peusionirung 
eine Stelle frei machte und die Zahl um eine verringerte. 


Tagesnachrichten. 

Eben.se> wie der Reichstag (s. Nr. 5 dieser Zeitschrift, S. 125) hat sich 
auch das prcussische Abgeordnetenhaus mit der Frage der Feuerbestattung 
beschäftigt. Eine die fakultative Zulassung derselben beantragende Petition 
gelangte in der Sitzung vom 17. März zur Berathung. Von Seiten der Abge¬ 
ordneten (t o l d sc h in i d t und Dr. Lange rh ans wurde beantragt, die Petition 
der Regierung zur Berücksichtigung zu überweisen und dieser Antrag damit 
begründet, dass alle Bazillen durch Feuer sicher zerstört würden, während dies 
bei der Erdbestattung noch zweifelhaft sei. In den grösseren Städten sei die 
letztere ausserdem schon wegen der entfernten Lage der Kirchhöfe mit Uebel- 
ständen verbunden, ganz abgesehen davon, dass die Beschaffung geeigneter 
Kirchhöfe in Folge von Grundstückspekulationen immer schwieriger werde. Dem¬ 
gegenüber machte der Abg. Mies (Gentrum) ästhetische und religiöse Bedenken 
gegen die Leichenverbrennung geltend. Nach seiner Ansicht arbeiteten die 
Krematorien auch viel zu langsam, um z. B. bei Epidemien schnell genug alle 
Leichen beseitigen zu können, eine Ansicht, die von dem Abg. Dr. Langer- 
hans mit Recht als völlig unzutreffend bezeichnet wurde. Das Abgeordneten¬ 
haus lehnte jedoch den oben genannten Antrag ab und nahm deu von der 
Kommission gestellten Antrag auf Geborgang zur Tagesordnung an. 



Tagesnaehrichten. 


179 


Die Apothekerfrage hat auch in diesem Jahre (in der Sitzung vom 
17. März) das preussische Abgeordnetenhaus in Folge zweier Petitionen beschäf¬ 
tigt. In der einen von dein Verein der Apotheker des Regierungsbezirkes 
Düsseldorf und des westfälischen Industriebezirkes ausgegangenen Petition war 
um baldige gesetzliche Regelung des Apothekerwesens und 
Einschränkung der K onzession i r ung neuer Apotheken gebeten. Die 
Petitionskommission beantragte über diese Petition zur Tagesordnung iiberzu- 
gehen mit Rücksicht auf die von dem Ministerialkommissar in der Kommission 
abgegebene Erklärung. Dieselbe lautete wie folgt: „Die gesetzliche Regelung 
der Materie, welche enorme Schwierigkeiten biete, werde voraussichtlich in der 
nächsten Zeit erfolgen. Was die Vermehrung der Apotheken betreife, so könne 
eine bestimmte Normalzahl nicht gegeben werden; Wohlhabenheit, Lebensge¬ 
wohnheiten der betreffenden Bevölkerung müssten den Ausschlag geben. Durch 
das Krankenkassengesetz sei ja ein erhöhtes Bedürfnis« eingetreten und dadurch 
eine grössere Vermehrung bedingt. Es sollen deshalb die Überpräsidenten auf¬ 
gefordert werden, in geeigneten Fällen Vorschläge zur Vennehrung zu machen. 
In der Rheinprovinz seien die Verhältnisse noch besonders ungünstig; indess 
könne es doch nicht Aufgabe der Staatsregierung sein, möglichst viele Apotheken 
zu schaffen, um nicht die soziale Stellung des einzelnen Apothekers zu sehr 
herabzudrücken. Es sei die Absicht, nach den Ergebnissen der neuen Volks¬ 
zählung der Frage wieder näher zu treten und in allen den Orten neue Kon¬ 
zessionen zu schaffen, wo ein Bedürfnis vorhanden sei.“ 

Das Abgeordnetenhaus beschloss diesem Anträge gemäss, unter Aufrecht¬ 
haltung seiner früheren Beschlüsse (in den Jahren 1886 und 1888), wonach 
künftighin nur unveräusserliche, keine persönliche Konzessionen ertheilt werden 
möchten. 

Auch hinsichtlich der zweiten Petition, betreffend die Bewerbung 
früherer Apothekenbesitzer um eine neue Konzession, schloss sich 
das Abgeordnetenhaus dem Vorschläge der Petitions-Kommission an, indem es den 
einen Theil der Petition, wonach alle geprüften Apotheker, mit alleiniger Aus¬ 
nahme solcher, denen bereits früher eine Konzession vom Staate geschenkt ist, 
sieb um eine solche bewerben dürfen sollen, der Regierung zur Berücksichtigung 
überwies; bezüglich des anderen Verlangens aber, dass in Zukunft der Ver¬ 
mögensnachweis bei den Konzessionsbewerbungen fortfallen solle, zur Tages¬ 
ordnung überging. 

Im preussischen Abgeordnetenhause sind vor Kurzem zwei die Cholera 
betreffende Anträge eiugebracht. Jti dem einen vom Grafen Douglas gestell¬ 
ten wird an die Regierung die Anfrage gerichtet, welche Massregeln dieselbe 
der Choleragefahr gegenüber zu ergreifen gedenkt; in dem andern wird die 
Regierung aufgefordert, Ermittelungen über die durch die Bekämpfung der 
Cholera im Jahre 1892 entstandenen Kosten anzustellen, das Ergebnis« dem 
Hause in einer Nachweisung vorzulegen und dabei mitzutheilen, welche Theile 
dieser Kosten die Regierung auf Landespolizeifonds zu übernehmen gedenkt. 

Die Anträge werden voraussichtlich bald nach den Osterferien zur Be- 
rathnng gelangen. Inzwischen hat bereits am 28. März im Kultusministerium 
unter dem Vorsitz des Ministerialdirektors Dr. Bartsch eine Konferenz von 
Vertretern der botheiligten Ministerien stattgelünden, um die fiir den Fall 
des Wiederausbruchs der Cholera zu ergreifenden Massregeln zu berathen und 
die Grundsätze über die zur Abwehr der Seuche etwa erforderlichen Kosten zu 
vereinbaren. 


Auf dem Cholera - Kongress russischer Aerzte, der in der letzten 
Woche des Dezember vorigen Jahres in Petersburg getagt hat, sind in Bezug 
auf die Vor b e ugu n g sin ass rege 1 n gegen Einschleppung der Krankheit 
folgende Beschlüsse gefasst worden: 

1. See-und Landquarantänen zur Vorbeugung von Choleraverschleppuugen 
haben nur Bedeutung als ärztliche Beobachtnngsstatiouen behufs Absonderung 
der Kranken von den Gesunden und behufs Desinfektion etwa inffzirter Effekten. 

2. Die Aufsicht auf den Verkehrsstrasseu ist nur nützlich und nothwendig 
in Bezug auf Bewegung von Arbeitermassen, Auswanderern u. s. w., namentlich 
wenn sie aus intizirten Gegenden kommen. An allen Orten, wo Arbeiter sich 
ansammeln und ein bedeutender Verkehr stattriudet, ist die Errichtung von 



180 


Tagesnachrichten. 


Verpflegungspuuktcn erforderlich mit billigem Verkaufe oder womöglich unent¬ 
geltlicher Vertheilung von warmen Speisen uml Thee. Desgleichen ist unum¬ 
gänglich die Anlage von Nachtasylen, Badestuben nebst Waschanstalten. 

3. Das Besichtigen und Befragen von Eisenbahnreisenden ist eine nutzlose 
und lästige Massregol, ebenso wie das obligatorische Desinfiziren des Gepäckes 
von gesunden Reisenden aut Eisenbahnen oder Dampfschilfen. 

4. Die Desinfektion infizirter und verdächtiger Sachen muss nach den in 
dieser Beziehung für die verschiedenen Gegenstände bestehenden Anfragen aus¬ 
geführt werden. 

5. Heilanstalten für Cholerakranke sind unter Berücksichtigung der lokalen 
Verhältnisse und der Forderungen des Arztes anzulegen. Auch Räume für 
choleraverdäehtige Personen sind erwünscht. 

6. Messen, Märkte, Wallfahrten u. s. w. zu verbieten, ist nach den bei 
der letzten Cholera - Epidemie gemachten Erfahrungen nicht nothwendig. Die 
Gefahren grosser Volksversammlungen werden auf Null reduzirt durch Ergreifung 
von umfangreichen Vorbeugungsmassregeln und zwar besonders durch Errichtung 
von Nachtasylen, Verabfolgung guter Nahrung, Beschaffung unschädlichen 
Wassers u. s. w. 

Behufs der Feststellung der Cholera heisst es dann: „Ist eine 
bakteriologische Untersuchung auch wünschenswerth, so ist sie doch nicht unbe¬ 
dingt erforderlich für die Diagnose der Cholera, zu der auch eine Summe 
klinischer und pathologisch-anatomischer Daten vollkommen genügt.“ 

Als Desinfektionsmittel wird mit Recht die ungereinigte Karbol¬ 
säure (Acidum carbolicum crudum) als unzuverlässig bezeichnet und die Ver¬ 
wendung von reiner krystallisirter Karbolsäure verlangt. 


Die internationale Sanität» - Konferenz in Dresden hat sich nach den 
politischen Blättern über die Hauptpunkte der ihrer Berathnng obliegenden 
Fragen ziemlich schnell geeinigt. Wesentlich erleichtert scheinen die Berathungen 
dadurch zu sein, dass seitens der österreichisch - ungarischen Regierung schon 
vorher die hauptsächlichsten in Betracht kommenden Fragen festgestellt und 
den Regierungen der zur Konferenz eingeladenen Staaten mitgetheilt waren. 
Die Fragen waren theils allgemeiner Natur (z. B. wann ist ein Ort als cholera¬ 
verseucht, choleraverdächtig oder als wieder rein anzusehen), theils betrafen sie 
den Waaren-, Brief- und Personen-Verkehr, den durchgehenden Eisenbahnver¬ 
kehr, den Fluss-, Binnensee- und Schiffsverkehr. Es handelte sich hierbei um 
die Festsetzung der Grenzen für Ein- und Durchfuhrverbote, für die Desinfektion 
von Reisegepäck, Frachtgütern, Briefen u. s. w.; um Regelung des Grenzver¬ 
kehrs, um die Zulässigkeit und NothWendigkeit von Land- und Seequarantänen; 
um Hafenschliessuugen u. s. w. Die Berathuugen werden voraussichtlich bald 
nach Ostern beendet sein. 


Im Reichs-Versicherungsamt hat am 27. März d. J. eine Konferenz von 
Vertretern der Landesversicherungsämter und der Invaliditäts- und Altersver¬ 
sicherungsanstalten unter dem Vorsitz des Präsidenten Dr. Bödiker statt¬ 
gefunden, deren erster Berathungsgegenstand die Frage betraf: Welche Mass¬ 
nahmen zu treffen seien, um in allen Fällen ein sachgemäßes ärztliche» Gut¬ 
achten über die Erwerbsfälligkeit eines Invalidenrentenbe Werbers mit 
möglichst geringen (!!) Kosten zu erhalten. Nachdem seitens des Reichs-Ver- 
sicherung-amts und der Vertreter der meisten Versicherungsanstalten die bisher 
in dieser Richtung gemachten Erfahrungen mitgetheilt. worden waren, einigte 
man sich dahin, daran festzuhalten, dass es regelmässig Sache des Renten¬ 
bewerbers sei, das zur Begründung seines Antrags erforderliche ärztliche Gut¬ 
achten selbst zu beschaffen und zu bezahlen; dass es aber den Versicherungs¬ 
anstalten nicht verwehrt sei, zu den Kosten des ersten ärztlichen Attest.es all¬ 
gemein einen Zuschuss zu zahlen, und dass es dem Ermessen der Vorstände an¬ 
heimgestellt werde, sich in dieser Beziehung mit den Aerzten ihres Bezirks in 
Verbindung zu setzen. Es wurde dabei betont, dass ein Handinhandgohen der Ver¬ 
sicherungsanstalten und der Aerzte im Interesse der Durchführung der Versicherung 
dringend zu wünschen sei, und dass eine Einigkeit sich am ehesten erzielen lasse, 
wenn man den berechtigten Wünschen der Aerzte Entgegenkommen beweise. 

Verantwortlicher Redakteur: Dr. Kapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W. 

J. C. C. Bruns, ßnchdruckerel, Minden. 



6. Jahrg. 


Zeitschrift 

für 


1893 . 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

S:xn.-Rath u.gerichtl.Staatphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in Minden 

and 

Dr. WILH. SANDER 

Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitseile 46 Pf. nimmt die Verlagshandlang and Rad. Mosse 

entgegen. 


No. 8. 


Rrseheint am 1. and 15. Jeden Monats. 
Preis Jährlich 10 Mark. 


15. April. 


Vorläufiger Bericht über die am 10. und II. April d. J. zu 
Berlin (Langenbeck-Haus) abgehaltene X. Hauptversamm¬ 
lung des Preussischen Medizinalbeamtenvereins. 

Erster Sitzungstag, Montag, den 10. April, Vormittags 

9 1 /* Uhr. 

1. Eröffnung der Versammlung. Der Vorsitzende, Reg.- 
und Geh. Medizinal-Rath Dr. Kanzow (Potsdam) hiess die An¬ 
wesenden — es waren gegen 80 Mitglieder erschienen — herz¬ 
lich willkommen und gab einen kurzen Ueberblick über die 
Thätigkeit des Vereins, der in diesem Jahre sein zehntes Jahres¬ 
fest feiere. Er begrüsste hierauf die im Aufträge des Ministers 
des Innern und des Reichsamtes des Innern erschienenen Vertreter, 
Geh. Reg.-Rath Kr ohne und Geh. Ober - Reg.-Rath Dr. Hopf, 
und die anwesenden Vortragenden Räthe der Medizinal - Abtheilung 
des Kultusministeriums, Geh. Ober-Med.-Räthe Dr. Skrzeczka 
und Dr. Schönfeld, sowie Geh. Med.-Rath Dr. Pistor. 

Der Vorsitzende gedachte hierauf derjenigen Mitglieder, die 
der Verein seit der letzten Generalversammlung (Sept. 1891) durch 
den Tod verloren hat. Die Versammelten erhoben sich zum An¬ 
denken der Verstorbenen von ihren Sitzen. 

Beim Beginn der Verhandlungen erschien der Direktor der 
Medizinal-Abtheilung Wirkliche Geheime Ober - Regierungs - Rath 
Dr. Bartsch und richtete an die Versammlung folgende Worte: 

„Meine Herren! Der Herr Medizinalminister, in dessen Auf¬ 
träge ich in Ihrer Mitte erscheine, bedauert aufrichtig, dass er 
durch andere dringende Amtsgeschäfte verhindert ist, Sie beim 
Eintritt in Ihre Berathungen willkommen zu heissen. Se. Exzellenz 
entbietet der Versammlung durch mich seinen herzlichen Gruss 
und ich entledige mich dieses Auftrages um so lieber, als mir 







182 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. iu Berlin 


dadurch von Neuem Gelegenheit geboten wird, an Ihren Verhand- 
handlungen Theil zu nehmen. 

Wiederum, meine Herren, haben Sie Sich zu gemeinsamer 
ernster Arbeit, zum Austausch von Meinungen, zur Pflege per¬ 
sönlicher Beziehungen vereinigt, nachdem im vorigen Jahre die 
schon anberaumte Sitzung aus bekannten Gründen hat ausfallen 
müssen. Seitdem haben wir in den durch die Choleragefahr be¬ 
drohten Landstrichen sorgenvolle Tage verlebt, ohne dass sich 
Gottlob! die gehegten Befürchtungen verwirklicht haben. Im 
Gegentheil haben wir bei der hingebenden Mitarbeit aller Be¬ 
theiligten dankenswerthe Erfolge erzielt, und es gereicht mir zur 
besonderen Freude, auch in diesem Kreise an die Allerhöchste 
Ordre vom 17. Oktober v. J. erinnern zu dürfen, durch welche 
Seine Majestät der Kaiser und König dies huldreichst anzuer¬ 
kennen die Gnade gehabt haben. Die an den Herrn Medizinal¬ 
minister gerichtete Allerhöchste Orde lautet: 

„Ich habe von Ihrem Mir unterm 4. d. Mts. erstatteten Be¬ 
richt über die Choleragefahr in Preussen und die zu ihrer Be¬ 
kämpfung angeordneten Massnahmen mit lebhafter Befriedigung 
Kenntniss genommen. Die getroffenen Vorkehrungen finden 
Meine volle Billigung. Ich bin sehr erfreut, dass die auf 
wissenschaftlicher Forschung und praktischer Erfahrung be¬ 
ruhenden Anordnungen von allen dazu berufenen staatlichen und 
kommunalen Organen mit grosser Umsicht und regem Eifer zur 
Ausführung gebracht sind und auch bei der Bevölkerung ver- 
ständnissvolle Aufnahme und Beachtung gefunden haben. Wenn 
es unter des Allmächtigen gnädigem Schutze und sichtlichem 
Beistände bisher gelungen ist, die Choleragefahr im Lande so 
erfolgreich zu bekämpfen, und die zuversichtliche Hoffnung auf 
ein baldiges völliges Erlöschen der Seuche berechtigt erscheint, 
so hat hierzu, wie Mir wohl bewusst ist, die aufopferungsvolle, 
pflichttreue und zielbewusste Arbeit der Behörden und einzelnen 
Beamten wesentlich beigetragen. Ich kann es Mir daher nicht 
versagen, allen Betheiligten Meinen wärmsten Dank und Meine 
besondere Anerkennung hiermit auszusprechen, und ersuche Sie, 
dies in geeigneter Weise zu ihrer Kenntniss zu bringen.“ 
Marmor - Palais, den 17. Oktober 1892. 

gez. Wilhelm R. 


An 


den Minister der geistlichen, Unterrichts¬ 
und Medizinal - Angelegenheiten. 

Diese Allerhöchste Kundgebung ist der Stolz der Medizinal¬ 
verwaltung und es hat jeder von uns, der zur Bekämpfung der 
Seuche mitzuwirken berufen ist, seinen freudigen Antheil daran. 
Sie soll uns ein Sporn sein, bei etwaiger Wiederkehr der Gefahr 
alle unsere Kräfte einzusetzen zum Wohle des Vaterlandes! 

Ihre diesmalige Tagesordnung, meine Herren, beweist, wie 
eifrig Sie bemüht sind, durch reichhaltige Gestaltung derselben 
wichtige Fragen der Sanitätspolizei und der Medizinalverwaltung 
in den Kreis Ihrer Berathungen zu ziehen. Der Herr Minister 



abgehaltene X. Hauptversammlung des Preuss. MedizinalbeamtenVereins. 183 

wünscht lebhaft, dass Ihre Berathungen dem allgemeinen Besten 
zum Nutzen gereichen und dass sie auch dazu beitragen mögen, 
die Zusammengehörigkeit der Mitglieder Ihres Vereins fester zu 
begründen, den Sinn für Kollegialität zu stärken und Ihre Ver¬ 
sammlungen immer mehr das werden zu lassen, was sie sein 
sollen, — eine fruchtbringende und segenreiche Vereinigung der 
Preussischen Medizinalbeamten!“ 

Namens der Versammlung, welche sich bei der Verlesung 
der Allerhöchsten Ordre von ihren Sitzen erhoben hatte, sagte der 
Vorsitzende dem Redner Dank, welchen dieser dem Herrn 
Minister zu übermitteln versprach. 

U. Geschäfts- und Kassenbericht. Wahl der Kassen¬ 
revisoren. 

Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund (Minden): Die auf 
der letzten Versammlung von einigen Seiten geäusserte Befürch¬ 
tung, dass die Zahl der Mitglieder in Folge der damals beschlosse¬ 
nen Erhöhung des Beitrages abnehmen würde, hat sich keineswegs 
bewahrheitet; denn dem ungemein hohen Verluste von 20 Mit¬ 
gliedern durch den Tod, steht ein Zuwachs von 46 neueingetrete- 
nen Mitgliedern gegenüber. Der Verein zählt z. Z. 532 Mit¬ 
glieder gegen 506 im Herbst 1891 und 286 Mitglieder im ersten 
Vereinsjahre (1883). 

Die Einnahmen haben 6212,86 Mark, die Ausgaben 6028 Mark 
betragen, so dass sich ein rechnungsmässiger Ueberschuss von 
184,86 Mark ergiebt, durch den sich das Vereins vermögen auf 
3163,81 Mark erhöht hat. Dem vorjährigen Beschlüsse gemäss sind 
in diesem Jahre mehrfach bei streitigen Taxfragen von prinzipieller 
Bedeutung die Prozesskosten auf die Vereinskasse übernommen 
und dadurch eine Endentscheidung dieser Fragen herbeigeführt, 
die leider nicht immer zu Gunsten der Medizinalbeamten ausge¬ 
fallen ist. 

(Eine Diskussion knüpft sich an den Geschäfts- and Kassenbericht nicht.) 

Zu Kassenrevisoren wurden die Kreisphysiker Dr. Elten 
(Angermünde) und Dr. Struntz (Jüterbogk) gewählt. 

in. Der Entwurf eines Reichsgesetzes betreffend die 
Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 

Der Referent, Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund führte 
aus, dass das Bedürfniss nach dem Erlasse eines Reichsgesetzes 
behufs Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten bereits so oft 
von Aerzten, Medizinalbeamten und Hygienikern sowohl, als von 
den gesetzgebenden Körperschaften anerkannt sei, dass es kaum 
nöthig erscheine, darüber ein Wort zu verlieren. Die einschlä¬ 
gigen in den einzelnen Bundesstaaten zur Zeit geltenden gesetz¬ 
lichen Vorschriften seien so verschiedenartig und ausserdem zum 
Theil so veraltet (besonders in Preussen), dass auf Grund der¬ 
selben ein erfolgreicher Kampf gegen die für Deutschland haupt¬ 
sächlich in Betracht kommenden ansteckenden Krankheiten nicht 
geführt werden könne. Die Aussicht eines Erfolges auf diesem 
Gebiete sei eben nur dann gegeben, wenn auf der ganzen Kampfes- 



184 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. in Berlin 

linie zielbewusst und mit gleichen Waffen vorgegangen würde; 
denn die Volksseuchen machten bekanntlich nicht vor den Grenz¬ 
pfählen der einzelnen Bundesstaaten halt. Man könne daher der 
Reichsregierung nur dankbar sein, dass sie sich entschlossen habe, 
das Verfahren betreffs Bekämpfung gemeingefährlicher Krank¬ 
heiten auf reichsgesetzlichem Wege zu regeln, müsse aber anderer¬ 
seits ungemein bedauern, dass der dem Bundesrathe vorgelegte 
Gesetzentwurf daselbst eine wesentliche Einschränkung besonders 
in Bezug auf diejenigen Krankheiten erlitten habe, auf welche er 
Anwendung finden solle. Gerade den jetzt im Entwurf gestriche¬ 
nen ansteckenden Krankheiten: Typhus, Rückfallfieber, Ruhr, 
Scharlach, Diphtherie und Wochenbettfieber fallen alljährlich in 
Deutschland viele Tausende zum Opfer, während die übrigen im 
§. 1 des Entwurfs genannten Seuchen, abgesehen von der Cholera, 
in Deutschland entweder gar nicht (Gelbfieber und Pest) oder so 
selten (Pocken und Fleckfieber) Vorkommen, dass sie eigentlich 
als gemeingefährlich nicht bezeichnet werden können. Wunderbar 
sei es auch, dass sich der erweiterte Geschäftsausschuss des 
Deutschen Aerztevereinsbundes in gleicher Weise für eine der¬ 
artige Einschränkung des Gesetzentwurfs ausgesprochen habe, und 
zwar um so mehr, als dieser Beschluss im vollen Widerspruch 
stehe mit den von dem Aerztetage im Jahre 1883 gefassten Be¬ 
schlüssen über den Erlass eines Reichsseuchengesetzes. Würde 
der Entwurf in der jetzt den Reichstag vorgelegten Form Gesetz, 
so könne überhaupt von einem Gesetz betreffs einheitlicher Be¬ 
kämpfung gemeingefährlicher Krankheiten nicht mehr die Rede 
sein, sondern nur von einem Ausnahmegesetz gegen die 
Cholera. Zu den bisherigen zahlreichen gesetzlichen Bestimmungen 
würde noch ein Choleragesetz hinzukommen und dadurch die Man¬ 
nigfaltigkeit der Bestimmungen auf diesem Gebiete nur noch ver¬ 
mehrt werden. Im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege, sowie 
vor Allem im Interesse einer gesicherten Durchführung, der zur 
Bekämpfung von Volksseuchen erforderlichen sanitätspolizeilichen 
Massregeln, sei es aber nothwendig, dass dem jetzt in Deutsch¬ 
land auf diesem Gebiete bestehenden Missstande der 
Mannigfaltigkeit und Ungleichheit ein gründliches 
Ende gemacht, d. h. ein Reichsgesetz erlassen werde, "welches 
sich nicht nur auf diejenigen Seuchen erstrecke, die vom Aus¬ 
lande her eingeschleppt werden können, sondern auch auf die 
gefährlicheren, in Deutschland heimischen ansteckenden Krankheiten. 

Der dem Bundesrathe vorgelegte Entwurf entspreche in seiner 
ursprünglichen Fassung im Allgemeinen sowohl den in sanitäts¬ 
polizeilicher als hygienischer Hinsicht zu stellenden Anforderungen 
und halte in vorsichtiger Weise die Mitte zwischen der bakterio¬ 
logischen und epidemiologischen Forschung. Eine Abänderung des 
Entwurfs sei jedoch nach verschiedenen Richtungen hin erwünscht. 

Referent bedauert, dass das Viehseuchengesetz dem Entwurf 
in so umfangreicher Weise als Muster gedient habe, was nach 
seiner Ansicht demselben nicht zum Vortheil gereicht habe. Er ist 
ferner der Ansicht, dass der Entwurf hätte wesentlich einfacher 



abgehaltene X. Hauptversammlung des Preuss. Medizinalbeamtenvereins. 185 

and kürzer gefasst werden können und dass es nicht zweck¬ 
mässig sei, Vorschriftsmassregeln, die sich späterhin leicht als 
abänderungsbedürftig erweisen könnten, in das Gesetz autzunehmen, 
da dann jedes Mal eine Aenderung desselben in Frage käme. 
Alle derartigen Vorschriften, insbesondere die spezielleren für die 
einzelnen Krankheiten, gehören nach Ansicht des Referenten in 
die Ausführungsbestimmungen. Endlich sei eine Anzahl sehr 
wichtiger Vorschriften im Entwürfe unberücksichtigt geblieben. 

Referent bemerkt, dass er, die von ihm für nothwendig er¬ 
achteten Abänderungen in bestimmten Leitsätzen zusammengestellt 
habe, die bereits am Tage zuvor einer Vorberathung durch den 
Vorstand unter Zuziehung einer Anzahl anderer Vereinsmitglieder 
unterzogen seien und hier mit geringen Abänderungen Zustimmung 
gefunden hätten. 

Die Leitsätze lauten mit diesen Abänderungen wie folgt: 

I. 

Im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege ist eine ein¬ 
heitliche Regelung des Verfahrens betreffs Bekämpfung gemein¬ 
gefährlicher Krankheiten auf dem Wege der Reichsgesetzgebung 
dringend geboten. Ein derartiges Gesetz erfüllt aber nur dann 
seinen Zweck, wenn es sich nicht nur auf diejenigen Seuchen 
erstreckt, die vom Auslande her eingeschleppt werden können, 
sondern auch auf die gefährlicheren, in Deutschland heimischen 
ansteckenden Krankheiten Anwendung findet. 

n. 

Der dem Bundesrathe vorgelegte und von dem Preussischen 
Medizinalbeamtenvereine mit Freuden begriisste Entwurf, betreffend 
die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten, entspricht im All¬ 
gemeinen den in dieser Hinsicht zu stellenden Anforderungen; es 
empfiehlt sich jedoch, denselben noch nach folgenden Gesichts¬ 
punkten einer Abänderung zu unterziehen: 

1. Die Bestimmungen über die anzeigepflichtigen Krank¬ 
heiten (§§. 1 und 3 des Gesetzentwurfes)’und über die 
anzeigepflichtigen Persouen (§§. 2 und 4 des Ge¬ 
setzentwurfes) sind in je einem Paragraphen zusammen¬ 
zufassen. 

2. Die Anzeigepflicht ist auf den epidemischen Kopf¬ 
genickkrampf, sowie auf alle Todesfälle in Folge 
einer anzeigepflichtigen Krankheit auszudehnen. Von der 
Anzeige der Todesfälle ist jedoch in denjenigen Theilen 
des Reichs zu entbinden, in denen durch die obliga¬ 
torische Leichenschau diese Anzeige an den beam¬ 
teten Arzt gewährleistet ist. 

3. Die bei Erkrankungen an gemeingefährlichen Krankheiten 
zu erstattenden Anzeigen sind nur an eine Behörde und 
zwar an den beamteten Arzt zu richten. 

4. Für grossjährige Familienmitglieder und sonstige Haus¬ 
genossen erscheint eine Verpflichtung zur Anzeige nicht 
nothwendig. 



186 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. in Berlin 


5. Die Form der Meldekarten über Erkrankungen an an¬ 
steckenden Krankheiten (§. 5 des Gesetzentwurfes) ist 
durch den Bundesrath zu bestimmen. Durch die Erstat¬ 
tung der Anzeige dürfen dem Absender keine Kosten 
erwachsen. 

6. Dem beamteten Arzte ist die Verpflichtung aufzuerlegen, 
die Ortspolizeibehörde von dem Ausbruche oder dem 
Verdachte des Auftretens einer ansteckenden Krankheit 
„sofort“ in Kenntniss zu setzen. 

7. Die im §. 7 des Gesetzentwurfes den Polizeibehörden ein¬ 
geräumte Befugniss, bei zweifelhaften Todesfällen eine 
Oeffnung der Leiche anzuordnen, ist auf diejenigen 
Fälle zu beschränken, in denen nach dem Gutachten des 
beamteten Arztes nicht ohne die Leichenöffnung eine Ge¬ 
wissheit darüber zu erlangen ist, ob der Verstorbene an 
einer der im §. 1 genannten gemeingefährlichen Krank¬ 
heiten gelitten hat oder nicht. 

8. Es ist in dem Gesetze eine Bestimmung für den Fall vor¬ 
zusehen, dass Meinungsverschiedenheiten zwischen 
dem behandelnden und dem beamteten Arzte über die 
Natur der Krankheit oder zwischen der Ortspolizeibehörde 
und dem beamteten Arzte über die anzuordnenden Schutz- 
massregeln entstehen. 

9. Etwaige Vorschriften über öffentliche Bekannt¬ 
machungen sowie über Benachrichtigungen benach¬ 
barter Behörden und des Kaiserlichen Gesundheitsamtes 
(§§. 9 und 41 des Gesetzentwurfes) beim Ausbruch gemein¬ 
gefährlicher Krankheiten sind den Ausführungsbestimmun¬ 
gen vorzubehalten. 1 ) 

10. Die in dem Gesetzentwürfe vorgesehenen Schutzmass- 
r ege ln (§§. 12—27) siüd zum Theil zu weitgehend, besonders 
in Bezug auf die Verkehrsbeschränkungen ansteckungs- oder 
krankheitsverdächtiger Personen, theils gehen sie zu sehr 
in’s Einzelne und bringen Vorschriften, die in die Aus- 
fuhrungsbestimmungen gehören; andererseits sind einige 
wichtige Schutzmassregeln, z. B. Fürsorge fiir die nöthige 
ärztliche Hülfe und das erforderliche Krankenpflegepersonal, 
Belehrung der Bevölkerung durch geeignete Bekannt¬ 
machungen, Verbot des Aufenthaltswechsels kranker Per¬ 
sonen ohne zuvorige ortspolizeiliche Genehmigung u. s. w. 
unberücksichtigt geblieben. 

11. Die Schutzmassregeln bei bedrohlicher Ausbreitung einer 
übertragbaren Augenkrankheit (§. 21 des Gesetzent¬ 
wurfes) sind der Landesgesetzgebung zu überlassen. 

12. Der Begriff „beamtete Aerzte“ (§. 35 des Gesetzent¬ 
wurfes) ist einwandsfreier zu fassen. 


l ) Dieser Leitsatz war in der Vorberathung mit einer Stimme Mehrheit 
abgelehnt worden, ist aber gleich hier mit aufgel’iihrt, weil sich die Hauptver¬ 
sammlung mit erheblicher Mehrheit für Beibehaltung desselben ausgesprochen hat. 



abgehaltene X. Hauptversammlung des Preuss. Medizinalbeamtenvereins. 187 

m. 

Zur erfolgreichen Durchführung des Reichsseuchengesetzes 
ist es nothwendig, dass die beamteten Aerzte durch gesetzlich 
geregeltes pensionsfahiges Gehalt von der ärztlichen Praxis unab¬ 
hängig gestellt und ihre Rechte und Pflichten den Anforderungen 
der öffentlichen Gesundheitspflege entsprechend erweitert werden. 

Diskassion. 

Die sehr lebhafte, mehrstündige Debatte, an der sich hauptsächlich Geh. 
San.-Rath Dr. Wall ich s (Altona), Reg.- u. Med.-Rath Dr. Wernich (Berlin), 
Kr.-Phys. Dr. Jacobson (Salzwedel), Med.-Rath Dr. Leseberg (Rostock), 
Kr.-Phys. Dr. Philipp (Berlin), Kr.-Phys. Dr. Meyboefer (Görlitz), Med.- 
Assessor Dr. Wehm er (Berlin), Kreiswundarzt Dr. Peyser (Königsberg i./N.), 
Kr.-Phys. Dr. Möbias (Helgoland), Kr.-Phys. Dr. Karsten (Waren), Reg.- u. 
Med.-Rath Dr. Roth (Cöslin). Kr.-Phys. Dr. Matth es (Obornik) nnd Kr.-Phys. 
Dr. Köppen (Heiligenstadt) betheiligten, hielt sich im Allgemeinen an die ein¬ 
zelnen, vom Referenten aufgestellten Leitsätze, die von diesem noch eingehender 
begründet wurden. Geh. San.-Rath Dr. Wall ich s vertheidigte dem Referenten 
gegenüber die Beschlüsse des Aerztevereinsausschusses zum Gesetzentwürfe, 
insonderheit wurde es von ihm in hohem Grade bedauert, dass den Kur¬ 
pfuschern gleichfalls die Anzeigepflicht auferlegt sei und diese dadurch den 
Aerzten gewissennassen gleichgestellt würden, eine Ansicht, der sich auch Reg.- 
u. Med.-Rath Dr. Wernich völlig anschloss, während die grosse Mehrheit der 
Versammlung der vom Refereuten und besonders vom Kr.-Phys. Dr. Philipp 
und Kreiswundarzt Dr. Peyser vertretenen Ansicht zustimmte, dass den Kur¬ 
pfuschern, da sie zur Zeit einmal zur Ausübung der Heilkunde gesetzlich berechn 
tigt seien, die Anzeigepfiicht auferlcgt werden müsse, weil sonst die Verheim¬ 
lichung von Erkrankungen an gemeingefährlichen Krankheiten begünstigt würde. 

Eine lebhafte Erörterung erhob sich ferner über die Art der Anzeige¬ 
pflicht bei Wochenbettfieber, sowie ob die Anzeige an die Ortspolizei¬ 
behörde oder an den beamteten Arzt zu erstatten sei. Auch über 
These 7 (Zwangssektionen) und These 10 (Schutzmassregeln) ent¬ 
wickelte sich eine lebhafte Debatte. Es gelangten schliesslich jedoch sämmtliche 
vom Referenten aufgestellten Thesen in der vorher mitgetheilten Form mit 
grosser Majorität zur Annahme, nur These 9, betreffend Meinungsverschie¬ 
denheiten zwischen dem behandelnden und dem beamteten Arzte, oder zwischen 
diesem und der Ortspolizeibehörde wurde als unnöthig gestrichen und der erste 
Satz der These 10 in folgender Weise abgeändert: 

„Die in dem Gesetzentwürfe angegebenen Schutzmassregeln (§§. 12—27) 
sind in Bezug auf die Vcrkehrsbeschränkungen ansteckungs- oder krank¬ 
heitsverdächtiger Personen zu weitgehend, auch gehen sie u. s. w.“ 

Ausserdem wurde auf Vorschlag des Referenten noch als neue These (vor 
Nr. 10) einstimmig angenommen: 

„Die Ortspolizeibehörde hat bei Anordnung der erforderlichen Schutz¬ 
massregeln den Vorschlägen und Anordnungen des beamteten Arztes 
Folge zu leisten.“ 

Desgleichen wurde dem Vorschläge des Referenten gemäss beschlossen, 
sowohl dem Reichsamt des Innern und sämmtlichen Mitgliedern des Bundesraths, 
als allen Reichstagsmitgliedern ein Exemplar des stenographischen Berichts der 
heutigen Verhandlung über das Seuchengesetz zu übersenden. Die Fertigstellung 
dieses Berichts soll thunlichst beschleunigt werden. 

IV. Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten. 

Kreisphysikus Dr. Fielitz (Ralle a./S.): Im vorigen Jahre 
stand das Thema schon auf der Tagesordnung und wurde damals 
als dringlich bezeichnet, zumal das Interesse des Vereins eine 
erneute Beschäftigung mit dieser Materie forderte, entsprechend 
dem in §. 1 der Statuten angegebenen Zwecke: „den gemeinsam 
berechtigten Interessen der Medizinalbeamten Berücksichtigung zu 
verschaffen.“ 



188 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. in Berlin 

Schon 1886 hat der Verein sehr gründlich berathen, wie uns 
zu helfen sei und seine Wünsche in 6 Thesen niedergelegt. Einen 
Erfolg dieser Resolutionen haben wir leider nicht gesehen. 

Deshalb ist es angebracht, abermals das Thema zu berühren, 
trotzdem die Cholera einen Umschwung zu unsern Gunsten herbei¬ 
geführt zu haben scheint, indem sie die Unzulänglichkeit unserer 
sanitätspolizeilichen Einrichtungen klarlegte. Es bleiben Punkte 
zu besprechen, die sich nur innerhalb des Vereins erörtern lassen 
und in der Presse keine Berücksichtigung finden können. 

Es genügt heute, nur in Umrissen anzudeuten, wie wir uns 
eine Aenderung unserer Stellung ungefähr ausmalen. Einzelheiten 
lassen wir bei Seite, auch soll unser Amt als Gerichtsarzt nur 
gestreift werden, sowohl bezüglich der Bezahlung als der Zustän- 
keit für den Sanitätsbeamten. 

Dass die Kreisphysiker den heutigen Anforderun¬ 
gen der Gesundheitspflege nicht genügen können, ist 
dem grossen Publikum leider erst durch den Cholera¬ 
ausbruch klar geworden. 

Es handelt sich bei den Aufgaben der Gesund¬ 
heitspolizei nicht allein darum, Infektionskrankheiten 
zu bekämpfen, sondern die Volksgesundheit überhaupt 
zu fördern. 

Der Laie und auch so mancher Arzt stellt momentan die 
Bakteriologie in den Mittelpunkt jeder sanitären Massnahme und 
vergisst, dass die Gesundheitspflege nicht gleichbedeutend ist 
mit Gesundheitspolizei. Sonst hätte der Medizinalbeamte nur 
thätig zu sein, sobald eine schwere Seuche das Land heimsucht. 
Er soll aber gerade die Zeit der Ruhe benutzen, um die Verhält¬ 
nisse seines Bezirks gründlich kennen zu lernen: er muss die Wit¬ 
terungs-, Boden- und Wasserverhältnisse beobachten, die Lebens¬ 
bedingungen der Bewohner studiren, Wohn-, Arbeits- und Erho¬ 
lungsstätten unter Kontrole haben und alle Einrichtungen im Auge 
behalten, welche Staat oder Gemeinde zum Schutze menschlicher 
Gesundheit getroffen hat. 

Dazu gehört die ganze Thätigkeit eines Mannes 
und dem ist der jetzige Kreisphysikus nicht gewachsen; denn es 
fehlt ihm Stellung, Zeit und Einkommen. 

Schon 1886 wurde betont, dass von Selbstständigkeit beim 
Medizinalbeamten keine Spur zu finden ist. Er ist ein Beamter, 
welcher niemals genau angeben kann, was er thun muss und was 
er thun darf. 

Aber auch deshalb muss die nebenamtliche Thätigkeit als 
Physikus aufhören, weil wir jetzt nicht die Zeit haben, den 
Verpflichtungen des Amtes in idealer Weise nachzukommen. 

Wir haben besonders in den letzten Jahren sehr viele Zeit 
geopfert, um den überaus schnellen Fortschritten der Bakteriologie 
und Hygiene zu folgen. Viele von uns haben staatliche Kurse 
durchgemacht, obwohl die meisten sich klar waren, dass unter 
heutigen Verhältnissen eine Verwerthung des Gelernten im Dienste 
des Staates unmöglich sein würde. 



abgehaltene X. Hauptversammlung des Preuss. Medizinalbeamtenvereins. 189 


Daran hindert uns auch das Fehlen eines genügen¬ 
den Amtseinkommens. 

Bei den früheren 200 Thalem stand sich der Physikus besser, 
als jetzt bei seinem Gehalt von 900 Mark, denn die Arbeit hat 
sich seit 1872 verdrei- und vierfacht. Wir können das jetzige 
Einkommen nicht mehr als genügende Entschädigung für die Zeit 
betrachten, welche unserm Haupterwerbe als Arzt verloren geht, 
zumal die meisten gerichtsärztlichen Geschäfte dem heutigen Geld- 
werthe entsprechend schlecht honorirt werden. Es ist durchaus 
nöthig, dass auch der Geldpunkt seine Berücksichtigung findet. 

Wenn wir trotzdem in der Noth der Zeit amtlichen Anfor¬ 
derungen genügten, wie der Herr Minister vor der Volks¬ 
vertretung in dankenswerther Weise anerkannt hat, 
so geschah es mit persönlichen Opfern, welche der preussische 
Physikus trotz seiner Übeln Position, wenn es darauf ankommt, 
ebenso willig bringt, wie jeder andere Beamte. 

Daraus kann man aber nicht folgern, dass es so bleiben 
kann, auch nicht aus dem uns allen erklärlichen Andrang 
zu Physikatsstellen. 

Sollten wir endlich vor einer Reform des Medizinalwesens 
stehen, so müssen wir uns fragen: wie weit erstrecken sich 
unsere Wünsche? welche Forderungen unsererseits 
sind berechtigt und welche sind durchführbar? 

Einmüthig anerkannt wird von allen Seiten, dass wir wirk¬ 
liche Staatsbeamte werden müssen. 

Die Scheu vor einer erweiterten Kompetenz der Kreisphysi¬ 
ker ist ganz ungerechtfertigt, nachdem die Cholera gezeigt hat, 
dass wir auch weitgehende Vollmachten zu beurtheilen verstehen. 

Gerade in den jüngsten Tagen erscheint diese Frage von 
Wichtigkeit. Ein Seuchengesetz selbst von beschei¬ 
denstem Umfange kann nicht wirksam sein ohne Be¬ 
amte mit selbstverantwortlicher Stellung! Schon im 
Jahre 1876 hat die wissenschaftliche Deputation eine Aenderung 
in dieser Richtung als nothwendig erachtet. 

In seiner Existenz als praktischer Arzt wird der Medizinal¬ 
beamte während einer schweren Seuche ungemein geschädigt. 
Dem kann nur abgeholfen werden durch Beamten¬ 
stellung mit Pensionsberechtigung. 

Wird uns diese Stellung, wie wir nach den wohlwollenden 
Aeusserungen des Herrn Ministers hoffen dürfen, bald zu Theil, 
dann erledigen sich alle Unterfragen ganz von selbst. 

Hierher gehört vor Allem unser Verhältniss zu den 
praktischen Aerzten, das seit Jahren getrübt ist — haupt¬ 
sächlich durch unsere eigene Schuld, da die Aerzte sehen, dass 
wir bestrebt waren, unser niedriges Gehalt unter Berufung auf 
unser Amt durch allerlei Nebeneinnahmen zu vergrössem. Mit 
diesen Nebeneinnahmen ist es überhaupt ein eigen Ding: je grösser 
sie werden, desto mehr entziehen sie dem Physikus Zeit, die er 
seinem Amte widmen sollte. Und deshalb sollte man als Neben¬ 
einnahmen nur solche ansehen und gutheissen, welche direkt aus 



190 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. in Berlin 

sanitätspolizeilichen oder höchstens gerichtsärztlichen Geschäften 
fliessen. Gegen diese hat der praktische Arzt nichts einzuwenden. 

Auch die Frage der späteren Zulässigkeit ärzt¬ 
licher Praxis wird sich von selbst entscheiden, wie 
das hei den Reg. - Med. - Räthen ebenfalls gewesen ist. 

Unter allen Umständen haben die praktischen Aerzte das 
grösste Interesse, uns so gestellt zu sehen, dass wir ärztliche 
Thätigkeit höchstens als Nebenbeschäftigung betrachten können. 
Ist solche Stellung erreicht, dann wird sich auch der Sturm legen, 
den nicht ganz mit Unrecht der Seuchengesetzentwurf unter den 
Aerzten entfesselt hat. Dann erst wird das Gesetz den gehofften 
Nutzen bringen. — 

Ueber die event. Höhe unseres Einkommens und über die 
Flüssigmachung der erforderlichen Mittel haben wir nicht zu de- 
battiren, wenigstens scheint hier nicht der geeignete Ort zu sein. 
Nur das muss immer wieder betont werden, dass eine einfache 
„Gehaltszulage“ nichts nutzen kann, sondern nur die Einreihung 
der Kreisphysiker unter die pensionsberechtigten Staatsbeamten. 

Ich stelle deshalb der Versammlung anheim zu beschliessen: 

„Der Vorstand des Vereins möge dem Herrn 
Minister unsern Dank aussprechen für die den 
Medizinalbeamten gezollten Worte der Aner¬ 
kennung und Sr. Exzellenz die einmüthige An¬ 
sicht des Vereins unterbreiten, dass auf dem 
Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege 
eine erspriessliche Thätigkeit der Kreisphysi¬ 
ker dauernd nur möglich ist, wenn sie zu pen¬ 
sionsberechtigten Staatsbeamten mit aus¬ 
reichendem Gehalte und genügender Kompetenz 
gemacht werden.“ 

Diskussion: 

In der sich an den Vortrag anschliessenden Debatte pflichteten Bezirks- 
physikus Dr. Litthaner (Berlin), Oeh. San.-Rath Dr. Wallichs (Altona) 
und Kr.-Phys. Dr. Jacobson (Salzwedel) den Ausführungen des Beferenten im 
Allgemeinen bei, auch nach der Richtung hin, dass der Pbysikus nicht völlig 
aus der ärztlichen Praxis loszulösen sei, sondern nur so gestellt werden müsse, 
dass er auf jene nicht mehr betreffs seines Lebensunterhaltes angewiesen sei. 
Geh. Med.-Rath Dr. Kanzow führte dann noch aus, dass auch die Stellung der 
Regiemngs- und Medizinalräthe einer Reform bedürftig sei, da diese Beamten 
thatsächlich überlastet seien und zwar besonders durch Arbeiten, die mit Sanitäts¬ 
polizei und Hygiene nichts zu thun hätten, wie Prüfung einer Unmasse von 
Rechnungen über Arzneien, ärztliche Gebühren u. s. w. 

Der von dem Referenten gestellte Antrag wurde einstimmig angenommen. 

Schluss der Sitzung: Nachmittags 3 Uhr. Einen grossen 
Theil der anwesenden Mitglieder vereinigte sodann um 4 Uhr Nach¬ 
mittags ein Festmahl im Englischen Hause zu frohbewegtem Zu¬ 
sammensein. 

Den Schluss des Tages bildete Abends 9 Uhr die übliche 
gesellige Vereinigung bei Sedlmayr (Friedrichstrasse Nr. 172). 



abgehaltene X. HanptYorssmmlurg des Preuss. Medizin albe amten Vereins. 191 

Zweiter Sitzungstag, Dienstag, den 11. April, 
Vormittags 9 1 /* Uhr. 

I. Zur Lehre von der Arsenvergiftung. 

Privatdozent und gerichtlicher Stadtphysikus Dr. Strass- 
mann (Berlin): Die Untersuchungen des Vortragenden beziehen 
sich auf die Frage, inwieweit — abgesehen von den eigentlichen 
Aetzgiften — an der Leiche eine Diffussion in den Magen einge- 
führter Gifte, speziell der arsenigen Säure und ein Eindringen 
derselben in entferntere Organe stattfindet, ob also der Arsen¬ 
nachweis in anderen Organen ausserhalb des Magens (und event. 
in welchen) eine während des Lebens stattgehabte Resorption be¬ 
weist oder nicht. Die Frage hat praktische Bedeutung, weil 
Fälle Vorkommen künnen und schon vorgekommen sind, in denen 
einer Leiche, um einen Unschuldigen des Giftmordes zu verdäch¬ 
tigen, solches einverleibt worden ist oder in deuen der Angeklagte 
den verdächtigen Arsengehalt auf eine zu Konservirungszwecken 
gemachte postmortale Einführung zurückzuführen suchte; weil 
ferner bei konkurrirenden Todesarten es für die Entscheidung von 
Bedeutung sein konnte und war, ob eine stattgefundene Resorption 
des Giftes nachgewiesen werden konnte; endlich weil aus der Ver- 
theilung des Giftes speziell bei der Arsenintoxikation Schlüsse 
auf die zwischen Vergiftung und Tod vergangene Zeit gemacht 
werden, die durch eine etwaige postmortale Imbibition natürlich 
beeinträchtigt werden müssen. Beobachtungen und Untersuchungen 
über diese Frage liegen bisher vor von Orfila, Taylor, Mol- 
tedo, Walter, Reese, Prescot und die umfangeichsten von 
Dante Torsellini. Letzterer fand nach Einbringung von Arsen 
in den Magen einer Leiche schon 7 Tage später As. im Gehirn 
und kommt zu dem Resultat, dass nur in den ersten Tagen des 
Leichenalters eine Entscheidung möglich sei, ob Vergiftung oder 
Giftzufuhr nach dem Tode vorliegt. 

Der Vortragende hat diese Frage neu aufgenommen. Seine 
gemeinsam mit Dr. Alfred Kirstein angestellten Versuche, die 
an anderer Stelle ausführlicher veröffentlicht werden sollen, sind 
-an Leichen von Kindern und Thieren mit arseniger Säure, wie 
mit verschiedenen anderen Substanzen ausgeführt worden. Es 
ergab sich, dass unter günstigen Versuchsbedingungen allerdings 
schon nach 12 Tagen Arsen, dass in den Leichenmagen gebracht 
worden war, in den benachbarten Organen nachgewiesen werden 
konnte, aber auch nach 28 Tagen bisher nur in den benachbarten, 
nicht z. B. im Gehirn. Besonderen Werth legt der Vortragende 
auf die Thatsache, dass bei der Leichenimbibition die linke Niere 
aus anatomischen Gründen schon stark mit der diffundirten Substanz 
durchtränkt ist, ehe die rechte noch Spuren eines Eindringens 
zeigt. Nur ausnahmsweise blieben beide Nieren frei. Die isolirte 
Analyse jeder der beiden Nieren wird danach event. eine Ent¬ 
scheidung ermöglichen. Giftgehalt der linken, Freibleiben der 
rechten Niere wird die Annahme der postmortalen Infiltration im 
Gegensatz zur Resorption während des Lebens bestätigen; und 
•empfiehlt der Vortragende deshalb in Fällen, in denen bereits bei 



192 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. in Berlin 


der Obduktion an die Möglichkeit eines postmortalen Eindringens 
gedacht wird, jede Niere für sich dem Chemiker zu übergeben. 
Ein ähnlicher, wenn auch natürlich nicht so scharfer Unterschied 
besteht auch zwischen den linken und rechten Abschnitten der 
Leber. — 

(Eine Diskussion knüpfte sich an diesen Vortrag nicht.) 

U. Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. 

Dr. Leppmann, Irrenanstalts- und Gefängnissarzt (Moabit): 
In Straf-Gefangenen- und Korrektionsanstalten sind mindestens 
5 Proz. der Insassen geistig defekt oder werden während des Auf¬ 
enthalts geisteskrank. Dort wo die Irren- und Armenpflege den 
Organen der Selbstverwaltung zufällt, tragen die Strafvollzugsober¬ 
behörden Bedenken, die Erkrankenden, so lange noch Wiederein¬ 
tritt der Strafvollzugsfälligkeit denkbar ist, aus ihrer Aufsicht zu 
entlassen. Auch sträuben sich die öffentlichen Irrenanstalten häufig 
gegen die Aufnahme frisch Erkrankender, welche schleunige Hülfe 
beanspruchen. Daher wird als These hingestellt: 

I. Für grössere Staaten, d. h. für solche mit entsprechend! 
zahlreicher Zwangsanstaltsbevölkerung und verwickelter Gliederung 
der öffentlichen Fürsorge empfiehlt sich die Begründung besonderer 
Beobachtungs- und Heilanstalten für geisteskranke Strafgefangene. 

Die besondere Gefährlichkeit der geisteskranken Strafge¬ 
fangenen kann nicht anerkannt werden. Auch ihre Bescholtenheit 
iBt kein genügender Grund, sie als besondere Kategorie von 
Kranken hinzustellen, daher: 

II. Für geisteskranke Strafgefangene, welche aus dem Straf¬ 
vollzüge ausscheiden, sind besondere Anstalten oder besondere 
Anstaitsabtheilungen weder erforderlich noch wünschenswerth. 

Ferner müssen eine Reihe Vorbeugungsmassregeln geschaffen 
werden, welche das Vorkommen der Geistesstörung im Strafvoll¬ 
züge vermindern und ihre rechtzeitige Erkennung erleichtern sollen. 

Beschränkt man sich bei den dahin gehenden Forderungen 
auf das, was für die nächste Zukunft durchführbar erscheint, so 
ergiebt sich: 

III. a) Genauere Rücksichtnahme auf die geistige Unzuläng¬ 
lichkeit in der Strafrechtspflege auf dem Boden geltenden Gesetzes. 

b) Verbesserung der Strafvollzugseinrichtungen insbesondere 
umfassendere Vermittelung der Persönlichkeit der zur Strafhaft 
Eingelieferten, durch systematische Erkundigungen über deren 
Vorleben und durch Erweiterung der Stellung und Pflichten der 
Anstaltsärzte. 

c) Grössere Anerkennung der geistigen Minderwerthigkeit in 
der Armenfürsorge mit zweckentsprechender Anstaltsfürsorge. 

d) Verwirklichung einiger Gesetzesprojekte, nämlich: 

1. Ausgestaltung der bedingten Entlassung mit Berücksich¬ 
tigung der verschiedenartigen Wirkung der Freiheitsstrafe 
je nach der Eigenart der Bestraften. 

2. Möglichste Ausdehnung der staatlich überwachten Erziehung 
an Stelle der Strafe bei jugendlichen Rechtsbrechern und 
in Verwahrlosung Verfallenden. Dadurch wird am ehesten 



abgehaltene X. Hauptversammlung des Preuss. Medizmalbeamtenvereiüs. 193 

die Möglichkeit gegeben, geistig Defekte vor völliger 
Strafmündigkeit zu kennzeichnen und der öffentlichen 
Irren-, Armen-, Epileptiker- oder Idiotenfürsorge zu über¬ 
geben. 

Diskussion. 

Geh. San.-Rath Dr. Wallichs tritt den Ausführungen des Vortragenden 
bei, obwohl er befürchtet, dass seine Wünsche nicht sobald in Erfüllung gehen 
werden. Insbesondere ist er damit einverstanden, dass die Sachverständigen 
sich bei ihren Gutachten bestimmter über die Frage der Zurechnungsfähigkeit 
aussprechen. Die Beobachtung der Simulanten hält er nicht für so unwichtig, 
wie es der Vortragende darstellt, da die Simulation doch ziemlich häufig vor¬ 
komme. Kr.-Phys. Dr. Coester (Goldberg) schildert an einem Falle die selt¬ 
samen Folgen, die sich ergeben können, wenn die Gerichte bei Begutachtung von 
Geisteskrankheiten sich nicht zunächst an den Medizinalbeamten wenden. Der Vor¬ 
tragende erwidert auf die Ausführungen von Wallichs, dass bei Untersuchungs¬ 
gefangenen die Simulation häufiger vorkomme und dort durch eine kalte Douche 
beseitigt werden könne. Bei den Gefangenen aber, die in die Irrenabtheilung 
aufgenommen würden, habe sich noch kein Fall von Simulation gezeigt. Zum 
Schluss betont er nochmals, dass sich die Armenpflege nicht auf Kosten der 
Strafrechtspflege entlasten dürfe. 

m. Ueber die staatliche Beaufsichtigung des Irrenwesens. 

Der Referent, Kreisphysikus Dr. Meyhöfer (Görlitz) ver¬ 
langt, dass dem Hausarzt grösserer Einfluss auf die Unterbringung 
eines Geisteskranken in eine Irrenanstalt eingeräumt werde, da 
der Hausarzt oftmals kompetenter sei als der Physikus, der den 
Kranken nur ein einziges Mal gesehen habe. Im weiteren ver¬ 
langt der Vortragende, dass nur an Aerzte die Konzession zur Er¬ 
richtung einer Privat-Irrenanstalt gegeben werden solle, und fasst 
schliesslich seine Ausführungen in folgende Thesen zusammen: 

1. Eine sorgfältige Ueberwachung der Irrenanstalten ist er¬ 
forderlich; mit derselben darf aber nicht eine Erschwerung der 
Aufnahme eines Geisteskranken verbunden sein, da die möglichst 
schleunige Unterbringung desselben im Sinne der Heilbarkeit ge¬ 
boten ist. 

2. Die durch die Königliche Staatsregierung angekündigte 
Einsetzung von Besuchskommissionen ist als eine höchst zweck¬ 
entsprechende Massregel zu begrüssen. Sie wird geeignet sein, 
das im Publikum verbreitete Misstrauen bezüglich der Möglichkeit 
einer ungerechtfertigten Freiheitsberaubung zu beseitigen und auf 
den Betrieb, sowie die Einrichtungen der Anstalten, sowohl der 
privaten als der öffentlichen, förderlich einzuwirken. 

3. Diesen Besuchskommissionen soll der zuständige Physikus 
eo ipso als Mitglied angehören, er soll — abgesehen von den 
periodischen Revisionen — die fortlaufende Ueber wachung der 
Privat - Irrenanstalten ausüben. 

4. Bei Aufnahme eines Geisteskranken in letztere muss die 
Anzeige, ausser an die Königliche Staatsanwaltschaft des Heimaths- 
bezirkes des Kranken, gleichzeitig an den für die Anstalt zu¬ 
ständigen Physikus erstattet werden, an letzteren unter Einreichung 
des zur Aufnahme erforderlichen ärztlichen Attestes. Die Bei¬ 
bringung eines Physikatsattestes ist nicht unbedingt erforderlich. 

5. An die Polizeibehörden haben Anzeigen lediglich nach 
Massgabe des allgemein gültigen Meldewesens zu erfolgen. 



194 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. in Berlin 

6. Die Gewerbeordnung ist bezüglich des Verfahrens bei Er¬ 
richtung neuer Privat-Irrenanstalten durch eine Novelle dahin zu 
ergänzen, dass der Konzessionsnachsucher ein Arzt sein oder einen 
Anstaltsarzt präsentiren muss, welcher allein die Verantwortlich¬ 
keit zu tragen und ausschliesslich mit der Aufsichtsbehörde zu 
verkehren hat. 

Diskussion. 

Kreiswundarzt Dr. Peyser (Königsberg i./N.) will im Gegensatz zum Vor¬ 
tragenden entschieden daran festgehalten wissen, dass die Aufnahme in Privat¬ 
irrenanstalten nur auf Grund eines Physikatsattestes erfolgen darf. Kr.-Phya. 
Dr. Philipp ergänzt die Ausführungen des Vortragenden dahin, dass nicht 
nur das jetzige Verfahren der Konzessionirung von Irrenanstalten zu leicht, 
sondern auch das Verfahren bei Entziehung von Konzessionen zu schwer ist. 
Er erläutert dies durch einen Spezialfall, über den sich auch der Vorsitzende 
noch ausführlich äussert. 


Vor Eintritt der Pause verabschiedete sich der Ministerial¬ 
direktor Dr. Bartsch von der Versammlung mit folgenden Worten: 

„Meine Herren! Durch anderweitige Amtsgeschäfte in An¬ 
spruch genommen, muss ich diesen Saal und diese Versammlung 
zu meinem Bedauern vor Schluss Ihrer Berathungen verlassen. 
Ich kann es aber nicht thun, ohne Ihnen im Namen des Herrn 
Ministers Dank und Anerkennung auszusprechen, für die ruhige, 
ernste, sachgemässe Art, mit welcher Sie unter der bewährten 
Leitung Ihres Herrn Vorsitzenden die Gegenstände Ihrer Tages¬ 
ordnung behandelt haben. 

Unter diesen Gegenständen sind einzelne von hervorragender 
Bedeutung: Dazu rechne ich vor Allem das gestern von Ihnen 
erörterte sogenannte Reichsseuchengesetz, dessen weiteres Schicksal 
nunmehr in den Händen des gegenwärtig wieder zusammentreten¬ 
den Reichstages ruht. Möchten doch die auf diesem Gebiete etwa 
noch bestehenden Meinungsverschiedenheiten sich ausgleichen und 
möchte das für die fernere sanitäre Entwickelung in unserem 
Vaterlande so wichtige Gesetz recht bald praktisches Recht werden! 
Nicht minder wichtig ist die ebenfalls gestern von Ihnen behandelte 
Stellung der Medizinalbeamten und die damit zusammenhängende 
Weiterführung der Medizinalreform überhaupt. Voraussichtlich 
wird das Reichsseuchengesetz hierauf von entscheidender Ein¬ 
wirkung sein; denn es wird die Stellung der Medizinalbeamten, 
ihre Zuständigkeit, ihren Wirkungskreis wesentlich verändern. 
Der Herr Minister hat es daher für gerathen erachtet, seine weitere 
Beschlussfassung über die Medizinalreform bis zum Inkrafttreten 
des Gesetzes zu vertagen. Inzwischen ist der Herr Mini¬ 
ster fortgesetzt darauf bedacht, die Stellung insbe¬ 
sondere der Herren Physiker zu verbessern, und der 
Herr Minister wird, wie ich erklären darf, nicht eher 
ruhen, als bis diese Frage einem gedeihlichen Ab¬ 
schlüsse entgegengeführt ist. Auch das, was heute hier 
verhandelt worden ist, hat mein lebhaftes Interesse erregt und 
ich darf Namens des Herrn Ministers versichern, dass die gege¬ 
benen Anregungen nicht unberücksicht bleiben werden. 

So stehen Sie denn nun, meine Herren, am Schlüsse Ihrer 



abgehaltene X. Hauptversammlung des Presse. Medizinalbeamtenvereins. 195 

Verhandlungen und kehren heim, jeder zu seinem Berufe, jeder, 
wie man hoffen darf, gefördert und bereichert durch mancherlei 
nützliche Eindrücke und Erfahrungen. Möchten wir uns doch Alle 
Wiedersehen bei der XI. Hauptversammlung Ihres Vereins! Mit 
diesem Wunsche verabschiede ich mich von Ihnen und sage Ihnen 
Allen bestens Lebewohl!“ — 

Der Vorsitzende sprach dem Redner den erneuten Dank 
der Versammlung aus, worauf dieser, von der Versammlung be- 
grüsst, sich zurückzog. 

IV. Vorstands wähl. Bericht der Kassenrevisoren. 

Als Vorstandsmitglieder wurden mittelst Stimmzettel gewählt: 
Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund (Minden), Geh. San.-Rath 
Dr. Wallichs (Altona), gerichtlicher Stadtphysikus San.-Rath 
Dr. Mittenzweig, Kreisphysikus Dr. Philipp und Reg.-Med.- 
Rath Dr. Wernich (Berlin). Die früheren Vorstandsmitglieder 
Geh. Med.-Rath Dr. Kanzow und Polizeistadtphysikus San.-Rath 
Dr. Schulz hatten eine Wiederwahl bestimmt abgelehnt. Betreffs 
der Geschäftsvertheilung ist der neugewählte Vorstand dahin über¬ 
eingekommen, dass Reg.- und Med. - Rath Dr. Rap mund das Amt 
des Vorsitzenden übernimmt und gleichzeitig, wenigstens vor¬ 
läufig, die Geschäfte des Schriftführers beibehält. 

Auf Antrag des Geh. San.-Rath Dr. Wallichs wurde der 
ausscheidende bisherige langjährige Vorsitzende Geh. Med.-Rath 
Dr. Kanzow unter lebhaftem Beifall der Versammlnng einstimmig 
zum Ehrenvorsitzenden ernannt. 

Die Prüfung der Kassenbücher und der Kasse hatte die 
Richtigkeit derselben ergeben; dem Schriftführer wurde daher auf 
Antrag der beiden Revisoren Decharge ertheilt. 

V. Reg.-Rath Dr. Petri (Berlin) erläutert hierauf einen von 
ihm zusammengestellten Cholerakasten. Gelegentlich der Cholera- 
Kurse habe sich das Bedürfniss nach einer kompendiösen Zusam¬ 
menstellung aller für die bakteriologische Diagnose der Cholera 
nöthigen Apparate herausgestellt. Der Inhalt des von ihm zusam¬ 
mengestellten und in der Fabrik von Robert Muencke (Luisen¬ 
strasse 58, Berlin) angefertigte Kasten sei so bemessen, dass nicht 
nur die allernothwendigsten Arbeiten zur Erkennung des Komma- 
bazills der Cholera, sondern auch andere Untersuchungen damit 
ausgeführt werden könnten. 

VI. Unfall und Bruchschaden. 

Kreisphysikus Dr. Griesar (Trier): Die Frage nach dem ur¬ 
sächlichen Zusammenhänge zwischen plötzlicher Bruchbildung und 
äusserer Gewalteinwirkung ist alt, aber immer noch nicht ent¬ 
schieden. Sie hat eine hohe Dignität erlangt seit Emanation der 
Unfallgesetze. Um einen Standpunkt zu gewinnen, der den Be¬ 
dürfnissen der Praxis genügt und auch den Anforderungen der 
Wissenschaft entspricht ist eine Kenntniss der einschlägigen Be¬ 
stimmungen der Unfallgesetzgebung, namentlich aber auch der die 
Bruchfrage betreffenden Erkenntnisse des Reichsversicherungsamtes 
nothwendig. Die von dieser Behörde aufgestellten Normen bei 
Beurtheilung von Körperschädigungen gelten auch bei den plötzlich 



196 Vorläufiger Bericht über die am 10. und 11. April d. J. in Berlin 

in Folge von Unfällen entstandenen Unterleibsbrüchen. Vorhandene 
Dispositionen oder individuelle Anlagen haben bei der Beurtheilung 
von Entschädigungsansprüchen ausser Betracht zu bleiben, es 
handelt sich nur darum, ob ein Unfall im gesetzlichen Sinne vor¬ 
lag, ob die Bruchbildung ein zeitlich bestimmtes in plötzlicher 
Entwickelung sich vollziehendes Ereigniss darstellte und wie zeit¬ 
lich und örtlich, so auch ursächlich mit dem versicherungspflich¬ 
tigen Betrieb in Zusammenhang stand, dergestalt, dass die Bruch¬ 
bildung plötzlich bei einer schweren Anstrengung erfolgte, welche 
zugleich über den Rahmen der gewöhnlichen Betriebsarbeit hin¬ 
ausging. Die plötzliche Entstehung von Unterleibsbrüchen wird 
namentlich von solchen Autoren bestritten, welche in der Bruch¬ 
sackbildung auch schon den Bruch als fertig gebildet betrachten; 
es ist dies unstatthaft. Die Bildung des Bruchsacks erfolgt 
wenigstens in den Anfangsstadien allmählich, ist der Zustand bis 
zu einem gewissen Grade gediehen, so kann ein Bruch in Folge 
einer stärkeren Bauchpressenaktion plötzlich in seiner ganzen 
charakteristischen Weise in Erscheinung treten, der sich beim 
Fehlen von äusseren grösseren Gewalteinwirkungen möglicherweise 
nicht ausgebildet haben würde. Für diese Thatsache sind eine 
Menge von Aeusserungen der anerkanntesten Fachchirurgen und 
Gerichtsärzte anzuführen. Die gegenteilige Auffassung King- 
don’s und Roser’s sind im Uebrigen nicht so schroff, dass sie 
nicht auch eine Bestätigung der Auffassung des Reichsversiche¬ 
rungsamtes bildeten, nur gehören die plötzlich in Folge von Be¬ 
triebsunfällen entstandenen Brüche nicht zu den Ausnahmefallen, 
sie sind nur nicht so häufig wie die im Anschluss an die täg¬ 
lichen Anstrengungen bei vorhandener Disposition sich ausbilden¬ 
den Brüche. Der nach Prüfung der einschlägigen Punkte einzu¬ 
nehmende Standpunkt ist dahin zu präzisiren: 

Wir sehen in einer Bauchfellausstülpung an einer der be¬ 
kannten Bruchpforten, welche sich beim Pressen und Drängen füllt 
und sich dem zufühlenden Finger bemerklich macht, um beim 
Nachlassen der Bauchpresse wieder zu verschwinden, nicht bereits 
einen Bruch, sondern nur die Bruchanlage, weil sie den damit 
Behafteten so wenig belästigt, dass der Zustand oft nicht einmal 
zum Bewusstsein kommt, jedenfalls ihm keinen Gefahren, speziell 
nicht der Einklemmung aussetzt und ihn auch nur soweit in der 
Arbeits- und Erwerbsfähigkeit beschränkt, als er vielleicht zur 
Verhütung der Bruchbildung gezwungen ist, ein Bruchband zu 
tragen. Sind aber die fibrösen Bindegewebsbiindel und Fascien, 
welche dem Vortreten der Bauchfellausstülpung vor die Leibes¬ 
höhle Widerstand leisteten, gerissen oder durch Ueberdehnung 
erschlafft, und bleiben jene auch mit Nachlass der Bauchpresse in 
gefülltem Zustande ausserhalb der Bruchpforten, so ist der patho¬ 
logische Zustand gegeben, welchen wir als Bruch bezeichnen, 
welcher den Betreffenden der Gefahr der Einklemmung aussetzt, 
ihn zwingt, ein gutes Bruchband zu tragen und darauf zu achten, 
dass dasselbe dauernd den Bruch zurückhält und sich der Be¬ 
schränkung bei der körperlichen Arbeit und deren Auswahl stets 



abgeh&ltene X. Hauptversammlung des Preuss. Medianalbeamtenvereins. 197 

eingedenk zu bleiben, ihn somit in der Ausnutzung der Arbeits¬ 
gelegenheit und der Anwendung der vollen Arbeitskraft und Hin¬ 
gebung an die gewählte Arbeit hindert. Kommt nun ein Bruch 
in der ausgeführten Weise plötzlich zu Stande in ursächlichem 
Zusammenhang mit einer schweren, über den Rahmen der gewöhn¬ 
lichen Betriebsarbeit hinausgehenden körperlichen Anstrengung, 
wobei etwaige Dispositionen ausser Betracht bleiben, so liegt ein 
Unfall im Betrieb vor, und Entschädigungsansprüche sind begrün¬ 
det; hingegen sind alle Bräche, welche sich allmählig durch eine 
Kette kleinerer und grösserer Anstrengungen entwickeln, als Ge¬ 
werbekrankheiten zu qualifiziren, die der Wohlthat der Unfall¬ 
gesetzgebung nicht theilhaftig werden können. 

Dass Brucheinklemmungen durch eine plötzliche, verstärkte 
Bauchpressenaktion eintreten können, bestreitet Niemand. Sie 
kommen selten als Betriebsunfälle in Frage, weil sich die Folgen 
vor Ablauf der 13. Woche ausgleichen und der Zustand des ganzen 
Individuums kaum schlechter als vorher ist; nur in Todesfällen, 
wo es sich um eine Rente für die Hinterbl ebenen handelt, wird 
ein Entschädigungsanspruch begründet sein.i 

Die Untersuchung angeblich Bruch - Unfallverletzter ist mit 
aller Sorgfalt zu führen und auf die Anamnese und die eigene Be¬ 
weisführung bezüglich des plötzlichen Entstehens Werth zu legen. 

Die von dem Reichsversicherungsamt zugebilligte Entschädi¬ 
gung von 10—15 °/ 0 entspricht durchaus den Verhältnissen. Die 
Einwendungen eines neueren Autors, dass Bräche die Erwerbs¬ 
fähigkeit nicht alteriren, sind nicht stichhaltig. 

Die Empfehlung der Radikaloperation zur restitutio ad in¬ 
tegrum ist nicht gerechtfertigt, weniger wegen der Gefahr dieses 
Eingriffes, als vielmehr aus dem Grunde, weil sie nur in ca. 61 °/ 0 
dauernden Erfolg hat. 

Die allzugrosse Häufigkeit der Bruchbildungen in Folge von 
Betriebsunfällen ist statistisch erwiesen. Bei der grossen Zahl 
von Unfällen, welche dem Reichsversicherungsamt Vorlagen, ist 
z. B. im Jahre 1892 nur in 201 Fällen Bruchschaden als Unfall 
Gegenstand des Streites gewesen, nur 38 Fälle wurden zu Gunsten 
der Kläger entschieden. 

VII. Anträge und Diskassionsgegenstände. 

a. Ueber amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte, 
sowie Untersuchungen in der Wohnung des Gerichts¬ 
arztes ohne vorheriges Aktenstudium behufs Abgabe 
eines mündlichen Gutachtens im Termin berichtet Kreis- 
physikus San.-Rath Dr. Ko lim-Berlin: Er erwähnt zunächst die 
gesetzlichen Bestimmungen über die Ausstellung „amtsärzt¬ 
licher Atteste“ und zeigt an der Hand verschiedener Beispiele, 
dass, obwohl nach den jüngsten ministeriellen Entscheidungen eine 
unentgeltliche Ausstellung nur bei Befundscheinen, aber nicht 
bei Gutachten in Frage kommen könne, trotzdem alljährlich eine 
grosse Anzahl derartiger amtsärztlicher Atteste von den Medizinal¬ 
beamten unentgeltlich ausgestellt würden; nach einer von ihm an- 
gestellten Umfrage z. B. im Jahre 1892: 638 Gutachten von 250 



198 


Eingesandt. 


Physikern, was ein Einnahmesoll von ca. 6000 Mark für diese 
repräsentire. Die Ursache daran liege jedenfalls in der verschie¬ 
denartigen und unrichtigen Auslegung der gesetzlichen Be¬ 
stimmungen und es sei daher dringend erwünscht, eine prinzipielle 
ministerielle Entscheidung herbeizuführen. Vortragender beantragt, 
den Vorstand zu beauftragen, dieserhalb in einer besonderen Ein¬ 
gabe bei dem Herrn Ressortminister vorstellig zu werden. 

Aehnlich liegen nach Ansicht des Referenten die Verhältnisse 
betreffs der zweiten von ihm in Anregung gebrachten Taxfrage: 
Die Gebühren für die Untersuchungen von Personen 
in derWohnung des Medizinalbeamten oder für Akten¬ 
studien behufs Abgabe eines mündlichen Gutachtens 
im Termin. Auch hier werde in dem einen Bezirke anders als 
in dem anderen verfahren, in jüngster Zeit sei jedoch in Folge des 
Justizministerialerlasses vom 13. Juli 1992 meist zu Ungunsten 
der Medizinalbeamten entschieden. Der Grund dazu müsse in einer 
Lücke des Gesetzes vom 9. März 1872 gesucht werden und hält es 
Referent daher für wünschenswerth, dass seitens des Vorstandes an 
das Abgeordnetenhaus eine Petition um Abänderung jenes Gesetzes 
gerichtet werde. Inzwischen empfehle es sich, in jedem einzelnen 
Falle den Beschwerdeweg bis zur letzten Instanz zu beschreiten. 

Diskussion. 

Nach kurzer Erörterung, an der sich Geh. San.-Rath Dr. Wallichs, 
Kreisphysikus Dr. Philipp (Berlin), San.-Rath Dr. Wiedner (Kottbus) 
und der Vorsitzende betheiligte, wurden die Anträge des Referenten angenommen. 

b. Die Hufeland’schen Stiftungen. 

Die Berathung dieses Antrages fiel aus, da der Referent, 
Reg. - und Med. - Rath Dr. Rapmund, seinen Aufenthalt in Berlin 
leider noch vor Schluss der Verhandlungen wegen Erkrankung 
hatte abbrechen müssen. 

Schluss der Sitzung: 2 1 j i Uhr Nachmittags. Unter 
Führung des H. Dr. Leppmann fand sodann die Besichtigung 
der Königlichen Strafanstalt zu Moabit und der damit ver¬ 
bundenen Beobachtungsanstalt für geisteskranke Verbrecher statt. 
Am Abend (9 Uhr) kamen die anwesenden Mitglieder wiederum 
bei Sedlmayr zusammen. 


Eingesandt. 

Ueber die Frage, wer die durch Znziehung eines zweiten 
Arztes hei Erkrankungen von Gefangenen entstehenden 
Kosten zu tragen hat, theüt uns Herr Kreisphysikus und Sanitäts¬ 
rath Dr. Lebram in Köslin folgenden, auch für weitere Kreise 
interessanten Fall mit: 

„Als Arzt bei dem hiesigen Bezirks - Gefängniss hatte ich mit der Unter¬ 
suchung eines Gefangenen zu thun, welcher über den plötzlichen Verlust des 
Sehvermögens auf einem Auge klagte. Da ich trotz eifrigen Bemühens nicht im 
Stande war, die Ursache des Leidens, an dessen Vorhandensein im Uebrigen 
nicht zu zweifeln war, zu ergründen, so stellte ich bei dem ersten Staatsanwalt 
des hiesigen Königl. Landgerichts den Antrag, den Gefangenen durch einen am 
Orte praktizirenden Augenarzt untersuchen zu lassen. Bevor der erstere dem 
Antrag Folge gab, suchte er von mir auf Grund des §. 6 des mit mir im Jahre 
1876 geschlossenen Vertrages eine schriftliche Erklärung herbeizuführen, dass 



Eingesandt. 199 

ich bereit sei, die Kosten einer solchen Untersuchung zu tragen. Der cit. §. 
lautet: 

„Herr Dr. L. verpflichtet sich, wenn er für seine Person an Aus¬ 
richtung der vorstehend übernommenen Verbindlichkeiten (die ärztliche 
und wundärztliche Behandlung kranker Gefangener) durch Krankheit 
oder Abwesenheit oder sonst verhindert sein sollte, sich unbedingt 
durch andere qualifizirte Medizinalpersonen, ohne Anspruch vun Ver- 
gütigung vertreten zu lassen.“ 

Im Interesse des Gefangenen und vorbehaltlich des Rechtes auf Rück¬ 
forderung erklärte ich mich zur vorläufigen Uebernahme der Kosten bereit und 
sind diese denn auch später von mir eingezogen worden. In einer hierauf an 
den Oberstaatsanwalt bei dem Oberlandesgericht in Stettin gerichteten Beschwerde 
führte ich aus, dass nach allgemeinem Sprachgebrauch ein Arzt, der zur Unter¬ 
suchung eines Kranken in dessen Interesse einen zweiten Arzt zugezogen wissen 
wolle, nicht als „verhindert“ angesehen werden könne, seine übernommenen 
Verbindlichkeiten zn erfüllen, dass bei der dem Vertrage von dem ersten Staats¬ 
anwalt untergelegten Interpretation entweder dem kontrahirenden Arzte unmög¬ 
lich von ihm zu erfüllende Verpflichtungen auferlegt würden, indem von ihm 
gefordert werde, dass er die Untersuchungsmethoden in sämmtlichen Zweigen 
der medizinischen Wissenschaft beherrsche oder die Justizverwaltung von der 
Voraussetzung ausgehe, dass Gefangene auch bei den gefahrdrohensten Krank¬ 
heiten ein Anspruch auf Theilnahme an den Errungenschaften der medizinischen 
Wissenschaft nicht zustehe. Ich führte ferner aus, dass von dem Vorgänger 
des ersten Staatsanwalts anderen Aerzten, welche ich zur Assistenz bei an Ge¬ 
fangenen auszuführenden Operationen hinzugezogen hatte, die von denselben 
liquidirte taxmässige Gebühr anstandslos bewilligt worden sei, ohne dafür von 
den kontrolirenden Rechnungsbehörden eine Erinnerung erhalten zu haben. 
Endlich führte ich aus, dass die kontrahirenden Parteien bei dem Wörtchen 
„sonst“ in dem cit. §., welches bei der gegenwärtigen Streitfrage unter den ob¬ 
waltenden Umständen nur allein in Betracht kommen könne, etwa folgende Um¬ 
stände im Sinne gehabt haben: Verhinderung des Anstaltsarztes, seiner Ver¬ 
pflichtung im Gefängniss nachzukommen, durch die Nothwendigkeit längeren 
Verweilen» bei einem am Orte wohnhaften Privatpatienten (beispielsweise behufs 
Ausführung einer Operation, einer Entbindung und dergl.), oder einer gericht¬ 
lichen Ladung als Zeuge bezw. Sachverständiger Folge zu geben, oder Verhinde¬ 
rung wegen besonderer Vorgänge in seiner Familie und anderer durch zahlreiche 
Beispiele zu illustrirender Umstände. 

Ohne auf die Würdigung meiner Gründe einzugehen, ertheilte mir der 
Oberstaatsanwalt einen vom 2. Januar d. J. datirten abweisenden Bescheid mit 
der Begründung, dass ich verpflichtet sei, mich in Fällen der Verhinderung, 
gleichviel welcher Art, durch einen qualifizirten Arzt auf meine Kosten ver¬ 
treten zu lassen (eine Vertretung ist von mir aber gar nicht verlangt worden), 
da andererseits die Absicht, die ärztliche Behandlung der Gefangenen gegen 
ein im Voraus verabredetes Honorar einen bestimmten Arzt zu übertragen, ver¬ 
eitelt werde. 

Gegen diesen Bescheid legte ich unterm 30. Januar d. J. bei dem Herrn 
Justizminister Berufung ein, worin ich den früheren Gründen, wegen deren ich 
mich durch die vorangegangenen Entscheidungen beschwert fühlte, noch den 
hinzufügte, dass, wenn diese als begründet anzuerkennen seien, mir füglich auch 
die Kosten, welche aus der Unterbringung kranker Gefangener im städtischen 
Krankenhause unter Aufrechterhaltung der Haft erwachsen, auferlegt werden 
mussten, was bisher wenigstens noch nicht geschehen sei. In einem vom 
21. März d. J. datirten Bescheide, welcher durch seine höfliche und verbindliche 
Form noch besonders wohlthuend berührte, erkannte der Herr Justizminister 
meine Beschwerde als begründet an und theilte mir mit, dass er den Ober¬ 
staatsanwalt ersucht habe, den von mir verauslagten Betrag zurückerstatten zu 
lassen. Hiernach erscheint das Recht des Anstaltsarztes, wenigstens an den dem 
Justizminister unterstehenden Gefangen - Anstalten, auf Zuziehung eines zweiten 
Arztes bei Erkrankung von Gefangenen auf justizfiskalische Kosten, in einzel¬ 
nen wohl zu begründenden Fällen und unter der selbstverständlichen Voraus¬ 
setzung, dass dies ohne erheblichen Kostenaufwand geschehen kann, von der 
höchsten Instanz als anerkannt gelten zu können, wodnrch der vorstehend ge¬ 
schilderte Fall das Allgemeininteres.se berührt. 




200 Kleinere Mittbeilnngen n. Beferate ans Zeitschriften. — Tagesnachrichten. 

Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Die Ursache der Cholera in Budapest ist nach einem Berichte 
des dortigen Stadtphysikos auf das Trinkwasser zurttckzuftthren. Die Wasser* 
Versorgung von Pest ist eine sehr mangelhafte und erhält seit länger als 
10 Jahren ein grosser Theil der Stadt ausschliesslich unfiltrirtes Donauwasser, 
das an einer Stelle geschöpft wird, in deren unmittelbarer Nähe mehrere grössere 
Strassenkanäle ohne Kloaken sich in die Donau ergiessen. Bei den Nach¬ 
forschungen über die Ursachen der Cholera stellte sich nun heraus, dass daB 
Umsichgreifen der Epidemie nicht auf mangelhafte Wohnungs- und Ernährungs¬ 
verhältnisse, unregelmässige Lebensweise u. s. w., sondern lediglich dadurch 
verursacht war, dass die Erkrankten unfiltrirtes Leitungswasser getrunken haben. 
Dagegen waren Bewohner infizirter Häuser, die die ganze Zeit hindurch nur Brun¬ 
nenwasser oder filtrirtes Leitungswasser getrunken hatten, gesund geblieben. 
Ein Stadttheil wurde z. B. bis zum 4. Oktober nur mit unfiltrirtem, von da ab 
mit filtrirtem Wasser versorgt; sofort kamen in diesem Stadttheile nur noch sehr 
wenige Cholera-Erkrankungen vor, während vorher 95 zu verzeichnen gewesen 
waren. Ebenso stieg in den anderen mit filtrirtem Wasser versorgten Stadt- 
theilen die Zahl der Cholera-Erkrankungen um das Vierfache als das Wasser¬ 
werk in Folge einer Störung der Filteranlage schlecht gereinigtes Wasser ge¬ 
liefert hatte. Nachdem seitens der Stadtverwaltung Alles anfgeboten war, die 
ganze Stadt möglichst mit filtrirtem Wasser zu versorgen, kam die Cholera sehr 
bald zum Erlöschen. (Wiener Klinische Wochenschrift; No. 12, 1893.) 


Tagesnachrichten. 

Der fünfte Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie 
wird vom 25.—27. Mai d. J. in B r e s s 1 a u tagen. Die Sitzungen werden Vormittags 
von 8—12 und Nachmittags von 2—4 Uhr in der Universitätsfrauenklinik abge¬ 
halten werden. Zur Diskussion stehen die Themata: „Die Symphyseotamie“ 
und die „Adnezoperationen, Technik und Erfolge“ auf der Tages¬ 
ordnung. Anmeldungen von Vorträgen und Demonstrationen sind bis Anfang 
April an den ersten Vorsitzenden des Vorstandes (Geh. Med.-Rath Prof. Dr. 
Fritsch in Breslau, Minzstrasse 5) zu richten. 


65. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte Nürnberg. 
Durch Rundschreiben vom März d. J. laden die Vorstände der Abtheilungen für 
Hygiene und Medizinalpolizei (Hofrath Dr. Stich, als Einführender, 
Adlerstrasse 6 und Dr. Goldschmidt, Weinmarkt 12) und für gerichtliche 
Medizin (Landgerichtsarzt Dr. Hof mann, Fttrtherstrasse 53 und Dr.Stein- 
heimer, Gostenhofer Hauptstrasse 5) die Fachvertreter zur Theilnahme an 
der Versammlung ein und bitten, etwaige Vorträge und Demonstrationen bis 
Ende Mai bei den Einführenden anznmelden, damit die im Juli d. J. abzusen¬ 
denden allgemeinen Einladungen bereits eine vorläufige Uebersicht der Abthei- 
lungs-Sitzungen bringen können. 


Den Physikern des Herzogthums Bi;aunschweig ist auf ihr Gesuch 
betreffs Errichtung von Fortbildungskursen (s. Nr. 3 der Zeitschrift S. 75) 
unter Hinweis auf die vom Kaiserlichen Gesundheitsamte eingerichteten Cholera¬ 
kurse abschläglicbe Antwort crtheilt worden. 


Cholera. Durch Einschleppung aus Russland sind Ende vorigen Monats 
und Anfang d. Monats wieder 10 Choleraerkrankungen in Galizien, und zwar 
3 in Zalucze und 8 in Kudrynce (Bezirk Borszczow) vorgekommen. Von den Er¬ 
krankten sind 6 gestorben. 

Auch aus Frankreich wird das Auftreten der Cholera im Arrondisse¬ 
ment und in der Stadt Lorient gemeldet. Die Zahl der Erkrankungen hält sich 
jedoch bis jetzt in massigen Grenzen. 

Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W 

J. 0. 0. Brun*, Bochdruokerel, Minden. 




Preussischer Medizinalbeamten -Yerein. 


Offizieller Bericht 


über die 

Zehnte Haupt V ersammlung 

ZU 

BERLIN 

am 10. and 11. April 1893. 



Berlin 1893. 

FISCHER’S MEDIZINISCHE BUCHHANDLUNG. 

H. Kornfeld. 




Inhalt. 


Erster Sitzungstag*. Seite. 

1. Eröffnung der Versammlung. 1 

2. Geschäfts- und Kassenbericht; Wahl der Kassenrevisoren. 5 

3. Der Entwurf eines Gesetzes betreffend die Bekämpfung gemeingefähr¬ 

licher Krankheiten (Regierangs• und Medizinalrath Dr. Rapmund- 7 

Minden). 7 

4. Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbcamten (Kreisphysikus Dr. 

Fieütz-Halle a. S.). 54 


Zweiter Sitzungstag. 

1. Zur Lehre yon der Arsenvergiftung (gerichtl. Stadtpbysikus u. Privat¬ 

dozent Dr. Strassmann-Berlin). 72 

2. Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene (Irren- u. Strafanstalts¬ 

arzt Dr. Leppmann-Moabit). 90 

3. Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens (Kreisphysikus Dr. 

Meyhöfer-Görlitz). 96 

4. Bericht der Kassenrevisoren und Vorstandswahl . ..111 

5. Demonstration eines Cholera-Kastens (Reg.-Rath Dr. Petri-Berlin). 118 

6. Ueber Unfall und Bruchschaden (Kreisphysikus Dr. Grisar-Trier) . 116 

7. Diskussionsgegenstände (Bezirks-Physikus u. San.-Rath Dr. Ko 11m- 

Berlin). 

a) Amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte.135 

b) Die Gebühren für die Untersuchungen vob Personen in der 

Wohnung des Medizinalbeamten oder für Aktenstudium 
behufs Abgabe eines mündlichen Gutachtens im Termin . 140 

Anlage zu dem Vortrage des Reg.- u. Mediz.-Raths Dr. Rapmund, 

betreffend den Entwurf des Reichsseuchengesetzes.147 


Mitgliederverzeichniss.. 154 

















Erster Sitznngstag. 

Montag, den 10. April, Vormittags 9 1 /« Ulir, 

im Sitzungmaie des Langenbeck-Hauses (Ziegelstrasse). 


I. Eröffnung der Versammlung. 

H. Reg.- und Geh. Med.-Rath Dr. Kanzow (Potsdam), Vor¬ 
sitzender: Hochgeehrte Herren! Wir treten heute in die zehnte 
Generalversammlung ein. Es war am 19. September 1883, als 
ich die Ehre hatte, die erste Versammlung des Vereins im Archi¬ 
tektenhause zu eröffnen. Die späteren Versammlungen haben dann 
in der Theerbusch’schen Ressource und hierauf in den für unseren 
Beruf mehr ansprechenden Räumen des Hygienischen Instituts 
stattgefunden; heute sind wir jedoch stimmungsvoll und gleichwie 
zur Feier des erfreulichen zehnjährigen Bestehens des Vereins in 
die Stätte eingezogen, welche als Glanzpunkt ärztlicher Vereini¬ 
gungen auf dem ganzen Erdenrunde bekannt ist. Es kann nur 
unser Wunsch sein, dass der Verein hier in einer der äusseren 
Ausstattung entsprechenden Weise auch im Innern fernerhin 
gedeihe. 

Der Verein wurde eröffnet mit einer Zahl von 289 Mitgliedern, 
von denen bei der ersten Versammlung 130 anwesend waren. Er 
hat seitdem von jeder Seite erfreuliche und dankbar anzuerkennende 
Förderung erfahren. Der damalige Kultusminister H. v. Gossler 
sprach es aus, dass er die Bildung des Vereins freudig begrüsse 
und dem weiteren Gedeihen sein Interesse zuwenden werde. Dieses 
Interesse ist dem Vereine bei unserer höchsten Behörde erhalten 
geblieben, was uns u. A. auch dadurch bestätigt wird, dass die 
Herren Räthe des Medizinalministeriums es nicht verschmäht 
haben, anwesend zu sein, wenn wir tagten. Auch heute haben 
wir die Freude und die Ehre, sie unter uns begrüssen zu dürfen. 

Der Verein ist in seiner Fntwicklung stetig fortgeschritten. 
Wir haben jetzt, wie Sie aus dem vorliegenden Mitgliederver- 
zeichniss entnehmen wollen, 532 Mitglieder. Wenn es ihm nun 
zwar nicht vergönnt gewesen ist, die Aufgaben, die er sich ge¬ 
stellt hat, und die in §. 1 unserer Satzungen zum Ausdruck gebracht 
sind, vollständig zu lösen, so können wir doch mit Befriedigung 



2 


Eröffnung der Versammlung. 


erklären, dass er nicht unthätig geblieben ist und günstige Erfolge 
erzielt hat. Schon die gegenseitige Annäherung der Kollegen, 
die zum Tlieil aus den fernsten Gegenden unseres Vaterlandes 
hierher gekommen sind, — wie wir auch heute wieder die Freude 
haben, Herren sowohl aus dem fernsten Osten, wie aus dem 
fernsten Westen unter uns zu sehen — hat nicht nur das kolle- 
gialische Verhältniss unter uns befestigt, sondern auch schätzens- 
wertlie bleibende Erfolge gezeitigt. Eine Reihe interessanter und 
trefflicher Vorträge, welche gehalten und in unseren Jahresberichten 
niedergelegt worden sind, hat zu ebenso lebhaften, wie nützlichen 
und erspriesslichen Besprechungen geführt; denn nicht nur in 
unserem Kreise, sondern weithin sind die Ergebnisse dieser Vor¬ 
träge und Diskussionen bekannt und gewürdigt worden. 

Wenn in einem Punkte, auf dem Gebiete der berechtigten 
Interessen der Medizinalbeamten, noch nicht das erreicht ist, was 
die Mehrzahl der Medizinalbeamten erstrebt, so ist das ein Beweis 
für die Schwierigkeit der Regelung gerade dieses Gegenstandes, 
welche zu grosser Bedachtsamkeit auffordert. Es ist wohl nicht 
allein das finanzielle Bedenken, welches allerdings von wesentlicher 
Bedeutung ist, sondern es dürfte auch wohl eine gewisse Scheu 
walten, an dieser alten und vielfach bewährten Stellung der Medi¬ 
zinalbeamten zu rütteln und zu ändern, ehe nicht die Ziele voll¬ 
ständig klar liegen, welche durch die Thätigkeit der Medizinal¬ 
beamten erreicht werden müssen. 

Der Wechsel der Zeiten und Ansichten ist den Medizinal¬ 
beamten in dieser Beziehung nicht eben günstig gewesen. Ich 
denke hierbei namentlich an die hygienische Beaufsichtigung 
der industriellen Anlagen durch die Fabrikinspektoren, oder Ge- 
werberäthe, wodurch den Medizinalbeamten ein Zweig ihrer Thätig¬ 
keit, auf den sie durch ihre Ausbildung, Prüfung und alles Andere 
hingewiesen waren und der von ihnen auch wesentlich gefördert 
worden ist, fast gänzlich entzogen wurde. 

Uebrigens hat die Frage einer anderweitigen Ordnung der 
Berufstliätigkeit des Medizinalbeamten den Verein im Laufe der 
Jahre reichlich beschäftigt, besonders im Jahre 1886, wo im Früh¬ 
jahr von einer Deligirtenversammlung das Material zu einer ein¬ 
gehenden Besprechung vorbereitet wurde, aus welcher bekanntlich 
6 Thesen hervorgingen, die dann im Herbst von der Generalver¬ 
sammlung fast einstimmig angenommen wurden. 

Wir haben nun erfreulicher Weise in neuester Zeit die 
Genügtliuung gehabt, zu hören, dass die berechtigten Wünsche 
der Medizinalbeamten von unseren höchsten Behörden wohlwollend 
gewürdigt werden. Auch hat der Herr Minister der Medizinal¬ 
angelegenheiten üfientlich erklärt, dass die Thätigkeit insbesondere 
der Kreismedizinalbeamten eine riihmenswerthe gewesen ist. Es 
lässt sich demnach nicht bezweifeln, dass die vielfach gewünschte 
Erweiterung dieser Thätigkeit Förderung finden wird, soweit sich 
dies mit den dabei weiter in Betracht kommenden staatlichen 
Einrichtungen vereinbaren lässt. Schon der Entwurf des Seuchen¬ 
gesetzes, welchen wir heute unserer Besprechung unterziehen 



Eröffnung der Versammlung. 


3 


wollen, räumt bekanntlich den Medizinalbeamten eine grössere 
Freiheit ihrer Bewegung ein. — 

Wie die unwandelbaren Naturgesetze es leider mit sich 
bringen, ist seit unserer letzten Versammlung eine Zahl von Mit¬ 
gliedern dem Vereine durch den Tod entrissen worden. Es sind dies: 

1. Dr. Altmann, Kreis-Physikus a. D. und Sanitätsratli in Berlin. 

2. - Burghard, Geh. Medizinalrath in Hannover. 

3. - Cohn, Geh. Medizinalrath. 

4. - Delbrück, Kreis-Physikus a. D. u. Geh. SanitätsRatk in Halle a. S. 

5. - Dietrich, Regierungs- und Medizinalrath in Posen. 

6. - Heer, Kreis-Physikus a. D. und Geh. Sanitäts-Rath in Beuthen. 

7. - Hövener, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Werne. 

8. - Karsch, Professor und Geh. Medizinalrath in Münster. 

9. - Leo, Kreis-Physikus u. Geh. Sanitätsrath in Bonn. 

10. - Lindner, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Angermünde. 

11. - Lüning, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Diepholz. 

12. - Rehder, Kreis-Physikus in Apenrade. 

13. - Rockwitz, Regierungs- und Medizinalrath in Kassel. 

14. - Roquette, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Iuowrazlaw. 

15. - Schirmer, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Grün borg. 

16. - Silomon, Kreis-Physikus in Norden. 

17. - Sonntag, Kreiswundarzt und Sanitäts-Rath in Allenstein. 

18. - Ulm er, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Dramburg. 

19. - Voigt, Regierungs- und Medizinal-Rath in Magdeburg. 

20. - Wiener, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Graudenz. 

Das Andenken dieser Verstorbenen wird uns in Ehren bleiben. 
Ich bitte Sie, dieses dadurch zu bestätigen, dass Sie sich von den 
Sitzen erheben. 

(Geschieht.) 

M. H.! Gestatten Sie mir noch, Herrn Wirkl. Geh. Ober- 
Reg.-Rath Ministerialdirektor Dr. Bartsch, der inzwischen 
erschienen ist, um unsere heutige Versammlung im Aufträge des 
Herrn Ministers mit seiner Gegenwart zu beehren, im Namen des 
Vereins zu begrüssen. 

(Die Anwesenden erheben sich.) 

H. Ministerialdirektor Dr. Bartsch: M. H. ! Der Herr Medi¬ 
zinalminister, in dessen Aufträge ich in Ihrer Mitte erscheine, 
bedauert aufrichtig, dass er durch andere dringende Amtsgeschäfte 
verhindert ist, Sie beim Eintritt in Ihre Berathungen willkommen 
zu heissen. Se. Exzellenz entbietet der Versammlung durch mich 
seinen herzlichen Gruss und ich entledige mich dieses Auftrages 
um so lieber, als mir dadurch von Neuem Gelegenheit geboten 
wird, an Ihren Verhandlungen Theil zu nehmen. 

Wiederum, meine Herren, haben Sie Sich zu gemeinsamer 
ernster Arbeit, zum Austausch von Meinungen, zur Pflege per¬ 
sönlicher Beziehungen vereinigt, nachdem im vorigen Jahre die 
schon anberaumte Sitzung aus bekannten Gründen hat ausfallen 
müssen. Seitdem haben wir in den durch die Clioleragefahr be¬ 
drohten Landstrichen sorgenvolle Tage verlebt, ohne dass sicli 
Gottlob! die gehegten Befürchtungen verwirklicht haben. Im 
Gegentheil haben wir bei der hingehenden Mitarbeit aller Be¬ 
theiligten dankenswerthe Erfolge erzielt, und es gereicht mir zur 



4 


Eröffnung der Versammlung. 


besonderen Freude, auch in diesem Kreise an die Allerhöchste 
Ordre vom 17. Oktober v. J. erinnern zu dürfen, durch welche 
Seine Majestät der Kaiser und König dies huldreichst anzuer¬ 
kennen die Gnade gehabt haben. Die an den Herrn Medizinal- 
minister gerichtete Allerhöchste Ordre lautet (die Anwesenden 
erheben sich): 


„Ich habe von Ihrem Mir unterm 4. d. Mts. erstatteten Be¬ 
richt über die Choleragefahr in Preussen und die zu ihrer Be¬ 
kämpfung angeordneten Massnahmen mit lebhafter Befriedigung 
Kenntniss genommen. Die getroffenen Vorkehrungen finden 
Meine volle Billigung. Ich bin sehr erfreut, dass die auf 
wissenschaftlicher Forschung und praktischer Erfahrung be¬ 
ruhenden Anordnungen von allen dazu berufenen staatlichen und 
kommunalen Organen mit grosser Umsicht und regem Eifer zur 
Ausführung gebracht sind und auch bei der Bevölkerung ver¬ 
ständnisvolle Aufnahme und Beachtung gefunden haben. Wenn 
es unter des Allmächtigen gnädigem Schutze und sichtlichem 
Beistände bisher gelungen ist, die Choleragefahr im Lande so 
erfolgreich zu bekämpfen, und die zuversichtliche Hoffnung auf 
ein baldiges völliges Erlöschen der Seuche berechtigt erscheint, 
so hat hierzu, wie Mir wohl bewusst ist, die aufopferungsvolle, 
pflichttreue und zielbewusste Arbeit der Behörden und einzelnen 
Beamten wesentlich beigetragen. Ich kann es Mir daher nicht 
versagen, allen Betheiligten Meinen wärmsten Dank und Meine 
besondere Anerkennung hiermit auszusprechen, und ersuche Sie, 
dies in geeigneter Weise zu ihrer Kenntniss zu bringen.“ 

Marmor - Palais, den 17. Oktober 1892. 


An 


gez. Wilhelm R. 


den Minister der geistlichen, Unterrichts 
und Medizinal - Angelegenheiten. 


Diese Allerhöchste Kundgebung ist der Stolz der Medizinal¬ 
verwaltung und es hat jeder von uns, der zur Bekämpfung der 
Seuche mitzuwirken berufen ist, seinen freudigen Antheil daran. 
Sie soll uns ein Sporn sein, bei etwaiger Wiederkehr der Gefahr 
alle unsere Kräfte einzusetzen zum Wohle des Vaterlandes! 

Ihre diesmalige Tagesordnung, meine Herren, beweisst, wie 
eifrig Sie bemüht sind, durch reichhaltige Gestaltung derselben 
wichtige Fragen der Sanitätspolizei und der Medizinalverwaltung 
in den Kreis Ihrer Berathungen zu ziehen. Der Herr Minister 
wünscht lebhaft, dass Ihre Berathungen dem allgemeinen Besten 
zum Nutzen gereichen und dass sie auch dazu beitragen mögen, 
die Zusammengehörigkeit der Mitglieder Ihres Vereins fester zu 
begründen, den Sinn für Kollegialität zu stärken und Ihre Ver¬ 
sammlungen immer mehr das werden zu lassen, was sie sein 
sollen, — eine fruchtbringende und segensreiche Vereinigung der 
Preussischen Medizinalbeamten!“ 

(Lebhafter Beifall.) 



Geschäfts- und Kassenbericht; Wahl der Revisoren. 


5 


Vorsitzender: Hochverehrter Herr Ministerialdirektor! Ge¬ 
statten Sie mir, Ihnen im Namen des Vereins den verbindlichsten 
Dank für die so überaus wohlwollenden Worte auszusprechen, mit 
denen Sie unsere Versammlung begrüsst und unserer Vereinsbestre¬ 
bungen gedacht haben. Ich darf hiermit wohl gleichzeitig die 
gehorsamste Bitte verbinden, diesen Dank dem Herrn Medizinal¬ 
minister hochgeneigtest übermitteln zu wollen. 

M. H.! Wir haben heute auch die Freude und Ehre, als 
Vertreter Ihrer Excellenzen des Herrn Ministers des Innern und 
des Herrn Staatssekretärs des Reichsamts des Innern, die Herren 
Vortragenden Räthe Geh. Reg.-Rath Dr. Kr oh ne und Geh. Ober- 
Reg.-Rath Dr. Hopf in unserer Mitte begrüssen zu können. Indem 
ich dies hiermit im Namen des Vereins thue, sage ich den Herren 
gleichzeitig für ihr Erscheinen den herzlichsten Dank. 


n. Geschäfts- und Kassenbericht; Yahl der 
Kassenrevisoren. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund (Minden), Schrift¬ 
führer: M. H.! Die auf der letzten Versammlung von einigen 
Seiten geäusserte Befürchtung, dass durch die damals beschlossene 
Erhöhung der Beiträge eine Anzahl von Mitgliedern austreten 
würde, hat sich nicht bewahrheitet; im Gegentheil, der Verein hat 
noch niemals in einem Geschäftsjahre so viel neue Mitglieder 
erhalten, wie im letzten; denn dem ungemein hohen Verluste von 
20 Mitgliedern durch den Tod, steht ein Zuwachs von 46 neuein- 
getretenen Mitgliedern gegenüber. Der Verein zählt somit z. Z. 
532 J ) Mitglieder, fast die doppelte Zahl als bei seiner Gründung 
vor 10 Jahren (289). Von sämmtlichen preussischen Medizinal¬ 
beamten sind 60,7 °/o dem Vereine beigetreten (1883: 32,0 %) und 
zwar von den Mitgliedern der Zentral- und Regierungsmedizinal¬ 
behörden 57 = 60,0 % (1883: 26 = 27,4 %), von den Kreisphysikern 
385 = 73,8 % (1883: 188 = 41,8 %), von den Kreiswundärzten 
91 = 34,7 % (1883: 75 = 21,0 %). Fast drei Viertel der Kreis¬ 
physiker sind demnach Mitglieder des Vereins; während von den 
Kreis Wundärzten sich auffallender Weise nur ein Drittel dem Ver¬ 
eine angeschlossen hat. Die Ursache davon dürfte wohl zum Theil 
darin liegen, dass wir gleich in der ersten Versammlung das In¬ 
stitut der Kreiswundärzte für überflüssig erklärt haben und in 
Folge dessen bei diesen Amtskollegen kein allzugrosses Vertrauen 
zu geniessen scheinen. (Heiterkeit.) Auch in den einzelnen Provinzen 
ist das Interesse der Medizinalbeamten an dem Vereine ein ver¬ 
schiedenes, wie die nachstehende Zusammenstellung zeigt. Dar¬ 
nach gehören dem Vereine an von den Medizinalbeamten der 
Provinz: 


l ) Inzwischen auf 536 Mitglieder gewachsen. 



6 


Geschäfts- und Kassenbericht; Wahl der Revisoren. 


Ostpreussen:. 

40,0 

1 0 

gegenüber 16,0 

Ol 

Io 

im Jahre 1883 

Westpreussen:. 

54,0 

yy 

Yf 

35,0 

n 

Yf 

Brandenburg mit Berlin: 

74,7 

n 

yy 

55,0 

Yf 

Yf 

Pommern:. 

66,6 

Yf 

T ) 

32.0 

Yt 

Yf 

Posen:. 

76,5 

V 

Yf 

30,0 

rt 

Yf 

Schlesien: . 

53,5 

v 

yt 

28,0 

Yf 

Yf 

Sachsen:. 

77,3 

Yf 

Yf 

40.0 

Y) 

Y) 

Schleswig-Holstein: . . . 

44,1 

jy 

Yf 

28,0 

Yf 

Yf 

Hannover:. 

78,3 

yy 

Yf 

44,0 

Yf 

Yf 

Westfalen:. 

67,6 

n 

Y ) 

25,0 

Yf 

Yf 

Hessen - Nassau: . . . . 

44,3 

Yf 

r> 

21,0 

n 

Yf 

Rheinprovinz u. Sigmaringen: 

50,4 

yy 

Yf 

22,0 

rt 

n 


Was die finanziellen Verhältnisse des Vereins betrifft, so 
haben sich dieselben ebenso wie in den früheren Jahren ganz 
günstig gestaltet. Der Gesammteinnahme von 6212,86 Mark 
(6107,86 an Beiträgen und 105 Mark an Zinsen) steht eine Aus¬ 
gabe von 6028 Mark gegenüber, so dass sich ein reclmungsmässi- 
ger Ueberschuss von 184,86 Mark ergiebt, durch den sich das 
Vereins vermögen auf 3163,81 Mark erhöht. Hiervon sind 2978,95 M. 
in 3Vs preussische Konsols belegt und 184,86 Mark baar in der 
Kasse vorhanden. 

M. H.! Sie erinnern sich, dass wir in der letzten Versamm¬ 
lung beschlossen haben, dass in streitigen Taxfragen von prin¬ 
zipieller Bedeutung, in denen die Herbeiführung einer gerichtlichen 
Entscheidung in höchster Instanz angezeigt erscheint, die entstehen¬ 
den Prozesskosten erforderlichen Falls auf die Vereinskasse 
übernommen werden sollen. In Folge dieses Beschlusses sind 
mit Einverständnis des Vorstandes verschiedene derartige Pro¬ 
zesse bis in die höchste Instanz durchgeführt, aber leider 
nicht immer mit günstigem Erfolg. Grosse Kosten sind dem Ver¬ 
eine jedoch dadurch bisher noch nicht erwachsen. In verschiede¬ 
nen Fällen war übrigens die Einleitung eines Prozesses gar 
nicht nothwendig. Hier handelte es sich meist um unrichtig aut- 
gestellte Liquidationen oder um ungerechtfertigt beanspruchte 
Gebühren, so dass eine entsprechende Aufklärung an der Hand der 
gesetzlichen Bestimmungen genügte, um die zweifelhafte Taxfrage 
zu entscheiden. M. H., die Thätigkeit des Schriftführers ist durch 
diese ziemlich häutigen Anfragen seitens der Kollegen in Taxan- 
gelegenheiten allerdings wesentlich gesteigert; ich habe mich dieser 
Mühe sehr gern unterzogen und stehe auch ferner in dieser Hin¬ 
sicht jeder Zeit zur Verfügung. 

Vorsitzender: Wünscht Jemand zu dem Geschäfts- und 
Kassenbericht das Wort zu ergreifen? Da dies nicht der Fall 
ist, so können wir gleich zur Wahl der Kassenrevisoren über¬ 
gehen und schlage ich hierzu die Kreisphysiker Dr. Struntz 
(Jüterbogk) und Dr. Elten (Angermünde) vor. 

(Allgemeine Zustimmung.) 











Dr. Rapmnnd: Der Entwarf eines Gesetzes betreff, die Bekämpfung etc. 7 


III. Der Entwurf eines Gesetzes betreffend die 
Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 

Herr Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmnnd: M. H.! Das Be¬ 
dürfnis nach dem Erlass eines Reichsgesetzes zur Bekämpfung 
gemeingefährlicher Krankheiten ist bereits so oft von Aerzten, Me- 
dizinalbeamteu und Hygienikern sowohl, als von den gesetzgeben¬ 
den Körperschaften anerkannt, dass es kaum erforderlich erscheint, 
hierüber noch ein Wort zu verlieren. Allerdings bestehen in allen 
Bundesstaaten derartige gesetzliche Vorschriften, dieselben sind aber 
so verschiedenartig und zum Theil so veraltet und nicht mehr mit 
den neuesten Fortschritten der Wissenschaft auf diesem Gebiete in 
Einklang stehend, dass auf Grund dieser Bestimmungen ein erfolg¬ 
reicher Kampf gegen die in Deutschland hauptsächlich in Betracht 
kommenden ansteckenden Krankheiten nicht geführt werden kann. 
Ich erinnere Sie nur, m. H., an das in unserem engeren Vater¬ 
lande zur Zeit noch in den alten Provinzen gültige Regulativ 
vom 8. August 1835, dessen Erlass seiner Zeit als eine grosse 
sanitätspolizeiliche That betrachtet werden musste und das fast 
allen ähnlichen Verordnungen Jahrzehnte hindurch als Muster ge¬ 
dient hat. Aber sehr bald stellte sich heraus, dass die Vorschrif¬ 
ten dieses Regulativs nicht mehr völlig zeitgemäss und zweckent¬ 
sprechend waren, so dass höheren Orts eine Abänderung derselben 
schon im Jahre 1857 in Aussicht genommen wurde. Leider ist aber 
diese Abänderung dainals ebenso wie im Jahre 1873, wo sie von 
Neuem angeregt wurde, unterblieben, zuletzt jedenfalls aus dem 
Grunde, weil man sich mit Recht sagte, dass die Aufgabe der Be¬ 
kämpfung der Volksseuchen nur durch einheitliche Vorschriften für 
das gesammte Reichsgebiet in befriedigender Weise gelöst werden 
könne. Man hat sich daher in Preussen bei einzelnen im Regu¬ 
lativ nicht vorgesehenen ansteckenden Krankheiten, wie Diphtherie, 
Wochenbettfieber und epidemischem Kopfgenickkrampf, durch Poli¬ 
zeiverordnungen geholfen; es ist ferner in einzelnen Regierungs¬ 
bezirken bei Scharlach und Ruhr, vereinzelt auch bei Masern die 
obligatorische Anzeigepflicht eingeführt — im Regulativ ist be¬ 
kanntlich bei diesen Krankheiten nur die fakultative Anzeigepflicht 
vorgesehen —, während andererseits die im Regulativ in Bezug 
auf Krätze, Syphilis und Weichselzopf getroffenen Bestimmungen 
als völlig veraltet gar keine Beachtung mehr gefunden haben. 

In ähnlicher Weise wie in Preussen ist auch der Entwicke¬ 
lungsgang der in Rede stehenden Gesetzgebung in den anderen 
deutschen Bundesstaaten gewiesen, nur mit dem Unterschiede, dass 
viele von diesen in den letzten 40 Jahren unter Aufhebung der 
älteren Bestimmungen neuere, zeit geinässere erlassen und somit 
eigentlich den grössten deutschen Bundesstaat nach dieser Rich¬ 
tung hin überflügelt haben. Auch in den neuen preussischen 
Provinzen, in denen das Regulativ vom 8 . August 1835 keine 
Geltung hat, ist das Verfahren behufs Bekämpfung ansteckender 
Krankheiten fast ausnahmslos durch Polizeiverordnungen der ein- 



8 


Dr. R&pmund. 


zelnen Bezirksregierungen neu geregelt, ohne daes aber diese Vor¬ 
schriften wiederum unter sich tibereinstimmen. 

Bei diesem getrennten Vorgehen der einzelnen Bundesstaaten 
in Bezug auf die Regelung dieses wichtigen Th eiles der Gesund¬ 
heitspolizei ist es daher nicht zu verwundern, dass, wie schon er¬ 
wähnt, die einschlägigen Bestimmungen sehr erheblich von ein¬ 
ander abweichen. Eine erfolgreiche Bekämpfung der anstecken¬ 
den Krankheiten ist aber nur dann gesichert, wenn auf der ganzen 
Kampfeslinie zielbewusst und mit gleichen Waffen vor¬ 
gegangen wird; denn die Volksseuchen machen bekanntlich nicht 
vor den Grenzpfahlen der einzelnen Bundesstaaten Halt, sondern 
treten im Osten des Reiches genau so aut wie im Westen, in 
Bayern, Württemberg oder Baden genau so wie in Preussen, 
Sachsen u. s. w. Wir können der Reichsregierung somit nur im 
hohen Grade dankbar sein, dass sie sich entschlossen hat, diesem 
zur Zeit in Deutschland bestehenden Missstande der Verschie¬ 
denartigkeit des Verfahrens bei Bekämpfung ansteckender 
Krankheiten durch Erlass einheitlicher, reichsgesetz¬ 
licher Vorschriften ein Ende zu machen. Auch der vorjäh¬ 
rigen Choleraepidemie gebührt in gewissem Sinne unser Dank, da 
sie die Vorlage des betreffenden Gesetzentwurfs wesentlich be¬ 
schleunigt hat. Gerade zu jener Zeit hat sich der Mangel eines 
Reichsgesetzes, durch den ein einheitliches, die Behörden im ganzen 
Reiche ohne Weiteres bindendes Verfahren sicher gestellt ist, 
in empfindlicher Weise geltend gemacht. Es wurden aus über¬ 
triebener Cholerafurcht besonders von den örtlichen Behörden An¬ 
ordnungen getroffen, die nicht nur Handel und Wandel empfindlich 
schädigten, sondern sogar den Witzblättern geeigneten Stoff für 
ihre Spalten boten. Ich erinnere Sie, m. H., in dieser Hinsicht 
nur an die Verordnung eines westfälischen Amtmanns, durch die 
den Amtseingesessenen das Fangen von Fliegen polizeilich auf¬ 
gegeben wurde, da durch diese möglicher Weise die Cholera ver¬ 
breitet werden könnte. In der Verordnung war nur die eigent¬ 
lich dazu gehörige Bestimmung vergessen, dass jeder Amtsein¬ 
gesessene bei Strafe von so und soviel Mark dem gestrengen Herrn 
Amtmann täglich eine bestimmte Anzahl Fliegen todt oder lebendig 
abzuliefern hätte (allgemeine Heiterkeit). 

Fragen wir uns nun, ob der dem Bundesrathe vorgelegte 
Entwurf den in sanitätspolizeilicher Hinsicht zu stellenden An¬ 
forderungen entspricht, so müssen wir diese Frage zweifellos be¬ 
jahen, insoweit es sich um den ursprünglichen und nicht um 
den durch den Bundesrath abgeänderten und in dieser abgeänder¬ 
ten Form dem Reichstage vorgelegten Entwurf handelt. Es ist 
Ihnen ja bekannt, dass der Gesetzentwurf in der letzten Bundes¬ 
rathssitzung besonders in Bezug auf diejenigen Krankheiten, auf 
die er Anwendung finden soll, wesentlich eingeschränkt ist. *) Man 

*) Die hauptsächlichsten Aenderungen, welche der Entwurf durch Beschluss 
des Bundesrathes erfahren hat, sind folgende: 

1. An Stelle des Wortes „Ortspolizeibehörde“ ist überall „Polizeibehörde“ 

gesetzt, 



Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 9 


hat den Gesetzentwurf lediglich auf Cholera, Fleckfieber, Pocken, 
Gelbfieber und Pest beschränkt, Krankheiten, die in Deutschland 
entweder gar nicht (Gelbfieber und Pest) oder, abgesehen von der 
Cholera, so selten Vorkommen, dass sie als gemeingefährliche 
Krankheiten gar nicht bezeichnet werden können, während anderer¬ 
seits die gefährlichsten heimischen ansteckenden Krankheiten, wie 
Typhus, Rtickfallfieber, Diphtherie und Krupp, Scharlach, Ruhr 
und Wochenbettfieber im Entwürfe gestrichen sind. Welche Ver¬ 
luste an Menschenleben aber gerade diese Krankheiten alljährlich 
herbeiftihren, dafür giebt uns die Mortalitätsstatistik den besten 
Beweis; denn nach dem Mittel der Jahre 1886—1891 starben in 
PreusBen von 100000 Lebenden jährlich an Typhus: 23,7, an 
Diphtherie und Krupp: 151,1, an Scharlach: 28,7, an Ruhr: 3,5 
und im Kindbett: 18,0 Personen, zusammen also 225 Personen 
= 67 500 der Gesammtbevölkerung bezw. aufs deutsche Reich 
berechnet: 112000 Personen. Und alle diese Krankheiten müssen 
nach dem Standpunkte der heutigen Wissenschaft zu den ver¬ 
meidbaren gerechnet werden und können durch sorgfältige 
Durchführung gesundheitlicher Massnahmen mit Erfolg einge¬ 
schränkt werden. 

Forschen wir nach den Gründen, warum der Entwurf in 
dieser Weise verkürzt ist, so dürften zunächst die besonders in 
Süddeutschland zu Tage getretenen partikularistischen Strömungen 
gegen den Entwurf nicht ganz ohne Einfluss gewesen sein. Viel¬ 
leicht hat auch der von dem erweiterten Geschäftsausschuss des 
Deutschen Aerztevereinsbundes jüngst gefasste Beschluss, den Ent¬ 
wurf nur auf die im §. 1 Abs. 1 genannten Krankheiten, Cholera, 


2. Im §. 1 ist die Bestimmung, dass jede Erkrankung an Darmtyphus, 
Diphtherie, einschliesslich Krupp, Rückfallfieber, Ruhr, (Dysenterie) 
und Scharlach zur Anzeige gebracht werden soll, ebenso in Fortfall gebracht 
wie die im §. 3 vorgesehene Anzeige bei Erkrankungen an Wochenbettfieber. 

3. Die im f. 4 getroffene Bestimmung, dass bei Erkrankungen an Cholera, 
Pocken, Fleckfieber, Gelbfieber und Pest die Anzeige auch an den beamteten 
Arzt zu erstatten sei, ist gestrichen. 

4. Im §. 2 sind von den zur Anzeige verpflichten Personen die unter 
Nr. 4 und 5 aufgeführten grossj&hrigen Familienmitglieder des Haushaltes oder 
sonstigen Haushaltsgenossen gestrichen. 

6. Im §. 12 heisst es jetzt statt „kranke und verdächtige“ Personen: 
„Kranke, krankheits- oder ansteckungsverdächtige“ Personen können 
einer Beobachtung unterworfen u. s. w. 

6. Die Vorschriften bei Ausbreitung einer übertragbaren Augenkrank¬ 
heit (§. 21 des Entwurfs) sind gestrichen. 

7. Im §. 24 ist von einem Verbote des Einlasses von Seeschiffen Ab¬ 
stand genommen und der Einlass derselben nur von der Erfüllung gesundheits- 
polizeificher Vorschriften abhängig gemacht. 

8. Entschädigungen sollen nur für Gegenstände gewährt werden, die durch 
die polizeilich angeordnete und überwachte Desinfektion vernichtet oder so 
geschädigt sind, dass sie in ihrer bisherigen Art nicht mehr ver¬ 
wendet werden können. Ausserdem erfolgt die Entschädigung nur auf 
Antrag. 

9. In den Strafvorschriften (§. 43 Abs. 3) ist »in Zusatz gemacht, dass 
auch in den Fällen, wo bei wissentlicher Verletzung der betreffenden Vorschrif¬ 
ten ein Dritter von der Krankheit ergriffen ist, die Möglichkeit mildernder Um¬ 
stände zugelassen und die Strafe dann bis auf eine Woche Gefängniss erniedrigt 
werden kann. 



10 


Dr. Rapmund. 


Fleckfieber, Pocken, Gelbfieber und Pest zu beschränken, in die¬ 
sem Sinne mitgewirkt. Dass ein derartiger Beschluss seitens des 
Geschäftsausschusses gefasst werden konnte, darüber muss man 
sich allerdings um so mehr wundern, als dieser Beschluss mit dem 
von dem Aerztetage im Jahre 1883 angenommenen Beschlüssen 
über den Erlass eines Reichsseuchengesetzes in vollem Wider¬ 
spruch steht. Die Beweggründe zu jenem Beschlüsse scheinen 
jedoch ziemlich durchsichtiger Natur zu sein: der Geschäftsaus¬ 
schuss hat einmal die Aerzte durch Ausdehnung der Anzeigepflicht 
nicht zu sehr belasten und das Eingreifen des beamteten Arztes 
bei den tagtäglich vorkoromenden ansteckenden Krankheiten 
thunlichst vermeiden wollen, andererseits scheint er, wie aus 
seiner ersten These hervorgeht, darüber verletzt gewesen zu 
sein, dass die Reichsregierung ihn nicht vorher zur gutachtlichen 
Aeusserung über den Entwurf aufgefordert hat. Ja, m. H., wen 
soll denn die Reichsregierung bei derartigen Entwürfen vorher 
gutachtlich hörenP Die Handelskammern, die Kommunalbehörden 
u. s. w. werden z. B. durch die Vorschriften des vorliegenden 
Gesetzes fast noch mehr als die Aerzte betroffen, von ihnen ist 
aber ein derartiger Anspruch nicht erhoben. Ausserdem ist der 
Entwurf des Gesetzes sofort nach seiner Vorlage an den Bundes- 
rath öffentlich bekannt gegeben, so dass es Jedermann freistand, 
sich zu demselben zu äussern, wie solches auch mit Recht der 
Geschäftsausschuss des Aerztevereinsbuudes gethan hat. 

Man hat weiterhin dem Gesetzentwürfe den Vorwurf der 
Hast und übereilten Arbeit gemacht; ein Vorwurf, der meines 
Erachtens völlig ungerechtfertigt ist, wenn man die Entstehungs¬ 
geschichte des Entwurfes etwas näher in’s Auge fasst. Darnach 
ist derselbe auf Grund sehr eingehender Berathungen ausgearbeitet, 
die bereits Ende September v. J. im Reichsgesundheitsamte unter 
Theilnahme der ordentlichen und ausserordentlichen Mitglieder dieses 
Amtes stattgefunden haben; es sind somit die hervorragendsten 
Vertreter der Sanitätspolizei und Hygiene in Deutschland vorher 
gehört worden, und ihr Gutachten ist massgebend gewesen für den 
später im Reichsamt des Innern fertig gestellten Entwurf. Wie 
man da von Hast und Uebereilung sprechen kann, ist mir unbe¬ 
greiflich, besonders wenn man bedenkt, dass das ganze Material 
gleichsam schon vorbereitet lag und dass der Entwurf selbst nicht 
etwas völlig Neues bringt, sondern die jetzt in den einzelnen 
Bundesstaaten bestehenden, von einander abweichenden Vorschriften 
eigentlich nur einheitlich zusammen fasst unter Beseiti¬ 
gung alles Veralteten und Ueberfliissigen. 

M. H.! Würde der Entwurf in der jetzt dem Reichstage vor¬ 
gelegten Form Gesetz, so würden wir auf diesem Gebiete der Ge¬ 
setzgebung aus dem Regen in die Traufe kommen; denn von einem 
Gesetzentwürfe betreffs einheitlicher Bekämpfung gemein¬ 
gefährlicher Krankheiten kann dann nicht mehr die Rede 
sein, sondern nur von einem Ausnahmegesetze gegen die 
Cholera. Zu den bisherigen zahlreichen gesetzlichen Bestimmun¬ 
gen würde noch ein Choleragesetz hinzukommen und dadurch die 



Der Entwurf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 11 


Handhabung derselben noch mehr als bisher erschwert 
werden. M. H., ich habe hier eine Zusammenstellung der zur Zeit 
in meinem Regierungsbezirke gültigen Vorschriften über das 
sanitätspolizeiliche Verfahren bei ansteckenden Krankheiten nebst 
allen gültigen einschlägigen Ministerialerlassen u. s. w., dasselbe 
zählt nicht weniger als 176 in Kleinschrift gedruckte Oktavseiten! 
Ich bemerke jedoch ausdrücklich, dass die Zusammenstellung noch 
vor Ausbruch der vorjährigen Choleraepidemie gedruckt worden ist, 
sonst wäre ihr Inhalt durch die unzähligen Choleraverfügungen 
sicherlich um die Hälfte vermehrt worden! In den anderen 
preussischen Regierungsbezirken wird es in dieser Hinsicht nicht 
besser, sondern eher noch schlechter bestellt sein. Im Interesse 
der öffentlichen Gesundheitspflege sowie vor allem im Interesse 
einer gesicherten Durchführung der zur Bekämpfung der 
Volksseuchen erforderlichen sanitätspolizeilichen Massregeln können 
wir aber nicht genug betonen, dass diese einheitlich und ein¬ 
fach gehalten sind, sonst bleiben sie eben auf dem Papiere stehen. 
Wir müssen daher verlangen, dass dem jetzt in Deutschland in 
dieser Beziehung bestehenden Miss stände der Mannigfaltig¬ 
keit und Ungleichheit ein gründliches Ende bereitet, 
d. h. ein Reichsgesetz erlassen wird, das sich nicht nur auf die¬ 
jenigen Seuchen erstreckt, die vom Auslande her eingeschleppt 
werden können, sondern auch auf die gefährlichen einheimischen 
ansteckenden Krankheiten. Der jetzige Zustand ist absolut unhalt¬ 
bar. Am meisten tritt das in den Grenzbezirken der einzelnen 
Bundestaaten oder Regierungsbezirke zu Tage. Hier trägt die 
Ungleichheit der Vorschriften in Bezug auf die Bekämpfung 
ansteckender Krankheiten wesentlich dazu bei, dass die Bevölke¬ 
rung schliesslich das Vertrauen in Bezug auf die Nothwendigkeit 
und Zweckmässigkeit der angeordneten Massregeln verliert, zum 
Schaden der ganzen Sache. 

M. H., gehen wir nunmehr auf die Besprechung des Entwurfs 
näher ein, so dürfte gegen die getroffene Eintheilung desselben in 
die einzelnen Abschnitte: Anzeigepflicht, Ermittelung der Krank¬ 
heit, Schutzmassregeln, Entschädigungen, allgemeine Vorschriften 
und Strafvorschriften Nichts einzuwenden sein. Der Entwurf ent¬ 
spricht überhaupt, wie ich schon vorher bemerkt habe, in seiner 
ursprünglichen Fassung im Allgemeinen nicht nur den in sanitäts¬ 
polizeilicher und hygienischer Hinsicht zu stellenden Anforderungen, 
sondern auch den durch die Wissenschaft festgestellten Forschun¬ 
gen über die Entstehung und Ausbreitung ansteckender Krank¬ 
heiten, und hält hierbei in vorsichtiger Weise die Mitte zwischen 
der bakteriologischen und epidemiologischen Forschung. Gleich¬ 
wohl ist eine Abänderung des Entwurfes nach verschiedenen 
Richtungen hin erwünscht: 

Zunächst muss ich mein Bedauern aussprechen, dass das 
Viehseuchengesetz dem vorliegenden Gesetze in so umfangreichem 
Maasse als Muster gedient hat. Wenn sich jenes Gesetz in seinem 
dreizehnjährigen Bestehen bewährt hat, so gilt doch das, was für 
die Bekämpfung der Viehseuchen angezeigt ist, nicht auch für die 



12 


Dr. Rapmund. 


Bekämpfung der Menschenseuchen. Jedenfalls hätte es dem Ent¬ 
würfe mehr zum Vortheil gereicht, wenn bei seiner Bearbeitung 
die zur Zeit in den einzelnen Bundesstaaten bestehenden ein¬ 
schlagenden Vorschriften ausschliesslich als Unterlage gedient 
hätten und das Viehseuchengesetz ganz ausser Betracht geblieben 
wäre. Der Entwurf hätte ausserdem meines Erachtens wesentlich 
kürzer und einfacher gefasst werden können; insonderheit 
kann ich es nicht für zweckmässig erachten, dass Vorschriften, die 
sich späterhin leicht als abänderungsbedürtig erweisen können, in 
das Gesetz aufgenommen werden, da dann jedes Mal eine Aenderung 
desselben in Frage kommt. Alle derartigen Vorschriften, insbe¬ 
sondere die speziellen für die einzelnen Krankheiten, gehören in die 
Ausführungsbestimmungen und nicht in das Gesetz. Endlich sind 
einzelne Bestimmungen des Gesetzes zu weitgehend, andere sehr 
wichtige Massregeln völlig unberücksichtigt geblieben. 

M. H.! Die von mir als nothwendig erachteten Abänderungen 
des Gesetzentwurfs habe ich in kurzen Leitsätzen (These II, 1—12) 
zusammengestellt. Ich bemerke hierbei, dass die in Ihren Händen 
befindlichen Leitsätze am gestrigen Tage einer Vorberathung durch 
den Vorstand unter Zuziehung einer Anzahl anderer Vereinsmit¬ 
glieder unterzogen sind und hier mit geringen Aenderungen Zu¬ 
stimmung gefunden haben. Mit diesen Aenderungen lauten 
die Thesen wie folgt: 

I. 

„Im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege ist eine ein¬ 
heitliche Regelung des Verfahrens betreffs Bekämpfung gemein¬ 
gefährlicher Krankheiten auf dem Wege der Reichsgesetzgebung 
dringend geboten. Ein derartiges Gesetz erfüllt aber nur dann 
seinen Zweck, wenn es sich nicht nur auf diejenigen Seuchen 
erstreckt, die vom Auslande her eingeschleppt werden können, 
sondern auch auf die gefährlicheren, in Deutschland heimischen 
ansteckenden Krankheiten Anwendung findet. 

n. 

Der dem Bundesrathe vorgelegte und von dem Preussischen 
Medizinalbeamtenvereine mit Freuden begrüsste Entwurf betreffend 
die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten entspricht im All¬ 
gemeinen den in dieser Hinsicht zu stellenden Anforderungen; es 
empfiehlt sich jedoch, denselben noch nach folgenden Gesichts¬ 
punkten einer Abänderung zu unterziehen: 

1. Die Bestimmungen über die anzeigepflichtigen Krank¬ 
heiten (§§. 1 und 3 des Gesetzentwurfes) und über die 
anzeigepflichtigen Personen (§§. 2 und 4 des Ge¬ 
setzentwurfes) sind in je einem Paragraphen zusammen¬ 
zufassen. 

2. Die Anzeigepflicht ist auf den epidemischen Kopf¬ 
genickkrampf, sowie auf alle Todesfälle in Folge 
einer anzeigepflichtigen Krankheit auszudehnen. Von der 
Anzeige der Todesfälle ist jedoch in denjenigen Theilen 
des Reichs zu entbinden, in denen durch die obliga- 



Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 13 

torische Leichenschau diese Anzeige an den beam¬ 
teten Arzt gewährleistet ist. 

3. Die bei Erkrankungen an gemeingefährlichen Krankheiten 
zu erstattenden Anzeigen sind nur an eine Behörde und 
zwar an den beamteten Arzt zu richten. 

4. Für grossjährige Familienmitglieder und sonstige Haus¬ 
genossen erscheint eine Verpflichtung zur Anzeige nicht 
nothwendig. 

5. Die Form der Meldekarten über Erkrankungen an an¬ 
steckenden Krankheiten (§. 5 des Gesetzentwurfes) ist 
durch den Bundesrath zu bestimmen. Durch die Erstat¬ 
tung der Anzeige dürfen dem Absender keine Kosten 
erwachsen. 

6. Dem beamteten Arzte ist die Verpflichtung aufzuerlegen, 
die Ortspolizeibehörde von dem Ausbruche oder dem 
Verdachte des Auftretens einer ansteckenden Krankheit 
„sofort“ in Kenntniss zu setzen. 

7. Die im §. 7 des Gesetzentwurfes den Polizeibehörden ein¬ 
geräumte Befugniss, bei zweifelhaften Todesfällen eine 
Oeffnung der Leiche anzuordnen, ist auf diejenigen 
Fälle zu beschränken, in denen nach dem Gutachten des 
beamteten Arztes nicht ohne die Leichenöffnung eine Ge¬ 
wissheit darüber zu erlangen ist, ob der Verstorbene an 
einer der im §. 1 genannten gemeingefährlichen Krank¬ 
heiten gelitten hat oder nicht. 

8. Es ist in dem Gesetze eine Bestimmung für den Fall vor¬ 
zusehen, dass Meinungsverschiedenheiten zwischen 
dem behandelnden und dem beamteten Arzte über die 
Natur der Krankheit oder zwischen der Ortspolizeibehörde 
und dem beamteten Arzte über die anzuordnenden Schutz- 
massregeln entstehen. 

9. Etwaige Vorschriften über öffentliche Bekannt¬ 
machungen sowie über Benachrichtigungen benach¬ 
barter Behörden und des Kaiserlichen Gesundheitsamtes 
(§§. 9 und 41 des Gesetzentwurfes) beim Ausbruch gemein¬ 
gefährlicher Krankheiten sind den Ausführungsbestimmun¬ 
gen vorzubehalten. 

10. Die in dem Gesetzentwürfe vorgesehenen Schutzmass- 
regeln (§§. 12—27) sind zum Theil zu weitgehend, besonders 
in Bezug auf die Verkehrsbeschränkungen ansteckungs- oder 
krankheitsverdächtiger Personen, theils gehen sie zu sehr 
in’8 Einzelne und bringen Vorschriften, die in die Aus¬ 
führungsbestimmungen gehören; andererseits sind einige 
wichtige Schutzmassregeln, z. B. Fürsorge für die nöthige 
ärztliche Hülfe und das erforderliche Krankenpflegepersonal, 
Belehrung der Bevölkerung durch geeignete Bekannt¬ 
machungen, Verbot des Aufenthaltswechsels kranker Per¬ 
sonen ohne zuvorige ortspolizeiliche Genehmigung u. s. w. 
unberücksichtigt geblieben. 

11. Die Schutzmassregeln bei bedrohlicher Ausbreitung einer 



14 


Dr. Rapmund. 


übertragbaren Augenkrankheit (§. 21 des Gesetzent¬ 
wurfes) sind der Landesgesetzgebung zu überlassen. 

12. Der Begriff „beamtete Aerzte“ (§. 35 des Gesetzent¬ 
wurfes) ist einwandsfreier zu fassen. 

III. 

Zur erfolgreichen Durchführung des Reichsseuchengesetzes 
ist es nothwendig, dass die beamteten Aerzte durch gesetzlich 
geregeltes pensionsfahiges Gehalt von der ärztlichen Praxis unab¬ 
hängig gestellt und ihre Rechte und Pflichten den Anforderungen 
der öffentlichen Gesundheitspflege entsprechend erweitert werden.“ 

M. H.! Schon jetzt die einzelnen Abänderungsvorschläge 
meinerseits eingehend zu erörtern, erscheint mir nicht zweckmässig. 
Es dürfte sich vielmehr empfehlen, zunächst die Generaldiskussion 
über den Gesetzentwurf, sowie über die beiden ersten Leitsätze 
zu eröffnen, und sodann zur Besprechung der einzelnen Abschnitte 
des Entwurfes überzugehen. Ich stelle dem Herrn Vorsitzenden 
anheim, diesem Vorschläge gemäss zu verfahren. 

Vorsitzender: Ich schliesse mich dem Vorschläge des Herrn 
Referenten an und eröffne hiermit die Generaldiskussion über die 
These I und den ersten Absatz der These II. 

Diskussion; 

H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Walliclis- Altona: M. H.! Ich bin im 
Allgemeinen mit der zustimmenden Aeusserung des Herrn Referenten zu dem 
Entwurf einverstanden und theile auch die freudige Genugtuung, die in dem 
Satz I über das Vorgehen der Reichsregierung zur Bekämpfung der gemeinge¬ 
fährlichen Krankheiten ausgesprochen ist. Indessen bin ich genötigt, zu einigen 
Bemerkungen, die der Herr Referent gemacht hat, etwas hinzuzufügen. Er hat auf 
die Beschlüsse Bezug genommen, die von dem erweiterten Geschäftsausschuss des 
Deutschen Aerztevereinsbundes gefasst worden sind, und ich bin vermuthlich das 
einzige Mitglied dieser Versammlung, welches an den Berathungen, die zu diesen 
Beschlüssen geführt haben, theilgenommen hat. Ich sage absichtlich: „an den 
Berathungen theilgenommen hat, tf nicht durchaus an den Beschlüssen. Diese 
Beschlüsse sind keineswegs einstimmig gefasst worden, sondern zum Thoil doch 
nur mit einer geringen Majorität; z. B. gerade der wesentliche Beschluss, der 
eben die Beschränkung dieses Gesetzes auf die erstgenannten Krankheiten des 
§. 1 ausspricht, mit 15 gegen 11 Stimmen. Es waren übrigens zu dieser Sitzung 
der Vertretung der deutschen Aerzte die Vorsitzenden der preussischen Aerzte- 
kammern eingeladen und ausserdem die Vorstände der anderen deutschen Stan¬ 
desvertretungen und grösserer Vereine. Auch ist es nicht richtig, wenn der Re¬ 
ferent sagte: dass sich diese Versammlung dahin ausgesprochen habe, ein Gesetz 
in der Richtung, wie dieser Entwurf es will, möge überhaupt nicht erlassen 
werden, man möge die Bekämpfung der zweiten Krankheitsgruppe der Gesetz¬ 
gebung der Einzelstaaten überlassen. Das ist nicht geschehen; es ist allerdings 
eine dahingehende Ansicht von einzelnen Mitgliedern geäussert worden, aber ein 
Beschluss dahin ist nicht gefasst. Im Gegenteil, es war die ganz überwiegende 
Anschauung, dass ein Reichsgesetz, das alle Seuchen umfasst, an sich wünschens¬ 
wert sei, aber man beklagte, dass dieser Entwurf nicht vorher den Standesver¬ 
tretungen vorgelegt wurden sei, und dass das ganze Vorgehen doch eine gewisse 
Eile zeige, die in den Einzel bestImmungen auch in schädlicher Weise zum Aus¬ 
druck komme. Was diese Mängel betrifft, so hat der Referent ja auch eine 
ganze Reihe von Ausstellungen an dem Gesetze gemacht, und man kann des¬ 
wegen wohl sagen, dass der Standpunkt immerhin ein zu rechtfertigender ist, 
welcher ein so schleuniges Vorgehen in dieser Art der Gesetzgebung nicht für 
nöthig hält, sondern es für ausreichend erachtet, wenn man sich auf die lins 
augenblicklich besonders interessirende gefahrdrohende Krankheit, die Cholera, 
beschränkt. Gewiss wünschen wir Medizinalbeamten ja von Herzen, dass etwas 
Eingreifendes geschieht, aber ob es ein Jahr länger dauert oder nicht, das ist 



Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 15 


doch nicht so überaus wesentlich. Auch kann ich durchaus nicht dem beistim¬ 
men, dass etwa die Handelskammern in ähnlicher Weise an dieser Gesetzgebung 
interessirt seien, wie die Vertreter des ärztlichen Standes. Wenn einmal eine 
staatlich organisirte Vertretung der Aerzte geschaffen worden ist, dann ist es 
doch gewiss begreiflich, dass sie auch den Wunsch hegt, über eine so wichtige 
Frage der Gesetzgebung, wie diese ist, gehört zu werden. Das ist z. B. in 
Baden auch geschehen. Der Badische Laiidesausschuss hat sich darüber geäussert. 
Es ist in Württemberg geschehen; der dortige ärztliche Ausschuss hat sein 
Votum darüber abgegeben. Ebenso das Laiidesinedizinalkollegium im Königreich 
Sachsen. In Preussen ist es nicht geschehen, ohne dass es mir eint all r, deswegen 
den Behörden, die diese Frage etwa au die Standesvertretungen zu richten 
hätten, einen Vorwurf zu machen. Dafür war wohl nach den Verhältnissen, 
nach der Organisation unserer Standesvertretung nicht die genügende Zeit vor¬ 
handen. Aber dass der Wunsch ausgesprochen wird, die ärztlichen Standesver¬ 
tretungen möchten über eine so wichtige Frage der Gesetzgebung, wie diese ist, 
gehört werden, das scheint mir doch vollkommen in der Ordnung zu sein, und 
ich verstehe nicht recht, wie der Herr Referent darüber Befremden oder Tadel 
ausdrücken konnte. 

Das wollte ich zur Generaldebatte sagen; auf etliche Einzelheiten möchte 
ich nachher eingehen. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: Ich kann den Aeussernngcn 
des Kollegen Wallichs gegenüber nur wiederholen, dass der Entwurf ja zeitig 
genug veröffentlicht ist, um allen Acrztevereinen und Aerztekammern Gelegenheit 
zu geben, Stellung zu demselben zu nehmen, wie dies auch thatsächlich vielfach 
geschehen ist; auch von preussischen Aerztekammern, z. B. derjenigen der Pro¬ 
vinz Pommern. So lange aber eine gesetzliche Standesvertretung der deutschen 
Aerzte nicht existirt, war die Reichsregierung nicht in der Lage, eine solche 
vorher gutachtlich zu höreu. 

H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: Es ist doch ein Unterschied, 
ob die Aerztekammern, die nicht so leicht und in jedem Augenblick zu versam¬ 
meln sind, aus eigenem Antriebe sieh zur Sache äussern, oder ob sie dies auf 
die Frage der Vorgesetzten Behörde thun. 

Vorsitzender: Da sich Niemand mehr zum Worte meldet, 
schliesse ich die Generaldiskussion und bringe zunächst These I 
zur Abstimmung. Wer für die Annahme der These ist, bitte icli 
die Hand zu erheben. 

Die These ist darnach einstimmig angenommen. 

Ich bringe nunmehr den ersten Absatz der These II in 
gleicher Weise zur Abstimmung. 

Auch diese These ist, soweit ich übersehen kann, einstimmig 
a n g e n o m m e n. 

Wir kommen jetzt zu den von dem Herrn Referenten ge¬ 
machten Abänderungsvorschlägen und damit zu den einzelnen Ab¬ 
schnitten des Gesetzentwurfs. 

H. Reg. und Med.-Rath Dr. Rapmund: M. H.! Der eiste 
Abschnitt des Gesetzentwurfs (§>?• 1—5) handelt von der Anzeige- 
pf licht, der nothwendigsten Massregel für die Bekämpfung an¬ 
steckender Krankheiten; denn sie sichert nicht nur ein rechtzeitiges 
Eingreifen der Sanitätspolizei unmittelbar nach dem Seuchenaus¬ 
bruch, sondern bietet auch den Behörden die erforderliche Grund¬ 
lage, um sich ein Urtheil über die Entstehungsbedingungen, der 
Verbreitungsart und den Verlauf einer Epidemie, sowie über den 
Erfolg der getroffenen Massregeln zu bilden. 

Bei welchen Krankheiten soll nun eine Anzeige 
erstattet werden? Der uns vorliegende Entwurf bezeichnet 
in den §§. 1 und 3 jede Erkrankung an Cholera, Eieckfieber, Gelb- 



16 


Dr. fiapmund. 


fieber, Pest, Pocken, Darmtyphus, Diphtherie, Rückfallfieber, Ruhr, 
Scharlach und Wochenbettfieber als anzeigepflichtig. 

Zunächst halte ich es für einen Fehler in der Fassung des 
Gesetzes, dass die Bestimmungen der anzeigepflichtigen Krank¬ 
heiten nicht in einem, sondern in zwei verschiedenen Paragraphen 
aufgenommen sind, denn dadurch bleibt sehr leicht der eine Theil 
der Bestimmungen unbeachtet. Dasselbe gilt, wie gleich hier be¬ 
merkt sein möge, betreffs der Vorschriften über die anzeigepflich¬ 
tigen Personen (§. 2 und 4 des Gesetzentwurfs); auch hier würde 
eine Zusammenfassung der Bestimmungen in einem Paragraphen 
viel zweckmässiger sein. 

Was speziell die anzeigepflichtigen Krankheiten 
anbetrifft, so werden Sie aus der in Ihren Händen befindlichen, 
von mir aufgestellten Uebersicht 1 ) über die in den einzelnen Bundes¬ 
staaten zur Zeit bestehenden einschlagenden Vorschriften ersehen, 
dass der Entwurf in dieser Hinsicht nicht etwas wesentlich Neues 
bringt, nur die in Deutschland gar nicht vorkommenden Krank¬ 
heiten Gelbfieber und Pest sind bisher in keinem deutschen 
Bundesstaate anzeigepflichtig gewesen. Ich hatte daher vorge¬ 
schlagen, diese Krankheiten im Entwürfe überhaupt zu streichen; 
bei der gestrigen Vorberathung wurde mir aber erwidert, dass die 
Aufnahme derselben auf internationalen Abmachungen über gesund¬ 
heitspolizeiliche Kontrole des Seeschifffahrtsverkehrs und die Aus¬ 
stellung von Leichenpässen beruhe. In Folge dessen habe ich 
mich veranlasst gesehen, jenen Vorschlag fallen zu lassen. Von 
den übrigen im Entwurf genannten Krankheiten sind Cholera, 
Pocken und Wochenbettfieber in allen deutschen Bundes¬ 
staaten anzeigepflichtig, desgleichen Flecktyphus, Darm¬ 
typhus, Rückfallfieber und Diphtherie mit Ausnahme 
von Württemberg, Sachsen-Altenburg und Eisass-Lothringen, 
während in Bayern und Oldenburg nur eine fakultative Anzeige¬ 
pflicht bei Diphtherie besteht. Auch bei Ruhr und Scharlach 
ist in Preussen, Baden, Oldenburg eine Anzeige nur bei epidemi¬ 
schem Auftreten zu erstatten, dasselbe gilt betreffs des Scharlachs 
in Bayern, Sachsen-Meiningen und Sachsen - Koburg; ich bemerke 
jedoch, dass in vielen preussischen Regierungsbezirken auch bei 
Scharlach und Ruhr durch Polizeiverordnung die obligatorische 
Anzeigepflicht angeordnet ist. Betreffs der Ruhr möchte ich noch 
erwähnen, dass diese in der Begründung des Entwurfes zu den in 
Deutschland nicht heimischen Krankheiten gerechnet wird. Ich kann 
mich dieser Ansicht nicht anschliessen; die Ruhr ist meines Erachtens 
in Deutschland ebenso heimisch wie die Diphtherie; ich erinnere 
nur an die im Jahre 1872 über ganz Nordwestdeutschland ausge¬ 
breitete, keineswegs von auswärts eingeschleppte Ruhrepidemie, 
die merkwürdiger Weise in der Begründung des Entwurfs uner¬ 
wähnt geblieben ist, obwohl sie kolossale Verluste an Menschen¬ 
leben herbeigefiihrt hat. 

Also, m. H., eine wesentliche Aenderung und insbesondere 
eine grössere Belastung der Aerzte wird durch die Bestimmungen 


*) Siehe Anlage. 



Der Entwarf e. Gesetzes betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 17 


des Gesetzentwurfes betreffs der anzeigepflichtigen Krankheiten 
nicht herbeigeführt. Mit Recht hat der Entwurf übrigens von der 
in verschiedenen Bundesstaaten vorgeschriebenen Anzeigepflicht bei 
Masern abgesehen, da bei dem meist massenhaften Auftreten 
dieser Krankheit eine derartige Vorschrift gar nicht durchführbar 
sein würde, ganz abgesehen davon, dass auch ein sanitätspolizei¬ 
liches Eingreifen bei Masernepidemien sich nur selten als noth- 
wendig erweist. Ebenso halte ich eine Aufnahme der Zoono- 
sen unter die anzeigepflichtigen Krankheiten mit Rücksicht auf 
ihr äusserst seltenes Vorkommen nicht für erforderlich. Dagegen 
halte ich es nicht für richtig, dass in dem Entwürfe der 
epidemische Kopfgenickkrampf unberücksichtigt geblieben 
ist und zwar um so mehr, als diese Krankheit schon in den 
meisten Bundesstaaten anzeigepflichtig ist und keineswegs so sel¬ 
ten aufzutreten pflegt, als dies in der Begründung des Entwurfs 
angenommen wird. Die Genickstarre gehört ausserdem in Bezug 
auf den Verlauf zu den gefährlichsten ansteckenden Krankheiten 
und da die Diagnose nicht immer gleich beim ersten Erkrankungs¬ 
fall mit Sicherheit gestellt werden kann, so ist es erforderlich, 
dass ebenso wie bei Cholera, Pocken u. s. w. die Anzeigepflicht 
auch bei den der Genickstarre verdächtigen Erkrankungen vorge¬ 
schrieben wird. In gleicher Weise muss die Anzeigepflicht auf 
jede des Wochenbettfiebers verdächtige Erkrankung ausge¬ 
dehnt werden. Der Entwurf schreibt auffallender Weise im §. 3 
die Anzeigepflicht bei den des Wochenbettfiebers verdächtigen 
Todesfällen, aber nicht bei den verdächtigen Erkrankungen vor; 
es ist dies meines Erachtens ein grosser Mangel; denn gerade um 
der Weiterverschleppung dieser Krankheit rechtzeitig entgegen¬ 
treten zu können, ist es für den beamteten Arzt erforderlich, auch 
von den verdächtigen Erkrankungsfällen sobald als möglich Kennt- 
niss zu erhalten. Die Fassung des §. 3 über das Wochenbettfieber 
ist überhaupt keine glückliche; so sind diejenigen Fälle gänzlich 
ausser Acht gelassen, in denen weder ein Arzt noch eine Heb¬ 
amme bei einer Wöchnerin zugegen ist und die besonders im 
Osten der Monarchie gar nicht so selten sind. Für solche Fälle 
muss aber doch auch eine Anzeigepflicht vorgesehen werden. Ferner 
kann ich die Ausführungen der Begründung, wonach eine Mit¬ 
wirkung der Ortspolizeibehörde bei der Verhütung des Wochen¬ 
bettfiebers nicht in Frage komme, keineswegs theilen. Dem be¬ 
amteten Arzte als Aufsichtsbeamten der Hebammen muss zwar 
stets hierbei die Hauptthätigkeit Zufällen, etwaige nothwendige 
Recherchen über das Verhalten der Hebammen werden aber ohne 
Mitwirkung der Ortspolizeibehörde kaum durchführbar sein, noch 
viel weniger lässt sich aber die Hülfe der letzteren in denjenigen 
Fällen entbehren, in denen Frauen nicht von Hebammen, sondern 
von Hebammenfuscherinnen entbunden und später an Wochenbett¬ 
fieber erkrankt sind. 

Im §. 1 des Entwurfs ist nun nicht nur eine Anzeigepflicht 
bei Erkrankungen an ansteckenden Krankheiten, sondern auch eine 
solche bei Todesfällen in Folge von Cholera, Fleckfieber, Pocken, 

2 



18 


I)r. Rapmund. 


Pest und Gelbfieber vorgeschrieben; dagegen eine solche bei Todes¬ 
fällen in Folge der übrigen gemeingefährlichen Krankheiten nicht 
für nöthig erachtet. In der Begründung des Entwurfes heisst 
es hierzu: 

„Da die Diagnose eines Krankheitsfalles dieser Groppe oft erst durch den 
tödtlichen Ausgang bestätigt wird, ist es ferner erforderlich, dass nicht nur von 
jeder Erkrankung, sondern auch von jedem Todesfall Anzeige erstattet werde. 
Die Todesanzeige bietet zugleich einen Ersatz für die etwa unterbliebene Er¬ 
krankungsanzeige. Dies ist um so wichtiger, als nach den bisherigen Erfah¬ 
rungen Erkrankungsanzeigen, sei es aus Unachtsamkeit, sei es wegen Unkennt¬ 
nis der Natur der Krankheit, voraussichtlich vielfach unterbleiben werden. 
Endlich ist es für die wissenschaftliche Reurtheilung und praktische Behandlung 
von Wichtigkeit, das Verhältnis der Sterbefälle zu der Zahl der Erkrankungen 
kennen zu lernen. Bei den übrigen im §. 1 genannten Krankheiten erscheint 
die Ausdehnung der Anzeigepflicht auf die Todesfälle durch sanitätspolizeiliche 
Rücksichten nicht geboten, es genügt vielmehr die Anzeige der Erkrankungen.“ 

Sie werden mir zugeben, m. H., dass alles das, was hier 
zur Begründung der Anzeigepflicht bei Todesfällen von Cholera 
u. s. w. angeführt ist, in gleichem Masse auch auf die übrigen 
Krankheiten passt; denn erst durch die Anzeige der Todesfälle 
erhalten wir ein sicheres Urtheil über den Verlauf einer Epidemie, 
ob die Seuche bösartig auftritt oder nicht. Aus dem Grunde halte 
ich es auch für nothwendig, dass die Anzeigepflicht auf die Todes¬ 
fälle in Folge der übrigen im §. 1 des Gesetzes angeführten 
Krankheiten ausgedehnt wird; eine grosse Belastung seitens der 
anzeigepflichtigen Personen wird dadurch keineswegs herbeigeführt, 
da die Zahl der Todesfälle im Vergleich zu derjenigen der Er¬ 
krankungsfälle doch nur eine unbedeutende ist. In den deutschen 
Bundesstaaten, in denen eine obligatorische Leichenschau 
besteht und dem beamteten Arzte dadurch die Anzeige der Todes¬ 
fälle gewährleistet ist, scheint allerdings eine Ausdehnung der 
Anzeigepflicht nach dieser Richtung hin nicht erforderlich, es 
würden sonst sehr häufig die Aerzte in die Lage kommen, doppelte 
Todtenscheine auszustellen. 

Dass alle Anzeigen über Erkrankungen und etwaige Todes¬ 
fälle nur dann ihren Zweck vollständig erfüllen, wenn sie sofort 
erstattet werden, bedarf kaum der Erwähnung. Der Entwurf ver¬ 
langt mit Recht eine „unverzügliche“ Erstattung; zweck¬ 
mässiger dürfte es jedoch sein, noch die Worte „spätestens 
aber innerhalb 24 Stunden“ hinzuzufügen und zwar um so 
mehr, da in den Strafvorschriften (§. 44 Nr. 1) des Gesetzes diese 
Fristbestimmung vorgesehen ist. 

Ueber die Frage: an weiche Behörde die Anzeige zu 
erstatten ist. hat bei der gestrigen Vorberathung eine sehr 
lebhafte Debatte stattgefunden und sich die grosse Mehrheit der 
Anwesenden dahin entschieden, dass die Anzeige nicht dem von 
mir in Uebereinstimmung mit dem Gesetzentwürfe gemachten Vor¬ 
schläge gemäss der Ortspolizeibehörde, sondern dem beamteten 
Arzte zu erstatten sei. Einstimmig war man dagegen der An¬ 
sicht, dass bei allen Krankheiten ohne Unterschied die Anzeige an 
eine Behörde genüge und von einer doppelten Anzeige an den 
beamteten Arzt und an die Ortspolizeibehörde selbst bei Cholera 



Der Entwurf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 19 

u. 8. w. Abstand zu nehmen sei, da man durch diese Mehrbe¬ 
lastung der anzeigepflichtigen Personen nur Gefahr laufe, dass dann 
gar keine Anzeigen erstattet werden. In gleichem Sinne hat sich 
bekanntlich der Aerztevereinsausschuss ausgesprochen und soviel 
bisher über die von dem Bundesrathe gemachten Aenderungen des 
Gesetzentwurfes in die Oeffentlichkeit gedrungen ist, hat auch 
dieser die im §. 1 Abs. 1 des Gesetzes vorgesehene doppelte An¬ 
zeige gestrichen. Halten wir aber eine doppelte Anzeige selbst 
bei Cholera u. s. w. für unnöthig, dann ist für uns die Frage von 
um so grösserer Bedeutung, an wen diese Anzeige erstattet werden 
soll? In der Begründung heisst es: 

„Als diejenige Stelle, welcher die Anzeige zu erstatten ist, bezeichnet der 
Entwurf die Ortspolizeibehörde. Hierfür war die Erwägung massgebend, das3 
es sich zur Vermeidung jedes Zeitverlustes empfiehlt, die Meldungen an diejenige 
Behörde zu richten, welche die nächsten Massnahmen gegen eine weitere Ver¬ 
breitung der Krankheit zu veranlassen hat. Auch ist Werth darauf zu legeu, 
dass die Meldestelle dem Publikum möglichst leicht zugänglich sei, um die Er¬ 
füllung der Anzeigepilicht nicht zu erschweren.“ 

Demgegenüber wurde von der Mehrzahl der Kollegen in der 
gestrigen Vorberathung der Standpunkt festgehalten, dass die Weiter¬ 
verbreitung ansteckender Krankheiten erfahrungsgemäss nur durch 
das rascheste Eingreifen unmittelbar nach dem Seuchenausbruche 
gehindert werde, und dies nur dadurch erreicht werden könne, 
wenn der beamtete Arzt nicht erst auf dem meist lang dauernden 
Umweg durch die Ortspolizeibehörde, sondern direkt so schleunig 
wie möglich von dem Auftreten der Krankheiten in Kenntniss ge¬ 
setzt werde, da ihm die Feststellung der Krankheit wie die An¬ 
ordnung der erforderlichen Massregeln obliege. Selbstverständlich 
müsste dann dem beamteten Arzte die Verpflichtung auferlegt 
werden, die Ortspolizeibehörde sofort mit entsprechender Nach¬ 
richt zu versehen. M. H., aus der von mir aufgestellten Ueber- 
sicht*) werden Sie ersehen, dass schon jetzt in verschiedenen Bun¬ 
desstaaten, z. B. in Sachsen, Hessen, Sachsen-Weimar u. 8. w. die 
Anzeigen über Erkrankungen an ansteckenden Krankheiten nicht 
der Ortspolizeibehörde, sondern dem beamteten Arzt erstattet werden; 
es geschieht dies auch in einzelnen preussischen Regierungsbe¬ 
zirken, z. B. in Hannover und Schleswig - Holstein. Das Verfahren 
hat sich, soweit mir bekannt geworden ist, in jeder Weise bewährt, 
und sich insonderheit die Befürchtung nicht bewahrheitet, dass die 
praktischen Aerzte in Folge dessen der Anzeigepflicht weniger 
genügen werden, als wenn die Anzeige an die Ortspolizeibehörde 
zu erstatten ist. Diese Befürchtung wird ausserdem künftighin 
noch weniger in Betracht kommen, sobald die beamteten Aerzte 
aus der Reihe der in der Praxis konkurrirenden Aerzte mehr oder 
weniger verschwinden und dass müssen sie, wenn überhaupt das 
Seuchengesetz nicht auf dem Papier stehen bleiben soll. Wird dem 
beamteten Arzte zuerst die Anzeige erstattet, so wird ihm zwei¬ 
fellos dadurch bei der Bekämpfung der Volksseuchen nicht nur eine 
erheblich grössere Thätigkeit, sondern auch eine erheblich grössere 


*) Siehe Anlage. 


2 * 



20 


Dr. RapmuncL 


Verantwortung auferlegt; er ist dann gleichsam die Hauptperson, 
die Ortspolizeibehörde kommt erst in zweiter Linie. Ob der 
Reichstag und die Reichsregierung dem beamteten Arzte eine 
derartige Stellung einräumen werden, dürfte allerdings zweifel¬ 
haft sein, so wünschen swerth es auch im Interesse einer gesicherten 
Durchführung des Reichsseuchengesetzes ist. Das kann uns aber 
meines Erachtens nicht abhalten, einen dementsprechenden Be¬ 
schluss zu fassen; ich selbst habe mich auf Grund der gestrigen 
Vorberathung zu der Ansicht bekehrt, dass die Anzeigen an den 
beamteten Arzt zu erstatten sind und glaube, dass auch die Mehr¬ 
zahl von Ihnen der gleichen Ansicht sein wird. 

M. H., wir kommen nunmehr zu der Frage: Welche Per¬ 
sonen sollen zur Anzeige verpflichtet werden? Der 
Entwurf legt mit Recht in erster Linie den Aerzten diese Ver¬ 
pflichtung auf; denn im Interesse der Sanitätspolizei muss daran 
festgehalten werden, dass demjenigen, bei dem wir vermöge seiner 
wissenschaftlichen Kenntnisse und seiner Erfahrungen mit Sicher¬ 
heit auf eine zuverlässige Diagnose rechnen können, auch zunächst 
die Anzeigepflicht aufzuerlegen ist, und das ist der Arzt. In den 
meisten deutschen Bundesstaaten sind daher die Aerzte entweder 
allein oder vor allen Anderen zur Anzeige verpflichtet 1 ); auch in 
Preussen, wo das Regulativ vom 8. August 1835 die Familien¬ 
häupter in erster Linie als anzeigepflichtig nennt, hat man in den 
meisten Regierungsbezirken durch spätere Polizeiverordnungen 
gleichfalls die Aerzte zunächst zur Anzeige verpflichtet. Der 
Entwurf nennt dann in zweiter Linie „jede sonst mit der Behand¬ 
lung oder Pflege des Erkrankten beschäftigte Person“; darunter 
sind ausser den Krankenpflegern nicht nur das niedere ärztliche 
Personal, Wundärzte, Heilgehülfen u. s. w., sondern auch die 
sogenannten Kurpfuscher verstanden. Der Aerztevereinsaus- 
schuss hält, wie Ihnen bekannt sein wird, die Anzeigepflicht der 
Kurpfuscher für nutzlos und glaubt, dass durch dieselbe ausserdem 
die gemeinschädliche Aufhebung des Kurpfuschereiverbotes weiter 
gefestigt werde. M. H., ich kann diese Ansicht nicht theilen. 
So lange den Kurpfuschern durch die Gewerbeordnung das Recht 
der Ausübung der Heilkunde eingeräumt ist, muss ihnen auch die 
Anzeigepflicht auferlegt werden; denn die Sanitätspolizei muss nicht 
nur von den ärztlich behandelten Erkrankungsfällen an anstecken¬ 
den Krankheiten, sondern von allen derartigen Erkrankungsfallen 
Kenntniss erhalten, also auch von solchen, bei denen entweder 
gar kein Arzt oder ein Kurpfuscher zu Rathe gezogen ist. Andern¬ 
falls würden alle diese Erkrankungen unangemeldet bleiben, ja 
es würde sogar ihre Verheimlichung dadurch begünstigt werden. 
Gerade bei den ansteckenden Krankheiten ist ausserdem die 
Diagnose meist nicht sehr schwierig, so dass die Anzeigen der 
Kurpfuscher in der Mehrzahl der Fälle zutreffend sein dürften 
und daher keineswegs nutzlos sind. Auch die Befürchtung, dass 
der Stand der Kurpfuscher durch die ihm auferlegte Anzeigepflicht 


*) Siehe Anlage. 



Der Entwurf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 21 

gleichsam an Ansehen gewinnen werde, kann ich nicht theilen, 
im Gegentheil, die betreffenden Personen werden diese Massregel 
nicht als eine besondere Ehre und Begünstigung, sondern als eine 
grosse Belästigung, als eine Kontrole und Beschränkung ihrer 
Kurirfreiheit empfinden. In meinem Regierungsbezirke sind z. B. 
die Kurpfuscher auch verpflichtet, sich vor Ausübung ihres Ge¬ 
werbes bei dem zuständigen Kreisphysikus anzumelden, damit 
dieser einen genauen Ueberblick darüber erhält, wer in seinem 
Bezirke Kurpfuscherei gewerbsmässig treibt, und in Folge dessen 
in der Lage ist, diese Leute zu kontroliren. Die Anordnung hat 
sich durchaus bewährt; von keinem Pfuscher ist dieselbe aber als 
eine Massregel betrachtet worden, durch die sie gewissermassen 
den Aerzten gleichgestellt würden; denn sonst würden sie jeden¬ 
falls der Auflage nicht erst nach wiederholter Bestrafung nach¬ 
gekommen sein. 

Was die übrigen zur Anzeige verpflichteten Personen anbe¬ 
trifft, so können die im §. 2 unter 4 und 5 aufgeführten „zum 
Haushalte gehörigen grossjährigen Familienmitglieder und sonstigen 
Haushaltsgenossen“ getrichen werden; es genügt meines Erachtens 
vollständig der Haushaltsvorstand oder dessen Stellvertreter, sowie 
diejenigen Personen, in deren Wohnung oder Behausung der Er- 
krankungs- oder Todesfall sich ereignet hat. Letztere werden 
besonders bei Erkrankungen von alleinstehenden Personen z. B. 
Chambregarnisten in Frage kommen. Dass es sich empfiehlt, im 
§. 2 noch die Bestimmungen des §. 4 aufzunehmen, hatte ich bereits 
früher erwähnt. 

M. H.! Nach den von mir zu den §§. 1 und 2 des Gesetz¬ 
entwurfes gemachten, in den Leitsätzen unter Nr. 1 — 4 nieder¬ 
gelegten Abänderungsvorschlägen würden diese Paragraphen unge¬ 
fähr folgende Fassung erhalten: 

§. 1. „Jede Erkrankung an 

a. Cholera (asiatischer), Fleckfieber (Flecktyphus), Gelbfieber, Pest 
(orientalischer Beulenpest), Pocken (Blattern), Wochenbettfieber, 
Kopfgenickkrampt', Darmtyphus, Rückfallfieber, Dyphtherie (ein¬ 
schliesslich Krupp), Ruhr (Dysenterie) und Scharlach sowie 

b. jede Erkrankung, die den Verdacht des Vorhandenseins von Cholera, 
Fleckfieber, Gelbfieber, Pest, Pocken, Kopfgenickkrampf und Wochen¬ 
bettfieber erweckt und 

c. jeder Todesfall in Folge einer der unter a genannten Krankheiten 
ist dem für den Aufenthaltsort der Erkrankten oder dem Ste; beorte 
zuständigen beamteten Arzte unverzüglich, spätestens aber innerhalb 
24 Stunden, anzuzeigen. 

In denjenigen Theilen des Reiches, in denen durch die obligatorische 
Leichenschau die Anzeige der Todesfälle (Absatz c) an den beamteten 
Arzt gewährleistet ist, ist von dieser Anzeige zu entbinden. 

Die näheren Bestimmungen darüber, an wen bei Erkrankungen auf 
Schiffen oder Flössen die Anzeige zu erstatten ist, werden vom Bundes- 
ratbe erlassen. 

Durch Beschluss des Bundesrathes können die Bestimmungen des 
Gesetzes auch auf andere gemeingefährliche Krankheiten ausgedehnt 
werden. 

Landesrechtliche Bestimmungen, welche eine weitergehende Anzeige- 
pflicht bezwecken, werden durch dieses Gesetz-nicht berührt.“ 



22 


Dr. Rapmund. 


§. 2. „Zur Anzeige sind verpflichtet: 

1. der behandelnde Arzt, 

2. jede sonst mit der Behandlung oder Pflege des Erkrankten be¬ 
schäftigte Person, 

3. der Haushaltnngs- oder Anstaltsvorstand, Schiffer oder Flossftthrer 
oder deren Vertreter, 

4. derjenige, in dessen Wohnung oder Behausung der Erkrankungs¬ 
oder Todesfall sich ereignet hat. 

Die Verpflichtung der unter 2 — 4 genannten Personen tritt nur 
dann ein, wenn ein früher genannter Verpflichteter nicht vorhanden, 
oder an der Erstattung der Anzeige verhindert ist.“ 

Die §§. 3 und 4 fallen fort, da sie durch §. 1 a Abs. 3 sowie durch §. 2 
Nr. 3 erledigt sind. 

M. H.! Sie werden finden, dass ich bei dieser Fassung im 
§. 1 die im Entwürfe vorgesehene Bestimmung: 

„Wechselt der Erkrankte den Aufenthaltsort, so ist dies unverzüg¬ 
lich bei der Ortspolizeibehörde des bisherigen und des neuen Aufent¬ 
haltsortes zur Anzeige zu bringen“ 

fortgelassen habe. Es ist dies absichtlich geschehen; denn im 
sanitätspolizeilichen Interesse muss derartigen Kranken jeder 
Aufenthaltswechsel prinzipiell verboten oder wenigstens nur 
mit zuvoriger Genehmigung der zuständigen Ortspolizeibehörde 
gestattet werden. Dadurch erledigt sich aber eine Anzeige an 
diese von selbst; die Anzeige an die zuständige Behörde des neuen 
Aufenthaltsortes ist aber bereits durch die Bestimmungen des §. 1 
Abs. 1 gesichert, ganz abgesehen davon, dass in solchen Fällen 
eine gegenseitige Benachrichtigung der betreffenden Behörden im 
Verwaltungswege vorgeschrieben werden müsste. 

Ich komme nun zu dem letzten Paragraphen des ersten Ab¬ 
schnittes und damit zu der Frage: In welcher Form soll die 
Anzeige erstattet werden? Der Gesetzentwurf (§. 5) sagt 
in dieser Hinsicht: 

„Die Anzeige kann mündlich oder schriftlich erstattet werden. Die 
Ortspolizeibehörden haben auf Verlangen Meldekarten für schriftliche 
Anzeigen unentgeltlich zu verabfolgen. 4 

In der Begründung heisst es dann weiter, „dass die Beför¬ 
derung der Meldekarten durch die Post als portopflichtige Dienst¬ 
sache die Einführung bestimmter Formulare voraussetze.“ Viel 
nothwendiger ist aber meines Erachtens die Einführung und unent¬ 
geltliche Verabfolgung von Meldekarten, um. die Anzeige thunlichst 
zu erleichtern und vor allem auch, um möglichst vollständige 
Anzeigen zu erhalten und den Behörden etwaige Rückfragen zu 
ersparen. Es sind ja bestimmte Fragen, deren Beantwortung die 
Behörde bei jeder Anzeige von ansteckenden Krankheiten verlangen 
muss, als: Vor- und Zuname, Alter und Geschlecht des Kranken, 
Wohnort und Wohnung desselben, Namen der Krankheit, Tag der 
Erkrankung oder des Todes, etwaige Entstehungsursache, ferner ob 
schulpflichtige Kinder in dem Hausstande vorhanden und welche 
Schulen sie besuchen, ob und welchem Krankenhause der Kranke über¬ 
wiesen ist, ob er von auswärts zugereist ist u. s. w. Am sichersten 
wird die Beantwortung der erforderlichen Fragen dadurch erreicht, 
wenn das Formular der .Meldekarten einheitlich für ganz Deutsch- 



Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 23 

fand durch den Bundesrath bestimmt wird und zwar empfiehlt sich der 
Portoersparniss wegen die Postkartentorm. Die Durchführung 
dieser Massregel lässt sich in der Weise am einfachsten bewirken, 
dass den Aerzten die Karten gleich frankirt verabfolgt werden, 
wie solches thatsächlich schon in verschiedenen deutschen Bundes¬ 
staaten und preussischen Regierungsbezirken der Fall ist. Dass 
den Absendern durch Erstattung der Anzeige keine Kosten er¬ 
wachsen dürfen, ist eine berechtigte Forderung und wird auch in 
der Begründung als solche anerkannt. Gleichwohl dürfte es ange¬ 
zeigt sein, diese Berechtigung im Gesetz durch einen entsprechen¬ 
den Zusatz festzulegen, damit jeder Zweifel darüber beseitigt ist. 
Das sind die Gründe, die mich zu dem unter Nr. 5 aufgeführten 
Abänderungsvorschläge veranlasst haben, demzufolge der §. 5 des 
Gesetzes nachfolgenden Zusatz erhalten müsste: 

„Das Formular der Meldekarten wird durch den Bundesrath be¬ 
stimmt. Durch die Erstattung der Anzeige dürfen dem Absender keine 
Kosten erwachsen.“ 

Ich bitte den Herrn Vorsitzenden, die Diskussion über den 
ersten Abschnitt des Gesetzentwurfes und damit über die von mir 
unter Nr. 1—5 gemachten Abänderungsvorschläge zu eröffnen. 

Vorsitzender: Ich eröffne hiermit dem Vorschläge des Herrn 
Referenten gemäss die Diskussion über die §§. 1—5 des Gesetzent¬ 
wurfs, betreffend die Anzeigepflicht, sowie über die unter II, 
Nr. 1—5 von dem Referenten aufgestellten Abänderungsvor¬ 
schläge. 

Diskussion. 

H. Kr.-Phys. Dr. Jacobson - (Salzwedel): M. H.! Die Physiker meines 
Regierungsbezirks haben vor etwa acht Tagen gleichfalls den vorliegenden Ge¬ 
setzentwurf einer Besprechung unterzogen und sich hierbei ganz dem Referat 
des Herrn Vortragenden entsprechend ausgesprochen. Auch wir sind der Ansicht 
gewesen, dass es unthunlich ist, die anzumeldenden Krankheiten in mehr als 
eine Gruppe zu bringen. Wenn der Entwurf so, wie er ist, Gesetz wird, so 
haben wir hier nicht nur an und für sich schon mehrere Gruppen, sondern es 
kommen noch diejenigen Krankheiten dazu, die nach der Landesgesetzgebung, 
also in Preussen nach dem Regulativ vom 8. August 1835 und etwaigen Bezirks- 
Polizeiverordnungen, meldepflichtig bleiben. Es käme dabei ein solcher Wirrwarr 
heraus, dass thatsächlich kein Arzt wissen würde, was, an wen und wann er zu 
melden hätte. Wir haben es deshalb für nöthig erachtet, uns in dem Sinne zu 
äussern, wie der Herr Referent es gethan hat, nämlich die sämmtlichen melde¬ 
pflichtigen Krankheiten in eine Gruppe zu vereinigen. Wir sind ferner genau 
ebenso wie der Herr Referent der Ansicht gewesen, dass es nöthig ist, nicht nur 
Cholera und Pocken oder auch Gelbfieber und Beulenpest anznmelden, sondern 
wir meinen, dass die sämmtlichen hier angegebenen Krankheiten als meldepflichtig 
bezeichnet werden müssen. Ich erlaube mir auch, darauf aufmerksam zu machen, 
dass die Mortalität bei einzelnen dieser anderen Krankheiten, besonders bei der 
Diphtherie, doch eine nicht nur relativ, sondern auch absolut grössere ist, als 
bei Cholera. Nur wenn die Cholera explosionsartig, mit einem Male auftritt, 
bringt sie eine Mortalität, die kolossal ist. Ich kann das mit einigen Ziffern 
belegen. Wir haben an Diphtherie durchschnittlich jährlich eine Mortalität von 
180—190 auf 100000 Lebende. In den Jahren, in welchen die Cholera ständig 
gewesen ist, also 1849—1859, hat die Mortalität der Cholera nur etwa 60 auf 
100 000 Lebende betragen. Nur während derZeit, wo die Cholera ganz plötzlich 
aulgetreten ist — und diese Zeit hat nie sehr lange gedauert — ist es bis zu 
einer Mortalität von 250 — 255 auf 100 000 gekommen. Wir meinen also, dass 
unter allen Umständen die Diphtherie z. B., die beständig, Jahr für Jahr, Opfer 
fordert, eine ebenso grosse Gelahr für die Bevölkerung bildet, wie die Cholera, 



24 


Dr. Rapmund. 


and dass sie vor allen Dingen in ebenso energischer Weise bekämpft werden 
müsse. Dass hier eine allgemeine Regelung für das Reich nöthig ist, geht schon 
daraas hervor, weil Niemand weiss, was jetzt Gesetz und Vorschrift ist. Selbst 
dem Herrn Referenten ist es nicht möglich gewesen, überall das Richtige zu 
treffen. Er sagte, die Meldung von Diphtherie wäre in Preussen obligatorisch. 
Das ist keineswegs der Fall. In unserm Bezirk soll z. B. nur gemeldet werden, 
wenn die Fälle bösartig oder zahlreich sind, so dass es dem Urtheil jedes ein¬ 
zelnen Arztes überlassen bleibt, ob eine Anzeige nöthig ist oder nicht, und wenn 
Sie sich eine grössere Ortschaft denken, wo 3, 4 Aerzte aus verschiedenen Ge¬ 
genden hinkommen und jeder 2, 3 Fälle behandelt, dann möchte ich wissen, wer 
von diesen Aerzten sich ein Urtheil darüber bilden kann, ob die Fälle zahlreich 
oder bösartig sind. 

Wir sind auch zu der Ansicht gekommen, welche der Herr Referent aus¬ 
gesprochen hat, dass die Meldepflicht nicht nur den Aerzten, sondern auch den 
Kurpfuschern zugemuthet werden müsse. Ist man der Ansicht, wie wir es 
zweifellos sein müssen, dass es bei der Bekämpfung ansteckender Krankheiten 
in erster Reihe darauf ankommt, schnell den Kranken zu isoliren, muss man 
weiter zugeben, wie ich statistisch nachweisen kann, dass die Bekämpfung z. B. 
der Dyphtherie unmöglich geworden ist, sobald die Krankheit erst einmal in 
einer Ortschaft um sich gegriffen hat, so wird man auch fordern müssen, dass 
die Möglichkeit eines frühzeitigen sanitätspolizeilichen Eingreifens zuerst in 
Betracht gezogen werde. Gehen der Anordnung von Schutzmassregeln erst lange 
Berathungen, lange Schriftsätze voraus, so dauert es Monate lang, ehe sich über¬ 
haupt eine Wirkung von irgend einer Anordnung zeigt, während umgekehrt 
das schleunige Eingreifen sich sofort bemerkbar und fühlbar macht. Nun wird 
aber jeder, der auf dem Lande zu thun hat, es gar nicht selten erleben, dass die 
ersten 3, 4, 5 Fälle von Kurpfuschern behandelt werden, dass diese Kranken 
sterben, dass die Krankheit von einem Haus zum anderen verschleppt wird, und 
dass erst, wenn die Sache eine grosse Ausdehnung gewonnen hat, endlich ein 
Arzt geholt wird. Wir ‘meinen deshalb, entgegen der Anschauung, welche der 
Geschäftsausschuss des Aerztevereins ausgesprochen hat: so lange den Kur¬ 
pfuschern nicht nur gestattet ist, Knochenbrüche und Verrenkungen zu behandeln, 
sondern so lange es ihnen auch erlaubt ist, Cholera und Diphtherie zu behandeln, 
so lange müssen diese Kurpfuscher auch verpflichtet sein, zu melden. Will man 
den Kurpfuschern entgegentreten, so mag man das Kuriren durch gesetzliche 
Bestimmungen verbieten, aber so lange sie die Berechtigung dazu haben, so 
lange, müssen sie auch melden. 

Wir haben uns ferner der Ansicht zugeneigt, das die Meldung in erster 
Linie beim Medizinalbeamten erfolgen müsse, und zwar aus dem Grunde, den 
ich schon äusserte: dass es doch vor Allem auf Schnelligkeit ankommt. Soll die 
Meldung bei der Ortspolizeibehörde erfolgen, so vergeht einmal eine lange Zeit, 
ehe sie in grösseren Distrikten an den Ortspolizeivorsteher kommt, und es ver¬ 
geht nachher wieder eine längere Zeit, ehe der beamtete Arzt benachrichtigt ist. 
Hält man das Prinzip fest, dass ein schleuniges Eingreifen nöthig ist, so ist alles 
das geboten, was in irgend einer Weise eine Beschleunigung des Eingreifens des 
beamteten Arztes fördern kann. Wir meinen deshalb — was zweifellos der Herr 
Referent auch nur übersehen hat — dass bei der Meldepflicht nicht nur der 
schriftliche oder der mündliche Weg, sondern auch der telegraphische vorgesehen 
werden muss. Wir meinen, dass es nöthig ist, alle im Gesetzentwurf erwähnten 
ansteckenden Krankheiten innerhalb einer Zeit von höchstens 24 Stunden an den 
Medizinalbeamten zu melden, ganz gleichgültig, ob auf mündlichem, schriftlichem 
oder telegraphischem Wege; der Schwerpunkt ist eben darauf zu legen, dass 
die Anzeige innerhalb 24 Stunden in die Hände der betreffenden Behörde, des 
Medizinalbeamten, gelangt. 

Kreis - Phys. Dr. Meyhoefer (Görlitz): M. H.! Ich möchte nur zu einem 
Punkte eine kurze Bemerkung machen, das ist die Anzeigepflicht bei Kindbett¬ 
fieber. Ich bin nicht der Ansicht des Herrn Referenten, dass bei der Melde¬ 
pflicht für das Kindbettfieber die Polizeibehörden eine wesentliche Rolle zu 
spielen haben, und zwar auf Grund der Erfahrungen, welche wir bei uns zu 
Hause in Schlesien gemacht haben. Dort ist das Kindbettfieber nur beim be¬ 
amteten Arzt zu melden, und es haben sich bei uns irgendwelche Unzuträglich¬ 
keifen daraus nicht ergeben. Ich bin der Ausicht, dass die Polizeiverwaltung 



Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 25 


beim Kindbettfieber irgend welches aktuelle Interesse gar nicht hat, ganz im 
Gegensatz za anderen Infektions-Krankheiten, bei welchen die sozialen Verhält¬ 
nisse der durch die Krankheit Bedrohten eine grosse Rolle in Bezog auf die 
Gefährdung spielen. Das ist doch beim Kindbettfieber nicht der Fall, indem 
dort nur vorwiegend lokale Ursachen der Uebertragung in Frage kommen. Es 
werden also da die unteren Klassen und die besseren Stände gleichmässig ge¬ 
fährdet, und ich glaube, wir haben volle Veranlassung, die berechtigte Empfind¬ 
lichkeit der besseren Stände zu schonen, wie wir auch ein Interesse daran haben, 
uns das Entgegenkommen der nichtbeamteten Kollegen nicht zu verscherzen. 
Deshalb müssen wir Alles weglassen, was die Anzeigepflicht unnöthig unangenehm 
macht. Ich weiss nicht, was die Polizeibehörde beim Kindbettfieber thun soll. Es 
handelt sich hier um Schutzmassregeln, die der Sachverständige angeben muss, 
und das ist der beamtete Arzt. Der hat der Hebamme zu sagen, was sie zu 
thun und zu lassen hat. Das Erscheinen der Polizeiverwaltung in dem Hause, 
in welchem ein Kindbettfieber aasgebrochen ist, ist daher nach meiner Ansicht 
vollständig überflüssig. Ich habe auch bei uns nicht beobachtet, dass sich irgend¬ 
wie ein Gegensatz zwischen den beamteten und den nichtbeamteten Aerzten 
herausgestellt hätte. Ich habe gefunden, dass die Kollegen, allerdings allmäh¬ 
lich erst, dahin gekommen sind, der Anzeigepflicht recht gut zu genügen, und 
ich würde der Bestimmung im ursprünglichen Entwurf, wonach also das Kind- 
bettfieber nur dem beamteten Arzt zu melden ist, entschieden den Vorzug geben. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: Das entspricht ja durchaus 
meinem Vorschläge, nach dem die Anzeigen über ansteckende Krankheiten an den 
beamteten Arzte gerichtet werden sollen. Ich differire mit dem Herrn Vorredner 
daher nur in dem Punkte, dass meines Erachtens die Mitwirkung der Ortspoli¬ 
zeibehörde bei der Verhütung des Wochenbettfiebers nicht völlig zu entbehren 
ist und da muss ich an dem vorher von mir vertretenen Standpunkte festhalten. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Wernich (Berlin): M. H. 1 Ich habe nur 
ein Bedenken zu äussern, in Bezug auf die subsidiäre Anzeigepflicht in §.2. Es 
handelt sich da 1) um Personen, die in’s Vertrauen zugezogen werden, — und 
2) um Personen, die zufällig demselben Haushalte angehören. Es wird nun zum 
Verdachtschöpfen eine so grosse Gruppe von Personen dort angeführt — neben 
dem Haushaltungsvorstande die Familienmitglieder und mehrere andere Personen 
—, dass es wirklich bloss um Verdacht auf eine Krankheit zu schöpfen, nicht 
noch der Zufügung weiterer Personen bedarf. Es sind einmal die mit der 
Pflege betrauten Vertrauenspersonen hier gemeint, und es sind die, wie es 
heisst, mit der Behandlung neben dem Arzt noch betrauten Vertrauensper¬ 
sonen gemeint. In Bezug auf letztere Personen, die auch noch mit der Anzeige¬ 
pflicht betraut werden sollen, also auf diejenigen, welche auf Grund der 
Gewerbeordnung Praxis treiben, möchte ich mir erlauben, Stellung zu 
nehmen. Das ist ja vielfach schon an anderen dazu berufenen Stellen geschehen; 
aber ich halte es doch für nöthig, dass man die Frage auch hier bei uns ganz 
unumwunden und klar beleuchtet, gegenüber den Erfahrungen, die man über diese 
Personen z. B. im Regierungsbezirk Minden gemacht hat. Von den Erfahrungen, 
die dort gemacht worden sind, trifft bei uns hier keine einzige zu. Wir brauchen 
nicht noch mehr Personen, die einen Verdacht nicht wissenschaftlich substanziiren 
können. Die einzige Person, die im Staate zu dieser Leistung befähigt ist, ist 
der Arzt. Was will es uns nützen, wenn noch mehr Vermuthungen ausge¬ 
sprochen werden — denn Sie werden doch Alle mit mir der Meinung sein, dass 
der auf Grund der Gewerbeordnung zur Praxis zugelassene, nicht vorge¬ 
bildete Heilbeflissene lediglich eine Vermuthung aussprechen kann, eine 
Vermuthung, die sich dem anscbliesst, was man populär im Augenblick über 
eine sich verbreitende Seuche denkt. Diese Vermuthung wiegt nicht schwerer 
als jede andere. Wir wollen etwas wissen, und dass dieses der einzige klar 
liegende Weg ist, geht schon daraus hervor, dass man sich keine Vorstellung 
darüber bilden kann, wie eine höhere Sanitätsbehörde oder ein Medizinalbeamter 
oder eine Ortspolizeibehörde mit einem solchen „Behandelnden“ verfährt ? — Bei 
uns hier in Berlin gehören diese Heilbeflissenen einzig und allein vor die Ge¬ 
werbebehörde, bei der sie sich anzumelden haben, und sie kommen erst 
dann mit der Medizinalbehörde in Kontakt, wenn sie irgend welche Aus¬ 
schreitungen begangen haben, oder wenn ihnen ein Missgeschick passirt ist; 
und dabei sollte man es belassen. Sie zu Fühlorganen unserer Wissenschaft zu 



26 


Dr. Rapmund. 


machen, w&re m. E. ein sehr folgenschwerer Fehler. Ich möchte deshalb, wenn 
es nachher zur Redaktion des §. 2 kommt, diesen so ansdrücken, dass (an erster 
subsidiärer Stelle) nur gesagt wird: „die mit der Pflege der Kranken betrau¬ 
ten Personen“. — Das erfüllt vollständig, was man beabsichtigt und man 
kommt nicht in die üble Lage, mit den Heilbeflissenen ohne Vorbildung paktiren 
zu müssen. 

H. Ober-Med.-Rath Kr.-Phys. Dr. Lesenberg (Rostock): M. H.! Da es sich 
am einen deutschen Gesetzentwurf handelt, so bitte ich, auch mir als nichtpreus- 
sischen Theilnehmer dieser hochgeehrten Versammlung zu gestatten, hierbei das 
Wort zu nehmen. Bei uns in Mecklenburg bestehen Bestimmungen über die 
Hebammen und das Hebammenwesen, über die Behandlung der Anzeigepflicht 
u. s. w. beim Kindbettfieber, welche entschieden sehr erschwert werden würden, 
wenn nach dem Vorschläge des Herrn Referenten der §. 3 mit dem §. 1 zu¬ 
sammengefasst werden würde. 

Ich darf ganz kurz Ihnen eine Uebersicht über die Einrichtung dieses 
Hebammenwesens geben. Das Land ist in eine grössere Anzahl von nicht sehr 
grossen Hebammenaufsicbtsbezirken getheilt, und die Hebammen dieser Aufsichts¬ 
bezirke sind einzelnen Hebammenaufsichtsärzten unterstellt. Diese Aufsichts¬ 
ärzte sind keineswegs identisch mit den beamteten Aerzten. Wir haben in 
Mecklenburg nur 12 Kreisphysikus, deren Zahl für die Besetzung der weit zahl¬ 
reicheren Hebammenaufsichtsarztstellen nicht ausreichen würde. Allerdings ist 
von unserer Regierung vorgesehen, dass jedem Kreisphysikus ein Aufsich tsbezirk 
übertragen wird, aber die viel grössere Anzahl der Hebammenaufsichtsärzte sind 
eben nichtbeamtete Aerzte. Wenn es nun festgesetzt werden sollte, dass jede 
Erkrankung an Kindbettfieber dem beamteten Arzte anzuzeigen ist, so würde 
eine Schwierigkeit entstehen, eine Verzögerung des Verfahrens, die jetzt bei uns 
nicht stattfindet, wo die Anzeige von Seiten der Hebamme allein, nicht von dem 
behandelnden Arzte, an den Hebammenaufsichtsarzt erstattet wird, wo der Heb¬ 
ammenaufsichtsarzt das Recht hat, sofort Verfügungen zu treffen. Er hat das 
Recht, der Hebamme die Praxis zu untersagen, bis eine Desinfektion derselben 
vorgenommen worden ist, er hat die Anzeige an unsere beamtete Medizinal¬ 
behörde, an die Grossherzogliche Medizinalkommission, zu erstatten, die Desin¬ 
fektion der Hebamme etc. zu beantragen und damit ist dann vollständig Alles 
geschehen, was für solchen Fall nöthig ist. 

Schon seit Jahren besteht diese Hebammenordnung in unserem Lande 
und sie hat sich vorzüglich bewährt. Es ist das Kindbettfieber bei uns ganz be¬ 
deutend herabgegangen. Um also zu verhüten, dass durch die von dem Herrn 
Referenten vorgeschlagene Einrichtung diese Ordnung, die sich bei uns wohl 
bewährt hat, gestört würde, möchte ich vorschlagen, das Kindbettficber in dem 
besonderen §. 3 stehen zu lassen. Freilich muss ich hier nun auch mit Rück¬ 
sicht auf unsere Einrichtungen eine etwas andere Fassung dieses Paragraphen 
beantragen, indem also nicht die Anzeigo nur von dem behandelnden Arzt, 
sondern auch von der Hebamme geschehen kann. Es müsste also anstatt „in 
Ermangelung eines solchen“ heissen „beziehentlich von der Hebamme zu ge¬ 
schehen hat“, und müsste ferner bestimmt werden, dass die Anzeige „an den 
beamteten Arzt, beziehentlich den zuständigen Hebammenaufsichtsarzt“ zu machen 
sein würde. 

Ich glaubte, ira Interesse unserer Einrichtungen mit dieser Meinungs¬ 
äusserung nicht zurückhalten zu dürfen. 

H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: M. H.! Zu meinem Bedauern 
befinde ich mich in einem wichtigen Punkte mit dem Herrn Referenten nicht in 
Uebereinstimmung, und zwar betreffs der zur Anzeige bestimmten Personen. 
Nach den Erfahrungen, die ich in diesem Punkte gemacht habe, ist eigentlich 
allein die Anzeige des Arztes von Werth. Ich halte die Anzeigepflicht aller 
anderen Personen für ziemlich überflüssig und werthlos. Es besteht in meiner 
Heimathprovinz eine Verordnung, die jedesmal beim Auftreten der Cholera wieder 
in Kraft gesetzt wird, wonach auch die Haushaltungsvorstände verpflichtet sind, 
Cholera oder choleraverdächtige Fälle anzuzeigen. Trotz der recht erheblichen 
Zahl von Fällen von Cholera und von choleraverdächtigen Krankheiten, die im 
letzten Jahre in meinem Beobachtungskreise vorgekommen sind, erinnere ich mich 
kaum, dass von einem Haushaltungsvorstande eine Anzeige erstattet worden ist. 
Und was nun noch die Hinzuziehung dieser anderen Personen unter 4, 5, 6 be- 



Der Entwarf e.'Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 27 


trifft, so sehe ich wirklich davon gar keinen Nutzen. Will man Aber den Arzt 
hinansgehen, so würde ich es für vollkommen genügend halten, wenn man den 
Hansh&ltnngsvor8tand mit bineinzieht, bezw. diejenigen Personen, die eine 
analoge Stellung haben, also Institutsvorsteher, Schiffer und dergl. Ich bin aber 
durchaus dagegen, dass man jede sonst mit der Behandlung oder Pflege des 
Erkrankten beschäftigte Person in diese Rubrik aufnimmt. Wenn der erweiterte 
Geschäftsausschuss des Aerztevereinsbundes sich fUr den Ausschluss dieser Per¬ 
sonen von der Anzeigepflicht ausgesprochen hat, so ist der Grund dafür nicht 
der gewesen, dass man etwa glaubte, durch die Auferlegung dieser Pflicht das 
Ansehen der Kurpfascher zu erhöhen. Davon ist gar keine Rede gewesen; son¬ 
dern der Grund war ein anderer. Wir Alle, die wir hier versammelt sind, 
bedauern es, dass durch die Gewerbegesetzgebung von 1869 die ärztliche Praxis 
freigegeben worden ist. Es ist das ein Schaden für das Gemeinwesen. Ich 
spreche hier nicht von dem Schaden, den der ärztliche Stand dadurch erlitten 
hat; wäre es zum öffentlichen Besten, dann würde man ja darüber hinwegsehen 
können, da das Gemeinwohl natürlich vorgeht. Aber gerade für die Bekämpfung 
der gemeingefährlichen Krankheiten ist diese Freigebung der Heilkunst ein ganz 
besonderer Nachtheil. Es kommen dadurch, dass sich gewerbsmässig eine ganze 
Menge von unfähigen und unwissenden Menschen mit der Behandlung und Heilung 
von Krankheiten beschäftigt, viele ansteckende Krankheiten nicht zur Kenntniss, 
die sonst durch das Hinzurufen des Arztes den Behörden bekannt geworden 
wären. 

Nun sind wir ja zwar nicht in der Lage, hier bei dieser Gelegenheit 
Anträge auf Aenderung der Gesetzgebung zu stellen. Aber mir scheint doch, 
dass wir Ursache haben, bei jeder Gelegenheit, die sich dafür bietet, dagegen 
uns anszusprechen, dass durch gesetzliche Bestimmungen die gemeingefährliche 
Kurpfuscherei wieder legalisirt, gewissermassen auf neue Basen gestellt, von 
Neuem wieder in ein Gesetz aufgenommen wird. Ich halte den Schaden, der 
daraus erwächst, wenn man die Kurpfuscherei herauslässt, für sehr gering. Es 
kommt ja hinzu, dass, wenn sie einmal wegen versäumter Anzeige unter Anklage 
gestellt werden, sie in der Regel von den richterlichen Behörden freigesprochen 
werden, weil man von ihnen nicht verlangen kann, dass sie die nöthige Fähig¬ 
keit zur Erkenntniss dieser Krankheiten besitzen. Also man erreicht auch nadi 
dieser Richtung nicht viel. Aber mir ist der prinzipielle Grund der wesentliche. 
Ich will, so weit es an mir liegt, nicht die Hand dazu bieten, dass die Kur¬ 
pfuscherei von Neuem hier in einem Gesetze Erwähnung findet, während wir im 
Uebrigen darauf hinarbeiten, dass diese nachtheilige Bestimmung der Gewerbe¬ 
ordnung einmal wieder beseitigt werde. Mit welcher Aussicht auf Erfolg, das 
ist eine andere Frage. 

Was ferner die Frage anbetrifft, wohin die Anzeige gerichtet werden soll, 
so lege ich darauf zwar kein so hervorragendes Gewicht, halte es aber nach 
Erfahrungen, die ich darüber gemacht habe, für zweckmässig, dass die Anzeige, 
wenigstens in den grossen Städten — über die ländlichen Bezirke bin ich nicht 
so orientirt — an den Medizinalbeamten gerichtet wird. Dann kommt sie an 
die Stelle, die zuerst unterrichtet werden muss, wenn irgend Etwas geschehen 
soll. Die Polizeibehörde kann mit der Anzeige gar nichts weiter machen, als 
sie an den Medizinalbeamten weiter zu geben. Ich wüsste nicht, welche selbst¬ 
ständigen Maassregeln sie ergreifen könnte, während, wenn der Medizinalbeamte 
die Anzeige über den Ausbruch von Pocken oder von einer choleraverdächtigen 
Krankheit erhält, er sich sofort orientiren kann, um was es sich handelt und dann 
der Behörde seine Vorschläge machen. 

Das Bedenken, welches Herr Kollege Lesenberg eben in Betreff der 
Mecklenburgischen Verhältnisse geäussert hat, glaube ich, lässt sich dadurch 
beseitigen, dass man diejenigen Aerzte, die mit der Aufsicht über die Hebammen 
betraut sind, als solche betrachtet oder bezeichnet, die amtliche Funktionen zu 
erfüllen haben, und dass also die Anzeigen auch direkt an diese Aerzte in dem 
betreffenden Distrikt gehen können. 

Ich bin gestern bei der Vorberathung allerdings mit meinem Vorschläge 
nicht durchgedrungen, aber ich weiss ja nicht, wie heute das Plenum darüber 
denkt. Ich erneuere daher den Antrag, dass die Nr. 2 aus dem §. 2 heraus¬ 
gelassen wird. 

H. Kreiswundarzt Dr. Peyser (Königsberg i. d. Neum.): M. H.! Ich möchte 
im Gegensatz zu Herrn Med.-Rath Dr. Wernich und zu Herrn Geh. San.-Rath 



28 


Dr. Rapmund. 


Dr. Wal lieh 8 dringend bitten, die Nr. 2 des §.2 beizubehalten. Es würde 
viel zu weit führen, hier über die Kurpfuscherfrage zu verhandeln. Wir wollen, 
dass ein Gesetz zu Stande kommt, das sichere Handhaben zur Unterdrückung 
beginnender Seuchen bietet. Demgegenüber muss meiner Meinung nach jede 
andere Rücksicht zurücktreten. Wir dürfen uns dem nicht verschliessen, dass es 
Kurpfuscher von jeher gegeben hat, dass sie seit Aufhebung des Kurpfuscherei¬ 
verbots vielleicht in noch grösserer Zahl als frflfier vorhanden sind, und ich 
fürchte, sie werden auch in alle Zukunft weiter bestehen. Es ist das eine That- 
sache, über die sich hier weiter zu verbreiten wohl nicht der Ort und die Zeit 
ist. Nun wollen wir doch nicht vergessen, dass der Gesetzentwurf nicht nur die 
Krankheiten, sondern auch den Verdacht der Krankheiten angezeigt haben will, 
nnd das ist doch das Mindeste, was uns der Pfuscher leistet. Er sagt: ich bin 
der Meinung, hier besteht Diphtherie, oder hier besteht Cholera. Dann kommt 
aber der beamtete Arzt, und er wird finden, ob der Verdacht begründet ist 
oder nicht. 

Die Sache ist auch praktisch von ganz ausserordentlicher Bedeutung; 
denn die meisten schweren Seuchen kommen ja in den niederen Ständen vor, und 
da treiben eben die Pfuscher ihr Gewerbe. Ich erinnere mich aus der Stadt, in 
der ich jetzt praktizire, dass ein Fall von Flecktyphus nur dadurch bekannt wurde, 
dass der Tod eingetreten war und die Sache Aufsehen machte, zumal es in einer 
Herberge gewesen war. Hier war der Pfuscher dabei gewesen und hatte den 
Fall nicht angezeigt. 

Vergessen Sie auch Eins nicht: ich möchte sagen, die erziehliche oder 
wenn Sie wollen, die abschreckende Wirkung, die auf Grund einer solchen gesetz¬ 
lichen Bestimmung auf diese Leute ausgeübt werden kann. Hier haben 
Sie einmal die Gelegenheit, einen solchen Pfuscher in Strafe zu nehmen, wie 
das mein Kollege Bräutigam in Königsberg thatsächlich gethan hat. Wenn 
diese Leute mehrfach auf polizeilichem Wege zu 10 M. oder 20 M. Strafe ver- 
urtheilt sind, dann, glaube ich, werden Sie sich ganz gehörig zusammennehmen, 
und werden nicht leichtsinnig derartige Fälle vernachlässigen; sie werden sie 
aus Furcht anzeigen. Stellen wir also diese ganz gewiss berechtigte wissen¬ 
schaftliche und sittliche Abscheu vor diesen Leuten zurück und lassen wir sie 
im Gesetz. 

Ich habe nun nicht recht verstanden, wie H. Med.-Rath Dr. Wern ich 
den Passus geändert wissen will, ob er die Kurpfuscher gänzlich von der Anzeige¬ 
pflicht befreit oder ob er nur in Nr. 2 das Wort „Behandlung“ gestrichen wissen 
will, so dass unter den Pflegern gewissermassen unter anderem Titel doch wieder 
die eigentlichen Kurpfuscher zur Anzeige verpflichtet sein und eventuell bei 
Unterlassung der Anzeige bestraft werden sollen. Im letzteren Falle würde dies 
nur eine stilistische Aenderung sein, die man sich gefallen lassen könnte. That- 
säcblich möchte ich aber die Bestimmung des Gesetzentwurfs stehen lassen und 
in allen Ministerial- und Provinzialverfügungen — ich erinnere beispielsweise an 
die Oberpräsidial-Verfügung für die Provinz Brandenburg, betreffend das Kind¬ 
bettfieber — ist in ganz derselben Weise vorgegangen worden, und gerade beim 
Kindbettfieber — wir haben ja Hebammenpfuscherinnen genug — ist die Sache 
so dringend wie nur irgend möglich. 

H. Kr. - Phys. San.-Rath Dr. Philipp (Berlin): Der Herr Vorredner hat 
mir schon Vieles von dem vorausgenommen, was ich sagen wollte. Ich kann 
aber nicht umhin, hier noch auf die Aeusscrungen des Herrn Med. • Rath 
Dr. Wernich und des Herrn Geh. San. - Raths Dr. Wal lieh s einzugehen. 
Beide gehen von dem Grundsatz aus, dass eine Anzeige von Kurpfuschern nichts 
nütze, weil der Kurpfuscher gar nicht im Stande sei, eine Krankheit richtig zu 
erkennen. Dem muss ich ganz entschieden widersprechen. Wir haben eine 
ganze Reihe von Gegenden nicht nur im weiteren Vaterlande, sondern auch in 
der Nähe von Berlin, wo Kurpfuscher sitzen, die die ärztliche Praxis förmlich 
monopolisirt haben. Ich habe in dem Kreise, in welchem ich Medizinalbeamter 
bin, mehrere grosse Dörfer, wo eigentlich ein Arzt nie hinkommt und in denen 
sehr häufig grössere und kleinere Epidemien, namentlich von Scharlach und 
Diphtherie Vorkommen. Man kann doch nicht wohl darauf verzichten, solchen 
Ortschaften die Segnungen des Reichsseuchengesetzes zu versagen, weil dort die 
Krankenbehandlung durch einen approbirten Arzt nicht stattfindet, dies würde 
aber mit NothWendigkeit eintreten, wenn die nothwendigen sanitären Massnahmen 



Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 29 

nur auf Grand von ärztlichen Anzeigen erfolgen könnten. Dass ein Kurpfuscher 
eo ipso nicht im Stande sein sollte, einen Diphtherie- oder einen Scharlachfall, 
oder anch eine andere nicht so leicht diagnostizirbare Krankheit zu erkennen, 
möchte ich ganz bestimmt bestreiten. Ich habe darüber praktische Erfahrungen. 
Ich bin aber auch nicht der Meinung, dass wir das Kurpfuscherthum stützen, 
indem wir ihm dieselbe Anzeige - Verpflichtung auferlegen, wie den Aerzten, 
sondern .fich bin Wer Meinung, dass wir es damit ganz energisch bekämpfen 
können. Zweifellos ist der Kurpfuscher, wie jeder Andere nach dem Gesetz 
berechtigt, die Heilkunde ausznüben. Daran werden wir Nichts ändern, und ich 
glaube auch, dass bei der allgemeinen Strömung, die vorhanden ist, die Ansichten 
und Hoffnungen, die sich bei den meisten Aerzten, auch bei hervorragenden 
Mitgliedern des Aerztetages ausgebildet haben, dass es möglich sei, die Aerzte 
aus der Gewerbeordnung herauszubringen, sich nicht verwirklichen werden. Ich 
glaube und fürchte, wir werden in der Gewerbeordnung, in der wir einmal sind, 
auch sitzen bleiben. Wenn aber nach der Gewerbeordnung neben dem Arzte 
auch jeder Andere berechtigt ist, ärztliche Praxis auszuüben, so sehe ich gar 
keinen Grund ein, der irgendwie dagegen sprechen sollte, dass man die dem 
Arzte auferlegte Berafspflicht, ansteckende Krankheiten zu melden, dem Kur¬ 
pfuscher nicht ebenso auferlegt. Der Gesetzentwurf geht ja noch weiter und 
verpflichtet eine ganze Reihe anderer Personen dazu. Warum sollen denn die¬ 
jenigen ausgenommen werden, die, ohne die wissenschaftliche Qualifikation dazu 
nachgewiesen zu haben — sie mögen sie ja in manchen Fällen auch haben — 
sich mit der Behandlung von Krankheiten gewerbsmässig befassen P Gerade 
wenn der Kurpfuscher von der Verpflichtung, anzuzeigen, befreit wird, wird ihm 
seine Thätigkeit erleichtert; denn bei seinen Kranken fallen dann alle polizei¬ 
lichen Recherchen und Massnahmen fort. Diese werden von dem betheiligten 
Publikum, nicht bloss in Dörfern und kleineren Ortschaften, auch in den gröss¬ 
ten Städten, und von Gebildeten, wie Ungebildeten häufig als grosse Belästi¬ 
gungen empfunden und es wird als ein Eindringen in das Familienleben aufge¬ 
fasst, wenn über einen Erkrankungsfall Erhebungen angestellt werden. Kommt 
nun gar ein Desinfektions-Wagen vorgefahren, so bricht häufig ein Entrüstungs¬ 
sturm aus. Weitere Kreise des Publikums werden es als eine Erleichterung 
empfinden, wenn sie in Krankheitsfällen der polizeilichen Belästigung sich ent¬ 
ziehen können und dies können sie, wenn sie die Behandlung einem Nicht-Arzt 
übergeben. Wir können doch nicht annehmen, dass das Publikum im Grossen 
und Ganzen so weit aufgeklärt ist, dass es den Arzt vom Kurpfuscher unter¬ 
scheidet, dass es den bedeutenden Unterschied, der zwischen diesen beiden Per¬ 
sonen besteht, anerkennt, and dass es der Ueberzeugung ist, ärztliche Hülfe 
könne nur vom Arzte geleistet werden. Inwieweit wir in dieser Beziehung noch 
zurück sind, wissen wir ja Alle. Wir erleben, dass der Kurpfuscher nicht bloss 
auf dem Dorfe, nicht bloss auf dem Lande zu einer bedeutenden Praxis gelangt, 
wir erleben, dass solche Leute in die grösseren Städte hineinziehen, dass sich 
ihre konsultative Praxis in unglaublicher Weise verbreitet; wir haben in letzter 
Zeit erlebt, dass die Art und Weise, wie Kurpfuscher behandeln, von Aerzten 
nachgeahmt wird, dass eine nicht kleine Zahl der letzteren sich sogar nicht 
scheut, dies öffentlich bekannt zu machen. Ich bitte Sie, denken Sie doch an 
den Pastor Kneipp und seine Jünger, denken Sie doch an das Treiben des 
Herrn Kanitz hier in Berlin, der von einer Anzahl von Aerzten unterstützt 
wird, der sogar im Verein mit praktischen Aerzten Diplome ertheilt, wonach 
die und die Persönlichkeit als Naturarzt approbirt wird. Dem grossen Publikum 
wird dadurch der Gedanke nahegelegt, es gebe nicht bloss eine sogenannte 
wissenschaftliche Medizin, sondern neben derselben und vollständig gleichbe¬ 
rechtigt mit ihr, auf anderen wissenschaftlichen Grundlagen beruhende Heil¬ 
methode, die Naturheilkunde, die Homöopathie, die Wasserheilkunde u. s. w. 
Ueber alle diese mannigfacho Behandlungsmethoden ausübenden Kurpfuscher 
hinwegzusehen, dieselben als für die Seuchengesetzgebung irrelevant zu betrach¬ 
ten, scheint mir nicht gerechtfertigt und ebensowenig, von allen diesen Leuten 
zu behaupten, dass sie mit allgemeinen ärztlichen Begriffen nicht umzugehen 
verständen, dass sie nicht im Stande seien, Krankheiten zu erkennen. Wer auf 
diesem Standpunkt steht, den halte ich für einen Theoretiker, der über den 
idealen Begriff des Arztes, von dem er ausgeht, die Verhältnisse, wie sie sich 
thatsächlich bieten, nicht beachtet. Dem Kurpfuscher die Verpflichtungen abzu¬ 
nehmen, die dem Arzte den Behörden gegenüber auferlegt sind, halte ich für 



30 


Br. Rapmund. 


einen Fehler. Man wird dadurch nur erzielen, dass diese Leute einen noch 
grosseren Zulauf bekommen als jetzt. Wer kann ihnen denn verbieten, auf ihre 
8childer zu schreiben: „N. N., nicht approbirter Heilkünstler“ und darunter 
„Keine Anzeigepflicht“, und so das Publikum von vorneherein darauf hinzuweisen, 
dass, wenn es sich ihrer Hülfe bedient, es polizeilicher Belästigungen vollständig 
überhoben ist. Ich halte es im Gegensatz zu Herrn Wern ich und zu Herrn 
Wall ich8 für unumgänglich nOthig, dass denjenigen, die ärztliche Thätigkeit 
ausüben, auch die Verpflichtung auferlegt wird, die ansteckenden Krankheiten 
zu melden. 

Es ist ja richtig, dass eine Reihe von Freisprechungen der Kurpfuscher 
erfolgt sind, weil die Richter angenommen haben, es könne ihnen die Anzeige- 
Pflicht nicht auferlegt werden, da sie ihrer ärztlichen Bildung nach nicht im 
Stande seien, die Krankheiten richtig zu erkennen. Es ist aber nachher in mir 
bekannten Fällen gegen diese Leute wegen Betrugs vorgegangen worden, der 
darin gefunden wurde, dass sie unvermögend, Krankheiten zu erkennen, doch 
dem Hülfesuchenden Vorreden, heilen zu können und es sind in diesem Sinne 
auch Verurtheilungen erfolgt. Also auch den Grund, dass es gar nicht möglich 
sei, die Kurpfuscher zu kontroliren und zutreffenden Falles zu bestrafen, kann 
ich nicht für stichhaltig anerkennen. Ich bitte die Herren Kollegen, sich doch 
dafür auszusprechen, dass, ebenso wie der Arzt, auch jeder Andere, der sich mit 
der Behandlung von Kranken befasst, zur Anzeige der nach dem Gesetz zu 
meldenden Krankheitsfälle verpflichtet sein soll. 

H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Karsten (Waren in Mecklenburg): M. H.! 
Ich muss um Entschuldigung bitten, wenn ich als nicht preussischer Medizinal¬ 
beamter mich zum Wort gemeldet habe. Ich möchte bezüglich der Nr. 4 noch 
einmal auf unsere mecklenburgischen Verhältnisse exemplifiziren. Wir haben in 
neuerer Zeit speziellere Vorschriften über die Anzeigepflicht für einige Krank¬ 
heiten bekommen. Unsere Anzeigevorschriften sind nicht so allgemein, wie sie 
hier nach der Uebersicht zu sein scheinen, sie sind namentlich speziell für Diph¬ 
therie und für Thyphus neuerdings durch Ministerialverfügungen ergänzt worden, 
die die Aerzte verpflichten, jeden Erkrankungsfall anzuzeigen und zwar ausser 
bei der Ortsobrigkeit auch bei dem beamteten Arzte. Nach den Erfahrungen, 
die wir über die günstige Wirkung, die diese Anzeigepflicht auf die erfolgreiche 
Bekämpfung der Krankheiten hat, seit dieser Zeit gemacht haben, kann ich nur 
dringend empfehlen, dass in das Gesetz hineinkommt, dass die Anzeige, ausser 
bei der Ortsobrigkeit auch bei dem beamteten Arzte gemacht werde. Speziell 
für unsere mecklenburgischen Verhältnisse, speziell für die ländlichen Verhältnisse, 
halte ich es für dringend wünsebenswerth, dass die Anzeige möglichst beschleu¬ 
nigt an den beamteten Arzt gerichtet wird, da es allein auf diese Weise mög¬ 
lich ist, zur rechten Zeit wirklich energisch und mit Erfolg einzugreifen. 

H. Kr.-Phys. Dr. Schlegtendal (Lennep): M. H.I Ueber die Nothwen- 
digkeit der Anzeigepflicht dürfte ja gar kein Zweifel existiren, und ebensowenig 
darüber, dass dieselbe auf das Allerprompteste und Exakteste durchgefübrt werden 
muss. Der Herr Referent hat aber schon auf einen Punkt hingewiesen, der in 
der Debatte bisher nicht zur Sprache gekommen ist; das ist der, dass die Exakt¬ 
heit der Anzeigepflicht Gefahr leidet, wenn nicht die praktischen Aerzte voll 
und ganz bereit sind, auf die Ideen des Gesetzentwurfes einzugehen. Ebenso 
gehört aber auch zur exakten Durchführung der Anzeigepflicht, dass die Stellung 
der beamteten Aerzte radikal geändert wird; denn ich glaube nicht, dass wir in 
nnserer jetzigen Stellung, wo wir auf alle möglichen anderen Sachen angewiesen 
sind, im Stande sind, die an uns gelangten Anzeigen so schnell und prompt zu 
besorgen, wie es wünschenswerth ist. Andererseits wird auch nach meiner 
Ansicht die Handhabung der betreffenden Bestimmungen ganz wesentlich erleich¬ 
tert, wenn die praktischen Aerzte gar keine Sorge mehr zu haben brauchen, 
dass wir beamteten Aerzte als konkurrirende Aerzte in der Praxis ihnen in den 
Weg kommen. Deshalb möchte ich anheimgeben, dass wir schon vor den Reso¬ 
lutionen über die Anzeigepflicht eine dahingehende Resolution aufnehmen, 
dass wir es für die Ausführung des Reichsseuchengesetzes als unerlässlich erachten, 
dass unsere Stellung total geändert werde. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: Dem Herrn Vorredner erwidere 
ich zunächst, dass ich es für unrichtig halten würde, die von ihm gewünschte 



Der Entwurf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten, dl 

Resolution an den Anfang der Abänderungsvorschläge zu setzen und nicht am 
Schluss der Leitsätze, wie dies von mir geschehen ist; denn die Nothwendigkeit 
einer Reform der Stellung der Medizinalbeamten wird durch das g a n z e Seuchen¬ 
gesetz und nicht nur durch einzelne Bestimmungen derselben bedingt. 

Was die von den beiden mecklenburgischen Herren Kollegen Dr. Lesen¬ 
berg und Dr. Karsten auf Grund ihrer dortigen Einrichtungen gemachten 
Vorschläge betreffs der Anzeige von Wochenbettfieber an den Hebammenauf¬ 
sichtsarzt und der doppelten Anzeige bei ansteckenden Krankheiten an die Orts¬ 
polizeibehörde und den Physikus anbetrifft, so will ich zugeben, dass diese Ein¬ 
richtungen ganz praktisch sein mögen, aber dementsprechende Bestimmungen in 
ein Senchengesetz für ganz Deutschland aufzunehmen, ist meines Erachtens nicht 
angängig. Bei einem Reichsgesetze muss doch nicht bloss auf mecklenburgische 
Verhältnisse, sondern auch auf die Verhältnisse in den anderen deutschen Bundes¬ 
staaten Rücksicht genommen werden. Eine doppelte Anzeige bei allen an¬ 
steckenden Krankheiten ist aber nicht durchführbar, da sie die anzeigepflichtigen 
Personen zu sehr belastet, und die Anzeigepflicht bei Wochenbettfieber auf die 
Hebamme zu beschränken, würde nur zur Folge haben, dass in denjenigen nicht 
seltenen Fällen, wo eine Hebamme nicht zugezogen ist, überhaupt keine Anzeige 
erstattet wird, falls die betreffende Wöchnerin an Kindbettficber erkrankt. Es 
müssen somit auch die Acrzte sowie die andern im §. 2 erwähnten Personen bei 
Wochenbettfieber zur Anzeige verpflichtet werden. 

H. Med.-Assessor Dr. Wehmer (Berlin): M. H.! Ich glaube, die Be¬ 
denken, die Herr Ober - Med. - Rath Dr. Lesen berg aus Rostock erhoben hat, 
sind nicht sehr erheblich; denn das, was nnter „beamteten Aerzten“ zu ver¬ 
stehen ist, ist im §. 35 klargelegt. Da heisst es: 

„Beamtete Aerzte im Sinne dieses Gesetzes sind Aerzte, welche vom 
Staate angestellt sind oder deren Anstellung vom Staate bestätigt ist." 

Ich glaube, die mecklenburgischen Hebammen - Aufsichtsärzte können ganz 
gut unter diese Aerzte, welche vom Staate bestätigt sind, eingereiht werden. 
Ausserdem wäre es andererseits wohl eine einfache Verwaltungsmassregel, die 
betreffenden Herren als Beamte für diese bestimmten Funktionen zu erklären. 

Zweitens habe ich aber noch etwas Anderes zu erwähnen: Wenn die An¬ 
zeigepflicht auf eine Behörde beschränkt werden soll, dann halte ich nicht den 
Kreisphysikus, bezw. den beamteten Arzt, sondern die Ortspolizeibehörde für die 
zweckmässigere Stelle. Einerseits glaube ich, dass es die praktischen Aerzte 
vielleicht unangenehm berühren wird, wenn sie lediglich an den beamteten Arzt 
die Anzeige erstatten sollen, und dass sie sich ihm gegenüber zurückgesetzt 
fühlen werden. Zweitens habe ieh aber auch praktische Bedenken deshalb, 
weil ich nicht glaube, dass der beamtete Arzt immer in der Lage sein wird, 
wie es der 6. Abänderungsbeschluss wünscht, die Anzeige sofort weiter zu geben. 
Unter „sofort“ weitergeben verstehe ich, um gleich Missverständnisse abzu¬ 
schneiden, dass er einfach auf die Anzeige schreibt „Urschriftlich zur Kenntniss- 
nahme an die Ortspolizeibehörde weiter gesandt“. Ich glaube, dass der beamtete 
Arzt nicht in der Lage ist, diese sofortige Weitergabe in allen Fällen zu be¬ 
wirken. In Städten wird es ja leicht möglich sein, da ist er anwesend und 
kommt kaum nach ausserhalb; aber in kleinen Orten, wo der beamtete Arzt 
einen grossen Bezirk hat, wo er vielleicht am Morgen um 9 Uhr wegfährt und 
Abends um 10 Uhr wieder nach Hause kommt, kann er dieser Bestimmung gar 
nicht nachkommen. Dagegen besteht die Ortspolizeibehörde doch aus einer Reihe 
von Beamten und ist somit viel eher in der Lage, die ihr erstattete Anzeige 
sofort dem beamteten Arzte weiter zu geben. 

Vorsitzender: Wünscht noch Jemand das WortP Dann 
schliesse ich die Generaldiskussion und eröffne über den ersten 
Abänderungsvorschlag die Diskussion. Derselbe lautet: 

„Die Bestimmungen über die anzeigepflichtigen Krank¬ 
heiten (§§. 1 und 3 des Gesetzentwurfes) und über die anzeige¬ 
pflichtigen Personen (§§. 2 und 4 des Gesetzentwurfes) sind in 
je einem Paragraphen zusammenzufassen.“ 

Da sich Niemand zum Wort meldet, können wir zur Ab- 



32 


Dr. Rapmund. 


Stimmung schreiten. Wer für diese These ist, bitte ich die Hand 
zu erheben.'— Die These ist einstimmig angenommen. 

Wir kommen jetzt zum zweiten Abänderungsvorschlag: 

„Die Anzeigepflicht ist auf den epidemischen Kopfgenick¬ 
krampf, sowie anf alle Todesfälle in Folge einer anzeigepflich¬ 
tigen Krankheit anszndehnen. Von der Anzeige der Todesfälle ist 
jedoch in denjenigen Theilen des Reichs za entbinden, in denen durch 
die obligatorische Leichenschau diese Anzeige an den be¬ 
amteten Arzt gewährleistet ist.“ 

Wünscht Jemand das Wort hierzu? 

H. Kr.-Phys. und San.-Rath Dr. Koppen (Beiligenstadt): Bezüglich der 
hier erwähnten obligatorischen Leichenschau erlaube ich mir zu bemerken, dass 
im Sinne dieser These doch wohl nur eine Leichenschau, wie sie in den 
Städten stattfindet gerechnet, werden kann und nicht eine solche, wie sie z. B. 
zur Zeit auf dem Lande im Regierungsbezirke Kassel besteht, da diese von 
ungebildeten, den niedrigen Berufsklassen angehörenden Laien ausgeübt wird. 

H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Philipp: Dem eben vorgebrachten Bedenken 
ist schon bei der gestrigen Vor Versammlung dadurch Rücksicht getragen worden, 
dass an Stelle des ursprünglichen Entwurfs des Herrn Referenten gesagt worden 
ist, „in denen durch die obligatorische Leichenschau diese Anzeige an den be¬ 
amteten Arzt gewährleistet ist“. Damit ist direkt ausgesprochen, dass, wo die 
Leichenschau dies nicht gewährleistet, die Anzeigepflicht weiter bestehen soll. 
Die ärztliche Leichenschau ist nicht überall durchführbar. Wir haben beispiels¬ 
weise auch im Kreise Niederbarnim eine Leichenschau, die zum Theil durch 
Laien ausgeübt wird, und auf dem Lande wird sich das nicht gut anders aus¬ 
führen lassen. Aus diesem Grande ist eben gesagt worden: es muss durch die 
Leichenschau die Anzeigepflicht gewährleistet werden. — 

Vorsitzender: Es hat sich Niemand mehr zum Wort ge¬ 
meldet. Ich bringe die betreffende These zur Abstimmung und 
bitte, dass diejenigen, welche dafür sind, die Hand erheben. 

Das ist die grosse Mehrheit; die These ist angenommen. 

Wir gehen jetzt zur These 3 über: 

„Die bei Erkrankungen an gemeingefährlichen Krankheiten zu er¬ 
stattenden Anzeigen sind nur an eine Behörde und zwar an den be¬ 
amteten Arzt zu richten.“ 

Die Diskussion ist eröffnet. 

H. Kr.-Phys. Dr. Mewius (Helgoland): M. H.! Wenn ich auch anneh¬ 
men muss, dass die Stimmung der Versammlung im Allgemeinen für den jetzt 
vom Referenten gemachten Vorschlag, also für die Anzeige an den beamteten 
Arzt ist, so halte ich doch für zweckmässiger, wenn die Meldung an die Orts- 
polizeibebörde geschieht Nach §. 2 des Entwurfes sind nicht nur die Aerzte, 
sondern auch noch andere Personen anzeigepflichtig. Besonders in ländlichen 
Kreisen wird es aber für diese Leute, die oft des Schreibens nicht kundig sind, 
sehr viel mehr Schwierigkeiten machen, wenn sie eine schriftliche Anzeige an 
den beamteten Arzt richten sollen, als wenn sie direkt zum Ortsvorstand gehen 
und hier die Anzeige machen können. Diese praktische Rücksicht veranlasst 
mich, gegen die jetzt vorgeschlagene Fassung der These 3 zu stimmen; denn 
meines Erachtens ist es richtiger, dass die Anzeige der Ortspolizeibehörde erstattet 
wird, wie dies im Gesetzentwurf vorgesehen ist und auch von dem Referenten 
ursprünglich vorgeschlagen war. 

H. Reg.- und Med. • Rath Dr. Rapmund: M. H. 1 Ich möchte Sie doch 
bitten, dem gestern in der Vorberathung gefassten Beschluss, dass die Anzeigen 
an den beamteten Arzt zu erstatten sind, Ihre Zustimmung zu geben. Es wird 
dadurch zweifellos ein schnelleres Eingreifen der Sanitätspolizei, insbesondere 
des beamteten Arztes erreicht, als wenn die Anzeigen erst durch die Hände der 



Der Entwurf e. Gesetzes hetr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 33 

Ortspolizeibehörde gehen. Aach das vom Herrn Med.-Assessor Dr. Weh me r 
geäasserte Bedenken, dass der beamtete Arzt oft nicht in der Lage sein wird, 
die Anzeigen sofort weiter zu befördern, theile ich nicht. Wird der vorliegende 
Entwarf Gesetz, so muss die Stellung der beamteten Aerzte eine ganz andere 
werden, sie müssen vor allem auch ein eigenes Geschäftsbureau erhalten, und 
dann kann die Weiterversendnng der Anzeigen bei etwaiger Abwesenheit des 
beamteten Arztes durch den Bureaaarbeiter ebenso besorgt werden, wie dies in 
solchen Fällen auf dem Bureau der Polizeibehörde in gleicher Weise geschieht. 
Die letztere wird ausserdem dadurch, dass die Anzeigen an den beamteten Arzt 
gehen, entlastet, was derselben bei den vielen sonstigen ihr obliegenden Arbeiten 
nur erwünscht sein kann. 

Vorsitzender: Wünscht noch Jemand das Wort? Es ist 
nicht der Fall. Wir können somit zur Abstimmung über These 3 
schreiten. Ich bitte Ihre Zustimmung durch Aufheben der Hand 
zu bezeugen. 

Die These ist fast einstimmig angenommen. 

Die folgende von dem Referenten aufgestellte These Nr. 4 
lautet: 

„Für grossjährige Familienmitglieder und sonstige Hausgenossen 
erscheint eine Verpflichtung zur Anzeige nicht nothwendig.“ 

Dazu ist vom Geh. San.-Rath Dr. Wallichs der Antrag 
gestellt, dass auch die im §. 2 des Gesetzentwurfes unter 2 auf¬ 
geführten „sonst mit der Behandlung der Erkrankten beschäftigten 
Personen“, also die Kurpfuscher, unter den anzeigepflichtigen Per¬ 
sonen gestrichen werden sollen. 

Es hat sich Niemand zu diesen Anträgen zum Wort gemeldet. 
Ich bringe daher zunächst denjenigen des Kollegen Wallichs 
zur Abstimmung. Wer für denselben ist, bitte ich die Hand zu 
erheben. 

Das ist entschieden die Minderheit; der Antrag ist ab ge¬ 
lehnt. Ich lasse nunmehr über die These 4 des Referenten in 
gleicher Weise abstimmen. 

Die These ist mit grosser Mehrheit angenommen. 

M. H., die letzte von dem Referenten zu dem ersten Ab¬ 
schnitt des Gesetzentwurfes aufgestellte These (Nr. 5) lautet: 

„Die Form der Meldekarten über Erkrankungen an ansteckenden 
Krankheiten (§. 5 des Gesetzentwurfes) ist durch den Bandesrath za 
bestimmen. Durch die Erstattung der Anzeige dürfen dem Absender 
keine Kosten erwachsen.“ 

Ich eröffne die Diskussion. Es meldet sich Niemand zum 
Wort, wir können somit zur Abstimmung übergehen. Die Zu¬ 
stimmenden bitte ich, die Hand zu erheben. 

Soweit ich übersehen kann, ist die These einstimmig ange¬ 
nommen. 

H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Rapmand: M. H.! Wir kom¬ 
men nunmehr zur Besprechung des zweiten Abschnittes des Ge¬ 
setzentwurfes (§§. 6 —10): die Ermittelung der Krank¬ 
heit betreffend. Die hier vorgesehenen Bestimmungen in 
Bezug auf die Rechte und Pflichten des beamteten 
Arztes bei der Ermittelung ansteckender Krankheiten können 
wir nur mit Freuden begrüssen; denn es wird hierdurch dem 

8 



Dr. Rapmund. 


34 

Medizinalbeamten eine Stellung, insbesondere der Ortspolizeibehörde 
gegenüber, eingeräumt, die er thatsächlich, wenigstens in unserem 
engeren Vaterlande, bisher nicht in diesem Umfange gehabt hat. 
Er braucht jetzt nicht erst auf die Requisition der Polizeibehörde 
bezw. der Landräthe zu warten, um beim «Ausbruch einer Seuche 
an Ort und Stelle Ermittelungen über die Art, den Stand und die 
Ursache der Krankheit vorzunehmen, sondern hat diese Ermittelun¬ 
gen sofort ohne besonderen Auftrag anzustellen und bei Gefahr 
.inj,Verzüge nach §. 10 des Gesetzentwurfes auch das Recht, die 
zur Verhütung der Verbreitung der Krankheit zunächst erforder¬ 
lichen Massregeln anzuordnen. Wenn es in der Begründung.des 
Gesetzes aber dann heisst, „dass, nachdem einmal der Seuchenaus- 
brüch festgestellt ist, es der Regel nach einer amtsärztlichen 
, Kontrole aller weiteren Krankheitsfälle nicht bedarf,“ und der 
§. 6 des Gesetzentwurfs dementsprechend im Absatz 3 vorschreibt, 
„dass nach der ersten Feststellung 1 der Krankheit von dem beam- 
." teten, Arzte nur im Einverständnis mit der unteren 
Verwaltungsbehörde Ermittelungen vorzunehmen sind“, so 
wird die Thätigkeit des beamteten Arztes bei der Bekämpfung 
der Seuchen durch diese Bestimmung wieder viel zu sehr ein¬ 
geschränkt. Ich meine, auch bei dem späteren Verlaufe einer 
.Epidemie muss es vollständig döm pflichtgemässen Ermessen des 
beamteten Arztes überlassen bleiben, ob er eine nochmalige Unter¬ 
suchung an Ort und Stelle für' nothwendig erachtet, und dies 
nicht von dem Einverständnisse der unteren Verwaltungsbehörde 
abhängig gemacht werden. Der beamtete Arzt soll nicht blos der 
Ortspolizeibehörde die erforderlichen Schutzmassregeln angeben, 
sondern er muss auch die Ausführung derselben überwachen und 
kontrolireh, sonst geschieht eben, wie wir aus Erfahrung 
. wissen, sehr häufig Nichts. Die Ortspolizeibehörde meldeteinfach, 
dass die von dem beamteten Arzte vorgeschlagenen Anordnungen 
durchgefuhrt sind und wenn dieser schliesslich, weil die Epidemie 
trotzdem weiter um sich greift, sich von Neuem an Ort und Stelle 
begiebt, findet er, dass die von ihm angeordneten Massregeln ent¬ 
weder garnicht oder nur unvollständig ausgeführt sind. Soviel 
. Vertrauen darf mari dem beamteten Arzte doch wohl schenken, 
dass er von einer derartigen, ihm im Gesetz zuertheilten Befugniss 
nicht unnöthig Gebrauch machen wird; die dadurch aber etwa 
entstehenden grösseren Kosten können nicht ins Gewicht fallen 
gegenüber den durch ein solches Eingreifen des beamteten Arztes 
bei der Bekämpfung der Volksseuchen zu erzielenden Erfolgen. 

Im §. 6 des Gesetzentwurfes heisst es dann weiter, dass der 
beamtete Arzt nach Vornahme der Erhebungen „der Polizeibehörde 
eine Erklärung darüber abzugeben habe, ob der Ausbruch der 
Krankkeit festgestellt oder der Verdacht des Ausbruchs begründet 
. ist“. M. H.! Diese aus dem Viehseuchengesetz herübergenommene 
Bestimmung ist meines Erachtens eine ebenso überflüssige wie 
verfehlte. Soll der beamtete Arzt dei 1 Ortspolizeibehörd& etwa 
in jedem Falle ein grosses Gutachten darüber abgeben, ob eine 
ansteckende Krankheit besteht oder nicht? Das würde doch nur 



Der Entwurf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 35 

zu unnöthigen Schreibereien und Zeitverlust fuhren! Für die 
. Ortspolizeibehörde kommt es vielmehr darauf an, zu erfahren, ob 
und welche Schutzmassregeln zu ergreifen sind und dies ist in 
dem betreffenden Paragraphen zum Ausdruck zu bringen. Ebenso 
müsste in denselben eine Bestimmung aufgenommen werden, dass 
der beamtete Arzt, an den nach dem vorher von uns gefassten 
Beschlüsse die Anzeige über ansteckende Krankheiten erstattet 
werden soll, verpflichtet sein muss, die Ortspolizeibehörde „sofort“ 
von dem Ausbruche oder dem Verdachte des Auftretens einer 
ansteckenden Krankheit in Kenntniss zu setzen, wie dies von mir 
in These Nr. 6 beantragt ist. Unter Berücksichtigung dieser 
Gesichtspunkte würde dem Abs. 1 des §. 6 folgende Fassung zu 
geben sein: 

„Der beamtete Arzt muss, sobald er von dem Ausbruche oder dem 
Verdachte des Auftretens einer ansteckenden Krankheit (§. 1) Kennt¬ 
niss erhält, die zuständige Ortspolizeibehörde benachrichtigen. Er hat 
unverzüglich an Ort und Stelle Ermittelungen über die Art, den Stand 
und die Ursache der Krankheit vorzunehmen und der Ortspolizeibehörde 
die geeigneten Schutzmassregeln gegen die Weiterverbreitung in Vor¬ 
schlag zu bringen.“ 

Gegen den zweiten Absatz des §. 6 habe ich Nichts einzu¬ 
wenden; im dritten Absatz halte ich es, wie schon gesagt, für 
wünschenswerth, dass die Worte „im Einverständniss mit der unteren 
Verwaltungsbehörde“ gestrichen werden. Der letzte Absatz endlich: 

„Bei Cholera, Fleckfieber, Gelbfieber, Pest und Pocken kann die 
höhere Verwaltungsbehörde Ermittelungen über jeden einzelnen Krank¬ 
heitsfall anordnen“ 

gehört meines Erachtens als spezielle Vorschrift in die Ausführungs¬ 
bestimmungen und nicht in das Gesetz. 

Was den §. 7 des Gesetzentwurfes betrifft, so ist es ja selbst¬ 
verständlich, dass dem beamteten Arzte der Zutritt zu dem Kranken 
oder zur Leiche u. s. w. gestattet werden muss, um die zu den 
Ermittelungen über die Krankheit erforderlichen Untersuchungen 
vorzunehmen. Eine derartige Befugniss haben die beamteten Aerzte 
auch jetzt schon gehabt und vorkommenden Falls ohne jeden Wider¬ 
spruch ausgeübt. Wenn daher besonders von ärztlicher Seite be¬ 
hauptet wird, dass dadurch den beamteten Aerzten grosse neue 
Gerechtsame eingeräumt würden, so ist das durchaus falsch. Ebenso 
kann ich die Ansicht nicht theilen, dass die praktischen Aerzte 
durch das Eingreifen des beamteten Arztes gleichsam bevormundet 
bezw. in eine untergeordnete Stellung versetzt würden. Die Thä- 
tigkeit des letzteren hat sich nur auf die Ermittelung der Ent¬ 
stehungsursache der Krankheit, ihre Verbreitungsart u. s. w., sowie 
auf die Anordnung von Massregeln gegen ihre Weiterverbreitung 
zu erstrecken, also auf solche Momente, mit denen der behandelnde 
Arzt absolut nichts zu thun hat. Jedes Einmischen des beamteten 
Arztes in die Behandlung des betreffenden Kranken ist vollkommen 
ausgeschlossen, und dürfte vorkommenden Falls seitens seiner Vor¬ 
gesetzten Behörde streng geahndet werden. Gerade in sanitäts¬ 
polizeilicher Hinsicht ist aber ein einheitliches Zusammenwirken des 
beamteten und des behandelnden Arztes dringend geboten; die Er- 

3* 



36 


Dr. Rapmund. 


mittelung der Krankheit wird dadurch wesentlich erleichtert und 
daher bestimmt der Gesetzentwurf im §. 7 mit Recht, „dass der 
behandelnde Arzt den von dem beamteten Arzte vorzunehmenden 
Untersuchungen beiwohnen darf.“ Man hätte im Gesetz vielleicht 
auch noch hinzufugen können, „dass der behandelnde Arzt dem¬ 
entsprechend zu benachrichtigen ist“, denn das ist die nothwendige 
Konsequenz jener Bestimmung; eine derartige Bestimmung bleibt 
aber besser den Ausführungsbestimmungen überlassen. 

M. EL! Nachdem im Gesetz einmal dem behandelnden Arzte 
das Recht eingeräumt ist, den Ermittelungen beizuwohnen, so muss 
auch der Fall vorgesehen werden, dass Meinungsverschieden¬ 
heiten zwischen ihm und dem beamteten Arzte entstehen. Bei der¬ 
artigen Meinungsverschiedenheiten kann es sich natürlich nur um 
solche über die Natur der Krankheit und nicht über die von dem 
beamteten Arzte als nothwendig befundenen sanitätspolizeilichen 
Massregeln handeln; im Interesse der Betheiligten liegt es aber 
meines Erachtens, dass für solche Fälle eine Bestimmung in das 
Gesetz aufgenommen wird etwa in der Weise, dass der §. 7 des 
Gesetzes den Zusatz erhält: 

„Entstehen bei den angestellten Ermittelungen Meinungsverschieden¬ 
heiten zwischen dem beamteten und dem behandelnden Arzte ttber die 
Natur der Krankheit, so ist sofort die Entscheidung der höheren Ver¬ 
waltungsbehörde anzurufen. Die Anordnung der erforderlichen Schutz- 
massregeln darf dadurch keinen Aufschub erleiden.“ 

Im letzten Absatz des §. 7 wird schliesslich der Polizei¬ 
behörde das Recht eingeräumt, die Oeffnung der Leiche eines 
Verstorbenen anzuordnen, falls der Verdacht vorliegt, dass dieser 
an Cholera, Fleckfieber, Gelbfieber, Pest, Pocken, Darmtyphus oder 
Rückfallfieber gelitten hat und der beamtete Arzt diese Massregel 
zur Feststellung der Krankheit für erforderlich erklärt. M. H., die 
hier vorgesehene Zwangssektion ist eine Massregel, deren 
Durchführung jedenfalls bei der Bevölkerung auf den grössten 
Widerstand stossen wird und die daher nur in den äussersten 
Nothfallen zur Anwendung kommen sollte. Aus dem Grunde 
habe ich auch in These Nr. 8 vorgeschlagen, dem betreffen¬ 
den Absatz eine Fassung zu geben, durch welche diejenigen 
Fälle, in denen die Vornahme einer Zwangssektion zulässig ist, 
noch bestimmter präzisirt werden, als dies bei der jetzigen Fassung 
geschehen ist. Auch im Viehseuchengesetz ist eine ähnliche eng¬ 
begrenzte Fassung gewählt; um so mehr scheint mir diese im 
vorliegenden Gesetze geboten, damit der Bevölkerung die Garantie 
gegeben wird, dass nur ausnahmsweise zu der Massregel der 
Zwangssektion geschritten werden darf. 

M. H.! Die §§. 8 und 10 des Gesetzentwurfes, gegen die ich 
an und für sich Nichts einzuwenden habe, gehörem ihrem Inhalte 
nach meines Dafürhaltens nicht in den Abschnitt über „Ermitte¬ 
lung der Krankheit“, sondern in denjenigen „über Schutzmassregeln“, 
und zwar in den ersten Paragraphen dieses Abschnittes. Ich 
werde späterhin noch auf dieselben zurtickkommen. 

Ebenso kann füglich der §. 9, betreffend die öffentlichen 
Bekanntmachungen beim Ausbruch ansteckender Krankheiten, 



Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 37 

in dem Abschnitt über Ermittelungen fortfallen. Zunächst lässt 
sich darüber streiten, ob es überhaupt zweckmässig ist, jeden ein¬ 
zelnen Erkrankungsfall an Pocken, Cholera u. s. w. sofort öffent¬ 
lich bekannt zu machen; jedenfalls kann für industrielle Städte 
dadurch oft ein sehr empfindlicher Schaden in Bezug auf Verkehr 
und Handel erwachsen, der in keinem Vergleich steht zu dem 
Nutzen, den derartige Bekanntmachungen für die Beruhigung der 
Bevölkerung u. s. w. haben. Verkehrt würde es allerdings sein, 
die Erkrankungen zu verheimlichen und zu vertuschen, aber des¬ 
halb ist es doch nicht nöthig, nun jeden einzelnen Erkrankungsfall 
gleich an die grosse Glocke zu schlagen. Meines Erachtens würde 
es vollständig genügen, wenn diese öffentlichen Bekanntmachungen 
auf die Fälle beschränkt werden, wo es sich um ein epidemie- 
artiges Auftreten einer ansteckenden Krankheit handelt; liier 
sind sie im allgemeinen öffentlichen Interesse unbedingt geboten. 
Ausserdem halte ich es nicht für zweckmässig, derartige Be¬ 
stimmungen in das Gesetz selbst aufzunehmen, sie bleiben weit 
besser den Ausführungsbestimmungen Vorbehalten, ebenso wie die 
Vorschriften über Benachrichtigungen des Kaiserlichen 
Gesundheitsamtes (§. 41 des Gesetzes) und der benach¬ 
barten Behörden. Auffallender Weise sind die Benachrichti¬ 
gungen der letzteren im Gesetze ganz unerwähnt geblieben, obwohl 
sie zweifellos weit nothwendiger sind, als die Mittheilungen an die 
Zentralbehörden. Ich würde daher folgende Fassung des §. 9 
vorziehen: 

„Ob and in welchem Umfange beim Aasbrache ansteckender Krank¬ 
heiten öffentliche Bekanntmachangen and Benachrichtigungen der 
benachbarten Behörden oder des Kaiserlichen Gesundheitsamtes statt- 
zufinden haben, wird durch die vom Bundesrathe zu erlassenden Aus- 
führungsbestimmungen festgestellt.“ 

(Pause.) 

Vorsitzender: Ich eröffne zunächst die Generaldiskussion 
über den zweiten Abschnitt des Gesetzentwurfes betreffend die 
Ermittelung der Krankheit. 

Da sich Niemand zum Wort meldet, können wir gleich zur 
Spezialdebatte über die einzelnen §§. 6—10 wie über die von dem 
Herrn Referenten dazu gemachten Abänderungsvorschläge Nr. 6 bis 
9 übergehen. These 6 lautet: 

„Dem beamteten Arzte ist die Verpflichtung aufzuerlegen, die Orts- 
pofizeibehörde von dem Ausbruche oder dem Verdachte des Auftretens 
einer ansteckenden Krankheit „sofort“ in Kenntniss zu setzen.“ 

Wünscht Jemand das Wort hierzu? Es ist nicht der Fall; 
wir schreiten somit zur Abstimmung und bitte ich diejenigen, die 
für die Annahme der These sind, die Hand zu erheben. 

Die These ist fast einstimmig angenommen. Wir kommen 
nunmehr zu These 7: 

„Die im §. 7 des Gesetzentwurfes den Polizeibehörden eingeräumte 
Befugniss, bei zweifelhaften Todesfällen eine Oeffnung derLeiche 
anzuordnen, ist auf diejenigen Fälle zu beschränken, in denen nach 
dem Gutachten des beamteten Arztes nicht ohne die Leichenöffnung 
eine Gewissheit darüber zu erlangen ist, ob der Verstorbene an einer 



38 


Dr. Rapmund. 


der im §. 1 genannten gemeingefährlichen Krankheiten gelitten hat 
oder nicht.“ 

Ich eröffne die Diskussion: 

Diskussion: 

i 

H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Philipp: Ich beantrage diese These zu streichen. 
Ich finde* dass der §. 7 des Gesetzes vollständig genügend ist. Die Bedenken, 
die H. Med.-Rath Dr. Rapmund gegen die Fassung dieses Paragraphen vor¬ 
brachte, scheinen mir in Wirklichkeit zu weitgehende zu sein. Es handelt sich 
hier zweifellos fast nur um diejenigen Fälle, wo Cholera in Frage kommen wird, 
und das Bedenken, dass Medizinal beamte unnütz bei ihren Ermittelungen Sek¬ 
tionen machen werden, muss meiner Ansicht nach doch von der Hand gewiesen 
werden. Ich habe z. B. in zwei Fällen, wo ich im Laufe des letzten Viertel¬ 
jahrs Gelegenheit hatte, solche Obduktionen wegen Verdachts von Wiederauf¬ 
treten der Cholera zu machen, ganz und gar nicht das gefunden, was der Herr 
Referent sagte, nämlich dass das Publikum und die Betheiligten sich gegen 
die Vornahme der Obduktionen sträubten. Ira Gegentheil waren sie sehr ein¬ 
verstanden und sehr froh, dass ich nach den Obduktionen sagen konnte, es liegt 
keine Cholera vor. Ich glaube, wenn wir die von dem Herrn Referenten vor- 
gcschlagene Verschärfung in der These annehmen, so werden wir in den Verdacht 
kommen, dass wir bei unserer Thätigkeit nur darauf sehen, möglichst viel Ob¬ 
duktionen zu machen. Ich glaube, der §. 7 in der ursprünglichen Fassung des 
Gesetzes trifft vollständig das Richtige und kann in dieser Form beibehalten 
werden. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: Ich kann nur das, was ich 
vorhin in dieser Hinsicht gesagt habe, aufrecht erhalten, glaube auch nicht, dass 
wir durch Annahme dieser These uns gleichsam das Zeuguiss einer besonderen 
Vorliebe für Sektionen ausstellen, wie dies der Herr Vorredner annimmt. Ich 
muss auch auf Grund der von mir und anderen Kollegen gemachten Erfahrungen 
behaupten, dass gerade die Bestimmung über die Zwangssektion im Publikum als 
eine sehr schwere Belästigung angesehen wird und dass jedenfalls bisher den 
beamteten Aerzten die Vornahme einer Sektion in sanitätspolizeilichem Interesse nur 
ganz ausnahmsweise von den Angehörigen gestattet ist. 

Vorsitzender: Es hat sich Niemand mehr zum Wort 
gemeldet; wir schreiten daher in der bisherigen Weise zur 
Abstimmung. 

Die These ist mit grosser Mehrheit angenommen. 

Ich eröffne die Diskussion über die folgende These: 

„Es ist in dem Gesetze eine Bestimmung für den Fall vorzuschen, 
dass Meinungsverschiedenheiten zwischen dem behandelnden 
und dem beamteten Arzte über die Natur der Krankheit oder zwischen 
der Ortspolizeibehörde und dem beamteten Arzte über die anzuordueu- 
den Schutzmassregoln entstehen.“ 

Diskussion: 

H. Kr.-Phys. Dr. Matthes-(Obornik): M. H.! Das Zusammenwirken 
des behandelnden Arztes und des beamteten Arztes kann man sich doch nur in 
der Weise denken, dass der behandelnde Arzt dem die Untersuchung führenden 
beamteten Arzte über die Entstehung, den Verlauf u. s. w. einer Krankheit 
Aufschluss giebt, damit sich dieser auf Grund dieser Mittheilungen und seiner 
eigenen Beobachtungen ein Urtheil über die Krankheit bilden kann. Eine 
Gegenüberstellung des Urtheils des behandelnden und des beamteten Arztes 
kann meines Erachtens nicht in Frage kommen; denn für die anzuordnenden 
Massregeln ist nur dasjenige des letzteren massgebeud. Ich meine deshalb, dass 
eine Bestimmung über etwaige Meinungsverschiedenheiten gar nicht erforderlich 
ist. Jedenfalls erscheint mir die Fassung im Entwurf, wo davon gar nicht die 
Rede ist, viel besser. 

H. Kr.-Phys. Dr. Jacobson: Ich möchte nur bemerken, dass der Fall im 
Grossen und Ganzen besonders in ländlichen Bezirken wohl kaum je eintreten 
wird. Der behandelnde Arzt wohnt unter Umständen 2, 3 Meilen nach der 



einen, and der beamtete 2, 3 Meilen nach der anderen Seite von dem Kranken 
entfernt. Wenn nun schlennigst gehandelt wärden soll, so ist an eine Betheili-, 
gnng des behandelnden Arztes bei den anznstellenden Ermittelungen gar nicht 
zu denken. Der Physikus resp. > der beamtete Arzt, der die Krankheit fest¬ 
stellen soll, wird, wenn er seiner Pflicht genügt, möglichst schnell an Ort und 
Stelle eilen. Er kann allerdings den behandelnden Arzt telegraphisch benach¬ 
richtigen ; wer aber wird diesen für seine Beise entschädigen ? Er hat gar kein 
Interesse, gegenwärtig zu sein und wird es auch gewöhnlich unterlassen, hinzu¬ 
kommen. — Schon deshalb werden Meinungsverschiedenheiten kaum je auftreten,' 
und ich muss mich daher der Ansicht des Herrn Vorredners anschliessen, dass 
es am besten ist, die Sache zu lassen. 

H. Kreiswundarzt Dr. Peyser: Ich halte die vorgeschlagene Bestimmung 
geradezu für gefährlich, sowohl in Bezug auf das Ansehen der Aerzte als in 
Bezug auf die zu ergreifenden Massregeln. Stellen Sie sich den Physikus vor, 
der mit dem nicht beamteten Arzte in Meinungsverschiedenheit gerätb, und nun 
ruht die ganze Geschichte — so wenigstens ist doch die Fassung nur zu'ver¬ 
stehen — bis die höhere Instanz das ausgetragen hat (Widerspruch). Es 
ist ja auch selbstverständlich, dass gegen jede behördliche Anordnung ein 
Beschwerdeweg vorhanden ist. Di© Hauptsache ist: dass der Meinung des Phy¬ 
sikus gemäss zunächst zu verfahren ist, fühlt sich Jemand beschwert, so hat er 
den geordneten Instanzenweg einzuschlagen. Das aber in das Gesetz oder auch 
nur in die Ausführungsbestimmnngen einzufügen, halte ich nicht für nothwendig. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: M. H.!' Ich möchte Sie doch 
bitten, der These Ihre Zustimmung zu geben, Wenn wir einmal, wie ieh schon 
vorher bemerkt habe, dem behandelnden Arzte im Gesetz das Recht etnräumea, 
der Ermittelung beizuwohnen, dann müssen wir auch unbedingt den Fall vor¬ 
sehen, dass Meinungsverschiedenheiten zu Tage treten; denn es ist doch nicht 
ausgeschlossen, dass der behandelnde Arzt Uber die Natur der Krankheit ganz 
anderer Ansicht sein kann, als der betreffende Medizinalbeamte. Das Urtheil 
des letzteren für solche Fälle ein für alle Mal als unfehlbar zu erklären, geht 
meines Erachtens zu weit. Dem behandelnden Arzte muss entschieden das Recht 
zustehen, vorkommonden Falls an eine höhere Instanz zu appelliren. Ich sehe 
auch nicht ein, dass dadurch die amtliche Stellung bezw. das amtliche Ansehen 
der Medizinalbeamten geschädigt werden könnte. Beschwerden und Widerspruch 
gegen ihre Entscheidungen muss sich jede Behörde gefallen lassen. Wird der 
beamtete Arzt ausserdem aus der Reihe der konkurrirenden Aerzte verschwinden, 
so werden etwaige Zerwürfnisse und Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm 
und dem behandelnden Arzte zu den grössten Seltenheiten gehören. 

H. Kr.-Phys. Dr. Schlegtendal: M. H.! Ich glaube, wenn Sie sich klar¬ 
machen, wie es in der Praxis nachher gehen wird, so werden Sie eine derartige 
Bestimmung nicht in das Gesetz aufnehmen. Streiten sich der beamtete und 
der behandelnde Arzt Uber die Natur der Krankheit, so wird der beamtete auf 
seinem Votum bestehen bleiben, die Ortspolizeibehörde seinen Vorschlägen gemäss 
handeln. Der behandelnde Arzt wird dann, je nachdem seine Bedenken mehr 
oder weniger stark sein werden, sagen, ich werde die Entscheidung der Vorge¬ 
setzten Behörde anrufen, auch ohne dass dies im Gesetz besonders vorgesehen 
ist. Ich glaube daher nicht, dass es nothwendig und wünschenswerth ist, eine 
solche Bestimmung in das Gesetz hineinzunehmen. Das wird sich später in der 
Praxis ziemlich leicht von selbst regoln. i 

H. Kr.-Phys. Dr. Jacobson: M. H.! Ich möchte auch meinen, dass in 
mancher Beziehung die ganze Frage der Erüiittelungen eine Verschlechterung 
gegen unsere jetzigen Zustände bedeutet und durch die Einführung einer Mass- 
regel, wie sie der Herr Referent vorgeschlagen hat, eine, noch weitere Ver¬ 
schlechterung der jetzigen Zustände herbeigeführt wird. Wenn heute der 
beamtete Arzt beauftragt wird, an Ort und Stelle den Charakter einer Krank¬ 
heit festzustellen, so setzt das voraus, dass die Krankheit vorher polizeilich fest¬ 
gestellt ist. (Rufe: Nein!) Der Landrath muss unter der Liquidation bescheini¬ 
gen, dass die Krankheit bereits polizeilich festgestellt ist. (Rufe: „Aerztlich“.) 

Vorsitzender: Ich will nur erwähuen, dass nach den bestehenden'Vor¬ 
schriften die ersten Fälle von der Polizeiverwaltung unter Zuziehung eines 



40 Dr. Rapmund. 

Arztes festgestellt sein müssen, ehe auf Staatskosten eine Entsendung des Physikus 
erfolgen kann. 

H. Kr.-Phys. Dr. Jacobson (fortfahrend): Nnn meine ich, m. H., die 
polizeiliche Feststellung erfolgt in den allerseltensten Fällen, ja ich möchte fast 
sagen, nie durch den beamteten Arzt; denn wenn der beamtete Arzt die polizei¬ 
liche Feststellung vornimmt, so ist es nicht mehr nöthig, dass er nachher noch 
als Physikus hinreist. Nun ist der feststellende Arzt also ein Privatarzt, aber 
bisher ist es doch keinem beamteten Arzte eingefallen, etwa denjenigen, der 
polizeilich festgestellt hat, zu benachrichtigen und zu sagen: „Ich habe den 
Auftrag, dort und dort hinzureisen, die Krankheit an Ort und Stelle näher fest¬ 
zustellen; sondern er reist hin und stellt fest. Durch eine Massregel, wie sie 
der Herr Referent vorgeschlagen hat, würde die Feststellung durch den beam¬ 
teten Arzt, würde dasjenige, was der beamtete Arzt erfüllen soll, wesentlich 
verlangsamt, wesentlich verschlechtert werden. 

Noch in anderer Richtung bedeutet der Entwurf eine Verschlechterung, 
wenn nicht das, was der Herr Referent zum Ausdruck gebracht hat, Qesetz 
wird, nämlich die Anordnung der Schutzmassregeln, die nach dem gegenwärtigen 
Entwurf den Händen des Medizinalbeamten resp. des beamteten Arztes entzogen 
ist. Der beamtete Arzt hat nach dem Entwurf Nichts zu thun, als festzustellen, 
ob die fragliche Krankheit vorhanden ist oder nicht. (Widerspruch.) Er ist 
nicht mehr in der Lage, der Ortspolizeibehörde zu sagen, dagegen muss das und 
das gethan werden, sondern die Anordnung der Schutzmassregeln erfolgt aus¬ 
schliesslich durch die Ortspolizeibehörde. (Widerspruch.) Nur in Nothfällen, 
nur wenn Gefahr im Verzüge ist, darf der beamtete Arzt irgend etwas thun. Diese 
Zustände sind schlechter als sie jetzt sind. Wenn jetzt der Medizinalbeamte 
beauftragt wird, an Ort und Stelle die Ursachen einer Krankheit näher festzu¬ 
stellen, so erhält er — wenigstens wird dies mir gegenüber immer so gehalten 
— auch den Auftrag, vorläufig sofort an Ort und Stelle die nöthigen Schutz¬ 
massregeln anzugeben, und es ist mir noch nie passirt, dass den Behörden — es 
sind nicht die Ortspolizeibehörden, sondern die unteren Verwaltungsorgane, die 
dies kontroliren — irgend eine Aenderung meiner Vorschläge nöthig erschien. 
Wenn dagegen der Entwurf so, wie er dasteht, zum Gesetz erhoben wird, so 
wäre es einfach eine Form, wenn der Medizinalbeamte hinreist, und käme dazu 
noch der Vorschlag, den der Herr Referent gemacht hat, so käme zu dieser 
Form noch die Möglichkeit eines unerquicklichen Zwistes und eines Streites 
zwischen dem beamteten und dem behandelnden Arzte. 

Vorsitzender: Es hat sich Niemand mehr zum Wort ge¬ 
meldet- Ich schliesse die Diskussion und bringe die These 8 zur 
Abstimmung. Diejenigen, die für Annahme der These sind, bitte 
ich die Hand zu erheben. 

Das ist die Minderheit, die These ist abgelehnt. 

Die folgende These lautet: 

„Etwaige Vorschriften über öffentliche Bekanntmachungen 
sowie über Benachrichtigungen benachbarter Behörden und des 
Kaiserlichen Gesundheitsamtes (§§. 9 und 41 des Gesetzentwurfes) beim 
Ausbruch gemeingefährlicher Krankheiten sind den Ausführungs- 
bestimmungen vorzubehalten. a 

Ich ertheile zunächst dem H. Referenten das Wort: 

Diskussion: 

H. Reg.- und Med.- Rath Dr. Rapmund: M. H.! Die These 9 ist zwar 
in der gestrigen Vorberathung abgelehnt worden; ich hoffe aber trotzdem, dass 
Sie derselben zustimmen werden. Ich habe schon mehrfach betont, dass alle 
speziellen Vorschriften zweckmässiger in die AusfUhrungsbestimmungen und nicht 
in das Gesetz selbst aufgenommen werden, ein Standpunkt, den auch Sie durch 
einzelne der vorher gefassten Beschlüsse als richtig anerkannt haben. Im §. 9 
des Gesetzentwurfes, auf den sich die These 9 bezieht, handelt es sich aber 
lediglich um spezielle Vorschriften; aus diesem Grunde möchte ich diese daher 
nicht in das Gesetz aufgenommen wissen und hoffe, dass Sie damit einverstanden 



Der Entwurf e. Gesetzes bctr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 41 

sein werden; Sie würden sich sonst mit dem bisher eingenommenen Standpunkte 
in Widerspruch setzen. 

H. Phys. San.-Rath Dr. Philipp: M. H.! In der gestrigen Vorversammlung 
waren wir uns darüber schlüssig geworden, dass das, was sich in dem Leitsätze 9 
vorfindet, doch eigentlich die Medizinal beamten sehr wenig angehe, und das es 
Sache der Verwaltungsbehörde resp. des gesetzgebenden Körpers sein wird, die 
hier in Frage kommenden Punkte richtig in dem Gesetze resp. den Ausführungs- 
bestiminungen unterzubringen. Wir sind von der Meinung ausgegangen, dass 
wir durch eine Debatte darüber, was in das Gesetz oder was in die Ausführangs- 
bestimmungen gehört, nur unnütze Zeit verschwenden und haben daher die in 
Frage stehende These abgelehnt. Ich schlage Ihnen vor, das gleichfalls zu thun. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: Ich bemerke, dass der Beschluss 
mit 7 gegen 6 Stimmen gefasst ist, also nur mit einer Stimme Majorität. Uebri- 
gens kann ich die vom Herrn Vorredner geäusserte Ansicht, dass wir uns hier 
gleichsam nur über die medizinische Seite des Gesetzes auszusprechen haben, 
nicht theilen. Wir sind eben als Medizinalbeamten nicht bloss Mediziner, sondern 
auch Verwaltungsbeamte und als solche kann uns die Fassung eines Gesetzes 
besonders mit Rücksicht auf seine spätere praktische Handhabung und Durch¬ 
führung nicht gleichgültig sein. Finden wir diese Bestimmungen unzweckmässig 
oder nicht in das Gesetz gehörig, so würde es ein Fehler sein, dies nicht offen 
zu äussem und eine Abänderung in Vorschlag zu bringen. 

Vorsitzender: Ich schliesse die Diskussion und bringe die 
These 9 zur Abstimmung. 

Dieselbe ist mit grosser Mehrheit angenommen. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmnnd: M. H.! Was das 
Kapitel „Schutzmassregeln“ (§§. 11—27 des Gesetzentwurfes) 
anbetrilft, so halte ich es zunächst mit dem Herrn Kollegen 
Jacobson für einen Mangel des Gesetzes, dass in demselben 
keine Bestimmung vorgesehen ist, dass die Ortspolizeibehörde bei 
Anordnung der Schutzmassregeln den Vorschlägen des beamteten 
Arztes zu folgen hat. Es ist allerdings in der Begründung gesagt: 
„Was die Art und Umfang der zu treffenden Anordnungen anlangt, 
so wird die Polizeibehörde hierbei den Anleitungen des beamteten 
Arztes zu folgen haben. Die Regelung dieser Beziehungen zwischen 
dem begutachtenden Arzte und der ausführenden Behörde sollen 
aber den Ausfülirungsbestimmungen überlassen bleiben.“ Hier bin 
ich jedoch anderer Ansicht; eine so wichtige, das Verfahren 
des Eingreifens bei der Bekämpfung ansteckender Krankheiten 
regelnde Vorsclirift gehört in das Gesetz und nicht in die Aus¬ 
führungsbestimmungen. 

Ich beantrage daher, dieser Ansicht durch folgende neue, vor 
Nr. 10 zu setzende These Ausdruck zu geben: 

„Die Ortspolizeibehörde hat bei Anwendung der er¬ 
forderlichen Schutzmassregeln den Vorschlägen und 
Anleitungen des beamteten Arztes zu folgen.“ 

Dass dem beamteten Arzte auch das Recht zustehen und die 
Pflicht obliegen muss, die Ausführung der von ihm in Vorschlag 
gebrachten Hassregeln zu überwachen, habe ich bereits betont. 
Andererseits muss natürlich auch der Ortspolizeibehörde das Recht 
zustehen, schon vor Feststellung des Ausbruchs der Krankheit 
oder des Verdachts dieses Ausbruchs geeignete Vorsichtsmass- 
regeln vorläufig anzuordnen, ebenso wie dieses Recht dem beamteten 
Arzt im §. 10 des Gesetzes eingeräumt ist. 



42 


Dr. Rapmund. 


M. H.! Bei der Besprechung des vorhergehenden Abschnittes 
habe ich bereits bemerkt, dass die dort unter den §§. 8 und 10 
aufgeführten Bestimmungen unter den Abschnitt „Schutzmass¬ 
regeln“ gehören; dementsprechend würde der erste Paragraph dieses 
Abschnittes (§. 11) unter Berücksichtigung des eben von mir ge¬ 
machten Zusatzantrages nachfolgende Fassung zu erhalten haben: 

„Die Ausführung der beim Ausbruch ansteckender Krankheiten er¬ 
forderlichen Schutzmassregeln fällt der Ortspolizeibehörde zu, die hier* 
bei den Vorschlägen und Anleitungen des beamteten Arztes zu 
folgen hat 

Bei Gefahr im Verzüge kann der beamtete Arzt schon vor dem Ein¬ 
schreiten der Ortspolizeibehörde die zur Verhütung der Verbreitung 
der Krankheit zunächst erforderlichen Massregeln anordnen. In solchen 
Fällen hat der Vorsteher der Ortschaft den Anordnungen des beamte¬ 
ten Arztes Folge zu leisten. Von den getroffenen Anordnungen hat der 
beamtete Arzte der Ortspolizeibehörde sofort Mittheilung zu machen. 

Die Anfechtung der von der Ortspolizeibehördo oder dem beamteten 
Arzte getroffenen Anordnungen hat keine aufschiebende Wirkung.“ 

Die in den §§. 12—27 des Gesetzentwurfes vorgesehenen 
Schutzmassregeln verfolgen lediglich den Zweck, eine Weiter¬ 
verbreitung des Ansteckungsstoffes nach dem Ausbruch an¬ 
steckender Krankheiten zu verhindern. Die betreffenden Be¬ 
stimmungen bringen gegenüber den bisher in den einzelnen 
deutschen Bundesstaaten in dieser Hinsicht bestehenden Vorschrif¬ 
ten im Allgemeinen nichts Neues; gehen aber doch nach mancher 
Richtung hin zu weit, während sie andererseits einzelne wichtige 
Schützmassregeln zur Bekämpfung ansteckender Krankheiten un¬ 
berücksichtigt lassen. 

Zu den zu weit gehenden Bestimmungen muss vor 
allem gerechnet werden die im §. 14 vorgesehene zwangsweise 
Ueberführung krankheits- oder sogar ansteckungsverdächtiger Per¬ 
sonen in ein Krankenhaus oder in einen anderen geeigneten Unter¬ 
kunftsraum, falls ihre Absonderung nicht möglich ist. Ich halte 
eine derartige Vorschrift ebensowenig für geboten und gerecht¬ 
fertigt wie die Anordnung von Verkehrsbeschränkungen für das 
berufsmässige Pflegepersonal (s. letzten Absatz des §. 14). Hat 
man bei Aerzten, Desinfektoren u. s. w. mit Recht von einer derartigen 
Beschränkung Abstand genommen und vorausgesetzt, dass diese, 
ehe sie wieder in den Verkehr mit dem Publikum treten, sich ge¬ 
hörig desinfiziren, so liegt meines Erachtens kein Grund vor, dem 
Pflegepersonal gegenüber in dieser Hinsicht anders zu verfahren. 
Auch von der Anordnung einer Desinfektion für Reisegepäck und 
Handelswaaren kann ich mir nichts versprechen. Desgleichen hat 
die im vorigen Jahre an allen mittleren und grösseren Eisenbahn¬ 
stationen eingerichtete gesundheitspolizeiliche Kontrole der an- 
kommenden Eisenbahnreisenden gezeigt, dass sie völlig überflüssig 
und nutzlos ist. Ueberhaupt ist der Nutzen aller Absperrungsmass- 
regeln gegen den Personen- und Warenverkehr erfährungsgemäss 
in Bezug auf die Bekämpfung der Volksseuchen ein höchst zweifelhaf¬ 
ter, die dadurch enstehenden Schädigungen der allgemeinen wirt¬ 
schaftlichen Interessen aber eine sehr schwere. Jedenfalls ist eine 
der wichtigsten Massregel die rechtzeitige und vollständige Ab- 



Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicherKrankheiten. 43 

Sonderung des Kranken selbst; und dass im Gesetze der 
Polzeibehörde das Recht eingeräumt wird, den Kranken, falls seine 
Absonderung nicht möglich ist, in ein Krankenhaus zwangsweise 
überzuftihren, damit kann man sich nur einverstanden erklären. 
Dass eine derartige Ueberführung nicht ohne Noth stattfinden wird, 
dafür bürgt die Bestimmung, dass ihre Nothwendigkeit durch den 
beamteten Arzt erklärt sein muss. Ich würde jedoch statt „Ueber¬ 
führung“ in ein Krankenhaus den Ausdruck „Unterbringung“ 
vorziehen. 

Andererseits halte ich es für einen grossen Mangel des 
Gesetzentwurfes, dass, wie ich schon vorher beim ersten Abschnitt 
erwähnt habe, dem Kranken nicht jeder Aufenthaltswechsel 
ohne zuvorige polizeiliche Genehmigung verboten ist; und zwar 
müsste eine solche Erlaubniss nicht nur bei einem Wechsel des 
Aufenthaltsortes, sondern auch bei einem solchen der Wohnung 
erforderlich sein, abgesehen von den Fällen, wo es sich um die 
unmittelbare Ueberführung eines Kranken in die zunächst gelegene 
Krankenanstalt handelt. Ferner vermisse ich unter den Schutz- 
massregeln Vorschriften über die Fürsorge für die nöthige 
ärztliche Hülfe und das erforderliche Krankenpflege¬ 
personal, über die Beschaffung von Isolirräumen und 
Desinfektionsapparaten, Bereitstellung von Desin¬ 
fektionsmitteln und Anstellung von) Desinfektoren; 
auch die Belehrung der Bevölkerung durch geeignete 
Bekanntmachung ist eine bei der Bekämpfung der Volksseuchen 
nicht zu unterschätzende Massregel. Desgleichen sind bei der Ver¬ 
hütung der Weiterverbreitung ansteckender Krankheiten durch die 
Schulen (§. 16 des Entwurfes) nicht die Kiuderbewahranstalten, 
Spielschulen und Kindergärten zu vergessen. 

Sie sehen, m. H., ich habe auch bei diesem Abschnitte eine 
Reihe Ausstellungen zu machen und habe diesen in These 10 Aus¬ 
druck gegeben. Mir sind die in den einzelnen §§. angeführten 
Schutzmassregeln auch zum Tlieil viel zu speziell gehalten. In 
der Begründung des Gesetzentwurfes wird mit Recht gesagt: 

„Es würde auch gegen die Grundsätze der Gesundheitspolizei streiten, 
wenn alle vorzusehenden Schutzmassregeln durch Gesetz festgestellt würden; 
denn es ist unerlässlich, dieselben mit den wechselnden Anschauungen der Wissen¬ 
schaft beständig in Einklang zu halten und zu diesem Behuf auch in Einzel¬ 
heiten rasch einer Umgestaltung unterwerfen zu können. Demgemäss sind iu 
dem Entwurf nur die für die erfolgreiche Bekämpfung leicht übertragbarer 
Volkskrankheiten überhaupt in Betracht kommenden Massnahmen aufgeführt und 
in Anlehnung an sie den Behörden die nöthigen Vollmachten und Zwangsbefug¬ 
nisse beigelegt. Die Art, wie die grundsätzlichen Massnahmen sowohl den ein¬ 
zelnen Krankheiten gegenüber, als auch unter den verschiedenen Lebens- und 
Verkehrsverhältnissen zur Anwendung gelangen sollen, ist dagegen der Haupt¬ 
sache nach der Beschlussfassung des Bundesraths Vorbehalten, unter gewissen 
Voraussetzungen auch, soweit es zweckmässig erschien, dem Ermessen der Lan¬ 
desregierungen überlassen/ 

Die hier ausgesprochenen Grundsätze sind aber im Gesetze 
nicht befolgt, sonst hätte man jedenfalls den betreffenden Abschnitt 
viel kürzer und einfacher gefasst. Eine derartige Fassung ist 
auch um so erwünschter, da man dann nicht später gezwungen 



44 


Dr. Rapmund. 


wird, den Fortschritten und wechselnden Anschauungen der Wis- 
schaft entsprechend, jedesmal eine Aenderung der gesetzlichen Be¬ 
stimmungen vornehmen zu müssen. Meines Dafürhaltens hätten 
die §§. 12—27, abgesehen von §. 23, recht gut in einen Para¬ 
graphen, wie folgt, zusammengefasst werden können: 

„Als Schutzmassregeln zur Verhütung ansteckender Krankheiten können 
angeordnet werden: 

a) Warnung und Belehrung der Bevölkerung durch gemeinverständliche 
Bekanntmachungen; 

b) Meldepflicht für zureisende Personen aus verseuchten Gegenden, Be¬ 
obachtung krankheitsverdächtiger Personen; 

c) Absonderung kranker Personen, Unterbringung derselben in einem 
Krankenhause oder sonstigen geeigneten Räume, Beschaffung der¬ 
artiger Isolirräume; 

d) Bezeichnung, Absonderung, Sperrung oder Räumung verseuchter Woh¬ 
nungen und Gebäude; 

e) Fürsorge für die nöthige ärztliche Hülfe, Krankenpflege u. s. w.; 

f) Vorsichtsmassregeln in Bezug auf den Transport von Kranken, gänz¬ 
liches Verbot eines Aufenthaltswechsels ohne zuvorige polizeiliche 
Genehmigung; 

g) Beschränkung der Benutzung gewisser, der Verseuchung förderlichen 
Einrichtungen (wie Brunnen, Wasserleitungen u. s. w.); 

h) Verhütung von Menschenansammlungen, Verbot von Märkten, Messen 

ü. s. w.; 

i) Vorschriften zur Verhütung ansteckender Krankheiten durch die 
Schulen, Kindergärten u. s. w.; 

k) Verschärfte Ueberwachung des Verkehrs mit Nahrungs- und Genuss¬ 
mitteln; 

l) Beschränkungen des Gewerbebetriebs und des Waarenverkehrs; 

m) Gesundheitspolizeiliche Aufsicht und Beschränkungen des See-, Bin- 
nenschifffahrts- und Flössereiverkehrs; 

n) Vorschriften über die Desinfektion, Bereitstellung von Desinfektions¬ 
apparaten, Desinfektionsmitteln, Bestellung von Desinfektoren; 

o) Vorsichtsmassregcln über die Aufbewahrung, Einsargung, Beförderung 
und Bestattung der Leichen solcher Personen, die an einer ansteckenden 
Krankheit gestorben sind, Beschaffung von Leichenhallen. 

Die näheren Vorschriften über die bei den einzelnen Krank¬ 
heiten zu ergreifenden Schutzmassregeln werden durch die von dem 
Bundesrathe zu erlassenden Ausführungsbestimmungen festgesetzt.“ 

M. H.! Betreffs der von dem Bundesrathe zu treffenden 
Ausführungsbestimmungen möchte ich nur noch bemerken, dass 
sie nicht nur den sanitätspolizeilichen Anforderungen und den 
Fortschritten der Wissenschaft entsprechen, sondern auch leicht 
zu handhaben und praktisch ausführbar sein müssen, sonst bleiben 
sie eben auf dem Papiere stehen. Dies gilt besonders betreffs der 
Desinfektionsvorschriften; auch sollte man nicht Desinfektionsmittel, 
wie rohe Karbolsäure und Chlorkalk empfehlen, die durch ihren 
unangenehmen, schwer zu beseitigenden Geruch das ganze Des¬ 
infektionsverfahren beim Publikum in Misskredit bringen und den 
an und für sich schon vorhandenen Widerstand gegen dasselbe 
noch steigern. 

M. H.! Die im §. 21 des Gesetzentwurfs vorgesehenen 
Schutzmassregeln bei bedrohlicher Ausbreitung einer übertragbaren 
Augenkrankheit werden meines Dafürhaltens besser der Landes¬ 
gesetzgebung überlassen. Soviel über die vom Bundesrathe 



Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 46 


beschlossenen Abänderungen des Gesetzentwurfes bekannt geworden 
ist, hat dieser gleichfalls die Bestimmung gestrichen. Ich habe 
Ihnen in These 11 denselben Vorschlag gemacht. 

Vorsitzender: Ich eröffne über den dritten Abschnitt 
„Schutzmassregeln“ und gleichzeitig über die von dem Referenten 
aufgestellten Thesen Nr. 10 und 11 die Diskussion, dieselben 
lauten: 

10. „Die in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Schutzmassregeln 
(§§. 12—27) sind zum Theil zu weitgehend, besonders in Bezug auf 
die Ycrkehrsbescbränkungen ansteckungs- oder krankheitsverdächtiger 
Personen, theils gehen sie zu sehr in’s Einzelne und bringen Vor¬ 
schriften, die in die Ausführungsbestimmungen gehören; andererseits 
sind einige wichtige Schutzmassregeln, z. B. Fürsorge für die nöthige 
ärztliche Hülfe und das erforderliche Krankenpflegepersonal, Belehrung 
der Bevölkerung durch geeignete Bekanntmachungen, Verbot des Auf¬ 
enthaltswechsels kranker Personen ohne znvorige ortspolizeiliche Geneh¬ 
migung u. s. w. unberücksichtigt geblieben.“ 

11. „Die Schutzmassregeln bei bedrohlicher Ausbreitung einer übertrag¬ 
baren Augenkrankheit (§. 21 des Gesetzentwurfes) sind der 
Landesgesetzgebung zu überlassen.“ 

Diskussion: 

H. Kreiswundarzt Dr. Peyser: Ich beantrage in der These 11 die Worte 
„sind zum Theil“ bis „theils“ zu streichen. Der erste Absatz der These würde 
also dann lauten: „Die in dem Gesetzentwürfe vorgesehenen Schutzmassregeln 
gehen zu sehr in’s Einzelne“ u. s. w. Ich will damit nicht sagen, dass ich die 
Kritik, die der Herr Referent an den vorgeschlagenen „Schutzmassregeln“ geübt 
hat, durchaus verwerfe, — ganz und gar nicht. Man kann über die verschiedenen 
Punkte verschiedener Meinung sein. Ich halte es nur unter den schlechten 
Auspizien, unter denen der Gesetzentwurf an den Reichstag kommen wird, für 
bedenklich, dass wir, ohne die einzelnen Punkte unserer Kritik anzugeben, diese 
Worte hier aufnehmen. Sie wissen, wie die Angelegenheit steht, wie man von 
Süddeutschland unter der Führung Pettenkofers gegen unsere norddeutschen 
Anschauungen vorgeht, und es ist die grosse Gefahr, dass diese Worte so aus¬ 
gelegt werden können, als ob wir uns diesen Anschauungen anschliessen. Die 
Pettenkoier’sehen Anschauungen haben bewirkt, dass die Massregeln gegen 
die Cholera, wie sie auf Grund der Koch’ sehen Anschauungen in Scene gesetzt 
werden, beim Publikum diskreditirt worden sind. Ich möchte uns vor dem Ver¬ 
dacht bewahren, als ob wir auch nur annähernd diesen Anschauungen uns an¬ 
schlössen. 

Im Uebrigen stimme ich prinzipiell damit überein, dass die speziellen 
Vorschriften über Schutzmassregeln in die Ausführungsbestimmungen gehören, 
schon um deswillen, weil die wissenschaftlichen Anschauungen ja wechseln und 
man nicht immer dementsprechend das Gesetz ändern kann. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: Wenn Herr Kollege Peyser 
der Ansicht ist, was ich aus seinen Worten eigentlich entnehmen muss, dass die 
Schutzmassregeln zu weitgehend sind (Herr Peyser: Ja!) so weiss ich nicht, 
warum wir das nicht ganz offen sagen wollen. Steht man z. B. auf dem Stand¬ 
punkt, dass die Vorschriften über die Verkehrsbeschränkungen ansteckungs- und 
krankheitsverdächtiger Personen zu weitgehend sind, dann würde es doch völlig 
ungerechtfertigt sein, mit seiner Ansicht in dieser Beziehung zurückzuhalten. 
So viel sich aus den Zeitungsnachrichten über die Beschlüsse des Bundesraths 
entnehmen lässt, hat dieser bereits die hier in Betracht kommenden Bestimmungen 
etwas abgeschwächt; ich sehe daher gar nicht ein, was uns abhalten soll, einen 
ähnlichen Beschluss zu fassen. 

H. Reg.- und Med.- Rath Dr. Roth (Cöslin): Wir sind verpflichtet, uns 
an die im §. 19 des Entwurfs gegebenen Vorschriften zu halten, wo von der 
Desinfektion von Gegenständen und Räumen die Rede ist, von denen anzunehmen 
ist, dass sie mit dem Krankheitsstoff behaftet sind. Ich möchte hier ein sehr 
wichtiges Desiderat erwähnt wissen, das sind die krankhaften Absonderungen 


i 



46 


Dr. Rapmnnd. 


und Abgänge. Es ist das das Allerwichtigste, was zu desinfizieren ist. In 
Bezug auf die Desinfektion dieser Absonderungen und Abgänge vom Beginn der 
Erkrankung an wird ja der Medizinalbeamte in der Regel zu spät kommen, und 
es würde sehr erwünscht sein, wenn sich da ein Modus finden liesse, der die prakti¬ 
schen Aerzte darauf hinweist, nach gegebenen amtlichen Anweisungen die Desinfek¬ 
tion dieser krankhaften Absonderungen und Abgänge anzuordnen resp. einzuleiten. 
In dem Regulativ von 1835 war im §. 17 dem praktischen Arzte sogar eine 
Ueberwachung der sanitätspolizeilichen Massnahmen anfgegeben. Wenn wir eine 
solche Ueberwachung, die wohl nur ausnahmsweise stattgefunden hat, nicht für 
wünschenswerth erachten, möchte ich doch den Herrn Referenten bitten, in seiner 
These Nr. 10 einen Zusatz dahin aufzunehmen, dass der behandelnde Arzt für 
die Desinfektion der krankhaften Absonderungen und Abgänge mit den darüber 
zu erlassenden Anordnungen Sorge zu tragen hat. 

H. Kreiswundarzt Dr. Peyser: Ich möchte mich nur mit dem Herrn 
Referenten ganz kurz auseinandersetzen. Wenn derselbe einzelne Schutzmass- 
regeln für zu weitgehend erachtet, so hätten diese genau in der These aufge¬ 
nommen und der betreffende Absatz derselben präziser als jetzt gefasst werden 
müssen. Die Pettenkofer’sche Schule verwirft z. B. auch die Desinfektion bei 
Cholera ganz und gar; eine Ansicht, der sicherlich Niemand von uns zustimmen 
wird. Von den Verkehrsbeschränkungen ist man ja an und für sich schon ziem¬ 
lich zurückgekommen und stimme ich dem Herrn Referenten bei, wenn er die 
im Gesetzentwurf gebotenen Bestimmungen über die Verkehrsbeschränkungen 
krankheits- und ansteckungsverdächtiger Personen als zu weitgehend bezeichnet. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund: M. H.! Die Aufnahme einer 
Bestimmung über die Desinfektion der Abgänge in das Gesetz halte ich nicht für 
zweckmässig. Ausserdem würde dieselbe gar nicht in Einklang stehen mit unseren 
früheren Beschlüssen, wonach die Anordnung der sanitätspolizeilichen Massregeln 
lediglich dem beamteten Arte obliegen soll. Ich verspreche mir ferner von einer 
solchen Bestimmung gar nicht viel, da sie von den praktischen Aerzten ebenso¬ 
wenig beachtet werden wird, wie die im Regulativ von 1835 gegebene Vorschrift, 
wonach sie verbunden sind, darüber zu wachen, dass, falls die von ihnen behan¬ 
delten Kranken in ihrer Wohnung verbleiben, die sanitätspolizeilichen Vor¬ 
schriften genau befolgt werden. 

Was ferner die Bedenken des Herrn Kollegen Dr. Peyser gegen die Fassung 
der These 10 betrifft, so dürften dieselben vielleicht dadurch beseitigt werden, 
dass wir im Eingang der These nur die Worte „sind zum Theil zu weitgehend, 
besonders“ streichen nud der These folgende Fassung geben: „Die in dem Gesetz¬ 
entwürfe vorgesehenen Schutzmassregeln sind in Bezug auf die Verkehrsbeschrän¬ 
kungen ansteckungs- oder krankheitsverdächtiger Personen zu weitgehend, auch 
gehen sie zu sehr“ u. s. w. 

H. Kreiswundarzt Dr. Peyser: Mit dieser Fassung erkläre ich mich ein¬ 
verstanden. 

H. Reg. - und Med.- Rath Dr. Roth: Ich will davon abstrahiren, ob die 
Aerzte nach bestimmten Anweisungen die Desinfektion der krankhaften Absonde¬ 
rungen anordnen oder anheim geben sollen, aber ich wünsche, dass die Desin¬ 
fektion der krankhaften Absonderungen und Abgänge hier erwähnt wird, da in 
dem, §. 19 nur von Gegenständen und Räumen die Rede ist, „von denen 
anzunehmen ist, dass sie mit dem Krankheitsstoff behaftet sind.“ 

H. Kr.-Phys. und San.-Rath Dr. Wiedner (Cottbus): Ich halte den 
Zusatz für ganz überflüssig. Wenn im Gesetzentwurf von der Desinfektion von 
„Gegenständen“ die Rede ist, so sind darunter auch die krankhaften Absonde¬ 
rungen zu verstehen, da diese jedenfalls unter den Begriff „Gegenstand“ fallen. 

Vorsitzender: Wünscht Jemand noch das Wort? Es ist 
nicht der Fall. Dann würde zunächst über den Antrag des 
H. Reg.- und Med.-Raths Dr. Roth abzustimmen sein, wonach 
zur These 10 ein besonderer Zusatz betreffs der Desinfektion der 
krankhaften Absonderungen gemacht werden soll. Diejenigen Kol¬ 
legen, die für diesen Antrag sind, bitte ich die Hand zu erheben 



Der Entwurf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 47 

Das ist die Minderheit, der Antrag ist abgelehnt. 

Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über These 10: Die¬ 
selbe würde also jetzt lauten wie folgt: 

„Die in dem Gesetzentwürfe angegebenen Schutzmassregeln (§§. 12 
bis 27) sind in Bezug auf die Verkehrsbeschränkungen ansteekrmgs- 
oder krankheitsverdächtiger Personen zu weitgehend, auch gehen sie 
. zu sehr in’s Einzelne und bringen Vorschriften, die in die Ausführungs¬ 
bestimmungen gehören; ausserdem sind einige wichtige Schutzmass¬ 
regeln, z. B. Fürsorge für die nöthige ärztliche Hülfe und das erfor¬ 
derliche Krankenpflegepersoual, Belehrung der Bevölkerung durch ge- 
geeignete Bekanntmachungen, Verbot des Aufeuthaltswechsels kranker 
Personen ohne zuvorige ortspolizeiliche Genehmigung u. s. w. unberück¬ 
sichtigt geblieben.“ 

Wer für diese Fassung der These 10 ist, bitte ich die Hand 
zu erheben. 

Das ist die grosse Mehrheit; die These ist angenommen. 

Ich schreite, da sich Niemand zum Wort gemeldet hat, gleich 
zur Abstimmung von These 11 in der bisherigen Weise. 

Die These 11 ist fast einstimmig angenommen. ^ 

Reg.- u. Med.-Rath Dr. Räpmnnd: M. H.! Gestatten Sie mir 
noch einige Worte zum vierten Abschnitt „Entschädigungen“ 
(§§. 28—33 des Gesetzentwurfes). In dem Entwürfe heisst es: „dass 
für den durch polizeilich angeordnete Desinfektionen verursachten 
Schaden voller Ersatz geleistet werde, entspricht nicht nur einer For¬ 
derung der Billigkeit, sondern ist auch insofern von einer erheblichen 
Bedeutung, als die sichere Aussicht auf Entschädigung für die 
Betroffenen den Anreiz, infizirte oder infektionsverdächtige Gegen- 
enstäude der Desinfektion zu entziehen, abschwächen, mithin der 
Gefahr, dass infizirte Gegenstände ungereinigt in denVerkehr kommen 
und den Krankheitsstoff weiter verbreiten, entgegenwirken wird“. 

Diesem Grundsätze kann man nur in jeder Weise beistimmen; 
bedenkt man jedoch, dass nach den Ausführungen nicht nur unter 
„Gegenstände“ jede bewegliche oder unbewegliche Sache zu 
verstehen ist, insbesondere auch Beschädigungen an Wohnungen 
und sonstigen Räumen, so wird man zugeben müssen, dass die aus 
B i 11 i g k e 1 18 gründen und behufs grössere Sicherheit der Des¬ 
infektionsausführung äusserst erwünschte Entscheidung den 
Gemeinden sehr kostspielig werden kann. Ausserdem werden 
auch durch die im Gesetz vorgesehenen Bestimmungen etwaige 
Streitigkeiten Zwischen der Ortspolizeibehörde und den betreffen¬ 
den Besitzern nicht aufhören, besonders wenn es sich um die Ent¬ 
scheidung der Frage handelt, ob ein Unmittelbarer oder 
mittelbarer Schaden vorliegt. Der Gesetzentwurf hat sich hier 
wiederum das Viehseuchengesetz zum Muster genommen; aber in 
diesem Gesetze handelt es sich um Entschädigungen, die für ge- 
tödtete Thiere u. s. w. gewährt werden müssen, also um Dinge, 
die. bei dem vorliegenden Gesetze gar nicht in Frage kommen. 
Af. H. ?i wir sind bis jetzt bei der Bekämpfung der ansteckenden 
Krankheiten ohne 1 besondere' gesetzliche Bestimmungen über die 
Entschädigungspflicht ausgekommen und haben es den geschädig- 



48 


Dr. Rapmund. 


ten Personen überlassen, vorkommenden Falls Anträge auf Schaden¬ 
ersatz zu stellen und bei Ablehnung dieser Anträge seitens der 
Ortspolizeibehörde den Klage weg zu beschreiten. Dies Verfahren 
hat sich durchaus bewährt und hat insbesondere die Gemeinden 
vor unbilligen Forderungen geschützt; das wird jedoch künftighin 
authören, die Anforderungen auf Entschädigungen werden in’s 
Unendliche wachsen, jeder wird die Gelegenheit benutzen, für ein 
altes, unbrauchbares Stück Möbel ein möglichst grosses Stück 
Geld noch herauszuschlagen, weil es angeblich durch die Desin¬ 
fektion völlig ruinirt ist. Andererseits wird auch vielleicht die 
Polizeibehörde flotter mit der Vernichtung infizirter Gegenstände 
zu Werke gehen, als es unbedingt nothwendig ist. Wir sehen es 
ja bei der Un fallgesetzgebung, wie sehr das Publikum Nei¬ 
gung hat, aus derartigen Bestimmungen die grössten Vortheile 
für sich herauszuschlagen. Jetzt gelingt es keinem Arzte mehr, 
einen Knochenbruch u. s. w. wieder völlig zu heilen, so bald der 
Verletzte Anspruch auf eine Rente machen kann; ebenso würde 
künftighin keine Desinfektion mehr möglich sein, ohne dass der 
Besitzer einen Anspruch auf Entschädigung erhebt. Und die 
Streitigkeiten, m. H., werden sich derartig häufen, dass in grösse¬ 
ren Städten sehr bald die Nothwendigkeit der Einsetzung eines 
besonderen Schiedsgerichts für Desinfektions-Beschädi¬ 
gungen erforderlich sein wird. Ich kann daher nur empfehlen, 
es bei dem jetzigen Verfahren zu belassen; muss der Betreffende 
erst vor Gericht seine Entschädigung begründen und durchfechten, 
dann wird er sich hüten, mit unbilligen Forderungen zu kommen. 
Allerdings halte ich die in den meisten Reglements der Desin¬ 
fektionsanstalten vorgesehene Vorschrift, wonach diese Anstalten 
es ausdrücklich ablehnen, für etwaigen Schaden aufzukommen, für 
völlig ungerechtfertigt; denn wenn ich seitens der Ortspolizei¬ 
behörde gezwungen werde, meine Sachen in der von ihr eingerich¬ 
teten Anstalt desinfiziren zu lassen, dann hat sie auch dafür Sorge 
zu tragen, dass ich diese wieder unbeschädigt zurückerhalte und 
nicht das Recht, mir durch eine derartige Bestimmung den Rechts¬ 
weg gleichsam von vornherein abzusclmeiden. 

Bei Besprechung dieses Abschnittes möchte ich noch einen 
Punkt berühren: Die seitens des Geschäfts-Ausschusses des 
Aerztevereinsbundes geforderte Entschädigung für die 
Hinterbliebenen der Aerzte, Amtsärzte, Geistlichen, Kranken¬ 
pfleger und Polizeibeamten, die im Aufträge der zuständigen Be¬ 
hörde mit Personen, die an übertragbaren Krankheiten leiden, in 
Berührung kommen, dabei selbst erkranken und in Folge der 
Krankheit sterben. Ein gleicher Beschluss ist seiner Zeit von 
dem Aerztetage bei der Berathung des Seuchengesetzes im Jahre 
1883 gefasst worden und man wird nicht leugnen können, dass 
auch für diesen Beschluss gewisse Billigkeitsgründe sprechen. 
Aber, m. H., bedenken Sie, zu welchen Konsequenzen ein solcher 
Beschluss führt; es kommen doch nicht bloss die obengenannten 
Berufsklassen mit solchen Kranken im behördlichen Aufträge in 
Berührung, sondern z. B. auch Richter, Gerichtssekretäre, Notare 




Der Entwurf e. Gesetzes betr. <1. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 49 


u. s. w. und vor allem die Desinfektoren, die merkwürdiger 
Weise in jenem Beschlüsse ganz vergessen sind, obwohl sie meines 
Erachtens am meisten gefährdet sind. Wie schwer wird es ferner 
sein, in derartigen Fällen den Nachweis zu bringen, dass der Arzt 
sich gerade bei einer im amtlichen Aufträge ausgeübten Berufs¬ 
tätigkeit augesteckt hat und nicht bei anderer Gelegenheit? Zur 
Begründung des Beschlusses wird darauf hingewiesen, dass in 
anderen Staaten, z. B. in Oesterreich, eine solche Entschädigung 
gewährt werde. So viel mir bekannt, wird sie dort jedoch nur 
dann gewährt, wenn Aerzte im amtlichen Aufträge nach Seuchen¬ 
gebieten geschickt werden. Das geschieht aber bei uns in gleicher 
Weise; denn durch Kabinetsordre vom 10. November 1831 ist be¬ 
stimmt: „dass auf Wittwen und Kinder von Aerzten und Chirur¬ 
gen, die bei den Cholera - Lazarethen sich haben anstellen lassen 
und an dieser Krankheit verstorben sind, dieselben Pensions- 
Grundsätze angewendet werden sollen, die im Jahre 1814 für 
Wittwen und Weisen solcher Aerzte und Chirurgen festgesetzt 
worden sind, die in den Militärlazarethen thätig waren und an 
Typhus durch Ansteckung starben.“ M. H., Sie sehen daraus, 
dass, falls Aerzte ausserhalb ihres Wohnorts im amtlichen 
Aufträge beim Ausbruch von Seuchen verwandt werden und der Seuche 
zum Opfer fallen sollten, auch für ihre Hinterbliebenen vom Staate 
bisher gesorgt ist; ich halte daher die Aufnahme einer besonde¬ 
ren Bestimmung in das Gesetz, wie sie vom Geschäftsausschusse 
des Aerztevereinsbundes vorgeschlagen ist, nicht für erforderlich 
und zwar um so weniger, als es ausserdem jedem Arzte bei einer 
derartigen Verwendung freisteht, sich vorher kontraktlich eine 
etwaige Entschädigung zu sichern, was für ihn jedenfalls noch 
vortheilhafter sein würde. 

M. H.! Ich habe zu dem Abschnitt „Entschädigungen“ keinen 
besonderen Abänderungsvorschlag gestellt, sondern nur meine Be¬ 
denken äussern wollen. Wir können es meines Erachtens ruhig 
den Juristen des Reichstages überlassen, gerade bei diesem Ab¬ 
schnitte die richtige Fassung der einzelnen Paragraphen festzu¬ 
stellen. 

Vorsitzender: Wünscht Jemand das Wort zu dem eben 
vom Referenten besprochenen Abschnitt des Gesetzentwurfes? Es 
ist nicht der Fall; wir können somit zu den letzten Abschnitten 
des Gesetzentwurfes übergehen. 

H. Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapniund: M. H.! Ich 
komme jetzt zu dein vorletzten Abschnitte, zu den „Allge¬ 
meinen Vorschriften“. Jeder Hygieniker, der den §. 34, 
den einzigen Paragraphen, der von prophylaktisch-hygie¬ 
nischen Massregeln handelt, gelesen hat, wird gewiss zu¬ 
nächst seine helle Freude über die hier vorgesehenen Bestim¬ 
mungen gehabt haben. Er wird schon im Geiste so manchen Plan 
entworfen haben, um die Beseitigung aller hygienischen Missstände 
in seinem Kreise mit aller Kraft anzustreben und gleichsam ein 
wahres hygienisches Eldorado zu schaffen. Ja, m. H., wenn wir 

4 



50 


Dr. Rapmund. 


uns aber die Fassung des §. 34 näher ansehen, so ist diese so 
unbestimmt, dass ich befürchte, es wird auf Grund dieses Para¬ 
graphen künftighin kaum mehr als früher erreicht und auch ferner¬ 
hin weiter mit Wasser gekocht werden. Die Besserung hygie¬ 
nische]* Verhältnisse ist hauptsächlich von der Thätigkeit des 
zuständigen Medizinalbeamten, von dem Interesse der Bevölkerung 
für die öffentliche Gesundheitspflege und vor allem von dem Nervus 
rerum, dem Geldpunkte, abhängig. An und für sich stehen die 
Gemeinden den hygienischen Verbesserungen gar nicht so feind¬ 
lich gegenüber, wie dies meist angenommen wird; sie sind nur 
häufig nicht in der Lage, dieselben finanziell durchzuführen. 
Gleichwohl bin ich durchaus dafür, dass die Bestimmung im 
Gesetze bestehen bleibt; denn sie kann jedenfalls nicht schaden, 
sondern nur nützen; sie hätte sogar noch etwas weiter ausgedehnt 
werden sollen und nicht nur die Trinkwasserfrage und die Beseiti¬ 
gung der Abfallstoffe, sondern vor allem auch die Wohnungs- 
frage berücksichtigen sollen. Für Preussen bringt die Bestimmung 
übrigens nichts Neues; denn schon jetzt können auf Grund des 
Landrechts (II. Theil, 17. Titel, §. 10) in Verbindung des Polizei¬ 
gesetzes vom 11. März 1850 die Gemeinden angehalten werden, 
die nöthigen Anstalten nicht nur zur Erhaltung der öffentlichen 
Ruhe, Sicherheit und Ordnung, sondern auch zur Abwendung der 
dem Publikum oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden 
Gefahren für Leben und Gesundheit zu treffen. 

Was nun weiter die im §. 35 des Gesetzentwurfes getroffene 
Bestimmung betreffs der „beamteten Aerzte“ anlangt, so ist 
diese wiederum dem Viehseuchengesetze entnommen. Ich kann ihre 
Fassung nicht als glücklich und vor allem nicht als einwandsfrei 
bezeichnen; denn danach würden auch Krankenhausärzte, Pro¬ 
fessoren der Medizin u. s. w. „als vom Staate angestellt oder vom 
Staate bestätigt“ unter den Begriff „beamtete Aerzte“ fallen, 
während der Gesetzgeber doch nur die vom Staate als „Sanitäts¬ 
beamte“ angestellten Aerzte unter „beamtete Aerzte“ hat ver¬ 
standen wissen wollen. Um hierüber keinen Zweifel aufkommen 
zu lassen, würde es sich empfehlen, dem §. 35 etwa folgende 
Fassung zu geben: 

„Beamtete Aerzte im Sinne dieses Gesetzes sind Aerzte, die vom 
Staate als „Sanitätsb eamte“ für einen bestimmten Bezirk ange¬ 
stellt oder deren Anstellung als solche vom Staate bestätigt ist.“ 

Der letztere Zusatz erscheint für den Fall erforderlich, wo 
die Sanitätspolizei in grösseren Städten den Gemeinden übertragen 
ist und in Folge dessen die Sanitätsbeamten von diesen angestellt 
werden. 

Dass es zur erfolgreichen Durchführung des Reichsseuchen¬ 
gesetzes nothwendig ist, dass die beamteten Aerzte speziell in 
Preussen durch ein gesetzlich geregeltes pensionsfähiges Gehalt 
von der ärztlichen Praxis unabhängig gestellt und ihre Rechte 
und Pflichten den Anforderungen der öffentlichen Gesundheitspflege 
entsprechend erweitert werden, darüber brauche ich wohl kein 
Wort zu verlieren, da ohne eine derartige Reform der Stellung 



Der Entwarf e. Gesetzes betr. d. Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 51 


der beamteten Aerzte die meisten Bestimmungen des Gesetzes auf 
dem Papiere stehen bleiben würden. Bei Gelegenheit des vierten 
auf der diesjährigen Tagesordnung stehenden Vortrages wird dieser 
Gegenstand ja eingehend erörtert werden; ich kann daher wohl 
jetzt von einer weiteren Besprechung desselben Abstand nehmen. 

Gegen die §§. 36 u. 37 ist ebensowenig etwas einzuwenden, wie 
gegen den §. 38; die hier vorgesehenen Bestimmungen entsprechen 
den verfassungsmässigen Beziehungen zwischen dem Reiche und 
den Bundesstaaten, sowie den jetzt bereits in dieser Hinsicht be¬ 
stehenden Vorschriften. Dasselbe gilt im Allgemeinen betreffs des 
§. 39; jedoch erscheinen mir die am Schluss dieses Paragraphen 
getroffenen Ausnahmebestimmungen in Bezug auf die im Dienste befind¬ 
lichen oder aus dienstlicher Veranlassung vorübergehend ausserhalb 
ihres Wohnsitzes sich aufhaltenden Beamten und Arbeiter der 
Eisenbahn-, Post- und Telegraphen-Verwaltung als zu weitgehend. 
Wenn thatsächlich auch während der vorjährigen Epidemie mehr¬ 
fach ungerechtfertigte ortspolizeiliche Massregeln gegen die 
Beamten und Arbeiter jener Verkehrsanstalten vorgekommen 
sind, so ist es einem derartigen, auch in anderer Weise zu 
begegnenden Unfuge gegenüber doch noch nicht genügend be¬ 
gründet, jene Beamten völlig der Einwirkung der Ortspolizei¬ 
behörde zu entziehen, da thatsächlich Fälle Vorkommen können, 
wo ein solches Eingreifen der letzteren erforderlich ist und wo 
nicht erst auf dasjenige der betreffenden Eisenbahn-, Post- u. s. w. 
Verwaltung gewartet werden kann. 

Im §. 40 halte ich den zweiten Absatz für unnöthig. Ein 
Eingreifen des Reichskanzlers oder eines Reichskommissars kann, 
wenn es sich um die wirksame Bekämpfung einer über mehrere 
Bundesstaaten sich verbreitenden Seuche handelt, nicht blos bei 
Cholera, Pocken u. s. w., sondern auch bei anderen gemeingefähr¬ 
lichen ansteckenden Krankheiten erforderlich sein. Um ein solches 
Eingreifen aber rechtlich zu begründen, dazu genügt vollständig 
die im ersten Absatz gegebene Bestimmung, eventuell müsste der 
zweite Absatz entsprechend abgeändert werden. 

Der §.41 gehört nicht in das Gesetz, sondern in die Aus¬ 
führungsbestimmungen; wie dies bereits früher von mir ausgeführt 
ist. Ich bemerke übrigens, dass es meines Erachtens genügt, 
wenn das Reichsgesundheitsamt ebenso wie das Ministerium nicht 
auf direktem Wege, sondern durch, die Bezirksinstanz die be¬ 
treffenden Nachrichten erhält. Man soll die Unterbehörden nicht 
all zu sehr mit allen möglichen zu erstattenden Anzeigen belasten, 
dadurch bleiben andere, wichtigere Sachen liegen; ausserdem kann 
doch von einem Eingreifen der Zentralinstanzen in Einzelfällen 
nicht die Rede sein, so dass eine sofortige unmittelbare Be¬ 
nachrichtigung gar nicht erforderlich ist. 

Der Einrichtung eines Reichsgesundheitsraths (§. 42 
des Gesetzentwurfs) können wir nur sympathisch gegenüber stehen, 
wenn dieselbe auch streng genommen nicht in den Rahmen des 
Gesetzes fällt. Die Begründung sagt dazu: 


4* 



52 


Dr. Rapraund. 


„Wenn die Reichsverwalttrag den auf dem Gebiete des Gesundheitswesens 
vermöge des neuen Gesetzes ihr erwachsenden Aufgaben gerecht werden soll, 
so wird sie der Mitwirkung einer aus hervorragenden wissenschaftlichen Autori¬ 
täten und aus den erfahrensten Beamten der Landes-Medizinalverwaltungen 
zusammengesetzten, also die Wissenschaft und die Praxis in deren sichersten 
Ergebnissen vertretenden Versammlung nicht entrathen können. Das Kaiserliche 
Gesundheitsamt wird in seiner jetzigen Organisation der Reichsverwaltung diese 
Unterstützung nur in unvollkommenem Masse zu gewähren vermögen. Die Art 
seiner Aufgaben und die beschränkte Zahl seiner ordentlichen Mitglieder bringen 
es mit sich, dass ihm nicht immer auf den hier in Betracht kommenden wissen¬ 
schaftlichen Gebieten die ersten Kräfte zu Gebote stehen können. — — Die 
Schöpfung eines dauernden und nicht auf engere Aufgaben beschränkten Organs, 
welches vermöge seiner Zusammensetzung den Behörden, der ärztlichen Welt und 
dem Publikum gegenüber volle Autorität besitzt, welches mit der Verwaltung 
unausgesetzt Fühlung und für deren Bedürfnisse volles Verständniss hat, welches 
den Widerstreit der wissenschaftlichen Meinungen und praktischen Vorschläge 
in seinen, durch zusammenhängende Erfahrungen getragenen Beschlüssen löst 
und welches im Bedarfsfälle jederzeit angerufen werden kann, ist der Weg, um 

dem Bedürfniss der Reicbsverwaltung entgegen zu kommen.-Für die 

Reichsverwaltung ist es um so wichtiger, sich auf die Autorität einer hoch ange¬ 
sehenen Vertretung von Wissenschaft und Praxis stützen zu können, als sie 
unter Umständen in die Lage kommen wird, zwischen den abweichenden An¬ 
schauungen der Landes - Medizinalbehörden den Ausgleich herbeiftihren zu müssen. 
Für die Bevölkerung liegt in einem solchen Organ, das nicht einseitig zusammen¬ 
gesetzt sein kann, dass dem Einflüsse einzelner Verwaltungsstellen entzogen ist 
und etwaigen überspannten Anforderungen der Wissenschaft wie der Verwaltung 
gleich unabhängig gegenübersteht, die beste, aber auch die nothwendigste Gewähr 
dafür, dass auf Grund des neuen Gesetzes nur angemessene Pflichten ihr auf¬ 
erlegt werden sollen. Je weniger es möglich ist, diese Pflichten in allen Einzel¬ 
heiten und für alle Verhältnisse durch das Gesetz selbst festzulegen, um so mehr 
ist es geboten, ein Organ zu besitzen, welches vermöge seiner Autorität für den 
ganzen Umfang des Reichs die Durchführung des Gesetzes in gleichmässige und 
vorsichtige Bahnen weisen hilft. Man darf sich nicht verhehlen, dass in Seuchen¬ 
zeiten auf Grund des neuen Gesetzes an den einzelnen wie auch an die Gemeinden 
Anforderungen gestellt werden können, welche von den Betheiligten nicht immer 
als eine bequeme Last empfunden und gern getragen werden. Ihre Nothwendig- 
keit muss durch eine über alle Einwendung erhabene Autorität gedeckt sein.“ 

Der Reiclisgesundheitsrath soll mit dem Kaiserlichen Gesund¬ 
heitsamte in enge organische Verbindung gebracht werden; die 
bisherigen ausserordentlichen Mitglieder des letzteren wie die stän¬ 
dige Kommission für Bearbeitung des deutschen Arzneibuches sollen 
in ihm aufgehen. Als Mitglieder sind die ersten Fachgelehrten 
aus den verschiedenen, in das Gesundheitswesen einschlagenden 
Zweigen der Wissenschaft, hervorragende Mitglieder der in Be¬ 
tracht kommenden Gebiete der Technik (Bauwesen, chemische In¬ 
dustrie, Nahrungsmittelindustrie) und höhere Verwaltungsbeamte 
in Aussicht genommen, damit die Interessen der Bundesstaaten 
sowie alle Verwaltungszweige und Lebenskreise ihre Berücksich¬ 
tigung finden. Der Reichsgesundheitsrath wird somit in hygienischen 
wie sanitätspolizeilichen Fragen künftighin gleichsam die oberste 
technische Medizinalbehörde in Deutschland bilden, der gegenüber 
die bisher in den einzelnen Bundesstaaten bestehenden ähnlichen 
Institutionen, wie die Wissenschaftliche Deputation für das Medi¬ 
zinalwesen in Preimsen, der Obermedizinalausschuss in Bayern 
u. s. w. an Einfluss bei Entscheidung derartiger Fragen verlieren 
werden. Im Interesse einer gleichmässigen Regelung und Durch¬ 
führung der Massregeln bei Bekämpfung ansteckender Krankheiten 



Der Entwarf e. Gesetzes betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher'Krankhciten. 53 

ist dies aber durchaus geboten, ebenso wie es auf anderen Ge¬ 
bieten des öffentlichen Gesundheitswesens erwünscht ist, dass thun- 
lichst nach einheitlichen Grundsätzen verfahren wird. M. H.! Es 
wird Ihnen bekannt sein, dass gerade gegen die Einrichtung eines 
Reichsgesundheitsrathes von den verschiedensten Seiten Bedenken 
erhoben sind, angeblich auch von den Ausschüssen des Bundes¬ 
raths für Handel und Gewerbe, sowie für Justizwesen, weil dadurch 
ein zu grosser Eingriff in die Kompetenzen der Einzelstaaten be¬ 
fürchtet wird. Glücklicher Weise hat sich das Plenum des Bundes¬ 
raths diesen Bedenken nicht angeschlossen und wollen wir hoffen, 
dass der Reichstag zu einem gleichen Beschlüsse kommt. 

Zum Schluss nur noch einige Worte über die Straf Vor¬ 
schriften des Gesetzentwurfes. Für dieselben sind diejenigen des 
§. 327 des Strafgesetzbuchs und des Viehseuchengesetzes massgebend 
gewesen. Mit Recht sind die Bestrafungen gegen wissentliche 
Verletzung des Gesetzes ziemlich hoch genommen, jedoch mildernde 
Umstände für zulässig erklärt. Letzteres ist insbesondere für Aerzte, 
Hebammen u. s. w. wichtig; denn unter §. 43 Nr. 2 würde auch fallen, 
wenn diese bei der Behandlung eines Kranken benutzte und infizirte 
Instrumente ohne vorherige Desinfektion zu gleichen Zwecken weiter 
verwenden würden. Zu hoch ist meines Erachtens die Strafe von 
10—150 Mark im §. 44 für Unterlassung einer Anzeige gegriffen; 
wenigstens sehe ich keinen Grund ein, warum bei dieser Verletzung 
des Gesetzes gleich eine so hohe Mindeststrafe festgesetzt ist, 
während dies z. B. bei den Zuwiderhandlungen gegen die von der 
Polizeibehörde oder dem beamteten Arzte getroffenen Anordnungen 
nicht der Fall ist. Ich würde es daher für richtig halten, wenn 
auf die Unterlassung der Anzeige nicht die im §. 44, sondern die 
im §. 45 vorgesehene Strafbestimmung (Geldstrafe bis zu 150 Mark) 
Anwendung finden würde. 

M. H.! Ich schliesse mein Referat mit dem Wunsche, dass 
der vorliegende Gesetzentwurf noch in dieser Reichstagssession zur 
Verabschiedung gelangen und bei der demnächstigen Berathung 
und Beschlussfassung des Reichstages unsern heutigen Beschlüssen 
in Bezug auf Abänderung des Gesetzes thunlichst Rechnung ge¬ 
tragen werden möge. 

(Lebhafter Beifall.) 

Vorsitzender: M. H.! Ich eröffne die Diskussion über 
die beiden letzten Abschnitte des Gesetzentwurfs. 

Es meldet sich Niemand zum Wort; ich bringe somit zunächst 
die These Nr. 12: 

„Der Begriff „beamteter Aerzte“ (§. 3ö des Gesetzentwurfes) ist ein¬ 
wandsfreier zo fassen.“ 

zur Abstimmung. Die Zustimmenden bitte ich die Hand zu erheben. 

Die These ist einstimmig angenommen. 

Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die letzte These 

(III): 

„Zur erfolgreichen Durchführung des Reichsseuchengesetzes ist es 
nothwendig, dasB die beamteten Aerzte durch gesetzlich geregeltes 



54 


Dr. Fielitz. 


pensionsfähiges Gehalt von der ärztlichen Praxis unabhängig gestellt 
nnd ihre Rechte und Pflichten den Anforderangen der öffentlichen 
Gesundheitspflege erweitert werden.“ 

Wer für die Annahme dieser These ist, den bitte ich, die 
Hand zu erheben. 

Die These ist, soweit ich übersehen kann, gleichfalls ein¬ 
stimmig angenommen. 

M. H.! Wir werden uns nunmehr darüber schlüssig zu machen 
haben, iu welcher Weise wir vorzugehen gedenken, damit die heute 
von uns gefassten Beschlüsse auch bei der demnächstigen Be¬ 
ratung des Seuchengesetzes im Reichstage die entsprechende Be¬ 
rücksichtigung finden. 

Reg.- u. Med.-Rath Dr. Rapmund: Ich schlage vor, dass 
der Vorstand ermächtigt wird, den Druck der heutigen Verhand¬ 
lungen thunlichst zu beschleunigen und je ein Exemplar derselben 
sämmtlichen Mitgliedern des Bundesraths und des Reichstages zur 
Kenntnissnahme zu übersenden. 

Vorsitzender: Ich frage, ob die Versammlung mit diesem 
Vorschläge einverstanden ist. 

(Allgemeine Zustimmung.) 

M. H.! Ich schliesse damit die Beratung über den Entwurf 
des Reichsseuchengesetzes und spreche gleichzeitig dem Herrn Re¬ 
ferenten für seinen anregenden, den Gegenstand erschöpfenden 
Vortrag unsern verbindlichsten Dank aus. 


IT. Die gegenwärtige Stellung der Medizinal- 

beamten. 

H. Kreis-Phys. Dr. Fielitz (Halle a. S.): M. H.! Als im 
vorigen Jahre die Diskussion über die Stellung der Medizinal¬ 
beamten auf der Tagesordnung stand, wurde sie allgemein als 
dringlich bezeichnet. Schon das Interesse unserer Vereinigung 
fordert gebieterisch, dass wir uns mit dieser Materie beschäftigen. 

Nachdem wir am 29. September 1888 den ersten Sitzungs¬ 
tag unseres Vereins mit Berathung der Statuten eröffnet und in 
deren erstem Paragraphen als Zweck der Vereinigung u. A. den 
hinstellten: „den gemeinsamen berechtigten Interessen der Medi¬ 
zinalbeamten entsprechende Berücksichtigung zu verschaffen“, da 
glaubten wohl alle Anwesenden an eine baldige Reform unseres 
schlecht situirten Standes und die Wogen der Begeisterung gingen 
hoch. Die Begeisterung ist verschwunden, Enttäuschung hat sich 
der meisten Mitglieder bemächtigt und der Glaube an eine frucht¬ 
bringende Thätigkeit des Vereins nach dieser Richtung hin war 
so ziemlich erloschen. Leider entsprach dem auch der verhältniss- 
mässig geringe Besuch der letzten Jahresversammlung. Während 
1883 die Versammlung von 45 °/o der Mitglieder besucht war, 
erschienen 1891 nur 13 %! Manches bittere Urtheil konnte man 



Die gegenwärtige Stellung dor Medizinalbeamten. 


55 


hören und keinesfalls darf es überraschen, dass nur wenige Me¬ 
dizinalbeamte in der Lage sind, selbst den interessantesten Ver¬ 
handlungen beizuwohnen; werden diese doch durch grosse Kosten 
erkauft, die in keinem Verhältnisse stehen zu dem Einkommen, 
welches unsere amtliche Stellung bietet. So manche andere Ver¬ 
einigung gebildeter Leute hatte unterdessen durch einmüthiges 
Vorgehen die Lebensstellung ihrer Mitglieder in sozialer und finan¬ 
zieller Beziehung verbessert — für uns hatten die ersten 10 Ver¬ 
einsjahre das Gegentheil gebracht; denn unsere Aufwendungen an 
geistiger, körperlicher und finanzieller Kraft für das Amt waren 
unverhältnissmässig gewachsen. 

Schon einmal hat der Verein sehr gründlich berathen, wie 
unserer Stellung aufzuhelfen sei und das Resultat dieser Be¬ 
rathungen am 17. September 1886 in 6 Thesen niedergelegt, welche 
Ihnen vielleicht noch im Gedächtniss sind. Dieselben sprachen 
zunächst aus, dass die jetzige Stellung des preussischen Physikus 
den Anforderungen der öffentlichen Gesundheitspflege nicht mehr 
genüge, präzisirten in II und III die bezüglich einer Aenderung 
gehegten Wünsche, forderten dann in IV die Ueberlassung des 
Impfgeschäfts, in V eine Dienstinstruktion und in VI eine ange¬ 
messene Honorirung. 

Diese Thesen verloren sich allerdings etwas in Einzelheiten, 
aber sie sprachen in exakter Weise alle unsere Wünsche aus, 
deren Erfüllung nicht nur unserem, sondern vor allem dem allge¬ 
meinen Wohle zu Gute kommen sollten. 

Leider ist es bei den Beschlüssen geblieben! Schon die Art 
der Verwendung resp. Unterbreitung an hoher Stelle wurde sehr 
verschieden beurtheilt und schon damals waren viele Theilnehmer 
der Ansicht, dass die Ueberlassung weiterer Schritte an eine 
Kommission gleichbedeutend sei mit Reponiren. Wir haben auch 
vom Herrn Schriftführer in der nächsten Hauptversammlung nur 
erfahren, „dass mit Rücksicht auf eine kurz vorher erlassene 
Min.-Verfügung, betreffend Kollektiveingaben von Beamten, von 
jeder derartigen Eingabe, sowie von einer etwaigen Petition an 
die gesetzgebenden Körper und sonstigem agitatorischen Vorgehen 
abgesehen werden musste; dass deshalb die Verhandlungen, ebenso 
wie früher, den höchst entscheidenden Persönlichkeiten zur Kennt¬ 
nisnahme überreicht worden seien“. 

Nachdem wir nun 6 Jahre auf den Erfolg unserer Be¬ 
mühungen gehofft hatten, wäre es in voriger Herbstversammlung 
sehr zeitgemäss gewesen, das Thema wieder aufzunehmen. 

Sollen wir es aber heute erörtern, obgleich sich seit wenigen 
Monaten ein offenbarer Umschwung in den betreffenden Verhält¬ 
nissen vollzogen hat? 

„Wieder einmal bewährte sich das drohende Gorgonenhaupt 
der asiatischen Seuche als mächtigster Förderer der öffentlichen 
Gesundheitspflege“, — so leitet Finkelnburg seine Kritik des 
Entwurfes zum sogen. Seuchengesetz ein. Die Cholera hat in 
Wahrheit alle Kreise aus ihrer Ruhe aufgeschreckt, die Cholera 
hat aber auch, wie der Herr Minister im Abgeordnetenhause selbst 



66 


Dr. Fielitz. 


erklärte, wieder gezeigt, „dass für die abwehrenden Massnahmeb, 
zu denen wir verpflichtet waren, unsere Organe nicht voll aus¬ 
reichten“. 

Wenn somit an höchster Stelle anerkannt ist, dass die Stellung 
der Medizinalbeamten einer dringlichen Reform bedarf, so möchte 
die heutige Besprechung um so weniger angebracht erscheinen, 
als auch die politische Presse aller Parteien auf die schweren 
Mängel unserer Organisation hinweist. 

Und doch dürfte gerade der jetzige Moment der geeignetste 
sein, innerhalb unseres Vereins eingehend die Verhältnisse 
zu beleuchten, damit unter den Medizinalbeamten selbst möglichste 
Klarheit und Einigkeit erzielt werde. Denn, m. H., auch unter 
uns gehen leider die Ansichten zum Theil noch weit auseinander, 
weniger freilich bezüglich der Erkenntniss unserer schiefen 
Stellung, als der Art und Weise einer zu erstrebenden Besserung. 

Auch bleiben einige Punkte hervorzuheben, die weder im 
Abgeordnetenhause noch in der Tagespresse genügende Würdigung 
finden können, die sich vielmehr nur für die Diskussion im Ver¬ 
eine eignen. 

Aus solchen Rücksichten glaubte der Vorstand gerade jetzt 
an dem vorjährigen Thema festhalten zu sollen. 

Unter allen Umständen kann ich mich bei der heutigen 
Situation kurz fassen und brauche nur zu berühren, was täglich 
auf die unzulängliche Stellung der Medizinalbeamten, speziell der 
Kreisphysiker, hinweist, um dann in Umrissen anzudeuten, wie wir 
uns eine Aenderung ungefähr ausmalen. 

Die ge richte ärztliche Seite unseres Amtes will ich ganz 
übergehen, denn hier wäre eine Reform nur in unserem Interesse 
nöthig, da die jetzige Bezahlung mancher Geschäfte geradezu 
schlecht ist. Ich brauche mich auch nicht über die Frage aus¬ 
zulassen, ob es nicht zweckmässiger erscheint, gerichtliche Medizin 
und Sanitätspolizei vollständig zu trennen — das sind Dinge, die 
sich von selbst erledigen, sobald der Staat wirklich an eine Re¬ 
form des Medizinalwesens herangeht, überdies nicht dringlich sind, 
wie uns die Einrichtungen anderer deutscher Staaten beweisen. 

Dass die Medizinalbeamten den heutigen Anforderungen der 
öffentlichen Gesundheitspflege nicht genügen können, 
ist dem grossen Publikum leider erst seit dem Choleraausbruch 
klar geworden. 

Wenn es hinreichte, dass der Sanitätsbeamte eine ausge¬ 
brochene Epidemie konstatirt und Rathschläge ertheilt, die in 100 
Fällen 99 mal nichts fruchten, weil sie nicht zur Ausführung 
kommen, dann könnten wir mit den heutigen Physikern noch lange 
wirthschaften. Wenn wir aber unsere Aufgabe ernst nehmen und 
sagen: das allgemeine Wohl fordert eine Verhütung von Krank¬ 
heiten, so stecken wir die Grenzen unserer Thätigkeit sehr weit; 
denn, m. BL, es handelt sich bei den Aufgaben der Ge¬ 
sundheitspolizei nicht allein darum, Infektionskrank¬ 
heiten zu bekämpfen, sondern die Volksgesundheit 
überhaupt zu fördern. 



Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten. 


57 


Die grossen Umwälzungen, welche die Bakteriologie hervor¬ 
gebracht hat, lassen diese für den Laien nicht nur, sondern auch 
für manchen Arzt im Mittelpunkt jeder sanitären Massnahme 
stehen und gerade das letzte Jahr hat die Meinung bestärkt, dass 
der Medizinalbeamte lediglich deshalb nicht genüge, weil er die 
Bakteriologie nicht in dem Masse beherrscht und beherrschen 
kann, wie der Bakteriologe von Fach. Ueberhaupt sehen wir als 
Aufgabe des Medizinalbeamten hinstellen seine Thätigkeit im Dienste 
der Gesundheitspolizei nicht der Gesundheitspflege. 

Sehi* richtig sprach sich der um den Aerztestand hochver¬ 
diente Abgeordnete Dr. Graf in der Sitzung des Abgeordneten¬ 
hauses vom 5. März aus, als er vor dem vielfach im Publikum 
verbreiteten Irrthum warnte, als seien Bakteriologie und 
Hygiene identisch. Denselben Irrthum betonen Wasserfuhr, 
Finkelnburg u. A. in ihren Besprechungen des Gesetzentwurfes 
betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 

Wäre diese Ansicht richtig, dann hätte der Medizinalbeamte 
im Grossen und Ganzen nur thätig zu sein, sobald eine schwere 
Seuche das Land heimsucht und das ist Gott sei Dank nur ein 
Ausnahmezustand, gewissermassen der Krieg, dem ein langer 
Frieden folgt. Wie aber der Soldat gerade den Frieden benutzt, 
um sich auf den Krieg vorzubereiten, und wie ein starkes Heer 
am besten den Krieg verhütet, so soll und muss auch der Medizinal¬ 
beamte, wenn keine Epidemien herrschen, rüstig arbeiten, um 
Volksseuchen möglichst fern zu halten. 

Dazu gehört vor allen Dingen eine genaue Kenntniss aller 
einschlägigen Verhältnisse des Bezirks. Der Sanitätsbeamte soll 
also ein fortgesetztes Studium seines Kreises treiben: er soll die 
Witterungs-, Boden- und besonders die Wasserverhältnisse beob¬ 
achten, soll die Lebensbedingungen der Bewohner gründlich kennen, 
Wohn-, Arbeits- und Erholungsstätten unter Kontrole haben und 
alle Einrichtungen im Auge behalten, welche Staat oder Gemeinde 
zum Schutze menschlicher Gesundheit getroffen hat. Vor allem 
muss aber der Beamte, um diesen Anforderungen genügen zu 
können, die Fortschritte der öffentlichen Gesundheitspflege genau 
verfolgen. Er muss also auch befähigt und im Stande sein, bak¬ 
teriologische und hygienische Untersuchungen anzustellen. 

Ich brauche weiteres eigentlich nicht anzuführen. Jeder von 
uns muss sich sagen, dass zu solchen Leistungen eine angestrengte 
Thätigkeit gehört, welche der Medizinalbeamte jetzt nicht ent¬ 
falten kann. 

Die Gründe dafür sind mit drei dürren Worten gegeben: 
es fehlt Stellung, Zeit und Geld. 

Wenn ich unsere heutige Stellung bemängele, so geschieht 
es in demselben Sinne wie bei den Verhandlungen des Jahres 1886. 
Ich lege deshalb weniger Werth auf das Palliativ einer Rang¬ 
erhöhung, wie sie im Abgeordnetenhause und auch in unserer Zeit¬ 
schrift befürwortet ist, sondern auf eine unabhängige Stellung. 
Unsere sämmtlichen Einrichtungen berücksichtigen das nicht: 

Von selbstständigem Vorgehen keine Spur und, angewiesen 



58 


Dr. Fielitz. 


auf Requisition der unteren Polizeibehörden, hat der jetzige Kreis- 
physikus kaum die Aehnlichkeit mit einem Beamten. Das ist ja 
verschieden in verschiedenen Kreisen je nach den Persönlichkeiten, 
welche sich gegenttberstehen, aber es handelt sich immer um 
grosse Ausnahmen. 

Wir wollen heute nicht die schwarzen Malereien früherer 
Verhandlungen wiederholen, wir wissen auch ohne dies, dass die 
Stellung der Medizinalbeamten eine mindestens zweifelhafte ist. 
Wir sind Beamte, welche niemals genau angeben können, was 
wir thun müssen und thun dürfen. Man kann kurz sagen: es 
fehlt uns die Unabhängigkeit und doch müsste gerade der Gesund¬ 
heitsbeamte frei werden von allen Rücksichten, die nicht einzig 
und allein vom Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege geboten 
sind; so müsste er stehen, dass sein Verhältniss zu Polizei- und 
anderen Behörden, zu Aerzten und Kreiseingesessenen fest normirt 
und nicht abhängig ist von seinen event. persönlichen resp. ge¬ 
selligen Anlagen. Nur dann könnte er sich mit Hingabe seinem 
Amte widmen. 

Wenn somit schon aus Rücksicht auf eine feste Stellung die 
nebenamtliche Thätigkeit als Physikus aufhören soll, so muss 
das noch weit mehr deshalb geschehen, weil der jetzige Be¬ 
amte gar nicht die Zeit hat, den Verpflichtungen des Amtes 
in idealer Weise nachzukommen. 

Vergegenwärtigen wir uns, wie viele Tage und Stunden wir 
schon jetzt dem Amte geopfert haben. Der praktische Arzt benutzt 
seine freie Zeit lediglich zur Weiterbildung im Interesse seines 
Berufes und erwartet dabei auch klingenden Nutzen. Die Medi¬ 
zinalbeamten haben besonders in den letzten Jahren mit Eifer und 
Fleiss lernen müssen, um den überaus schnellen Fortschritten in 
der Bakteriologie und Hygiene zu folgen, um sich das Unentbehr¬ 
lichste anzueignen. Wir haben uns nicht gescheut, wochenlang 
unserm ärztlichen Berufe fern zu bleiben, um die erforderlichen 
Kenntnisse zu erlangen. Alle diese Zeit legen wir nutzbringend 
an nicht sowohl für uns resp. unsere Familie, sondern für das 
Gemeinwohl, denn damit dürfen wir uns nicht zufrieden geben, 
dass Lernen und Wissen Selbstzweck ist. Wir haben Verpflich¬ 
tungen nicht allein gegen den Staat, sondern auch gegen unsere 
Kinder. Und aus diesem Grunde ist das Opfer gross zu nennen, 
welches wir an Zeit schon jetzt dem Nebenamtebringen. Woher 
sollten wir aber Müsse gewinnen, wenn wir in wirklich nutz¬ 
bringender Weise als Gesundheitsbeamte thätig sein wollten? Um 
sich hier ein Bild zu machen, braucht man nur die Instruktion 
für die sächsischen Bezirksärzte durchzulesen; da wird man nicht 
im Zweifel sein, dass zur Ausfüllung solcher Stellung ganz 
andere Zeit gehört, als sie einem beschäftigten Praktiker zu 
Gebote steht. 

Viele von uns haben staatliche Kurse in der Bakteriologie 
durchgemacht, ein kleinerer Theil auch bereits die neu eingeführten 
hygienischen Fortbildungsübungen. Jeder meiner Kollegen war 
sich klar in diesen Kursen, dass eine Verwerthung des Gelernten 



Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten. 


59 


zunächst unmöglich sein würde, weil der heutige Kreis -Medizinal- 
Beamte nicht Zeit zu solchen Untersuchungen hat. 

Eng verbunden mit dem Zeitmangel ist das Fehlen eines 
genügenden Amteinkommens. 

Es dürfte nicht überflüssig erscheinen, bei dieser Gelegenheit 
eine Vertheilung unseres Gehaltes auf die einzelnen amtlichen 
Leistungen vorzunehmen. 

Als der Physikus noch 200 Thlr. bezog, befand er sich in 
einer besseren Lage, denn er konnte das Gehalt ungefähr als 
Entschädigung für die Zeit betrachten, welche seinem Haupt¬ 
erwerb als Arzt verloren ging. Die Gelegenheit zu solchen Zeit¬ 
opfern war überaus selten, wie wir aus den alten Physikatsakten 
ersehen. Dazu kam noch der Umstand, dass die Bezahlung 
etwaiger Reisen oder gerichtsärztlicher Geschäfte verhältnissmässig 
besser war als heute, wenn wir den Geldwerth berücksichtigen. 
Seit 1872 haben wir 900 Mark Gehalt, also dem Werthe des 
Geldes entsprechend etwa ebensoviel als früher, aber die Geschäfte 
haben sich nicht verdoppelt, sondern verdrei- und vierfacht. Und 
wie selten passirt es, dass ein Termin nicht mit der ärztlichen 
Sprechstunde kollidirt. Besonders die Landphysiker wissen, wie 
unangenehm es ist, in aller Frühe zu einer Sektion reisen zu 
müssen, um bei der Rückkehr allerlei Verdriesslichkeit und Ein¬ 
busse zu finden. 

Ich brauche nicht auf die Bezahlung der meisten gerichts¬ 
ärztlichen Geschäfte zu verweisen. Ist es genügend, wenn man 
für einen dreistündigen Tennin, welcher die Sprechstunde absor- 
birte, 6 Mark empfängt, wenn Obduktionsberichte der schwierigsten 
Art, die mitunter gleichkommen wissenschaftlichen Arbeiten und 
den Beamten tagelang zwingen, Literatur zu studiren, schliesslich 
mit 18 Mark honorirt werden? Sollen wir für alle solche Dinge 
Zuschläge aus den 900 Mark Gehalt berechnen? Sollen wir davon 
Entschädigung für Bureauutensilien, für die viele Schreiberei, für 
Bücher, Zeitschriften, Vereine, für Instrumente, Apparate, Chemi¬ 
kalien u. s. w. u. s. w. rechnen? 

Es ist durchaus nötliig, dass auch dieser wunde Punkt 
unserer Existenz besprochen wird und ich erinnere hierbei an den 
Vergleich, auf welchen Falk vor zwei Jahren hinwies: dass bei 
anderen Beamten die Reisekosten nur zur Entschädigung des Auf¬ 
wandes, bei uns aber zugleich als Ersatz für den Verlust dienen 
sollen, den wir an andern Einnahmen haben. 

Es ist eine falsche Scham, den Geldpunkt in scheinbar vor¬ 
nehmer Weise zu ignoriren! Welche Opfer haben uns die wissen¬ 
schaftlichen Fortschritte der letzten Jahre auferlegt! Die freudig 
begrüssten Kurse haben uns schwere Kosten verursacht, wie ja 
vorauszusehen war. Betonte doch Philipp schon bei der Ver¬ 
sammlung des Jahres 1884, als Nötzel über Fortbildungskurse 
sprach, „dass die Medizinalbeamten nicht in der Lage seien, diese 
Kurse eher mitzumachen, als bis sie fest besoldet wären. Auch 
die Militärärzte hätten diese Kurse erst bekommen, als sie dem 



60 


Dr. Fielitz. 


Offizierkorps an Besoldung gleichgestellt wären und nicht mehr 
auf Privatpraxis zu reflektiren brauchten“. 

Wer zwei solcher Kurse mitgemacht hat und sich angemessen 
mit Instrumenten etc. ausstattete, kann dafür ruhig das Gehalt 
zweier Jahre in Anrechnung bringen. 

Der Arzt als solcher ist nicht zu diesen enormen Ausgaben 
gezwungen, wohl aber der Medizinalbeamte, der seine Stellung 
ausfüllen möchte und stets hoffte, das Gelernte einst im Dienste 
des Staates verwerthen zu können. Ohne solche Erwägungen 
hätten vielleicht wenige Physiker ihre Ausbildung vervollständigt 
und diese wenigen, denen Zeit und Geld als „Naturanlagen“ zu 
Gebote stehen, können nicht massgebend sein. Denn wie man aus 
Rücksicht auf die allgemeine Moral verlangen muss, dass auch der 
reiche Arzt nicht umsonst praktizirt, ebenso wird man fordern, 
dass nicht als Beispiele die wenigen Medizinalbeamten hingestellt 
werden, welche freiwillige Opfer zu bringen in der Lage sind. 
Sonst könnte die Ansicht aufkommen, dass zur erfolgreichen Ver¬ 
waltung eines Physikats Vermögen gehört. 

Wie soll ferner der Medizinalbeamte seinen Kreis kennen 
lernen? Wie steht es mit den jetzigen Informationen aller Art 
bei „gelegentlicher Anwesenheit“? Welcher Physikus kann z. B. 
gelegentlich einer Sektion, die ihn event. einen ganzen Tag der 
Praxis entzieht, noch sanitäre Uebelstände erforschen? Wo soll 
er, wie der Min.-Erlass vom 4. Juni 1880 sehr richtig fordert, 
als Vorbereitung zu Berichten „Erfahrungen sammeln und sichten, 
Vergleichungsmomente gewinnen und sich der Ziele bewusst werden, 
auf deren Erreichung er vorzugsweise seine Anstrengungen zu 
richten hat“? 

Müssen wir da nicht frei bekennen, dass wir nicht einmal 
den Anforderungen genügen konnten, welche seither an uns ge¬ 
stellt wurden? Wenn es trotzdem in der Noth der Zeit geschah 
— und dem Herrn Minister gebührt unser wärmster 
Dank, dies vor der Volksvertretung anerkannt zu 
haben! — so geschah es mit persönlichen Opfern, welche der 
preussische Physikus trotz seiner Übeln Position, wenn es darauf 
ankommt, ebenso willig bringt wie jeder andere Beamte. 

Aber Niemand wird hieraus folgern wollen, dass es so bleiben 
kann wie bisher. Auch die Erscheinung darf nicht täuschen, dass 
fortwährend genügender Andrang zu Physikatsstellen ist. Den 
meisten von uns ist diese Thatsache erklärlich, zumal denjenigen 
Kollegen, welche ländliche Verhältnisse gründlich kennen. 

Freilich thut die sichere, wenn auch kleine Einnahme aus 
dem Physikat etwas, auch wollen wir nicht in Abrede stellen, 
dass, in kleineren Orten wenigstens, in den Augen des Publikums 
der beamtete Arzt eine besondere Stellung einnimmt und dass 
manche junge Aerzte denken, durch das Physikatsexamen ihre 
Praxis zu verbessern. Aber alles das trifft nur zu mit gewissen 
Einschränkungen, zumal dann, wenn der Arzt am Orte seiner 
ursprünglichen Thätigkeit Physikus wird. Lässt er sich dagegen 
versetzen, um ein Physikat zn erlangen, so sind die Verhältnisse 



Die gegenwärtige Stellung der Mediziualbeamtön. 


61 


meistens recht ungünstig, wenigstens auf Jahre hinaus; denn 
gewöhnlich ist die Praxis des Vorgängers bereits in anderen Händen, 
ehe die Stelle neu besetzt wird. Und es ist nicht jedes Medizinal¬ 
beamten Sache, mit Hinweis auf seine amtliche Stellung von Be¬ 
hörden Nebeneinnahmen zu erbitten. 

Auch dieser Punkt wurde bei den letzten Verhandlungen des 
Abgeordnetenhauses berührt und da scheint doch eine Erklärung 
für den steten Vorrath an Physikern ganz übersehen zu werden: 
es giebt eine grosse Zahl junger Aerzte, die gleich nach dem 
Staatsexamen gezwungen waren, in das drückende Erwerbsleben 
zu gehen. Unter diesen, m H., giebt es genug, die auch trotz 
mangelnder Finanzen fleissig sich weiter bilden und lediglich des¬ 
halb das Physikatsexamen machen, weil es ein Examen ist, welches 
nicht jeder Arzt absolvirt und die sich dann auch mit Recht freuen, 
wenigstens das erreicht zu haben, was sie nach ihren wirtschaft¬ 
lichen Verhältnissen erreichen konnten. 

Ich glaubte diesen Umstand erwähnen zu sollen, um nicht 
die Meinung zu lassen, als würde das Physikatsexamen lediglich 
aus Sucht nach grösserem Einkommen oder Ansehen abgelegt. 

Hierzu kommt, dass seit mindestens 15 Jahren jeder Physi- 
katskandidat hoffte, das goldene Zeitalter für die Medizinalbeamten 
anbrechen zu sehen. 

Sollten wir jetzt nun wirklich vor der Erfüllung dieser Hoff¬ 
nung stehen, so müssen wir uns fragen: Wie weit erstrecken 
sich unsere WünscheP Welche Forderungen unserer¬ 
seits sind berechtigt und welche sind durchführbar? 

Es ist in letzter Zeit über die Verbesserung unserer Stellung 
so viel geschrieben, dass man heute Neues nicht bringen kann. 

Einmüthig anerkannt wird von allen Seiten, dass unsere 
Thätigkeit nicht mehr nebenamtlich bleiben darf, dass wir 
wirkliche Staatsbeamte werden müssen. 

Es ist sehr zu beklagen, dass geradezu eine Scheu besteht, 
den Medizinalbeamten eine gewisse Selbstständigkeit einzuräumen. 
Wir können uns nicht verhehlen, dass es unter uns Heisssporne 
giebt, die event. geneigt wären, über erreichbare Ziele hinaus- 
zuschiessen, wenn sie mit nöthiger Vollmacht ausgestattet wären. 
Dagegen lässt sich aber erwidern, dass solche Vollmacht auch die 
eigene Verantwortlichkeit involvirt und dass zu eifrige Beamte 
leicht zu bessern sind, sobald sie von Oberbehörden rektifizirt 
werden. Warum sollten übrigens gerade beamtete Aerzte ihre 
Stellung missbrauchen, nachdem wir doch gesehen haben, dass z. B. 
Gewerberäthe sich in den Grenzen ihrer Befugnisse halten? Auch 
würde eine Dienstanweisung gemeinsame Direktive geben, wie wir 
das in andern Staaten zum allgemeinen Wohle sehen, ohne dass 
Klagen laut wurden. Ueberdies hat der Ausnahmezustand bei der 
Cholera am schlagendsten bewiesen, dass der Medizinalbeamte 
auch weitergehende Vollmachten zu beurtheilen versteht. 

Es wurde schon vorher betont, dass die Aufgaben der Ge¬ 
sundheitspflege den Medizinalbeamten ganz in Anspruch nehmen 



62 


Br. Fieütz. 


und dass wir zur Zeit viel zu sehr durch allerlei Rücksichten 
gebunden sind. 

Wir brauchen Mittelglieder, welche die Errungenschaften 
unserer Zeit dem Lande nutzbar machen, und das können nur die 
Kreis - Sanitätsbeamten sein, die so zugleich im Dienste der Wissen¬ 
schaft stehen, indem sie gewissennassen die Experimente im Kleinen 
beobachten und manches Dunkel aufklären können. Denken wir 
nur an das Auftreten und die Verbreitung epidemischer Krank¬ 
heiten, an die Bevorzugung einzelner Orte und Landstriche. Ohne 
unabhängige Beamtenstellung vermag der Physikus nicht in einem 
Menschenalter seinen Kreis so kennen zu lernen, wie es die Ge¬ 
sundheitspflege fordert. 

Und gerade in den jüngsten Tagen wird allseitig betont, 
dass eine Reform nach dieser Seite Noth thut. Ein Seuchen¬ 
gesetz — und nehme es auch den bescheidensten Um¬ 
fang an — kann nicht wirksam sein ohne Beamte. Und 
zwar gehören zu seiner Durchführung Beamte mit 
selbstverantwortlicher Stellung. 

Wer die ländlichen Verhältnisse kennt, weiss genau, dass es 
unmöglich ist, sanitäre Massnahmen den unteren Polizeibehörden 
zu überlassen; — das hiesse auf ihre Wirksamkeit verzichten. 

Gerade hierüber müsste uns die Cholerazeit belehrt haben. 

Aber wie wir heute gestellt sind, können wir nicht ohne die 
schwersten persönlichen Opfer unsere Pflicht erfüllen und man 
muss Finkelnburg beistimmen, welcher sich im Centrallblatt 
für allgemeine Gesundheitspflege folgendermassen ausspricht: 

„Es ist nicht za leagnen, dass die bisherige Ausbildongsweise and be¬ 
sonders &ach die äussere Lebensstellung der beamteten Aerzte es denselben an¬ 
möglich macht, ihre Zeit and Kräfte den Aufgaben der öffentlichen Gesundheits¬ 
pflege in solcher Weise zazuwenden, dass sie Überall für die heutigen Ansprüche 
der letzteren als zuverlässige Organe gelten könnten. War dies schon ehedem 
fühlbar, so ist es seit der hohen Bedeutung, welche die eine besondere Schulung 
erfordernden und stets zeitraubenden bakteriologischen Untersuchungen für die 
hygienische Praxis gewonnen haben, noch in weit erhöhterem Masse der Fall. 
Will man daher den öffentlichen Gesundheitsschutz in Deutschland wirksam 
reformiren, so beginne man damit, die Ausbildung und Anstellung kompetenter, 
mit ausreichendem Gehalt versehener und dadurch von aller ärztlichen Privat¬ 
praxis ablösbarer ärztlicher Gesundheitsbeamten obligatorisch zu machen. Schon 
im Jahre 1876 hat die wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in 
Preussen diese Einrichtung als dringend noth wendig nachgewiesen. So lange 
dieser Forderung nicht entsprochen wird, bleiben alle hygie¬ 
nischen Reichs- und Landesgesetze mehr oder weniger todte 
Buchstaben und können unter Umständen durch einschneidende 
Vollmachten mangelhaft berathener Unterbehörden sogar mehr 
Nachtheil und Verwirrung als Nutzen stiften.“ 

Sind wir erst Beamte, dann kann und wird der Staat auch 
von uns verlangen, dass wir nur das Interesse unseres Amtes 
wahren. Lassen Sie mich hierbei eines Umstandes erwähnen, den 
die Cholera - Erfahrungen nahe legen. 

In seiner Existenz als praktischer Arzt wird der Medizinal¬ 
beamte während einer solchen Epidemie schwer geschädigt. Ich 
habe z. B., während die Cholera in meinem Kreise herrschte, vier 
Wochen lang gar nicht praktiziren können, erlebte aber auch 



Die gegenwärtige Stellung der Hedizinalbeamten. 


63 


gleich in den ersten Tagen eine Reihe Abbestellungen und, was 
am schlimmsten ist, eine Anzahl ängstlicher Familien bleibt 
dauernd weg, wenn sie sehen, dass ihr Arzt immer zuerst mit 
ansteckenden Krankheiten zu thun hat. 

Auch der Gedanke ist nicht beruhigend für den heutigen 
Physikus: „was wird aus Deiner Familie, wenn Du ein Opfer 
Deiner amtlichen Thätigkeit wirst?“ 

Ich brauche nicht zu bemerken, dass keiner von uns durch 
solche Reflexionen sich abhalten lässt, seine Pflicht in vollem 
Masse zu erfüllen, aber diese Dinge dienen als Beweis, dass 
uns nur eine Beamtenstellung mit Pensionsberechtigung u. s. w. 
helfen kann. 

Wenn wir solche Stellung wünschen, dann vertreten wir, 
wie schon gesagt, weniger unser eigenes, als das Interesse des 
Staates und wird uns, wie wir aus den wohlwollenden Aeusse- 
rungen des Herrn Ministers schliessen dürfen, diese Stellung bald 
zu Theil, dann erledigen sich alle Nebenfragen ganz von selbst. 

Hierhin rechne ich vor Allem unser Verhältniss 
zu den praktischen Aerzten. 

Leider ist dasselbe seit Jahren getrübt und ich muss ge¬ 
stehen zum grössten Theil durch unsere eigene Schuld, nachdem 
die Aerzte sahen, dass wir unsere Einnahmen unter Berufung auf 
unser Amt resp. unser nicht angemessenes Gehalt zu verbessern 
bestrebt waren. Erfahrene Medizinalbeamte sind der Meinung, 
dass wir mit allen Nebeneinnahmen dem Gemeinwohle eher 
schaden als nützen, weil sie unsere Zeit absorbiren. In erster 
Linie kommen wir aber in eine schiefe Stellung zu den prakti¬ 
schen Aerzten oder sind wir vielmehr schon gekommen, wie uns 
die Vorbereitungen zu den Aerztekammerwahlen und andere Ver¬ 
handlungen gezeigt haben. 

Besonders nachtheilig war in dieser Beziehung die Diskussion 
im Jahre 1886 über die öffentlichen Impfungen. Noch weniger 
sind Nebeneinnahmen aus bahnärztlichen und anderen Stellungen 
geeignet, uns in der amtlichen Thätigkeit zu fördern. 

Es ist überhaupt ein eigen Ding mit allen solchen Neben¬ 
einnahmen. Das wird sich aus der Zusammenstellung zeigen, 
welche der Herr Minjgter angeordnet hat. Da sollen Physiker mit 
6—10000 Mark Einnahmen figuriren und zwar mit Einnahmen, 
welche ihnen sozusagen nebenamtlich zufliessen. Wenn man hier¬ 
aus aber folgern wollte, das betreffende Physikat bringe für alle 
Zukunft 10000 Mark, so würde man sich schwer täuschen; denn 
die Einnahmen hängen durchweg nicht am Amte, sondern an der 
Person und bei Neubesetzungen fängt jeder wieder von vorne an. 
Und wie verschieden liegen die Verhältnisse in den einzelnen 
Bezirken! Der eine Physikus impft den halben Kreis, der andere 
hat überhaupt keinen Impfbezirk. Zu Bahnarztstellen nimmt man 
wohl den Medizinalbeamten, wenn er sich rechtzeitig meldet. 
Aber wie soll in der grossen Stadt der Beamte wissen, dass eine 
der vielen Bahnarztstellen frei wird? In Halle z. B. bin ich der 
einzige Medizinalbeamte, welcher eine kleine Bahnarztstelle hat 



64 


Br. Fielitz. 


und zwar wurde mir dieselbe direkt von einem befreundeten 
Kollegen übergeben, der sie nicht mehr haben wollte — alles 
andere ist in den Händen der praktischen Aerzte und vererbt sich 
von Bekannten zu Bekannten. Aehnlich geht es mit den meisten 
Nebeneinnahmen und ich halte das für einen Segen, sobald wir 
wirklich als Gesundheitsbeamte angestellt werden. Eigentlich 
sollte man als Nebeneinnahmen doch nur Gebühren aus sanitäts¬ 
polizeilichen oder höchstens gerichtsärztlichen Geschäften rechnen. 
Diese werden uns von den praktischen Aerzten gewiss gegönnt. 

In der Deutschen Med. Wochenschrift behauptet Dr. Goltz, 
die Regierung sei in den letzten Jahren bemüht gewesen, die 
Stellung der beamteten Aerzte gegenüber der der nicht be¬ 
amteten, „mehr moralisch als pekuniär zu heben“ und führt hier¬ 
bei an: die Nothwendigkeit amtsärztlicher Atteste bei Aufnahme 
Geisteskranker in Irrenanstalten und bei Ausstellung von Leichen¬ 
pässen. „Dadurch werde auch das Publikum verleitet, das Urtheil 
des beamteten Arztes höher zu stellen, als das des nicht beamteten 
und dadurch leide der ganze ärztliche Stand Einbusse an seinem 
Ansehen.“ 

Diese Befürchtung ist nicht zu theilen, auch liegen sehr 
gewichtige Gründe vor, dass der Staat für gewisse Zwecke amts¬ 
ärztliche Atteste fordert, die — nebenbei gesagt — von einer 
ganzen Anzahl praktischer Aerzte nicht oder höchst ungerne aus¬ 
gestellt werden und ich bin fest überzeugt, dass auch im Attest¬ 
wesen kein Zankapfel mehr gefunden wird, sobald wir als selbst¬ 
ständige Beamte aus der unleugbar scharfen Konkurrenz mit den 
nicht beamteten Aerzten ausscheiden. 

Dass wir heute nicht darüber zu debattiren brauchen, ob uns 
später das Betreiben ärztlicher Praxis gestattet werden soll oder 
nicht, erscheint mir deshalb klar, weil auch diese Frage sich 
einst von selbst regeln wird. Sind wir Beamte mit angemessener 
Beschäftigung, dann beschränkt sich die Praxis unter allen Um¬ 
ständen und die Zeit wird nicht ferne sein, wo die Mehrzahl der 
Gesundheitsbeamte gar nicht mehr in der Lage ist, ärztliche 
Praxis auszuüben, wie sich das genau so bei den Reg.-Med.-Räthen 
ohne staatliches Verbot gemacht hat. 

Gut ist es jedenfalls, ja sogar nothwendig, dass die Medizinal¬ 
beamten Aerzte mit möglichst praktischer Erfahrung sind, auf der 
andern Seite wird es später nicht mehr Vorkommen, dass es junge 
Physiker giebt, welche erst 4 — 5 Jahre Arzt waren. 

Kurz das sind Dinge, welche durch die Macht der Verhält¬ 
nisse besser geordnet werden, als durch lange Erwägungen und 
Beschlüsse. 

Unter allen Umständen haben aber die praktischen Aerzte das 
grösste Interesse daran, die Medizinalbeamten so situirt zu sehen, 
dass diese ärztliche Thätigkeit höchstens als Nebenbeschäftigung 
betrachten. Ist solche Stellung erreicht, dann wird sich auch der 
Sturm legen, den nicht ganz mit Unrecht der Seuchengesetzent¬ 
wurf unter den Aerzten entfesselt hat- 

Zwar bringt der Entwurf insofern nichts Neues, als auch 



Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten. 


65 


seither schon der beamtete Arzt berufen war, unter Umständen 
den Ausbruch einer Epidemie zu konstatiren. Aber dadurch 
wird der Arzt gewissermassen unter den Sanitätsbeamten gestellt, 
dass ihn dieser vernehmen kann und dass es dem Laien gegen¬ 
über stets den Eindruck machen wird, als übe der Medizinalbeamte 
eine Kontrole des Arztes aus. Weniger fühlbar ist das in grossen, 
als in kleinen Städten. Denken wir uns den Physikus mit 1 oder 
2 Kollegen. Nur die Kranken des Physikus werden nicht kon- 
trolirt, während diejenigen der anderen Aerzte vom beamteten 
Kollegen besucht werden, sobald es sich um eine der Anzeigepflicht 
unterliegende Krankheit handelt. Soll da nicht der ungebildete 
Mann auf den Gedanken kommen, dass dem einfachen Arzte 
gewisse Kenntnisse abgehen? Wir müssen gestehen, dass hier¬ 
durch die Aerzte in eine üble Lage kommen und dürfen uns nicht 
wundern, wenn bei allen Erörterungen des Entwurfs dieses Miss¬ 
verhältnis obenan steht. 

Durchaus zutreffend hat das Graf in seiner Rede am 5. März 
geschildert. Er folgert gerade hieraus die Dringlichkeit der 
Medizinalreform, zumal ohne die freudige Mitwirkung der Aerzte 
ein Seuchengesetz nie zur vollen Geltung kommen könne. 

Ist die Reform durchgeführt, dann wird auch das Seuchen¬ 
gesetz Segen bringen, dann wird auch die Klage des ärztlichen 
Standes verstummen. Auch brauchen dann die Aerzte nicht so 
grossen Werth darauf zu legen, dass die Medizinalbeamten nicht 
ohne sie die Kranken besuchen sollen. Das ist ein heikler Punkt, 
der sich unter heutigen Verhältnissen nicht zu Aller Zufriedenheit 
erledigen lässt. Ich halte es für angemessen, wenn der Physikus 
den behandelnden Arzt von seinem Kommen benachrichtigt, soweit 
es irgend thunlich ist. Nicht thunlich ist es z. B. mitunter 
bei herrschender Cholera, wo jeder Augenblick kostbar bleibt. 
Gesetzlich aber eine Bestimmung in dieser Beziehung zu treffen, 
ist einfach schon der Kosten wegen unmöglich. Denn würde 
gefordert, dass der behandelnde Arzt auf die Anmeldung des 
Medizinalbeamten sich ebenfalls einstellte, so wü. le er auch Be¬ 
zahlung verlangen. Ausserdem fragt es sich doch recht sehr, ob 
der Arzt stets geneigt wäre, auf eine Berufung des Physikus 
rechtzeitig zu erscheinen. 

Noch unberechtigter ist die Forderung, welch Goltz auf¬ 
stellt, wenn er eine Konstatirung ansteckender Kran! leiten durch 
Amtsärzte für unnöthig hält und meint, die Medi. malbeamten 
könnten sich auf die Feststellung des behandelnden Vrztes ver¬ 
lassen. Er verlangt, dass die Aerzte mit allen Mitteln dahin 
streben, dass für das neue Gesetz eine Fassung gefunden wird, 
aus der klar hervorgeht, dass der beamtete Arzt nicht berechtigt 
ist, Kranke nicht beamteter Aerzte zur Feststellung der Diagnose 
zu besuchen. 

Dieser Kritiker übersieht vollständig, dass die Bestätigung 
der ärztlichen Diagnose durch den Medizinalbeamten nicht der 
Zweck des sanitätspolizeilichen Einschreitens ist, sondern nur den 
Ausgangspunkt bildet für die nöthigen Massnahmen. Wenn 

5 



66 


Dr. Fielitz. 


solche vom Sanitätsbeamten in wirksamer Weise angeordnet 
werden sollen, kann es nur für den bestimmten Fall geschehen 
und selbstverständlich muss diesen Fall der beamtete Arzt auch 
gesehen haben. Sonst könnte statt eines Seuchengesetzes eine 
gedruckte Anweisung an die Polizeibehörden gegeben werden, wie 
sie sich bei jeder ärztlichen Anzeige zu verhalten hätten. So 
einfach spielt sich die Bekämpfung der Seuchen nicht ab. 

Das Publikum und auch der jetzt so vielfach ins Treffen 
geführte „ängstliche Kranke“ wird sich durchaus nicht mehr über 
den Besuch des Medizinalbeamten alteriren, wenn dieser die ent¬ 
sprechende staatliche Stellung einnimmt und dem gewöhnlichen 
Manne nicht mehr einfach als „ein andrer Doktor“ erscheint. 

Wir sehen, Alles drängt in der Jetztzeit dazu, dem Medizinal¬ 
beamten eine gesicherte Existenz zu geben. Wir sehen aber auch 
aus den kurzen Ausführungen, dass sich alle Unterfragen von 
selbst erledigen werden und dürfen deshalb im vollen Vertrauen 
auf die Zusicheruugen des Herrn Ministers hoffen, dass auch das 
letzte Hinderniss zu einer gedeihlichen Reform — der Geld¬ 
mangel — sobald als möglich beseitigt wird. 

Die letzte Nummer unsrer Zeitschrift bringt einen Artikel 
aus den „Berl. neuesten Nachrichten“, welcher gewissermassen 
einen Besoldungsplan aufstellt. Derselbe ist offenbar von einem 
Sachverständigen verfasst und bringt im Grossen und Ganzen das, 
was unsern Anschauungen entspricht. Indessen meine ich, dass 
hier nicht der Ort ist, über die event. Höhe unsres Einkommens 
und die Flüssigmachung der erforderlichen Mittel zu debattiren. 
Aus dem Gesagten ergiebt sich von selbst, dass eine einfache 
„Gehaltszulage“ nichts nützen kann, sondern nur die Einreihung 
der Kreisphysiker unter die pensionsberechtigten Staatsbeamten. 

Ich stelle deshalb der Versammlung anheim zu beschliessen, 
der Vorstand des Vereins möge dem Herrn 
Minister unsern Dank aussprechen für die den 
Medizinalbeamten gezollten Worte der Aner¬ 
kennung und Sr. Exzellenz die einmüthige An¬ 
sicht des Vereins gehorsamst unterbreiten, dass 
eine erspriessliche Thätigkeit der Kreisphysi¬ 
ker auf dem Gebiete der öffentlichen Gesund¬ 
heitspflege dauernd nur möglich ist, wenn sie 
zu pensionsberechtigten Staatsbeamten mit 
ausreichendem Gehalte und genügender Kom¬ 
petenz gemacht werden. 

(Lebhafter Beifall.) 

Vorsitzender: Ich eröffne die Diskussion. 

H. Bez. - Phys. San. - Rath Dr. Litthauer (Berlin): Ich möchte blos die 
Bitte an den Herrn Vortragenden richten, in die vorgeschlagene These auch die 
Bemerkung einzuflechten, dass die Verbesserung der Stellung der Mediziual- 
beamten sowohl im Interesse der gesammten Bevölkerung, als im Interesse der 
privatärztlichen Kreise gelegen ist. 

H. Kr.-Phys. Dr. Fielitz: Ich hatte gerade gemeint, dass die von mir 
vorgeschlagene kurze Form genügte, weil daraus hervorgeht, dass eine gedeih¬ 
liche Thätigkeit der Kreisphysiker nur bei Aenderung ihrer Stellung möglich ist. 



Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten. 


67 


H. Kr.-Phys. Dr. Jacobson: leb meine, wir können dem Vorschläge, den 
der Herr Referent gemacht hat, ohne Weiteres zustimmen, und wir werden auch 
den Ausführungen desselben kaum etwas Sonderliches hinzuzufügen haben, ln 
der That drängt Alles dahin, dass der Physikus nur unter solchen Umständen 
seinem Amte voll und ganz obliegen kann, wenn er von der Ausübung der 
ärztlichen Praxis gänzlich unabhängig ist. Ich habe aber meine Bedenken 
darüber — und ich möchte vorweg betonen, dass ich das nicht zur Diskussion 
stellen will — ob die Annahme des Antrages von besonderem Erfolg begleitet 
sein wird. Ich meine, wenn wir auf irgend welchen Erfolg rechnen wollen, so 
giebt es nur ein Mittel, und das ist, dass jeder Einzelne von uns mit seinem 
Landtagsabgeordneten möglichst oft Rücksprache nimmt und ihn so lange bearbeitet, 
bis er von ihm endlich eine zusagende Antwort erhält. Ich bin der Ansicht, 
nur dann, wenn von Seiten der Landesvertretung aus die Sache immer wieder 
angerührt wird, wird auch von Seiten der Regierung, der ich natürlich 
alles Wohlwollen gegen uns zutraue, ernstlich der Qeldfrage so nahe getreten 
werden, dass eine Veränderung unserer Stellung in dem Sinne, wie wir es 
wünschen, erfolgen wird. 

H. Elr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: Das ist ja ganz schön, aber 
ich glaube, es ist zur Genüge geschehen. Von Seiten des Landtages steht gar 
nichts im Wege, denn dieser hat sich seit Jahrzehnten bereit erklärt, die Mittel 
zu bewilligen. Das Hinderniss liegt lediglich in der Regierung, in dem Finanz¬ 
minister. Seit einer Reihe von Jahren ist alljährlich im Landtage die Sache zur 
Sprache gebracht worden; sie fand allseitig Entgegenkommen und wurde mit 
Wohlwollen begrüsst. Insbesondere haben sich die Abgeordneten Dr. Graf, 
der Landrath von Schwarzkopf, Regierungspräsident von Pilgrim, 
Dr. Langerhans und Andere der Angelegenheit warm angenommen und nie¬ 
mals ist die Forderung, dass für die Medizinalbeamten eine andere Stellung 
geschaffen werden muss, einem Widerspruch begegnet. Also von solchem neuen 
Angriff kann man sich nicht besonders viel versprechen. Es ist vielleicht 
wünschenswerth, dass er alle Jahre wieder erfolgt, aber, wie gesagt, die Abge¬ 
ordneten widerstreben nicht, die Schwierigkeit liegt lediglich an der Staats¬ 
behörde. Unser Medizinalminister hat sich nun in der letzten Verhandlung 
ziemlich stark engagirt, aber auch er sagt: das Hinderniss liegt in den finanziellen 
Verhältnissen. Wenn man dieses beseitigt, dann ist uns geholfen. 

Vorsitzender: Ich kann doch diesen Ausführungen nicht ganz beitreten. 
Ich habe häufig Herren in meinem Bezirke gefragt, ob sie der Praxis entsagen 
wollten, und da haben sie mir eigentlich Alle, wenngleich mehr oder weniger 
verklausulirt erklärt: — es sind mehrere von den Herren zugegen — nein, wir 
möchten die Praxis nicht entbehren. Sie stehen sich auch im Allgemeinen, Gott 
sei Dank, in meinem Bezirke recht gut, insbesondere im Verhältniss zu den 
Regierungsmedizinalräthen; denn das aus ihrer gesammten Berufsthätigkeit 
ihnen entstehende Einkommen geht im Allgemeinen über dasjenige der Regie¬ 
rungsmedizinal - Räthe hinaus. Wenn wir also einmal die Verhältnisse der 
Medizinalbeamten ordentlich reformiren wollen, müssen wir nicht nur von den 
Kreismedizinalbeamten reden, sondern auch die Regiernngsmedizinalbeamten in 
Betracht ziehen (Zustimmung) und prüfen, ob die amtlichen Einkünfte derselben 
zu ihrer Arbeitslast in angemessenem Verhältnisse stehen. Es ist kaum noch 
scherzweise gesprochen, wenn ich sage, dass ich an einer Glutaeitis chronica 
leide vom ewigen Sitzen. Ich habe in den letztsn 7,8 Monaten, und zwar nicht 
etwa allein aus Anlass der Choleragefahr, so viel gesessen und von Morgens 
früh bis Abends spät gearbeitet, Gutachten und allerhand Verwaltungssachen,— 
dabei leider auch viel kleinen kalkulatorischen Kram, der eigentlich uusereinem 
gar nicht zukommen sollte (sehr richtig) —, dass ich nicht Zeit gehabt habe, 
eine Stunde spazieren zu gehen, und es mir wegen Mangel an Zeit oft schwierig 
geworden ist, meine nothwendigsten häuslichen Geschäfte zu besorgen. Sie 
werden mir zugestehen, das sind üble Verhältnisse! 

Es ist hier bei Gelegenheit des Seuchengcsetzes davon gesprochen worden, 
dass, falls die Medizinalbeamten mit den praktischen Aerzten in Konflikt 
kommen, eine weitere Instanz angerufen werden soll; da wird natürlich auch 
wieder der Regierungsmedizinalrath eintreten sollen. Man setzt voraus: der 
muss es besser verstehen. Das ist ja sehr schätzbar; indessen in welcher Weise 
soll er dazu kommen, es besser zu verstehen? Entweder er muss tüchtig iu 

5* 



68 


Dr. Fielitz. 


der Praxis geblieben sein, oder er muss doch wenigstens die Möglichkeit gehabt 
haben und fortdauernd haben, in der Literatur Allem, was auf seinem Gebiete 
passirt, gründlich zu folgen. Aber bei dem arbeitsvollen Leben, das wir Medizinal- 
räthe zu führen haben, sind wir kaum noch im Stande, die Zeitung zu lesen. 
Ich weiss nicht, ob die Arbeitslast der Regierungsmedizinalräthe überall eine 
so grosse ist, aber annähernd wird sie wahrscheinlich auch anderwärts so sein, 
wenngleich ich wohl einen Bezirk habe, in welchem am meisten zu thun ist. 
Wir müssen entlastet werden, und zwar hauptsächlich von der widerwärtigen 
Kalkulaturarbeit, damit wir für wissenschaftliches Leben genügende Zeit be¬ 
halten. Es wäre den Regierungsmedizinalräthen also verhältnissmässig leicht zu 
helfen. Ich wenigstens verlange gar nicht einmal mehr Gehalt, obgleich es in 
der Ordnung wäre, dass man unsere Gehälter denen der anderen Regierungs¬ 
beamten vollständig gleich setzte. Ich bin einer der ältesten Regierungsmedi¬ 
zinalräthe und gewissermassen zufällig auch dahin gekommen, dass ich schon 
seit längerer Zeit das höchste Gehalt beziehe. Dieses ereignete sich dadurch, 
dass bei der Einrichtung der Regierungsmedizinalrath - Stellen in der Provinz 
Hannover im Jahre 1885 die Zahl der höher dotirten Stellen vermehrt wurde. 
Früher gab es in Preussen nur 2 Stellen mit höchstem Gehalt, seit dem glaube 
ich, giebt es 4 oder 5. Ich beziehe 6000 Mark Gehalt. Sie werden zugeben, 
dass das nicht gerade übermässig ist. (Sehr richtig!) Nun möchte ich einmal 
fragen: auf ein wie hohes Gehalt machen Sie für den Kreisphysikus Anspruch? 
Es ist so häufig davon gesprochen worden, dass er selbstständig gestellt werden 
so 11, aber niemals hat einer von den Herren gesagt, wie viel er haben muss. 
Das muss man doch auch wissen: wieviel gehört zu einer Wirtschaftsführung 
in den Verhältnissen, in denen in der Regel der Kreisphysiker leben will; wie 
viel muss er haben? (zum Vortragenden:) Sagen Sie es gefälligst einmal nach 
Ihrer Schätzung! 

H. Kr.-Phys. Dr. Fielitz: Ja, m. H., unser Herr Vorsitzender hat mich 
offenbar ziemlich missverstanden. Ich habe absolut nicht eine Lanze dafür 
brechen wollen, dass wir ohne Aenderung unser Stellung mehr Geld erhalten 
sollen; denn ich setze voraus, dass die Meisten unter uns in der Lage sind, auch 
ohne Erhöhung des Physikatsgehalts leben zu können. Ich selber bin in der 
Lage gewesen, die grösste Zeit meines Lebens sehr grosse Praxis zu besitzen 
und weiss das recht wohl zu schätzen, und da würde es mir auch heute schwer 
werden, die Praxis etwa aufzugeben. Aber, m. H., wenn wir uns einmal jetzt 
fragen: was fordert das Interesse der Gesundheitspflege, dann kommen doch 
diese Bedenken erst in zweiter Linie. Ich wünsche von Herzen den Regierungs¬ 
medizinalräthen grösseres Gehalt und auch recht viel Zeit; aber davon zu reden, 
ist jetzt unmöglich angebracht. Auch darüber können wir unmöglich debattiren, 
wieviel wir verlangen. Mir wird es wenigstens nicht einfallen, zu sagen: ich ver¬ 
lange allermindestens zu Anfang 1000 Thaler und zum Schluss 2000 Tlialer. 
Wenn in irgend einer Zeitung ein Plan über das den Physikern zu gewährende 
Gehalt gestellt wird, so wird Niemand etwas dagegen haben, hier aber brauchen 
wir uns darüber nicht den Kopf zu zerbrechen; das wissen die Herren in der 
Regierung viel besser als wir. Sie brauchen auch nur nach dem Nachbarstaat 
Hessen zu gehen (Zuruf: Sachsen) — oder nach Sachsen und zu sagen: zeigt 
uns eueren Besoldungsplan. Der Physikus hat ja auch noch Nebeneinnahmen; 
also deswegen genügt es ja vollständig, wenn er ein mittleres Gehalt hat. Nur 
muss er so gestellt werden, dass er nicht in allererster Linie gezwungen ist, 
auf Praxis zu sehen und dadurch in Konflikt mit seinem Gewissen gebracht zu 
werden. Das ist die Hauptsache. Wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben. Auch 
wenn wirkein Seuchengesetz bekommen, müssen wir doch sagen: wir werden 
viel zu gering bezahlt für das, was wij* leisten müssen. (Zu¬ 
stimmung.) 

Vorsitzender: Damit bin auch ich immer einverstanden gewesen und ich 
habe es immer hervorgehoben, dass der Physikus oder der Kreismediziualbeamte 
ein höheres Gehalt bekommen müsse. Das unterliegt keinem Zweifel und ist 
auch noch von Niemand bestritten worden. Aber jetzt ist die Frage, ob die 
Medizinalbeamten überhaupt von der Praxis losgemacht werden sollen, und es 
geht die Strömung allgemein dahin: sie sollen gar keine Praxis mehr treiben. 
Das halte ich für ausserordentlich bedenklich. Der Medizinalbeamte kann nicht 
in späterem Alter in das Amt hineintreten, er muss ziemlich früh hineinkommen, 



Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten. 


69 


und ob da die Erfahrungen und Kenntnisse, welche er aus der ärztlichen Praxis 
mitbringt, so fest sitzen, dass sie genügend für die ganze übrige Lebenszeit 
dnrchhalten, bezweifle ich. Ich will darüber hinweggehen, dass mit dem gänz¬ 
lichen Heraustreten aus der ärztlichen Praxis auch jene Eigenthümlichkeit des 
Wesens verloren geht, welche dem Arzte als solchen vortheilhaft steht und Ver¬ 
trauen erwirkt; aber das scheint mir doch sehr wichtig und ausser Zweifel zu 
sein, dass damit eine grosse Zahl von Gegenständen der Vergessenheit anheimfällt 
und dem Gedächtnisse entzogen bleibt, welche dem vollgcbildeteu Arzte nicht 
fehlen sollte. Ich erwähne nur beispielsweise die Menge von neuen Arznei¬ 
mitteln, Giften u. s. w., mit denen der Medizinalbeamte gelegentlich gutachtend 
zu thnn bekommen kann. Ja, wer nicht in der Praxis stehend Veranlassung 
hat, sich hin und wieder mit diesen Sachen zu beschäftigen, bekümmert sich 
nicht darum und wirft schon gewohnheitsmässig die betreffenden Anzeigen in 
den Papierkorb. So giebt es auf dem Gebiete der ärztlichen Technik Mancherlei, 
was kaum beachtenswerth erscheint, den praktizirenden Arzt jedoch interessirt, 
und dieser findet darin zahlreiche Handhaben, welche ihn fast unwillkürlich 
dahin bringen, mit den Fortschritten der Wissenschaft mitzugehen. Ich halte 
es deshalb für nöthig, dass dem Physikus auch die Praxis nicht untersagt wird 
(Znruf: Das verlangt auch Keiner). Ja, in der neuen Zeit geht die Strömung dahin. 

Dann wundere ich mich immer wieder darüber, dass es heisst, der Physikus 
hat eine so unselbstständige Stellung, er hängt so sehr ab von den oberen Be¬ 
amten, von dem Landrath u. s. w. Ja, das ist ganz gewiss nur Sache der 
Herren selbst. Soweit ich es kenne, besteht in meinem Bezirk ein solches Ver¬ 
hältnis nicht. Da ist man in dienstlichen Angelegenheiten im Allgemeinen 
äusserst entgegenkommend und wird auch in gesellschaftlicher Beziehung Jedem 
die gebührende Stellung gern eingeräumt. Wohl Niemandem ist es bisher beige¬ 
kommen, das amtliche Verhältniss so aufzufassen, als ob der Physikus sich Ein¬ 
nahmen vom Landrath erbitten sollte, oder als ob der Landrath Einnahmen, die 
er disponibel hätte, dem Physikus zuwenden sollte. Eine solche Auffassung hat, 
wie ich meine, bei uns niemals gewaltet; die Physiker sind in dieser Beziehung 
vollständig freie Leute und haben deshalb auch wohl weniger das Bedürfnis, 
dass ihre Stellung geändert werde, als dass ihre in mannigfacher Beziehung nicht 
mehr einwandsfreien Gehaltsverhältnisse anderweitig geregelt werden. 

H. Kr.-Phys. Dr. Fielitz: Ich habe eigentlich gerade das, was der Herr 
Vorsitzende sagte, in meinen Ausführungen zu widerlegen gesucht, und ich 
müsste noch einmal von vorne anfangen, wenn ich darauf erwidern wollte. 

Es bleibt mir nur übrig, auf etwas hinzuweisen, was der Geh. Bath Dr. 
Kanzow doch ausser Acht lässt. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass in den Be¬ 
zirken, wo ein gutes Verhältniss zwischen Landrath und Physikus existirt, es lediglich 
auf die Persönlichkeiten ankommt, die sich gegenüberstehen. Das wissen wir Phy¬ 
siker alle. Ich speziell habe einen vorzüglichen Landrath und stehe mich vortrefflich 
mit ihm. Aber das ist doch kein gesetzliches Abkommen. Wenn der Physikus erst 
immer seine persönliche Liebenswürdigkeit mit in die Wagschale werfen muss, 
wo bleibt denn da seine selbstständige Stellung ? Was heisst überhaupt jetzt eine 
selbstständige Stellung? Die giebt es für den Physikus in keiner Weise! Er 
ist ja nicht einmal berechtigt, in eine fremde Wohnung zu gehen; es kann ihn 
Jeder hinauswerfen, wenn er hinkommt, ohne dass der Landrath es angeordnet 
hat. Die einzelnen Physiker reden sich ein, sie haben ein Recht; abor wenn sie 
hinkommen, so werden sie einfach an die Luft gesetzt. Sie haben in den Woh¬ 
nungen gar nichts zu thun; nur dann, wenn sie von der Polizei hingeschickt 
werden. 

Dann möchte ich noch auf eins znrückkommen: dass es in Rücksicht auf 
das eventuelle Seuchengesetz, auch wenn es sich nur auf die Cholera beschränken 
sollte, nicht genügen wird, die Physiker besser zu bezahlen, sondern sie vor 
allen Dingen so zu bezahlen, dass sie wirklich aus der scharfen Konkurrenz mit 
den praktischen Aerzten Ausscheiden. Wenn das nicht geschieht, werden wir 
noch die unliebsamsten Sachen mit den Aerzten erleben; und dass wir ohne die 
praktischen Aerzte bei allen Sanitätsmassnahmen nicht Auskommen können, muss 
jeder erfahrene Mcdizinalbeamte sagen. Denn er ist in letzter Linie absolut 
daranf angewiesen, sich das Vertrauen der Aerzte im Bezirk zu erhalten; ohne 
das kann er nicht genügend Auskommen. Ich glaube aber nicht, dass unter uns 
diese Ansicht so sehr besteht, und dass es auch unter uns für nothwendig 



70 


Dr. Fielitz. 


gehalten wird, ohne Weiteres dem Physikus die Praxis ganz abzunehmen Ich 
glaube auch nicht, dass dies von Regierungskreisen beabsichtigt wird. Aber 
sollte das selbst beabsichtigt werden und später ein spezielles Verbot kommen: 
der Sanitätsbeamte darf nicht mehr Praxis troiben, so wird dieser noch immer 
in einer anderen Position sein, als der Medizinalrath. Denn wir haben ja ver¬ 
möge solcher Gesetze, wie sie jetzt gemacht werden sollen: des Seuchengesetzes, 
ebenso wie bisher vermöge des Regulativs vom Jahre 1835, immer wieder Ge¬ 
legenheit, fortgesetzt Kranke zu untersuchen und zu beobachten, wir kommen 
doch niemals so aus der Praxis heraus, wie die Regierungsmedizinalräthe; nur 
dass wir dann natürlich nicht in der Lage sind, mit allen möglichen Medika¬ 
menten den Leuten beizuspringen. Und das wollen wir auch gar nicht, sondern 
wir sollen nur eine Diagnose stellen und die sanitätspolizeiliche Seite vertreten. 

Also, m. H., ich möchte Sie bitten, heute nicht wieder in der Weise zu 
schliessen, wie das früher geschehen ist. Der von mir vorgeschlagene Antrag 
ist eine einfache, ganz unschuldige Danksagung an den Herrn Minister; in der 
wir gleichzeitig seinen Ausführungen im Abgeordnetenhause zustimmen. Hierzu 
sind wir aber als Medizinalbeamte mindestens ebenso verpflichtet, wie die Herren 
im Abgeordnetenhause und andere Leute, denen die Angelegenheit ferner als 
uns liegt. M. H., wenn wir erklären, „dass auf dem Gebiete der öffentlichen 
Gesundheitspflege eine erspriessliche Thätigkeit der Kreisphysiker dauernd nur 
möglich ist, wenn sie zu pensionsberechtigten Staatsbeamten mit ausreichendem 
Gehalte und genügender Kompetenz gemacht werden,“ so stellen wir uns damit 
auf denselben Standpunkt, auf dem der Herr Minister steht. Früher, im Jahre 1886, 
gab es noch eine ganze Reihe unter uns, die sich mit Hand und Fuss dagegen 
wehrten, dass Aenderungen in Bezug auf unsere Stellung vorgenommen werden 
sollten, weil sie damals noch nicht so überzeugt waren, dass es nöthig war. 
Man dachte, es wäre auch bei den kleinen Verhältnissen möglich, dass man bei 
grosser Praxis das — verzeihen Sie den Ausdruck — „lumpige“ Physikat neben¬ 
her mitmachen könnte; aber wer die Sache ernst nehmen will, wird zugeben 
müssen, dass dies absolut unmöglich ist. 

H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: M. H.! Die Frage, ob 
die Praxis ganz aufzugeben sei, steht ja augenblicklich nicht zur Entscheidung. 
Allerdings bin ich der Meinung, dass, wenn die Medizinalbeamten ihre Pflicht 
ganz erfüllen sollen, wenn sie der Gesundheitspflege wirksam dienen und einen 
so grossen Wirkungskreis versehen sollen, wie er dann dafür nöthig ist, sie ihre 
ganze Zeit und Kraft dafür brauchen müssen. Zweifelhaft kann man sicher 
nicht darüber sein, dass eine irgendwie ausgedehnte Praxis den Physikus seinen 
Aufgaben als Sanitätsbeamter entzieht oder ihm die Erfüllung dieser Aufgaben 
in hohem Grade erschwert. Ich selber habe seit Kurzem meine Privatpraxis 
ganz aufgegeben, weil ich zu viel zu thun habe. Ich bin aber — diese Art der 
Beschäftigung ist bisher noch nicht berührt worden — noch Arzt an einer 
Siechen- und Irrenpflegeanstalt, und bleibe dadurch also noch in Berührung mit 
Kranken und mit der Praxis. Es ist diese Art der Thätigkeit übrigens eine 
solche, die den Medizinalbeamten recht häufig zugängig ist. 

Die Frage der Höhe des Gehaltes ist allerdings eine schwierige. Man muss 
aber dabei stets in Erwägung ziehen, dass dem Physikus, wie schon erörtert ist, 
auch Nebeneinnahmen aus der gerichtlichen Thätigkeit, aus dem Impfwesen, sofern 
er Impfarzt ist, n. s. w. erwachsen. Jedenfalls lassen sich auch die Schwierig¬ 
keiten der Gehaltsfrage überwinden. Ich glaube, dass der Antrag des Herrn 
Referenten in keiner Weise zu weit geht, und dass wir ihm alle mit voller 
Uebcrzeugung zustimmen können. 

Vorsitzender: Es hat sich Niemand mehr zum Wort ge¬ 
meldet. Ich schliesse hiermit die Diskussion und bringe den vom 
Herrn Eeferenten gestellten Antrag zur Abstimmung. Wer für 
denselben ist, den bitte ich die Hand zu erheben. 

Der Antrag ist einstimmig angenommen. 

Dem Kollegen Fielitz gestatte ich mir,unsern verbindlich¬ 
sten Dank für seinen vortrefflichen Vortrag auszusprechen. 



Die gegenwärtige Stellung der Medizinalbeamten. 


71 


Schluss der Sitzung: Nachmittags 3 Uhr. Einen grossen 
Theil der anwesenden Mitglieder vereinigte sodann um 4 Uhr 
Nachmittags ein Festmahl im Englischen Hause zu frohbewegtem 
Zusammensein. 

Den Schluss des Tages bildete Abends 9 Uhr die übliche 
gesellige Vereinigung bei Sedlmayr (Friedrichstrasse Nr. 172.) 



Zweiter Sitzungstag. 


Dienstag, den 11. April, Yormittags 9 1 /* TTlir, 

im Sitzungssaale des Langenbeck-Hauses (Ziegelstrasse). 


I. Zur Lehre von der Arsenvergiftung. 

H. gerichtl. Stadtphysikus u. Privatdozent Dr. Strassmann 
(Berlin): M. H.l Wenn ich zum Gegenstand meines heutigen 
Vortrages eine Reihe von Untersuchungen gewählt habe, die sich 
im Wesentlichen mit der chemischen Seite der Arsen Vergiftung 
beschäftigen, so bedarf dies wohl keiner besonderen Rechtfertigung 
gegenüber dem Einwande, dass dieser Theil der Lehre von den 
Vergiftungen nicht dem Gerichtsarzt, sondern dem gerichtlichen 
Chemiker zusteht. In unserem Kreise wird die richterlicherseits 
freilich nicht immer genügend anerkannte Thatsache keinem Zweifel 
begegnen, dass der Chemiker nur für die eigentliche Analyse der 
ihm übergebenen Theil e kompetent ist, dass aber die Würdigung 
seiner analytischen Ergebnisse, die jedesmal zu fällende Ent¬ 
scheidung, ob seine positiven resp. negativen Befunde eine Ver¬ 
giftung beweisen bezw. ausschliessen, eine Aufgabe ist, die nur von 
uns gelöst werden kann, weil ihre Erledigung physiologische und 
toxikologische Kenntnisse voraussetzt, die nicht der Chemiker, 
wohl aber der Mediziner sich erwirbt. 

Noch von einem zweiten Gesichtspunkte aus indess wird von 
uns die Kenntniss der bei Vergiftungen in Betracht kommenden 
chemischen Verhältnisse verlangt. Wir haben ja dem Chemiker 
das Material für seine Untersuchungen zu liefern, und die richtige 
Auswahl der bei der Sektion hierzu zurückgestellten Leichentheile 
kann entscheidend sein für den Erfolg der chemischen Prüfung. 
Freilich wird man sagen, dass unser Regulativ in dieser Beziehung 
ganz bestimmte Vorschriften giebt, die unser willkürliches Handeln 
beschränken. Indess soll diese Beschränkung doch jedenfalls nur 
so verstanden werden, dass wir verhindert sind, weniger, aber 
nicht verhindert sind, mehr zu thun als das Regulativ vorschreibt. 
Im Interesse der Sache werden wir deshalb beispielsweise in 



Zar Lehre von der Arsenvergiftung. 


73 


vielen Fällen den Dünndarminhalt, nicht nur bei wenig gefülltem 
Magen, wie es das Regulativ will, sondern auch sonst, nnd ebenso 
den Dickdarminhalt zur Untersuchung bestimmen, da wir wissen, 
dass bei der Vergiftung durch Phosphor der Inhalt des Mastdarms 
häufig noch Theile der Substanz enthält, während dieselben bereits 
aus den oberen Abschnitten des Verdauungsapparates verschwunden 
sind, da ferner neuere Untersuchungen aus Schmiedeberg’s 
Laboratorium gezeigt haben, dass bei der Vergiftung durch 
Morphium, auch wenn dieselbe subkutan erfolgt ist, die Aus¬ 
scheidung des Giftes grossentheils durch den Darm stattfindet. 
Die Beobachtung, dass Strychnin mitunter ausschliesslich nur noch 
in der Leber aufgefunden wird, wird uns veranlassen, nicht nur 
Stücke, wie es heisst, dieses Organes, sondern auch beträchtliche 
Stücke desselben zurückzustellen u. s. w. 

Von beiden Gesichtspunkten aus, in Bezug auf die Beur¬ 
teilung des analytischen Befundes, wie in Bezug auf die Auswahl 
der zu untersuchenden Organe scheinen mir die in Folgendem zu 
besprechenden Versuche von einer gewissen Bedeutung um so 
mehr, als sie sich in der Hauptsache auf diejenige Vergiftung 
beziehen, welche zwar nicht mehr beim Selbstmord, wohl aber bei 
den eigentlichen kriminellen Giftmorden immer noch in erster 
Reihe steht. 

Diese Versuche gelten im Wesentlichen der Frage, ob oder 
vielmehr inwieweit im Magen befindliche Gifte an der Leiche 
durch Diffussion in weitere Organe einzudringen und somit eine 
während des Lebens stattgehabte Resorption des Giftes vorzu¬ 
täuschen vermögen. Ich sage inwieweit, denn dass überhaupt 
Diffusionsvorgänge an der Leiche stattfinden, lehrt uns ja das Bei¬ 
spiel der Galle und des Blutes bei unseren Sektionen täglich. 
Ich sehe hierbei ab von den eigentlichen Aetzgiften; bei diesen, 
also besonders bei den Mineralsäuren mit den Laugen, ist es ja 
bekannt, dass sie auch ohne Perforation durch die krankhaft ver¬ 
änderte Magenwand hindurch difiiindiren können. Seltener sieht 
man das Gleiche bei organischen Säuren wie der Oxalsäure. 
Meines Wissens den ersten Fall, in dem eine solche Diffusion bei 
der Karbolvergiftung beobachtet worden ist, hat mir ein glück¬ 
licher Zufall gestern zur Sektiou gebracht. Ich habe mir deshalb 
gestattet, Ihnen die Organe dieses Falles, die Sie vielleicht auch 
sonst interessiren dürften, mitzubringen; Sie sehen hier eine Aetz- 
wirkung nicht nur an der äusseren Haut und dem Verdauungs- 
traktus, sondern auch durch den nicht zertrümmerten Magen hin¬ 
durch an der linken Hälfte des Zwerchfells, der Unterfiäche der 
linken Lunge, des linken Leberlappens und dem oberen Pol 
der linken Niere, sowie der Milz. Alles andere war frei. 

Was die nicht eigentlich ätzenden Substanzen anbetrifft, so 
erscheint die Frage, ob der chemische Nachweis derselben in den 
sogenannten zweiten Wegen eine Resorption derselben beweist oder 
ob dies nicht der Fall und ob auch an der Leiche die Verthei- 
lung des Giftes auf die verschiedenen Organe sich zu ändern 
vermag, in mehrfacher Hinsicht von praktischer Bedeutuug. 



74 


Dr. Strassmann. 


Torsellini, der, wie wir später sehen werden, hauptsächlich 
diese Frage verfolgt hat, macht besonders auf die Möglichkeit 
aufmerksam, dass zum Zwecke der Konservirung oder auch aus 
böser Absicht, um einen Unschuldigen zu verderben, einer Leiche 
Grift in den Magen eingebracht werden könnte. Würde ein der¬ 
artiger Gedanke auftreten, so würde man nach den bisherigen 
Anschauungen bei einem Nachweis des Giftes in Leber, Nieren u. s. 
w. ihn zurückweisen — und eine thatsächlich während des Lebens 
erfolgte Vergiftung annehmen — seiner Meinung nach, um dies 
gleich zu bemerken, mit Unrecht, da auch die Diffusion an der 
Leiche ein solches Ergebniss zu Stande bringen kann. 

Wäre nun selbst ein derartiger Fall bisher noch nie vor¬ 
gekommen, so würde uns dies nicht hindern dürfen, die Frage in’s 
Auge zu fassen. Erleben wir es doch so häufig, dass uns unsere 
Thätigkeit in den Gerichtssälen ganz unerwartet vor Fragen stellt, 
die in dieser Weise noch nie aufgeworfen sind, und zu deren 
Beantwortung dann erst die Grundlage zu schaffen zu spät ist. 
Thatsächlich aber sind, wie wir noch sehen werden, von Reese 
und Pr es cot solche Beobachtungen bereits gemacht worden. 

In zweiter Reihe aber haben wir daran zu denken, dass ja 
die Vertheilung des Giftes im Körper und zwar speziell bei der 
Vergiftung durch arsenige Säure, also durch eine nur langsam zur 
Lösung und Resorption gelangte Substanz uns Schlüsse ziehen 
lässt auf die seit der Einführung bis zum Tode vergangene Zeit, 
uns eventuell die wichtige Frage beantworten lässt, wann die 
Vergiftung stattgefunden hat. Ich erinnere nur an die schönen 
Untersuchungen, die Ernst Ludwig, die Brouardel und 
Pouchet, Scolosonbow u. A. m. hierüber angestellt haben, 
indem sie Thiere verschieden lange Zeit nach der Einverleibung 
der arsenigen Säure tödteten und die Menge derselben in den 
einzelnen Organen feststellten. Es ist klar, dass eine Wanderung 
des Giftes an der Leiche die Verwerthung dieser Befunde einzu¬ 
schränken oder gar völlig aufzuheben vermag. 

In dritter Reihe kommen hier diejenigen Fälle in Betracht, in 
denen Vergiftung kombinirt mit einer anderen Tödtungsart auf ein 
Individuum eingewirkt hat und nun zu entscheiden ist, was eigent¬ 
lich den Tod herbeigeführt hat, eine Frage, die dann von besonderer 
Wichtigkeit ist, wenn die verschiedenen gewaltsamen Einwirkungen 
von verschiedenen Personen ausgeübt worden sind. Solche Dinge 
sind bereits vorgekommen. Vor Jahren hat sich hier in Berlin der 
Fall zugetragen, dass ein Mädchen mit ihrem Geliebten zusammen 
zu sterben beschloss; sie trank zuerst Oxalsäure; da ihr der Tod 
aber zu lange zu kommen zögerte, bat sie ihn, ihr den Hals abzu¬ 
schneiden, was er auch that. Er selbst vermochte sich nach ihrem 
Tode nicht das Leben zu nehmen und kam unter Anklage. Es 
war zu entscheiden, woran das Mädchen gestorben war, war das 
Gift die Todesursache, welches sie selbst genommen hatte, so war 
der Angeklagte schuld- und straffrei. Begreiflicher Weise ist es 
in solchen Fällen von Wichtigkeit festzustellen, ob eine Resorption 



Zar Lehre von der Arsenvergiftang. 


75 


des Giftes mehr oder weniger vollständig eingetreten ist oder 
fehlt; wenn auch die eigentliche Entscheidung, ob der Tod der 
Vergiftung zur Last zu legen, auf Grund der Krankengeschichte 
gefällt werden muss. 

Thatsächlich ist denn auch schon zweimal bei derartiger 
Gelegenheit vor Gericht die Frage aufgeworfen worden, ob das 
Gift, speziell die arsenige Säure, an der Leiche in andere Organe 
zu wandern vermag. Beide Fälle sind unmittelbar nach einander, 
noch dazu in derselben Provinz beobachtet und im gleichen Jahr¬ 
gang der Casper’schen Vierteljahrschrift (Bd. XXII 1862) mit- 
getheilt worden, der eine von Dorien in Lyck, der andere von 
Walther in Labiau. In jenem, streng genommen nicht ganz 
hierhergehörigen stand zur Frage, ob der Tod durch Arsenver¬ 
giftung oder durch Apoplexie, in diesem, ob er durch Arsenver- 
giftung oder durch Ertränken erfolgt war; beide Mal wurde die 
Beweiskraft des Arsennachweises, der in Leber und Milz, im 
ersten Falle auch in Herz und Hirn gelungen war, damit ange¬ 
griffen, dass auf die Möglichkeit des Uebergangs in die Nachbar¬ 
organe an der Leiche auf exosmotischem Wege hingewiesen wurde. 
Die Sachverständigen nahmen diesem Einwurf gegenüber eine 
verschiedene Stellung ein; im ersten Falle erklärten 3 von ihnen, 
dass der Arsenik auch am todten Körper durch Zersetzung in die 
dem Magen nahe liegenden Organe übergeführt werden könne, 
aber nicht in die entfernteren, wie Herz und Gehirn; der vierte 
dagegen gab auch diese Möglichkeit zu, während der Vertreter 
des Medizinalkollegiums bemerkte, dass ihm die Ansicht: „der 
Arsenik könnte sich durch den Zersetzungsprozess auch nach dem 
Tode durch den Körper verbreiten, ganz neu wäre und sich gewiss 
in keiner Weise begründen lasse“. 

Walther versuchte den gemachten Einwand durch Thier¬ 
versuche zu entkräften. Auf Grund seiner an 4 Kaninchen ange- 
stellten Experimente kommt er zu dem Ergebniss, dass, so lange 
die Leichen frisch sind, ein derartiger Uebergang nicht stattfindet, 
wohl aber, so bald die Verwesung begonnen hat. 

Schon vor Walther’s Versuchen finden sich in der Litteratur 
über unser Thema einzelne Notizen bei Orfila 1 ) und Taylor 2 ) 
und eine Arbeit von Moltedo, Ageno und Granara, die mir 
indess nicht zugänglich war. Nach ihm hat Reese in Philadelphia 
dasselbe wieder aufgenommen und in zwei Mittheilungen 1879 *) 
und 1890 4 ) über seine Versuche berichtet. Bei todten Thieren, 
denen er arsenige Säuren, Antimon oder Sublimat in den Magen 
gebracht hatte, fand er diese Körper 3—7 Wochen später in den 
verschiedenen Organen der Brust- und Bauchhöhle, zunächst in den 
dem Magen benachbarten, später auch in ferneren. Er giebt an, 
dass Miller und Vaughan Arsen unter ähnlichen Verhältnissen 


») Lehrbuch III. Bd. S. 322. 

*) Medical jurisprudence. S. 157. 
*) Schmidt’s Jahrbücher 1879. 

4 ) Medical news 1890 11. Janaar. 



76 


Dr. Strassmarm. 


auch im Gehirn und Rückenmark nachweisen konnten. Die gleichen 
Versuche Miller’s mit Strychnin ergaben eine postmortale 
Imbibition derselben in Leber, Urin und Rückenmark, nicht in das 
Gehirn. Reese macht ganz besonders darauf aufmerksam, weil 
derartiges in einzelnen der Vereinigten Staaten schon mehrfach 
vorgekommen zu sein scheint, dass wenn einer Leiche arsen- 
resp. sublimathaltige Konservirungsflüssigkeit inji- 
cirt worden ist, die Entdeckung des vorausgegan¬ 
genen Giftmordes durch die gleichen Körper für die 
Chemie ebenso unmöglich gemacht wird, wie etwa 
durch die Leichenverbrennung. Er verlangt daher eine 
öffentliche Kontrole und amtliche Genehmigung etwa beabsichtigter 
Einbalsamirungen. 

Einen ähnlichen Fall beobachtete Pr es cot 1883 in Nantes 1 ). 
Bei einer 105 Tage nach dem Tode exhumirten Leiche suchte der 
des Giftmordes angeschuldigte Ehemann die Bedeutung des Arsen¬ 
nachweises in verschiedenen Organen der Bauchhöhle damit zu 
entkräften, dass er angab, unmittelbar nach dem Tode behufs 
besserer Erhaltung der Leiche derselben 1 Theelöffel arseniger 
Säure in Wasser gelöst in Magen und Mastdarm geschüttet zu 
haben. Prescot’s daraufhin angestellte Leichenversuche ergaben, 
dass nach 25 Tagen in den Magen eingeführter Arsenik in Hirn, 
Leber und Lungen nachweisbar war. 

Die ausgedehntesten Untersuchungen über Leichendiffusion 
hat Dante Torsellini in Siena 1889 veröffentlicht*). Er 
experimentirte an Fröschen, die er nach dem Tode mit den Beinen 
in eine Lösung von Ferrocyankalium bängte und bei denen, wie 
die Blaufärbung mit Eisenchlorid ergab, in wenigen Tagen der 
ganze Körper mit der Lösung des gelben Blutlaugensalzes durch¬ 
tränkt war; ferner an einzelnen herausgenommenen Organen und 
endlich an den Leichen von Kaninchen und Hunden, denen Arsenik 
in den Magen gebracht wurde. Hierbei fand er Arsen im Gehirn, 
frühestens nach 6—7 Tagen, in der Leber etwas früher, erheblich 
früher in Lungen und Herz. Ihm zur Folge tritt also die Diffusion 
an der Leiche bedeutend schneller ein, als es die Arbeiten früherer 
Untersuchungen erwarten liessen, nur für die ersten Tage nach 
dem Tode hält er eine Unterscheidung zwischen Einführung des 
Giftes am Lebenden und am Todten für möglich auf Grund des 
Freibleibens von Leber und Gehirn im letzteren Falle. 

Die auffallende Abweichung dieser Torsellini’schen An¬ 
gaben von dem sowohl, was früher Untersucher gefunden, als 
auch von dem, was man a priori erwarten würde, veranlasste mich 
bei der Wichtigkeit des Gegenstandes eine wiederholte Prüfung 
desselben vorzunehmen. Ich habe die betreffenden Versuche ver¬ 
eint mit Herrn Dr. Alfred Kirstein ausgeführt, und werden 
wir nach erfolgtem Abschluss derselben sie gemeinsam an an- 


') Gaz. inedicale de Nantes 1883. 

'*) Riforma med. Napoli 1889 Nr. 145—150. 



Zur Lehre von der Arsenvergiftung. 


77 


derer Stelle ausführlich veröffentlichen. Hier, m. H., möchte ich 
Ihnen nur in Kürze die Ergebnisse mittheilen, die wir bisher 
erhalten. 

Ich übergehe dabei die Versuche, die wir nach Torsellini’s 
Vorbild mit Ferrocyankalilösung bei Fröschen angestellt haben, 
weil sie für die praktische Seite unserer Frage werthlos sind. 

Unsere eigentlichen Beobachtungen über Diffusion an der 
Leiche sind angestellt an den Kadavern von Kindern und von 
Hunden, denen wir und zwar bei letzteren z. Th. sehr kurze Zeit 
nach dem Tode arsenige Säure oder Lösungen von Kali arsenicosum, 
Gentianaviolett in Pulver oder Lösung, Ferrocyankalilösung in 
den Magen brachten, zumeist mittelst der Schlundsonde von der 
eröflheten Speiseröhre aus. 

Als das Gesammtergebniss aller unserer Versuche können 
wir festhalten, dass an der Leiche eine Diffusion des Mageninhaltes 
stattfindet, die durchaus stetig, ausschliesslich per continuitatem 
vor sich geht, ganz in der gleichen Weise, wie bei dem demon- 
strirten Karbolfall. Ein sprungweises Vorrücken, einen Transport 
etwa durch die Blutgefässe haben wir nie beobachtet. Dass vom 
Magen aus Arsen an der Leiche in das Gehirn eindringen kanu 
ohne vorhergehende und stärkere Durchtränkung der Brust und 
Halseingeweide, halten wir für ausgeschlossen. 

Die Schnelligkeit der Diffusion ist zunächst abhängig von 
der Menge der aufgenommenen Flüssigkeiten; je praller gespannt 
der Magen durch dieselben ist, desto stärker zeigen sich begreif¬ 
licher Weise die DiflfusionsVorgänge. Ebenso gelingt der Nach¬ 
weis der fremden Substanz in den Organen natürlich desto besser, 
je konzentrirter die Flüssigkeiten, je grösser ceteris paribus die 
Menge der eingeführten Substanz selbst ist. 

Im Uebrigen ergaben sich auch zwischen den einzelnen Sub¬ 
stanzen bemerkenswerthe Unterschiede. Sehr langsam wirkt das 
Gentianaviolett vor; erst nach etwa 2—3 Wochen fanden wir die 
ersten Spuren durch diesen Körper bewirkter Färbung an den 
unmittelbar dem Magen anliegenden Theilen, am oberen Pol der 
linken Niere und an der Leberkapsel, entsprechend der Konvexität 
des linken Lappens. 

Sehr bedeutend schneller erfolgen die Diffusionsvorgänge bei 
Anwendung einer Lösung von gelbem Blutlaugensalz. Hier ergab 
sich durchschnittlich schon um den zweiten Tag herum Reaktion 
an der Leberkapsel links unten, um den vierten solche des Zwerch¬ 
fells links unten und des oberen Pols der linken Niere, um den 
siebenten Tag des Zwerchfells auch oben und stärkere Durchträn¬ 
kung der linken Niere; in der zweiten Woche gaben die unteren 
Abschnitte der linken Lunge und die benachbarten Theile des Herz¬ 
beutels Reaktion; erst nach der zweiten Woche zeigte auch die 
rechte Lunge und die rechte Niere bei Eisenchloridzusatz Blau¬ 
färbung. Stets aber beschränkte sich dieselbe bei der rechten 
Niere auf die Kapsel, während die linke bereits zur gleichen Zeit, 
ja schon vor dieser Zeit völlig durchtränkt war. Ebenso ergab 



78 


Dr. Straasmann. 


die Leber stets eine von links nach rechts hin allmählich ab¬ 
nehmende Durchtränkung. 

Diese aus anatomischen Gründen ganz natürliche Bevor¬ 
zugung der linken Niere können wir als ein typisches Symptom 
der Leichenimbibition vom Magen aus gegenüber der während des 
Lebens erfolgten Vergiftung, bei der beide Nieren annähernd 
gleiches Verhalten zeigen, betrachten. Sie zeigte sich, wie wir 
sahen, bei beiden geprüften Substanzen und zeigt sich auch in 
gleicher Weise bei den Arsenpräparaten. Diese stehen in zeitlicher 
Hinsicht etwa in der Mitte zwischen Gentianaviolett und Ferro- 
cyankali. Wir fanden dreimal nach 12, 14 und 16 Tagen deut¬ 
liche bis starke Arsenmengen in der linken Niere, nicht in der 
rechten; ein Mal nach 21 Tagen Arsen in Leber und Lunge, nicht 
im Gehirn; in mehreren anderen Fällen, in denen nur geringere 
Mengen zur Verwendung gekommen waren, nach 12—30 Tagen 
kein Arsen ausserhalb des Magens. 

Wir können hiernach aus unseren bisherigen Arsenversuchen 
in Verbindung mit den analogen Versuchen mittelst anderer Sub¬ 
stanzen Folgendes schliessen. Eine Wanderung, wenn wir so 
sagen dürfen, der arsenigen Säure an der Leiche findet, wie dies 
auch schon früher Autoren festgestellt haben, unter günstigen 
Umständen thatsächlich statt und kann das Gift durch eine solche 
bereits vor Ablauf der zweiten Woche des Leichenalters ausser¬ 
halb des Magens in dessen unmittelbarer Nähe nachgewiesen 
werden. 

Neu dagegen ist der von uns erhobene Befund des ver¬ 
schiedenen Verhaltens beider Nieren, und wir glauben allerdings 
hier eine Thatsache entdeckt zu haben, die geeignet ist, in 
vielen Fällen uns eine Entscheidung der schwierigen Frage 
zu ermöglichen, ob Vergiftung oder bloss Gifteinfuhr nach dem 
Tode vorliegt. Ich möchte das gewonnene Resultat dahin for- 
muliren: 

Steht zur Frage, ob eine Vergiftung speziell mit 
Arsenik stattgefunden hat oder ob die giftigen Sub¬ 
stanzen erst nach dem Tode in den Magen eingeführt 
worden sind, so kann die chemische Untersuchung 
eventuell eine Entscheidung hierüber geben, wenn 
die linke und rechte Nie re ge sondert untersucht werden. 
Starker Giftgehalt des linken Organs bei Fehlen oder 
nur spurweisem Vorhandensein rechts bestätigt die 
Annahme der postmortalen Einführung, gleichmässige 
Vertheilung widerlegt dieselbe, wenigstens für die 
ersten Wochen nach dem Tode. Ich schlage demnach 
vor, in allen Fällen, in denen bei der Obduktion be¬ 
reits die Möglichkeit der postmortalen Gifteinfuhr 
erwogen wird, jede der Nieren gesondert zur Unter¬ 
suchung zu bestimmen. 

Allerdings wird es nicht stets möglich sein, dieses Zeichen 
zu benutzen. Abgesehen von Ungleichheit der Nieren durch krank- 



Zu Lehre von der Areenvergiftung. 


79 


hafte Veränderungen und Missbildungen haben wir neben den 
typischen Fällen vereinzelt, sowohl bei den Versuchen mit gelbem 
Blutlaugensalz als mit Arsenik, atypische gefunden, in denen, wäh¬ 
rend Leber und Lungen sehr durchtränkt waren, beide Nieren 
noch frei waren. Vielleicht schützte hier eine ungewöhnlich dicke 
Fettkapsel die Nieren vor der Imbibition. In solchen Fällen würde 
also unser Zeichen zwar nicht täuschen, aber versagen. Doch ist 
wohl trotzdem auch dann eine Entscheidung möglich. Sehr deut¬ 
lich war nämlich, wie sonst, so auch in diesen Fällen die von links 
nach rechts hin an Stärke abnehmende Imbibition der Leber mit 
Ferrocyankali. Und auch in dem betreffenden Arsenversuch war 
der quantitativ allerdings nicht bestimmte Gehalt links anschei¬ 
nend bedeutend stärker. Somit wird in zweiter Reihe eine ge¬ 
sonderte Untersuchung der linken und rechten Leberabschnitte, 
wobei sich jedenfalls die vorherige Entfernung der Gallenblase 
empfiehlt, den Befund in den Nieren unterstützen und eventuell 
ergänzen können. 

In dritter Reihe endlich wird die Untersuchung des Gehirns 
zu verwerthen sein. Bisher haben wir niemals innerhalb einer 
Zeit von etwa 4 Wochen ein Vordringen von Arsen oder Ferro¬ 
cyankali bis in dieses gesehen. Die Behauptung Torsellini’s, 
dass in einem Falle schon mit 7 Tagen As. im Gehirn nachweis¬ 
bar gewesen sein soll, vermögen wir nach unseren zahlreichen 
widersprechenden Resultaten nicht in Einklang zu bringen und 
meinen wir, dass ein positiver Befund im Gehirn für die während 
des Lebens erfolgte Vergiftung in’s Gewicht fallt. 

Ich denke, m. H., Sie werden den Eindruck gewonnen haben, 
dass an das eben besprochene Thema sich noch eine Reihe von 
Fragen anschliessen, die der Lösung harren, — ich hebe nur die 
erwähnten Einbalsamirungen heraus — und dass uns die Lehre von 
der Diffusion an der Leiche ein umfangreiches, nicht so leicht zu 
erschöpfendes Arbeitsgebiet eröffnet, in dem jede Theilnahme und 
Unterstützung auch durch gelegentliche Beobachtungen dankbar 
zu begrüssen sein wird. Dieser Gesichtspunkt war für mich be¬ 
stimmend, als ich es vornahm, dieser hochverehrten Versammlung 
Mittheilung zu machen von den eben berichteten Arbeiten und er 
mag es entschuldigen, dass ich Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch 
genommen habe für einen Gegenstand, der abseits liegt von den 
Fragen, welche gegenwärtig unseren Stand bewegen. 

(Lebhafter Beifall.) 

Vorsitzender: Wünscht Jemand zu dem Vortrage das Wort 
zu ergreifen? Es ist nicht der Fall. — Im Namen des Vereins 
spreche ich dem Herrn Dr. Strassmann unseren herzlichsten 
Dank für seinen interessanten Vortrag aus. 



80 


Dr. Leppmann. 


II. Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. 

H. Irren- und Strafanstaltsarzt Dr. Leppmann (Moabit): 
Sehr geehrte Herren! Zu einer bedeutsamen Erscheinung unserer 
nach Umgestaltung ringenden Zeit gehören die Bestrebungen, die 
Wirksamkeit der strafenden Gerechtigkeit in neue Formen zu 
kleiden, in welchen an die Stelle der bis in’s Kleinste ausgeklügel¬ 
ten Abgeltung der Schutz der menschlichen Gesellschaft vor Rechts¬ 
bruch und Rechtsbrechern als wesentlichster Grundsatz der Straf¬ 
rechtspflege mehr in den Vordergrund treten soll, als bisher. 

Sie, m. H., sind wohl den Arbeiten auf diesem Gebiete, 
welche hauptsächlich aus der internationalen kriminalistischen Ver¬ 
einigung hervorgehen, so weit gefolgt, dass Sie sich der Ueber- 
zeugung nicht verschliessen werden, eins der wesentlichsten Be¬ 
dürfnisse der nächsten Zukunft werde namentlich in unserem 
Vaterlande eine gesetzliche Regelung und Ausgestaltung des Straf¬ 
vollzugs sein müssen. 

Deshalb dürfte es wünschenswerth sein, dass wir Aerzte uns 
gegenwärtig schlüssig darüber werden, welches Maass und welche 
Art von Berücksichtigung wir für diejenigen zu fordern haben, 
die unbestritten einen wesentlichen Theil der Bevölkerung von 
Zwangsanstalten bilden und welche wir als unsere besonderen 
Schützlinge betrachten müssen: das sind die Geisteskranken und 
die mit wesentlichen geistigen Mängeln Behafteten. Ihre Menge 
beträgt selbst bei vorsichtiger Schätzung jeweils wohl 5 Prozent 
der Gesammtinsassen von Straf-, Gefangenen- und Korrektions¬ 
anstalten. 

Eine gesetzlich umgrenzte Fürsorge fUr dieselben besitzen 
wir in Deutschland nicht; denn der §. 487 der St.-P.-0.,welcher 
manchmal von Sachwaltern, zuweilen auch von Gerichtsbehörden 
herangezogen wird: „Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist 
aufzuschieben, wenn der Verurtheilte in Geisteskrankheit verfällt“ 
bezieht sich nur auf solche Geistesstörungen, deren Beginn bezw. 
Erkennung zwischen rechtskräftige Verurtheilung und Antritt der 
Strafe fällt. 

Die so gekennzeichnete Kategorie wird aber sehr gering sein 
gegenüber der Zahl derjenigen, deren geistige Störungen entweder 
erst im Laufe der Freiheitsentziehung entstehen oder deren seeli¬ 
sche Unzulänglichkeiten erst in dem streng geregelten, geistige 
und körperliche Zusammenraffung erfordernden Leben einer Zwangs¬ 
anstalt zum Ausdruck kommen. 

Was mit diesen geschehen soll, darüber gehen in ärztlichen 
Kreisen die Ansichten noch sehr auseinander, namentlich giebt es 
noch viele Irrenärzte, welche die geisteskranken Strafgefangenen 
als eine besondere Art von Kranken behandelt wissen wollen, 
welche ihre Bescholtenheit und ihre Wesenseigenthümlichkeiten für 
so bedeutsam erachten, dass sie Spezialanstalten für Sträflinge 
fordern. 

Dann wieder weichen die Anschauungen darin von einander 
ab, ob diese Spezialanstalten selbstständig sein oder Straf- oder 



Die Fttraorge für geisteskranke Strafgefangene. 


81 


Irrenanstaltsadnexe bilden sollen, ob die Unterbringung in solchen 
Irrenabtheilungen für Strafgefangene über die gesetzliche Straf¬ 
dauer hinaus dauern soll oder nicht, ob dahin auch die durch Vor¬ 
bestrafungen gebrandmarkten, bei Entstehung oder Erkennung der 
geistigen Erkrankung aber freien Personen verbracht werden sollen. 

Die preussische Regierung hat sich, seitdem sie dieser 
Frage durch Verordnungen näher trat, auf den Standpunkt gestellt, 
dass der Geisteskranke im Strafvollzüge mit demselben Maasse zu 
messen Bei, wie jeder andere Kranke. Es soll ihm zweckent¬ 
sprechende Behandlung zu Theil werden, es soll auf seine Minder- 
werthigkeit bei den disziplinären Anforderungen Rücksicht ge¬ 
nommen werden und ein Aufhören der Strafe soll nur dann erfolgen, 
wenn der Zustand des Kranken die Erfüllung des Strafzwecks 
völlig und dauernd unmöglich macht. 

Da aber zur zweckentsprechenden Behandlung von Geistes¬ 
kranken der Apparat einer Irrenanstalt nothwendig ist, sollten die 
frisch Erkrankenden, wie dies schon in der ältesten Dienstanweisung 
für die königlich preussischen Strafanstalten, dem sogenannten 
Rawitscher Reglement vom 4. November 1835, ausgedrückt ist, 
in öffentliche Irrenheilanstalten verbracht werden. Vom Jahre 
1858 ab wurde das diesbezügliche Verfahren durch Ministerial- 
Verfügungen genauer umgrenzt. Die Zeit der Kur wurde, wie 
dies neuerdings auch gesetzlich im §. 485 der R.-St.-P.-O. bei 
jeder Verbringung in eine von der Strafanstalt getrennte Kranken¬ 
anstalt gefordert wird, auf die Strafe angerechnet und erst wenn 
die Unheilbarkeit sicher feststand und durch den Abschluss des zu 
diesem Zwecke beantragten Entmündigungsverfahrens bekräftigt 
war, erfolgte die Entlassung aus der Strafe, und die weitere Für¬ 
sorge für den Entlassenen regelte sich durch Massnahmen der 
Sicherheitspolizei oder der Armenpflege. Seit 1886 fiel auch die 
Nothwendigkeit der Entmündigung, deren Einleitung bekanntlich 
nicht von der voraussichtlichen Unheilbarkeit abhängig ist, fort. 
Es genügte zum Entscheid der Oberbehörde ein irrenärztliches 
Gutachten, welches die Unheilbarkeit bescheinigte. 

So war eine möglichst praktische Abgrenzung zwischen Ver¬ 
brechen und Geistesstörung im Strafvollzüge getroffen. Wenn die 
königliche Staatsregierung nun seit dem 1. März 1888 als Adnex 
an die Strafanstalt Moabit hierselbst eine besondere Irrenabtheilung 
für Strafgefangene geschaffen hat, so ist damit keineswegs ein 
Wechsel in den bisher geltenden Anschauungen, im Gegentheil 
nur eine folgerichtige Weiterführung dieser Grundsätze verbunden 
gewesen. 

Erstens nämlich verzögerte sich die Unterbringung der 
frischen, voraussichtlich heilbaren Fälle in unliebsamer Weise da¬ 
durch, dass sich in manchen Landestheilen die Organe der öffent¬ 
lichen Irrenpflege mit ihren je nach Provinz- oder Landesarmen¬ 
verband verschiedenartigen Aufnahmebedingungen möglichst lange 
gegen die Uebernahme solcher angeblich besonders störender Ele¬ 
mente sträubten und weil sie ihre Verantwortlichkeit durch die 
Formel, dass sie sich nicht verpflichten könnten, besondere 

6 



82 Dr. Leppmann. 

Sicherheitsvorkehrungen für die Aufgenommenen zu treffen, ein¬ 
schränkten. 

Zweitens aber waren die Strafvollzugsoberbehörden nicht 
immer mit dem irrenärztlichen Entscheid über die voraussichtlich 
unheilbaren Geistesgestörten zufrieden. Sie meinten, dass bei der 
Verschiedenart der Anschauung über die Werthigkeit geistiger 
Verkehrtheiten Personen aus dem Strafvollzüge ausgeschieden 
würden, bei denen eine Weiterverbüssung der Strafe mit Berück¬ 
sichtigung ihrer geistigen Defekte noch möglich gewesen wäre. 
Dann aber regte sich in den Behörden immer aufs Neue der Ver¬ 
dacht, als ob jede Erleichterung der Ueberführung in öffentliche 
' Irrenanstalten ein besonderes Anziehungsmittel zur Vortäuschung 
von Geistesstörung für Fluchtverdächtige bilden könnte und des¬ 
halb zögerten die Zwangsanstaltsvorstände mit ihren Anträgen 
wiederum zum Nachtheil der frischen Fälle. In Folge dessen hat 
das königliche Ministerium des Innern für die seinem Ressort 
unterstellten Straf- und Gefangenen - Anstalten durch die Schaffung 
der Moabiter Irrenabtheilung den Versuch gemacht, die möglichst 
schnelle Fürsorge für heilbare und die endgültige Ausmittelung des 
strafvollzugsunfähig machenden Grades unheilbarer Störungen im 
Rahmen des Strafvollzuges selbst zu übernehmen. 

Gegenwärtig, wo die Anstalt auf ein fünfjähriges Bestehen 
zurückblickt, lässt sich wohl auch bei strenger Abwägung die 
Behauptung rechtfertigen, dass sie in ihrer Wirksamkeit einen 
endgültigen Beweis ihrer Daseinsberechtigung geliefert hat. 

Sie hat in erster Reihe dazu geführt, Heil- und Besserungs¬ 
fähige möglichst rasch in zweckentsprechende Fürsorge zu bringen, 
so dass wir unter 235 Aufnahmen 15 Proz. Heilungen und Besse¬ 
rungen trotz des wenig günstigen Krankenmaterials aufweisen 
können. Wie es nämlich nicht anders zu erwarten war, befanden 
sich unter den Aufgenommenen zunächst nur wenige, bei denen 
eine Heilung oder Besserung von vornherein erhofft werden konnte; 
es waren vielmehr meist Entartete, bei denen die ausgebildete 
seelische Störung nur der Ausdruck einer langsamen Zunahme 
angeborener oder im Laufe eines wechselvollen Lebens vor langer 
Zeit erworbener krankhafter Eigenthümlichkeiten war. Suchten 
sich doch die Straf- und Gefangen-Anstalten der vier resp. sechs 
Provinzen, welche nach und nach zu Aufnahmeanträgen zugelassen 
wurden, in erster Reihe von den Elementen zu entlasten, welche 
ihnen bereits Jahre lang beschwerlich waren, welche aber zur 
Ueberführung in eine öffentliche Irrenanstalt behufs Feststellung 
der Strafvollzugsunfähigkeit zu empfehlen sie sich nicht ent- 
schliessen konnten. Dieses Verhältniss wird sich mit der Zeit 
entschieden bessern, denn es kommen im Strafvollzüge, wie die 
Erfahrung jeden Arzt, der mit ihm praktisch in Berührung kommt, 
lehrt, eine erhebliche Menge prognostisch günstiger Störungen bei 
einem für den sozialen Organismus noch werthvollen Menschen¬ 
material vor, d. i. bei den Gelegenheitsverbrechern, bei Meineidigen, 
Brandstiftern, Beleidigern, in Schlägereien Verwickelten und Aehn- 
lichen, welche unter der Wucht der Bestrafung gewöhnlich bald 



Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. 


83 


nach Antritt der Strafe zusammenbrechen. Es handelt sich bei 
diesen, abgesehen von akuten, halluzinatorischen und maniakali- 
schen Erkrankungen, hauptsächlich um melancholische Formen, 
welche rasch in Stupor übergehen; auch die sonst seltene Form 
des plötzlichen Stumpfwerdens ohne ängstlichen Affekt, der akute 
primäre Blödsinn, gehört dazu. 

Diese akut erkrankten Gelegenheitsverbrecher namentlich 
gilt es schnell aus dem Strafvollzüge herauszunehmen, damit sie 
nicht durch Selbstbeschädigungen enden, oder beim Herumvege- 
tiren in Anstaltslazarethen rettungslos verblöden. 

Aber auch für die von vornherein Unheilbaren erfüllt die 
Abtheilung ein Bedürfhiss. Sie sorgt dafür, dass der Strafvollzug 
nicht überflüssig lange mit Elementen überlastet bleibt, welche 
kein Objekt mehr für ihn sind und durch die Unwirksamkeit dis¬ 
ziplinären und ermahnenden Einschreitens bei Behörden und Straf¬ 
vollzugsbeamten nur falsche Anschauungen über das in Zwangs¬ 
anstalten nothwendige Mass der Züchtigungsmittel entstehen lassen. 
Letztere Behauptung wird man besonders bestätigt sehen, wenn 
man die nicht sehr hohe Zahl der pro Jahr statistisch festgestell¬ 
ten Prügelstrafen, welche als Zuchtmittel bei den männlichen 
Zuchthausgefangenen noch gestattet sind, mit der Häufigkeit ihrer 
Anwendung bei Leuten vergleicht, welche relativ kurze Zeit darauf 
in Irrenanstalten als wirklich krank eingeliefert werden, Fälle, 
wie sie Sander und Richter beschrieben haben. 

Andererseits dürfte auch die Abtheilung der öffentlichen 
Irrenfürsorge Vortheil bringen. Abgesehen davon, dass bei dem 
täglich steigenden Bedürfniss die Eröffnung jeder neuen Irrenheil¬ 
stätte die bestehenden entlastet, nützt unsere Abtheilung der all¬ 
gemeinen Irrenpflege dadurch, dass sie die Unheilbaren zeitig genug 
aus dem geordneten Strafvollzüge ausschaltet und zweckentsprechend 
behandelt. So verhindert sie, dass dieselben nicht durch diszipli¬ 
näre Experimente störrisch, reizbar gefährlich gemacht werden und 
in Folge dessen bei endlicher Ueberweisung an die öffentlichen 
Anstalten die Ausnahmestellung, welche man ihnen zuweist, wirk¬ 
lich verdienen. 

Endlich beruhigt die Behandlung in unserer Abtheilung auch 
manchen im wissenschaftlichen Sinne Unheilbaren wie z. B. reiz¬ 
bare Schwachsinnige, Querulanten, Paranoiker, die sich unter den 
Langzeitigen und Lebenslänglichen mit besonderer Häufigkeit finden, 
so weit, dass Leute, welche Sonst den öffentlichen Anstalten zur 
Last gefallen wären, als geistige Halbinvaliden durch die An¬ 
staltsbeobachtung genau in der Art und dem Grade ihrer geistigen 
Defekte gekennzeichnet, in dem Strafvollzüge verbleiben können. 

Deshalb würde ich, da ich die mir heut gewordene Aufgabe 
darin sehe, unsere Wünsche in besondere Thesen zu formuliren, 
als erste derselben hinstellen: 

I. Für grössere Staaten, d. h. für solche mit 
entsprechend zahlreicher Z wangsanstaltsbe- 
völkerung und verwickelter Gliederung der 
öffentlichen Irrenfürsorge, empfiehlt sich die 

6* 



84 


Dr. Leppmann. 


Schaffung besonderer Beobachtungs- resp. Heil¬ 
anstalten für geisteskranke Strafgefangene. 

Es wird Ihnen vielleicht aufgefallen sein, dass ich zur Be¬ 
gründung meines Vorschlages die Aufdeckung der Simulation mit 
keinem Worte herangezogen habe; darin hat nämlich die Anstalt 
nur das auf’s Neue bewiesen, worüber man sich in ärztlichen 
Kreisen wohl klar ist, dass die zielbewusste Vortäuschung von 
Geistesstörung über längere Zeit etwas seltenes und auch ohne 
besondere Irrenanstalts - Beobachtung im Strafvollzüge kaum durch¬ 
führbares ist, und dass ein kurzes Zuwarten genügt, um etwaige 
Augenblickslaunen, den wilden Mann zu spielen, klar zu stellen. 
Unter allen unseren Aufnahmen war kein einziger Simulant, 
höchstens einige solche, welche krankhafte Eigenthümlichkeiten, 
wie dies ja bekannt ist, durch Uebertreibung vergrösserten. Bei 
Untersuchungsgefangenen sind wohl Simulationsversuche etwas 
häufiger, aber nach meinen gerichtsärztlichen Erfahrungen handelt 
es sich auch bei diesen mehr darum, Ereignisse aus dem Vorleben 
so aufzubauschen und umzumodeln, dass sie zu falschen Schlüssen 
leiten können, als um wirkliche Verstellung. 

Eine solche Beobachtungsabtheilung für geisteskranke Ver¬ 
brecher wird am besten wie die unserige ein Adnex bei einer 
grösseren Strafanstalt bilden. Es verbilligt dies ihre Verwaltung, 
und die Strafanstalt lässt sich als Rekonvaleszenten - Aufenthalt 
für Geheilte und Gebesserte benützen, welche später eventuell 
wieder in die Anstalten zurückkehren, von denen sie eingeliefert 
sind. Wie solche Abtheilungen zweckentsprechend einzurichten 
sind, darüber erlaube ich mir noch einiges zu sagen, wenn ich die 
Ehre haben werde, die Herren heute durch die Anstalt zu führen. 
Ueber die wissenschaftlichen Ergebnisse der ersten 5 Jahre werde 
ich mich an anderer Stelle äussern. 

Was soll nun aber mit den geisteskranken Strafgefangenen 
geschehen, welche wegen Strafendes oder Unheilbarkeit aus dem 
Strafvollzüge entlassen werden? 

In Bezug auf diese schliesse ich mich denjenigen Fachge¬ 
nossen an, welche keine getrennte Unterbringung derselben in 
Spezialanstalten oder besonderen Irrenanstaltsabtheilungen fordern. 
Mit dieser Anschauung vereinigt sich die Errichtung besonders 
gesicherter Abtheilungen in Irrenanstalten, wie Sie diese z. B. in 
Dalldorf sehen, sehr wohl. Dorthin sollen diejenigen, welche die 
Eigenart ihrer Krankheitsäusserung/ gefährlich macht, aber ohne 
Rücksicht auf ihre Kriminalität, gebracht werden; unbillig ist es, 
einen Kranken, weil er bescholten ist, mit besonderem Maasse zu 
messen. Auch die besondere Gefährlichkeit unserer Kranken 
kann ich nicht anerkennen. Wir haben Harmlose und Erregte, 
wie in jeder anderen Anstalt, und der Grad ihrer Unbequemlich¬ 
keit deckt sich nicht mit dem Vorleben, im Gegentheil, friedfertige 
GelegenheitsVerbrecher werden die undisziplinarsten Halluzinanten, 
verschlagene und berüchtigte Gewohnheitsverbrecher werden 
durch die Krankheit harmlos und unschädlich. Das Letztere 
trifft nicht etwa blos für Paralytiker oder einfach Verblödete 



Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. 85 

zu, nein auch für viele der unter unseren Kranken so häufigen 
Paranoiker. 

Ich lasse Ihnen hier das Bild eines typischen derartigen Falles 
zirkuliren, das einen der beriichtigsten Ein- und Ausbrecher dar¬ 
stellt. Jetzt ist er in seinem wahnhaft umgestalteten Persönlich¬ 
keitsbewusstsein ein Burggraf und die Anstalt sein Eigenthum; 
der Hund, den er auf dem Arm hat, ist sein Kind, dessen Bellen 
er versteht. Er ist in der komischen Grandezza seiner Rolle einer 
der friedfertigsten, hiilfreichsten und zutraulichsten Bewohner un¬ 
serer Abtheilung gewesen. 

Auch ist es für manche Erkrankungsformen, wie sie in 
Zwangsanstalten häufig Vorkommen, geradezu geboten, dass ihnen 
alle Abtheilungen einer grossen Anstalt offen stehen. Wer wüsste 
z. B. nicht, dass ein chronischer Halluzinant sich am besten durch 
öfteren Ortswechsel innerhalb derselben Anstalt ruhig halten lässt. 

Deshalb möchte ich als zweite These aufstellen: 

II. Für geisteskranke Strafgefangene, welche 
aus dem Strafvollzüge ausscheiden, sind be¬ 
sondere Anstalten oder Anstaltsabtheilungen 
weder erforderlich noch wünschenswerth. 

Damit dürfen aber unsere Wünsche betreffs der Fürsorge 
für geisteskranke Häftlinge nicht erschöpft sein. Es treten dazu 
noch einige dringend nothwendige Massregeln, welche die Häufig¬ 
keit des Vorkommens der Geistesstörung and den ungünstigen 
Verlauf der in Zwangsanstalten eingetretenen oder sichtbar ge¬ 
wordenen verhindern sollen. 

Zu diesen prophylaktischen Massnahmen gehört vor 
allem eine 

lila, grössere und zweckentsprechendere 
Rücksichtnahme auf die geistige Unzulänglich¬ 
keit in der Strafrechtspflege. 

Hierbei halte ich alle Forderungen nach Umgestaltung unserer 
auf die Zurechnungsfähigkeit bezüglichen Gesetzes-Bestimmungen 
bei der heutigen Zeitströmung, welche mit laienhafter Oberfläch¬ 
lichkeit an den Grundfesten wissenschaftlicher Wahrheiten rüttelt, 
für verfrüht, nein, ich fusse nur auf der Thatsache, dass dem be¬ 
stehenden Gesetze in dieser Beziehung nicht Genüge geschieht. 
Wer die Literatur der letzten Jahrzehnte kennt und wer wie der 
Medizinalbeamte oft Stunden und Tage lang als Hörer oder Experte 
Strafverhandlungen beizuwohnen gezwungen ist, der wird zu der 
Meinung gelangen, dass so mancher verurtheilt wird, bei dem 
nach dem Wortlaut des §.51 des R.-St.-G. eine strafbare Hand¬ 
lung als nicht vorhanden angesehen werden müsste. 

Diese Thatsachen müssen wir der Oeffentlichkeit, wo wir 
können, und namentlich den Männern, welche durch Beruf und 
bürgerliches Ehrenamt zum Richten ausersehen sind, klar zu 
machen suchen. Wir kämpfen dabei einen Krieg nach zwei Fron¬ 
ten, denn zugleich wird es nothwendig sein, zu beweisen, dass 
wir in unserer Sachverständigenthätigkeit streng in der uns ge¬ 
setzten Schranke bleiben, technische Aufklärungen zur Anwendung 



86 


Dr. Leppm&nn. 


bestimmter Gesetzesstellen zu geben, und dass wir nicht etwa die 
Barre als den Ort betrachten, wo wir unbewiesene Theorien über 
Willensfreiheit in die Praxis umsetzen wollen. Gerade wir deut¬ 
schen Psychiater und forensischen Aerzte können der Oeffentlich- 
keit jeder Zeit beweisen, dass wir keine eingeschworenen Lom- 
broso-Jünger sind, dass für uns das Verbrechen keine pathologische, 
sondern eine soziale Erscheinung ist und dass wir nur wünschen, 
dass neben den äusseren und allgemeinen auch seine individuellen 
und inneren Ursachen genügend berücksichtigt werden. 

Wir können in der Ausübung unserer Sachverständigenthätig- 
keit zwar nicht viel, aber doch einiges dazu beitragen, dass der¬ 
gleichen Irrthümer in der Urtheilsfällung sich mindern. 

Zunächst nämlich halte ich es für wünschenswerth, die Art 
unserer Verrichtungen so aufzufassen, dass wir nicht nur eine 
klinische Schilderung etwaiger Störungen abgeben, sondern unsere 
positive Meinung darüber aussprechen, ob dieselben derart umfang¬ 
reich sind, dass sie den Sinn des §.51 erfüllen oder nicht. Ich 
weiss, dass es eine Reihe namhafter Fachgenossen giebt, welche 
den diesbezüglichen Entscheid dem Richtenden allein überlassen 
wollen, aber ich halte es für folgerichtig, dass wir in unserer 
Eigenschaft als technische Berather der Erkennenden die Ergeb¬ 
nisse unserer Erfahrung auf eine bestimmte, aus der Fassung einer 
Gesetzesstelle sich ergebenden Frage zuspitzeu, ebenso wie der 
Bausachverständige nicht einen Augenblick daran zweifelt, er müsse 
gutachtlich entscheiden nicht nur ob ein Bau überhaupt sachwidrig 
sei, sondern ob er bestimmten §§. einer Bauordnung widerspreche. 
Der erkennende Richter ist ja nach dem geltenden Grundsätze der 
freien Beweiswürdigung dadurch nicht in seinem Urtheil gebunden, 
indessen die Erfahrung lehrt, und deshalb halte ich diese Forde¬ 
rung für besonders erwägenswerth, dass eine blosse klinische 
Schilderung häufig zum Nachtheil des Angeklagten ausfällt, indem 
Leute verurtheilt werden, welche die positive Bezeugung der Un¬ 
zurechnungsfähigkeit seitens des Sachverständigen vor Strafe be¬ 
wahrt hätte. 

Ferner giebt mir unser Material für unsere Wirksamkeit in 
foro noch folgende Lehre: 

Wenn ich aus demselben die Fälle herausgreife, deren Geistes¬ 
krankheit sicher oder höchstwahrscheinlich über die Strafthat 
zurückreicht, so sind einige darunter, und diese sind für die nach¬ 
trägliche Urtheilsänderung die hoffnungslosesten, bei denen der 
Einwurf der Geistesstörung zwar erhoben, aber vom Sachverstän¬ 
digen seihst nicht anerkannt wurde. Pie Ursachen dieses nicht 
völligen Eindringens in ein krankhaftes Seelenleben liegen dann 
meist darin, dass der Sachverständige sich vom ersuchenden Richter, 
wenn ich so sagen darf, überrumpeln liess. Der Einwand der 
Geistesstörung geschieht bei schweren Vergehen oder bei Ver¬ 
brechen meist schon im Vorverfahren. Der Untersuchungsrichter, 
welcher durch seinen persönlichen Verkehr mit dem Beschuldigten 
ein eigenes, man kann vielleicht sagen souveraines Urtheil über 
dessen Seelenleben sich gebildet hat, der es ausserdem täglich 


I 



Die Fttrsorge für geisteskranke Strafgefangene. 


87 


erlebt, dass der Einwurf aus §.51, die ultima ratio jedes Schwind¬ 
lers, in frivolster Weise erhoben wird, sieht, wenn er selbst keine 
Zweifel hat, die Untersuchung des Geisteszustandes mehr als 
Formsache an, beauftragt kurzer Hand damit den Medizinalbearaten 
und ladet ihn mit geringer Frist zur mündlichen Berichterstattung. 
Daher kommt es, dass der Gutachter häufig das einzig Mass¬ 
gebende, das Vorleben des Untersuchten, nicht genügend oder nicht 
objektiv genug kennen lernt. Denn wo es sich nicht um That- 
sachen, sondern um Anschauungen handelt, finden sich in den Akten 
oft Meinungen, auf deren Gestaltung der Umstand, dass es sich 
um einen bereits Beschuldigten handelt, wesentlich ungünstig ge¬ 
wirkt hat. Namentlich die Konstruktionen nicht klarliegender 
Thatmotive sind oft so kühne und schwankende Aufthürmungen, 
dass man in solchen Fällen den bekannten Spruch etwas umformen 
und behaupten könnte: Quod non est in mundo est in actis. 

Der Antrag des Sachverständigen, den Angeklagten laut §.81 
der R.-St.-P.-O. in eine öffentliche Irrenanstalt zu bringen, führt 
in solchen Fällen auch nicht zum Ziel, da sich der Angeschuldigte 
selbst nicht selten entrüstet dagegen sträubt. Daher soll der Sach¬ 
verständige, selbst wenn es ihm fast überflüssig erscheint, auf 
einer genauen Kenntniss des Vorlebens bestehen, er soll, wie ich 
mir bereits an anderer Stelle 1 ) auszuführen erlaubte, womöglich 
verlangen, dass die von ihm zu solchen Ermittelungen vorge- 
scblagenen Personen in seinem Beisein an Gerichtsstelle ver¬ 
nommen werden. 

Eine weitere Reihe von vorbeugenden Massnahmen betrifft 
IHb. einzelne, zunächst auf dem Wege der 
Verordnung einzuführende Strafvollzugsein¬ 
richtungen, welche den Ausbruch von Störungen 
während der Freiheitsentziehung verhindern 
und diemöglichst zeitige Erkennung vorhande¬ 
ner bewirken sollen. 

Sehen wir uns die Lebens- und man kann manchmal auch 
sagen Leidensgeschichte unserer Kranken an, so finden wir bei 
vielen eine Mitursache der Geistesstörung darin, dass auf geistige 
Defekte, welche dieselben in die Strafe brachten, keine Rücksicht 
genommen wurde und die bei solchen Minderwertigen unausbleib¬ 
lichen Verstösse gegen die Hausordnung mit voller Strenge diszi¬ 
plinarisch geahndet wurden, ganz im Gegensatz zu körperlichen 
Krankheiten, welche stets bei Abgrenzung des Arbeitspensums 
und anderer Anforderungen auf das Genaueste in Betracht kommen. 
Trotzdem die Ausmittelung einzelner zweifelhafter Fälle von 
Geistesstörung durch Einrichtung unserer Abtheilung erleichtert 
wird, sehen wir ferner, dass die Geisteskrankheit in einzelnen 
Strafanstalten immer noch überlange verkannt und durch allerhand 
Ausprobungsversuche ungünstig beeinflusst wird. 

Dem ist in erster Reihe dadurch abzuhelfen, dass bei der 
Auswahl von Strafanstaltsärzten diejenigen bevorzugt werden, 

*) Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin. 3. F., III. Bd., H. 1. 



88 


Dr. Leppmann. 


welche die Geistesstörung durch Anstaltsthätigkeit kennen gelernt, 
oder solche, die durch das Physikatsexamen die Bekanntschaft mit 
den Grundlehren der Psychiatrie bewiesen haben. Ferner muss 
die Stellung des Anstaltsarztes in Rechten und Pflichten eine 
umfassendere werden. 

Namentlich muss die Feststellung des körperlichen und 
geistigen Befundes eines Verurtheilten bei seiner Einlieferung 
eine viel genauere sein als bisher. Wünschenswerth ist zu¬ 
nächst bei allen zu Zuchthaus oder längerer Gefangnissstrafe 
Verurtheilten die Aufnahme und Notirung eines gegliederten 
ärztlichen Befundes: 1. von anthropologischen Merkmalen am 
Körper, 2. von Residuen früherer Krankheiten, namentlich von 
Rhachitis, Skrophulose und Syphilis, 3. des allgemeinen Ernäh- 
rungs- und Kräftigungszustaudes, 4. etwaiger krankhafter 

Veränderungen einzelner Organe, 5. des seelischen Eindrucks 
nach längerer eingehender Unterhaltung mit Trennung des 
Ergebnisses nach Intelligenz, Stimmung und sittlichem Zustande. 
Ausserdem muss diese ärztliche Untersuchung durch Massnahmen 
der Verwaltung unterstützt werden, welche eine genaue Ausmitte¬ 
lung der Persönlichkeit in Bezug auf Abstammung und soziales 
gesundheitliches Vorleben ermöglichen. Darüber enthalten die 
meisten Personalakten gar nichts, ja leider sind sie jetzt sogar 
dürftiger als sie vor Jahrzehnten waren, und doch hat man erst, 
wenn alles dies aktenmässig klar liegt, ein Individuum vor sich, 
an welchem man streng, aber gerecht eine Strafe vollziehen, dessen 
disziplinäre Leistungsfähigkeit man abwägen, das man unter die 
Macht der strafenden Gerechtigkeit beugen kann, ohne es zu zer¬ 
trümmern, das man eventuell auch in der Strafe erziehen und 
bessern kann. Dass ein solcher individualisirender Strafvollzug 
nicht gleichbedeutend ist mit Weichheit oder übermässiger Nach¬ 
sicht gegen den Rechtsbrecher, das haben die Vorkämpfer dieser 
Reform, das hat namentlich Kr oh ne gezeigt. 

Wird eine so gekannte Person in ihrem Wesen auffallend, 
dann steht man nicht vor einem Räthsel, dann findet man den 
Faden, ob Krankheit oder Böswilligkeit, schnell. 

Wenn ich vorhin von Notirung anthropologischer Eigentüm¬ 
lichkeiten sprach, so möchte ich, um Missverständnisse zu ver¬ 
meiden, ausführen, dass ich keineswegs den Werth derselben über¬ 
schätzen will, aber wenn auch eine schiefe Stirn oder angewachsene 
Ohrläppchen nichts beweisen, so gewinnen doch solche Entartungs¬ 
zeichen, wenn sie in Fülle und sehr deutlich auftreten, einen Werth, 
um einzelne Personen unserer Aufmerksamkeit zu empfehlen. 

In der Hauptanstalt der Königl. Strafanstalt Moabit wird die 
Erkundigung über das Vorleben nach einem von Herrn Geh. Rath 
Dr. Kr ohne entworfenen Schema seit Jahren geübt, worüber ich 
des Näheren neulich in der Vierteljahrsschrift für öffentliche Ge¬ 
sundheitspflege *) erörterte. Wie dadurch in Verbindung mit der 
ärztlichen Untersuchung der Mensch gekennzeichnet wird, wie sie 
zum Strafvollzug nothwendig ist, davon folgende Beispiele: 


>) XXV. Bd., 1 H., Januar 1893. 



Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. 


89 


Hier sind zwei Photographien von Leuten, welche bei der 
Einlieferung behaupteten, an epileptischen Krämpfen zu leiden. 
Sie logen beide nicht und doch welche Unterschiede in der Straf¬ 
vollzugs - Qualität. 

Der eine zeigte einen auffallend grossen, eckigen Kopf, von 
57 cm Umfang mit niedriger Stirn, ungleich lange Ohren mit 
angewachsenen Läppchen, kleine tiefliegende Augen, Schwachsich¬ 
tigkeit, mehrere mit den Knochen verwachsene Narben am Schädel 
und sehr defekte Zähne. Die Anamnese ergiebt, dass der so Ge¬ 
schilderte aussereheliches Kind eines in Trunksucht verkommenen 
Vaters ist, dass er spät laufen und sprechen lernte, in der Jugend 
an Drüsen litt und in der Schule schwer lernte. 

Er ist 29 Jahre alt, nicht vorbestraft und wird wegen Noth- 
zucht eingeliefert. 

Bei der Unterhaltung erweist er sich als stumpfsinniger 
Kaliban, der nur seinen Namen schreiben kann und 9 X 7 = 17 
rechnet. 

Er wird sofort als nur bedingt strafvollzugsfähig bezeichnet, 
die Zellenhaft, welche beim Vollsinnigen nicht die seelischen 
Nachtheile hat, die ihr manche zuschreiben, wird nur als bedingt 
statthaft erklärt, er erhält Invalidenarbeit. Nur so war es zu 
bewirken, dass er seine zweijährige Strafe wirklich aushielt. 

Der andere, ebenfalls Epileptiker, aber nicht belastet, ohne 
Entartungszeichen, geistig und körperlich normal entwickelt, zum 
rückfälligen Dieb und Brandstifter unter der Ungunst äusserer 
Verhältnisse geworden, wird trotz seiner Epilepsie als völlig straf¬ 
vollzugsfähig erkannt, hat ca. 6 Jahre Zellenhaft ohne Schaden 
ausgehalten; trotz schwerer Arbeit als Korkreisser, trotz seiner 
Bewaffnung mit einem schwertartigen Messer ist nie etwas Auf¬ 
fallendes vorgekommen. 

Die weiteren Bilder sind Typen, wie sich körperliche Ent¬ 
artungszeichen oder belastende Momente mit ausgeprägtem Schwach¬ 
sinn oder mit aussergewohnlichem und auffallend frühem Verfall 
in’s Verbrechen decken. Die näheren Mittheilungen sind auf den 
Kartons der Photographien. 

Schliesslich folgen noch je zwei Bilder in Vorder- und Seiten¬ 
ansicht von zwei geisteskrank auf die Irrenabtheilung Eingeliefer¬ 
ten. Der eine, ein 25jähriger Mensch, galt als einer der gefähr¬ 
lichsten Verbrecher. Namentlich war er berüchtigt durch seine 
Fluchtversuche. Auffallend hätte es eigentlich werden müssen, 
dass er sich wegen einer Brandstiftung, die er begangen, selbst 
anzeigte, dass er dann wiederholt mit Aufbietung enormer Kräfte 
aus der Haft entfloh, um jeweils wieder freiwillig in dieselbe 
zurückzukehren. In der Strafanstalt hatte er viele Disziplinar¬ 
strafen erhalten und war schliesslich durch ängstliche Unruhe und 
Halluzination aufgefallen. 

Den Mann hätte man schon Jahre lang eher, wenn ich einen 
trivialen Ausdruck brauchen soll, nicht für voll nehmen und dort¬ 
hin bringen sollen, wo hin er gehört, nämlich in die Irrenanstalt, 
wenn man seine körperliche Qualität berücksichtigt hätte. 



90 


Dr. Leppmann. 


Sie sehen hier im Bilde seinen vogelkopfähnlichen, auffallend 
langen und schmalen Schädel von 51,5 cm Umfang, 19,0 cm lang, 
14,3 cm breit, nach links über hängend, mit fliehender Stirn und 
kleinen Blinzaugen. Dazu kommen: ein langes, schmales Gesicht 
mit grosser Nase und auffallend starken Kiefern, ungleiche, auf¬ 
fallend grosse Spitzohren (7,2; 7,5 cm) mit fast völlig angewachse¬ 
nen Läppchen und nicht umgekremptem Bande, schräge Schultern, 
linksseitige Skoliose, Kartoffelbauch, Plattflisse, stark durchgedrückte 
Kniee, grosse linksseitige Varicocele. Und die Anamnese ergiebt: 
Bildungsunfähigkeit trotz ordentlicher Eltern und Schule, sofortigen 
Verfall in’s Verbrechen bei dem Versuche, sozial selbstständig zu 
werden. 

Der andere mit einem Kopfumfang von 59 cm, deutlicher 
hydrocephaler Schädelbildung und Zeichen der Rhachitis am übrigen 
Skelett, wird vom 18. bis 22. Lebensjahre 13 Mal wegen Betteins 
und Landstreichens bestraft, ermordet in der Korrektionsanstalt 
den Lehrer, welcher ihn angeblich beim Singen chikanirt und zeigt 
in der Strafanstalt jene Mischung von Schwachsinn und kindischen, 
phantastischen Grössen-und Beeinträchtigungs- Wahnideen, welche 
das Bild originärer Verrücktheit ausmacht. 

So weit die Beispiele. Kehren wir zum Thema zurück, so 
ist Folgendes ferner zu fordern: 

Der Arzt muss sinngemäss nach dieser ersten Ausmittelung 
von den Schicksalen der Gefangenen unterrichtet bleiben. Er muss 
möglichst häufig an den Konferenzen der Beamten Theil nehmen. 
Er muss in einem gewissen Turnus die Leute sehen, er muss bei 
gewissen Vorkommnissen, wie z. B. bei schweren oder gehäuften 
Disziplinarstrafen, benachrichtigt und gutachtlich gehört werden, 
wie dies bei Dunkelarrest im Reglement für die preussischen Justiz¬ 
gefängnisse bestimmt ist. 

Schon jetzt könnte ich eine Reihe verwendbarer Einzelvor¬ 
kommnisse aufzählen, welche sich als erste Erscheinungen heran¬ 
nahender Seelenstörung in den Akten der bei uns Aufgenommenen 
oft wiederholen, so z. B. planlose Fluchtversuche, weglaufen und 
sich verstecken beim Spazierengehen, plötzliche Arbeitsverweige¬ 
rung mit Zertrümmerung der Arbeitsgeräthe, lautes Mitsprechen 
beim Gottesdienst und Aehnliches, welche nur der Arzt sachver¬ 
ständig deuten kann. 

Diese Pflichten werden und sollen den Arzt nicht der allge¬ 
meinen Praxis entziehen. Er soll mit deren lehrreichen Ergeb¬ 
nissen in steter Berührung bleiben. Aber er soll, und das muss 
in unser Programm gehören, für das, was er thut, so honorirt 
werden, dass er, abgesehen von dem hohen menschlichen und 
wissenschaftlichen Interesse, das ihm diese Art von Thätigkeit 
lieb machen wird, auch seine aufgewandte Zeit bezahlt erhält. 
Nimmt man an, dass er täglich 2—3 Stunden der Anstalt widmen 
muss, so darf er nicht mit nur 1000 Mark d. h. mit l 1 /* Mark 
pro Stunde abgelohnt werden. 

Viel lässt auch noch die augenblickliche Aufbewahrung 
geistig Zweifelhafter in einzelnen Anstalten zu wünschen übrig. 



Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. 81 

Eine Irrenzelle muss im Lazarethe und nicht unterirdisch oder 
abgelegen sein; überflüssiges Isoliren und Zwangsmittel lassen sich 
vermeiden, wenn man Menschenkräfte, welche man ja zur Dis¬ 
position hat, richtig verwerthet. 

Zu einer dritten Gruppe vorbeugender Massregeln würde 
ich eine 

; IIIc. grössere und passendere Berücksichti¬ 

gung des Irrsinns in der öffentlichen Armen¬ 
fürsorge 

rechnen. Sendet man heutzutage einen von Geistesstörung ge¬ 
besserten oder Beruhigten aus der Anstaltspflege in die Heimath 
mit der aufklärenden Anweisung, der Betreffende bedürfe der 
dauernden Unterstützung, weil er bei Aufsuchung und Auswertung 
von Arbeitsgelegenheit weit hinter dem Durchschnittsmasse zurück¬ 
stehe, so kann man in den meisten Fällen versichert sein, dass 
die Organe der Armenpflege solchen Aufforderungen mit lächeln¬ 
der Nichtachtung begegnen. Sie können ja nicht begreifen, dass 
Jemand minderwertig zu körperlicher Arbeit und dabei gross 
und stark sein kann. 

Noch schlimmer geht es unsern Strafentlassenen Geistes¬ 
schwachen, bei denen jede Forderung einer Hülfe nach ihrem 
Vorleben als eine besondere Anmassung angesehen wird. Trotzdem 
werden dieselben mit den wesentlichsten geistigen Defekten von 
vielen Irrenanstaltsleitern leichten Herzens in die Welt geschickt 
und so sehen wir Personen, welche wir durch die am Strafende 
oft mühsam durchgefuhrte UeberWeisung in Irrenanstalten für sich 
und ihre Mitmenschen dauernd unschädlich gemacht glaubten, rath- 
und zwecklos im Leben wieder auftauchen und die Armee der 
Gewohnheitsverbrecher, von denen ein einzelner sicher mehr 
Schaden bringt, als seine Anstaltsdetention kosten würde, ver¬ 
mehren. Freilich hat dabei der eine Land- oder Kommunal- 
Armenverband, aus dessen Anstalt die Entlassung geschah, den 
Vortheil, dass der zur sozialen Selbstständigkeit Unfähige solange 
herumvagirt, bis er in einem anderen Landestheile aufgegriffen 
wird und seine Unterstützungsverflichtung sich dann häufig so 
weit verändert hat, dass sie anderen anheimfällt. 

Aehnliche Entlastungsversuche sehen wir gegenüber denen, 
welche noch vor Ablauf einer langzeitigen Strafe als voraussicht¬ 
lich unheilbar der öffentlichen Anstalts-Fürsorge überwiesen werden. 
Sie, m. H., können versichert sein, dass eine Strafvollzugsaus¬ 
setzung wegen Geistesstörung nur dann geschieht, wenn wir wirk¬ 
lich erheblich Entartete, d. h. weitgehend Verblödete, oder Jahre 
und Jahrzehnte lang Verrückte oder Epileptiker mit gehäuften 
Anfällen und häufigen Verworrenheiten oder sicher organisch Ge¬ 
hirnleidende vor uns haben. Trotzdem erleben wir z. B. Folgendes: 

Ein von uns aus entlassener, sehr reizbarer, wiederholt 
aggressiver halluzinatorisch Verrückter, dessen Sinnestäuschungen 
sich in den Akten bis 1873 zurückverfolgen lassen, wird, nachdem 
er einige Wochen in der Anstalt einer wohlthätigen Stiftung ver- 



92 


Dr. Leppmann. 


pflegt ist, als gebessert und strafvollzugsfähig der Behörde zur 
Verfügung gestellt. 

Aehnlich geschieht es an derselben Stelle mit einem Kriegs¬ 
invaliden, der einen Schuss in’s Auge und die Schädelbasis erhalten 
hat und in der Strafanstalt ebenso wie später in einer Provinzial¬ 
irrenanstalt dauernd, d. h. jeweils Monate lang, halluzinatorisch 
verworren gewesen war und deutliche Erscheinungen von Hirndruck 
geboten hatte. Dieser wird, nachdem sich zeitweilig sein Bewusst¬ 
sein aufgehellt hatte, zurückgesandt, weil er genesen sei und 
überhaupt „zum grössten Theil simulirt habe“. Derselbe befindet 
sich jetzt bereits über ein halbes Jahr auf unserer Abtheilung. 
Er ist wieder völlig verworren, er sieht auf dem erhaltenen Auge 
fast gar nichts, er hört schwer, seine Pupille reagirt nicht, kurz, 
er ist, was er war, organisch hirnleidend und unheilbar. 

Bei einem dritten Falle handelt es sich um einen unheilbaren 
Querulanten, den ich Ihnen hier im Bilde zeige, einen erblich 
belasteten, von Jugend aut verkehrten Menschen, einen phantasti¬ 
schen Lügner und Selbstbetrüger, der vollständig systematische 
querulatorische Wahnideen hat, der die Behörden im Komplott 
gegen sich, der in Bezug auf seine Eechtssicherheit eine 
Ausnahmestellung in der menschlichen Gesellschaft einzunehmen 
glaubt. Dieser wurde, nachdem er aus dem Strafvollzüge, in 
welchem er sich als undisziplinarbar erwiesen hatte, ausgeschaltet 
war, nach ca. 3 Wochen von der Irrenanstalt der Heimathsstadt 
als genesen zurückgesandt. 

Bei solchen Vorkommnissen muss man sich freilich fragen, 
ob das Mass der Verantwortlichkeit für die massgebenden Organe 
der öffentlichen Armenpflege nicht gesetzgeberisch erhöht oder die 
Entlassungsfähigkeit selbst einer revisorischen Kontrole unterstellt 
werden müsste. 

Bei der Irrenfürsorge ausserhalb der Anstalten kann uns nur 
eins helfen, d. i. eine Art Patronatssystem, wie es z. B. die Irren¬ 
anstalts-Verwaltung der Stadt Berlin über ihre aus der Anstalt 
entlassenen Pfleglinge oder der schlesische Hülfsverein für Geistes¬ 
kranke mit den Mitteln ausübt, welche ihm von der Provinzial- 
Behörde zukommen. Da wird die geistige Invalidität als Unter¬ 
stützungsgrund anerkannt, da wird dem Unterstützten mit der 
Gewährung von Geldmitteln zu gleicher Zeit eine Art freiwilliger 
Vormund zur Seite gestellt, welcher sein Wesen versteht und an 
den er sich mit der Hülflosigkeit eines geistig Unselbstständigen 
anklammert. Aus eigenster Erfahrung möchte ich meinen, dass 
diese Thätigkeit, wenn sie allgemein eingeführt wird, zu den 
schönsten Ehrenpflichten gerade des Arztes gehören müsste. 

Fragen wir uns schliesslich, welche von den verschiedenen 
(IHd) Gesetzesprojekten, die heutzutage in der Oeffentlichkeit 
auftauchen, als eventuelle Vorbeugungsmassregeln unser besonderes 
Interesse haben, so ist dies in erster Reihe die weitere Ausge¬ 
staltung der vorläufigen Entlassung. Dass das Strafubel 
je nach der Individualität verschieden auf die Person wirkt, ist 
eine von allen praktischen Kriminalisten anerkannte Thatsache. 



Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. 


93 


Er oh ne sagt mit Hecht, für den einen sind ein Jahr Strafe der 
Tod, ein anderer gedeiht bei zehn Jahren ganz gut weiter. Die¬ 
jenigen, welche unter der Wirkung der Strafe körperlich oder noch 
vielmehr geistig übermässig gebeugt werden, sind meist keine Un¬ 
verbesserlichen. Wie häufig sehen wir dann, wie Jemand mit der 
kommenden Krankheit seines Gemüths- oder Verstandeslebens ringt, 
wie ihm nur eins Rettung bringen kann, d. i. baldige Freiheit, und 
wir haben kein Mittel, sie ihm zu gewähren. Die vorläufige Ent¬ 
lassung, welche nach §. 23 des Str.-G.-B. nach Ablauf von ®/ 4 der 
Strafzeit erfolgen kann, ist durch bestimmte Voraussetzungen, wie 
gute Führung, Geständigkeit etc. umgrenzt, welche man gerade 
bei den seelisch Impressionibelen nicht immer findet. Die Be¬ 
gnadigung kann stets nur eine ausnahmsweise Massregel sein. 
Aber eine Erweiterung der Befugniss der vorläufigen Entlassung 
würde solche Ungleichheiten in der Strafwirkung aufheben und 
die Bedingung der Rückkehr in die Strafe bei nicht guter Führung 
würde als besonderes Corrigens gegen Rückfalle über manchem 
unserer Schmerzenskinder, z. B. über den gutmüthigen charakter¬ 
schwachen Gelegenheitstrinker schweben. Wir müssen dabei be¬ 
tonen, dass es sich bei dieser Massregel um keine Aufhebung, 
sondern nur um eine andere Gestaltung der Strafe handelt. 

Sodann müssen wir mit den Bestrebungen der internationalen 
kriminalistischen Vereinigung betreffs des Hinaufrückens der 
Strafmündigkeit der Jugendlichen und des Eintretens 
von Erziehung an Stelle der Strafe sympathisiren. Staat¬ 
liche Erziehungsanstalten für rechtsbrecherische und verwahrloste 
Jugendliche können die besten Fundstätten werden, wo man jugend¬ 
liche normale Geistesentwickelung von angeborenem Schwachsinn 
oder angeborener Verkehrtheit trennt, von wo man die einen in’s 
Leben sendet, die anderen der öffentlichen Irren-, Epileptiker- und 
Idiotenfürsorge überweist. Dadurch würde eine starke Wurzel 
des Gewohnheitsverbrechens im Keime ausgerodet werden und 
namentlich der grossen Menge der professionirten Bettler und Vaga¬ 
bunden würden die besten Hülfstruppen entzogen sein. 

Zum Schluss könnte man sich noch fragen, ob nicht für be¬ 
stimmte Altersklassen z. B. für Jugend- und Greisenalter oder für 
bestimmte Verbrechensarten die jedesmalige sachverstän¬ 
dige Untersuchung des Seelenzustandes im Vorver¬ 
fahren zu fordern sei. 

Obgleich ich nicht glaube, dass durch derartige Massregeln, 
wie manche Juristen fürchten, der strafenden Gerechtigkeit das 
Schwert aus der Hand gewunden und das Rechtsbewusstsein im 
Volke erschüttert werden würde, halte ich die Massregel doch für 
verfrüht. Erst wenn wir Jahre und Jahrzehnte lang den Rechts¬ 
brecher anthropologisch und soziologisch studirt haben werden, 
können wir solche Forderungen begründen. So z. B. würden die 
meisten Aerzte gewiss in erster Reihe bei solchen Wünschen an 
den Sittlichkeitsverbrecher denken. Schon die wenigen Jahre, 
welche ich sammele und sichte, haben mir, wenigstens an unserem 



94 


Dr. Leppmann. 


Materiale, gezeigt, dass in demselben weniger Pathologisches steckt, 
wie z. B. im Brandstifter. 

Bescheiden wir uns also in unseren Forderungen und lassen 
wir vorläufig als ein Streit- und Leitwort für unsere Zukunfts¬ 
arbeit das Lombroso’sche Motto gelten: 

„Melius cognoscere corpus humanum, quam corpus juris.“ 
(Lebhafter Beifall.) 

Diskussion: 

H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: M. H.! Ich möchte doch 
nicht, dass dieser sehr gehaltvolle und anregende Vortrag, den uns der Herr 
Kollege eben gehalten hat, hier ganz ohne jeden Nachklang bleibt. Man muss 
in hohem Grade wönschen, dass ähnliche Einrichtungen, wie sie jetzt in Moabit 
getroffen sind, auch an anderen Strafanstalten ins Leben treten. Wir Alle, die 
wir in ausgedehnterem Masse mit Strafsachen, mit geisteskranken Verbrechern 
zu thun haben, empfinden lebhaft die schweren Schäden, die Bich hierbei geltend 
machen. Sicherlich werden ja die vielen Uebelstände, die der Herr Vortragende 
gerügt hat, noch in langer Zeit nicht beseitigt, und die Wünsche, die er aus¬ 
gesprochen hat, und die man fast alle theilen kann, in langer Zeit noch nicht 
erfüllt werden. Leider wird auf unsere Stimme bei diesen Dingen nicht sehr 
viel gehört, nicht einmal in den Fragen, für welche wir doch vorzugsweise 
Sachverständige sind, in zweifellos hygienischen oder sanitären Angelegenheiten, 
und noch viel weniger in diesen, die von den Juristen als lediglich ihnen bei¬ 
kommend betrachtet werden. 

Ich möchte noch ein paar Worte über die Ratbschläge sagen, die der 
Herr Vortragende an die Sachverständigen gerichtet hat, also z. B, dass sie sich 
über die Frage der Zurechnungsfähigkeit thunlichst immer bestimmt aussprechen 
möchten. Ich bin darin seiner Ansicht, dass der Sachverständige sich gemäss 
§. 51 8t.-G.-B. über die Willensbeschränkungen äussern soll. Es ist ja, wie er 
schon ausgeführt hat, eine bestrittene Frage; und ich selber habe einmal wegen 
eines Gutachtens, das ich in dieser Form abgegeben hatte, entweder vom 
Provinzialmedizinalkollegium oder von der wissenschaftlichen Deputation eine 
Rüge erhalten, weil die Schlussfolgerung nicht Sache des ärztlichen Sachver¬ 
ständigen sei. Ich habe mich aber doch nicht abhalten lassen, das auch ferner 
zu thun, und bin namentlich dazu veranlasst worden, weil diese Frage von dem 
Richter wohl stets an mich gestellt worden ist, und dieser niemals zufrieden ist, 
wenn ich ihm nur das Krankheitsbild darlege; er will auch mein Urtheil hören. 
Gebunden ist er ja nicht daran. Man erlebt da mitunter Merkwürdiges. Ich 
erinnere mich z. B. eines Falles, in dem ich in Hamburg vor dem Schwurgericht 
einen unzweifelhaft geisteskranken Verbrecher zu begutachten hatte, der auch 
schon in einer Strafanstalt beobachtet war und von dem Strafanstaltsdirektor 
ebenfalls für unzweifelhaft geisteskrank gehalten ward. Trotzdem ward die 
bezügliche Frage von dem Schwurgericht verneint, der Geisteskranke zum Tode 
verurtheilt und enthauptet. Wir sind solchen Vorkommnissen gegenüber machtlos. 
Wie oft kommt es vor, dass die Frage der geistigen Störuug, der Zurechnungs¬ 
fähigkeit gar nicht erhoben wird, wenn in dem Vorleben des Angcschuldigten 
auch noch so viel Anlass dazu geboten, wenn er z. B., wie mir gerade ein Fall 
vorliegt, schon in mehreren Irrenanstalten gewesen ist. Zwischen dem Sachver¬ 
ständigen und dem Staatsanwalt herrscht nicht selten ein kleiner Krieg, indem 
dieser anscheinend der Anschauung ist, als ob der Medizinalbeamte in nicht 
gerechtfertigter Weise die Absicht hätte, ihm die Beute streitig zu machen. 

Endlich halte ich die Beobachtung der Simulanten doch nicht für eine so 
selten vorkommende und gleichgültige Sache. Ich habe in meiner gerichtsärzt¬ 
lichen Praxis eine Reihe von Fällen erlebt, dass von Gefangenen Geisteskrank¬ 
heit in einer sehr hartnäckigen und nicht immer leicht zu erkennenden Weise 
simulirt wurde. In einer Irrenanstalt wurde die Simulation festgestellt. Dazu 
würde die Einrichtung solcher Stationen, wie sie hier ins Leben gerufen worden 
sind, sich auch anderswo nützlich erweisen. 

H. Kr.-Phys. Dr. Coester - (Goldberg): Dadurch, dass nicht immer 
Geisteskranke den Medizinalbeamten zur Beurtbeilung überwiesen werden, kom¬ 
men vor Gericht manchmal ganz wunderbare Zustände vor. Ich hatte z. B. 



Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. 


95 


nachfolgenden Fall zn beurtheilen. Ein Kaufmann hatte im Rausch beleidigende 
Aeusserungen gegen eine Staatsanstalt gethan und war deshalb angeklagt worden. 
Sein Hausarzt gab vor der Strafkammer ein sachverständiges Gutachten dahin 
ab, dass der Betreffende nicht im Stande gewesen wäre, die Folgen seiner Hand¬ 
lung zu überlegen, weil er erblich belastet sei. Er wurde in Folge dessen 
frei gesprochen, und die Staatsanwaltschaft stellte konsequenterweise den Antrag, 
ihn zu entmündigen. Ich musste den Mann untersuchen und konnte bloss kon- 
statiren, dass er ein Säufer war, dass er aber nach meiner Ueberzeugung voll¬ 
ständig im Stande war, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen, und dass 
er also auch straffähig war. Nach diesem meinem Urtheil wurde der Mann nicht 
einer Irrenanstalt übergeben und nicht entmündigt. Er läuft noch gegenwärtig 
unbestraft umher mit der Möglichkeit, jederzeit wiederum irgend eine Strafthat 
ungeahndet zu begehen; also gewissennassen als ein Mensch, der im Augenblick 
alles Mögliche unternehmen und thnn kann, ohne dass ihm vom Richter irgend 
eine Strafe zudiktirt wird. Ich möchte deshalb der Ansicht sein, dass auch 
bereits in der Voruntersuchung, wenn der Einwand von Seiten des Beklagten 
gemacht wird, dass er geisteskrank sei, nicht nur der Hausarzt, sondern auch 
ein Sachverständiger, der mit der Beurtheilnng von Geisteskranken vertraut ist, 
mit der Untersuchung solcher Kranken betraut wird, damit nicht derartige ganz 
wunderbare Zustände öfter wiederkehren. 

H. Dr. Leppmann: M. H.! Herrn Wallichs zunächst möchte ich 
erwiedern, dass man bei der Vortäuschung von Geistesstörung bei Rechtsbrechern 
mehrere Gruppen trennen muss. 

Erstens nämlich gehört dazu das sehr häufige Bestreben Angeklagter, 
Vorkommnisse aus ihrem Vorleben durch geschickte Darstellung oder durch 
gefärbte Aussagen ihnen Nahestehender zu fingiren oder so aufzubauschen, dass 
sie daraus günstige Folgerungen für ihre geistige Unfreiheit zur Zeit der That 
sich zu schaffen suchen. 

Zweitens gebe ich auch zu, dass bei Untersuchungsgefangenen zu diesem 
Bestreben, Ereignisse aus dem Vorleben umzuformen, sich nicht selten die positive 
Vortäuschung von Stumpfsinn, Aengstlichkeit epileptischen Zuständen, ja auch 
von Wahnideen gesellt und dass diese Simulation mit einer gewissen Hartnäckig¬ 
keit betrieben, und, weil der Untersuchungsgefangene den Ernst der Freiheits¬ 
strafe noch nicht voll empfinden kann. 

Drittens lehrt mich die Erfahrung, dass Strafgefangene, namentlich 
jüngere, kurz nach ihrer Einlieferung aus einer Art verzweifeltem Muthwillen 
heraus bisweilen eine kurze Gastrolle auf dem Gebiete der Simulation von Seeion¬ 
störung geben, ihre Geräthe zertrümmen, heulen, Krämpfe simuliren etc. Diese 
sind leicht mit einer Douche zu kuriren, ja selbst wenn man sie sich selbst 
überlässt, hören sie schon nach Stunden und Tagen auf, den wilden Mann weiter 
darzustellen, da es sich eben nur um eine Augenblickslaune handelt. Die ziel¬ 
bewusste Vortäuschung aber einer Seelenstörung über Wochen und Monate 
hinaus, dass Standhalten etwaiger Ausprobungen und disziplinären Massregeln 
gegenüber ist sehr selten und ich muss nochmals betonen, dass unter den 
aul die Irrenabtheilung Eingclieferten, bei denen ja ein mindestens wochen¬ 
langes Auffallendwerden in Rede und Handlung und eine schriftliche Be¬ 
gutachtung durch den Gefängnissarzt der Anfnahme vorausgegangen war, kein 
einziger Simulant sich befand. 

Was ferner die Bemerkung des Herrn Kollegen Coester betreffs der 
Schwierigkeiten in dem nach einem Strafverfahren angestrengten Entmündigungs¬ 
verfahren anbetrifft, so machen wir hier in der Gressstadt die gleiche Erfahrung 
sehr häufig. Die Geistesstörungen der Trinker sind entweder so transitorisch, 
oder blassen bei Verbringung in eine Anstalt und Entziehung des Giftes so rasch 
ab, dass ohne eine Erweiterung der Gesetzgebung, die für solche Charakter¬ 
schwächlinge nothwendige jahrelange Entziehung der bürgerlichen Selbstständig¬ 
keit nicht durchzuführen ist. 

Auch auf die Armenpflege möchte ich noch eiumal zurückkommen, weil 
ich eins vorhin nicht scharf genug betont habe. Wir sehen, dass in Folge des 
Verkennens der geistigen Unzulänglichkeit die Leute förmlich wieder ins Ver¬ 
brechen gejagt werden. 

Darf ich Ihnen dies an einem Beispiel erläutern. Ein alter Zuchthäusler, 
erheblich schwachsinnig und deshalb reizbar, kommt in Folge eines Tobanlälls 



96 


Dr. Leppm&nn: Die Fürsorge für geisteskranke Strafgefangene. 


zu nns auf die Irrenstation. Er wird allmählich ruhiger, kann in die Strafanstalt 
zurückkehren und benimmt sich dort willig und flcissig. Da aber seine geistige 
Invalidität verbunden mit einer gewissen körperlichen Dekrepidität deutlich bleibt, 
schickt ihn die Strafanstaltsdirektion am Strafende an seine Heimathsbehörde 
mit dem Anheimgeben, man möge ihn doch in ein Armenhaus aufnehmen oder 
unterstützen. Die Strafanstaltsdirektion habe die Ueberzeugung, dass er nicht 
träge sei, er könne sich aber wegen seiner Schwachköpfigkeit nicht weiter helfen. 
Nach einigen Tagen kam ein Brief des Entlassenen, man habe ihm gesagt, man 
denke nicht daran, ihm etwas zu geben. Was blieb ihm übrig, er wurde sofort Va¬ 
gabund. Dann kam noch ein Brief, er habe auf einem Dorfe vorübergehend Arbeit 
gefunden, bald kam ein dritter, er könnte sich nicht mehr helfen, er müsste 
wieder stehlen. Das hat er dann auch gethan. Jetzt sitzt er wieder für viele 
Jahre im Zuchthaus und kommt wahrscheinlich in der nächsten Zeit wieder auf 
die Irrenstation. 

Vorsitzender: Es hat sich Niemand mehr zum Wort ge¬ 
meldet ; auch ist eine Abstimmung über die vom Herrn Referenten 
gemachten Vorschläge weder von diesem noch von einem der 
anderen Herren gewünscht. Ich schliesse daher die Diskussion 
und spreche dem Herrn Dr. Leppmann unseren Dank aus für 
seinen vortrefflichen Vortrag. 


III. Zur staatlichen Beaufsichtigung des 

Irreuweseus. 

H. Kr.-Phys. Dr. Meyhöfer (Görlitz): M. H.! Der bekannte 
vorjährige Aufruf in der Kreuzzeitung, welcher in hohem Grade 
die Presse, mehr noch die politische als die fachwissenschaftliche, 
in Bewegung setzte und die öffentliche Meinung in nicht zu ver¬ 
kennender Weise erregte, veranlasst« unsern Vorstand, mich schon 
für das verflossene Jahr mit dem Referat über die wichtige Frage 
der staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens zu betrauen. Da 
nun diese Frage seither in den verschiedensten Variationen be¬ 
sprochen worden ist, zu einem Theile derselben auch ärztliche 
Körperschaften sich haben vernehmen lassen, so konnte es fraglich 
erscheinen, ob für unsere diesjährige Versammlung das Thema 
noch ein genügendes aktuelles Interesse haben dürfte. Um so 
grösser musste aber dieser Zweifel werden, als in der Sitzung des 
Abgeordnetenhauses vom 10. v. Mts. auf eine diesbezügliche Inter¬ 
pellation der Herr Ministerial - Direktor Dr. Bartsch die Er¬ 
klärung abgab, dass die Erledigung der Angelegenheit bereits in 
Angriff genommen sei und ihrer baldigen Erledigung entgegengehe. 
Als im vorigen Jahre ein bekannter Fall das öffentliche Interesse 
weiter Kreise in Anspruch genommen, habe der damalige Herr 
Minister auf seinen Rath der Wissenschaftlichen Deputation die 
Frage zur Begutachtung überwiesen, ob die gegenwärtig bestehen¬ 
den Vorschriften für ausreichend zu erachten seien, um eine Sicher¬ 
heit dafür zu geben, dass ein Nichtkranker nicht wider seinen 
Willen in eine Irrenanstalt aufgenommen oder in derselben detinirt 
werden können. „Die Wissenschaftliche Deputation“, sagte der 
Herr Ministerial - Direktor „hat aber aus eigenem Antriebe die 



Dr. Meyhöfer: Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irreuwesens. 


97 


Frage erweitert, nicht blos die Frage der Aufnahme eines Kranken 
in eine Irrenanstalt in den Kreis ihrer Begutachtung gezogen, sie 
hat vielmehr das ganze Material gutachtlich erörtert. Wir haben 
uns in den Gesetzgebungen Frankreichs, Belgiens, der Schweiz, 
Norwegens und anderer Kulturstaaten umgesehen, um zu prüfen, 
ob die dort bestehenden gesetzlichen und administrativen Vor¬ 
schriften etwa Material enthalten, welches auch für uns verwerth- 
bar wäre. So haben wir im vorigen Jahre in monatelanger, ernster 
Arbeit und in wiederholten Lesungen ein umfangreiches Gutachten 
über die gesammte Frage des Irrenwesens fertig gestellt, welches 
demnächst auch weiteren Kreisen durch den Druck zugänglich 
gemacht werden wird.“ — Weiter führte der Herr Ministerial¬ 
direktor aus: „Dieses Gutachten der Wissenschaftlichen Deputation 
ist dem Herrn Medizinal-Minister unterbreitet worden, und der¬ 
selbe hat sich im Wesentlichen mit dem Gutachten und den darin 
entwickelten Grundsätzen einverstanden erklärt; er ist sodann mit 
denjenigen Herren Ressortchefs, die bei dieser Angelegenheit in 
gleicher Weise betheiligt sind, nämlich mit den Herren Ministem 
des Innern und der Justiz, in Verhandlungen getreten, und auch 
diese haben im Grossen und Ganzen das, was die Wissenschaft¬ 
liche Deputation unterbreitet hat, als zutreffend anerkannt. Da 
nun aber die Angelegenheit bei ihrer grossen Schwierigkeit noch 
einer eingehenden Durchberathung bedarf, so haben die Herren 
Ressortminister kommissarische Berathungen in Aussicht genommen, 
und diese finden gegenwärtig statt.“ 

Ich bin nun ganz in Uebereinstimmung mit unserem Vor¬ 
stande der Ansicht, dass diese von dem Ministertische gegebene 
Erklärung für uns keinen Grund abgeben könne, uns der Be¬ 
sprechung des Gegenstandes zu enthalten. So lange die Vorschläge 
der Wissenschaftlichen Deputation noch im Stadium der Berathung 
sich befinden, ist es für uns noch nicht zu spät, unsere An¬ 
sichten kund zu thun und etwaige Wünsche den hohen Behörden 
zu unterbreiten. Gerade wir Medizinalbeamten sind bei der 
Sache in erheblichem Maasse interessirt und vom Standpunkte 
der Medizinalbeamten aus ist dieselbe bisher noch kaum erörtert 
worden. 

M. H., die Hauptpunkte bei der Frage der staatlichen Be¬ 
aufsichtigung des Irrenwesens betreffen die Aufnahme von Geistes¬ 
kranken in Irrenanstalten und ihre Entlassung, die Beaufsichtigung 
der Anstalten, Ertheilung von Konzessionen zur Errichtung neuer 
Irrenanstalten und das Entmündigungsverfahren. 

Letzteren Punkt, das Entmündigungsverfahren, beabsichtige 
ich nicht in den Kreis unserer heutigen Besprechung zu ziehen, 
da wir uns hierüber bereits mehrfach in unseren Versammlungen 
unterhalten haben. In den Jahren 1885, 1887 und 1889 haben 
wir hierüber die Herren Falk, Mittenzweig, Siemens, 
Wallichs u. A. ausführlich gehört, und seit jener Zeit hat sich 
nichts ereignet, was Veranlassung geben könnte, die Frage von 
Neuem anzuregen. Erst wenn der Entwurf des zu erwartenden 
neuen deutschen Zivil-Gesetzbuches fertig gestellt sein wird, 

7 



98 


Dr. Meyhöfer. 


dürfte sich vielleicht wieder eine Gelegenheit bieten, auf die Sache 
zurückzukommen. — 

In Preussen haben wir eine Gesetzgebung für das Irren¬ 
wesen noch nicht. Aufnahmewesen und Ueberwachung der An¬ 
stalten werden durch Ministerialverordnungen, Konzessionirung von 
Privatanstalten durch Bestimmungen der Gewerbeordnung für 
das Deutsche Reich, Entmündigung durch die Zivilprozessordnung, 
Unterbringung von der Geisteskrankheit verdächtigen Angeklagten 
in öffentlichen Irrenanstalten durch die Strafprozessordnung, die 
Begriffe endlich über Blödsinn und Wahnsinn werden durch das 
allgemeine Landrecht geregelt. 

Es wäre wohl wünschenswerth, dass Alles, was sich auf das 
öffentliche Irrenwesen bezieht, in einem für das Deutsche Reich 
gütigen Irrengesetz zusammengefasst werden möchte, indessen sind 
die Aussichten hierfür sehr gering, da das Reich eine verfassungs¬ 
mässige Kompetenz, auf die Bundesstaaten in Verwaltungsange¬ 
legenheiten einzuwirken, nicht besitzt. Daher wird einstweüen 
nichts anderes übrig bleiben, als dass die einzelnen Bundesregie¬ 
rungen für sich die Sache durch eigene Bestimmungen reguliren. 

Allerdings dürfte man sich auch nach dem etwaigen Erlass 
eines noch so sorgfältig ausgearbeiteten Irrengesetzes der Hoff¬ 
nung nicht hingeben, dass die Anschuldigungen betreffend unge¬ 
rechtfertigte Unterbringung in Irrenanstalten dann gänzlich auf¬ 
hören werden. Dies lehren die Verhältnisse in Frankreich, England 
und anderen Ländern, welche sich einer Irrengesetzgebung erfreuen, 
und in welchen trotzdem solche Anschuldigungen ebenso erhoben 
werden wie bei uns. — 

Diese Anschuldigungen sind es, welche die neueste Bewegung 
in Betreff der Ueberwachung des öffentlichen Irrenwesens so leb¬ 
haft und in einem gewissen Sinne populär haben werden lassen. 
Der Umstand, dass die Anregung der neuesten Phase dieser Be¬ 
wegung in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 16. März v. J. 
ein unverkennbar politisch-tendenziöses Gepräge mit konfessionellem 
Hintergründe zeigte, darf von einer objektiven und ruhigen Erörte¬ 
rung der Frage uns nicht abhalten. 

Der bekannte Aufruf in der Kreuzzeitung vom 9. Juli v. J. 
geht von der Voraussetzung aus, dass „eine Anzahl Fälle in den 
letzten Jahren an’s Tageslicht gekommen seien, in welchen Leute, 
die nach der Auffassung weiter Kreise durchaus bei Verstände 
waren, für geisteskrank erklärt oder gar in’s Irrenhaus gesperrt 
worden seien“, und kommt zu dem Schlüsse, dass „die unschätz¬ 
baren Güter des Verstandes, der Rechtsfähigkeit und der Freiheit, 
eines wirksameren Schutzes bedürfen, als das freie Ermessen des 
Richters und das Gutachten der von ihm oder von der Polizei¬ 
behörde beauftragten Sachverständigen“. 

Die Prüfung der sämmtlichen Fälle von angeblich wider¬ 
rechtlicher Freiheitsberaubung durch zwangsweise Unterbringung 
in Irrenanstalten ist selbstverständlich unmöglich. Soweit es aber 
die Literatur, welche in erster Reihe von angeblich falsch beur- 
theilt gewesenen Personen selber herrührt, gestattet, dieselben zu 



Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens. 


99 


studiren, hat sich noch kein einziger als sicher konstatirt erkennen 
lassen. Im Gegentheil geht aus allen den ungeheuerlichen Elabo¬ 
raten solcher schriftstellernden, angeblich vergewaltigt gewesenen 
Personen ihre offenbare Geisteskrankheit zweifellos hervor. 

Es muss aber zugegeben werden, dass, da es sich um Kranke 
handelt und in dem Erkennen einer Krankheit ein diagnostischer 
Irrthum möglich ist, wohl einmal ein Nichtgeisteskranker zu Un¬ 
recht eingeliefert werden kann, und solche Fälle sind zweifellos 
dagewesen. Sache der Anstalt wird es aber dann sein, die irr- 
thümliche Diagnose zu rektifiziren, und dies wird in recht kurzer 
Zeit geschehen können und müssen. Zu längerer, widerrechtlicher 
Intemirung giebt es zweifellos, wie schon La ehr auf der Jahres¬ 
versammlung des Vereins der deutschen Irrenärzte im Jahre 1887 
sehr richtig ausführte, wohl keinen ungeeigneteren Ort als die 
Irrenanstalt. Bei dem heutigen so gesteigerten Verkehrsleben, 
welches auch die Anstalten betrifft, ist es undenkbar, dass ein 
widerrechtlich eingesperrter Mensch nicht Mittel finden sollte, mit 
der Aussenwelt zu verkehren und seine Freiheit wieder zu er¬ 
langen. — 

Auf das zur Zeit bei uns übliche Verfahren, welches zwischen 
öffentlichen und privaten Anstalten unterscheidet, brauche ich als 
allgemein bekannt hier nicht weiter einzugehen. Aus naheliegen¬ 
den Gründen richten sich die Angriffe betreffs widerrechtlicher 
Freiheitsberaubung nur gegen die Privatanstalten, und nehme ich 
in Nachstehendem daher vorwiegend auf diese Bezug. 

In durchaus zweckmässiger Weise trägt das Aufnahme¬ 
verfahren dem Umstande Rechnung, dass jede Irrenanstalt — 
abgesehen von den reinen Pflegeanstalten — zunächst eine Heil¬ 
anstalt ist, und dass im Interesse der Heilbarkeit der Kranken 
die Aufnahme nicht unnöthig erschwert zu werden braucht, sondern 
in kürzester Frist erfolgen kann. Das für Privatanstalten erfor¬ 
derliche Physikatsattest kann nach auf hausärztlichem Zeugnisse 
erfolgter Aufnahme von dem für die Anstalt zuständigen Physikus 
nachträglich ausgestellt werden. Eine jede Erschwerung der Auf¬ 
nahme, wie diejenigen es wünschen, welche in völlig einseitiger 
Auffassung des Wesens der Irrenanstalten in diesen in erster 
Linie Detinirungsanstalten erblicken, müsste im Sinne der Hu¬ 
manität sehr bedauert werden. Es beruht auf völliger Verken¬ 
nung der Verhältnisse, wenn es in dem mehrfach erwähnten 
Aufruf heisst, dass „hierbei nicht juristische und medizinische, 
sondern lediglich die praktischen Gesichtspunkte der erwiesenen 
Hülfslosigkeit oder Gemeingefähiiichkeit ausschlaggebend sein 
dürfen“. — 

Nach dieser Auffassung würde die Bedeutung der Irrenan¬ 
stalten vorzugsweise darin liegen, dass sie einerseits Asyle für 
die Hülflosen, andererseits Internirungsgelegenheiten für die Ge¬ 
meingefährlichen wären. In dieser schiefen Auffassung liegt eine 
grosse Gefahr, sowohl für die Geisteskranken selbst, als auch für 
die wissenschaftliche Forschung, die Psychiatrie, sie bedeutet einen 
Rückschritt heute, wo gerade vor 100 Jahren, um mit den Worten 

7* 



100 


Dr. Meyhöfer. 


eines Schriftstellers 1 ) zu reden, Pinel die Ketten der Irren brach 
und sie zur Würde von Kranken erhob. 

Nach dieser Richtung hat die Erklärung des Herrn Ministerial- 
'Direktors im Abgeordnetenhause am 10. v. Mts. beruhigend gewirkt, 
welche folgendermassen lautete: „Zunächst die Aufnahmefrage. 
Die Wissenschaftliche Deputation steht im Allgemeinen auf dem 
Standpunkt, dass in diesem Punkte die bestehenden Vorschriften 
vielleicht zu verschärfen wären. Aber, m. H., es ist dabei doch 
nicht zu vergessen, dass eine solche Verschärfung mit grosser 
Vorsicht gehandhabt werden müsste, denn es kommen doch auch 
nicht selten Fälle vor, in denen die Erschwerung der Aufnahme 
eines so unglücklichen Kranken in eine Irrenanstalt unter Um¬ 
ständen eine grosse Härte ist, — für ihn und seine Angehörigen. 
Man wird also suchen müssen, die richtige Mitte zu finden, und 
wie das zu geschehen hat, das unterliegt noch weiterer Erwägung.“ 

An einer anderen Stelle seiner Ausführungen erklärt der 
Herr Ministerial-Direktor, nachdem er die zur Zeit bestehenden 
Vorschriften erläutert hat: „Die Staatsverwaltung ist auch in der 
That nicht in der Lage, eine andere Garantie zu bieten, als das 
Gutachten eines beamteten Arztes gewährt.“ 

Diese Erklärung, m. H., ist eine sehr erfreuliche, wir dürfen 
in ihr eine Antwort erblicken auf die Forderung des Keuzzeitungs- 
Aufrufes, dass die Entscheidung „über jede Internirung in eine 
Irrenanstalt, bei der es sich nicht um einen plötzlich in gefahr¬ 
drohender Weise hervortretenden Ausbruch von Geistesstörung 
handelt, in die Hand einer Kommission unabhängiger Männer ge¬ 
legt werden solle, die das Vertrauen ihrer Mitbürger geniessen.“ 

Dieses Verlangen nach einer Kommission unabhängiger, das 
Vertrauen ihrer Mitbürger geniessender Männer ist schon seitens 
mehrerer Aerztekammern beleuchtet und zurückgewiesen worden. 
Dasselbe zeigt in der That, wie Mendel treffend sagt, eine durch 
Sachkenntniss nicht getrübte Subjektivität, und beruht auf einer 
völligen Unkenntniss des Wesens der Geisteskrankheiten und des 
Verhaltens der Geisteskranken. Eine solche Kommission würde 
oft zu wunderlichen Ergebnissen gelangen. Wir Physiker kennen 
wohl Alle aus der Erfahrung nicht wenige Fälle, in welchen der 
explorirende Richter nach völlig resultatlosem Examen die Führung 
des Gespräches dem Sachverständigen überlassen und dann erst 
nach kurzer Zeit über die Wahnvorstellungen des Provokaten 
sich belehren lassen muss. Wie mancher gebildete Verrückte 
wird einer von Sachkenntniss unbeeinflussten Laienkommission als 
ein völlig gesunder, scharfdenkender und geistreicher Mann 
erscheinen. 

Würde man die Entscheidung, ob ein Mensch geisteskrank 
ist und der Aufnahme in eine Irrenheilanstalt bedarf, einer solchen 
Kommission überlassen, welche nur „die praktischen Erwägungen“ 
als entscheidend anerkennen sollte, so würde man einen Zustand 


') Hermann Reuss: „Der Rechtsschutz der Geisteskranken“, Leipzig. 
18N8. R o s s be rg ’ sehe Buchhandlung. S. 10. 



Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens. 


101 


sanktioniren, der den schlimmsten Missbräuchen und den ärgsten 
Willkürmassregeln Thor und Thür öffnete. 

Wenn ich demnach für eine Verschärfung der Aufnahme¬ 
bedingungen nicht eintreten kann, so habe ich mich im Gegentheil 
tragen müssen, ob nicht etwa insofern eine Erleichterung eintreten 
könne, als von der Beibringung eines Physikatsattestes Abstand 
genommen werden dürfe. M. H., ich betrachte die Rolle, welche 
der Physikus hierbei zu spielen hat, rein sachlich; ich habe nur 
die Sicherheit vor Augen, welche durch seine Mitwirkung den 
Betheiligten geboten werden solle, lasse aber das Moment, welches 
in der Aufbesserung seiner Stellung dabei gefunden werden könnte, 
völlig ausser Augen. Und da muss ich doch sagen, dass in der 
jetzt geforderten Mitwirkung des Physikus nicht selten eine erheb¬ 
liche Härte erblickt werden muss. Wenn die Verhältnisse überall 
so liegen möchten, wie an meinem Wohnort, wo durch meine der 
am Platze befindlichen Anstalt abgestatteten Besuche den Kran¬ 
ken keine nennenswerthe Kosten erwachsen, dann Hesse sich gegen 
die Bestimmung nichts Erhebliches einwenden. Es giebt aber 
eine ganze Reihe von Anstalten, die fern von dem Sitze des 
Physikus gelegen sind, und bei diesen verursachen die von dem¬ 
selben zu machenden Besuche den Kranken doch recht erhebliche 
Unkosten. — Ich meine nun, unseren nicht beamteten Kollegen 
dürfe wohl das Zutrauen geschenkt werden, dass sie ein zuver¬ 
lässiges Gutachten über die Nothwendigkeit der Unterbringung 
eines Geisteskranken abgeben werden, und ich halte den §. 239 
des R.-Str.-G. für ausreichend, um jeden Aussteller eines solchen 
Attestes der Bedeutsamkeit seines Handelns sich bewusst bleiben 
zu lassen. 

Hierzu ist aber die Durchführung einer sorgfältigen Beauf¬ 
sichtigung erforderlich. Die Allgemeinheit hat gegenüber einer 
so tief in das Leben des Einzelnen und der Familie einschneiden¬ 
den Massregel, wie die Unterbringung eines Kranken in eine 
Irrenanstalt, unbedingt das Recht, eine strenge Beaufsichtigung 
des Irrenwesens vom Staate zu verlangen. Ferner besteht zwischen 
einer Heilanstalt für allgemein Kranke und einer Irrenanstalt 
immer der grosse Unterschied, dass in die eine die Kranken frei¬ 
willig, in die andere oft oder meist unfreiwillig gehen. 

Bis jetzt war die Beaufsichtigung der Privat - Irrenanstalten 
eine sehr milde. Die ganze Sache lief darauf hinaus, dass in 
einem Halbjahr der Regierungs-Medizinal-Rath, in dem andern 
der Physikus die vorgeschriebene Revision abhielt. Hierin ist 
eine Aenderung erforderlich, insbesondere mit Rücksicht auf die 
zahlreichen Anstalten, welche in den Händen von Nichtärzten sich 
befiuden. Gegen eine derartige schärfere Ueberwachung sträuben 
sich auch keineswegs die ihrer Aufgabe gewachsenen Psychiater, 
welche Anstaltsleiter sind, im Gegentheil, sie wünschen eine solche, 
weil sie mit Recht in ihr den besten Schutz für sich gegen unge¬ 
rechtfertigte Anschuldigungen erblicken. 

Völlig unberechtigt ist die jetzt vielfach im Interesse der 
Sicherstellung der persönlichen Freiheit erhobene Forderung, dass 



102 


Dr. Meyhöfer. 


die Aufnahme eines Geisteskranken nur nach voraufgegangener 
Entmündigung desselben erfolgen solle. Abgesehen von der damit 
verbundenen Verzögerung der Aufnahmen, den sehr erheblichen 
Kosten, den Unzuträglichkeiten bei eingetretener Wiedergenesung, 
würde das Verfahren gegen viele Kranke eine Grausamkeit 
bedeuten und den unglücklichen Zustand derselben arg verschlimmern. 
Man denke nur an einen Melancholiker, welcher in der Vorstellung 
lebt, eine schwere Schuld auf sich genommen zu haben; welche 
Seelenqualen würde es diesem bereiten, wenn er zum Zwecke der 
Entmündigung einem gerichtlichen Verfahren unterworfen werden 
sollte. 

Was nun die Beaufsichtigung der Irrenanstalten anbetrifft, 
so äusserte sich hierzu der Herr Ministerial - Direktor folgen- 
dermassen: „Wir sind mit dem Herrn Vorredner der Auffas¬ 
sung, dass die Kraft eines einzelnen Beamten nicht genügt, um 
eine hinreichende Aufsicht zu üben; wir sind der Meinung, dass 
eine Kommission, die wir salva redactione Besuchskommission 
genannt haben, einzusetzen sein wird für bestimmte Bezirke, 
bestehend aus einem hervorragenden Kenner der Psychiatrie, etwa 
dem Direktor einer Irrenanstalt, aus einem höheren Verwaltungs¬ 
beamten und aus sonst geeigneten, auch von dem Herrn Vorredner 
gekennzeichneten Elementen. Diese Besuchskommission würde 
die Irrenanstalten, die ihr bezirksweise unterstellt sind, nicht 
blos nach der Seite der sanitären Einrichtungen zu untersuchen 
haben, sondern namentlich auch nach der Seite der Kranken¬ 
geschichte jedes einzelnen Patienten; sie würde berufen sein, 
deren Beschwerden und diejenigen ihrer Angehörigen entgegen zu 
nehmen, und so würde die Kommission ein reiches und ergiebiges 
Feld der Thätigkeit haben.“ 

Die Einsetzung derartiger Besuchskommissionen, wie sie in 
manchen Ländern schon vorhanden sind, kann nur als ein durch¬ 
aus zweckmässiges Vorhaben bezeichnet werden. Es wird aber 
bei der Zusammensetzung derselben mit grosser Sorgfalt vorge¬ 
gangen werden müssen, wenn man etwa den Wünschen des von 
dem Herrn Ministerial-Direktor erwähnten Vorredners Rechnung 
tragen will, welche dahin gingen, dass bei der Kommission „nicht 
blos Aerzte, auch nicht blos Juristen sein sollen, sondern auch 
Männer aus anderen Ständen, die nicht nach Fachkenntnissen ur- 
theilen, auch nicht durch medizinische Gutachten beeinflusst sind, 
sondern auf den Augenschein sehen“. — 

M. H., wir wollen nicht hoffen, dass die Staatsregierung 
diesen Wünschen gar zu weit entgegenkommen möge. Fachkennt¬ 
nisse sind doch in keiner Spezialität ein Hinderniss für die richtige 
Beurtheilung einer in dieselbe gehörigen Sache, und eine Spezialität, 
und zwar eine sehr schwierige, ist und bleibt die Lehre von den 
Geisteskrankheiten innerhalb des Rahmens der allgemeinen medi¬ 
zinischen Wissenschaft. Welches Unheil würde eine Kommission 
anrichten, welche Missgriffe würde sie begehen können, wenn in 
ihr das Laienelement die Oberhand hätte, und sie wirklich die 
Irrenanstalten namentlich auch nach der Seite der Krankengeschichte 



Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens. 


103 


jedes einzelnen Patienten untersuchen und die Beschwerden des¬ 
selben entgegennehmen solle! Würden die Kommissionen gar noch 
das Recht der Initiative erhalten und ihnen gesund scheinende 
Kranke womöglich sofort entlassen dürfen, dann würde die ganze 
Existenzfähigkeit der Anstalten in Frage gestellt werden können. 
Ich meine also, dass das Laienelement in der Kommission zurück¬ 
treten müsse, da die Sachkenntnis der Aerzte kein Grund sein 
könne, sie als minder geeignet erscheinen zu lassen wie die Laien. 

Sehr zweckmässig aber ist es, wenn ein Verwaltungsbeamter, 
vielleicht auch ein Techniker, in der Besuchskommission enthalten 
ist, denn gerade nach der verwaltungs- und bautechnischen Seite 
werden diese für den eigentlichen Revisor, den sachverständigen 
Psychiater, ein schätzenswerther Beistand sein. Dieser Psychiater 
wird aber zweckmässiger Weise ein solcher sein müssen, welcher 
eine Anstalt wirklich selbstständig geleitet hat oder noch leitet; 
denn nur er wird im Stande sein, in sachgemässer Weise 
eine gründliche Revision des komplizirten Getriebes einer Irren¬ 
anstalt so vorzunehmen, dass ihm etwaige Mängel nicht ent¬ 
gehen. 

Eine solche Kommission kann sehr segensreich wirken. Nicht 
sowohl sehe ich den Hauptnutzen derselben darin, dass sie Fällen 
von ungerechtfertigter Einsperrung nachspüre, also eine vor¬ 
wiegend polizeiliche Aufgabe erfülle, als vielmehr darin, dass sie 
dem Anstaltsinhaber gegenüber berathend, belehrend und anspor¬ 
nend zur Seite stehe, damit dieser seine sämmtlichen Einrichtungen 
dauernd gleichmässig auf der Höhe der Zeit zu halten bestrebt 
bleibe. Nach aussen hin werden sie ja gleichzeitig ängstlichen 
Gemüthern, welche durch das Gespenst der widerrechtlichen Frei¬ 
heitsberaubung gequält werden, zur Beruhigung gereichen. Darauf, 
dass in diesen Kommissionen nur Direktoren öffentlicher An¬ 
stalten mitwirken, braucht wohl kaum ein Gewicht gelegt zu 
werden. Tüchtige Leiter von Privatanstalten weiden sich als 
Revisoren ebensogut eignen. 

Für erforderlich halte ich es, dass der zuständige Kreis- 
Physikus das geborene Mitglied der Kommission ist. Er muss in 
erster Linie Gelegenheit haben, die Anstalten seines Bezirkes 
genau kennen zu lernen, denn seiner Mitwirkung wird die auf¬ 
sichtsführende Behörde nicht entrathen können. Finden sich 
Mängel bei einer Revision, dann wird er gerade derjenige sein, 
welcher darüber zu wachen, sich davon zu überzeugen hat, dass 
dieselbe so schleunig wie möglich beseitigt werden. — Er wird 
im Gegensatz zu den periodischen Revisionen der Kommissionen 
die fortlaufende Aufsicht über die Privatanstalten zu führen haben. 

Wenn in dieser Weise die Aufsicht umgestaltet wird, dann 
sehe ich keine Nothwendigkeit ein, auf der Herbeischaffung eines 
Physikatsattestes, um auf diesen Punkt zurückzukommen, zu 
bestehen. Die Diagnose der Krankheit und Nothwendigkeit der 
Aufnahme kann ruhig der Hausarzt bescheinigen, oft gewiss besser 
als der nur einmal hinzugezogene Physikus; an letzteren muss 
die Meldung nebst ärztlichem Attest gelangen, und er hat auf 



104 


Dr. Meyhöfer. 


Grund dersselben zu prüfen, ob eine sofortige Untersuchung von 
ihm noch vorzunehmen sei. — 

Dass auch eine ausschliesslich vom Kranken selbst zum 
Zwecke der Erlangung von Genesung gewünschte Aufnahme erfol¬ 
gen könne und müsse, halte ich für selbstverständlich. 

Hierdurch würde in diesem Punkte die Stellung des Physikus 
zu der einer Behörde erhoben werden, und es könnte damit noch 
etwas beseitigt werden, was ich als einen Uebelstand bezeichnen 
möchte: Die Aufnahme von Geisteskranken muss in vielen 
Fällen so diskret vor sich gehen, dass die weitere Umgebung 
derselben davon nichts erfahrt. Zwar sind die Zeiten vorbei, in 
welchen der Ausbruch von Geisteskrankheit als ein Ereigniss 
angesehen wurde, welches nicht blos den Ruf des Kranken, sondern 
das Ansehen der Familie desselben zu schädigen geeignet wäre, 
indessen können viele Personen nur schwer die wirthschaftlichen 
Nachtheile ertragen, welche ihnen nach Genesung von Geistes¬ 
krankheit aus dem Umstande erwachsen, dass ihre Krankheit dem 
Publikum nicht verborgen bleiben konnte. Es muss heute nun 
die Anzeige von der erfolgten Aufnahme ausser an den zuständigen 
Staatsanwalt, welcher ja zuerst berufen ist, die Interessen des 
Erkrankten zu vertreten, noch an die Polizeibehörde seines Heimaths- 
ortes und desjenigen Ortes gelangen, in welchem die Anstalt 
gelegen ist. Ich habe niemals einsehen können, was diese polizei¬ 
lichen Meldungen bezwecken sollen; aus langjähriger Erfahrung 
weiss ich, dass dadurch nur das Schreibwerk vennehrt und 
höchstens bewirkt wird, dass die Thatsache der erfolgten Auf¬ 
nahme eine unerwünschte Publizität erhält. Am meisten gilt dies 
natürlich von der Anzeige bei der Polizeibehörde des Heimaths- 
ortes des Kranken. Eine Zentralstelle muss selbstverständlich von 
der Aufnahme der Kranken in einer Anstalt fortlaufend Kenntniss 
erhalten, dies könnte aber sehr wohl das Bureau des zuständigen 
Kreispliysikus sein. Bei der Polizeibehörde brauchten nur die 
Formalitäten erfüllt zu werden, welche für jeden seinen Aufent¬ 
halt wechselnden Staatsbürger durch die Bestimmungen des Melde¬ 
wesens festgelegt worden sind. — 

Die Beaufsichtigung der öffentlichen Anstalten wird aus 
naheliegenden Gründen eine einfachere sein können. Sie ist aber 
nicht überflüssig, und würde das Fehlen einer jeden Ueberwachung 
auch ohne Analogon auf dem Gebiete unseres ganzen Verwaltungs¬ 
wesens sein. Allerdings werden hier die Revisionen seltener 
stattfinden können wie bei den Privatanstalten, aber auch bei ihnen 
werden die Besuchskommissionen ein genügend grosses Feld für 
die Entwickelung einer anregenden und fördernden Thätigkeit finden. 

Was nun die Entlassung von Geisteskranken anbe¬ 
trifft, so Hessen sich wohl kaum Vorschläge machen, wie die per¬ 
sönliche Freiheit, soweit dies mit dem Zustande der Kranken sich 
verträgt, noch mehr gewährleistet werden sollte, als dies zur Zeit 
der Fall ist. Aus Privatanstalten können die Angehörigen jeden 
Augenblick den Kranken nach Hause holen. Daran,dass in öffent¬ 
lichen Anstalten ein Mensch widerrechtlich festgehalten werden 



Zar staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens. 


105 


sollte, können ernsthaft nur solche denken, die von dem Organis¬ 
mus derartiger Anstalten, von der Ueberfullung derselben, unter 
welcher ihre Leiter schwer zu seufzen haben, keine Vorstellung 
besitzen. 

Zu den weiteren Sorgen der staatlichen Beaufsichtigung 
gehört die Konzessionirung neuer Privatanstalten. — 
Nach §. 30 der Gewerbeordnung erhält Jeder, der die genügende 
Gewähr für Zuverlässigkeit bietet, eine Konzession zur Errichtung 
einer Irrenanstalt. Sache der behördlichen Vorprüfung bleibt nur 
die bautechnische Beschaffenheit der in Aussicht genommenen 
Räumlichkeiten. Ueber die ärztliche Besorgung von Kranken in 
Privat-Irrenanstalten ist für Preussen nur in dem Ministerial-Er¬ 
lass vom 19. Januar 1883 gesagt, dass in Krankenanstalten, welche 
heilbare Irre aufnehmen, mindestens ein Arzt wohnen müsse. 

Der Einrichtung von Privat-Irrenanstalten dürfen ungerecht¬ 
fertigte Schwierigkeiten nicht in den Weg gelegt werden, zunächst 
schon deshalb nicht, weil die öffentlichen Anstalten den Anforde¬ 
rungen bei Weitem nicht genügen. Im Jahre 1891 beherbergten 
in Deutschland 114 Privatanstalten 12 983 Kranke, wodurch das 
Bedürfhiss für diese Anstalten schlagend nachgewiesen ist. Ausser¬ 
dem aber geschieht die Aufnahme eines Geisteskranken in die 
Provinzial-Anstalten sehr langsam, viel langsamer als es im 
Interesse der Kranken und seiner Umgebung wünschenswerth ist, 
so dass aus diesem Grunde allein schon die Privat-Anstalten von 
den halbwegs zahlungsfähigen Familien bevorzugt werden müssen. 
Bei 30 dem Landkreise Görlitz angehörigen, aus den letzten Jahren 
von mir herausgegriffenen Geisteskranken dauerte es von dem 
Zeitpunkte der physikatsärztlichen Untersuchung (bei uns in 
Schlesien ist bei Unterbringung von Kranken in Provinzial-Irren- 
Anstalten die Untersuchung durch den Physikus erforderlich) im 
Durchschnitt 30 Tage bis zur Einlieferung. Ich habe aber auch 
Fälle erlebt, wo die Aufnahme erst nach vielen Monaten erfolgte. 

Selbst in dringlichen Fällen muss der Instanzenzug bei uns 
eingehalten werden. Auf eine diesbezügliche Anfrage erging unter 
dem 7. Juli 1888 von dem Landeshauptmann von Schlesien aus 
Breslau der Bescheid, „dass die Kreisphysiker nicht ermächtigt 
seien, die Gemeindevorstände zur umgehenden Ueberführung von 
Geisteskranken, für deren Leben eine unmittelbare Ge¬ 
fahr zu befürchten sei, in eine Provinzial-Irrenanstalt zu 
veranlassen, dass vielmehr jede Aufnahme von der Zentralstelle 
aus angeordnet werden müsse.“ 

Trotz zweifellos anzuerkennendem Bediirfniss ist es aber doch 
die Frage, ob das jetzt übliche Verfahren der Konzessionsertheilung 
das richtige sei, ob nicht vielmehr strengere Anforderungen an 
den Nachsuchenden zu stellen sein dürften als dies bisher geschah. 

Sie kennen Alle die an den Herrn Reichskanzler unter dem 
29. September v. J. eingereichte Petition des Steglitzer Haus- und 
Grundbesitzervereins, in welcher die Nachtheile hervorgehoben 
werden, welche durch eine übermässige Vermehrung der Privat- 
Irrenanstalten der Anwohnerschaft und dem ganzen betreffenden 



106 


Dr. Meyhöfer. 


Orte erwachsen sollen. Ich halte diese Petition für nicht unbe¬ 
gründet, bin aber nicht der Ansicht, dass diese rein volkswirth- 
scha ft liehe Frage in unsere heutige Besprechung hineingehört. 
Wohl aber glaube ich, dass die Interessen der Kranken eine Aen- 
derung bezw. Verschärfung der bisherigen Bestimmungen wünschens¬ 
wert machen dürften. 

Ich halte es für bedenklich, dass der §. 80 der Gewerbe¬ 
ordnung die Irren - Anstalten mit den übrigen Krankenanstalten 
zusammenwirft, da die Geisteskranken, wie ja schon durch die 
ganze neuere Bewegung bewiesen wird, eine grössere Berück¬ 
sichtigung, einen intensiveren Schutz erheischen als die anderen 
Kranken. Dies wird ja auch in Bezug auf die Konzessionirung 
durch die Ministerial-Verfügung anerkannt, welche verlangt, dass 
in Anstalten, welche heilbare Geisteskranke aufnehmen, mindestens 
ein Arzt wohnen solle. 

Diese letztere Bedingung halte ich für erweiterungsbedtirftig, 
ich meine, dass dieselbe fiir alle Privat-Irren-Anstalten, auch für 
solche, welche nur Unheilbare aufnehmen, also für die Pflege¬ 
anstalten gelten sollte. Der Begriff der Heilbarkeit bei Geistes¬ 
krankheiten ist ein schwankender, dehnbarer, der eine Psychiater 
ist eher geneigt, denselben aufzustellen als der andere. Spät¬ 
heilungen kommen doch gegen alle Voraussicht nicht so gar selten 
vor, so bei der akuten halluzinatorischen Verrücktheit, dem Er¬ 
schöpfungsstupor, ja selbst bei der Paralyse. Jedenfalls bedürfen 
auch Pfleglinge fortgesetzter ärztlicher Ueberwachung. Diese ist 
aber nicht gewährleistet, wenn die Anstalt in dem Besitz eines 
nicht ärztlichen Geschäftsmannes, einer Arztwittwe u. s. w. sich 
befindet, und der berathende und behandelnde Arzt nur in locke¬ 
rem Zusammenhänge mit der Anstalt steht. Ich habe meine Er¬ 
fahrungen in diesem Punkte, da ich mehrere Jahre ein solcher 
Anstaltsarzt an einem Pensionate fiir unheilbare weibliche Geistes¬ 
kranke gewesen bin, welche in dem Besitze der Wittwe eines 
Kollegen sich befand. Es war mir schlechterdings unmöglich, eine 
fortlaufende Ueberwachung zu führen, und erst nach Eingehen der 
sogen. Anstalt, als diejenigen redeten, welche vorher geschwiegen 
hatten, erfuhr ich, dass die wenigen Kranken keineswegs so be¬ 
handelt und verpflegt worden waren, wie dies vom Standpunkte 
der Menschlichkeit hätte gefordert werden müssen. 

Ich bin der Ansicht, dass es zweckmässig wäre, zu ver¬ 
langen, dass der Konzessionsnachsuchende ein Arzt sein oder einen 
Anstaltsarzt präsentiren müsse, welcher allein die Verantwortlich¬ 
keit zu tragen und ausschliesslich mit der Aufsichtsbehörde zu 
verkehren hätte. Eine Schwierigkeit, die Bestimmung der Gewerbe¬ 
ordnung durch eine diesbezügliche Novelle zu ergänzen, kann ich 
nicht anerkennen; hat es doch beispielsweise keine Schwierigkeiten 
gemacht, die schrankenlose Gewerbefreiheit auf anderen Gebieten 
durch Novellen zum Gesetz, welche den Befähigungsnachweis ein¬ 
führten, einzuengen. 

Wenn ich nun schliesslich das Ihnen Vorgetragene zusammen¬ 
fassen soll, so glaube ich dies kurz dahin thun zu können: 



Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens. 


107 


1. Eine sorgfältige Ueberwachung der Irrenanstalten ist er¬ 
forderlich; mit derselben darf aber nicht eine Erschwerung der 
Aufnahme eines Geisteskranken verbunden sein, da die möglichst 
schleunige Unterbringung desselben im Sinne der Heilbarkeit ge¬ 
boten ist. 

2. Die durch die Königliche Staatsregierung angekündigte 
Einsetzung von Besuchskommissionen ist als eine höchst zweck¬ 
entsprechende Massregel zu begrüssen. Sie wird geeignet sein, 
das im Publikum verbreitete Misstrauen bezüglich der Möglichkeit 
einer ungerechtfertigten Freiheitsberaubung zu beseitigen und auf 
den Betrieb, sowie die Einrichtungen der Anstalten, sowohl der 
privaten als auch der öffentlichen, forderlich einzuwirken. 

3. Diesen Besuchskommissionen soll der zuständige Physikus 
eo ipso als Mitglied angehören, er soll — abgesehen von den 
periodischen Revisionen — die fortlaufende Ueberwachung der 
Privat - Irrenanstalten ausüben. 

4. Bei Aufnahme eines Geisteskranken in letztere muss die 
Anzeige, ausser an die Königliche Staatsanwaltschaft des Heimaths- 
bezirkes des Kranken, gleichzeitig an den für die Anstalt zu¬ 
ständigen Physikus erstattet werden, an letzteren unter Einreichung 
des zur Aufnahme erforderlichen ärztlichen Attestes. Die Bei¬ 
bringung eines Physikatsattestes ist nicht unbedingt erforderlich. 

5. An die Polizeibehörden haben Anzeigen lediglich nach 
Massgabe des allgemein gültigen Meldewesens zu erfolgen. 

6. Die Gewerbeordnung ist bezüglich des Verfahrens bei Er¬ 
richtung neuer Privat - Irrenanstalten durch eine Novelle dahin zu 
ergänzen, dass der Konzessionsnachsucher ein Arzt sein oder einen 
Anstaltsarzt präsentiren muss, welcher allein die Verantwortlich¬ 
keit zu tragen und ausschliesslich mit der Aufsichtsbehörde zu 
verkehren hat. 

(Lebhafter Beifall.) 

Diskussion. 

H. Kr.-Wundarzt Dr. Peyser: Ich möchte mich nur gegen einen Punkt 
in den Ausführungen des Herrn Vorredners wenden, und das ist der, dass die 
Bestimmung, es solle die Aufnahme eines Geisteskranken in eine Privat-Irren- 
Anstalt nur auf Grund eines Physikatsattestes erfolgen, aufgehoben werden soll. 
Hiergegen muss ich mich entschieden erklären. Der Herr Kollege hat uns ja 
ein lebhaftes Bild der Kämpfe entworfen, die im preussischen Abgeordnetenhause 
stattgefunden haben, und die uns zeigen, wie man bestrebt ist, gegen die Wissen¬ 
schaft der Psychiatrie als solche vorzugehen, wie man das Laienurtheil über das 
des Fachmanns stellt. Gewiss sind wir darin einverstanden, dass eine Er¬ 
schwerung der Aufnahme in diesen Anstalten nicht erfolgen solle, aber gegenüber 
Bestrebungen, wie sie der Referent geschildert, die einzige Massregel aufheben, 
die heute noch, wenn ich so sagen soll, als eine Art Kautele besteht, halte ich 
nicht für woklgethan. Das hiesse nur Wasser auf die Mühle gerade jener 
Herren liefern. Ich bin aber auch zur Sache selbst nicht der Meinung, dass 
psychiatrische Kenntnisse im Allgemeinen im ärztlichen Stande so verbreitet 
sind, um eine Garantie zu bieten, dass die Aufnahme immer in der richtigen 
Weise geschieht. Ist eine schnelle Aufnahme nüthig, nun, so kann sie ja auch 
heute schon vorläufig ohne Physikatsattest erfolgen, nur dass der zuständige 
Physikus nachträglich dasselbe auszustellen hat. Also eine Gefahr für den 
Kranken liegt ganz gewiss nicht vor. Dagegen läge die Gefahr vor, dass die 
Privat-Irrenanstalten unter Umständen die ihr zugewiesenen Kranken als nicht 
geisteskrank zurückweisen müssten. Man erlebt ja in der Privatpraxis auf 



108 


Dr. Meyhöfer. 


diesem Gebiete die allereigenthümlichsten Dinge, und ich glaube, gerade die 
Psychiatrie ist ein Fach, das von den meisten Kollegen nicht so kultivirt wird, 
wie es geschehen müsste. Damit will ich nicht sagen, dass wir Medizinal¬ 
beamte etwa ein Recht hätten, ans nun als besondere Psychiater anfzuspielen. 
Bei Weitem nicht 1 Ich glaube, eine solche Illusion muss gegenüber dem Vor¬ 
trage, den wir von Herrn Kollegen Leppmann heute gehört haben, ver¬ 
schwinden. Aber man verlangt doch von uns im Physikatsexamen, dass wir 
uns wenigstens mit den Elementen der Psychiatrie beschäftigt haben, dass uns 
die Grundbegriffe derselben klar geworden sind, und das ist doch schon etwas. 

Ich bin früher weiter gegangen. Ich habe im Brandenburgischen Provinzial¬ 
landtage, als damals die Irrenpflege geregelt wurde und aus der Initiative der 
Staatsregierung ein Reglement für die Landesirrenanstalt vorgelegt wurde, mit 
der Regierung zusammen dafür gewirkt, dass zur Aufnahme in die Landes¬ 
irrenanstalten auch ein Physikatsattest nöthig sei. Das wurde seitens der Land¬ 
tagsabgeordneten als ein Streben aufgefasst, die materielle Lage der Physici 
zu verbessern. Nichts lag mir ferner. Es sollte aber eine gewisse Garantie 
geboten werden, dass in sachverständiger Weise die Fälle von Geisteskrankheit 
festgestellt und den zuständigen Anstalten zugewiesen würden. Ich wundere 
mich, dass so ungeheuerliche Fälle von Verschleppung Vorkommen sollten, wie 
sie der Kollege uns aus Schlesien gemeldet hat. Das ist bei uns in Brandenburg 
vollkommen unmöglich. Der Geschäftsgang ist klar vorgezeichnet: Der Arzt 
füllt einen Fragebogen aus, wie er für die Aufnahme in die Provinzial-Anstalten 
allgemein gültig ist. Dieser Fragebogen geht durch die Polizeibehörde an den 
Landesdirektor, der dann bestimmt, in welche der Landes - Irrenanstalten der 
Kranke aufzunehmen ist. Dass da einige Wochen vergehen, ist ja gar keine 
Frage. Auf der anderen Seite aber haben wir das Recht, gemeingefährliche 
Irre ohne Weiteres in die nächstgelegene Irrenanstalt überzuführen und das 
nöthige Attest nachzuliefern. Freilich würden wir, wenn wir in der Psychiatrie 
nicht sicher sind, uns der Gefahr aussetzen, dass der Direktor unsere Diagnose 
nicht für richtig hält und den Kranken zurückweist. Wie also solche Fälle, wie 
der Herr Referent erwähnt hat, Vorkommen können, verstehe ich nicht. 

Der Physikus ist für diese Dinge zuständig, denn abgesehen von den 
psychiatrischen Kenntnissen geht den praktischen Aerzten auch oft die Kennt- 
niss der gesetzlichen Verhältnisse, überhaupt des Geschäftsganges ab, sie wissen 
oft gar nicht, wie sie es zu machen haben, um sich eines solchen Irren zu ent¬ 
ledigen. Das kommt sehr häufig vor und bewirkt gerade Verzögerungen. Bei 
dem Physikus passirt das so leicht nicht. 

Was nun die Kosten betrifft, die nach Ansicht des Referenten aus der 
Zuziehung des Physikus namentlich auf dem Lande oft erwachsen, so können 
wir ja hier nach den vorliegenden Bestimmungen nur von den Privat-Anstalten 
sprechen. Wer aber einen Kranken in eine Privat - Irrenanstalt bringen will, 
besitzt wohl immer genug, um auch den Physikus zu bezahlen, und wenn wir 
einmal, wie ich wünsche, dahin kommen, dass für die öffentlichen Irrenanstalten 
auch wieder der Physikus in sein Recht eingesetzt würde, dann ist ja der Orts¬ 
armenverband vorhanden, der eventuell für die Kosten einzutreten hat. Ich 
glaube, die Zeit ist nicht dazu angethan, um diese geringe Kautele bei der Auf¬ 
nahme zurückzuweiscn, und vor allen Dingen nicht dazu angethan, um die 
Stellung des Physikus noch mehr herabzudrücken. (Beifall.) 

H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Philipp: Der Herr Referent hat vorhin 
davon gesprochen, dass das jetzige Verfahren bei der Konzessionirung der Irren¬ 
anstalten ein zu leichtes sei, dass eine Anzahl von Personen die Konzession 
bekommen, ohne dass sie irgend welche Garantie dafür bieten, dass sie mit 
Geisteskranken umzugehen und eine Anstalt zweckentsprechend zu leiten ver¬ 
stehen, und ich kann dem Gesagten nur vollständig beistimmen. Ich möchte 
ausserdem noch auf etwas Anderes hinweisen, was mit diesem Konzessionirungs- 
wesen in Verbindung steht, nämlich auf das Verfahren bei Entziehung der 
Konzession. Hier müssen jedenfalls Mittel gefunden werden, um in besonderen 
Fällen eine solche nothwendige Massregel möglichst schleunig durchführen 
zu können. 

Ich bin zu dieser Bemerkung veranlasst durch einen Spezialfall, der sich 
innerhalb meines Wirkungsgebietes ereignet hat. Vor einigen Jahren machte 
eine frühere Oberwärterin eine kleine Privat-Irrenanstalt auf. In Folge von 



Zur staatlichen Beaufsichtigung des Irrenwesens. 


109 


Unerfahrenheit in geschäftlichen Dingen hatte sie das Grundstück dazu so theuer 
bezahlt, dass sie von vornherein bankerott war. Ihre ganze Wirksamkeit als 
Anstaltsleiterin war daher eine Kette von traurigsten geschäftlichen Verpflich¬ 
tungen. Diese Darae ist nun also seit Jahren vollständig zahlungsunfähig; 
Zwangsvollstreckungen haben bei ihr häufig stattgefunden, das Grundstück hat 
mehrmals zur Subhastation gestanden. Sie hat 17 Pfleglinge, welche ihr von 
der Stadt Berlin überwiesen sind. Seit dem September vorigen Jahres sind 
jedoch die städtischen Pensionsgelder für diese Pfleglinge gerichtlich gepfändet, 
und es findet sich also der interessante Fall vor, dass die Stadt Berlin die für 
die Verpflegung ihrer Kranken zu zahlenden Gelder an deu Gerichtsvollzieher 
zahlen muss. Ich habe im vorigen Jahre bereits darüber berichtet, und es ist 
ja auch in Aussicht genommen, das Konzessionsentziehungsverfahren einzuleiten. 
Es werden aber von der betreffenden Besitzerin der Irrenanstalt immer neue 
Ausflüchte gemacht, — die unglückliche Frau lügt nämlich in der unglaublichsten 
Weise — und bis jetzt ist ein Resultat noch immer nicht erzielt worden. Die 
Anstalt wird voraussichtlich erst eingehen, wenn durch die Belegung der neuen 
städtischen Irrenanstalt bei Lichtenberg es möglich sein wird, die Kranken aus 
der Privat-Irrenanstalt herauszunehmen. Ob die 17 Pfleglinge bis dahin ver¬ 
hungert sein werden, weiss ich nicht. Thatsächlich sind die Verhältnisse aber 
so, dass nur unter den grössten Schwierigkeiten die nöthigen Lebensmittel für 
die Kranken beschafft werden können; von einer entsprechenden Wartung und 
Pflege ist keine Rede. 

Vorsitzender: Ich werde mir erlauben müssen zu dieser Sache das Wort 
zu nehmen, da ich mit derselben auch zu thun gehabt habe. Es ist thatsächlich 
richtig, was Herr Philipp dargelegt hat, dass es mit den finanziellen Verhält¬ 
nissen der Frau, welche die betr. Irrenanstalt bis jetzt führte, schlecht ge¬ 
standen hat und wohl auch noch steht. Die Frau hat jedoch immer noch so 
viel beschafft, dass die Anstalt in angemessener Weise hat bestehen können. 
Ernste Bedenken hinsichtlich der Leitung derselben entstanden indessen dadurch, 
dass binnen kurzer Zeit mehrere Entweichungen von Pfleglingen vorkamen. 
Diese Pfleglinge (3) hatten keineswegs das Bedürfnis, überhaupt einer Irren¬ 
anstalt zu entfliehen, sondern sie begaben sich geraden Weges nach der Berliner 
Anstalt zu Dalldorf, weil sie derselben ursprünglich angehörten und daselbst 
besser aufgehoben zu sein meinten. Der Anstaltsbesitzerin wurde für den Fall, 
dass noch irgend eine Ungehörigkeit vorkäme, das Verfahren auf Entziehung 
der Konzession angedroht. Die Veranlassung zur Einleitung desselben trat bald 
ein. Die Anstaltsbesitzerin zeigte darauf an, dass sie die Anstalt an eine 
andere Frau abzugeben beabsichtige, welche sich auch bereits bei dem Bezirks¬ 
ausschüsse um die Konzession beworben habe. Die Entscheidung des Bezirks¬ 
ausschusses blieb demnach abzuwarten. Nachdem diese vor wenigen Tagen 
abschlägig erfolgt ist, ist sofort die Klage auf Entziehung der Konzession gegen 
die Inhaberin der Anstalt eingegeben, also in dieser Angelegenheit weder etwas 
versäumt, noch ungebührlich verzögert worden. 

H. gerichtl. Stadtphysikus und Sanitätsrath Dr. Mittenzweig (Berlin): 
M. H.! Es würde Sie Wunder nehmen, wenn ich heute gar nicht das Wort 
ergriffe; denn das in Rede stehende Thema ist für mich, besonders seitdem ich 
selbst Leiter einer Privat-Irrenanstalt bin, von grosser Bedeutung. Gleichwohl 
möchte ich heute hier nicht ausführlicher darüber sprechen, weil ich auf die 
einzelnen Fälle, die mir vorgekommen sind und mich selbst mit betroffen haben, 
spezieller eingehen und dadurch auch andere Herren, und zwar Psychiater von 
Rang in Mitleidenschaft ziehen müsste, die hier nicht zugegen sind und daher 
meine Angaben nicht kontroliren können. Ich muss ausserdem um so mehr 
davon abseheu, heute auf die betreffende Frage einzugehen, da die beiden Ge¬ 
sellschaften für Psychiatrie — die Deutsche Gesellschaft, an deren Spitze Herr 
Prof. Lähr steht und die Berliner Gesellschaft, an deren Spitze Herr Professor 
J o 11 y steht —, demnächst gemeinschaftlich über dieselbe sehr ausführlich dis- 
butiren und beschliessen werden. Auch habe ich leider den Vortrag des Herrn 
Kollegen Meyhöfer nicht anhören können, da ich eben erst aus einer Schwur¬ 
gerichtssitzung komme. 

Vorsitzender: Wünscht noch Jemand das Wort zu nehmen? 
Es ist nicht der Fall; ich schliesse damit die Diskussion. Eine 



110 


Schlusswort des Herrn Ministerialdirektors Dr. Bartsch. 


Abstimmung über die von dem Referenten gemachten Vorschläge 
ist weder von diesem noch von anderer Seite gemacht. 

Im Namen der Versammlung gestatte ich mir, dem Kollegen 
Meyhöfer für seinen interessanten Vortrag unsern verbindlichsten 
Dank auszusprechen. 

M. H.! Es wird jetzt angezeigt sein, die übliche Pause 
eintreten zu lassen. Vor Eintritt derselben wünscht jedoch H. 
Ministerialdirektor Dr. Bartsch, der auch heute wieder unsere 
Versammlung mit seinem Besuche beehrt hat, an diese einige 
Worte zu richten: 

Herr Ministerialdirektor Dr. Bartsch: Meine Herren! 
Durch anderweitige Amtsgeschäfte in Anspruch genommen, muss 
ich diesen Saal und diese Versammlung zu meinem Bedauern 
vor Schluss Ihrer Berathungen verlassen. Ich kann es aber 
nicht thun, ohne Ihnen im Namen des Herrn Ministers Dank 
und Anerkennung auszusprechen für die ruhige, ernste, sach- 
gemässe Art, mit welcher Sie unter der bewährten Leitung Ihres 
Herrn Vorsitzenden die Gegenstände Ihrer Tagesordnung behan¬ 
delt haben. 

Unter diesen Gegenständen sind einzelne von hervorragender 
Bedeutung: Dazu rechne ich vor Allem das gestern von Ihnen 
erörterte sogenannte Reichsseuchengesetz, dessen weiteres Schicksal 
nunmehr in den Händen des gegenwärtig wieder zusammentreten¬ 
den Reichstages ruht. Möchten doch die auf diesem Gebiete etwa 
noch bestehenden Meinungsverschiedenheiten sich ausgleichen und 
möchte das für die fernere sanitäre Entwickelung in unserem 
Vaterlande so wichtige Gesetz recht bald praktisches Recht werden! 
Nicht minder wichtig ist die ebenfalls gestern von Ihnen behandelte 
Stellung der Medizinalbeamten und die damit zusammenhängende 
Weiterführung der Medizinalreform überhaupt. Voraussichtlich 
wird das Reichsseuchengesetz hierauf von entscheidender Ein¬ 
wirkung sein; denn es wird die Stellung der Medizinalbeamten, 
ihre Zuständigkeit, ihren Wirkungskreis wesentlich verändern. 
Der Herr Minister hat es daher für gerathen erachtet, seine weitere 
Beschlussfassung über die Medizinalreform bis zum Inkrafttreten 
des Gesetzes zu vertagen. Inzwischen ist der Herr Mini¬ 
ster fortgesetzt darauf bedacht, die Stellung insbe¬ 
sondere der Herren Physiker zu verbessern, und der 
Herr Minister wird, wie ich erklären darf, nicht eher 
ruhen, als bis diese Frage einem gedeihlichen Ab¬ 
schlüsse entgegengeführt ist. Auch das, was heute hier 
verhandelt worden ist, hat mein lebhaftes Interesse erregt und 
ich darf Namens des Herrn Ministers versichern, dass die gege¬ 
benen Anregungen nicht unberücksichtigt bleiben werden. 

So stehen Sie denn nun, meine Herren, am Schlüsse Ihrer 
Verhandlungen und kehren heim, jeder zu seinem Berufe, jeder, 
wie man hoffen darf, gefördert und bereichert durch mancherlei 
nützliche Eindrücke und Erfahrungen. Möchten wir uns doch Alle 
Wiedersehen bei der XI. Hauptversammlung Ihres Vereins! Mit 



Bericht der Kassenrevisoren and Vorstandswahl. 


111 


diesem Wunsche verabschiede ich mich von Ihnen und sage Ihnen 
Allen bestens Lebewohl! — 

(Lebhafter Beifall.) 

Vorsitzender: Ich erlaube mir, im Namen des Vereins dem 
Herrn Ministerialdirektor unsern verbindlichsten Dank auszu¬ 
sprechen für das grosse Interesse, das er unserem Vereine und 
unseren Verhandlungen entgegenbringt. Ich bitte die Mitglieder, 
ihr Einverständniss durch Erheben von den Sitzen zu bekunden. 

(Geschieht.) 

(Hierauf Pause.) 


IV. Bericht der Kassenrevisoren nnd Vorstandswahl. 

Vorsitzender: M. H. Nach dem Bericht der Kassen¬ 
revisoren sind Kassenbücher und Kasse als richtig befunden 
worden und beantrage ich, dem Kassen- und Schriftführer nun¬ 
mehr Decharge zu ertheilen. 

(Zustimmung.) 

Was nun die Vorstandswahl anbetrifft, so bitte ich, von 
meiner Wiederwahl Abstand zu nehmen. Es ist mir wegen Ueber- 
lastung mit amtlichen Geschäften unmöglich, den Verpflichtungen 
zu genügen, denen ich mich als Vorsitzender nicht entziehen darf. 
Ich habe es schon seit langer Zeit beklagt, zu wenig für die 
Zwecke des Vereins thun zu können, und kann es nur der ausser¬ 
ordentlichen Thätigkeit der anderen Herren Vorstandsmitglieder 
danken, dass ich mich selbst in nur bescheidener Weise an den 
Verwaltungsgeschäften des Vereins habe zu betheiligen brauchen. 
Den sämmtlichen Herrn Mitgliedern bin ich für die grosse Nachsicht, 
welche sie mir stets haben zu Theil werden lassen, zu warmem 
Danke verpflichtet. 

Wünscht sonst noch Jemand vor der Vorstands wähl das 
Wort zu nehmen? 

H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: M. H. ! Auch ich bin mit 
der Absicht hierher gekommen, Sie zu bitten, mich nicht wieder in den Vorstand 
za wählen. Einestheils bin ich mit Arbeiten überlastet, and anderntheils empfinde 
ich schwer die Mängel meines Gehörs, die es mir sehr mühsam machen, den 
Verhandlungen zu folgen. Sie würden mir also einen Dienst erweisen, wenn Sie 
mich von dem Ehrenamte eines Vorstandsmitgliedes entlasten. Ich habe überdies 
in solcher Eigenschaft nicht sehr viel gethan; das Meiste ist ja von Herrn 
Kollegen Rapmund und von den Berliner Herren Kollegen geleistet worden. 
Endlich glaube ich, es hat etwas für sich, wenn Sie einmal jüngere Kräfte in 
den Vorstand hineinnehmen. — 

Die Art der Vorstandswahl ist die, dass Sie 5 Namen auf den Zettel 
schreiben. Der Vorsitzende wird nicht von Ihnen gewählt, sondern nach dem 
Statut vertheilt der Vorstand die Geschäfte unter sich. 

H. Pol.-Stadtphys. San.-Rath Dr. Schulz (Berlin): M. H.! Auch ich 
danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir seit 10 Jahren geschenkt haben, 
und bitte, mich nicht wieder zu wählen. Ich habe so viel zu thun, dass ich 
eigentlich gar nichts für den Verein leisten kann. 

H. gerichtl. Stadtphys. und San.-Rath Dr. Mittenzweig: M. H.l Ich 
danke für das Vertrauen, dass sie mir bisher geschenkt haben und bitte im 



112 


Bericht der Kassenrevisoren und Vorstands wähl. 


Gegensatz zu meinen Herren Vorrednern nicht darum, dass Sie mich nicht 
wieder wählen. (Lebhafter Beifall.) Ich stelle Ihnen meine Wiederwahl voll¬ 
ständig anheim. Gleichwohl will ich Ihnen Gründe angeben, die dafür sprechen, 
dass meine Wiederwahl nicht vortheilhaft für das Wohl unserer Versammlung 
ist. (Widerspruch.) Sie wissen, ich bin ausschliesslich Gerichtsphysikus und 
habe mit der Sanitätspolizei und Hygiene nichts zu thun. Die Sanitätspolizei 
und Hygiene liegt vollständig in den Händen der Kreis- und Bezirksphysici, 
und deshalb ist es erklärlich, wenn ich ein geringeres Interesse an den hier 
gepflogenen, überwiegend sanitätspolizeilichen Verhandlungen als an gerichts¬ 
ärztlichen Verhandlungen habe. Ich würde Ihr ferneres Vertrauen hoch schätzen 
und eine etwaige Wiederwahl annehmen, aber i<h glaube, es giebt in unserem 
Kreise eine grosse Menge Persönlichkeiten, die an meinem Platze entschieden 
besser ständen, als ich es thue. Ich bitte Sie, dies erwägen zu wollen. 

H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Wiedner: M. H.! Ich bitte dringend, von 
der Wiederwahl des Herrn Geh. Raths Wallichs nicht Abstand zu nehmen. 
Er ist Vorstandsmitglied des Deutschen Aerztevereinsbundes und es ist durchaus 
wüusehenswerth und vielfach zweckmässig, dass wir durch ihn gleichsam mit 
jeuem eine gewisse Fühlung behalten. Ich möchte daher auch an Herrn 
Wallichs die Bitte richten, seinen ausgesprochenen Wunsch zurückzuziehen. 

H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: Das ist ja auch das Motiv, 
was mich hält, aber es wäre mir erwüuscht, wenn Sie einen Anderen wählen 
wollten. 

Es wird nunmehr zur Wahl durch Stimmzettel ge¬ 
schritten. Das Ergebniss derselben ist, dass die bisherigen Vor¬ 
standsmitglieder Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund (Minden), 
gerichtl. Stadtphys. San.-Rath Dr. Mitten zweig (Berlin), 
Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallichs und ausserdem noch 
Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Philipp und Reg.- und Med.-Rath 
Dr. Wern ich (Berlin) gewählt wurden. Von den Gewählten wird 
die Wahl dankend angenommen. 

Betreffs der Geschäftsvertheilung ist der neugewählte Vor¬ 
stand, wie gleich hier erwähnt sein möge, dahin übereingekommen, 
dass Reg.- und Med.-Rath Dr. Rapmund das Amt des Vor¬ 
sitzenden übernimmt und gleichzeitige wenigstens vorläufig, die 
Geschäfte des Schriftführers beibehält. 

H. Kr.-Phys. Geh San.-Rath Dr. Wallichs: M. H.! Wir 
sehen zum letzten Male heute an diesem Ehrensitze des Vereins 
(auf den Platz des Vorsitzenden deutend) unseren allverehrten 
Präsidenten (die Anwesenden erheben sich), der 10 Jahre hindurch 
diese Stellung mit Umsicht und namentlich auch mit grosser 
Liebenswürdigkeit ausgefüllt hat. Wir bedauern es sicherlich Alle, 
dass er glaubt, von diesem Amte scheiden zu müssen, wenn wir 
auch anerkennen, dass gewiss nur dringende Gründe ihn dazu 
veranlassen. Wir möchten ihn aber doch nicht gern in unserem 
Kreise entbehren und möchte ich Ihnen daher vorschlagen, dass 
wir ihm einen weniger mühsamen, aber würdigen Platz in unserer 
Mitte oder vielmehr an unserer Spitze anbieten. Dementsprechend 
beantrage ich in Uebereinstimmung mit den anderen Vorstands¬ 
mitgliedern, unseren bisherigen Vorsitzenden, Herrn Geh. Med.- 
Rath Dr. Kanzow, zum Ehrenvorsitzenden des Vereins der preussi- 
schen Medizinalbeamten zu ernennen. 

(Lebhafter Beifall und allgemeine Zustimmung.) 



l)r. Petri: Demonstration eines Cholera-Fastens. 


113 


Es ist über eine derartige Ernennung zwar keine Bestimmung 
in unserem Statut vorhanden; aber dasselbe widerspricht auch 
einem solchen Vorschläge nicht. Ich darf wohl überzeugt sein, 
denn ich sehe das ja auch aus Ihrer lebhaften Zustimmung, dass 
Sie Alle mit meinem Anträge einverstanden sind. Ich bitte somit 
Herrn Geh. Rath Kanzow in Zukunft den Ehrenvorsitz ein¬ 
zunehmen. 

Vorsitzender: M. H.! Ich habe das Vertrauen, welches 
mir von dem Vereine und insbesondere von dem Vorstande ent¬ 
gegen gebracht wurde, immer sehr hoch gehalten und weiss es 
in gleichem Masse zu schätzen, dass Herr Wallichs Gelegenheit 
genommen hat, mir ein so würdiges Andenken im Verein zu sichern. 
Ich erkenne die Ehre, welche mir dadurch zu Theil wird, mit 
vollem Danke an und kann versichern, dass mein Interesse dem 
Vereine und seinen Verhandlungen auch fernerhin zugewendet und 
lebhaft erhalten bleiben wird. Wenn Sie mich für die Folge — 
auch unbetheiligt an der Leitung der Vereinsgeschäfte — gern 
in Ihrer Mitte sehen wollen, so wird mir das ein reicher Lohn 
für die geringen Dienste sein, welche ich Ihnen habe leisten können. 


T. Demonstration eines Cholera-Kastens. 

H. Regierungsrath Dr. Petri, Mitglied des Kaiserlichen 
Gesundheitsamtes (Berlin): M. H.! Die Veranlassung dazu, dass 
ich Ihre Aufmerksamkeit einige Augenblicke in Anspruch nehme, 
ist der mir von befreundeter Seite aus Ihren Kreisen geäusserte 
Wunsch, Ihnen einen neuerdings von mir zusammengestellten 
„Cholera-Kasten“ vorzufuhren. 

Der Kasten verdankt seine Entstehung den Kursen, welche 
ich zufolge Erlass des Herrn Reichskanzlers gegenwärtig einer Anzahl 
ausserpreussischer Medizinalbeamten undAerztenin der Bakteriologie 
und Epidemiologie der Cholera ertheile. Bei diesen Unterrichts¬ 
kursen war das Bedttrfniss hervorgetreten, alle zur bakteriellen 
Diagnose der Cholera benüthigten Gegenstände in kompendiöser 
Form und transportabler Umhüllung bei einander zu haben. Der 
diesem Bedürfhiss, wie ich glaube, entsprechende „Cholera-Kasten“ 
hat bei den Herrn Kollegen der nicht preussischen Bundesstaaten 
Anklang gefunden, und ich habe mich bereit erklärt, gelegentlich 
unserer Jahresversammlung auch den preussischen Herrn Medizinal¬ 
beamten den Kasten zu demonstriren. 

Um Missverständnissen vorzubeugen erwähne ich, dass der 
Zweck der vorerwähnten, meiner Leitung anvertrauten Kurse nicht 
etwa die Neuzüchtung von Bakteriologen ist. Es werden viel¬ 
mehr zu den Cholerakursen im Gesundheitsamte nur solche Herren 
einberufen, welche in der bakteriologischen Technik einige Uebung 
haben und zudem im Besitze eines Bakterienmikroskopes sind. 
Der Schwerpunkt meiner Kurse liegt auf der epidemiologischen 
Seite. Es gilt, die Erfahrungen vornehmlich der jüngsten Epidemie 

8 



114 


Dr. Petri. 


zur Bekämpfung der Seuche auch durch den Unterricht zu ver- 
werthen. Ich bin dabei von der Auffassung ausgegangen, dass es 
im Interesse der Seuchebekämpfung wünschens werth ist, wenn an 
möglichst vielen Orten Deutschlands solche Aerzte vorhanden sind, 
die für die Ermittelung der ersten Fälle an die bakterio¬ 
logische Diagnose sich herantrauen. Dabei warne ich ganz im 
Einklang mit der Ihnen bekannten preussischen Verfügung vor 
dem Anstellen fruchtloser, die Schnelligkeit erster Ermittelungen 
schädigender Versuche, und rathe denjenigen, welche sich technisch 
ihrer Aufgabe gewachsen fühlen, nichtsdestoweniger die aus¬ 
schliessliche Eigenverantwortung zu vermeiden, und stets die 
Hälfte des Untersuchungsmateriales (Dejektionen, Darmschlingen) 
sofort an eine autoritative Stelle in Begleitung aller erforderlichen 
Notizen abzusenden- 

Im diesem Sinne soll der „Cholera-Kasten“ die ersten 
Ermittelungen, sowie auch gelegentliche spätere Untersuchungen 
unterstützen. Der ziemlich reichlich bemessene Inhalt des Kastens 
macht wenigstens für die bakteriologische Choleradiagnose ein be¬ 
sonderes Laboratorium entbehrlich. Ja, Sie können mit dem In¬ 
ventar des Kastens selbst einige weitere biologische Arbeiten, die 
für die Ermittelung der Cholera von Werth sind, ausführen. 

Der Inhalt des Kastens ist in dem Verzeichniss mitgetlieilt, 
das ich Ihnen hiermit in mehreren Exemplaren zur Verfügung stelle *). 


*) In dem Cholerakasten ist enthalten: 

1. 1 Brustschrank. 

2. 1 Heisslnftsterilisimngskasten auf Vierfass. 

3. 1 Wasserbad mit Einsatzdrahtkorb auf Dreifass. 

4 . 1 Gestell mit Teller und Vorrichtung zum Trocknen der Deckgläschen 
(Klatsch-Präparate) nach Alb. Maassen. 

5. 2 Spirituslampen. 1 Oellampe. 

6. 1 Reagirglassgestell. 

7. 1 Eisentasche zum Sterilisiren von Pipetten. 

8. 1 Eolzblock mit 5 verschieden geformten Platindrähten und Oesen. 

9. 24 Petri’sche Doppelschalen. 

10. 100 Deckgläschen. 

11. 50 Objektträger. 

12. 10 Objektträger mit einer Vertiefung. 

13. 2 Deckglaspincetten. 

14. 1 glatte Stahlpincette. 

15. 1 Scheere. 

16. 2 Präparirnadeln. 

17. 1 Messcylinder für 100 cc. und 1 desgl. für 10 cc. 

18. 1 Holzblock mit 3 Farbflaschen. 

19. 1 grosse Glasschale mit Deckplatte. 

20. 5 Wasserpipetten 1 cc. in Vioo getheilt. 

21. 30 Pipettröhren and Glasstäbe. 

22. 2 Glastrichter. 

28. 1 Präparatenkarton. 

24. 46 Röhrchen mit sterilisirter Nährgelatinc. 

25. 22 Röhrchen mit sterilisirtem Nähr-Agar. 

26. 10 Röhrchen mit sterilisirter Bouillon. 

27. 10 Röhrchen mit sterilisirter Peptonlösung. 

28. 10 leere Reagensröhrchen. 

29. 2 Gläschen mit rothem und blauem Lakmuspapier. 

30. 1 Karton mit Filtrir-Pack-Schreibpapier und Etiquetten. 



Demonstration eines Cholera - Kastens. 


115 


Zwei Hauptstücke bilden ein mit Filz umkleideter Brut¬ 
schrank und ein Apparat zur trockenen Sterilisation von Schälchen 
und Glasapparaten. Für den Transport sind in beiden Apparaten 
Gegenstände untergebracht. Im Sterilisationskasten 24 Petri’sehe 
Schalen für das Gelatine-Plattenverfahren, eine Eisenbüchse mit 
Glasröhrchen und Pipetten und eine Flasche mit destillirtem Wasser 
zur Anfertigung von Färbelösungen. Im Brutkasten haben die 
Röhrchen mit Gelatine, Agar, Bouillon und Peptonlösung (für die 
Choleraroth-Reaktion) Platz gefunden. Neben dem Sterili¬ 
sator sind ein Wasserbadgefäss nebst Drahtkörbchen zum Ein¬ 
stellen der Gelatineröhrchen, ein Dreifuss sowie eine grosse Glas¬ 
schale mit Deckel zur Aufnahme von Eis behufs Abkühlung der 
frisch gefertigten Plattenserien untergebracht. In einem besonderen 
Einsätze und an passende Stellen sonst noch vertheilt finden Sie 
die zur Anfertigung der Farblösungen, zur Anstellung der Indol¬ 
reaktionen (rothe und blaue) und für Desinfektionszwecke nöthigen 
Chemikalien. 

In besonderen Fächern des Kastens sind Transportgefässe 
zur Versendung von Proben des Untersuchungsmateriales unter¬ 
gebracht. Ich habe für diesen Zweck eigene — anderwärts längst 
als praktisch gewürdigte — Gefässe ausgesucht. Es sind die alt¬ 
bekannten, weithalsigen Gläschen, die in vierkantigen Holzklötzchen 
absolut sicher untergebracht sind und Ihnen als Versandgefässe 
für Medikamente längst bekannt sind. Kleinere dienen für Dejek- 
tionen, grössere zur Versendung von Darmschlingen. Die Gläser 


31. 1 Karton mit Federhalter, Bleistift, Blaustift, Fettstift znm Schreiben anf 
Glas, Federmesser. 

32. 3 Glasflaschen mit Farbstoffen gefallt (Fuchsin, Methylenblau nnd Gentiana- 
violet). 

33. 8 Glasflaschen, gefüllt mit Anilin, conc. Carbolsänre, conc. Schwefelsäure, 
Amylalkohol, conc. Natronlauge, kohlensaur. Natron, Essigsäure, Nitro- 
prussidnatrium. 

34. 1 Flasche mit Spiritus. 

35. 1 Flasche Immersionsöl. 

36. 2 Fläschchen mit Sublimatpastillen. 

37. 2 leere Glasflaschen. 

38. 1 Büchse Vaselin. 

39. 2 kleine Tuschpinsel. 

40. 1 kleiner Hornlöffel, 1 Blechlöflfel. 

41. 12 Holzbüchsen in Blechhüllen mit Glasgefässen zum Versenden von Proben 
(per Post). 

42. 2 Holzbücbsen in Blechhüllen mit Glasgetässen zum Versenden von DarmstUcken. 

43. 3 Blechbecher. 

44. 1 kleiner Hammer. 

45. 1 Packet kleiner Nägel. 

46. 1 Nagelbürste. 

47. 1 Stück Siegellack und 1 Packet Bindfaden. 

48. 2 Handtücher. 

49. 1 Schachtel Streichhölzer. 

50. 1 Flasche mit Tinte. 

51. Watte. 

52. 1 Thermometer. 

53. 1 Obduktionsbesteck, enthaltend 1 grosses Scalpell, 2 kleine Scalpelle, 1 gew. 
Scheere, 1 Darmscheere, 2 anatom. Pincetten, 3 krumme Nadeln. 


8* 



116 


Df. Gris&r. 


sind in den Holzklötzchen sicher vor Zertrümmerung geschützt. 
Man kann die Klötzchen noch in eine Blechumhüllung stecken und 
letztere zulöthen. Ich habe vor Kurzem eine Reinkultur von 
Cholera aus Newyork in solcher Verpackung und in ganz tadel¬ 
losem Zustand erhalten. 

Der Kasten soll auf Reisen und an Orten, die kein Labora¬ 
torium aufweisen, die Anstellung der bakteriologischen Cholera- 
Diagnose ermöglichen helfen. Er wird von Dr. Robert Müncke 
in Berlin zum Preis von 200 Mark geliefert. 


VI. Ueber Unfall und Bruchschaden. 

H. Kr.-Phys. Dr. Grisar (Trier): M. H.! Einer Einladung 
unseres geeinten Vereins Vorstandes Folge leistend gestatte ich mir, 
ihre Zeit und Aufmerksamkeit für meine nachfolgenden Aus¬ 
führungen in Anspruch zu nehmen. Wenn auch die Begutachtung 
von Unfall und Bruchschaden nicht ausschliesslich den Medizinal¬ 
beamten zusteht, so hat doch die plötzliche Entstehung von Brüchen 
in Folge von äusseren Gewalteinwirkungen so viele Berührungs¬ 
punkte mit der gerichtlichen Medizin, dass eine kritische Würdi¬ 
gung und Diskussion dieser noch so viel umstrittenen Frage in 
einer Versammlung von Fachgenossen, welche wohl alle mehr oder 
weniger Gelegenheit hatten, diesbezügliche Erfahrungen zu machen, 
wesentlich zur Klarstellung beitragen kann. Im Gegensatz zu 
andern Fragen, welche die Schaffung der sozialpolitischen Gesetz¬ 
gebung der letzten zehn Jahre in den Vordergrund des wissen¬ 
schaftlichen Interesses gedrängt hat, ist die Frage nach dem 
thatsächlichen Zusammenhang zwischen Unfall oder, wie wir zu¬ 
nächst sagen wollen, zwischen einer plötzlichen Gewalteinwirkung 
und Bruchbildung eine recht alte. Wie in so vielen Streitfragen 
unserer Wissenschaft, welche der Möglichkeit der Lösung durch 
das Experiment entbehren, stehen sich die Autoren noch immer in 
unvermitteltem Gegensatz gegenüber. In der Fachliteratur wurde 
durch Vorführen von Zitaten und Schlagwörtern namhafter Chirurgen, 
ohne deren wissenschaftlichen Standpunkt zu präzisiren, die Ver¬ 
wirrung nur noch gesteigert. Die wissenschaftliche Deputation 
für das Medizinalwesen, der wir so manches klärende Urtheil ver¬ 
danken, hat noch keine Gelegenheit gehabt, gutachtlich zu der 
Frage Stellung zu nehmen. So war denn die Verlegenheit des 
Praktikers oft recht gross, indem mit Vorführung der sich wider¬ 
sprechenden Aeusserungen der Fachchirurgen dem Richter eine 
verwerthbare Grundlage für sein Urtheil nicht zu bieten war. 

Versuchen wir es nun, m. H., auf Grund einer sachgemäßen 
Prüfung zu einem objektiven Urtheil zu kommen. Ein reifliches 
Studium der Frage hat mir die Ueberzeugung beigebracht, dass 
es nicht allzuschwer ist, für den praktischen Zweck eine feste 
Basis zu finden. 

Die Lösung unserer Aufgabe macht es zur Nothwendigkeit, 



Ueber Unfall und Bruchschaden. 


117 


uns mit der Unfallgesetzgebung bekannt zu machen und die dies¬ 
bezüglichen Entscheidungen des Reichs Versicherungsamtes, der 
obersten Instanz in Unfallangelegenheiten, kennen zu lernen. Wie 
es ja für den Gerichtsarzt unzweifelhaft erforderlich ist, die 
interessirenden gesetzlichen Bestimmungen und die dazu ergangenen 
Deklarationen zu keimen, um dem Richter eine brauchbare Unter¬ 
lage zu bieten, so ist auch für den begutachtenden Arzt in Unfall¬ 
sachen die Kenntniss der Auslegungen des Reichsversicherungs¬ 
amtes im Interesse einer gleichmässigen Beurtheilung von Wichtigkeit. 
Ja noch mehr! die ganze Diskussion über Unfall und Bruchschaden 
wird nur dann zu einer befriedigenden Lösung zu führen sein, 
wenn wir über die Auffassung der Materie von Seiten des Reichs¬ 
versicherungsamtes orientirt sind. 

Der Rechtsunsicherheit, welche bei Geltendmachung von Ent¬ 
schädigungsansprüchen für Unfall-Verletzte früher bestand, und 
welche so vielen Anlass zur Unzufriedenheit grosser Bevölkerungs¬ 
kreise gab, ist durch Erlass der Unfallversicherungsgesetze, jener 
herrlichen Schöpfung unseres grossen, in Gott ruhenden Kaisers, 
entgegengetreten. Dem Unfallversicherungsgesetze vom 6. Juli 
1884 als Grundlage folgten in den Jahren 1885, 1886 und 1887 
eine Reihe anderer Gesetze, welche alle den Zweck hatten, die 
Unfallentschädigungen für solche Berufszweige zu regeln, bei 
denen das Bedürfniss am dringendsten war. Diese Gesetzgebung 
bot durch das schrittweise Vorgehen die beste Gewähr, den ein¬ 
zelnen Berufszweigen gerecht zu werden, ohne in schablonen¬ 
hafte Formen zu verfallen, die ihren Werth im praktischen Leben 
nur zu leicht hätten gefährden können. 

Durch die Unfallversicherungsgesetzgebung ist Ersatz jeden 
Schadens gewährleistet, welcher durch Körperverletzung in Folge eines 
bei dem Betriebe erlittenen Unfalls an Leib und Leben entsteht und 
zwar nicht nur bei Fällen von Betriebsgefahren, sondern auch für 
die Folgen aller bei dem Betrieb sich ereignenden Unfälle l ). In 
weiser Umsicht bleibt entgegen der früheren Gesetzgebung, wo 
die zivilrechtliche Frage des Verschuldens eine schwierige Klippe 
bildete, ein Verschulden des Betriebsunternehmers oder eines 
Betriebsbeamten ausser Betracht, ja sogar ohne Rücksicht auf 
grobes Verschulden und Leichtsinn des Verletzten wird Schaden¬ 
ersatz gewährt, und nur der eigene Vorsatz des Verletzten schliesst 
die Entschädigung aus. 

Wir hätten uns nun zunächst mit dem rechtlichen Begriff 
eines Unfalls im Betrieb oder eines Betriebsunfalles bekannt 
zu machen. Gewiss ist dies ja eine Rechtsfrage und im Allge¬ 
meinen soll sich der begutachtende Arzt um solche nicht kümmern, 
allein, wenn sich — wie wir sehen werden — unsere Erörterung 
dahin zuspitzt: „ist ein Bruch ein Unfall oder eine Krankheit,“ 
so müssen wir wohl oder übel diesem rechtlichen Begriffe 
nahe treten. 


*) Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes; Nr. 290, Jahrg. 1886 
S. 250/51. 



118 


Dr. Grisar. 


Woedtke, dem wir einen der besten Kommentare der Unfall- 
gesetzgebung verdanken, bezeichnet als Unfall jedes Ereigniss, 
durch welches einem Menschen eine Verletzung widerfahrt, womit 
er zugleich sagen will, dass kein Unfall vorliegt, weun sich der 
Betreffende die Verletzung absichtlich zugezogen hat. So kurz 
diese Definition ist, was ja bei Rechtsfragen sein Gutes haben 
mag, so können wir sie nicht acceptiren. In richtiger Würdigung 
der Schwierigkeit der Materie hat es der Gesetzgeber vermieden, 
näher zu bezeichnen, was er alles unter dem Begriff Betriebs¬ 
unfall subsummiren will. Er hat die Beurtheilung lediglich als 
eine konkrete Rechtsfrage hingestellt, und das Reichsversicherungs¬ 
amt hat in seiner nunmehr sich auf einen Zeitraum von acht 
Jahren erstreckenden Judikatur Gelegenheit genommen, zu erklären, 
ob und inwieweit bei Körperverletzungen und Gesundheitsbeschä¬ 
digungen ein Unfall im Betrieb in Betracht kommt. Die Angabe 
von Merkmalen, durch welche sich Unfälle als Betriebsunfälle im 
Sinne des §. 1 des Unfallversicherungsgesetzes kennzeichnen, ob 
insbesondere Brüche, welche in Folge gewerblicher Arbeiten auf- 
treten, als Betriebsunfälle anzusehen sind, hat das Reichs versicherungs¬ 
amt ganz richtig abgelehnt, weil die Frage nicht allgemein beant¬ 
wortet werden könne, vielmehr eine Entscheidung nur nach Massgabe 
der in den einzelnen konkreten Fällen obwaltenden Umstände 
getroffen werden könne. 

Die uns bei der Bruchfrage interessirenden Erkenntnisse des 
Reichsversicherungsamtes hat Kollege Langerhans in Nr. 13 
und 14 des Jahrgangs 1891 der Zeitschrift für Medizinalbeamte 
zusammengestellt und in der Beilage derselben Zeitschrift vorigen und 
diesen Jahres sind weitere Entscheidungen mitgetheilt. 

Hiernach muss einerseits ein Unfall im gesetzlichen Sinne 
vorliegen; anderseits muss der Bruch ein zeitlich bestimmtes, in 
plötzlicher Entwickelung sich vollziehendes Ereigniss darstellen. 
Der Unfall darf nicht lediglich zeitlich und örtlich, sondern er muss 
auch ursächlich mit einem versicherungspflichtigen Betriebe in 
Zusammenhang stehen und zwar dergestalt, dass der Bruchaustritt 
im Anschluss an eine schwere körperliche Anstrengung erfolgt, 
welche zugleich über den Rahmen der gewöhnlichen Betriebsarbeit 
hinausgeht. Namentlich letzteres Moment wird bei Bewilligung 
einer Unfallsrente in den letztergangenen Entscheidungen betont, 
und der Mangel derselben war mehrfach Anlass zur Abweisung 
von Entschädigungsansprüchen. 

Aus der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes hebe 
ich nun noch Folgendes als für uns von Interesse hervor: 

Es ist nicht erforderlich, dass die beim Unfall erlittene Ver¬ 
letzung die alleinige Ursache der Erwerbsunfähigkeit resp. Be¬ 
schränkung ist, sondern es genügt, wenn sie nur eine von mehreren 
dazu mitwirkenden Ursachen ist und als solche in’s Gewicht fällt 1 ). 

Ja, der Anspruch bleibt auch dann bestehen, wenn durch ein 
schon vorhandenes Leiden die Folgen der Verletzung sich ver- 


’) Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes: Nr. 323, Jahrg. 1887. 
S. 133 und Nr. 063, Jahrg. 1888, S. 289. 



Ueber Unfall und Brachsebaden. 


119 


schlimmert haben und den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit be¬ 
schleunigt haben. 

Der Wohlthaten des Unfallversicherungsgesetzes werden aber 
alle die Gesundheitsbeschädigungen nicht theilhaftig, welche sich 
allmählich bei einem Gewerbetriebe vollziehen, wie chronische 
Vergiftungen, Lähmungen, chronische Organerkrankungen, Schwer¬ 
hörigkeit in Folge fortgesetzter Detonationen, rheumatische Affek¬ 
tionen durch Zugluft, Abnutzung der Körperkräfte, und speziell auch 
die sich allmählich ausbildenden Leistenbrüche *), die bei natürlich 
erweiterter Bruchpforte schon im Anschluss an die geringeren An¬ 
strengungen des täglichen Lebens auszutreten geneigt sind; sie 
qualifiziren sich als Gewerbekrankheiten. Das wesentliche Kriterium 
eines Betriebsunfalles im Gegensatz zu den sog. Gewerbekrank¬ 
heiten liegt in der Möglichkeit, den Eintritt der eine Minderung 
der Erwerbsunfähigkeit in sich schliessenden Störung der Unver¬ 
sehrtheit des Körpers nach einem gewissen zeitlich nachweisbaren 
Ereigniss zu bestimmen, welche Möglichkeit bei jenem vorliegen 
muss, bei diesem aber fehlt 2 ). Endlich ist noch als wichtig 
hervor zu heben die in mehreren Erkenntnissen 8 ) getroffene Be¬ 
stimmung, dass, um Täuschungen möglichst zu vermeiden, der ur¬ 
sächliche Zusammenhang zwischen der konstatirten Verletzung 
und dem Betriebe von dem Verletzten nachzuweisen ist, namentlich 
wird dies bezüglich der Leistenbrüche in der einen Entscheidung 
(Nr. 468) verlangt. 

Diese Ansicht des Beichsversicherungsamtes, dass durch einen 
Betriebsunfall ein Bruch plötzlich entstehen könne, wird nun, wie 
eingangs angedeutet, nicht allseitig getheilt, und unsere Sache wird 
es nunmehr sein, zu prüfen, ob diese Entscheidungen wissen¬ 
schaftlich begründet sind, oder ob sich — wie Roser meint — 
das Reichsversicherungsamt von alterthümlichen und von der 
Wissenschaft längst widerlegten Vorstellungen allzusehr leiten liess. 

Unter einem Unterleibsbruch — um diese nämlich handelt es 
sich für uns allein — versteht man das Hervortreten eines Ein¬ 
geweides aus dem Bereiche der Unterleibshöhle durch eine er¬ 
weiterte natürliche oder eine abnorme Oeffnung der Bauchwand 
und zwar so, dass das betreffende Organ mit einem vollständigen 
oder unvollständigen Ueberzug des Bauchfells versehen ist. Als 
wesentlich kommen bei einem Unterleibsbruch in Betracht: 

1. Die Bruchpforte, d. h. die Stelle der Bauch wand, durch 
welche das austretende Eingeweide nach Verdrängung anderer Ge¬ 
bilde seinen Weg nimmt. 

2. Die den Bruchsack bildende Ausstülpung des Bauchfells. 

3. Das austretende Eingeweide. 

4. Die äusseren Bruchhüllen. 

Die Unterleibshöhle stellt einen von Knochen und Weich- 
theilen umschlossenen Hohlraum dar, welcher nicht allseitig gleich 

*) Entscheidungen des Beichsversicherungsamtes; Nr. 557, Jahrg. 1888, 

S 287 

*) Desgleichen Nr. 468; Jahrg. 1888, S. 84 and 85. 

*) Desgleichen Nr. 202; Jahrg. 1886, S. 288 u. Nr. 468, Jahrg. 1888, 8. 85. 



120 


Dr. Grisar. 


festen Abschluss bietet. An den Stellen nun, wo die knöchernen 
und muskulösen Organe die Hülle bilden, kommen Brüche nicht 
zu Stande, so lange letztere nicht gelähmt, gerissen oder durch 
fibröses Narbengewebe ersetzt sind, sondern nur an den Parthien, 
wo sich in den Muskeln zum Durchtritt von Gefässen und andern 
Organen bestimmte, mit Fasergewebe verschlossene Lücken befinden. 
Eine Vorstülpung des Bauchfells, mag sie nun als Hemmungs¬ 
bildung angeboren sein, oder mag sie durch eine der später zu 
besprechenden Ursachen entstanden sein, wird nach allgemeinem 
Sprachgebrauche nur dann als Bruch bezeichnet, wenn ein Ein¬ 
geweidetheil in diese Versttilpung dauernd eingetreten ist und sei 
es als „vollkommener Bruch“ eine über das Niveau der Bauch¬ 
decken hervortretende Geschwulst bildet oder als „unvollkommener 
Bruch“ im Bereiche der Bauchdecken liegen bleibt. Dieser all¬ 
gemeinen Anschauung giebt Busch 1 ) Ausdruck, indem er sagt: 
„Individuen mit weiten Bruchaperturen, in welche das Bauchfell hin¬ 
eingedrängt wird, haben noch keinen Bruch, sondern, wie die Alten es 
nannten, eine Dispositio hernialis, indem bei ihnen ein Eingeweide 
nicht dauernd vorgelagert ist, sondern bei einer jeden Bauchpresse 
nur gegen diese Aperturen andrängt und zurückweicht.“ Auf diese 
althergebrachte Begriffsbestimmung hinzuweisen, ist aus dem Grunde 
nothwendig, da ein neuerer Autor den Vorschlag gemacht, den 
Bruchsack ohne Weiteres als Bruch zu bezeichnen und mit dieser 
selbstgewählten Definition zu wesentlich anderen Resultaten be¬ 
züglich des Zusammenhangs von Unfall und Bruchschaden kommt, 
wie sie nach meinen Deduktionen sich ergeben werden. 

Ist nun die Bruchbildung unter allen Umständen ein sich all¬ 
mählich vollziehender Vorgang, oder liegt auch die Möglichkeit 
vor, dass sich unter besonderen Umständen ein Bruch in Folge von 
äusseren Gewalteinwirkungen plötzlich bilden kann? Mit andern 
Worten: ist ein Bruch nur stets als eine Krankheit aufzufassen, 
die sich allmählich im Gewerbebetrieb vollzieht, oder kann einem 
Bruche unter Umständen die Bedeutung eines Betriebsunfalls im 
gesetzlichen Sinne vindizirt werden? Hatte diese Frage früher 
mehr ein theoretisch-wissenschaftliches Interesse, so wurde sie mit 
dem Aufblühen der gerichtlichen Medizin schon brennender und 
spielt heute eine grosse Rolle, wo ihr mit dem Erlasse des Haft¬ 
pflichtgesetzes und der Unfallversicherungsgesetze eine hohe Dignität 
verliehen ist. 

In meisterhafter Form hat Wernher im 14. Bande dea 
Archivs für klinische Chirurgie die Geschichte und Theorie des 
Mechanismus der Bruchbildung behandelt, und ich würde 
einen Fehler begehen, wenn ich seinen Ausführungen nicht folgen 
wollte. 

Wenn wir von den ältesten Anschauungen abstrahiren, die 
ohne anatomische Kenntnisse aufgestellt wurden, und von denen 
nur die hippokratische Idee ein gewisses Interesse für uns hat, 
nach welcher Brüche durch Schlag oder Aufspringen eines Menschen 


*) Lehrbuch der Chirurgie; 11 Bd,, 2. Abth., 1. Hälfte, S. 93. 



Uebcr Uufall and Bruchschaden. 


121 


auf den Leib eines andern, bei magern Menschen wohl auch durch 
übermässigen Gebrauch von Brechmitteln oder durch Anstrengungen 
entstehen können, so haben sich im Laufe der Zeit die drei folgenden 
Vorstellungen über die Bruchentstehung gebildet: 

1. Die Bruchbildung ist die Folge eines traumatischen Aktes; 
die Eingeweide werden durch rein mechanische Kräfte, den Druck 
der Bauchpresse, gegen schwächere Punkte des Unterleibes ge¬ 
drängt, dehnen diese aus, indem sie das Bauchfell vor sich hertreiben. 

2. Der Druck der Bauchpresse würde die Eingeweide nicht 
vor sich herzutreiben vermögen, wenn sie nicht durch Fehler ihrer 
Befestigungsmittel und ihrer Lagerung vorbereitet wären. Dass 
irgend ein schwacher Punkt an der Bauchwand vorhanden ist, 
bestimmt nicht die Entstehung der Hernie, sondern nur die Stelle, 
an welcher sie hervortritt. 

3. Die Ausstülpung des Peritoneums zu einem Bruchsack ist 
das Primäre und Bestimmende. Der Druck der Eingeweide ist 
nach den Gesetzen der Hydrostatik unvermögend, diese Ausstülpung 
zu bewirken. Sie ist entweder kongenital oder entsteht — nicht 
durch Druck von innen — sondern durch Zug von Aussen. Die 
Eingeweide folgen nun in den leer gewordenen Baum oder dehnen 
die einmal gewonnene Ausstülpung weiter aus. 

In diesen bis zu Anfang unseres Jahrhundertes aufgestellten 
Theorien werden Sie Anschauungen wieder erkennen, wie sie von 
späteren Autoren aufgestellt wurden, und welche man sich als 
deren eigene Ideen anzusehen gewöhnt hatte, bis Wernher ihr 
höheres Alter feststellte. Namentlich die Bruchtheorien der viel 
zitirten Kingdon und Böser haben eine unverkennbare Aelin- 
lichkeit mit der zweiten resp. dritten Theorie. Dass keine dieser 
Vorstellungen den Kern der Sache trifft, zeigt Wernher in über¬ 
zeugender Weise. Mag die eine oder andere Gelegenheits¬ 
ursache in’s Gewicht fallen oder als begünstigender Faktor eine 
Bolle spielen, alle einzelnen Fälle zu erklären ist jede einzelne 
Theorie unzulänglich. Ein so komplizirter Vorgang wie die Bil¬ 
dung eines Bruches, der nicht nach einheitlichen Gesetzen erfolgt, 
ist auch nicht einheitlich zu erklären. 

Der Mechanismus der Bruchbildung gestaltet sich nun, wenn 
wir zunächst von den angeborenen Brüchen und den sogenannten 
Fettbrüchen absehen, nach den später anzuführenden Autoren 
folgendermassen: 

Durch den Druck der Bauchpresse erfährt das Bauchfell an 
einer nicht durch Muskeln unterstützten Stelle — also den beider¬ 
seitigen äussem und innern Leistengrübchen, dem Schenkelring 
und dem Nabelring — eine gewisse Vorstülpung. Diese kann 
nicht plötzlich mit einem Male in grössererWeise und als dauernder 
Zustand herbeigeführt werden, denn das Bauchfell ist zwar eine 
sehr elastische und in der Nähe der Bruchpforten mit den Bauch¬ 
wendungen sehr lax verbundene Membran, aber zu einer dauernden 
Ausstülpung in Folge einer einmaligen stärkeren Bauchspresse 
kommt es nicht. Experiment und Erfahrung sprechen entschieden 
hiergegen, und alle neueren Autoren treten für die einzig mögliche 



122 


Dr. Grisar. 


allmähliche Bildung des Bruchsackes wenigstens in den. Anfangs¬ 
stadien ein. Roser hat sich bemüht, in seiner Schrift: „Wie ent¬ 
stehen Brüche? Ist ein Unterleibsbruch als Unfall zu betrachten?“ 
die diesbezüglichen Aeusserungen zusammenzustellen und ihre 
Wiedergabe ist an dieser Stelle um so weniger nothwendig, als 
wir vollkommen die Ansicht theilen, dass eine grössere Bauchfell¬ 
ausstülpung sich nicht plötzlich bilden könne. Seinen weiteren 
Schlüssen, dass mit jener Bauchfellausstülpung oder dem Bruch¬ 
sack, wie Roser dies Divertikal schon nennt, der Bruch fertig 
gebildet sei, werde ich später entgegenzutreten haben. Was also 
ein einmaliges Trauma nicht zu Wege bringt, bewirkt die häufige 
Wiederholung derselben Schädlichkeit. So lange sich Bauchpresse 
und der Gegendruck des durch die Fascien an den Bruchpforten 
geschützten Bauchfells das Gleichgewicht halten, geht die Wirkung 
der Bauchpresse vorüber. Wenn sich dieser Vorgang zu häufig 
wiederholt, namentlich aber wenn der intraabdominale Druck eine 
solche Steigerung erfährt, dass der Elastizitätskoeffizient der ver- 
schliessenden Bindegewebsstraten überschritten wird, oder diese 
gar stellenweise einreissen, so kehren diese nicht zu ihrem früheren 
Spannungszustand zurück, und die Folge ist, dass sie in einem ge¬ 
wissen überdehnten Zustande verharren. Die Widerstandsfähigkeit 
ist hiermit alterirt, jedem neu einwirkenden Druck von der Bauch¬ 
höhle aus vermögen sie weniger Widerstand entgegenzusetzen, der 
Druck der Bauchpresse lokalisirt sich an diesen Stellen mit ge¬ 
schwächter Resistenz. Bekannt ist, dass viele Personen, bei welchen 
später ein Bruch entsteht, an der Stelle des Impulses bei jedem 
Stoss eine schmerzhafte Empfindung gehabt haben, das Symptom der 
allmählichen Zerreissung und Verschiebung des Peritoneums. Finden 
keine besondere Schädlichkeiten statt, so kann die allmähliche 
Bildung eines Bruches in der bekannten Weise ihren Gang nehmen. 
Kommt aber eine stärkere Aktion der Bauchpresse beim Heben, 
Pressen, Sturz u. dergl. zu Stande, so kann nach den später an¬ 
zuführenden Autoren der Rest der sich entgegenstellenden fibrösen 
Fasern der Fascien plötzlich zerreissen und das Bauchfelldivertikel, 
die Bruchanlage, als Bruch mit seinen sämmtlichen Attributen in 
Erscheinung treten. Aehnlich liegen die Verhältnisse bei unvoll¬ 
ständig verschlossenem Processus vaginalis. Auch hier kann durch 
eine stärkere Bauchpressenaktion ein Eingeweide plötzlich nach 
gewaltsamer Dehnung der Bruchpforte in jenen offen gebliebenen 
Bauchfellfortsatz getrieben werden, ein leicht verständlicher, wenn 
auch seltenerer Vorgang im Vergleich mit der allmählichen Deh¬ 
nung der Bruchpforte und Ausfüllung des angeborenen Bruch¬ 
sackes. 

Der Vollständigkeit halber und weil diese Arten der Bruch¬ 
bildung bei Unfällen diagnostisch zu berücksichtigen sind, seien 
die seltenen Schenkel- und Nabelbrüche durch Fettklümpchen, sowie 
die Bruchbildung bei verspätetem Herabsteigen eines Testikels, 
wobei eine Bauchfellfalte als Ausstülpung mitgezerrt wird und 
Eingeweide in diesen Trichter nachgedrängt werden, erwähnt. 

Dass nun besondere Verhältnisse obwalten müssen, wenn das 



Uober Uufall und Bruchschaden. 


123 


Gleichgewicht von Druck und Gegendruck gestört wird, liegt auf 
der Hand, es wäre sonst unerklärlich, warum nicht alle Menschen, 
welche sich grossem Anstrengungen aussetzen, Brüche acquiriren, 
oder warum unter denselben Verhältnissen bei dem Einen ein 
Leistenbruch, bei dem Andern ein Schenkelbruch, bei dem Dritten 
ein Nabelbruch zu Stande kommt. Diese Hülfsursachen nach allen 
Richtungen in’s gehörige Licht gestellt zu haben, ist ein weiteres 
Verdienst Wernher’s. 

Er macht auf die angeborene Weite der Bruchpforten als 
prädisponirend zur Bruchbildung aufmerksam. Er betont die Be¬ 
deutung der schon von Malgaigne hervorgehobenen Figuratiou 
des Unterleibs nach schwächenden Krankheiten, bei welcher der 
der Leib in den oberen Parthien flach eingezogen ist, während die 
unteren Theile weit ausgedehnt sind und schlaff herunterhängen, 
wobei die bindegewebigen Theile durch den Druck der auf ihnen 
lastenden Dünndarmmassen eine grössere Ausdehnung erfahren. 
Er weist ferner auf die Wichtigkeit einer normalen Weite und 
Neigung des Beckens hin, indem nur bei richtigem Körperbau 
und Körperhaltung eine Kompensation des Drucks der Bauch¬ 
presse und des Gegendrucks der Bauchdecken eintreten kann. 
Endlich fuhrt er uns als die Bruchbildung begünstigend einer¬ 
seits schnelle Abmagerung, anderseits Fettansammlung an; erstere 
weil Schwund des Fettes das Zellgewebe schlaff und das Bauch¬ 
fell in der Umgebung der Bruchpforte leicht beweglich macht, 
letztere weil durch Fettanhäufung im subserösen Gewebe das Peri- 
teneum leichter beweglich wird, die ebenfalls mit Fett angefüllten 
Bruchpforten erweitert, Netz und Mesenterium schwerer werden, 
tiefer herunterhängen und einen starkem Druck ausüben. 

Zu erwähnen ist dann noch eine Reihe anderweitiger Er¬ 
krankungen, welche zur Bruchbildung disponiren, insofern sie mit 
starkem und häufiger wiederkehrenden Anstrengungen der Bauch¬ 
presse verbunden sind wie: habituelle Verstopfung, chronische 
Leiden der Blase und Harnröhre, chronische Leiden der Nasen- 
und Rachenorgane, überhaupt der Athmungswerkzeuge. 

Bekanntlich liegen nun bei den Brüchen meist mehrere Hülfs¬ 
ursachen vor, und Wernher kommt zu dem Schluss, dem auch wir 
uns anscliliessen: Wo ein vollkommen normaler Zustand und Accord 
in Bezug auf die Grundbedingungen besteht, werden keine Brüche 
entstehen, und dieselben erst Vorkommen, wo sich ein Missverhältnis 
in Bezug auf dieselben ausgebilldet hat. Den ganzen Mechanismus der 
Bruchbildung aus einem Punkte erklären zu wollen, ist unstatthaft. 
Die Schwäche einer Bruchpforte, das Offenstehen des Peritonal¬ 
fortsatzes, ein präformirter Bruchsack erklären für sich allein 
noch nicht das Entstehen einer Hernie; es muss immerhin noch 
die treibende Kraft hinzukommen, welche die Eingeweide bewegt, 
aus ihrer normalen Lage zu treten, und ihre Befestigungsmittel 
müssen diese Bewegung gestatten. 

Dass diese individuellen Anlagen und Dispositionen, ja ein 
vorgebildeter oder angeborener Bruchsack für die Zubilligung einer 
Entschädigung irrelevant sind, hat das Reichsversicherungsamt 



124 


Dr. Grisar. 


entschieden 1 ); fiir die gerichtsärztliche Würdigung fallen sie aber 
zweifellos in’s Gewicht und sind besonders zu betonen. Den Stand¬ 
punkt, den das Reichsversicherungsamt hiermit einnimmt, können wir 
vom wissenschaftlichen wie praktischen Standpunkte nur unbedingt 
als richtig anerkennen. Die Schwierigkeiten für den Begutachter 
wären sonst endlos, und der humane Zweck der Unfallgesetz¬ 
gebung bei Bruchschäden geradezu illusorisch. Er ist die Konse¬ 
quenz des an anderer Stelle ausgesprochenen Grundsatzes, dass 
der Anspruch auf Entschädigung auch dann bestehen bleibt, wenn 
durch ein schon vorhandenes Leiden die Folgen der Verletzung 
sich verschlimmert haben. 

Es erübrigt nun den Beweis zu führen, dass das plötzliche 
Eintreten eines Eingeweides in ein Bauchfelldivertikel, den mehr 
oder weniger präformirten Bruchsack, möglich ist in der Weise, 
dass der Bruch in seiner ganzen charakteristischen Erscheinungs¬ 
weise im Anschluss an eine plötzliche Gewalteinwirkung zu Tage 
tritt. Dass dies Ereigniss ein gewöhnliches oder überhaupt nur 
häufiges ist, wollen wir gewiss nicht behaupten; wir halten aus¬ 
drücklich an der allmählichen Entstehungsweise durch öfters wieder¬ 
kehrende Erhöhung des intraabdominalen Druckes als der häufigsten 
Bruchbildungsweise fest. Für kritische Untersuchungen reichen 
nun die an Zahl meist unzulänglichen Beobachtungen der einzelnen 
Aerzte nicht aus, und wir müssen uns die Aeusserungen von 
Autoritäten heranziehen. 

Verzeihen Sie, wenn ich Sie an dieser Stelle mit langen 
Zitaten belästigen muss. Zur Stütze meiner Auffassung bin ich 
dazu gezwungen, da Roser und neuerdings Blasius fast die 
8ämmtlichen von mir zu zitirenden Autoren für ihre gegenteilige 
Ansicht in’s Feld führen. 

Malaigne (nach W e r n h e'r S. 91) nimmt an, dass die erste 
Verschiebung des Peritoneums zur Bildung des Bruchsacks sehr 
allmählich und kaum bemerklich für den Kranken vor sich geht. 
Vorerst bildet sich nur eine grubenförmige, halbkugelige Vertiefung, 
welche noch nicht die Kraft hat, sich zwischen die Gewebe hin¬ 
einzuschieben, wie später, wenn sie eine konische Gestalt ange¬ 
nommen hat. Diese muldenförmigen Vertiefungen (hernies en pointe) 
bilden vielleicht noch keinen sichtbaren Vorsprung, sie haben die 
äussere Bruchpforte noch nicht überwunden und werden von den 
Kranken selten wahrgenommen, lassen sich aber an dem Impuls 
erkennen, welchen sie der Fingerspitze beim Husten u. s. w. mit¬ 
theilen. Solche kleinen Brüche können, wenn sie einmal 
das Bauchfell bis zu einem gewissen Grade verschoben 
haben, unter irgend einer Anstrengung ganz plötzlich 
mit Geräusch und Schmerzen sich beträglich vergrös- 
sern und aus den äusseren Pforten zu einer sehr sicht¬ 
baren Geschwulst hervortreten. 

Emmert 2 ) bemerkt: Gestützt auf einzelne bestimmte Er¬ 
fahrungen müssen wir sagen, dass bei vorhandenen Bruchdis- 

') Entscheidungen des Reichsrersicherungsamtcs Nr. 458; Jahrg. 1888, S. 70. 

*) Emmert: Unterleibsbrfiche. 1857. 



TTeber Unfall und Brnchschaden. 


125 


Positionen die Möglichkeit der plötzlichen Entstehung 
einer kleinen Hernie nach einer vehementen Gewalt¬ 
einwirkung nicht ganz geleugnet werden kann, und 
dass noch häufiger letztere den ersten Anlass zu einer Bruchent¬ 
wickelung zu geben im Stande ist. 

Busch 1 ) schreibt: 

„Wir müssen deswegen sagen, dass Offenbleiben des Processus vaginalis 
oder widernatürliche Weite des Leistcnkanals und des Schenkelringes, Knptur 
einer Fascie, kurz alle Momente, welche an irgend einer Stelle der Bauch wand 
eine weitere Oeffnnng schaffen, prädisponirende Ursachen für die Entstehung 
eines Bruches sind, während die nächste Ver&nlas sung gemeiniglich 
eine starke Bauchpresse ist. Mag diese nun bei Gelegenheit von schweren 
Arbeiten, besonders Heben, einer starken Hnstenanstrengung, wie beim Keuch¬ 
husten oder einem Drucke auf den Leib ausgeübt werden, so wird dadurch das 
Eingeweide hervorgepresst.“ 

Weiterhin sagt Busch S. 94: 

„Man ist sogar soweit gegangen in der medicina forensis den Satz auf- 
zustellen, dass nach einer Misshandlang keine Hernia entstehen könne, abgesehen 
von den seltenen Fällen, in welchen Verletzungen des Bauchfells und der Bauch¬ 
muskeln Vorgelegen hätten. Freilich muss, wenn durch einen Tritt oder durch 
Knieen auf dem Leibe ein Bruch hervorgedrängt wird, eine Ausstülpung des 
Bauchfells vorhanden gewesen sein. Solche kleine Bauchfelltrichter findet man 
aber in vielen Leichen leer, ohne dass je ein wirklicher Bruch vorhanden gewesen 
wäre, und ohne jene Einwirkung der Gewalt würde möglicher Weise die Aus¬ 
stülpung auch immer leer geblieben sein, während jene Misshandlung das Ein¬ 
geweide mit solcher Gewalt hineintreibt, dass es einen Bruch bildete. 

Bardeleben 2 ) präzisirt seine Ansicht über die plötzliche 
Bruchbildung folgendermassen: 

„Sehr selten und wahrscheinlich immer nur bei Individuen, welche zur 
Entwickelung eines Bruches entschieden prädisponirt sind, entsteht in Folge 
einer übermässigen Anstrengung oder einer gewaltigen Er¬ 
schütterung des Unterleibes plötzlich eine Hernie mit einem dem 
Kranken wahrnehmbaren auch wohl schmerzhaften Ruck. Die allmähliche Ent¬ 
stehung der Hernien ist die Regel.“ 

Englisch, der im Uebrigen in der stärkeren Anwendung 
der Bauchpresse oder dem vermehrten Druck von Aussen nur 
etwas zufälliges sieht, äussert sich dahin 3 ) 

„Wir können daher in Betreff der Bruchbildnng sagen, dass dieselbe durch 
Einlagerung von einem Eingeweide in eine schon vorgebildete Ausstülpung des 
Bauchfells unter vermehrtem Druck auf das Eingeweide erfolgt.“ 

Schmidt 4 ) referirt die Aeusserungen Streubel’s wie folgt: 

„Wenn Jemand Klage darüber führt, dass ihm durch Misshandlungen 
oder Gewalttätigkeiten eines Anderen ein Bruchschaden zugefügt worden sei, 
so sind drei Möglichkeiten denkbar. Entweder Patient ist früher mit einem 
eine Geschwulst bildenden Bruche behaftet gewesen, ohne es zu wissen oder 
zuzugeben; oder derKrankehatte seitlängerer oderkürzerer Zeit 
eine ungefüllte, von aussen nicht bemerkbare Bauchfellaus- 
stülpung (leeren Bruchsack), in welche sich durch die ge¬ 
dachte Gewalt Dünndarm, Netz und dergl. vorlagerten, oder 
endlich es fand eine Zerreissung statt, welche den Eingeweiden gestattete, unter 
die allgemeinen Bedeckungen zu treten. Dieser letztgenannte Vorgang ist nicht 
leicht ohne anderweite Zufälle denkbar und wird sich aus Schmerzhaftigkeit der 


') Lehrbuch der Chirurgie; II. Bd., 2 Abth., 1. Hälfte, S. 93. 

*) Lehrbuch der Chirurgie- und Operationslehre; B. HL, S. 731, 5. Ausg. 
*) Eulen bürg’s Realencyklopädie, 1. Aufl., B. II, S. 528. 

4 ) P i t h a und B i 11 r o t h ’ s Handbuch der allgemeinen und speziellen 
Chirurgie; 3. B., 2 Abth., 2. Lief., S. 54. 



126 


Dr. Grisar. 


nächsten Umgebungen and Sagillationen an der betreffenden Stelle mit Wahr¬ 
scheinlichkeit erkennen lassen. Bezüglich der beiden ersten Fälle findet man 
allerdings sehr häufig, dass Brnchkranke von ihrem Uebel keine Kenntniss haben, 
und es als Folge irgend welcher plötzlicher Gewalt betrachten, während doch 
die bei weitem grösste Mehrzahl der Brüche allmählich entsteht. Da aber die 
Möglichkeit eines vorgebildeten Brachsacks im speziellen Fall nicht weggeleugnet 
werden kann, so muss das Gutachten des untersuchenden Arztes dahin lauten: 
es sei wahrscheinlich, dass der Verletzte sich über die Entstehung seines Bruches 
täusche, cs sei aber auch möglich, dass er durch die Gewaltthätigkeit insofern 
eine Verschlimmerung seines Zustandes erlitten habe, als Därme oder Netz in 
einem leeren Brucksack sich vorlagerten, und er dadurch einer ganzen Reihe von 
Gefahren mehr ausgesetzt sei als bisher.“ 

Hueter 1 ) fasst seine Ansicht dahin zusammen: 

„Als ein Punkt von allgemeinem Interesse sei hier noch hervorgehoben, 
dass bei der Bildung der Hernien selbst auch Gelegenheitsursachen mitwirken. 
Es kann eine Anlage eines Bruchsackes längst vorbereitet sein, ohne dass ein 
Bruch sich entwickelt, bis endlich eine Gelegenheitsursache ein¬ 
wirkt, und zwar ist die wichtige Gelegenheitsursache eine 
plötzliche Vermehrung des intraabdominalen Drucks. Die Be¬ 
dingungen zu einer solchen sind beispielsweise gegeben durch 
das Heben schwerer Lasten, durch Schreien, durch Husten, Erbrechen, 
durch starke Anwendung der Baachpresse bei erschwertem Stuhlgang, durch 
Quetschungen, welche auf die Bauchhöhle einwirkten.“ 

König 8 ) kömmt zu dem Resultate: 

„Die plötzliche traumatische Entstehung eines Bruches ist nach dem 
Vorstehenden undenkbar, wohl aber ist es denkbar, dass in einen 
präformirten Bruchsack bei einer zu plötzlichen Gewaltein¬ 
wirkung Intestina gedrängt werden.“ 

Tillmann 8 ) sagt: 

„Die plötzliche Entstehung der echten Hernien beruht nach meiner An¬ 
sicht meist auf Täuschung. Der Brachsack ist in der Regel bereits vorhanden, 
aber leer oder der zur Zeit des Trauma schon ausgebildete Brucn war so gering, 
dass er nicht bemerkt wurde. Zuweilen gelangen die Brucheinge- 
weideaach plötzlich unter der Einwirkung einer Gelegenheits¬ 
ursache in den schon früher gebildeten BruchBack.“ 

E. von Hoffmann 4 ) führt aus: 

„Die gerichtsärztliche Beurtheilnng solcher Fälle hat zunächst von dem 
von sämmtlichen Chirurgen der Neuzeit anerkannten Grundsatz auszugehen, dass 
bei einem normal gebauten Individuum eine Hernie nicht plötzlich entstehen 
könne, ausgenommen es wären Rupturen der betreffenden Stelle der Bauchwand 
durch die Verletzung entstanden, sondern dass sich eine solche nur dort zu 
bilden vermöge, wo bereits ein Bruchsack durch angeborene Anlage oder durch 
später erfolgte allmähliche Entstehung vorgebildet sei, in welchem Falle 
allerdings das Heben schwerer Lasten, Fusstritte gegen den 
Unterleib u. s. w. das Austreten einer Darmschlinge in die 
bereits vorhandene Bauchfellausstülpung veranlassen können.“ 

Casper-Liman 6 ) schreibt: 

„Die Erfahrung lehrt in der That, dass eine gewaltsame Erweiterung des 
Bauchringes mit Vorfall auf mechanische traumatische Weise weit weniger 
häufig ist, als oft angenommen wird, womit nicht die Möglichkeiteinerder¬ 
artigen Wirkung bei Tritt, Stoss, Hinabstossen und dergL in 
Abrede gestellt sein soll, aber—und auch Roser hält dafür —nur bei sol¬ 
chen Individuen, bei welchen schon vorher eine Anlage zum Bruch vorhanden war.“ 

Einen etwas anderen Standpunkt nimmt Kingdon ein, der 


*) Hueter: Lehrbuch der Chirurgie; 1882, IL B., S. 517. 

*) König: Lehrbuch der speziellen Chirurgie; II. B., S. 142. 
*) Lehrbuch der speziellen Chirurgie; 1. Aufl, 1891, S. 710. 

*) Lehrbuch der gerichtlichen Medizin; 1887, S. 487. 

6 ) Handbuch der gerichtlichen Medizin; 7. Aufl., I. B., S. 841. 



Ueber Unfall and Bruchschaden. 


127 


die Theorien Benevoli’s, Morgagni’s und Richter’s sich 
zu eigen machend, den Satz vertritt: „Ein Bruch ist eine Krankheit 
und nicht ein Unfall, ein pathologischer Vorgang und nicht bloss 
eine mechanische Verletzung!“ Nach ihm bestimmt nicht die 
Schwäche und Weite der Bruchpforten die Entstehung des Bruches 
überhaupt, sondern nur die Spezies derselben. Der Zustand des 
Peritoneums sei für die Entstehung von Hernien wichtiger als der 
der fribrösen Fasern der Pforten. Auf mangelhafter Beschaffenheit 
des Peritoneums beruhe die erbliche Disposition. Erschlaffung des 
Mesenteriums, wodurch die Eingeweide über irgend einem Ringe 
lasten, den sie durch ihre Schwere oder die beständige Perkussion 
au8deknen, ist die vorbereitende, pathologische Ursache; sind diese 
vorhanden, so bringen Muskelanstrengungen das Vortreten 
der Eingeweide zu Stande, wenn — wie er sich ausdrückt 
— die Eingeweide in den Griff der treibenden Gewalt 
kommen. Gerade letzteres betont Kingdon als nächste Ursache 
der Brüche, und wenn wir ihm auch nicht in der Verallgemeinerung 
seiner Bruchtheorie beitreten können, so acceptiren wir das 
Postulat, dass eine Muskelaktion als Ursache nothwendig ist, um 
bei der pathologischen Anlage die Eingeweide in eine Peritoneal- 
ausstülpuDg hineinzutreiben. Sein Standpunkt bietet daher in 
Bezug auf das Schlussresultat keine Abweichung von dem unsrigen, 
und das vielfach geübte Zitiren seines angeführten Ausspruchs, 
um das Gegentheil von der Anschauung des Reichsversicherungs¬ 
amtes und des Reichsgerichts darzuthun, ist widersinnig. 

Endlich dürfen wir diese Untersuchung nicht abschliessen, 
ohne zu der Auffassung Roser’s, des um die Bruchfrage so hoch¬ 
verdienten Marburger Chirurgen, Stellung zu nehmen. Sein Stand¬ 
punkt ist auf Grund seiner letzten Publikationen der folgende: 
Die beutelförmige Ausstülpung des Bauchfells, der Bruchsack, ist 
bei der Bildung der Brüche das Primäre, welchem das Vortreten 
der Eingeweide nachfolgt. Der Bruchsack selbst ist aber entweder 
angeboren, oder er ist die Folge von lokaler Erschlaffung der 
Bauchwand, wobei sich das Bauchfell ausdehnt und vorwölbt, oder 
er ist von einer extraperitonealen Geschwulst, einer Fettgeschwulst 
abzuleiten, welche in dem subserösen Gewebe entstanden ist, von 
dort gegen die Haut sich vordrängt und das Bauchfell nach sich 
zieht. Die letzte Entstehungsweise ist namentlich bei Schenkel¬ 
brüchen als die gewöhnlichste, wenn nicht als die einzig vor¬ 
kommende zu betrachten. Dagegen sind die äusseren Leisten¬ 
brüche meistens angeboren, die Nabelbrüche der Kinder meist 
durch blosse Ausdehnung entstanden. Kein erworbener Bruchsack 
kann plötzlich entstehen. 

Im Grunde genommen enthalten diese Anschauungen — aus¬ 
genommen die von Roser vertretene eigenthümliche Bildungs¬ 
weise des Bruchsackes — kaum etwas unserer Auffassung wider- 
streitendes bis auf den Eintritt der Eingeweidetheile in die 
präformirte Bauchfellausstülpung, welche Roser und seine Nach¬ 
folger als etwas Nebensächliches, von selbst Gegebenes hinstellen, 
während hierin nach der von uns im Sinne des Reichsversicherungs- 



128 


t)r. Örisar. 


amtes vertretenen Ansicht der Schwerpunkt der ganzen Bruchbildung 
liegt. Im Uebrigen mildert Roser in These 4 seiner vorzitirten 
Schrift seine Ansicht und giebt wenn auch als Ausnahmefall zu: 

„Das Eindringen eines Eingeweides in einen schon vorhandenen Bruch- 
sack ist nur ausnahmsweise durch Anstrengung veranlasst, und 
in einem solchen Ausnahmefalle wäre demnach der Bruch als 
ein bei der Arbeit entstandener Unfall aufzufassen, als ein 
Unfall aber, welcher sich nur ereignen konnte, weil schon vor¬ 
her ein Bruchsack vorhanden war.“ 

Er sagt somit im Wesentlichen in dieser These dasselbe, 
was wir in Uebereinstimmung mit den Erkenntnissen des Reichs¬ 
versicherungsamtes als wissenschaftlich begründet zu beweisen 
suchten, nur pflichten wir ihm nicht bezüglich der Häufigkeit bei, 
indem die plötzliche Bruchbildung in Folge von äussern Gewalt¬ 
einwirkungen, wenn auch selten ist, so doch immerhin nicht zu 
den Ausnahmefällen gehört. 

Nach diesen Auseinandersetzungen präzisiren wir unsern 
Standpunkt dahin: 

Wir sehen in einer Bauchfellausstülpung an einer der be¬ 
kannten Bruchpforten, welche sich beim Pressen und Drängen füllt 
und sich dem zufühlenden Finger bemerklich macht, um beim Nach¬ 
lassen der Bauchpresse wieder zu verschwinden, nicht bereits einen 
Bruch, sondern nur die Bruchanlage, weil sie den damit Behafteten 
so wenig belästigt, dass der Zustand oft nicht einmal zum Bewusst¬ 
sein kommt, jedenfalls ihn keinen Gefahren, speziell nicht der der 
Einklemmung, aussetzt, und ihn auch nur so weit in der Arbeits¬ 
und Erwerbsfähigkeit beschränkt, als er vielleicht zur Verhütung 
der Bruchbilduug veranlasst ist, ein Bruchband zu tragen. Sind 
aber die fibrösen Bindegewebsbündel und Fascien, welche dem 
Vortreten der Bauchfellausstülpung vor die Leibeshöhle Widerstand 
leisteten, gerissen oder durch Ueberdehnung erschlafft, und bleibt 
jene auch mit Nachlass der Bauchpresse in gefülltem Zustande 
ausserhalb der Bruchpforten, so ist der pathologische Zustand 
gegeben, welchen wir als Bruch bezeichnen, welcher den Be¬ 
treffenden der Gefahr der Einklemmung aussetzt, ihn zwingt ein 
gutes Bruchband zu tragen und darauf zu achten, dass dasselbe 
den Bruch dauernd zurückhält und sich der Beschränkung bei der 
körperlichen Arbeit und deren Auswahl stets eingedenk zu bleiben, 
ihn somit in der Ausnutzung der Arbeitsgelegenheit und der An¬ 
wendung der vollen Arbeitskraft und Hingebung an die gewählte 
Arbeit hindert. Kommt nun ein Bruch in der ausgeführten Weise 
plötzlich zu Stande in ursächlichem Zusammenhang mit einer 
schweren über den Rahmen der gewöhnlichen Betriebsarbeit hin¬ 
ausgehenden körperlichen Anstrengung, so liegt ein Unfall im 
Betrieb vor und Entschädigungsansprüche sind begründet. Hin¬ 
gegen sind alle die Brüche, welche sich allmählich durch eine 
Kette kleinerer und grösserer Anstrengungen entwickeln, als Ge¬ 
werbekrankheiten zu qualifiziren, die der Wohlthaten der Unfall¬ 
gesetzgebung nicht theilhaftig werden können. 

Seltene Einmüthigkeit herrscht unter den Autoren in der 
Anerkennung der Thatsache, dass sich in Folge einer plötzlich 



Ueber Unfall und Bruchschaden. 


129 


verstärkten Bauchpressenaktion eine Einklemmung eines 
schon bestehenden Bruches ausbilden könne. Mag dies Er¬ 
eigniss sich nun vollzogen haben, weil kein Bruchband getragen 
wurde, weil das Bruchband plötzlich brach, oder weil es sich wegen 
schlechten Sitzes verschob, alle diese Umstände würden einen 
Entschädigungsanspruch nicht ausschliessen, da Fahrlässigkeit 
eben kein Gegengrund ist zur Gewährung einer Unfallsrente. Für 
gewöhnlich, d. h., wenn solche Brüche durch Taxis oder blutige 
Operation zurückgebracht sind, unterliegen sie nicht den Be¬ 
stimmungen der Unfallgesetze, weil die durch den operativen Ein¬ 
griff gesetzten Störungen meist innerhalb weniger Wochen aus¬ 
geglichen sind, sich kaum je bis nach der 13. Woche hinziehen 
dürften, und der Zustand nach der Operation kaum schlimmer sein 
dürfte wie vor derselben. Nur bei Todesfällen im Gefolge von 
eingeklemmten Brüchen dürfte das Gesetz in Kraft treten, indem 
es sich um eine Rente für die Hinterbliebenen handelt. 

Ich komme zum letzten Abschnitte meiner Erörterung, zur 
sachverständigen Untersuchung und Begutachtung eines 
angeblich in Folge eines Unfalls eingetretenen Bruchschadens. 
Die Stellung des Sachverständigen ist hierbei eine recht schwierige, 
sind doch die Fälle, wo mit absoluter Sicherheit ein Ja oder Nein 
ausgesprochen werden kann, selten, und das Reichsversicherungs¬ 
amt verlangt darum auch in richtiger Würdigung dieser Thatsache 
nur eine, dem vollen zwingenden Nachweis sich möglichst nähernde 
Häufung von Wahrscheinlichkeitsumständen. Wie stets, wo der 
Arzt als Begutachter auftritt, hat er sich der grössten Unpartei¬ 
lichkeit zu befleissigen; Rücksichten auf den Geschädigten müssen 
ebenso zurücktreten, wie solche auf die Belastung der Unfallkassen. 
Noch weniger dürfen Erwägungen, wie die, dass durch Bewilligung 
von Unfallrenten an Bruchgeschädigte der Unmoralität Vorschub 
geleistet werde, die Richtschnur des Verhaltens geben. Der be¬ 
gutachtende Arzt sei eben unbedingt objektiv, und wo ihm Kunst 
und Erfahrung keine Anhaltspunkte zuverlässiger Art bieten, 
scheue er sich nicht, ein non liquet unter Begründung seines 
Votums auszusprechen,' jedenfalls steht es ihm nicht wie dem 
Richter zu, sich in dubiis pro reo, also hier für den angeblich 
Geschädigten zu erklären. 

Die Fälle nun, wo deutliche Veränderungen an den Bruch¬ 
pforten in Form von Sugillationen, Oedem, Druckempfindlichkeit 
vorhanden sind, bereiten der Begutachtung keine Schwierigkeiten. 
Sie gehören aber bekanntlich zu den selteneren Fällen. In der 
Regel wird sich der Begutachter vor Bruchschäden sehen mit 
mehr oder weniger negativen Symptomen bezüglich der plötzlichen 
Entstehung. Zunächst wird auf die Anamnese zu rekurriren sein, 
und dies um so mehr, als das Reichsversicherungsamt in seinen 
Entscheidungen 1 ) ausdrücklich von dem Verletzten den Nachweis 
des ursächlichen Zusammenhangs, sowie Anhaltspunkte zur An- 

*) Vergl. Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes; Nr. 202, 1886, 
S. 288, Nr. 268, Jahrg. 1888, S. 85 und Nr. 1091, Jahrg. 1892. 


9 



130 


Dr. Grisar. 


nähme, dass der Bruch vor dem Unfälle nicht bestanden hat, ver¬ 
langt. Wie berechtigt hierbei ein recht weitgehender Skepticismus 
ist, wo Wahrheitsliebe und Gewinnsucht in die Schranken treten, 
weiss jeder Arzt, der in Unfallsachen begutachtend aufzutreten 
hatte. Noch mehr wie bei gerichtlichen Untersuchungen hat sich 
der Scharfsinn des Begutachters mit der Dreistigkeit und Pfiffig¬ 
keit des angeblich Geschädigten zu messen, und um nicht irre 
geführt zu werden, wird man wohl thun, sich auf die Aeusserungen 
des Exploranden allein nicht zu verlassen, sondern auf die akten- 
und zeugenmässige Darstellung zurückzugehen, womöglich auch 
frühere Untersuchungsbefunde bei der Rekrutenaushebung fest¬ 
stellen zu lassen. Stets hat man sich vor Augen zu halten, dass 
das plötzliche Entstehen eines Bruches ein seltener Vorgang ist 
im Vergleich mit der allmählichen Bruchbildungsweise, dass letz¬ 
tere die Regel und ersteres die Ausnahme bildet. An die Fest¬ 
stellung des Unfalls hat sich die Erhebung von Erblichkeitsver¬ 
hältnissen und prädisponirenden Körperzuständen krankhafter Art 
oder nachtheiliger Beschäftigungen anzuschliessen. 

Bei der objektiven Untersuchung ist wie bei jeder klinischen 
Untersuchung das ganze Subjekt zu berücksichtigen. Der Explorand 
ist vollständig entkleidet und zwar sowohl stehend wie liegend zu unter¬ 
suchen. Nach Feststellung der Generalia ist die nächste Aufmerk¬ 
samkeit dem etwaigen Vorhandensein von Krankheitszuständen zuzu¬ 
wenden, welche erfährungsgemäss zur Bruchbildung disponiren: chro¬ 
nische Katarrhe der Rachengebilde und der Athmungswerkzeuge, 
Leiden der Harnorgane, wie Steinbildung, Strikturen der Harnröhre 
und Phimose, stärkere Beckenneigung, Rekonvalescenz von schwäch¬ 
enden Krankheiten, rasche Abmagerung oder ungewöhnliche Fett¬ 
zunahme. Weiterhin wird festzustellen sein, ob thatsächlich ein 
Bruch vorhanden ist, und ob nicht eine Verwechselung mit anderen 
krankhaften Gebilden vorliegt, wie Hydrocele, Varicocele, Senkungs- 
abscess, vergrösserte und entzündete Lymphdrüsen, Entzündung 
oder Blutung in einem leeren Bruchsack, Entzündung des Hodens 
und seiner Scheidenhaut u. s. w. 

Ist thatsächlich ein Bruch konstatirt, so kommt in Frage, ob 
nach Lage des ganzen Befundes die Umstände für ein zeitliches Zu¬ 
sammentreffen der Bruchbildung mit dem Unfall sprechen, oder ob 
der Bruch nicht älteren Datums ist, aber übersehen wurde, und ob 
gar etwa absichtliche Täuschung vorliegt. Hatte der angeblich Ge¬ 
schädigte weiter gearbeitet und nicht alsbald ärztliche Hülfe nach 
dem Unfall zugezogen, so würde ich für meinen Theil mich einem Ent¬ 
schädigungsantrag gegenüber ablehnend verhalten; die psychische 
und physische Allgemeinaffektion bei dem plötzlichen Zustandekommen 
eines Bruches ist jedenfalls derartig, dass sie auch andere Menschen, 
wie Kassenmitglieder, welche die grössten Anforderungen an uns 
Aerzte zu stellen gewohnt sind, zum Arzte treiben. Durch eine solche 
Verschleppung der ärztlichen Untersuchung ist der Nachweis des 
ursächlichen Zusammenhanges verdunkelt und den eigenen An¬ 
gaben über den Unfall und dessen Folgen kein Gewicht beizulegen. 

Ein plötzlich entstandener Bruch ist meistens — (die vaginalen 



Ueber Unfall and Bruchschaden. 


131 


Hernien bilden eine Ausnahme) — nur von geringer Dimension. Sind 
auch die Fascien an den Bruchpforten gerissen, so leisten die äusseren 
Bruchhüllen immer noch einen gewissen Widerstand, auch ver¬ 
hindert das Peritoneum, das als Bruchsack vorgestülpt ist, ein 
bedeutenderes Vortreten der Eingeweide. Wenn also ein grösserer 
Bruch gefunden wird, so ist der kausale Zusammenhang mit einem 
Unfall streng kritisch zu prüfen, auch im Auge zu behalten, ob 
es sich um die plötzliche Vergrösserung eines schon bestehenden 
Bruches handelt. Ob dies einen Grund zur Gewährung einer Un¬ 
fallsrente abgiebt, ist nur nach den konkreten Umständen zu 
beurtheilen. Weiterhin sind Hautveränderungen über der Bruch¬ 
pforte als Folge des Pelottendrucks eines Bruchbandes, etwaige 
Operationsnarben, die Weite der Bruchpforte und die Länge des 
Bruchkanals zu berücksichtigen. Bei einiger Weite der Bruch¬ 
pforte ist die plötzliche Bruchbildung aus leicht ersichtlichen 
Gründen sehr zweifelhaft; bei älteren Brüchen hat sich der lange 
Bruchkanal in eine ringförmige Pforte umgewandelt; letzterer Be¬ 
fund würde also gegen eine plötzliche Entstehung des Bruches 
sprechen; dasselbe ist der Fall bei derber Beschaffenheit des 
Bruchsackes und Verwachsung des Hodens mit dem Bruche. End¬ 
lich ist noch auf das Vorhandensein eines Bruches auf der andern 
Körperseite zu achten, da bekanntlich bei disponirten Individuen 
nur zu häufig und bald der Bruchbildung auf einer Seite die auf 
der anderen folgt. 

Wie die Frage, welche ich nun eingehend diskutirt habe, 
streitig ist, so hat sich auch ein Autor, Dr. Blasius, gegen die 
Gewährung einer Rente überhaupt erhoben. Die Unfalls¬ 
rente wird vom Reichsversicherungsamt auf 10 bis 12 1 /* % 
bei einseitigen und auf 15 °/o bei doppelseitigen Brüchen be¬ 
messen und nur in ganz vereinzelten Fällen werden nach Lage 
der besonderen Umstände höhere Sätze zugebilligt. Das Reichs¬ 
versicherungsamt geht in seinen Entscheidungen 1 ) von der Er¬ 
wägung aus: dass erstens der Arbeiter in Folge des Unfalls 
genöthigt sei, überhaupt ein gutes Bruchband zu tragen; zweitens 
darauf zu achten, dass dasselbe den Bruch dauernd zurückhält; 
drittens — und das ist die Hauptsache — dieser Beschränkung 
bei der körperlichen Arbeit und deren Auswahl stets eingedenk 
zu bleiben. Der Arbeiter ist mithin durch den Bruch in der Aus¬ 
nutzung der Arbeitsgelegenheit und in der vollen Arbeitskraft und 
Hingebung an die gewählte Arbeit behindert. 

Ich meine jeder Arzt sollte diesen Grundsätzen beipflichten, 
und präziser können die Folgen nicht geschildert werden. Einen 
merkwürdigen Standpunkt nimmt Blasius ein. Nach ihm ist das 
Tragen eines Bruchbandes wie das Tragen einer Brille eine Ge¬ 
wohnheitssache und soll sicherlich nicht erwerbsbeeinträchtigt 
machen, so lange der Bruch zurückgebracht und zurückgehalten 
werden kann. Weiter versteigt sich Blasius zu dem Satze: „Ist 
das Bestehen eines Bruches einmal erkannt, so ist der mit dem 


*) Entscheidungen des Reichsversicheruugsamtes; Jahrg. 1888, S. 36. 

Ü* 



182 


Dr. Grisar. 


Bruche behaftete Mensch oder Arbeiter besser daran als früher. 
Er wird zum Tragen eines Bruchbandes aufgefordert; trägt er es, 
so wird er von nun an vor der Möglichkeit einer Einklemmung 
des Bruchinhaltes geschützt sein, der er vorher jeden Augen¬ 
blick ausgesetzt war.“ Nun, m. H., ich glaube dass derjenige, 
welcher solche Behauptungen aufstellt, nicht ernst zu nehmen 
ist und schenke mir die Widerlegung. Ich führe nur eine 
Aeusserung von Roser an, dessen Auffassung Blasius sonst 
beitritt: „Man darf den Schaden, welchen ein Bruch macht 
oder machen kann, nicht allzugering anschlagen, wie schon von 
manchen Aerzten geschehen ist. Es ist zuzugeben, dass viele 
Bruchkranke sich wenig um ihren Bruch kümmern, dass sie keine 
Beschwerden davon fühlen, und dass sie sich vielleicht nur darüber 
beklagen, wenn sie jedes Jahr ein neues Bruchband anschaffen 
müssen. Aber nicht alle Brüche können so gleichgültig angenommen 
werden. Die Fälle wo kein Bruchband recht halten will, sind 
nicht zu leugnen. Ebenso kann man nicht leugnen, dass starke 
Anstrengungen einem Bruchkranken Gefahr bringen können, dass 
man also z. B. das schwere Heben von einem Bruchkranken nicht 
verlangen kann. Deshalb wird ja zu manchen Berufsarten z. B. zum 
Militär- oder Eisenbahndienst, ein Bruchkranker nicht genommen.“ 

Ich habe noch andere Bedenken kurz in Betracht zu ziehen. 
Von militärärztlicher Seite wurde, wie Kaufmann betont, die Heil¬ 
barkeit eines Bruches hervorgehoben. Es soll bei Soldaten, welche 
im Dienste plötzlich einen Bruch acquirirten, durch 14tägige Bett¬ 
lage vollkommene Heilung des Bruches beobachtet worden sein, 
die auch noch später zu konstatiren war. Diese Erfahrungen 
werden ja gewiss zu neuen Versuchen auffordern. Allein es ist 
immerhin zu bedenken, dass der in Unfallsachen zugezogene Arzt 
den Bruch nicht wie der Militärarzt sofort nach dem Entstehen 
sieht, sondern erst nach einer gewissen Zeit, wo auf eine den 
Verschluss der Bruchpforte bildende Vernarbung kaum mehr zu 
rechnen ist. 

Weiterhin wurde die Radikaloperation in Betracht gezogen. 
Hierbei ist jedoch zu beachten, dass Niemand gezwungen werden 
kann, sich einer unter Umständen tödtlichen Operation zu unter¬ 
werfen. Die Operation hat zwar nach Wood unter 200 Fällen 
nur dreimal einen tödtlichen Ausgang gehabt; nach Anderegg 
beträgt die Mortalität 3,6 °/ 0 , nach Leisrink 7,4°/ 0 , aber be¬ 
achten wir immer, dass diese günstigen Erfolge nur allein bei 
Anwendung aller Vorsichtsmassregeln der Klinik erlangt wurden, 
und dass die Misserfolge in der Hand der praktischen Aerzte, 
welche nicht in der Lage sind, unter den günstigen Bedingungen 
der Klinik zu operiren, doch beträglich grösser sind. Eine all¬ 
gemeine Empfehlung ist also nicht am Platze und ganz besonders 
nicht, wenn man in Erwägung zieht, dass die gewonnenen Resultate 
nach der Statistik von Anderegg nur in 61 °/ 0 von dauerndem 
Erfolg sind. 

Die Zubilligung der Rente für Unfall-Bruch-Verletzte ist also 
vom ärztlichen und menschlichen Standpunkt durchaus gerechtfertigt. 



Ueber Unfall und Bruchschaden. 


133 


Ich schliesse meine Erörterung mit der Besprechung der 
Häufigkeit der Brüche in Folge von Betriebsunfällen. Ich 
hatte bereits Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass die plötzliche 
Entstehung eines Bruches nicht zu den Häufigkeiten gehört. Die 
Befürchtungen, welche Roser und Blasius bezüglich der be¬ 
denklichen finanziellen Tragweite der Auffassung des Reichsver¬ 
sicherungsamtes äussern, treffen somit nicht zu nach der gleich 
mitzutheilenden Statistik. Roser äussert sich dahin: „Wenn es 
einem Arbeiter gelingt, sich durch die unwahre Behauptung, dass 
er bei der Arbeit einen Bruch bekommen habe, eine lebenslängliche 
Rente zu verschaffen, dann wird dies Beispiel leicht verführend 
auf die anderen Arbeiter einwirken, und so kann es kommen, dass 
das Unfallgesetz in manchen Kreisen geradezu einen demorali- 
sirenden Einfluss gewinnt.“ Mit letzterer Ansicht hat Roser nur 
zu sehr rech , aber die Bruchbildung nach Unfällen ist hieran nicht 
in höherem Grade betheiligt, wie es andere, in ihrer Entstehungs¬ 
weise leichter zu beurtheilende Verletzungen sind. Die Aus¬ 
legungen des Reichsversicherungsamtes sind so vorsichtig abge¬ 
fasst, dass es doch schwer fällt, sich eine unrechtmässige Rente 
zu erwerben durch Simulation eines plötzlich in Folge Betriebs¬ 
unfalls entstandenen Bruches. Um zu einem Urtheil über die 
Häufigkeit von Entschädigungsansprüchen wegen Bruchschäden 
nach Betriebsunfällen zu kommen, habe ich mich an den Direktor 
des Reichsversicherungsamtes um Mittheilung der Bruchstatistik 
gewandt. Meinem Ersuchen ist in bereitwilligster Weise statt¬ 
gegeben worden, soweit das Material vorlag, nämlich nur für das 
Jahr 1892, und bin ich in der Lage, Ihnen die folgenden An¬ 
gaben machen zu können: 

Unter den im Laufe des Jahres 1892 gefällten Rekurs¬ 
entscheidungen befanden sich 201, in denen Gegenstand des 
Streites, ob in Folge des Unfalls ein Bruchschaden entstanden ist 
oder nicht. 

Diese 201 Sachen vertheilten sich auf die untenstehenden 
Abtheilungen: 

a. das Schiedsgericht nahm einen Bruch an, ebenso das 
Reichs - Versicherungsamt in 17 Fällen; 

b. das Schiedsgericht nahm einen Bruch an, das Reichs- 
Versicherungsamt aber nicht in 40 Fällen und zwar: ohne 
Beweiserhebung in 39, auf Grund erhobenen Beweises 
in 1 Fall; 

c. das Schiedsgericht nahm keinen Bruch an, wohl aber das 
Reichs-Versicherungsamt in 16 Fällen und zwar: auf 
Grund erhobenen Beweises in 10, ohne Beweiserhebung 
in 6 Fällen; 

d. das Schiedsgericht nahm keinen Bruch an und ebenso das 
Reichs - Versicherungsamt in 128 Fällen. 

Auf die einzelnen Berufsgenossenschaften vertheilten sich die 
Bruchfälle folgendermassen: 



134 


Dr. Grisar: Ueber Unfall und Bruchschaden, 


I. Gewerbliche. 



a. 

b. 

c. 

d. 

Knappschafts- Berufsgenossenschaft 

♦ 

■± 

1 

6 

16 

Steinbruchs- „ 

2 

1 

1 

2 

Feinmechanik- „ 

— 

1 

— 

— 

Süddeutsche Eisen- und Stahl- „ 

— 

— 

— 

4 

Südwestdeutsche Eisen- „ 

— 

— 

— 

1 

Rheinisch-Westf. Hütten- und 





Walzwerks- „ 

1 

4 

1 

11 

Rheinisch-Westf. Maschinenbau- „ 

— 

— 

— 

2 

Sächs.-Thür. Eisen- und Stahl- „ 

— 

— 

— 

3 

Nordöstliche Eisen- nnd Stahl- „ 

— 

i 

2 

1 

Schlesische Eisen- und Stahl- „ 

— 

2 

— 

1 

Nordwestl. Eisen- und Stahl- „ 

— 

— 

— 

2 

Süddeutsche Edel-u.Unedelmetall- „ 

1 

— 

— 

1 

Glas- „ 

— 

1 

— 

2 

Ziegelei- „ 

— 

1 

— 

2 

Chemische Industrie- „ 

1 

— 

1 

3 

Gas- und Wasserwerke- „ 

— 

1 

— 

1 

Norddeutsche Textil- „ 

— 

1 

— 

4 

Süddeutsche Textil- „ 

— 

1 

1 

— 

Textil- von Elsass-Lothringen „ 

— 

— 

— 

2 

Papiermacher- n 

— 

1 

— 

4 

Lederindustrie- „ 

1 

— 

— 

1 

Norddeutsche Holz- „ 

— 

— 

1 

5 

Stidwestdeutsche Holz- „ 

— 

1 

— 

— 

Nahrungsmittel-Industrie- „ 

— 

2 

— 

4 

Zucker- „ 

2 

2 

— 

2 

Brennerei- „ 

— 

1 

— 

— 

Brauerei- und Mälzerei- „ 

— 

— 

— 

3 

Nordöstliche Baugewerks- „ 

— 

— 

— 

1 

Schlesisch-Posensche Baugewerks- „ 

— 

— 

— 

1 

Hannoversche Baugewerks- v 

1 

1 

— 

1 

Magdeburgische Baugewerks- „ 

— 

— 

1 

2 

Sächsische Baugewerks- „ 

1 

— 

— 

2 

Hessen-Nassauische Baugewerks- „ 

1 

2 

1 

6 

Rheinisch-Westfäl. Baugewerks- „ 

— 

— 

— 

1 

Südwestliche Baugewerks- „ 

— 

— 

— 

3 

Strassenbahn- „ 

1 

3 

— 

3 

Spedition-, Speicherei- u. Kellerei- „ 

— 

— 

— 

4 

Fuhrwerks- „ 

— 

1 

— 

2 

See- 

— 

1 

— 

— 

Tiefbau- „ 

— 

5 

1 

7 

Zusammen: 

1 16 

1 35 

1 16 

110 

II. Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften: 


In Ostpreussen. 

_ 

_ 

_ 

3 

„ Brandenburg. 

— 

1 

— 

— 

„ Posen. 

— 

— 

— 

1 

„ Schlesien. 

— 

— 

— 

3 

„ Westfalen. 

— 

— 


1 

n Rheinprovinz. 

— 

1 

— 

1 

„ Weimar. 

— 

1 


1 

v Reuas j. L. 

— 

— 

— 

1 

Zusammen: | 

— 

3 

— 

11 














Diskussionsgegenstände. 135 


m. Staatliche Ausffihrungsbehörden: 



a. 

b. 

c. 

d. 

Königliche Intendantur IV. Armee-Korps 


— 

— 

2 

XT 

» y> AA * n 7) 

— 

— 

— 

1 

n w XVII. „ v 

— 

— 

— 

1 

„ Eisenbahndirektion zn Altona 

— 

— 

— 

1 

„ „ „ Berlin 

1 

2 

— 

— 

* * „ Breslau 

— 

— 

— 

1 

, * „ Hannover 

— 

— 

— 

1 

Zusammen: 

i 

2 

— 

7 

Gesammt-Summe: | 

17 

40 

16 

128 


(Lebhafter Beifall.) 

Vorsitzender: Ich eröffne die Diskussion. Wünscht Jemand 
das Wort zu ergreifen? Es ist nicht der Fall. Dann gestatte ich 
mir im Namen der Versammlung Herrn Kollegen Grisar für 
seinen interessanten Vortrag den verbindlichsten Dank auszusprechen. 


VI. Disknssionsgegenstände. 

a. Amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte. (Antrag der 
Medizinalbeamten in Berlin.) 

H. Bezirksphys. San.-Rath Dr. Kollm (Berlin): M. H.! Das 
Kollegium der Berliner Bezirks - Physiker hat bei dem Vorstande 
unseres Vereins den Antrag gestellt, dass derselbe durch schrift¬ 
liche Eingabe an Se. Excellenz den Herrn Kultusminister eine 
auch für die anderen Ressorts gültige Entscheidung desselben 
darüber herbeiführe, dass die Medizinalbeamten nicht verpflichtet 
seien, die ihnen von den verschiedenen Behörden im Interesse des 
Dienstes aufgetragenen ausführlichen Gutachten über den Gesund¬ 
heitszustand Kaiserlicher oder Königlicher Beamter ohne Entgeld 
abzugeben. 

Wir wurden zu diesem Anträge durch den Umstand veran¬ 
lasst, dass in neuester Zeit von einzelnen Behörden derartige 
Gutachten zur Zahlung angewiesen werden, während von den 
meisten anderen jede Bezahlung unter Hinweis auf die Ministerial- 
Erlasse vom 16. Februar 1844 und 8. Juli 1879 verweigert wird. 

Naturgemäss werden in Berlin, wo sich der Sitz so sehr 
vieler Behörden befindet, eine viel grössere Anzahl derartiger 
Atteste von den Medizinalbeamten erfordert, als in der Provinz. 
Wir haben aber diese Angelegenheit nicht als eine lokale aufge¬ 
fasst, sondern glaubten, dass es im Interesse aller Medizinal- 
Beamten liege, wenn durch eine prinzipielle Entscheidung Sr. 
Excellenz des Herrn Ministers auch in den anderen Ressorts eine 
gleichmässige Behandlung einträte. Deshalb wandten wir uns mit 
unserem Anträge, gestützt auf den Beschluss der IX. Hauptver¬ 
sammlung, dass Taxfragen von allgemeinem Interesse durch den 
Verein bis in die letzte Instanz zur Entscheidung durchgeführt 





186 


Diskussionsgegenst&nde. 


werden sollen, an den Vorstand desselben. Dieser hat sich mit 
unserem Anträge einverstanden erklärt und ihn der gegenwärtigen 
Hauptversammlung zur Diskussion und eventuellen Beschluss¬ 
fassung unterbreitet. 

Zur Begründung unseres Antrages erscheint es nothwendig, 
diejenigen Bestimmungen, welche eine so verschiedene Auslegung 
bei den einzelnen Behörden ermöglicht haben, hier durchzugehen. 

Das über unsere Taxe entscheidende Gesetz vom 9. März 
1872 mit den Ergänzungen vom 17. September 1876 und 2. Fe¬ 
bruar 1881 sagt im §. 3, Absatz 6: „Die Medizinalbeamten erhalten 
für jedes andere (nicht Obduktionsbericht) mit wissenschaftlichen 
Gründen unterstützte, nicht bereits im Termin zu Protokoll gege¬ 
bene Gutachten, es mag dasselbe den körperlichen oder geistigen 
Zustand einer Person oder Sache betreffen, 6—24 Mark“; und in 
Absatz 7: „Für die Ausstellung eines Befundscheines ohne nähere 
gutachtliche Ausführung 3 Mark.“ 

Danach wäre die uns interessirende Frage einfach zu ent¬ 
scheiden, wenn nicht im Eingänge des §. 3 sich die Bestimmung 
fände, dass die Medizinalbeamten diese Sätze für alle von den 
Gerichten oder anderen Behörden ihnen aufgetragenen Geschäfte 
zu liquidiren berechtigt sind, so weit sie nicht durch be¬ 
stehende, besondere Bestimmungen zur unentgelt¬ 
lichen Dienstleistung verpflichtet sind. 

Eine derartige Verpflichtung zur unentgeltlichen Dienst¬ 
leistung besteht nun aber für alle diejenigen Physiker, welche 
nicht vor dem 16. Februar 1844 angestellt sind, und da solche 
gegenwärtig wohl kaum mehr vorhanden sein dürften, für alle jetzt 
im Amte befindlichen. 

Der dahin lautende Cirkular-Erlass des Herrn Kultusministers 
vom 16. Februar 1844 ist für uns so wichtig, dass ich ihn hier 
wörtlich geben muss. Es heisst darin: 

„Das Königl. Staatsministerium hat beschlossen, dass die künftig anzu¬ 
stellenden Kreis-Medizinal-Beamten bei der Einführung in ihr Amt zur unent¬ 
geltlichen Bewirkung der von den Staatsbehörden im Interesse des Dienstes 
ihnen aufgetragenen Untersuchungen des Gesundheitszustandes Königlicher 
Beamter, sowie zur unentgeltlichen Ausstellung der Befundsatteste aus¬ 
drücklich verpflichtet werden sollen. Den jetzt im Amte befindlichen Kreis- 
Medizinal-Beamten können die taxmässigen Gebühren für dergleichen Unter¬ 
suchungen und Atteste, wie bisher geschehen, so auch ferner auf ihr Verlangen 
bewilligt werden. Indem ich die Königliche. Regierung von diesem Beschlüsse 
in Kenntniss setze, veranlasse ich dieselbe die Anordnung zu treffen, dass die 
von jetzt an neu angestellten Kreis-Medizinal-Beamten bei Gelegenheit ihrer 
Vereidigung zu Protokoll verpflichtet werden, die von den Staatsbehörden ihnen 
im Interesse des Dienstes aufgetragenen Untersuchungen der erwähnten Art, 
sowie die Ausstellung der Befundatteste unentgeltlich zu bewirken.“ 

Diese Verpflichtung wurde durch Min.-Erlass vom 16. Feb. 
1844 auch auf marschuufähig gewordene Soldaten, und durch 
Min.-Verf. vom 27. Februar 1872 auf die Reichspostbeamten aus¬ 
gedehnt. Auch die Gensdarmen gehören mit in diese Kategorie 
von Beamten. Durch Min.-Erlass vom 8. Juli 1874 wurde dann, 
nach Erlass des Gesetzes vom 9. März 1872 über die den Med.- 
Beamten zustehenden Gebühren, bestimmt, dass in Gemässheit des 



Diskuasionsgegenstände. 


137 


§. 3 dieses Gesetzes diese Verpflichtung der Medizinal-Beamten 
nicht aufgehoben ist. 

Von diesen Bestimmungen haben die Behörden den aus¬ 
gedehntesten Gebrauch gemacht. Es bildete sich dabei als fest¬ 
stehende Regel der Grundsatz aus, dass auch alle von den Be¬ 
hörden im Interesse des Dienstes erforderten ausführlichen 
Gutachten von den Medizinal-Beamten unentgeltlich verlangt 
wurden. Die von den Medizinal - Beamten dagegen erhobenen 
Einwendungen wurden stets zurückgewiesen, und auch von Seiten 
der Königlichen Regierungen wurden bei den diesbezüglichen, 
ihnen zur Festsetzung vorgelegten Liquidationen, unter Hinweis 
auf den Min.-Erlass vom 16. Februar 1844, die Kosten für aus¬ 
führliche Gutachten abgesetzt. Ich selbst kann aus eigener Er¬ 
fahrung ein derartiges Verhalten der Königl. Regierung zu Liegnitz 
anführen. Ein mir vom Kollegen Klingelhöferin Frankfurt a. M. 
mitgetheilter Fall bestätigt dies. Derselbe schreibt, dass erst 
ganz kürzlich ein von der Königl. Eisenbahndirektion von ihm 
eingefordertes ausführliches Gutachten über den Gesundheitszustand 
eines Beamten nicht bezahlt wurde, weil die Königl. Regierung, 
der die Liquidation zur Feststellung übergeben war, die Kosten 
abgesetzt hatte unter Berufung auf die von dem Kollegen Klingel- 
höfer bei seiner Anstellung eingegangene schriftliche Verpflichtung, 
derartige Gutachten ohne Entgelt abzugeben. Sollte diese Ver¬ 
pflichtung ihm thatsächlich auferlegt worden sein, so verstösst 
dieses Verfahren offenbar direkt gegen die Vorschriften des Min.- 
Erlasses vom 16. Februar 1844. Bei diesen bis heute mit wenigen 
Ausnahmen beibehaltenen Gepflogenheiten der Behörden entsteht 
die Frage, ob nicht doch ein Rechtsgrund dafür vorhanden sei, 
indem in dem Min.-Erlass vom 16. Februar 1844 unter dem Aus¬ 
druck „Befundattest“ ein „ausführliches Gutachten“ gemeint werde. 
Dem widerspricht aber der Umstand, dass in der damals noch 
geltenden Taxe vom 21. Juni 1815 in Position 20 von Gesund¬ 
heitsscheinen, und in Position 21 von einem geschriebenen, mit 
wissenschaftlichen Gründen unterstützten Consilium oder Gutachten 
die Rede ist. Diese beiden werden ausdrücklich von einander 
unterschieden. Ausserdem besagt dann noch der Min.-Erlass vom 
12. April 1860, dass die Bezeichnung in Pos. 20 „Ausfertigung 
eines Gesundheits- oder Krankheitsscheines“ dem Wortlaute gemäss 
nur auf solche Bescheinigungen zu beziehen ist, wodurch einfach 
und ohne weitere Motive die Thatsache, dass die be¬ 
treffende Person krank, resp. gesund ist, festgestellt 
wird. Lautet die Requisition auf Erstattung eines Gutachtens, 
so ist als festgestellt zu erachten, dass der Behörde nicht durch 
Ausstellung eines blossen Befundscheines genügt ist. 

In gleicher Weise spricht sich auch ein Min.-Erlass vom 
10. Februar 1863 aus. 

Hiernach kann es wohl nicht zweifelhaft sein, dass, sobald 
die Requisition auf Ausstellung eines ausführlichen Gutachtens 
lautet, wenn ausserdem dem Medizinal - Beamten zum Zwecke der 
Ausstellung eines solchen die Akten übersandt werden, derselbe 



138 


DiskuflsionsgegenstÄnde. 


Anspruch auf die im Gesetze vom 11. März 1872 §. 3, Abs. 6 ihm 
zustehenden Gebühren hat. 

Von diesen Gesichtspunkten ausgehend hat Herr Kollege 
Gleitsmann in Wiesbaden im Oktober 1891 bei Gelegenheit 
eines von einer Königl. Eisenbahndirektion von ihm erforderten 
Gutachtens über den Gesundheitszustand eines Königl. Beamten, 
das nicht honorirt wurde, Beschwerde bei Sr. Excellenz dem Herrn 
Minister für öffentliche Arbeiten eingereicht. Diese Beschwerde 
hatte den gewünschten Erfolg. Der Herr Minister erkannte die 
Berechtigung der Liquidation an. In dankenswerter Weise hat 
Herr Kollege Gleitsmann diesen Entscheid veröffentlicht. Unter 
Berufung auf denselben haben auch andere Kollegen die von ihnen 
abgegebenen derartigen Gutachten — ich selbst drei — bezahlt 
erhalten. In gleichem Sinne, wie der Herr Minister für öffentliche 
Arbeiten, haben seitdem noch in gegebenen Fällen der Herr Finanz¬ 
minister, wie die Kollegen Westrum in Geestemünde und Baer 
in Berlin berichten, der Herr Justizminister, wie die Kollegen 
Henning in Schlawe und Wa 11 ichs in Altona angeben, und der 
Herr Landwirthschaftsminister nach einer Mittheilung des Kollegen 
Frey er in Stettin entschieden. Von dem Herrn Minister des 
Innern liegen Entscheide noch nicht vor, da wohl die meist mit 
3 Mark, zum Tlieil garnicht honorirten Gutachten über den Ge¬ 
sundheitszustand von Gensdarmen nicht dazu zu rechnen sind. 

Man kann nicht annehmen, dass diese Entscheidungen der 
anderen Herren Minister ohne vorherige Rückfrage bei dem Herrn 
Kultusminister erfolgt sind, und darf es wohl als sicher gelten, 
dass derselbe sich mit den anderen Herren Ressortchefs im Ein¬ 
vernehmen befindet. Trotzdem werden von den meisten Behörden 
nach wie vor derartige Gutachten von den Medizinal-Beamten 
unentgeltlich abverlangt. Wenn einmal dafür eine Bezahlung 
erfolgt, so haben die Medizinal - Beamten in jedem Falle sich diese 
erst zu erkämpfen. 

Man kann nun die Frage aufwerfen, ob die einzelnen Be¬ 
hörden überhaupt ausführliche Gutachten nöthig haben. In den 
meisten Fällen wird es sich um die Pensionirung unmittelbarer 
Staatsbeamten handeln, und darüber bestimmt das Gesetz vom 
27. März 1872. In §. 20 heisst es: „Zum Erweise der Dienst- 
unfahigkeit eines seine Versetzung in den Ruhestand nachsuchenden 
Beamten ist die Erklärung der demselben unmittelbar Vorgesetzten 
Dienstbehörde erforderlich, dass sie nach pflichtgemässem Ermessen 
den Beamten für unfähig halte, seine Amtspflichten ferner zu 
erfüllen. Inwieweit andere Beweismittel zu erfordern, oder der 
Erklärung der unmittelbar Vorgesetzten Behörde entgegen für 
ausreichend zu erachten sind, hängt von dem Ermessen der über 
die Versetzung in den Ruhestand entscheidenden Behörde ab.“ 
Meissner (Handbuch für Verwaltungsbeamte S. 355) führt hierzu 
an, dass bei Berathung dieses Gesetzentwurfes im Abgeordneten¬ 
hause ausdrücklich der Antrag, dass zur Pensionirung nur ein 
Physikats - Attest erforderlich sei, zurückgewiesen wurde. Sofern 
die unmittelbar Vorgesetzte Dienstbehörde den Beamten selbst als 



Diskuasionsgegenetände. 


139 


dienstunfähig erkennt, ist ein solches nicht nöthig. Wird es 
erfordert, so hat es nach Form und Inhalt dem Min.-Erlasse des 
Herrn Kultusministers vom 20. Januar 1853 zu genügen. Diese 
letztere Bestimmung bezieht sich auf die Form und den Inhalt 
ausführlicher motivirter Gutachten der Medizinal - Beamten. Es ist 
wohl möglich, dass die Behörden, wenn sie diese Gutachten nicht 
mehr wie bisher unentgeltlich erhalten sollten, davon Abstand 
nehmen, oder die Kosten den betreffenden Beamten auferlegen 
werden. Interessante derartige Beispiele liegen bereits vor von 
den Kollegen Meyhöfer in Görlitz und Heidelberg in Reichen¬ 
bach. In beiden Fällen begnügte sich die Behörde auf die Vor¬ 
stellung der Kollegen, dass sie nur Befund - Atteste kostenfrei 
abzugeben verpflichtet seien, mit letzteren. In einem gleichen Falle 
des Kollegen Wiedner in Cottbus hat das Ober-Landesgericht 
dem betreffenden zu pensionirenden Beamten die Kosten auferlegt. 

Wie gross die Zahl der in einem Jahre von den Medizinal¬ 
beamten abgegebenen unentgeltlichen Gutachten ist, habe ich ver¬ 
sucht, durch eine Umfrage bei den 546 Physikern festzustellen. 
Da die Kreiswundärzte wohl nur selten in die Lage kommen, der¬ 
artige Atteste auszustellen, habe ich meine Anfrage nicht auf sie 
ausgedehnt. Aus den mir bisher eingegangenen 250 Antworten 
habe ich Folgendes entnehmen können: 

Im Jahre 1892 sind von diesen 250 Physikern 638 derartige 
ausführliche Gutachten unentgeltlich abgegeben worden. Rechnet 
man jedes Attest durchschnittlich zu 9 Mark, so ergiebt dies eine 
Summe von 5742 M., die uns für die geleistete Arbeit nicht ge¬ 
zahlt worden sind. Man wird nicht weit von der Wirklichkeit 
abweichen, wenn man diese Summe mindestens verdoppelt, da weit 
über die Hälfte der Physiker mit ihren Berichten noch aussteht. 

Ueber die Zahl dieser Atteste, welche von den Behörden 
honorirt worden sind, läst sich ein sicheres Bild aus den einge¬ 
gangenen Antworten nicht gewinnen. Es sind im Ganzen ange¬ 
geben 167 derartige bezahlte Atteste. Der grösste Theil ist aber 
von den Untersuchten selbst bezahlt, und ein grosser Bruchtheil 
betrifft Atteste für Gensdarmen, die mit 3 Mark honorirt sind, ob¬ 
gleich auch nipht an allen Orten. Es bleibt daher nur eine ver¬ 
schwindend kleine Zahl von Attesten übrig, die von den Behörden 
bezahlt sind. 

Nach allem diesem glaube ich, dass wir Alle ein grosses 
Interesse daran haben müssen, dass die bisherigen unrichtigen 
Auslegungen der bestehenden Bestimmungen ein Ende nehmen, 
und dass es sich daher wohl lohnt, eine prinzipielle Entscheidung 
des Herrn Ministers herbeizuführen. Wir müssen gemeinsam da¬ 
gegen ankämpfen, dass uns von dein Wenigen, worauf wir einen 
rechtlichen Anspruch erheben können, noch Dieses und Jenes vor¬ 
enthalten wird. 

Ich empfehle Ihnen daher unseren Antrag zur Annahme mit 
der Bitte, dass der Vorstand beauftragt wird, eine besondere 
schriftliche Eingabe an den Herrn Minister zu machen, damit der¬ 
selbe nicht das Schicksal unserer bisherigen Resolutionen theile. 



140 


DisknssionsgegenBt&nde. 


Diskussion. 

H. gerichtl. Stadtphysikus, San.-Rath Dr. Mittenzweig: Ich bin sehr 
einverstanden mit dem Vorschläge; bitte jedoch den Antrag bestimmt zn for- 
mnliren und zur Abstimmung zu bringen. 

H. Bez.-Phys., San.-Rath Dr. Kollm: Der Antrag geht dahin, dass der 
Vorstand eine schriftliche Eingabe an Se. Excellenz den Herrn Kultusminister 
richte, um eine auch fttr die anderen Ressorts gültige Entscheidung darüber 
herbeizuführen, ob die Medizinalbeamten verpflichtet sind, die ihnen von den 
verschiedenen Behörden im Interesse des Dienstes anfgetragenen ausführlichen 
Gutachten über den Gesundheitszustand Kaiserlicher oder Königlicher Beamten 
ohne Entgelt abzugeben. 

H. Kr.-Phys. Dr Meyhöfer: Ich möchte bitten, den Antrag so zn fassen, 
dass der H. Minister ersucht wird, eine Entscheidung dahin zn fassen, dass wir 
nicht znr unentgeltlichen Abgabe derartiger Gutachten verpflichtet sind. 

H. Bez.-Phys., San.-Rath Dr. Kollm: Damit bin ich einverstanden. 

Vorsitzender: Es hat sich Niemand mehr zum Wort ge¬ 
meldet. Wir schreiten nunmehr zur Abstimmung über den von 
dem Herrn Referenten gestellten Antrag. Derselbe lautet mit der 
vom Kollegen Meyhöfer gewünschten Modifikation wie folgt: 

„Der Vorstand des Preussischen Medizinalbeamtenvereins 
wird beauftragt, an Se. Excellenz den Herrn Kultus¬ 
minister eine schriftliche Eingabe zu richten mit der Bitte, 
eine Entscheidung dahin treffen zu wollen, dass die Medi¬ 
zinalbeamten nicht verpflichtet sind, die ihnen von Staats¬ 
behörden im Interesse des Dienstes aufgetragene Aus¬ 
stellung von Gutachten über den Gesundheitszustand 
Kaiserlicher oder Königlicher Beamten unentgeltlich zu 
bewirken.“ 

Diejenigen Herren, die für diesen Antrag stimmen, bitte ich 
die Hand zu erheben. 

Der Antrag ist einstimmig angenommen. 


b. Die Gebühren für die Untersuchungen von Personen 
in der Wohnung der Medizinalbeamten oder für Akten¬ 
studium behufs Abgabe eines mündlichen Gutachtens im 
Termin. 

H. Bez.-Phys., San.-Rath Dr. Kollm: Im Anschluss an 
unseren Antrag hat Herr Regierungsrath Dr. Rapmund eine 
andere nicht minder wichtige Taxfrage zur Diskussion gestellt. 
Dieselbe betrifft die Untersuchungen von Personen in der 
Wohnung des Medizinalbeamten behufs Abgabe eines münd¬ 
lichen Gutachtens im Termine. 

Bei Erlass des Gesetzes vom 9. März 1872 war, wie Herr 
Reg.-Rath Dr. Rapmund in Nr. 20 Jahrgang 1892 der Zeit¬ 
schrift für Medizinalbeamte treffend ausführt, von mündlichen 
Gutachten vor Gericht nicht die Rede, es wurden von den Medi¬ 
zinalbeamten stets schriftliche Gutachten erfordert. Bei diesen 
wurden für etwaige Untersuchungen in der Wohnung des Sach¬ 
verständigen zum Zwecke des Gutachtens besondere Gebühren 
nicht berechnet, «ondern bei Bemessung der Gebühr für das Gut- 



Diskussionsgegenstände. 


141 


achten mit in Anrechnung gebracht, und danach je nach der 
Schwierigkeit des Geschäftes die höheren oder geringeren Sätze 
gewährt. Wurden zur genaueren sachgemässen Ermittelung Vor¬ 
besuche erforderlich, so bestimmte der §. 6 des Gesetzes dafür 
eine Gebühr von je 3 Mark. Bei Einführung des mündlichen 
Gerichtsverfahrens kam es dann häufiger vor, dass dem Medizinal¬ 
beamten die zu untersuchenden Personen vom Gericht in seine 
Wohnung gesandt wurden, damit derselbe sich für sein im Termine 
abzugebendes Gutachten über deren körperlichen oder geistigen 
Zustand durch eine vorherige Untersuchung informire. Von den 
meisten Gerichten wurde eine Bezahlung dafür abgelehnt, da be¬ 
sondere Bestimmungen für diesen Fall im Gesetze vom 9. März 
1872 nicht vorgesehen waren. Es wurden dadurch die Gebühren 
für einen Vorbesuch gespart, oder Zeit im Termine selbst gewonnen. 

Auf eine Beschwerde des Kreisphysikus Dr. Beermann in 
Duisburg gegen das Ober - Landesgericht zu Hamm in einem gleichen 
Falle entschied das Reichsgericht durch Beschluss vom 19. April 1888, 
dass dem Kollegen die Gebühr für einen Vorbesuch zu zahlen sei. 
Es führte dabei aus, dass nach den in §. 378 der Zivilprozess¬ 
ordnung ausgesprochenen allgemeinen Grundsätzen, sowie auch nach 
den Vorschriften des Gesetzes vom 9. März 1872 der Medizinal¬ 
beamte für die auf Verlangen des Gerichts in seiner Behausung 
empfangenen Vorbesuche und die damit verknüpfte Zeitversäumniss 
entschädigt werden müsse. — Einen durchaus anderen Standpunkt 
nimmt dagegen der Justiz-Ministerial-Erlass vom 13. Juli 1892 
ein, der in Folge eines Monitums der Oberrechnungskammer, das 
bei Gelegenheit einer im gleichen Falle dem Kollegen Lewin zu 
Berlin auf seine Liquidation gezahlten Gebühr erhoben war, den 
Justizbehörden zur Nachachtung gegeben wurde. Der Herr Minister 
vertritt darin die Ansicht, dass nach dem Wortlaute des Gesetzes 
vom 9. März 1872 als Vorbesuche im Sinne des Gesetzes nur die¬ 
jenigen gelten können, welche ausserhalb der Behausung des Sach¬ 
verständigen gemacht werden. Die in seiner Wohnung vorgenom¬ 
menen Untersuchungen seien durch die Termins - Gebühr gedeckt. 
Ein Anspruch auf besondere Vergütung dafür sei auch nicht durch 
die Gebührenordnung für Sachverständige und Zeugen vom 8. Juni 
1878 zu begründen. 

Ueber die Richtigkeit dieser Ausführungen können wir selbst¬ 
verständlich kein Urtheil uns anmassen. Der Herr Minister hat 
aber am Schlüsse seines Erlasses die ihm unterstellten Behörden 
angewiesen, etwa über diese Frage auf dem Beschwerdewege er¬ 
gehende Entscheidungen der Oberlandesgerichte oder des Reichs¬ 
gerichts ihm abschriftlich einzureichen. Es scheint daraus hervor¬ 
zugehen, dass er gegentheilige Entscheidungen der betreffenden 
Gerichte, die nach eigenem Ermessen zu erkennen haben, nicht 
ausgeschlossen hält. Es liegen in der That auch bereits zwei ganz 
entgegengesetzte Entscheidungen von Landgerichten vor. Die eine 
auf eine Beschwerde des Kollegen Henning in Schlawe von dem 
Landgericht in Stolpe stellt sich genau in den Entscheidungsgründen 
auf den Standpunkt des Herrn Ministers, die andere auf eine Be- 



142 


Diskussionsgegeustände. 


sch werde des Kollegen Marx in Mühlheim a. d. Ruhr von dem 
Landgerichte in Duisburg gefällte Entscheidung entspricht dem 
Beschlüsse des Reichsgerichts. Eine ganze Anzahl von Gerichten, 
die anfänglich die von den Kollegen eingereichten Liquidationen 
zur Zahlung angewiesen hatten, verfügten nach Bekanntwerden 
des Justizministerial-Erlasses die Rückerstattung der gezahlten 
Gebühren. Eine Ausnahme machten die Amtsgerichte in Mühl¬ 
heim a. d. Ruhr und in Sagau, welche anstandslos den Kollegen 
Marx bezw. Lieb er t die Gebühren bewilligten. Aus einer Mit¬ 
theilung des Kollegen Marx in Fulda geht hervor, dass ihm seit 
dem Justizministerial-Erlass vom 13. Juli 1892 von den Gerichten 
auch geisteskranke zu entmündigende Personen, darunter solche, die 
widerspenstig und gefährlich sind, in seine Behausung zur Vor¬ 
untersuchung geschickt werden, während früher ausnahmslos Vor¬ 
besuche in der Wohnung der zu Entmündigenden gefordert wurden. 
Ein derartiges Verfahren dürfte schwerlich zu rechtfertigen sein, 
da dem Sachverständigen doch kaum zugemuthet werden kann, 
Personen, die für ihn und seine Umgebung unter Umständen von 
der grössten Gefahr sein können, in seine Wohnung aufzunehmen. 
Abgesehen davon dürfte eine Untersuchung eines Geisteskranken, 
der aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen ist, oft genug 
entweder ganz unmöglich sein, oder ein ganz falsches Resultat 
ergeben. 

Was 8oll nun Angesichts dieser Thatsachen geschehen P 
Prinzipiell müsste man sich wohl dahin auszusprechen haben, dass 
die Lücke in dem Gesetze vom 9. März 1872, die doch zweifellos 
vorhanden ist, durch eine nachträgliche Deklaration der gesetz¬ 
gebenden Faktoren ausgefüllt werde. Dieselbe hätte auch darauf 
Rücksicht zu nehmen, dass eine Gebühr für das Aktenstudium im 
Hause zum Zwecke eines mündlichen Gutachtens im Termin aus¬ 
gesetzt werde. Eine dahin zielende Petition an das Abgeordneten¬ 
haus könnte sicher von dem Verein eingebracht werden, da die 
höchsten Instanzen bereits mehrfach angerufen worden sind. Schon 
die Billigkeit erfordert es, dass dem Sachverständigen für eine 
unter Umständen recht zeitraubende Thätigkeit, zu der mitunter 
schwierig zu handhabende, oft auch spezialärztliche Instrumente 
erforderlich sind, die häufig auch gar nicht ausserhalb der für 
eine spezialistische Untersuchung besonders eingerichteten Wohnung 
des Sachverständigen vorzunehmen möglich ist, eine besondere 
Gebühr gezahlt wird. Diesen Erwägungen dürften sich die gesetz¬ 
gebenden Faktoren gewiss auch nicht verschliessen. — Bis aber 
eine derartige gesetzliche Regelung eingetreten ist, möchte es 
geboten sein in jedem einzelnen Falle den Beschwerdeweg zu 
beschreiten, wie es ja schon von einer Reihe von Kollegen geschehen 
ist. Eine ganze Anzahl von Kollegen hat überdies jede Unter¬ 
suchung in ihrer Behausung zurückgewiesen. Ich selbst habe in 
meiner früheren Stellung vor etwa 7 Jahren, nachdem meine Be¬ 
schwerde von dem Landgerichte zu Glogau erfolglos geblieben war, 
jede Untersuchung in meiner Wohnung fortan stets mit Erfolg 
abgelehnt. 



Diskussionagegenstände. 


143 


Dass die Zahl derartiger Untersuchungen eine recht grosse 
ist, geht aus folgender Zusammenstellung hervor, die ich auf 
Grund einer Umfrage bei den Herren Kollegen geben kann: Im 
Jahre 1892 sind von den 250 Kollegen, die meine Umfrage beant¬ 
wortet haben, 290 derartige Untersuchungen in ihrer Behausung 
unentgeltlich vorgenommen worden. Dies macht zu 8 Mark 
gerechnet 870 Mark im Jahre. Da aber mehr als die Hälfte der 
Kollegen mit ihren Antworten noch aussteht, so dürfte sich sicher 
eine Summe von 1700 Mark ergeben, die jährlich unserer Ein¬ 
nahme entzogen ist. 

Ich fasse nun mein Endurtheil dahin zusammen: 

1. Dass es wünschenswerth erscheint, dass der Vorstand 
des Vereins eine Petition an das Abgeordnetenhaus richte 
dahin gehend, dass die vorhandene Lücke in dem Gesetze 
vom 9. März 1872 ausgefüllt werde. 

2. Dass bis zur weiteren gesetzlichen Regelung in jedem 
einzelnen Falle der Beschwerdeweg bis zur letzten Instanz 
beschritten werde. 


Diskussion. 

H. Kr.-Phys., Geh. San.-Rath Dr. Wallichs: M. H.! Mir ist es garnicht 
zweifelhaft, obgleich es etwas kühn klingt, dass der betreffende Erlass des 
Justizministers vom 13. Juli v. J. im Widerspruch mit dem Wortlaut des Ge¬ 
setzes vom 9. Mai 1872 steht. Wenn da im §. 3 gesagt ist, dass der Medizinal¬ 
beamte Anspruch habe auf Bezahlung für alle Verrichtungen, so weit nicht 
besondere Bestimmungen zu unentgeltlicher Dienstleistung verpflichten, so haben 
wir auch Anspruch auf Vergütung für diejenigen Verrichtungen, die im §. 3 
nicht ausdrücklich aufgeführt sind, und so ist es auch bisher von den Gerichten 
gehalten worden. Für Aktenlesen und Untersuchungen in der Wohnung sind 
mir meine Liquidationen stets bezahlt worden. In Anwendung kommt dann die 
Verordnung über Gebühren der Zeugen und Sachverständigen vom 30. Juli 1878. 
Es kann doch in der That nicht verlangt werden, dass wir Geschäfte wie die 
fraglichen, als Untersuchung von Geisteskranken in unserer Wohnung, oder wie 
in meinem Fall: Feststellung des Stadiums der Gravidität, oder das Lesen dicker 
Akten, gratis besorgen sollen, weil diese nicht im §. 3 des Gesetzes vom 9. März 
1872 verzeichnet sind. Erschöpfend kann eine solche Aufzählung doch nie sein. 
Ein Recht auf Vergütung giebt uns aber die allgemeine Bestimmung. 

Nun meinte Kollege Ko lim, wir sollten den Beschwerdeweg einschlagen. 
Darüber bin ich zweifelhaft. Sollte nicht zunächst der Weg der gerichtlichen 
Klage zu versuchen sein? Es ist allerdings ein Uebelstand, dass man mit diesen 
kleinen Beträgen wohl nicht weiter kommen kann, als höchstens an die zweite 
Instanz, dass man also kein Urtheil eines Oberlandesgerichts, geschweige des 
Reichsgerichts erzielen kann. In prinzipiellen Fragen soll dies allerdings unter 
Umständen möglich sein; aber ob das hier zutrifft, weiss ich nicht. Auf alle 
Fälle haben wir jedoch Ursache, gegen diese, wie wir meinen, ungerechte Ent¬ 
ziehung von uns zukommenden Gebühren alle möglichen Schritte zu thun. 

H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Wiedner: M. H.! Ich kann Ihnen das von 
Herrn Kollegen Wallichs Gesagte illustriren. Es ist mir folgender Fall vor¬ 
gekommen. Ein Spezialkollege, Augenarzt, wurde vom Gerichte beauftragt, ein 
Gutachten über einen Augenkranken abzugeben. Bei dieser besonderen 
spezialistischen Untersuchung war es ganz zweifellos, dass der Kranke zu ihm 
vorher ins Haus kommen musste. Für diese Untersuchung liquidirte der 
betreffende Kollege die Gebühr für einen Vorbesuch, die früher in ähnlichen 
Fällen anstandslos bezahlt worden war. In dem vorliegenden Falle wurde die 
Zahlung aber abgelehnt. Der Kollege klagte darauf beim Landgericht, und das 
Landgericht entschied zu seinen Gunsten. Gegen diese Entscheidung des Land¬ 
gerichts wurde jedoch vom Staatsanwalt Widerspruch erhoben, so dass die Sache 



144 


Dläkussionsgegenstände. 


an das Kammergericht kam and dieses wies unter Aufhebung der Entscheidung 
des Landgerichts den Anspruch auf eine Gebühr als ungerechtfertigt zurück. 
Hiergegen erhob nunmehr der Kollege Widerspruch beim Reichsgericht. Dies 
hat jedoch die Klage aus formellen Gründen zurück gewiesen, ohne in der Sache 
selbst eine Entscheidung zu treffen. Der Fall ist vor noch nicht einem halben 
Jahre vorgekommen. Es scheint mir also durchaus nötliig zu sein, dass in der 
Frage Klarheit geschaffen wird. Es kommen z. B. Fälle vor, wo die Untersuchun¬ 
gen, die man in seiner Wohnung anstellcn muss, zeitraubender Natur sind. Mir 
sind wenigstens einzelne Fälle gegenwärtig, wo die Voruntersuchung zur Vor¬ 
bereitung des Gutachtens eine Stunde und länger gedauert hat. (Zuruf: Bei 
Geisteskranken!). Untersuchungen von Geisteskranken in meiner Wohnung habe 
ich nicht angestellt, das habe ich einfach abgelehnt. 

H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Philipp: M. H.! Ich verspreche mir von 
einer Petition an das Abgeordnetenhaus gar Nichts, denn eine solche Petition 
wird im besten Falle dem Justizminister als Material überwiesen, und dann 
bleibt es beim Alten. Wir können gegen das jetzt beliebte Verfahren aber Eins 
thun, nämlich solche Requisitionen ablehnen. Wieweit die Gerichte in ihren 
Anforderungen gehen, darüber möchte ich noch mit zwei Worten berichten: Es 
ist mir neulich von einem hiesigen Gericht die Aufforderung zugegangen, einen 
Kranken in Dalldorf zu untersuchen — wofür mir Reisekosten und Tagegelder 
zusteben —, aber der Kostenersparniss halber gelegentlich. Ich habe dies 
natürlich nicht gethan und meine Liquidation dann anstandslos bezahlt erhalten. 
Ich erkläre jetzt in allen Fällen, wo mir Aufforderungen zugehen, Unter¬ 
suchungen in meiner Wohnung vorzunehmen, ein Gutachten aber erst im 
Termin abzugeben, dass ich mich nicht für verpflichtet halte, dies ohne Ent¬ 
schädigung zu thun. Es kann uns meiner Ueberzeugung nach nicht zugemuthet 
werden, für solche Zwecke ein Zimmer unserer Wohnungen herzugeben. Ich 
glaube, dass wir uns, wenn wir übereinstimmend so verfahren, am besten helfen. 

H. Kr.-Phys. Geh. San.-Rath Dr. Wallicbs: Ich möchte zu dem, was ich 
schon gesagt habe, noch hinzufügen, dass, nachdem mir diese erste Sache abge¬ 
lehnt war, ich auch dem Gericht mitgetheilt habe, ich würde niemals wieder 
eine Untersuchung in meiner Wohnung vornehmen. 

Was die weitere Behandlung der Angelegenheit anbetriftt, so schlage ich 
vor, die weiteren Schritte in dieser Hinsicht dem Vorstande zu überlassen. 

H. Kr.-Phys. Dr. Philipp: Die Kollegen vom Landgericht I — ich bin 
beim Landgericht II — machen es, soviel mir bekannt, ebenso, sie lehnen ab. 

H. Bez.-Phys. San.-Rath Dr. Kollm: Dieses Verfahren der Ablehnung 
habe ich schon vor 7 Jahren mit Erfolg ausgeübt. Ich habe aber nicht gewusst, 
wieweit ich berechtigt gewesen war, dies hier als Schlusssatz anzuführen, da 
wir im Allgemeinen doch den Requisitionen der Behörden Folge zu leisten haben 
und habe eben erwartet, dass sich die Herren Kollegen darüber äussern würden. 
Dass eine letztinstanzliche neuere Entscheidung Uber die in Rede stehende Frage 
vorliegt, habe ich nicht gewusst. Das würde die Sache ja natürlich sehr ändern; 
denn von einer weiteren Beschwerde unsererseits würde niemals mehr ein Erfolg 
zu erwarten sein, wenn das Reichsgericht bereits entschieden hätte, dass der¬ 
artige Liquidationen abzulehnen wären'). Im Uebrigen glaube ich aber doch, 
dass eine gesetzliche Regelung der Sache wünschcnswerth ist; da die Fassung 
des §. 3 in dem Gesetze vom 9. März 1872 jedenfalls unklar ist und es zweifel¬ 
haft lässt, ob uns in derartigen Fällen Gebühren nach dem Wortlaute des Ge¬ 
setzes zustehen. In diesem Sinne schliesse ich mich dem vom Kollegen Wallichs 
gemachten Vorschläge: „dem Vorstande die weiteren Schritte zu überlassen“ an. 

H. Bez.-Phys. San.-Rath Dr. Becker (Berlin): Ich möchte blos die Frage 
anregen, ob man berechtigt ist, solche Untersuchungen abzulehnen. Uns Physikern 
in Berlin werden z. B. die zu untersuchenden Leute durch den Schutzmann 
vorgeführt. 

H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Philipp: Darüber liegt ja, so viel ich weiss, 
noch keine Entscheidung vor, aber es wäre interessant, wenn man die Sache 


') Eine derartige Entscheidung des Reichsgerichts liegt nicht vor; sondern 
im Gegentheil, das Reichsgericht hat vor Kurzem zu Gunsten der Medizinal- 
bcamten entschieden. Anmerkung des Schriftführers. 



Diakussionsgegens tänd e. 


145 


auf die Spitze triebe. Jedenfalls habe ich dabei noch keine Schwierigkeiten 
gehabt, und jetzt, nachdem ich mich mit dem betreffenden Untersuchungsrichter 
und mit dem requirirenden Amtsrichter darüber ausgesprochen habe, kommt es 
überhaupt nicht mehr vor, dass mir die Zumuthung gestellt wird, in der Woh¬ 
nung zu untersuchen. Ein Gerichtsbeschluss, der ausspricht: Die Kreisphysiker 
sind verpflichtet, gerichtsärztliche Geschälte in ihren Wohnungen ohne Ent¬ 
schädigung vorzunehmen, ist bis jetzt, soviel mir bekannt, nicht ergangen; sobald 
ein solcher vorliegt, können wir weiter dagegen remonstriren. 

H. Kr.-Phys. San.-Rath Dr. Koppen: Meine Gerichte nehmen mir gegen¬ 
über den Standpunkt ein: Was nicht in dem Gesetz vom 9. März 1872 erwähnt 
ist, existirt nicht für uns, das bezahlen wir nicht, und daraufhin habe ich den 
Gerichten gegenüber denselben Standpunkt eingenommen und habe erklärt, ich 
thue auch Nichts in meiner Wohnung; denn ich bin auch nicht verpflichtet, als 
Gerichtsarzt etwas unentgeltlich zu thun. 

Vorsitzender: Es hat sich Niemand mehr zum Wort gemeldet. 
Ich schliesse damit die Diskussion und spreche zunächst dem 
Kollegen Kollm unsern Dank für sein anregendes und erschöpfendes 
Referat aus. 

Wir kommen dann zur Abstimmung über den vom Kollegen 
Wallichs gestellten und vom Referenten acceptirten Antrag: 
„dass demVorstande die weiteren Schritte in der An¬ 
gelegenheit überlassen bleiben sollen.“ 

Ich frage, ob die Herren Kollegen mit diesem Anträge ein¬ 
verstanden sind. 

(Allgemeine Zustimmung.) 

Der von den Medizinal - Beamten des Reg.-Bez. Minden in 
Anregung gebrachte und auf die heutige Tagesordnung gestellte 
Diskussionsgegenstand, betreffend die Hufeland’schen Stiftungen, 
kann heute nicht mehr zur Berathung gelangen, da der Referent, 
unser verehrter Schriftführer, leider erkrankt und bereits heute 
Vormittag wieder abgereist ist. 

Ich schliesse somit die diesjährige Versammlung mit dem 
Wunsche auf ein hohes Wiedersehen im nächsten Jahre. 

Schluss der Sitzung: 2 1 l i Uhr Nachmittags. Unter Führung 
des Herrn Dr. Leppmann fand sodann Nachmittags 3 Uhr 
die Besichtigung der Königl. Strafanstalt zu Moabit und 
der damit verbundenen Beobachtungsanstalt für geistes¬ 
kranke Verbrecher statt. Ueber 40 Theilnehmer versammelten 
sich zunächst im Konferenzzimmer der Anstalt, wo ihnen Herr 
Strafanstaltsdirektor Zilligus in kurzen Zügen die Ziele des 
Strafvollzuges in der Einzelhaft, die baulichen Einrichtungen, das 
Leben der Sträflinge und den Arbeitsbetrieb zum Theil an der Hand 
von Abbildungen erläuterte. 

Dann wurden durch Beamte der Strafanstalt die Anwesenden 
in kleineren Gruppen durch die Hauptanstalt (uen Berlinern unter 
dem Namen Zellengefängniss bekannt) geführt, bis man sich wieder 
im Arbeitssaal der in unmittelbarer Nachbarschaft befindlichen 
Irrenstation vereinigte. Dort zeigte Herr Dr. Leppmann im 
Anschluss an seinen Vortrag die Messapparate und Aufnahmeformu- 

10 



146 


Diskussionsgegenst&nde. 


lare, sowie aus dem Krankenmaterial der Abtheilung eine Reihe 
typischer Fälle, welche hauptsächlich die verschiedenartige Aetio- 
logie der im Strafvollzüge bemerklich werdenden Seelenstörungen 
beweisen sollten. Es waren dies: 

I. Melancholischer Gelegenheitsverbrecher, durch die Wucht 
der Bestrafung akut zusammengebrochen. 

II. Chronisch verrückter Mörder, 30 Jahre in Haft. Haupt¬ 
grund der Erkrankung: die lange hoffnungslose Freiheitsentziehung. 

III. Luetischer Paralytiker, alter Zuhälter. Krankheitsein¬ 
tritt nur zufällig mit dem Strafvollzüge zusamraenfallend. 

IV. Halluzinatorisch verworrener Tobsüchtiger mit Erschei¬ 
nungen von Hirndruck, wahrscheinlich in Folge von Hirnabszess 
durch Kriegsverletzung im Jahre 1870. Strafthat (Todschlag) 1885. 
Manifeste Geistesstörung 1889. 

V. Angeboren Schwachsinniger, von Kind an Vagant, wegen 
wiederholter Desertion bestraft. In der Haft Erregungszustände 
mit Sinnestäuschungen. 

VI. Chronisch Verrückter, wegen Mordversuch verurtheilt, mit 
Wahrscheinlichkeit durch paranoische Ideen zur That veranlasst. 

Nach dieser Demonstration fand ein Rundgang durch die Ab¬ 
theilung statt. 


—- fr - 



Anlage zu dem Vorträge des Reg.- u. Med.-Raths Dr. Rapmund, 
betreffendsten Entwurf des Reichsseuchengesetzes. 


Uebersicht 

der in den 

einzelnen deutschen Bundesstaaten 

zur Zeit bestehenden Vorschriften 


über die 

Anzeigepilicht 


bei 


ansteckenden Krankheiten. 



148 


1. Ansteckende Krankheiten, bei denen die Anzeigepflicht 


Staat. 

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2. 

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3. 

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Darmtyphus. 

5. 

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Diphtherie nnd 
Krupp. ^ 

Ruhr. <i 

Scharlach. oo || 

1. Königreich Preussen 

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(bei bösartigem 
epidemischem 
Auftreten) 

2. „ Bayern 

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fakul¬ 

tativ 

<b.gross. 
Verbrei¬ 
tung) 

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fakul¬ 

tativ 

(b. gross. 
Verbrei¬ 
tung) 

3. „ Sachsen 

n 

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4. „ Württemberg 

n 

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Umfangreiche Epidemien sind 
Ortsvorständen den Oberämtern 

5. Grossherzog¬ 
thum Baden 

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(b.epide¬ 
misch, m 
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6. „ Hessen. 

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— 

71 

7. „ Sachs.-Weimar 

Beim Ausbruch einer gefährlichen und ansteckenden 
des zuständigen Bezirksarztes die Verpflichtung 
| Krankheitsfälle bei 

8. „ Mecklenburg- 

Schwerin 

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ga to¬ 
risch | 

obli¬ 

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obli¬ 

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Die Aerzte sind ausserdem 
anzuzeigen; auch etwaige 
Krank 

9. w Mecklenlmrg- 
Strelitz 

n 

n 

» 

» 

Die Aerzte sind verpflichtet, 
auch etwaige Todesfälle 

10. „ Oldenburg 

n 

7) 

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w 

fakultativ (bei 

11. Herzogth. Braun- 
schweig 

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12. „ Sachsen- 

Meiningen 

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n 

fakul¬ 

tativ 

13. „ Sachsen- 

Coburg 

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1 

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1 

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1 

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I 

1 

V 

I 

T> 

fakultat. 
(nur 
beim 1. 
Erkinn- 
kungs- 
faU) 








149 

obligatorisch oder fakultativ vorgeschrieben ist: 


9. 

10. 

ll. 

12. 

13. 

14. 

15. 

16. 


Wochenbett¬ 

fieber. 

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Gesetzliche 
Bestimmungen und 
Bemerkungen. 

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fakul¬ 

tativ 

(wie bei 
Schar¬ 
lach) 

— 

— 

obliga¬ 

torisch 

bei Weich- 
! selzopf; 

fakultat. 

bei Krätze 
u. Syphili*. 

Regulativ v. 8. Aug. 1835 
(§8.25, 36,41,44, 69,84, 
107, 117 u. 122); 
bei Diptherie, Wochen¬ 
bettfieber, epidera. Kopf- 
geniekkrampf uud Trichi- 
nosis ist die Anzeige durch 
(Polizei-Verord. vorgeschr 

77 

77 

77 

77 

77 

fakultativ 

(bei grosser Ver¬ 
breitung und 
Heftigkeit.) 

fakulta¬ 

tiv 

bei 

Influenza 

Königliche Verordnung 
vom 22. Juli 1891, 

§. 1, Abs. 1 uud 2. 

(siehe 

Bemer¬ 

kung) 

— 

— 

— 


— 

— 

— 

V« rordn. vom 19. Januar 
1886 u. vom 9. Mai 1890. 

Bei Wochenbetttieber 
besteht Anzeigepflicht nur 
f. Hebammen (Instruktion 
vom 22. Juni 1892, §. 25.) 

von den 
anzuzeigen. 

obli¬ 

gato¬ 

risch 

— 

— 

— 

— 

— 

Min.-Verfügungen vom 

3. Febr. 1872, vom 29. Ok¬ 
tober 1883 u. vom 9. Sep¬ 
tember 1892. 

obli¬ 

gato¬ 

risch 

obli¬ 

gato¬ 

risch 

— 

— 

fakultativ 

(bei epidemi¬ 
schem Auftreten) 

— 

— 

Verordn, vom 9. Juni 1880, 
30. Dezember 1881 und 
18. Juli 1884. 

77 

77 

obliga¬ 

torisch 

bei 

Toll- 

wuth 

— 

— 

— 

— 

— 

Medizinalordnung vom 25. 
Juni 1861, Polizei-Regle¬ 
ment vom 27. April 1880 
u. Verordn, v. 9.Aug. 1892. 
Die Anzeigepflicht b. Diph¬ 
therie, Scharlach,Wochen¬ 
bettfieber ist d. Polizei¬ 
verordnungen i. d. einzel¬ 
nen Kreisämtern geregelt. 

Krankheit ist der Bezirksdirektor ermächtigt, auf Antrag 
aller praktizirenden Aerzte zur Anzeige bestimmter 

Strafe anzuordnen. 

Verordnung vom 

22. Februar 1876. 

verpflichtet, das Ausbrechen einer ansteckenden Krankheit 
Todesfälle in Folge der unter 1 — 8 imd 11 genannten 
heiten. 

Mediz.-Ordn.v.18. Februar 
1830 u.Verordn.v. 13. März 
1888; sowie v. 21. Juli, 25. 
Aug. 1886 u. 21. Sept. 1892. 

das Ausbrechen einer 
in Folge der unter 1- 

ansteckenden Krankheit anzuzeigen; 1 
-8 und 11 genannten Krankheiten. 

Mediz.-Verordn.v. lB.Feb. 
1830 u. Verordnung vom 
13. März 1888. 

epidemischem Aufttreten) 

— 

— 

— 

Verordnung vom 

11. September 1873. 

obli¬ 

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risch 

obli¬ 

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risch 

obli¬ 

gato¬ 

risch 

obli¬ 

gato¬ 

risch 

— 

— 

Kose 

Mediz.-Ges v.25.0kt. 1865 
(§. 34) Min. -Erl. v.17.April 
1889, Pol.-Str.-Ges.-B. v. 
22./31. Dez. 1870, §. 8, Nr.l. 

77 

77 

7» 

— 

fakul¬ 

tativ 

— 

— 

— 

Verordnung vom 9. Nov. 
1836, Art. 4 u. Verfügung 
vom 21. Dezbr. 1888. 

7? 

— 

— 

— 

obligato¬ 
risch 
(aber nur 
beim 1. 
Erkran- 
kgsfall.) 

— 

— 

— 

Verordnung vom 

27. Februar 1882. 




150 


1. Ansteckende Krankheiten, bei denen die Anzeigepflicht 


Staat. 

Asiatische 

Cholera. 

Pocken. jo 

3. 

i 

1 

Er 

Danntyphus. 

Rflckfallfieber. p> 

Diphtherie und 1 

Krupp. * 1 

| 

Scharlach. po | 

14. Herzogth. Sachsen- 
Altenburg 

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risch 

obli¬ 

gato¬ 

risch 

Obligatorische Anzeigepflicht kann beim 
Ausbruch epidemischer Krankheiten an¬ 
geordnet werden. 

15. „ Anhalt 

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16. Fürstenth Schwarz¬ 
burg-Rudolstadt 

ff 

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17. Fürstenth. Schwarz- 
borg-Sonder8h. 

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risch 

obliffA- 
torUch 
(ab »r nur 
beim 1. 
Erkran- 
k&sfall.) 

18. Fiirstenth. Waldeck 

n 

n 

Obligatorische Anzeige beim epidemischen 

kontagiösen 

19. „ Reuss ältere 

Linie 

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20. „ Renss jüngere 

Linie 

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ff 

21. „ Schaumburg- 

Lippe 

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22. „ Lippe 

n 

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23. Freie^Stadt Lübeck 

ff 

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24. „ Bremen 

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25. „ Hamburg 

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26. Reichsland Eisass- 
Lothringen 

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Bei Epidemien ansteckender Krank 
des Bezirks durch 


















1B1 


obligatorisch oder fakultativ vorgeschrieben ist: 


9. 

10. 

li. 

12. 

13. 

14. 

15. 

16. 


Wochenbett¬ 

fieber. 

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11 

CQ 2 

Gesetzliche 
Bestimmungen und 
Bemerkungen. 

obliga¬ 
torisch 
(s. Be¬ 
mer¬ 
kung) 

— 

— 

— 

— 

— 

— 


Verordnungen vom 1. Juli 
1878 und 23. Juli 1884. 
Bei Wochenbettfleber An¬ 
zeigepflicht für Heb¬ 
ammen (Verordnung v m 
30. März 1889). 

obli¬ 

gato¬ 

risch 

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risch 

obli¬ 

gato¬ 

risch 

obli¬ 

gato¬ 

risch 

obli¬ 

gato¬ 

risch 

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— 


Verordnung vom 

15. Oktober 1882. 

1t 

1t 

* 

— 

obliga¬ 

torisch 

(aber nur 
beim 1. 
Erkran¬ 
kungs¬ 
fall) 

— 

— 

— 

Verordnung vom 

6. Juni 1890. 

obli¬ 

gato¬ 

risch 

— 


— 

n 


— 

— 

Verordnung vom 

20. November 1882. 

Auftreten aller epidemischen und 
Krankheiten. 

— 

— 

— 

Verordnungen vom 

11. April 1832 u. 22. Mal 
1835. 

obli¬ 

gato¬ 

risch 

— 

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— 

obli- 

gato- 

risch 

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— 

Verordnung vom 

16. Dezember^l884. 

1t 

obli¬ 

gato¬ 

risch 


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gato¬ 

risch 

1t 

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risch 

obli¬ 

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risch 

obligato¬ 

risch 

(bei brandi- 
gerLungen- 
entzundg.) 

Verordnung vom 

31. März 1892. 

1t 

n 

— 


1t 

1t 

n 

obligato¬ 

risch 

(bei 

Krätze) 

Polizeiverordnungen 
vom 11. Oktober 1887, 
24. Februar 1888 und 
18. Juni 1889. 

1t 

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obli- 

’gato- 

risch 


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Polizeiverordnung 
vom 5. Juli 1888. 

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— 

Verordnung vom 

24. Oktober 1891. 

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— 

— 

— 

Medizinal verordnun g 
vom 2. August 1878, 

§. 42. 

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— 

— 

— 

obli¬ 

gato¬ 

risch 

obli¬ 

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— 

— 

Medizinalordnung vom 

9. Februar 1818 u. Be¬ 
kanntmachung vom 

8. Juni 1888. 


heiten kann die Anzeigepilicht auf sämmtliche Aerzte 
Polizeiverordnong ausgedehnt werden. 


Obligatorische Anzeige¬ 
pflicht für fc Hebammen bei 
Wochenbettfieber (Heb¬ 
ammenordnung vom 

24. Mai 1889.) 


































152 


2. Zur Anzeige sind verpflichtet: 


1. nur die Aerzte: in Sachsen, Baden, Mecklenburg - Stre- 

litz, Mecklenburg - Schwerin, Sachsen - Weimar, 
Oldenburg, Sachsen-Altenburg, Bremen, Hamburg, 
Eisass - Lothringen; 

2. Aerzte, Wundärzte und Bader (alle Medizinalpersonen): 

in Bayern und Waldeck; 

3. Aerzte und jede den Kranken behandelnde Person (alle 

die Heilkunde ausübende Personen): in Hessen; 

4. Aerzte und Angehörige oder Pfleger der Kranken: 

in Württemberg; 

5. Aerzte und Haushaltungsvorstände oder deren Ver¬ 

treter: in Anhalt, Schaumburg-Lippe und Lübeck; 

6. Aerzte, Wundärzte, alle sich gewerbsmässig mit Aus¬ 

übung der Heilkunde beschäftigende Personen, 
Haushaltungsvorstände u. s. w.: in Reuss ältere 
und jüng. Linie; 

7. Familienhäupter, Haus- und Gastwirthe und alle Medi¬ 

zinalpersonen: in Preussen (in den meisten Re¬ 
gierungsbezirken sind übrigens die Aerzte durch 
Polizeiverordnung in erster Linie zur Anzeige 
verpflichtet, in vielen auch die sich sonst mit der 
Ausübung der Heilkunde beschäftigenden Personen) 
und Sachsen - Meiningen; 

&. Familienhäupter. Haus-, Gastwirthe, (Angehörige, Haus¬ 
genossen) Aerzte und andere sich mit der Aus¬ 
übung der Heilkunde beschäftigende (den Kranken 
behandelnde) Personen: in Braunschweig, Sachsen- 
Koburg-Gotha, Lippe-Detmold, Schwarzburg-Son- 
dershausen und Schwarzburg-Rudolstadt. 



163 


B. Die Anzeigen sind zu erstatten: 


1. an die Ortspolizeibehörde (Bezirks-Verwaltungsamt, 

Gemeindevorstand u. s. w.): in Preussen, Bayern, 
Württemberg, Baden, Sachsen-Weimar, Olden¬ 
burg, Braunschweig, Sachsen - Meiningen, Sachsen- 
Koburg, Sachsen-Altenburg, Anhalt, Schwarzburg- 
Rudolstadt, Schwarzburg - Sondershausen, Waldeck, 
Lippe - Schaumburg, Lippe - Detmold und Reuss 
ältere Linie; 

2. an die Ortspolizeibehörde und den Physikus: in 

Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz; 

3. an das Medizinal amt: Bremen, Hamburg und Lübeck; 

4. an den Bezirksarzt, das Kreisgesundheitsamt (Kreisarzt): 

in Sachsen, Hessen, Sachsen-Weimar und Reuss 
jüngere Linie. 


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Mitglieder" V erzeiehniss 

des 

Preussisehen Medizinalbeamten''Vereins.*) 

(Abgeschlossen am 1. April 1893.) 


Provinz Ostpreussen. 

1. Dr. Beeck, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäte-Rath in Preuss.-Holland. 

2. - Berthold, Kreis-Physikus in Sensburg. 

3. - Blumenthal, Kreis-Physikus in Insterburg. 

4. - Bredschneider, Kreis-Physikus in Angerburg. 

5. - Dubois, Kreis-Physikus in Johannisburg. 

6. - Eberhardt, Kreis-Physikus in Allenstein. 

7. - Forstreuter, Kreis-Physikus in Heinrichswalde. 

8. - Hassenstein, Kreis-Wundarzt in Prostken. 

9. - Hennemeyer, Kreis-Physikus in Orteisburg. 

10. - Herrendörfer, Kreis-Physikus in Ragnit. 

*11. - Israel, Kreis-Physikus in Medenau. 

12. - Klamroth, Kreis-Physikus in Osterode. 

13. - Leistner, Kreis-Wundarzt in Eydtkuhnen. 

14. - Liedtke, Kreis-Physikus in Goldap. 

15. - Liepkau, Direktor des Kgl. Impfinstituts u. San.-Rath in Königsberg. 

16. - N a t h, Regierungs- und Medizinal-Rath in Königsberg i. Pr. 

17. - Passauer, Regierungs- und Geh. Medizinal-Rath in Gumbinnen. 

18. - Rohn, Kreis-Physikus in Mohrungen. 

19. - Sabarth, Kreis-Physikus in Lötzen. 

20. - Salomon, Kreis-Physikus in Darkehmen. 

21. - Schiller, Kreis-Physikus in Wehlau. 

22. • Schultz, Kreiswundarzt in Coadjuthen. 

23. - Stielau, Kreis-Wundarzt in Preuss.-Holland. 

24. - Surminski, Kreis-Physikus in Lyck. 

25. - Wilde, Kreis-Wundarzt in Osterode. 

26. - Wolffberg, Kreis-Physikus in Tilsit. 

27. - Wollermann, Kreisphysikus in Heiligenbeil. 

Provinz Westpreussen. 

28. Dr. Ab egg, Geh. Sanitäts-Rath und Medizinal-Rath in Danzig. 

29. - Arbeit, Kreiswundarzt in Marienburg. 

30. - Barnick, Reg.- und Med .-Rath in Marien werder. 

31. - Bohm, Kreis-Physikus in Marienwerder. 

32. - Bremer, Kreis-Physikus in Berent. 

*) Die Namen der Theilnehnier an der diesjährigen X. Hauptversamm¬ 
lung sind mit einem * versehen. 



Mitgliederverzeichniss. 


155 


33. Dr. 

34. - 

35. - 

36. - 

37. - 

38. - 

39. - 

40. - 

41. - 

42. - 

43. - 

44. - 
•45. - 

46. - 

47. - 

48. - 

49. - 

50. - 

51. - 

52. - 


63. Dr. 
•54. - 
•55. - 
66 . - 

57. - 

58. - 
•59. - 
•60. - 
•61. - 
*62. - 
*63. - 
*64. - 
*65. - 

66 . - 

*67. - 
* 68 . - 
*69. - 
♦70. - 
71. - 
*72. - 
73. - 

*74. - 
75. - 
*76. - 
*77. - 
*78. - 


Deutsch, Kreis-Physikus in Elbing. 

Freymuth, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Danzig. 

Hasse, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Flatow. 

Heise, Kreis-Physikus in Briesen. 

Heynacher, Kreis-Physikus in Graudenz. 

Hop mann, Kreiswundarzt in Czersk. 

Kämpfe, Kreis-Physikus in Karthaus. 

Matz, Kreis-Wundarzt in Deutsch-Krone. 

Meissner, Kreis-Physikus in Strassburg i. West-Preussen. 

Moritz, Kreis-Physikus in Schlochau. 

Müller, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Könitz. 

Poschmann, Kreis-Wundarzt in Flatow. 

Priester, Kreis-Physikus in Tuchei. 
von Roszycki, Kreis-Wundarzt in Thom. 

Roth er, Kreis-Physikus in Putzig. 

Wendt, Kreis-Physikus in Preuss.-Stargard. 

Wilczewski, Kreis-Physikus a. D. und Geh. San.-Rath in Marienburg. 
Wodtke, Kreis-Physikus in Thorn. 

Wolff, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Loebau. 

Wollermann, Kreis-Wundarzt in Baldenburg. 

Berlin. 

Adamkiewicz, Kreis-Physikusa. D. und Geh. San.-Rath in Rawitsch. 
Baer, Bezirks-Physikus und Geheimer Sanitäts-Rath. 

Becker, Bezirks-Physikus und Sanitäts-Rath. 

Döring, Bezirks-Physikus. 

Falk, Kreis-Physikus und Professor. 

von Foller, Bezirks-Physikus und Sanitäts-Rath. 

Granier, Bezirks-Physikus und Sanitätsrath. 

Dr. Kollm, Bezirks-Physikus und Sanitätsrath. 

Leppmann, Irrenanstalts- und Gefängnissarzt. 

Lewin, Bezirks-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath. 

Litthauer, Bezirks-Physikus und Sanitätsrath. 

Meng er, Medizinalassessor. 

Mitten zweig, Stadt-Physikus und Sanitäts-Rath. 

Ohlmüller, Regierungsrath und Mitglied des Kaiserlichen Gesund¬ 
heitsamtes. 

Petr i, Regierungsrath und Mitglied des Kaiserlichen Gesundheitsamtes. 
Philipp, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath. 

Pistor, Geh. Medizinal-Rath. 

Rahts, Regierungs-Rath und Mitglied des Reichsgesundheitsamts. 
Röckl, Regierungs-Rath und Mitglied des Reichsgesundheitsamts. 
Schulz, Stadt-Physikus, San.-Rath und Direktor des Kgl. Impfinstituts. 
Seil, Geh. Regierungs-Rath, Professor und Mitglied des Reichsgesund¬ 
heitsamtes. 

Strassmann, Gerichtlicher Stadtphysikus. 

Struck, Geh. Ober-Regierungs-Rath. 

Stüler, Kreiswundarzt a. D. in Berlin. 

Wehmer, Medizinal-Assessor bei dem Polizei-Präsidium in Berlin. 
Wernich, Reg.- und Medizinalrath. 



156 


Mitgliederverzeichniss. 


Provinz Brandenburg. 

79 Dr. Berendes, Kreis-Physikus in Friedeberg. 

*80. - Beyer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Lübben. 

*81. - Bräutigam, Kreis-Physikus in Königsberg i. d. Neumark. 

82. - Buchholtz, Kreis-Wundarzt in Wittstock. 

83. - Davidsohn, Kreis-Physikus in Spremberg. 

*84. - Elten, Kreis-Physikus in Angermünde. 

85. - Friedrich, Kreis-Physikus in Landsberg a. W. 

86. - Giese, Kreiswundarzt in Prenzlau. 

*87. - Grossmann, Kreis-Physikus in Freienwalde a. 0. 

88. - Günther, Kreis-Wundarzt in Luckenwalde. 

89. - Günther, Kreiswundarzt in Bobersberg a. Bober. 

*90. - Guericke, Kreis-Wundarzt und Sanitäts-Rath in Straussberg. 

*91. - Gutkind, Kreis-Wundarzt und Sanitäts-Rath in Mittenwalde. 

92. - Hannstein, Kreis-Physikus in Perleberg. 

93. - Heise, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Rathenow. 

94. - Jaenicke, Kreis-Physikus in Templin. 

*95. - Itzerott, Kreiswundarzt in Werder (a. d. Havel). 

*96. - Kanzow, Regierungs- und Geh. Medizinal-Rath in Potsdam. 

*97. - Klein, Kreis-Physikus in Belzig. 

98. - K reüssier, Kreis-Physikus und Geheimer Sanitäts-Rath in Brandenburg. 

99. - Kuh nt, Kreis-Physikus in Beeskow. 

100. - Liersch, Kreis-Physikus und Geheimer Sanitäts-Rath in Kottbus. 

101. - Lindow, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Prenzlau. 

102. - Ortmann, Kreis-Wundarzt in Alt-Ruppin. 

103. - Passauer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Potsdam. 

*104. - Peyser, Kreiswundarzt in Königsberg i. d. Neum. 

*105. - Pfleger, Kreis-Wundarzt in Plötzensee bei Berlin. 

106. - Prawitz, Kreis-Physikus in Kyritz. 

107. - Rätzell, Kreis-Physikus in Arnswalde. 

108. - Reinecke, Kreis-Physikus in Nauen. 

109. - Sander, Medizinal-Rath und Direktor der städtischen Irrenanstalt in 

Dalldorf. 

*110. - Schartow, Kreis-Wundarzt in Potsdam. 

111. - Schulz, Kreis-Physikus in Spandau. 

112. Schumann, Kreis-Wundarzt in Beeskow. 

113. Dr. Siehe, Kreis-Physikus in Kalau. 

*114. - Struntz, Kreis-Physikus in Jüterbogk. 

115. - Telke, Kreis-Physikus in Züllichau. 

116. - Tietze, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Frankfurt a. 0. 
*117. - Weissenborn, Kreis-Physikus in Zielenzig. 

*118. - Wiedemann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Neu-Ruppin 
*119. - Wiedner, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Kottbus. 

*120. - Wolff, Kreiswundarzt in Joachimsthal. 

Provinz Pommern. 

*121. Dr. Alexander, Kreis-Physikus in Belgard. 

122. - B e u m e r, Kreis-Physikus und Professor in Greifswald. 

123. - Bittner, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Stargard. 

124. - Caspar, Kreis-Physikus in Greifenberg. 

125. - Dieterich, Kreis-Physikus in Demmin. 



Mitgliederverzeichniss. 


157 


126. Dr. Dyrenfnrth, Kreis-Physikus in Biitow. 

127. - Frey er, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Naugard. 

*128. - Frey er, Kreis-Physikus in Stettin. 

129. - Friedländer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Lauenbnrg. 

130. - Hanow, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Ueckermünde. 

131. - Heidenhain, Kreis-Wundarzt in Köslin. 

132. - v. Haselberg, Regierungs- und Medizinal-Rath in Stralsund. 

133. - Henning, Kreis-Physikus in Schlawe. 

*134. - Katerbau, Regierungs- und Medizinal-Rath in Stettin. 

135. - Kortum, Kreis-Wundarzt in Swinemünde. 

136. - Kraft, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Rummelsburg. 

137. - Krau, Kreis-Physikus in Greifenhagen. 

138. - Kramer, Kreis-Physikus in Pyritz. 

139. - Lehr am, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Köslin. 

140. - Lemke, Kreis-Physikus in Grimmen. 

141. - Liedke, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Neustettin. 

142. - Mau, Kreis-Physikus in Schievelbein. 

143. - Pogge, Kreis-Physikus in Stralsund. 

*144. - Prochn ow, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Labes. 

*145. - Raabe, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Kolberg. 

*146. - Roth, Regierungs- und Medizinal-Rath in Köslin. 

147. - Schäfer, Kreis-Physikus in Bublitz. 

148. - Schlütter, Kreis-Wundarzt in Pyritz. 

149. - Schulze-Barnim, Kreis-Physikus und Medizinalassessor in Stettin. 

150. - Siemens, Direktor der Provinzial-Irrenanstalt und Medizinal-Rath in 

Lauenburg. 

151. - Spiegel, Kreis-Wundarzt in Bublitz. 

152. - Voigt, Kreis-Physikus in Kammin. 

Provinz Posen. 

153. Dr. Ascher, Kreiswundarzt in Bomst. 

154. - Brinkmann, Kreis-Physikus in Neutomiscliel. 

155. - Brüggemann, Kreis-Physikus in Bromberg. 

156. - Chrzescinski, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Kolmar. 

157. - Cohn, Kreis-Physikus in Jarotschin. 

158. - Dembczack, Kreis-Physikus in Schroda. 

159. - Doepner, Kreis-Physikus in Meseritz. 

160. - Ebhardt, Kreisphysikus in Witkowo. 

*161. - Erdner, Kreis-Physikus in Schwerin a. d. Warthe. 

*162. - G6rönne, Regierungs- und Medizinal-Rath in Posen. 

*163. - Glogowski, Kreiswundarzt in Kempen. 

164. - Haberling, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Bromberg 
*165. - Hirschberg, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Posen. 

166. - Hirschfeld, Kreis-Physikus in Gostyn. 

167. - Holz, Kreis-Physikus in Mogilno. 

168. - Kleinert, Kreis-Physikus in Koschmin. 

169. - Kunau, Kreis-Physikus und Medizinal-Rath in Posen. 

170. - Kutzner, Kreis-Wundarzt in Kriewen. 

171. - Landsberg, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Ostrowo. 

172. - Lehmann, Kreis-Physikus in Znin. 

173. - Lissner, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Kosten. 



M i tgl iede rverzeichniss. 


158 

*174. Dr. Matthäi», Krei^-FLy-Jkus in Ob^mick- 
170. - Meinhof. Kr*-i*-Phy-ikuf? und Sanitäts-Rath in Fleischen. 

* J 70, - M i c h e 1 h o h n, K rei*-Pby*ikus in Wreechen. 

177. - 31 Oller, Kreis-Phy-ikus in CzamikaiL 

178. - Pape, Kreis-Physikus in AdelnatL 
170. - Pauli ui, Kreis-Fhybiktis in SchmiegeL 

180. - Powidzki, Kreis-Physikus und Sanität«-Rath in Schrimm. 

181. - K u b e n k o h n , Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Graetz. 

382. - Schäfer, Kreis-Wundarzt in Schneidernühl. 

180. - Scheider, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Sainter. 

184. - SchleuHsner, Kreis-Physikus in Pta witsch. 

180. - Schmidt, Kreis-Phy.-ikus in Inowrazlaw. 

180. - Schröder, Kreis-Physikus in Wöllstein. 

187. - Si edaingrotzky, Regierung*- und Medizinalrath in Bromberg. 

188. - Sikornki, Kreis-Physikus in Schildberg. 

180. - Wiese, Kreis-Physikus in Filehne. 

100. - Wilke, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Gnesen. 

101. - Wunderlich, Kreis-Physikus uud Sanitäts-Rath in Krotoschin. 

Provinz Schlesien. 

102. I)r. Adelt, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Bunzlau. 

100. - Adler, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Brieg. 

104. - Al hc her, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Leobscliütz. 

105. - Ban ick, Kreis-Wundarzt in Lublinitz. 

100. - Blei sch, Kreis-Physikus in Kosel. 

107. - Braun, Kreis-Physikus in Bolkenhayn. 

108. - Broll, Kreis-Physikus in Pless. 

100. - Chlurasky, Kreis-Physikus in Woklau. 

*200. - Co enter, Kreis-Physikus in Goldberg. 

201. - Com nick, Kreis-Physikus in Striegau. 

202. - Deichmüller, Kreis-Physikus in Äluskau. 

200. - Dybowski, Kreis-Physikus in Nimptsch. 

204. - Erb kam, Kreis-Physikus in Grünberg. 

205. - Färber, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Kattowitz. 

200. - Felsmann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Neisse. 

207. - Finger, Kreis-Physikus in Münsterberg. 

208. - Friedländer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Lublinitz. 

200. - Fritsch, Geh. Medizinal-Rath und Professor in Breslau. 

*210. - Glatzel, Kreis-Physikus und San.-Rath in Beuthen. 

211. - Gottschalk, Kreis-Physikus in Rosenberg i. Ob.-Schl. 

212. - Gottwald, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Frankenstein. 

210. - Grätzer, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Gross-Strehlitz. 

*214. - Haupt mann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Gleiwitz. 
215. - Hauschild t, Kreis-Physikus in Steinau a./O. 

210. - Heidelberg, Kreis-Physikus in Reichenbach. 

217. - Herr mann, Kreis-Physikus in Hirschberg. 

21S. - 11 off mann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Waldenburg. 
210. - Jacobi, Polizei- u. Stadtphysikus u. Sanitätsrath in Breslau. 

220. - Klose, Kreis-Physikus in tippeln. 

221, - Köhler, Kreis-Physikus uml Sanitäts-Rath in Landeshut, 




Mitgliederverzeichnis». 


159 


222. Dr. Kornfeld, Kreis-Physikus nnd Sanitäts-Rath in Grottkau. 

223. - Krause, Kreis-Physikus in Neustadt L Ob.-Schl. 

224. - la Roche, Kreis-Physikus in Jauer. 

*225. - Leder, Kreis-Wundarzt in Lauban. 

226. - Lesser, Stadt-Physikus und Professor in Breslau. 

227. - Lichtwitz, Kreis-Physikus in Ohlau. 

228. - Liebert, Kreis-Physikus in Sagan. 

229. - Ludwig, Kreis-Physikus in Habelschwerdt. 

230. - Lustig, Kreis-Wundarzt in Liegnitz. 

*231. - Meyhöfer, Kreis-Physikus in Görlitz. 

232. - Nesemann, Bezirks-Physikus in Breslau. 

233. - Neumann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Glogau. 

234. - Ost mann, Kreis-Physikus nnd Sanitäts-Rath in Rybnik. 

235. - Otto, Kreis-Physikus in Neurode. 

236. - Philipp, Regierungs- und Geh. Medizinalrath in Liegnitz. 

237. - Reimer, Kreis-Physikus in Militsch. 

238. - Reinkober, Kreis-Physikus in Trebnitz. 

239. - Rot her, Kreis-Physikus in Falkenberg. 

240. - Schmiedel, Bezirks-Physikus in Breslau. 

241. - Schwahn, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Breslau. 

*242. - Schmidtmann, Regierungs- und Medizinal-Rath in Oppeln. 

243. - Sonntag, Kreis-Wundarzt in Triebei (Kreis Sohrau. 

244. - Stadthagen, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Liegnitz. 

245. - Staffhorst, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Oels. 

246. - Thienel, Kreis-Wundarzt in Gross-Strehlitz. 

247. - Tracinski, Kreis-Physikus in Zabrze. 

248. - Wagner, Kreis-Wundarzt in Lipine. 

249. - Wolf, Kreis-Physikus in Freystadt i. Niederschlesien. 

250. • Wolff, Kreis-Physikus in Schönau a. d. Katzbach. 

251. - Wolff, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Sprottau. 

Provinz Sachsen. 

*252. Dr. Bartsch, Kreis-Physikus in Neuhaldensleben. 

*253. - Boehm, Kreis-Physikus und Medizinal-Rath in Magdeburg. 

*254. - Busolt, Kreis-Physikus in Delitzsch. 

255. - Claes, Kreis-Wundarzt in Mühlhausen i. Thüringen. 

256. - Deutschbein, Kreis-Physikus u. Sanitäts-Rath in Herzberg a. Elster. 

257. - Dietrich, Kreis-Physikus in Liebenwerda. 

*258. - Fielitz, Kreis-Physikus in Halle a. S. 

259. - Frantz, Kreis-Wundarzt in Genthin. 

260. - Geissler, Kreis-Wundarzt in Schildau. 

261. - Gettwart, Kreis-Physikus in Torgau. 

262. Giese, Kreis-Wundarzt in Osterburg. 

263. Dr. Gleitsmann, Kreis-Physikus in Naumburg a. S. 

*264. - Gutsmuths, Kreis-Physikus in Genthin. 

*265. - Hähler, Kreis-Physikus in Nordhausen. 

266. - v. Hake, Kreis-Wundarzt in Wittenberg. 

267. - Hauch, Kreis-Physikus in Eisleben. 

268. - Heike, Kreis-Physikus in Wernigerode. 

269. - Helm, Kreis-Wundarzt in Tangermünde. 



160 


Mitgliederverzeichniss. 


270. Dr. Herms, Kreis-Physikus in Burg b. Magdeburg. 

*271. - Hoffmann, Kreis-Wundarzt in Halle a. S. 

272. - Holthoff, Kreis-Wundarzt in Wollmirstedt. 

273. - Holzbausen, Kreiswundarzt in Alsleben a. S. 

*274. - Jacobson, Kreis-Physikus in Salzwedel. 

275. - J a n e r t, Kreis-Physikus in Seehausen. 

276. - Kant, Kreis-Physikus in Aschersleben. 

*277. - Koppen, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Heiligenstadt. 

278. - Kuntz, Kreis-Physikus in Wanzleben. 

279. - Meye, Kreis-Physikus in Mansfeld. 

*280. - Oebbecke, Kreis-Wundarzt in Bitterfeld. 

*281. - Penkert, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Merseburg. 

282. - Peters, Regierung- und Medizinal-Rath in Magdeburg. 

283. - P i p p o w, Regierungs- und Medizinal-Rath in Erfurt. 

284. - Pietsch, Kreis-Physikus in Wollmirstedt. 

285. - Plan ge, Kreis-Physikus in Ziegenrück. 

286. Prast, Kreis-Wundarzt in Mühlberg a. E. 

*287. Dr. Probst, Kreis-Physikus u. Sanitätsrath in Gardelegen. 

288. - Räuber, Kreis-Physikus in Nordhausen. 

289. - Reip, Kreis-Physikus a. D. in Arendsee i. d. Altmark. 

290. - Richter, Geh. Medizinal-Rath in Erfurt. 

*291. - Ri sei, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Halle a. S. 

292. - Schade, Kreis Physikus und Sanitäts-Rath in Weissensee. 

293. - Schaffranek, Kreis-Physikus in Zeitz. 

294. - Schilling, Kreis-Physikus in Querfurt 

295. - Schmiele, Kreis-Wundarzt in Weissenfels. 

296. - Schneider, Kreis-Physikus in Schleusingen. 

297. - Schröder, Kreis-Physikus in Weissenfels. 

298. - Seyferth, Kreis-Physikus in Langensalza. 

*299. - Strassner, Kreis-Physikus in Halberstadt. 

300. - Strübe, Kreis-Wundarzt in Halle a. S. 

301. - Unger, Kreis-Wundarzt in Nordhausen. 

302. - Wachs, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Wittenberg. 

303. - Wehr, Kreis-Physikus in Worbis. 

304. - Weinreich, Kreis-Wundarzt in Heiligenstadt. 

305. - Werner, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Sangerhausen. 

306. - Wiegand, Kreiswundarzt in Mausfeld. 

307. - Z e p 1 e r, Kreiswundarzt in Gefell. 

308. - Ziehe, Kreiswundarzt in Quedlinburg. 

*309. - Zimmermann, Kreis-Physikus in Schönebeck a. Elbe. 

Provinz Schleswig - Holstein. 

310. Dr. Asmussen, Kreis-Physikus in Rendsburg. 

311. - Bockendahl, Regierungs- und Geh. Medizinal-Rath in Kiel. 

312. - Deneke, Kreis-Physikus in Flensburg. 

313. - Goos, Kreis-Physikus in Ploen. 

314. - Halling, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Glücksstadt. 

315. - Hansen, Kreis-Physikus in Gramm. 

316. - Hasselmann, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Hadersleben. 

317. - Horn, Kreis-Physikus in Tondem. 

318. - Hunnius, Kreis-Physikus in Wandsbeck. 



Mitgliederverzeichniss. 


161 


619. Dr. Joens, Kreis-Physikus and Sanitäts-Rath in Kiel. 

*620. - N a u c k, Kreis-Physikus in Bredtstedt. 

321. - Reimann, Kreis-Physikus in Neumünster. 

322. - Schow, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Neustadt in Holstein. 
*323. - Schroedcr, Kreis-Physikus in Oldenburg. 

*32+. - Wallichs, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Altona. 

Provinz Hannover. 

325. Dr. Adiek es, Kreis-Physikus in Hannover. 

326. - Alten, Regierungs- und Medizinal-Rath in Lüneburg. 

327. - And ree, Kreis-Physikus in Neuhaus a. Oste. 

328. - Becker, Regierungs- und Medizinal-Rath in Hannover. 

329. - Bitter, Regierungs- und Medizinal-Rath in Osnabrück. 

330. - Bohde, Regierungs- und Medizinal-Rath in Stade. 

331. - Büttner, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Osterholz. 

332. - Dempwolff, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Harburg a. d. Elbe. 

333. - Dütschke, Kreis-Physikus in Aurich. 

334. - Eichhorst, Kreis-Wundarzt in Ottersberg. 

335. - Engelmann, Kreis-Physikus in Achim. 

336. - Flatten, Kreis-Physikus in Wilhelmshaven. 

337. - Friedrich, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Hameln. 

338. - Gaehde, Kreis-Physikus in Blumenthal. 

339. - Guertler, Kreis-Physikus und Medizinalrath in Hannover. 

3+0. - Halle, Kreis-Physikus in Burgdorf bei Hannover. 

3+1. - Halle, Kreis-Physikus in Ebstorf. 

342. - Heilmann, Kreis-Physikus in Melle. 

343. - Herwig, Kreis-Physikns in Lehe. 

344. - Herya, Kreis-Physikus in Otterndorf. 

3+5. - Hildebrandt, Kreisphysikus und Sanitätsrath in Osnabrück. 

3+6. - Holling, Kreis-Physikus in Soegel. 

347. - Hüpeden, Geh. Medizinal-Rath in Hannover. 

3+8. - Huntemueller, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Hoya. 

349. - Juckes, Kreis-Wundarzt in Hannover. 

350. - Jung, Kieis-Physikus und Sanitätsrath in Weener. 

351. - Kessler, Kreis-Wundarzt und Sanitätsrath in Salzgitter. 

352. - Kirchhoff, Kreis-Physikus und Geh. Sanitätsrath in Leer. 

353. - Kremling, Kreis-Physikus und Geh. Sanitätsrath in Walsrode. 

354. - Kühn, Kreis-Physikus in Uslar. 

355. - Langenbeck, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Gifhorn. 

*356. - Langerhans, Kreis-Physikus in Hankensbüttel. 

*357. - Lern me r, Kreis-Physikus in Alfeld a. L. 

358. - Lohstoeter, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Lüneburg. 

359. - Men de, Kreisphysikus und Sanitätsrath in Einheck. 

360. • Meyer, Kreisphysikus in Dannenberg. 

361. - v. Münchow, Kreis-Physikus in Bleckede. 

362. - N öller, Kreis-Physikus in Buxtehude. 

*363. - Picht, Kreis-Physikus in Nienburg a. W. 

364. - Richter, Kreis-Physikus in Peine. 

365. - Riehn, Kreis-Physikus in Klausthal i. Harz. 

366. - Ritter, Kreis-Physikns und Sanitätsrath in Bremervörde. 


11 



102 


Mitgliederverzeichniss. 


307. Dr. Rohrs, Kreis-Physikns und Sanitätsrath in Rotenburg. 

308. - Rosenbach, Kreis-Physikns und Sanitätsrath in Hildesheim. 

309. - R tl n g e r, Kreis-Phvsikus in Springe. 

370. - Rüge, Kreis-Physikns und Sanitätsrath in Linden bei Hannover. 

371. - Rump, Kreis-Physikus in Osnabrück. 

372. - Ru sack, Kreis-Physikus in Stade. 

373. - de Rnyter, Kreis-Physikus und Geh. Sanitätsrath in Qnakenbrfuk. 

374. - Schirtneyer, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Osnabrück. 

375. - Sch mal f nss, Stadt-Physikns» Mediz.-Assessor n. San.-Rath in Hannover. 
370. - Schulte, Kreis-Physikus in Hannov. Münden. 

*377. - Seemann, Kreis-Physikus in Northeim. 

378. - Steinbach, Kreis-Physikus in Lüchow. 

379. - Steinebach, Kreis-Physikus in Bassum. 

380. - Stoltenkamp, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Bentheim. 

381. - Strecker, Kreis-Phvsikus und Sanitäts-Rath in Ihiderstadt. 

382. - Tergast, Kreis-Physikus in Emden. 

383. - Th ölen, Kreis-Physikus in Papenburg. 

384. - Tübben, Kreis-Physikus in Meppen. 

385. - Vogel, Kreisphysikus und Sanitätsrath in Freiburg a. d. E. 

380. - Wen gier, Kreis-Physikus in Göttingen. 

387. - West rum, Kreis-Physikus in Geestemünde. 

388. - Wiechers, Kreis-Physikus in Gronau. 

389. - Wolffhügel, Professor in Göttingen. 

Provinz Westfalen. 

390. Dr. Bange, Kreis-Wundarzt in Niedermarsberg. 

391. - Bartscher, Kreis-Wundarzt und Sanitäts-Rath in Lichtenau. 

392. - Beckhaus, Kreis-Physikus und Geh. Sanitätsrath in Bielefeld. 

393. - Benthaus, Kreis-Wundarzt in Neuhaus. 

394. - Bockeloh, Kreis-Physikus in Lüdinghausen. 

395. Borndrueck, Kreis-Wundarzt in Ferndorf bei Siegen. 

390. Cr. Bremme, Kreis-Physikus in Soest. 

397. - Brümmer, Medizinalassessor in Münster i. W. 

398. - Claus, Kreis-Physikus in Warburg. 

399. - Cordes, Kreiswundarzt in Dorsten. 

490. - Eckervogt, Kreis-Wundarzt in Bocholt. 

401. - Georg, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Paderborn. 

402. - Graeve, Kreis-Physikus in Hattingen a. d. Ruhr. 

403. - Graffun der, Kreis-Physikus a. D. und Geh .San.-Rath in Lübbecke. 

404. - Gruchot, Kreisphysikus und Sanitäts-Rath in Hamm. 

405. - Guder, Kreis-Physikus in Laasphe. 

400. - Hagemann, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Dortmund. 

407. - Helming, Kreis-Physikus in Ahaus. 

408. - Hellraann, Kreis-Wundarzt in Wickede a. Ruhr. 

409. - Hillebrecht, Kreis-Wundarzt in Vlotho. 

410. - Hölker, Regierungs- und Medizinal-Rath in Münster. 

411. - Klostermann, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Bochum. 

412. - Kluge, Kreis-Physikus in Höxter. 

413. - Kranefuss, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Halle i. W. 

414. - Krummacher, Kreis-Physikus in Tecklenburg. 



Mitgliedcrverzeichuiss. 


163 


415. Dr. Le mm er, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Schwelm. 

416. - Lim per Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Gelsenkirchcn. 

417. - Lindemann, Kreis-Wundarzt in Gelsenkirchcn. 

413. - Michels, Kreis-Wundarzt in Ilerbede. 

41!). - Moors Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Hagen i. W. 

420. - Müller, Kreis-Pliysikus und Geh. Sanitäts-Rath in Minden i. W. 

421. - Mansch, Kreis-Phyikus und Sanitäts-Rath in Bucholt. 

422. - Overkamp, Kreis-Phyikus in Warendorf. 

423. - Pless, Kreis-Phyikus in Brilon. 

*424. - Rapmund, Regierungs- und Medizinal-Kath in Minden i. W. 

*125. - Redecker, Kreis-Wundarzt in Bochum. 

426. - Rheinen, Kreis-Pliysikus in Herford. 

427. - Rüper, Kreis-Pliysikus in Arnsberg. 

423. - Rose, Kreis-Wundarzt in Menden b. Iserbdin. 

42!). - Schlüter, Kreis-Pliysikus in Gütersloh. 

430. - Schmitz, Kreis-Pliysikus in Ochtrup. 

431. - Schulte, Kreis-Pliysikus in Hürde. 

432. - Schulte, Kreis-Pliysikus in Lippstadt. 

433. - Spanken, Kreis-Pliysikus in Meschede. 

434. - Sudhoelter, Kreis-Wundarzt in Versmold. 

435. - Tenholt, Regierungs- und Medizinal-Rath in Arnsberg. 

436. - Terstesse, Kreis-Pliysikus und Sanitäts-Rath in Büren i. W. 

437. Zumwinkel, Kreiswundarzt in Gütersloh. 

Provinz Hessen-Nassau. 

438. I)r. Beinhauer, Kreis-Physikus in Höchst a. M. 

439. - Brill, Kreis-Wundarzt in Esckwege. 

440. - Dreising, Kreis-Physikus inlliinfeld. 

441. - Ebertz, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Diez. 

442. - Fa her, Kreis-Physikus lind Sanitätsrath in Rotenburg a. d. Fulda. 

443. - Fey, Kreis-Wundarzt in Kassel. 

444. - Giessler, Kreis-Physikus und Geh. Sanitäts-Rath in Kassel. 

445. - Gleitsmann, Kreis-Physikus in Wiesbaden. 

446. - Grand komme, Stadt-Physikus und Sanitätsrath zu Frankfurt a. M. 

447. - Hommerich, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Selters. 

448. - Kind, Kreis-Wundarzt in Fulda. 

449. - Kloss, Kreiswuudarzt in Biedenkopf. 

450. - Krause, Geh. Medizinal-Rath in Kassel. 

451. - Lehnebach, Kreis-Physikus a. D. in Schmalkalden. 

452. - Lissard, Kreis-Wundarzt in Frankenberg. 

453. - Marx, Kreis-Physikus in Fulda. 

454. - Menke, Kreis-Physikus u. Sanitäts-Rath in Weil bürg a. L. 

455. - Mumm, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Gelnhausen. 

456. - Oberstadt, Kreis-Physikus in Langensehwalbach. 

*457. - Pfeiffer, Regierungs- und Medizinal-Rath in Wiesbaden. 

458. - Pütt, Kreis-Physikus in Hofgeismar. 

459. - Roth, Kreis-Physikus in Marienberg (Westerwald). 

460. - Schauss, Kreis-Physikus in Usingen. 

461. - Schotten, Medizinalassessor in Kassel. 

462. - Seligmann, Kreis-Wundarzt in Hanau, 


11* 



104 


Mitgliedcrvcrzeichniss. 


463. 

Dr. 

4(*4. 

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493. 


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*497. 


498. 


499. 


500. 


501. 


502. 


503. 


504. 


505. 


506. 


507. 

- 

508. 

- 

509, 

- 


Sippe 1, Kreis-Wundarzt in Sooden a. d. Werra. 
Spiegelthal, Kreis-Physikus in Kassel, 
von Tessmar, Kreis-Physikus in Limburg. 

Vietor, Kreis-Physikus in Hersfeld. 

Weiss, Regierungs- und Geh. Medizinal-Rath in Kassel. 
Woltemas, Kreiswundarzt in Gelnhausen. 


Rheinprovinz and Hohenzollern. 

A Ibers, Kreis-Physikus und Sanitäts-Ruth in Essen a. d. Ruhr. 
Albert, Kreis-Physikus in Meisenheim. 

Arens, Kreis-Physikus in Erkelenz. 

Aronstein, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Eckenhagen. 
Rachem, Kreiswundarzt in Zülpich. 

Bauer, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Moers a. Rh. 

Baum, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Aachen. 

Beer mann, Kreis-Physikus in Duisburg. 

Blokusewski, Kreis-Physikus in Daun. 

Brand, Kreis-Physikus und Sauitätsrath in Geldern. 

Carp, Kreis-Physikus in Wesel. 

Eickhoff, Oberamts-Physikus iu Hcchingeu (Hohenzollern). 
Esch-Waltrup, Kreis-Physikus in Köln. 

Grisar, Kreis-Physikus in Trier, 
van Gulik, Kreis-Physikus in Kleve. 

Hartcop, Kreiswundarzt in Barmen. 

Hccking, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath iu Saarburg. 
Hcnsgen, Krreis-Wundarzt in Bergneustadt. 

Herbst, Kreis-Physikus in Wipperfürth. 

Hofacker, Kreiswundarzt in Düsseldorf. 

Hoech st, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Wetzlar. 

Kimpen, Kreis-Physikus in Neunkirchen. 

Ko hl mann, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Remagen. 
Kramer, Kreis-Wundarzt in St. Johann. 

Kribben, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Aachen. 

Leuffen, gerichtlicher Stadtphysikus und Sanitätsrath in Kölu. 
Lorentz, Kreis-Physikus in Gummersbach. 

Mainzer, Kreis-Wundarzt in Illingen. 

Marx, Kreis-Physikus in Mühlheim a. Ruhr. 

von Massenbach, Regierungs- und Geh. Mcdizinalrath in Koblenz. 
Meder, Kreis-Physikus u. Sanitätsrath in Alteukirchen (Westerwald). 
Michelsen, Regierungs- und Medizinal-Rath in Düsseldorf. 
Möllmann, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Simmern. 

Nauss, Kreis-Wundarzt in Altenkirchen. 

Nels, Kreis-Physikus und Geh. Sanitätsrath in Bitburg. 
Noethlichs, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Ileiusberg. 
Nünninghoff, Kreis-Wundarzt in Orsoy a. Rh. 

Racine, Kreis-Wundarzt in Essen a. d. Ruhr. 

Rade mach er, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Montjoie. 
Roeder, Kreis-Physikus in Kelberg (Kreis Adenau). 
Rheinstadler, Kreiswundarzt in Dillingcn. 



Mitgliederverzeichuiss. 


165 


510. Dr. Schlecht, Kreis-Physikus in Euskirchen. 

*511. - Schlcchtendal, Kreis-Physikus in Lennep. 

*512. - Schmidt, Regierungs- und Medizinal-Rath in Sigmnriugeu. 

518. - Schmitz, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Malmedy. 

514. - Schrakamp, Kreisphysikus in Kempen. 

515. - Schruff, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Neuss. 

516. - Schuberth, Kreis-Physiku in Saarbrücken. 

517. - Schubmehl, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in St. Wendel. 

518. - Schulz, Kreis-Physikus, Medizinalassessor und Geh. Sauitätsrath in 

Koblenz. 

519. - Schwartz, Regierungs- und Geh. Medizinal-Rath in Trier. 

520. - Schwienhorst, Kreis-Wundarzt in Süchteln. 

521. - Strauss, Kreis-Physikus und Geh. Sanitätsrath in llarmen. 

522. - Thiele, Kreis-Physikus in Kochern. 

528. - Thomas, Kreis-Physikus in Rheinbach. 

524. - Tillessen Kreis-Physikus in Saarlouis. 

525. - Ungar, Medizinalrath, Kreisphysikus und Professor in Bonn. 

526. - Vansclow, Polizei-Stadt-Physikns, Sanitätsrath und Direktor des 

Künigl. Impfinstituts in Köln. 

527. - Wal bäum, Kreis-Wundarzt in Gerolstein. 

528. - Wellenstein, Kreis-Physikus und Sanitätsrath in Urft, Kr. Schleiden. 

529. - Weskamp, Kreis-Physikus in Düren. 

580. - We x , Kreis-Wundarzt in Montjoie. 

581. - Wiesemcs, Kreis-Physikus und Sanitäts-Rath in Solingen. 

582. - Wolff, Kreis-Wundarzt in Elberfeld. 

533. - Zimmermann, Kreis-Physikus und Geh. Sauitätsrath in Düsseldorf. 

Eisass - Lothringen und andere deutsche Bandesstaaten. 

*534. Dr. Curtzc, Kreis-Physikus in Ballenstedt. 

535. - Gaffky, Professor der Hygiene in Giessen. 

536. - Picard, Kreisarzt und Sanitätsrath in Gebweilcr. 






ß. Jalirg. 


Zeitschrift 

für 


1S93. 


MEDIZINALBEAMTE 

Heransgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rath u.gerichÜ.Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Med uinalrath in Minden. 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer's mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitxelle 46 Pf. nimmt die Verlagshandlang and Bad. Mosse 

entgegen. 


No. 9. 


Erscheint am 1. and 15. Jeden Monats. 
Preis J&hrlloh 10 Mark. 


1 . 


Mai. 


Leichenbefund bei Erfrierungetod. 

Von Dr. Keferstein, geprüft pro pbysikatu, prakt. Arzt in Gransee. 

In meiner Studie über den Erfrierungstod, die ich in der 
Allgemeinen Medizinischen Central-Zeitung Anfangs dieses Jahres 
veröffentlicht habe, machte ich schon Andeutung, dass der äussere 
Leichenbefund bei Erfrierungstod ein besonderes Merkzeichen auf¬ 
weise, was sonst nirgends wieder vorkommt. 

Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit in meiner 
Praxis einen Todesfall durch Erfrieren zu beobachten; ich war 
damals Landarzt in einem kleinen Marktflecken der Niederlausitz. 
Der Fall war kurz folgender: 

Ende Februar 1888 fand man auf freiem Felde die Leiche 
eines Tagelöhners, der anscheinend erfroren war. Der Mann hatte 
sich am Sonntag Nachmittag, am Montag früh wurde er gefunden, 
in Schnaps betrunken, hatte dann am Abend von dem Vorwerk, 
wo er den Sonntag über gewesen war, nach Hause gehen wollen. 
Er hatte dazu einen einsamen Fusspfad benutzt quer über das 
Feld, war vom Pfade abgewichen, erst noch in ein Mühlenfliess 
geraten, was dort vorbeifloss, wie das zerwühlte Ufer bewies, und 
dann in seiner Trunkenheit auf freiem Felde hingefallen und dort 
erfroren; wir hatten in dieser Nacht Wind und 12° Kälte Röaumur 
gehabt. 

Was die Stellung der Leiche anbetraf, so lag der Mann auf 
der linken Seite halb auf dem Gesicht, beide Anne batte er nach 
oben ausgestreckt, im Ellenbogengelenk wenig gebeugt, die Hände 
geballt, an den Oberkörper waren die Beine etwas herangezogen, 
kurz, es war eine Stellung, in die ein Betrunkener hintaumelt 
und liegen bleibt. Die Leiche war nur dünn bekleidet mit dem 
gewöhnlichen Arbeitsanzug und hart gefroren, äussere Verletzungs¬ 
spuren zeigten sich nirgends, doch fanden sich die Beinkleider bis 








202 


Dr. Kefersteiu. 


zu den Knieen herauf steif von Eis, sie waren durch den Fall in’s 
Mühlenflie8s durchnässt gewesen. 

Auffallend war an der Leiche, dass die rechte Backe schön 
hellroth verfärbt war, wohl gemerkt: er lag dabei auf der linken 
Seite; auf der Brust fand sich dort, wo das Hemd etwas klaffte, 
ein über handgrosser hellrother Fleck, eben solche Flecke an den 
Unterschenkeln. 

Eine Sektion wurde damals von der Staatsanwaltschaft nicht 
angeordnet, da der Mann offenbar durch eigene Schuld erfroren war. 

Durch diese Beobachtung angeregt, habe ich mich bemüht, 
die in der Literatur vorliegenden Angaben über den Erfrierungstod 
zusammenzustellen und zu ergänzen. 

Der erste, der uns über Erfrierungstod Mittheilung macht, ist 
Krajewski. 1 ) Seine experimentellen Studien, die er an Kanin¬ 
chen machte, interessiren uns hier nicht, dagegen das, was er vom 
Befund an menschlichen Leichen sagt. Auch nach dem Aufthauen 
der Leichen Erfrorener soll nach ihm die Todtenstarre bedeutend 
sein. Weiter sollen die Gliedmassen und besonders die hervor¬ 
ragenden Theile, also Arme, Beine, Ohren und Nase, sehr brüchig 
sein, so dass sie beim Transport der Leiche leicht abbrechen 
können. Diese Angabe wird bei allen Autoren immer wiederholt, 
doch kann es unmöglich Jemand beobachtet haben; denn nach 
meiner Erfahrung ist dieselbe sicher nicht wahr; bei dem Tage¬ 
löhner, dessen Erfrierungstodt ich beschrieben, habe ich versucht, 
ein Ohr abzubrechen, es liess sich schwer biegen und man merkte 
den Widerstand der einzelnen Eiskrystalle, abgebrochen ist es 
aber nicht. So lässt man z. B. Wild im Winter sehr häufig durch 
und durch gefrieren und hantirt dann ganz und gar nicht vorsich¬ 
tig damit, doch wird ein Abbrechen von Gliedmassen hier niemals 
Vorkommen. Eine andere auch nur von Krajewski gemachte 
Beobachtung ist das Auseinanderweichen der Kronen- und der 
Pfeilnath des Schädels, so dass man ein Wackeln der Seitenwand¬ 
beine fühlen kann. Nun ist es wahr, dass ein Gefäss mit Wasser, 
welches bis auf den Boden friert, platzt, weil Wasser zu Eis ge¬ 
froren einen grösseren Raum einnimmt, und ist die Möglichkeit 
nicht ausgeschlossen, dass bei dem wasserreichen Gehirn nicht 
auch einmal etwas Aehnliches Vorkommen könnte, doch gehören 
schon sehr bedeutende Kältegrade dazu, wenn das menschliche 
Gehirn durch und durch zu einem Eisklumpen gefrieren sollte, 
das Wackeln der Seitenwandbeine, das man durch die Schädel¬ 
haut durchfühlen soll, würde dann doch auch erst nach dem voll¬ 
kommenen Auttauen der Leiche zu fühlen sein; denn von vorn¬ 
herein sind dann doch auch die Seitenwandbeine festgefroren. Ich 
glaube daher, dass Krajewski mehr kombinirt als eigene Beob¬ 
achtung an Leichen Erforener gemacht hat. 

Samson Himmelstiern veröffentlicht in den Rigaer Bei¬ 
trägen (III, 2. Seite 1—83) Mittheilungen aus dem praktischen 

*) Ueber den Erfrierungstod und über die Wirkung grosser Kälte auf 
Mensch und Thier überhaupt. Ein Referat über diese Abhandlung findet sich in 
H e n k e ’ s Zeitschrift für Staatsarzneikunde 1861. II. 



Leichenbefund bei Erfrierungstod. 


203 


Wirkungskreise 1847—1851; hierbei bespricht er auch den Er¬ 
frierungstod und erwähnt hier, dass die Augenbulbi kollabirt sind, 
nur an Leichen von ganz neuem Datum sind sie noch einiger- 
massen resistent. Dann sind bisweilen auch, wie dieser Autor 
hinzusetzt, die Bindehäute injizirt. Auch Dieb erg 1 ) giebt an, 
dass die Augäpfel eingefallen wären und die Cornea weich. 

Dieselbe Bemerkung macht Zschokke:*) „Die Augäpfel 
sind in ihre Höhlen zurückgesunken von ihren Lidern nicht ganz 
bedeckt, die Bindehäute sind nicht geröthet.“ Mit all diesen An¬ 
gaben kann man aber nichts rechtes anfangen, da sie für den 
Erfrierungstod als solche nicht charakteristisch sind. Zunächst 
wird uns bei der Besichtigung der Leiche auch das Steifgefroren¬ 
sein derselben auffallen, deshalb ist nicht bewiesen, dass gerade 
ein Erfrierungstod vorliegt; denn auch jede andere Leiche, welche 
länger einer stärkeren Kälte ausgesetzt war, wird dasselbe Bild 
darbieten. Die Zeichen der Verwesung werden hier auch fehlen, 
da die Kälte konservirt, es müsste denn gerade zwischendurch 
Thauwetter eingetreten sein, wo dann die Leiche aufthauen und 
verwesen konnte und dann bei wieder eingetretener Kälte von 
Neuem steif frieren. 

Erst Ogston erwähnt zuerst an Leichen Erfrorener hell- 
rothe Flecke auf den nicht abhängenden Körpertheilen, wie ich 
sie auch beobachtet habe. Ogston 3 ) spricht von hellrothen 
Flecken auf der Vorderfläche der Extremitäten; ebenso in seinen 
späteren Veröffentlichungen 4 ) von diffusen roten Flecken der 
Haut an einigen nicht abhängigen Theilen. Dieberg 5 ) nennt 
diese Erscheinung Froströthe, und fände sich dieselbe bald heller 
bald dunkler an Gesicht, Händen und Füssen. In der dritten 
Schrift Ogston’8 über den Erfrierungstod 6 ) führt er fast bei jedem 
einzelnen Fall ausgebreitete Flecke von mehr oder weniger hoch- 
rother Farbe auf verschiedenen nicht abhängigen Theilen der 
Leiche an. Blumenstock sagt in Maschka’s Handbuch der 
gerichtlichen Medizin: 7 ) „Auffallend war auf den ersten Blick an 
der Leiche des Erfrorenen, dass die ganze Vorderseite des Körpers, 
besonders die hervorragenden Gegenden schön hellrothe Todten- 
flecke darboten, während die Rückenseite keine Flecke zeigte.“ 
Dieberg erwähnt auch, dass sich auf dem Oberschenkel eines 
Erfrorenen eine geröthete Körperstelle fand, die genau einem 
Loche im Beinkleide entsprach. Diese rothen Flecke werden 
immer mit den Todtenflecken zusammengeworfen, mit denen sie 
doch gar nichts zu thun haben, hier handelt es sich um eine 
Röthung der am meisten der Kälte ausgesetzten Hautstellen, und 
sind das gerade die an der Leiche nach oben liegenden Theile 

*) Hundert gerichtliche Sektionen. Vierteljahrsachrift für gerichtliche 
Medizin 1864, 25. Band. 

*) Zeitschrift für Staatsarzneikunde 1853. I., Seite 7. 

*) Schmidt’s Jahrbücher, Band 90, Seite 23. 

4 ) Schmidt’s Jahrbücher, Band 109, Seite 840. 

8 ) Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin, Band 26, Seite 304. 

®) Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin. Neue Folge, I.. Seite 149 

5 ) Band L Seite 782. 



204 


Dr. Kcferstein. 


des Körpers oder wie wir sie bisher genannt haben, die nicht 
abhängigen Theile, während sich die Todtenflecken an den nach 
unten liegenden Theilen des Körpers, also an den abhängigen Theilen 
bilden als Senkungen des Blutes nach dem physikalischen Gesetz 
der Schwere. Die hellrothe Farbe dieser Frostflecke wird irr- 
thümlicher Weise von dem grösseren Sauerstoffgebalt des Blutes 
herkommend angegeben, während doch schon Rollet die richtige 
Erklärung giebt; ich habe sie freilich bisher nirgends erwähnt 
gefunden, und so hat sie die Beachtung nicht gefunden, die sie 
verdient. In dem Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der 
Wissenschaft heisst es nämlich im 46. Bande, zweite Abtheilung, 
Seite 75 folgendermassen: 

„Ich muss am Schlüsse dieses Abschnittes noch eine Beobachtung am 
Menschen besonders erwähnen. Zufällig ereignete es sich, dass die Leiche eines 
in einem Keller erfrorenen Arbeiters zur sanitätspolizeilicheu Obduktion kam. 
Ich erhielt Blut aus dem Herzen dieser Leiche. Dasselbe hatte keine wesent¬ 
liche Veränderungen erlitten, und ich verwerthete es zu vielen Versuchen. Da¬ 
gegen war in den Gefässen der Haut stellenweise lackfarbeähnlich durchsichtiges 
Blut enthalten, und die mikroskopische Untersuchung ergab an diesem Blute 
dieselben Veränderungen, wie wir sie an den in der Frostinischung erfrorenen 
Blutkörperchen wahrnahmen. An diesen Stellen hatte aber die Haut ein eigen¬ 
tümlich hellrothes Aussehen, welches daher rührte, dass aus den Gefässen das 
im Serum aufgelöste Blutroth in das umgebende Gewebe diffundirt war.“ 

Und Seite 96, Anmerkung, heisst es dann weiter: 

„Als ich an der Haut des eben erwähnten im heurigen Winter erfrorenen 
Arbeiters die merkwürdige fleckweise Röthe sah, kam mir das Bild einer vom 
Blitz getroffenen Person in Erinnerung. An der Brust derselben bemerkte man 
eine umschriebene, unregelmässig strahlige, Fortsätze nach verschiedenen Rich¬ 
tungen hin aussendende rothe Zeichnung. Kurz, die Aehnlichkeit des eigenthüm- 
lich gezeichneten hellrothen stehenden Fleckes mit den Flecken auf der Haut des 
Erfrorenen und die bei den letzteren als ursächliches Moment aufgefundeue 
Diflussion des Blutroths führten mich dazu zu untersuchen, ob das Blut an und 
für sich durch den Entladungsschlag vielleicht eine ähnliche Veränderung erleide, 
wie durch das Frieren oder nicht. 

Das Resultat war: Durch kräftige Entladungsschläge wird das Blut dem 
äusseren Aussehen nach in derselben Weise verändert wie durch das Frieren, 
d. h. es hellt sich auf und nimmt während des Elektrisirens eine lackfarben¬ 
ähnliche Beschaffenheit an.“ 

So ist doch der Beweis erbracht, dass die hellrothen Flecken, 
die an den Leichen Erfrorener zu bemerken sind, durch lackfar- 
benes Blut entstehen, sowohl durch die mikroskopische Untersuchung 
Roll et’s als auch durch die sich als wahr herausstellende Kom¬ 
bination, dass der elektrische Entladungsstrom das Blut ebenso 
verändern müsse, wie das Frieren und Wiederaufthauen. 

Die rothen Flecken bei Erfrierungstod bilden sich nun da¬ 
durch, dass an den der Kälte am meisten ausgesetzten Theilen, 
es sind das die nicht abhängigen Theile, das Blut in den Blut¬ 
gefässen theilweise zu Eis erstarrt. So lange der Kreislauf aber 
noch besteht, wird dieses Eis durch das zirkulirende warme Blut 
wieder aufgethaut und so ein Theil des Blutes lackfarben; aus 
den Gefässen diffundirt dann das im Serum aufgelöste Blutroth in 
das umgebende Gewebe und bringt so die rothen Stellen auf der 
Haut hervor. Es sind also diese rothen Flecke ein Zeichen, dass 
Blutzirkulation noch bestand, dass also das Individuum lebend der 
Kälte ausgesetzt war. 



Leichenbefund bei Erfricruogstod. 


205 


Findet man also an der Leiche eines muthmasslich Erfrore¬ 
nen hellrothe Flecke auf der Haut und kann man nachweisen, 
dass diese Flecke an den nicht abhängigen Körpertheilen ent¬ 
standen sind, also keine Todtenflecke sind, so ist der Erweis ge¬ 
bracht, dass Erfrierungstod vorliegt. 

Was nun den inneren Leichenbefund bei Erfrierungstod 
betrifft, so ist Lesser beizupflichten, 1 ) dass es hier wesentliche 
und essentielle Merkmale nicht giebt, die den Erfrierungstod von 
anderen Todesarten unterscheiden. Dieb erg behauptet zwar es 
gäbe solche und stellt er in seiner Veröffentlichung, „Beiträge zur 
Lehre vom Tode durch Erfrieren“*) die Zeichen des Erstickungs¬ 
todes den Merkmalen des Erfrierungstodes gegenüber: Die flüssige 
Beschaffenheit des Blutes bei Erstickungstod, die dunkele Farbe 
des Blutes, die strotzende Anfüllung der grossen venösen Gefässe 
und des rechten Herzens, die Lungenhyperämie, sowie die Hyper¬ 
ämie der übrigen Organe, ferner auch die punktförmigen Blutungen 
in den serösen Häuten der Brust und Bauchhöhle und in den 
Schleimhäuten sei beim Erstickungstode charakteristisch, dagegen 
sei beim Erfrierungstod fast kein einziges von diesen Zeichen zu 
treffen. Die flüssige Beschaffenheit des Blutes beim Tode durch 
Erfrieren sei nie in dem Grade wie beim Tode durch Ersticken; 
denn bei Erfrorenen fanden sich auch lockere Gerinsel im Blut. 
Eine so dunkele Blutfarbe wie bei Erstickten komme bei Erfrore¬ 
nen nicht vor, nie so dunkele Nüancirung. Der strotzenden An¬ 
füllung der grossen Gefässe und des rechten Herzens stände bei 
Erfrorenen eine Ueberfüllung des ganzen Herzens gegenüber. 
Lungenhyperämie sei bei Erfrorenen nur, wenn Trunkenheit hin¬ 
zukäme zu konstatiren, ebenso nur in diesem Falle Hyperämie des 
Gehirns und seiner Hüllen; die Ekchymosen fehlten bei den Er¬ 
frorenen ganz. Also sei bei Erfrorenen das ultimum vivens die 
Lunge, das Herz das primum moriens. 

Dieb erg hat stets zuerst die Gefässe des Herzens unter¬ 
bunden, dann das Herz herausgenommen und gewogen, und haben 
seine Wägungen fast immer eine beträchtliche Füllung des ganzen 
Herzens mit Blut ergeben. Betrachten wir aber seine sonstigen 
Angaben, so kommt alles, was er als Zeichen der Erstickung an- 
giebt, zwar bei diesem Tode vor, es ist aber nicht absolut charak¬ 
teristisch; denn es kann auch jedes von diesen Zeichen fehlen, 
und doch Erstickung vorliegen, und anderersits auch das eine oder 
das andere Merkmal vorhanden sein, und doch keine Erstickung 
8tattgefunden haben. In seiner früheren Veröffentlichung 3 ) hatte 
er angegeben als Zeichen, die beweisen, dass der lebende Körper 
der Kälte ausgesetzt war: 

„Hyperämie innerer Organe. Das Herz ist in allen seinen 
Theilen mit dunklem, flüssigem Blut erfüllt; wo es konstatirt wurde, 
dass die Leute angetrunken waren, war das Herz weniger gefüllt. 

*) Vierteljnhrsschrift für gerichtliche Medizin 1880, Seite 222, Anmerknng. 

*) Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin. Neue Folge, Band 88, 
Seite 1. 

s ) Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin, 25. Band, Seite 363. 



206 


Dr. Keferstein. 


In einzelnen Fällen waren die Nieren, in andern die Leber oder 
beide sehr blutreich. Der Blutgehalt der Milz war wechselnd. 
Das Gehirn in keinem Falle auffallend blutreich. Ebenso auch 
nicht die Lungen. Die Lungen zeigten öfter an den Rändern 
grosse, zinnoberrothe Flecke. Eine Uebertiülung der Harnblase 
mit Urin war stets vorhanden. Die hellrothe Farbe des Blutes 
ausserhalb des Herzens erwies sich als zweifelhaft. Der Magen 
war nicht immer leer.“ 

Diese Merkmale des Erfrierungstodes sind aber vollkommen 
streitig; nicht einmal die Ueberfiillung des Herzens mit Blut 
ist ganz sicher. Samson - Himmelstiern 1 ) hat sie nicht 
überall gefunden, und Blosfeld*) giebt an, dass sie bei Neuge¬ 
borenen nicht zu bemerken wäre, sonst überall. Auch Blumen¬ 
stock 8 ) sagt, dass die Blutüberfüllung des Herzens bei Neuge¬ 
borenen nach seinen Erfahrungen nicht vorhanden wäre. Er setzt 
noch hinzu: und scheint sie auch bei Erwachsenen nicht zur Regel 
zu gehören. Ogston verzeichnet bei fünf Fällen von Erfrierungs- 
tod bei Kindern zwei, wo die Herzüberfullung nicht vorhanden; 
wechselnd ist nach seinen Aufzeichnungen die Hyperämie des Ge¬ 
hirns und seiner Hüllen. An einer anderen Stelle giebt er einen 
Blutmangel der übrigen Organe mit Ausnahme des Herzens an, 
dagegen eine auffallend hellrothe Farbe des Blutes. Blosfeld 
giebt diese hellrothe Farbe ausserhalb des Herzens zu und 
Himmelstiern hat auch das nicht immer gefunden. Was nun 
die Nüancirung der Blutfarbe betrifft, so würde diese sich danach 
richten, wie lange Zeit und wie intensiv die Kälte auf die be¬ 
treffende Leiche eingewirkt hat; denn da jede Sektion doch erst 
nach dem Aufthauen der Leiche erfolgen kann, so würden wir auch 
hier zum Theil Blut vor uns haben, das dem Frieren und Wieder- 
aufthauen ausgesetzt war. Interessant wäre es gewesen, wenn 
die zinnoberrothen Flecke, die Dieb erg öfter an den Rändern 
der Lungen bei Erfrorenen gefunden hat, mikroskopisch untersucht 
worden wären, man hätte dann wohl auch hier lackfarbenes Blut 
gefunden. Martini*) behauptet, dass die Hyperämie des Gehirns 
und der Lungen sich erst nach dem Aufthauen bei den Erfrorenen 
einstellte. Die mit Urin überfüllte Blase, die auch von Samson- 
Himmelstiern 5 ) erwähnt, wird man bei jeder Leiche finden, 
sobald der Verstorbene in den letzten Stunden keinen Urin gelassen 
hat. Ebenso wenig ist die Leere des Magens irgend ein Beweis. 

Zum Schluss habe ich die in der Literatur veröffentlichten 
Sektionsbefunde bei Erfrierungstod zusammengestellt. Fremmert 6 ) 
giebt als Sektionsprotokoll folgende Daten bei einem Erfrorenen: 
Knochen des Schädels blass. Pia sehr ödematös, leicht ablösbar, 
an den Furchen verdickt. Hirnsubstanz fest, die Schnittfläche 
glänzend. Lungen sehr hyperämisch. 

*) Schmidt’a Jahrbücher 1855, Seite 90. 

*) Henke’s Zeitschrift für Staatsarzneiknnde 1860. III. Seite 147. 

s ) Maschka’a Handbuch, Seite 789, Band I. 

*) Deutsche Klinik 1852 Nr. 11. 

®) Schmidt’s Jahrbücher 1855, Seite 90. 

*) Langenbeck’s Archiv 1880, Seite 11, Anmerkung. 



Leichenbefund bei Erfrierungstod. 


207 


Bei Sonnenburg findet man folgendes Sektionsprotokoll der 
Leiche eines Knaben, der in Folge von Kälteeinwirkung an Teta¬ 
nus verstorben war: Schädel: Die Gefässe der Pia sind stark 
injizirt, namentlich die Venen, deren Inhalt dünnflüssig ist. An 
Klein- und Grosshirn ist grosser Blutreichthum der Substanz zu 
bemerken. Rückenmark: Bei Eröffnung des Rückenmarkkanals 
entleert sich ziemlich viel Blut. Im Sack der Dura eine grössere 
Menge Flüssigkeit. Die Dura zeigt sich aber durchaus nicht be¬ 
sonders blutreich, auch die Pia bietet nichts abnormes dar. Das 
Rückenmark ist im Brusttheil ziemlich weich; die graue Substanz 
ist etwas blutreich, sonst bietet das Rückenmark auf dem Quer¬ 
schnitt durchaus nichts besonderes. Die Lungen sind hyper- 
ämisch, besonders aber die Nieren ausserordentlich blutreich. Die 
Milz und die Leber gross und mit Blut gefüllt. Blumen¬ 
stock 1 ) giebt als inneren Befund in einem Obduktionsprotokoll 
an: Intermeningeales Extravasat am Scheitel beider Hemisphären, 
die weiche Hirnhaut milchig getrübt und sehr stark injizirt, die 
Medullarsubstanz des Hirns schön rosenroth gefärbt, an der Schädel¬ 
basis viel flüssiges, hellrothes Blut, Kehlkopf und Luftröhre leer, 
ihre Schleimhaut hellroth. Bei Druck auf die Lungen steigt etwas 
Schaum in die Luftröhre. Auf die Durchschnittsfläche der Lungen 
ergiesst sich viel hellrothes Blut. In der linken Herzkammer 
flüssiges aber dunkles, in der rechten mehr geronnenes Blut. 
Hyperämie der Leber und Nieren zu bemerken. Die Harnblase 
ist stark gefüllt. Das der Schädel- und Brusthöhle entnommene 
Blut ist nach beendeter Sektion flüssig und hellroth und sehr all¬ 
mählich kirschroth. Kohlenoxyd- und Blausäurevergiftung waren 
hierbei sicher ausgeschlossen. 

Nach diesen in der Literatur veröffentlichten Sektionsproto¬ 
kollen, die eigentlich recht dürftig sind, hat sich ein charakte¬ 
ristischer innerer Befund bei Erfrierungstod nicht ergeben. Die 
wechselnde hellrothe Farbe des Blutes richtet sich nach den Kälte¬ 
graden, denen die Leiche ausgesetzt war, hellrothes Blut wird 
man dort immer finden, wo durch Frieren und Wiederaufthauen 
ein Lackfarbig werden sich eingestellt hat. Es ist also nur 
ein Zeichen für Erfrierungstod massgebend und zwar 
ist es das äussere Zeichen: hellrothe Flecke auf nicht 
abhängigen Körpertheilen. 

Nur aus der Summe aller Leichenbefunde, sagt Caspar 2 ), 
und der gleichzeitigen Kombination aller den Tod begleitenden 
Umstände wie durch Herstellung des negativen Beweises, der Ab¬ 
wesenheit jeder andern, wenigstens gewaltsamen Todesart, wird 
es dem Gerichtsarzt möglich werden, wenn auch nur mit mehr 
oder weniger Wahrscheinlichkeit sein Gutachten auf statt- oder 
nicht stattgefundenen Erfrierungstod abzugeben! Er wird es frei¬ 
lich desto eher können, sobald ihm die Möglichkeit gegeben ist, 
an der frischen noch gefrorenen Leiche am Fundort die äussere 
Besichtigung vorzunehmen. 

*) Maschka'a Handbach der gerichtlichen Medizin. 

*) Handbuch der gerichtlichen Medizin. 



208 


Dr. Keferstein: Leichenbefund lei Erfrierungstod. 


Was die Nebenumstände betrifft, so ist die Kälte zu be¬ 
rücksichtigen, die zur Zeit geherrscht hat, und die Länge der 
Zeit, während welcher die Kälte auf den Betreffenden eingewirkt 
hat. Es ist bei Erwachsenen unter gleichen Verhältnissen ein 
höherer Kältegrad zum Erfrierungstod nothwendig als bei Kindern 
oder Neugeborenen. Ferner ist der körperliche Zustand, wie auch 
Trunkenheit des Individuums, seine Bekleidung und der Umstand 
zu bedenken, ob der Verstorbene schon weither gelaufen und so 
durch den anstrengenden Marsch ermüdet war. Auch ist hier 
eine Verletzung von Wichtigkeit, da sie die Quelle der Erschöpfung 
gewesen sein kann, ohne dass die Verletzung an sich lebensge¬ 
fährlich war. Auch die Lage der Leiche und der Ort, wo die 
Leiche gefunden, ist beachtenswerth, ob an dieser Stelle das In¬ 
dividuum so lange liegen bleiben konnte, ohne bemerkt zu werden. 
Bei Erwachsenen wird wohl immer zufälliges Verunglücken anzu¬ 
nehmen sein, doch ist auch ein Fall veröffentlicht, wo ein Selbst¬ 
mord durch Erfrieren vorlag. Witlacil 1 ) erzählt von einem 
Greis, der, um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen, sich 
des Abends, nachdem er eine Flasche Branntwein getrunken hatte, 
in den Schnee seines Gartens legte. Am nächsten Morgen wurde 
er erfroren dort gefunden. Schon Tage vorher hatte der betreffende 
geäussert, er würde sich das Leben nehmen. 

Bei Neugeborenen und kleinen Kindern kann eher darüber 
Zweifel sein, ob Zufall oder Absicht vorliegt. Durch Zufall kann 
bei heimlicher Geburt in sehr kalten Räumen, wenn die Mutter 
gleich nach der Entbindung in Ohnmacht oder anderweitig in Be¬ 
wusstlosigkeit verfiel, das nackte Kind, das eben den warmen 
mütterlichen Schooss verlassen hatte, auf den kalten Boden liegen 
bleibt, durch Erfrieren seinen Tod finden. (Caspar-Liman, 
gerichtliche Medizin.) An Absicht kann man dagegen denken, 
wenn man die in Lappen gehüllte Leiche unter dem Schnee 
an einem einsamen Ort vorfindet. Doch beweist das Auffinden an 
einem einsamen Ort noch nicht viel; denn da der Erdboden fest¬ 
gefroren ist, ist kaum eine andere Möglichkeit zum Verbergen der 
Leiche gegeben, als dieselbe im Schnee zu verstecken. Mag das 
Kind auch auf natürlichem Wege gestorben sein, und die Mutter 
nur die Absicht gehabt haben, sich der Leiche zu entledigen. In 
Russland pflegt man dieses Verhalten auch an Leichen Erwachsener 
zu üben, dass man dieselben bei plötzlichen Todesfällen, um allen 
langwierigen polizeilichen Nachforschungen zu entgehen, auf einem 
Schlitten aus der Stadt in’s freie Feld hinausbringt und sie dort 
in den Schnee wirft 8 ) 

Da bei den meisten Fällen von Erfrierungstod jede fremde 
Schuld ausgeschlossen ist, kommen dieselben nicht zur gerichtlichen 
Sektion, und ist daher eine gerichtsärztliche Statistik über die 
Häufigkeit des Erfrierungstodes in Deutschland nicht möglich. 

*) Wiener medizinische Wochenschrift 1857, Nr. 26. 

*) Dieberg: Vierteljahrsschrift fUr gerichtl. Medizin, Band 25, Seite 309. 



Dr. Mittenzweig: Zur Blutuntersuchung nach Katayama. 


209 


Zur Blutuntereuchung nach Katayama. 

Ton Dr. Mittenzweig. 

Die Untersuchungen von Blut auf seinen Gehalt an Kohlen¬ 
oxyd geben nach den gebräuchlichen Methoden der Spektralanalyse, 
der Natronprobe und der Probe mit Palladiniumchlorür in einzelnen 
Fällen von geringem Kohlenoxydgehalt kein sicheres Ergebniss. 
Aus diesem Grunde hat sich die gerichtliche Medizin stets bestrebt, 
neue Untersuchungsweisen zu erfinden, welche auch in solchen 
schwierigen Fällen zu unanfechtbaren Resultaten führen. Wenn 
dieses Ziel bisher auch noch nicht völlig erreicht ist, so leisten 
doch die neueren Methoden nicht selten etwas recht Befriedigendes 
und erscheint es mir als eine Pflicht der Praktiker, mit ihren Er¬ 
fahrungen in dieser Hinsicht nicht zurückzuhalten. 

In nachstehendem Falle, der meinem Kollegen Long Vor¬ 
gelegen hat, ist dieser mit der Methode nach Katayama zu einem 
positiven Gutachten gelangt, während ihm die gleichfalls ange¬ 
wandte Spektralanalyse und Natronprobe negative Resultate ergeben 
hatten. Das betreffende Gutachten lautet: ' 

Am 22. Dezember fand die gerichtliche Obduktion der Leiche 
des P. statt. Da der Verdacht vorlag, dass bei seinem Tode 
Kohlenoxyd im Spiele gewesen sein dürfte, so wurde Blut bei der 
Sektion in einem reinen Glasgefass zum Zwecke der chemischen 
Untersuchung dem Obduzenten vom Richter übergeben. Dasselbe 
war zum Theil mässig geronnen und hatte keine auffallende hell- 
rothe, sondern eine dunkel kirschrothe Farbe. 

Es wurden folgende Untersuchungen damit vorgenommen: 

I. Ein Kubikzentimeter des Blutes wurde mit destillirtem 
kaltem Wasser verdünnt, filtrirt und in Flaschen mit parallel 
geschliffenen Wänden mit dem Spektral - Mikroskop in Schichten 
von 1 Zentimeter Dicke untersucht. Im Farbenspectrum kamen 
im Bereiche von Gelb und an der Grenze von Grün dunkle Streifen 
zum Vorschein, von denen der Letztere der Breitere war. 

Auf Zusatz von Schwefelammonium, welches auf seine Fähig¬ 
keit, den Sauerstoff auszuscheiden, an frischem Thierblute vorher 
geprüft und als reduktionsfahig erkannt worden war, verschwanden 
diese Bandstreifen, und in dem Raume zwischen ihnen kam ein 
neuer Streiten zum Vorschein, welcher viel breiter war, als jeder 
der verschwundenen Streifen. 

II. Demnächst wurden 5 Tropfen des zu begutachtenden 
Blutes nach dem Umrühren mit 10 Kubikzentimeter kalten destillir- 
ten Wassers in einem Glaszylinder verdünnt, ohne sie zu schütteln. 
Hierzu wurden sieben Tropfen Schwefelammonium und endlich 
soviel Tropfen Essigsäure-Hydrat von 30°/ 0 hinzugethan, dass die 
sehr behutsam gemischten Stoffe blaues Lakmuspapier schwach 
rötheten. 

Es fiel Schwefel von grauweisser Farbe aus, und 
die Flüssigkeit hatte im Filtrat eineblassrotheFarbe. Etwas 
Trübung blieb vorhanden. 



210 


Ans 4a» Beichetag*: Din 1. taflmg des Gnaefcaeatwurfes 


m. EiptdMcb wujde ehemisch reine Natronlauge von 1,3 
spezifischem Gewicht in einer weissen Porzellanschale dem Blute 
zugesetzt. 

Die sich bildende geronnene Masse blieb wohl eine Weile in 
dünner Schicht hellroth, wurde jedoch allmählich fast ganz grau¬ 
bräunlich. 

Mehrfach wiederholte Proben ergaben jedesmal dasselbe 
Resultat. 

Die sub II nach Katayama ausgeführte Untersuchung wurde 
endlich unter Zuhilfenahme des Spektral-Mikroskops fortgesetzt. 

Im Farbenspectrum sah man drei dunkle Streifen. Der 
Streifen nahe dem Roth war der schmälste, jedoch der deutlichste^ 
die anderen beiden befanden sich nach dem Grün zu. 

Es hatte also nur die Methode sub II nach Katayama einen 
sicheren Beweis für den Gehalt des Blutes an Kohlenoxyd ergeben. 

Denn wäre kein Kohlenoxyd im Blute gewesen, so hätte sich 
unter Zusatz von gelbem Schwefelammonium und Essigsäure ein 
schmutzig-graugrüner Farbenton eingestellt, und im Farbenspectrum 
hätten sich nicht 3, sondern 2 Streifen gezeigt. 

Wenn nun auch die Spektralanalyse nach I und die Natron¬ 
probe nach DI negative oder zweifelhafte Resultate ergeben haben, 
so hat doch die Probe II nach Katayama mit Sicherheit das Vor¬ 
handensein von Kohlenoxyd in dem Blute nachweisen lassen. 


Aus dem,Reichstage: Die erste Lesung des Gesetzentwurfes 
betreffend die Bekämpfung ansteckender Krankheiten. 

Am 21. und 22. v. M. hat die erste Lesung des Reichs¬ 
seuchengesetzes im Reichstage stattgefunden. Von allen Parteien 
wilrde die NothWendigkeit des Erlasses eines derartigen Gesetzes 
im Allgemeinen anerkannt, die Mehrzahl der Redner erklärte sich 
auch mit der durch den Bundesrath vorgenommenen Einschränkung 
des Gesetzentwurfes 1 ) auf Cholera, Pocken, Fleckfieber, Pest und 
gelbes Fieber einverstanden, einzelne Redner hätten sogar lieber 
gesehen, wenn das Gesetz nur auf die Cholera beschränkt geblieben 

*) Die hauptsächlichsten Aenderungen, welche der Entwurf durch Beschluss 
des Bundesr&thes erfahren hat, sind folgende: 

1. An Stelle des Wortes „Ortspolizeibehörde“ ist überall „Polizeibehörde 
gesetzt. 

2. Im §. 1 ist die Bestimmung, dass jede Erkrankung an Darmtyphus, 
Diphtherie, einschliesslich Krupp, Rückfallfieber, Ruhr, (Dysenterie) 
und Scharlach zur Anzeige gebracht werden soll, ebenso in Fortfall gebracht 
wie die im §. 3 vorgesehene Anzeige bei Erkrankungen an Wochenbettfieber. 

3. Die im §.4 getroffene Bestimmung, dass bei Erkrankungen an Cholera, 
Pocken, Fleckfieber, Gelbfieber und Pest die Anzeige auch an den beamteten 
Arzt zu erstatten sei, ist gestrichen. 

4. Im §. 2 sind von den zur Anzeige verpflichten Personen die nnter 
Nr. 4 und 5 aufgeführten grossjährigen Familienmitglieder des Hausbaltes oder 
sonstigen Haushaltsgenossen gestrichen. 

6. Im §. 12 heisst es jetzt statt „kranke und verdächtige“ Personen: 



betreffend die Bekämpfung gemdngefÄhriichdr Krtakheffcfen. 211 

wäre, von verschiedenen Rednern wurde dagegen eine Ausdehnung 
desselben auch auf die übrigen in Deutschland heimischen anstecken¬ 
den Krankheiten für nothwendig erachtet. Von konservativer Seite 
wurde ebenso wie von Seiten des Zentrums dem Bedenken Aus¬ 
druck gegeben, dass durch das Gesetz dem Reiche neue Kompe¬ 
tenzen auf Kosten der Einzelstaaten gegeben würden, während 
von anderer Seite die dem Reiche im Gesetze eingeräumten Be¬ 
fugnisse als nicht weit genug gehend bezeichnet wurden und in¬ 
sonderheit die Errichtung eines Reichsgesundheitsrathes mit Freuden 
begrüsst wurde. Auch die Frage der Anzeigepflicht der Kur¬ 
pfuscher wurde lebhaft erörtert und zwar von der Mehrzahl der 
Redner im Sinne des Gesetzentwurfes. 

Die in dem Gesetze vorgesehenen Schutzmassregeln wurdeh 
von mehreren Rednern besonders in Bezug auf die vorgesehe¬ 
nen Beschränkungen des Verkehrs, auf die zwangsweise Unter- 
briugungvon kranken und verdächtigen Personen in Krankenhäusern, 
auf die Bekanntmachungen der einzelnen Erkrankungsfälle u. s. w. 
als zuweit gehend erklärt; desgleichen machten sich gegen die 
den beamteten Aerzten im Gesetz gegebenen Befugnisse Bedenken 
geltend, die jedoch von anderer Seite als völlig ungerechtfertigt 
widerlegt wurden. Fast einstimmig war man aber der Ansicht, dass, 
wenn die Bestimmungen des Gesetzes nicht auf dem Papier stehen 
bleiben sollten, die Stellung der beamteten Aerzte in den meisten 
deutschen Bundesstaaten einer gründlichen Reform unterzogen 
werden müsste. 

Die Einzelheiten der Berathung ergeben sich aus dem nach¬ 
stehenden Berichte; erwähnt sei nur noch, dass von einigen 
Rednern auch die Frage der Begräbnissplätze, der Feuerbestat¬ 
tung und der obligatorischen Leichenschau gestreift wurde. 

Abg. von Holleuffer (deutseb-kons.): Das Gesetz ist ein Gelegen¬ 
heitsgesetz, hervorgerufen durch die vorjährige Choleraepidemie. Es wäre daher 
weit richtiger gewesen, sich auf diese Krankheit zu beschränken, da man dann 
besser in der Lage gewesen wäre, präzisere Vorschriften zu geben. Auch poli¬ 
tische Gründe sprechen für eine derartige Einschränkung, denn nicht jeder Reichs¬ 
tagsabgeordnete sei geneigt, die Kompetenz des Reiches auf Kosten der Einzel¬ 
staaten zu verstärken. Betreffs der Anzeigepflicht ist Redner der Ansicht, 
dass dieselbe in erster Linie dem Haushaltungsvorstande und erst in zweiter 

„Kranke, krankheits- oder ansteckungsverdächtige“ Personen können 
einer Beobachtung unterworfen u. s. w. 

6. Die Vorschriften bei Ausbreitung einer übertragbaren Augenkrank¬ 
heit (§. 21 des Entwurfs) sind gestrichen. 

7. Im §. 24 ist von einem Verbote des Einlasses von Seeschiffen Ab¬ 
stand genommen und der Einlass derselben nur von der Erfüllung gesundheits- 
polizeiUcher Vorschriften abhängig gemacht. 

8. Entschädigungen sollen nur für Gegenstände gewährt werden, die durch 
die polizeilich angeordnete und überwachte Desinfektion vernichtet oder so 
geschädigt sind, dass sie in ihrer bisherigen Art nicht mehr ver¬ 
wendet werden können. Ausserdem erfolgt die Entschädigung nur auf 
Antrag. 

9. ln den Strafvorschriften (§. 43 Abs. 3) ist ein Zusatz gemacht, dass 
such in den Fällen, wo bei wissentlicher Verletzung der betreffenden Vorschrif¬ 
ten ein Dritter von der Krankheit ergriffen ist, die Möglichkeit mildernder Um¬ 
stände zugelassen und die Strafe dann bis auf eine Woche Gefängniss erniedrigt 
werden kann. 



212 


Ans dem Reichstage: Die 1. Lesung des Gesetzentwurfes 


Linie dem Arzte oder den Krankenpflegern anfzneriegen sei; die Knrpfnscher 
sind nach seiner Ansicht aber ebenso wie die Aerzte anzeigepflichtig za machen. 
Die in dem Gesetzentwürfe dem beamteten Arzte eingeränmten Befugnisse be¬ 
zeichnet Redner als zu weitgehend und als Misstrauensvotum gegen den prak¬ 
tischen Arzt; ein Eingreifen des beamteten Arztes sollte nur in den Erkran¬ 
kungsfällen zulässig sein, in denen ein Arzt überhaupt nicht zugezogen sei 
Auch die Bestimmung, dass schon bei jedem einzelnen Krankheitsfalle eine 
öffentliche Bekanntmachung stattfinden solle, sei zn weitgehend. Redner bedauert 
zum Schluss noch, dass in dem Gesetze keine Bestimmung über die Anlegung von 
Begräbnissplätzen vorhanden sei und glaubt, dass die jetzt bestehenden Mängel 
in Bezug auf die Abwehr ansteckender Krankheiten hauptsächlich auf das Fehlen 
eines einheitlichen deutschen Medizinalwesens zurückzuführen seien. 

Staatssekretär des Innern Dr. v. Boetticher: Ein Reichsseuchengesetz 
erfülle nur dann seinen Zweck, wenn es auf irgend welche zur Zeit noch nicht 
ausgetragene wissenschaftliche Streitfragen gar keine Rücksicht nehme, son¬ 
dern so eingerichtet sei, dass durch die in dem Gesetze vorgesehenen Massregeln 
unter allen Umständen ein Erfolg sichergestellt würde, gleichgültig, ob man sich 
auf vonPettenkofer’s lokalistischen, oder Koch’s kontagionistischenStand¬ 
punkt stellte. Der von dem Vorredner vertretenen Ansicht, dass man sich auf 
die Cholera hätte beschränken solle, stehe die vielfach in der Presse zu Tage 
getretene Ansicht gegenüber, dass das Gesetz noch viel zu eng gefasst sei. Nach 
seiner Ansicht liege das Richtige in der Mitte; jedenfalls müsse aber ein Reichs¬ 
gesetz zur Abwehr ansteckender Krankheiten alle diejenigen Krankheiten treffen, 
die wirklich eine Gefahr für weitere Kreise des Volkes in sich schliessen. Im 
Herbst vorigen Jahres sei der Regierung von allen Seiten der Vorwurf gemacht, 
dass man für das liebe Vieh wohl den Weg der Reichsgesetzgebung beschritten 
habe, aber nicht für die Menschen. Jetzt sei man in dieser Hinsicht wieder 
abgestumpfter und empfinde vornehmlich die Unbequemlichkeiten, die ein der¬ 
artiges Gesetz, das sich seinem Inhalte nach stets als Polizeigesetz charakte- 
risire, nothwendiger Weise mit sich bringe. Die Kardinalfrage sei die, ob die 
Bekämpfung der ansteckenden Krankheiten auch ferner der Landesgesetzgebung 
überlassen oder ob das Reich auf diesem Gebiete der Gesetzgebung eingreifen 
solle. Redner hofft, dass der Reichstag in letzterem Sinne entscheiden werde. 

Wenn von dem Vorredner behauptet sei, dass die in dem Gesetze vorge¬ 
sehenen Beschränkungen zu weitgehende seien, so kann dem gegenüber nur 
erwidert werden, dass keine derartige Vorschrift aufgenommen sei, die nicht 
bereits in irgend einem deutschen Bundesstaate bestehe. Die Anzeigepflicht in 
erster Linie dem Haushaltnngsvorstande aufzuerlegen, sei unzweckmässig, da es 
vor allem darauf ankomme, von einem Sachverständigen besonders über die 
ersten Erkrankungsfälle eine Anzeige zu erhalten. Selbstverständlich müsse dem 
Arzte die Erfüllung der Anzeigepflicht durch Aushändigung von Postkarten, die 
er nur auszufüllen brauche, thunlichst erleichtert werden. Die Kurpfuscher von 
der Anzeigepflicht zu entbinden, würde von diesen als ein privilegium favorabile 
betrachtet werden; ausserdem würden dann eine Anzahl Erkrankungsfälle nicht 
zur Anzeige gelangen. 

Dass den beamteten Aerzten den nichtbeamteten gegenüber im Gesetze eine 
bevorzugte Stellung eingeräumt sei, kann Redner nicht zugeben. Eine Bekannt¬ 
machung der Krankheitsfälle solle nur dann eintreten, wenn ein sogenannter 
Seuchenherd festgestellt sei. Eine Bestimmung über die Begräbnissfrage gehöre 
endlich ebensowenig in den Rahmen des Gesetzes wie eine solche über eine ein¬ 
heitliche Gestaltung des Medizinalwesens; das Reich würde bei Regelung dieser 
Fragen in die Kompetenz der Einzelstaaten eingreifen, wozu gar keine Veran¬ 
lassung vorliege. 

Abg. Dr. Endemann (nationallib.): Die grossen Erwartungen, die man 
auf den vorliegenden Gesetzentwurf gesetzt habe, seien leider nur im bescheide¬ 
nen Maasse erfüllt. Eine richtige Seuchengesetzgebung habe vor allem präventiv 
zu wirken und ausserdem dafür zu sorgen, dass die Sanitätspolizei in sichere 
Hände gelegt werde. Bedauerlich sei es, dass die Reichsregierung nicht vorher 
die praktischen Aerzte gehört habe, und dass den Ausführungen über den Ge¬ 
setzentwurf nicht die bei der Berathung desselben von den medizinischen Sach¬ 
verständigen abgegebenen Gutachten beigefügt seien. Zu bedauern sei es ferner, 
dass in dem Gesetzentwurf nicht auch die hauptsächlichsten einheimischen an¬ 
steckenden Krankheiten berücksichtigt seien. Vor allem sei es aber zur Durch- 



betreffend die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 


213 


fflhrang dea Gesetzes nöthig, dass speziell in Prenssen die beamteten Aerzte eine 
andere, unabhängigere Stellung erhalten mit ausgiebigem Gehalte und ent¬ 
sprechenden Vollmachten. 

Staatssekretär von Boetticher weist den Vorwurf, dass die Aerzte 
nicht gehört seien, als ungerechtfertigt zurück; denn zur Vorberathung des Ent¬ 
wurfes seien sämmtliche ärztlichen ausserordentlichen Mitglieder des Kaiserlichen 
Gesundheitsamts als Sachverständige zugezogen worden. Besondere schriftliche 
Gutachten seien von diesen Sachverständigen allerdings nicht eingefordert und 
könnten daher aueh nicht vorgelegt werden. Redner bittet dann nochmals, den 
Gedanken einer Reichsmedizinalreform bei Berathung des vorliegenden Gesetzes 
fallen zu lassen, da die Verabschiedung des Gesetzes dadurch nur erschwert würde. 

Abg. Graf zu Stollberg-Wernigerode (deutsch-konserv.) ist der 
Ansicht, dass es, wenn man sich auf einen prinzipiellen Standpunkt stelle, rich¬ 
tiger sei, nicht nur die Cholera, sondern alle anderen ansteckenden Krankheiten 
in das Gesetz aufzunehmen; unter den obwaltenden Verhältnissen scheine es aber 
praktischer zu sein, sich auf die Cholera zu beschränken, da dann der Wider¬ 
stand gegen das Gesetz auch ein weit geringerer sein würde. Redner berührt 
dann die Frage der Anlage von Begräbnissplätzen und bezeichnet die gesetzliche 
Regelung derselben als ein dringendes Bedürfniss besonders auf dem Lande. 
Der Ansicht des Vorredners in Bezug auf die Nothwendigkeit von Präventiv- 
massregeln stimme er vollständig bei. 

Abg. Fritzen (Centrum) kann dem Vorredner nicht darin beistimmen, 
dass die Frage der Kirchhöfe von Reichswegen geregelt werde, sondern ist der 
Ansicht, dass dies der Landesgesetzgebung zu überlassen sei. Auch dem 
Wunsche, von Reichswegen eine grosse Medizinalreform eintreten zu lassen, 
kann er sich nicht anschliessen, da ein solches Verfahren einen Eingriff in die 
Rechte der Einzelstaaten bedeuten würde, der ohne zwingende Gründe weder 
nothwendig noch rathsam sei. Die dem Bundesrathe im §. 1 des Gesetzes 
gegebene Blankovollmacht., die Bestimmungen des Gesetzes auch auf andere 
ansteckende Krankheiten auszudehnen, geht nach Ansicht des Redners zu weit; 
auch vermisse er eine Bestimmung hei Meinungsverschiedenheiten zwischen dem 
beamteten und dem behandelnden Arzte. Ebenso hält er verschiedene Schutz- 
massregeln für zu weit gehend, speziell die zwangsweise Ueberführung von 
Kranken und Verdächtigen in ein Krankenhaus; eine solche Massregel dürfe 
nach seiner Ansicht nur mit Genehmigung des Kranken selbst und seiner Familie 
zulässig sein. 

Abg. Dr. Virchow (deutschfreis.) hält es zwar für wünschenswerth, 
wenn in den Kreis des Gesetzes auch einzelne einheimische ansteckende Krank¬ 
heiten wie Scharlach und Diphtherie hineingezogen würden, glaubt aber, dass es 
zweckmässig sei, sich zunächst auf die wichtigsten pandemischen Krankheiten zu 
beschränken, um das Zustandekommen des Gesetzes nicht zu gefährden. Der 
Hauptmangel in der Bekämpfung der Seuchen bestehe darin, dass das Reich 
keine Exekutivgewalt habe, es müsse daher in der Kommission versucht werden, 
den neuen Reichsgesundheitsrath mit einer grösseren Exekutivgewalt auszu¬ 
statten, als dies im Entwürfe vorgesehen sei. Mit Rücksicht darauf, dass es 
kein sichereres Mittel zur Zerstörung der Ansteckungsstoffe gebe, als die Hitze, 
müsse auch die Einführung der Feuerbestattung, wenigstens die fakul¬ 
tative, als Schutzmassregel gegen die Weiterverbreitung ansteckender Krank¬ 
heiten in ernste Erwägung gezogen werden. Zum Schluss geht Redner noch 
näher auf die Stellung der Medizinalbeamten ein und fordert, dass 
diese besser gestellt werden, damit sie sich in ganz anderer Weise als bisher 
den Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege widmen können und überall, 
ohne Rücksicht auf Privatinteressen, eingreifen, wo es im öffentlichen sanitären 
Interesse nothwendig erscheint. 

Abg. Frh. von Unruhe-Bomst (Reichspartei) ist der Ansicht, dass, 
wenn überhaupt das Reich die Regelung des Verfahrens bei Bekämpfung der 
ansteckenden Krankheiten in die Hand nehmen wolle, das Gesetz dann sich nicht 
nur auf die Cholera, sondern auch auf diejenigen Volksseuchen zu erstrecken 
habe, die alljährlich, wie Darmtyphus und Diphtherie, viele Opfer forderten. 
Zum Mindesten hätte man bei diesen Krankheiten die Anzeigepflicht vorschreiben 
sollen. Dass diese in erster Linie den Aerzten auferlegt sei, sei durchaus ge¬ 
rechtfertigt und auch gar nicht schwer durchführbar, wenn den Aerzten, wie 
dies bereits in seinem Kreise geschehe, Meldekarten mit Freimarken unentgelt- 



214 


Ans dem Reichstage: Die 1. Lesung des Gesetzentwurfes 


Kch rar Verfügung gestellt würden. Dagegen sei es nicht nothwendig, auch 
das Pflegepersonal zur Anzeige zu verpflichten. Redner hofft, dass durch 
die reichsgesetzliche Regelung der Frage den Polizeibehörden die Möglichkeit 
genommen wurde, durch allerhand unnöthige unvernünftige Schutzmassregeln 
die Bevölkerung zu belästigen und den Verkehr zu schädigen, wie dies im Vor¬ 
jahre vielfach geschehen sei. Das Hauptgewicht lege er auf den §. 32 und die 
Anordnung allgemeiner gesundheitlicher Massregeln; denn in Bezug auf Wasser¬ 
versorgung, Beseitigung der Abfallstoffe u. s. w. sei sowohl auf dem Lande, als 
in den Städten noch vieles nachzuholen. Ganz besonders freudig begrüsse er 
den Gedanken der Einführung eines Reichsgesundheitsratbes und die Bestimmung, 
dass derselbe nicht blos aus Medizinal- und Verwaltungsbeamten, sondern auch 
ans anderen, auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege praktisch er¬ 
fahrenen und bewährten Männern bestehen soll. 

Abg. Dr. Rzepnikowski (Pole): Eine sacligemässe Anzeige ist nur 
von dem Arzte zu erwarten und daher nur diesem die Anzeigepflicht aufraer- 
legen. Die in dem Gesetze vorgesehenen Absperrnngsmassregeln gehen viel ra 
weit; besonders mit Rücksicht darauf, dass ein grosser Erfolg von denselben 
doch nicht zu erwarten sei. Ausserdem können sie leicht durch übergrossen 
Eifer nnd Unverständnis der Polizeiorgane zu bedenklichen Missgriffen Ver¬ 
anlassung geben. Redner ist ferner der Ansicht, dass den praktischen Aerzten 
im Gesetze eine untergeordnete Stellung den beamteten Aerzten gegenüber 
ragewiesen werde, wodurch das bei dem Kampf gegen ansteckende Krankheiten 
unbedingt nothwendige harmonische ärztliche Zusammenwirken beeinträch¬ 
tigt werde. 

Abg. Wurm (Sozialdemokrat): Ein Einschreiten von Reichswegen gegen 
die auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege in einzelnen Gemeinden 
nnd Staaten bestehende Misswirtschaft sei dringend geboten; in dem Gesetze 
sei aber von einem kräftigen Eingreifen der Behörden nichts zu spüren. In den 
Vorschriften sei stets nur von einem „kann“, aber niemals von einem „soll“ 
nnd „muss“ die Rede; auch der Reichsgesundheitsrath sei eine reine Dekorations- 
flgur. Der Erlass allgemeiner Vorschriften gegen ansteckende Krankheiten sei 
dringend nothwendig, aber nicht nur gegen die im Gesetz erwähnten Krank¬ 
heiten, sondern auch gegen die übrigen hauptsächlich das Volkswohl bedrohenden 
endemischen Krankheiten. Auch nehme der Gesetzentwurf auf die Ursachen der 
Krankheiten, auf die Beseitigung der sozialen Missstände zu wenig Rücksicht. 
Die Vorlage arbeite mit zwei Klassen von Aerzten, den behandelnden und den 
beamteten, von denen die ersteren durch die letzteren bevormundet würden, 
richtiger wäre es, sämmtliche Aerzte zu Staatsbeamten zu machen. Desgleichen 
fehlten in dem Gesetze Bestimmungen, durch die den Angehörigen von Aerzten 
eine Entschädigung gesichert würde, falls diese bei Epidemien durch Anstecknng 
ihr Leben einbüssten; diese Bestimmungen seien aber nicht nur auf die Aerzte, 
sondern auch auf Desinfektoren n. s. w. anszudebnen. 

Die zwangsweise Fortschaffung der Kranken aus ihrer Wohnung sei nicht 
gerechtfertigt, man solle lieber die Gesunden aus der Wohnung entfernen nnd 
vor allem in epidemiefreien Zeiten für gesunde Wohnungen Sorge tragen. 
Gerade die vorjährige Cholera-Epidemie in Hambnrg habe gezeigt, wie wenig 
in Bezug auf die Beseitigung sanitärer Missstände in grösseren Städten geschehe. 
Vor 20 Jahren habe dort bereits das Medizinalkollegium erklärt, dass Ais 
Leitungswasser zum Trinken nicht mehr unbedenklich sei, trotzdem sei erst im 
Jahre 1890 mit einer Verbesserung der Wasserleitung begonnen. Das Gesetz 
müsse dem Reiche die nothwendigen Machtmittel nnd Exekutive geben, um die 
für erforderlich erachteten sanitären Massnahmen durchzuführen, sonst bliebe 
alles beim Alten, ebenso wie es bisher nicht gelungen sei, den Widerstand der 
Einzelregierungen gegen die Einführung der Leichenverbrennnng zu beseitigen. 
Vor allem sei aber durch Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung, durch Besse¬ 
rung der Lebens- und Wohnungsverhältnisse der Arbeiter den Volkssenchen der 
Boden zu nehmen; denn gerade die Arbeiterquartiere mit ihrer körperlich nnd 
gesundheitlich geschwächten Bevölkerung würden von den ansteckenden Krank¬ 
heiten am meisten heimgesucht. 

Hamburgischer Bevollmächtigter zum Bundesrath Senator Dr. Bnrchard 
weist die Vorwürfe des Vorredners in Bezug a*f die schlechten Wohnnngs- und 
Wasserverhältnisse in Hamburg als völlig ungerechtfertigt zurück. Er grabt 
allerdings zu, dass, wenn die Sandfiltration im Vorjahre bereits vollendet ge- 



betreffend die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten. 215 

wesen wäre, die Cholera nicht eine solche Ausbreitung in Hamburg genommen 
haben würde; betreffs der Verzögerung der Wasserleitung treffe aber der Stadt 
Hamburg keine Schuld. In Bezug auf die Verbesserung der Wohnungsverhält¬ 
nisse sei bereits eine neue Baupolizeiordnung und insonderheit schärfere Mass- 
regeln in Bezug auf die zulässige Bebftuung, auf die rücksichtslose Ausbeutung 
des Grund und Bodens in Aussicht genommen. Man müsse jedoch immer in Er¬ 
wägung ziehen, dass sehr viele sanitäre Missstände in den Wohnungen auf deren 
gesundheitswidrige Benutzung zurückzuführen seien. Zum Schluss spricht Redner 
noch der Reichsregierung und den Organen derselben für ihre bereitwillige Un¬ 
terstützung während der Choleraepidemie den herzlichsten Dank aus, ebenso wie 
allen denjenigen im In- und Auslande, die durch hochherzige reiche Gaben ihre 
Opferwilligkeit zur Linderung der durch die Cholera über Hamburg gekommenen 
Noth bethätigt haben. 

Abg. Dr. Langerhans (deutschfreis.): Das mit grosser Sauberkeit und 
Korrektheit ausgearbeitete Gesetz werde von ihm mit Sympathie begrüsst, schon 
mit Rücksicht darauf, dass durch dasselbe der Weg zu einer einheitlichen Medi¬ 
zinalreform in den einzelnen Staaten geebnet und insonderheit eine bessere Stel¬ 
lung der viel zu schlecht bezahlten beamteten Aerzte herbeigeführt würde. Auch 
die Einrichtung eines Reichsgesundheitsraths sei sehr zweckmässig, nur müsse 
dessen Kompetenz näher präzisirt und erweitert werden. Die Ausdehnung der 
Anzeigepflicht auf die Kurpfuscher, Krankenpfleger u. s. w. halte er für einen 
Fehler; neben den Aerzten sollten nur die Haushaltungsvorstände anzeigepflichtig 
gemacht werden. Dringend wünschenswerth, auch mit Rücksicht auf die Abwehr 
der Volksseuchen, sei die Einführung einer obligatorischen Leichenschau. 

Die Ansicht, dass der Arzt durch die Vorschriften des Gesetzes in seiner 
Stellung und in seinem Ansehen dem beamteten Arzte gegenüber beeinträchtigt 
würde, kann Redner nicht theilen. Auch die Aufnahme von Scharlach, Typhus, 
Diphtherie u. s. w. in das Gesetz hält er nicht für nöthig, da diese Krankheiten 
nur lokale Bedeutung hätten und ihre Bekämpfung den Einzelstaaten überlassen 
bleiben könnte. Ebenso erscheinen ihm die im Gesetz vorgesehenon Ausnahme¬ 
bestimmungen für die Eisenbahnbeamten nicht begründet. 

Staatssekretär Dr. v. Bötticher widerlegt zunächst die von dem Vor¬ 
redner gemachte Einwendung betreffs der Exemption der Eisenbahnbeamten, die 
durch die im Vorjahre gemachten Erfahrungen sich als unbedingt nothwendig 
herausgestellt habe. Ob die Kompetenz des Reichsgesundheitsrathes noch näher 
präzisirt und erweitert werden müsse, darüber zu verhandeln, würden die Kom¬ 
missionsverhandlungen hinreichend Gelegenheit geben. Redner betont dann noch 
besonders, dass die äussere Stellung und Wirksamkeit der Aerzte durch diesen 
Gesetzentwurf ebensowenig geändert oder herabgewürdigt werde, wie durch 
die Krankenkassengesetzgebung. Die Ursachen der Klagen der Aerzte lägen in 
ganz anderen Umständen, und zwar besonders in dem Umstand, dass der Zu¬ 
drang der Aerzte zu den grossen Städten ein ganz enormer sei. Auch die Be¬ 
fürchtung, dass der behandelnde Arzt dem beamteten Arzt gegenüber zurück- 
gesetzt werde, sei völlig ungerechtfertigt; desgleichen könnten Streitigkeiten 
zwischen dem behandelnden und beamteten Arzte nicht Vorkommen, da der letz¬ 
tere mit der Behandlung des Kranken gar nichts zu thun, sondern nur diejenigen 
Massregeln anzuordnen habe, die zur Verhinderung einer weiteren Ausbreitung 
der Seuche erforderlich seien. Dem mehrfach laut gewordenen Wunsche einer 
Reichsmedizinalreform gegenüber könne nur wiederholt werden, dass das Reich 
keine organisatorischen Einrichtungen zu treffen habe, die viel besser und sach¬ 
kundiger innerhalb der einzelnen Bundesstaaten getroffen werden könnten. 

Abg. Dr. Höffel (Reichspartei) bedauert, dass der Gesetzentwurf sich 
nur auf nicht in Deutschland heimische ansteckende Krankheiten beschränke 
und dass man der Kompetenz der Einzelstaaten soviel als möglich überlassen habe; 
denn das Bedürfnis einer für das ganze Reich einheitlichen Epidemiepolizei 
mache sich immer mehr geltend. In dem Gesetze sei ferner der polizeiliche 
Wejf zur Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten zu scharf, derjenige zur 
hygienischen Verhütung derselben zu wenig berücksichtigt. Behufs der Anzeige¬ 
pflicht brächte der Entwurf nichts Neues gegenüber den in den meisten deut¬ 
schen Bundesstaaten bestehenden Vorschriften; zu bedauern sei, dass nicht auch 
die reichsgesetzlicbc Regelung einer allgemeinen obligatorischen Leichenschau 
vorgesehen sei. Der Vorwurf, dass durch die Stellung, welche die Vorlage den 
beamteten Aerzten zuweise, dem behandelnden Arzte ein Misstrauensvotum 



216 Aus d. Reichstage: Die 1. Lesung des Gesetzentwurfes betr. d. Bekämpfung etc» 

gegeben werde, sei völlig ungerechtfertigt. Statt der Einrichtung einer neuen 
Körperschaft, des Reichsgesundheitsrathes, hätte man besser das Gesundheitsamt 
mit grösserer initiativer und exekutiver Macht ausstatten sollen. 

Abg. Molkenbuhr (Sozialdemokrat): Das Reich habe die Pflicht, für 
die Gesundheit der Einwohner zu sorgen; in dem vorliegenden Gesetze sei aber 
z. B. die Wohnungsfrage gar nicht berührt. Nicht nur in Hamburg, sondern 
auch in anderen Städten seien die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter sehr 
schlechte und einer Abhülfe dringend bedürftig. Eine solche Abhülfe sei aber 
nicht durch die Landesgesetzgebung, sondern nur auf reichsgesetzlichem Wege 
zu erreichen. Auch die Stellung der Medizinalbeamten sei keine derartige, dass 
man von diesen Beamten ein energisches Eingreifen erwarten könne, da die¬ 
selben in erster Linie darauf angewiesen seien, als Aerzte ihr Brod zu ver¬ 
dienen und in Folge dessen keine Zeit hätten, ihre Aufmerksamkeit der allge¬ 
meinen Gesundheitspflege zu widmen. Hier sei eine Reform unbedingt erforder¬ 
lich. Vor allem sei durch ein Reicbsgesetz festzusetzen, wieviel Räume für 
jeden Bewohner in einem zu vermiethenden Raum vorhanden sein müssen, dass 
überall für gesundes Trinkwasser und möglichste Reinlichkeit zu sorgen sei 
und dass alle diese gesundheitlichen Massnahmen durch unabhängige Sach¬ 
verständige überwacht werden müssen. 

Hamburgischer Bevollmächtigter zum Buudesrath, Senator Dr. Burchard 
erwidert hierauf, dass Senat und Bürgerschaft der Stadt Hamburg vollständig 
eins seien in dem Bestreben, denjenigen Mängeln, die sich im vorigen Jahre her¬ 
ausgestellt hätten, ein Ende zu machen. 

Abg. Schräder (deutschfreis.) erkennt an, dass auf dem Gebiete der 
öffentlichen Gesundheitspflege viele Unterlassungssünden begangen seien, beson¬ 
ders in Bezug auf die Wohnungsfrage. Er begrüsse daher das Gesetz als ersten 
Anfang einer ernsten Inangriffnahme gesundheitlicher Massregeln, und wenn auch 
bei dieser Gelegenheit die Frage der Medizinalreform nicht erledigt werden könne, 
so sei es doch äusserst wünsehenswerth, dass diese demnächst von Reichswegen 
in die Hand genommen würde. Jedenfalls sei das Reich dazu nach §. 4 der 
Reichsverfassung völlig berechtigt. Eine Erweiterung der Aufsicht des Reiches 
über das Medizinalwesen sei ebenso nöthig, wie die Fürsorge dafür, dass die 
Medizinaleinrichtungen in den einzelnen Bundesstaaten den gesundheitlichen An¬ 
forderungen entsprechen und dass für jeden Bezirk von einer gewissen Grösse 
ein ärztlicher Sachverständiger als Sanitätsbeamter angestellt werde. Unbegreif¬ 
lich seien die Beschwerden der Aerzte über das Gesetz wie über die sozialpoli¬ 
tische Gesetzgebung. Durch die letztere sei die Thätigkcit der Aerzte und ihr 
Einkommen erheblich vermehrt; allerdings sei durch diese Gesetze eine unwürdige 
Konkurrenz hervorgerufen, durch die sich der ärztliche Stand sehr geschadet habe. 

Ob es richtig sei, neben dem Reichsgesundheitsamte noch eine zweite tech¬ 
nische Behörde, den Reichsgesundheitsrath, einzurichten, wurde vom Redner 
bezweifelt; seiner Ansicht nach würde es zweckmässiger sein, die Kompetenzen 
des Reichsgesundheitsamtes zu erweitern, als diese Behörde jetzt gleichsam in 
einer Versenkung verschwinden zu lassen. 

Staatssekretär Dr. von Bötticher widerlegt die Bedenken des Vorred¬ 
ners gegen den Reichsgesundheitsrath, durch den das Reichsgesundheitsamt weder 
degradirt noch eliminirt werde. Der Gesundheitsrath würde vom Reichskanzler 
ebenso abhängig, wie alle anderen Behörden sein; ihm als technische Behörde 
Exekutivgewalt beizulegen, sei nicht empfehlenswerth. 

Der Gesetzentwurf wurde schliesslich an eine Kommission 
von 21 Mitgliedern überwiesen. Vorsitzender dieser Kommission 
ist Graf von Hompesch, Stellvertreter desselben Dr. Langer- 
hans, als Schriftführer fungiren Dr. Endemann und von 
Holleufer. 

Es möge hier noch bemerkt werden, dass die Verhandlungen 
des Preussischen Medizinalbeamtenvereins über das Reichsseuchen¬ 
gesetz dem Beschlüsse der Generalversammlung gemäss sämmt- 
Uchen Mitgliedern des Bundesrathes und des Reichstages zuge¬ 
stellt sind. 



Kleinere Mittheilungen und Referate aas Zeitschriften. 


217 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


A. Gerichtliche Medizin. 

In das Berliner Leichenschanhaus eingelieferte Leichen pro Ok¬ 
tober, November, Dezember 1892 und Jannar, Februar, März 1893. 


Monat 

Zur Morgue 1 

Männer 1 

Frauen 

Kinder 

Neugeborene 1 

5 

O 

Beerdigt f 

| Erstochen || 

Erhängt | 

Ertrunken || 

Erschossen || 

Vergiftet || 

durch Kohlen¬ 
dunst gestorb. 

Erfroren || 

Verletzungen II 
ohne Erseht essen] | 

Unbekannte 

Todesart 

Innere 

Krankheiten 

Erstickt | 

Verbrannt || 

Erdrosselt || 

| Summa || 

Oktob. 

53 

Bo; 

9 

7 

2 

4 

17 

_ 

12 

— 

9 

3 

2 

_ 

_ 

6 

5 

11 

4 

i 

_ 

53 

Novbr. 

57 

37 

8 

8 

4 

— 

19 

i 

14 

1 

3 

2 

— 

— 

7 

6 

16 

7 

— 

— 

57 

Dezbr. 

68 

41 

16 

9 

2 

4 

32 

— 

12 

4 

5 

6 

i 

— 

9 

11 

17 

3 

— 

— 

68 

Jan. 

75 

44 

13 

15 

3 

2 

34 

— 

9 

3 

3 

7 

i 

4 

6 

17 

17 

5 

8 

— 

75 

Febr. 

62 

35 

12 

13 

2 

5 

19 

— 

10 

4 

2 

5 

— 

— 

13 

7 

19 

1 

— 

i 

62 

März 

71 

49 

9 

9 

4 

9 

25 

i 

20 

8 

4 

5 

— 

— 

4 

8 

16 

4 

1 

— 

71 


Die Bedeutung der Thymushypertrophie bei forensischen Sek¬ 
tionen. Von Dr. C. Seydel, ausserordentl. Professor und Pol.-Stadtphysikus. 
Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin; III. Folge, V. Bd., 1. Heft 1893. 

Ebenso wie man zur Zeit Uber die physiologische Funktion der normalen 
Thymus noch im Unklaren ist, gehen die Meinungen Uber den ursächlichen Zu¬ 
sammenhang des Organs mit Respirationsstörnngen und daraus resultirenden 
plötzlichen Todesfällen auseinander. Indessen ist nicht zu verkennen, dass man 
von dem negirenden Standpunkte Friedleben’s, der einen Einfluss der Thymus 
auf gefahrdrohende Ersticknngsanfälle Überhaupt leugnete, abgekommen ist und 
dass man nach neueren Beobachtungen der Ansicht zuneigt, dass eine hyper¬ 
plastische Thymus sehr wohl Respiration und Zirkulation beeinflussen könne. 
In den letzten Jahren haben u. A. Soltmann und Pott dem Gegenstände 
ihre Aufmerksamkeit zugewandt; sie haben die sehr häufig tödtlich endigenden 
Fälle von Laryngospasmns zusammengcstellt, bei denen Anomalien der Thymus¬ 
drüse beobachtet wurden. Verfasser führt einen von ihm beobachteten Fall aus 
der forensischen Praxis an, bei welchem der Tod an Erstickung eines */t Jahr 
alten Kindes durch die Obduktion konstatirt wurde, wobei aber sich nichts 
ergeben hatte, woraus geschlossen werden konnte, dass diese Todesart gewalt¬ 
sam herbeigeftihrt worden wäre. Die Thymus war auffallend gross, 5 cm breit, 
8 cm lang, 3*/* cm an der dicksten Stelle, so dass die Möglichkeit zugegeben 
werden muss, dass der Tod durch Thyraushyperplasie erfolgt ist. Man wird 
daher gut thun, bei Sektionen von plötzlich verstorbenen Kindern, bei welchen 
die Sektion Erstickung ohne nachweisbare Schuld eines Dritten ergiebt, auf Ver¬ 
änderungen der Thymus zu achten, ganz besonders aber bei Kindern die nach¬ 
weislich an Respirationsstörungen und Laryngospasmus gelitten hatten. 

Dr. Israel-Medcnau (Ostpr.). 


Bedeutung der Zeichen für wiederholte Geburt. Von Kr.-Phys. 
Dr. Schilling. Ebendaselbst. 

Die bekannten Zeichen, welche bei der Diagnose der stattgehabten Geburt 
charakteristisch erscheinen, sind theils dauernd, theils vorübergehend; sie lassen 
sich ohne Zweifel bei der Konstatirung der ersten Geburt verwenden. Schwie¬ 
riger wird jedoch die Frage bei einer wiederholten Geburt. Die Beant¬ 
wortung der richterlichen Frage, ob eine verdächtige Person vor längerer oder 
kürzerer Zeit geboren, lässt sich dann häufig nur mit Wahrscheinlichkeit beant¬ 
worten. Da die Kriterien bei der wiederholten Schwangerschaft sich niemals so 
vollständig und deutlich ausprägen, wie bei der ersten, so wird man in zweifel¬ 
haften Fällen nicht allein den Zustand der Genitalien, Bauchdecken und des 
Wochenflusses in Erwägung ziehen, sondern auch ganz besonders auf die Mammae 
achten, deren Milchgehalt noch immer als das wichtigste Zeichen gilt. Dass 
man auch beim Vorhandensein dieses Zeichens in der Beurtheilung des Falles 
vorsichtig sein muss, lehrt die Erfahrung, da es auch Mädchen giebt, deren 




218 


Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften. 


Brüste permanent Milch prodoziren, ohne dass eine Geburt vorausgegangen wäre. 
Sehr lehrreich ist in dieser Hinsicht die Beobachtnng des Verfassers: Eine ver- 
heirathete Frau war als des Kindesmordes verdächtig von ihm untersucht, und 
da die Brüste reichlichen Milchgehalt zeigten, auch andere Symptome vorhanden 
waren, die Frau als verdächtig in Untersuchungshaft eingeliefert worden. Dort 
konnte nun Sch. durch seine Beobachtung, die fast 5 Monate umfasste, konsta- 
tiren, dass die Milchdrüsen der Frau zweifellos beständig sezernirten, während 
der Menstruation war ein stärkeres Turgesziren und stärkere Füllung der Brüste, 
zwischen den Menses eine geringe Abnahme der Sekretion zu bemerken. Es 
kommt also, wie Li man sagt, nicht nur bei Jungfern und Wittwen, die lange 
nicht geboren haben, sondern auch bei verheiratheten Frauen, ohne dass sie 
geboren haben, eine dauernde Milchsekretion vor. Ders. 

Trauma und Infektion in ihrer beiderseitigen aetiologischen Be¬ 
deutung für die Meningitis in forensischer Beziehung. Von Dr. Arnstein. 
Separat-Abdruck aus der Vierteljahrsschrift f. gcrichtl. Medizin u. öffentl. San.- 
Wesen; 3. Folge, IV, 2. 

Bei der Besprechung der Entzündung der Hirnhäute in gerichtlich - medi¬ 
zinischer Beziehung hat man es vorzugsweise mit den Entzündungen der weichen 
Hirnhäute zu thun, da diejenigen der harten Hirnhaut forensisch von unterge¬ 
ordneter, sekundärer Bedeutung ist. Anatomisch lässt sich die traumatische 
Meningitis mit Sicherheit nur von der tuberkulösen unterscheiden. Alle übrigen 
eitrigen, spontanen Gehirnhautentzündungen bieten sowohl was die Natur und 
die Menge des Exsudats, als auch die Verbreitung betrifft, kaum bemerkenswerthe 
charakteristischen Unterschiede gegenüber der traumatischen Meningitis dar. 
Vielleicht könnte man als Zeichen der letzten den Befund ansehen, dass der 
Eiterungsprozess nicht in der ganzen Ausdehnung gleich stark ausgeprägt erscheint, 
sondern immer an einer oder mehreren Stellen stärker ausgebildet ist und zwar 
an denjenigen Punkten, von welchen der ProzesB seinen Ausgang genommen hat. 
Findet man eine Entzündung der Pia vor, so hat man zur Beurtheilung, ob sie 
eine traumatische ist, auf Läsionen der Schädelknochen, der benachbarten Weich- 
theile und Schleimhäute zu achten. Der Befuud jeder auch noch so geringen 
Kontinnitätstrennung ist wichtig, da durch sie die Möglichkeit des Luftzutritts 
und des Eindringens der Infektionsträger gegeben ist. Es kommen hierfür in 
Betracht: 1) perforirende Hiebwunden des Schädels, 2) Basisfrakturen, die durch 
die Kommunikation der Fissuren mit Luft führenden Höhlen zu Eingangspforten 
für die Infektionserreger werden, 3) isolirte Kontinuitätstrennungen der weichen 
Schädeldecken. Auch hierdurch ist dem Eindringen der Entzündungserreger durch 
die zahlreichen Blut- und Lymphbahnen, Santorinischen Emissarien Gelegenheit 
geboten. Dagegen ist ein etwaiger kausaler Zusammenhang zwischen Meningitis 
und Laesionen benachbarter Schleimhäute mit grosser Vorsicht aufzunehmen, 
weil sich die meist winzigen Verletzungen nicht oder sehr schwer eruiren lassen, 
und es sich nicht mit Sicherheit nachweisen lässt, dass die Entzündung wirklich 
von ihnen den Ausgang genommen hat. Ebenso ist der Zusammenhang einer 
Vorgefundenen Meningitis mit erschütternden Gewalteiuwirkungen, die den Schädel 
mit grösserer oder geringerer Intensität ohne erkennbare Laesion treffen äusserst 
fraglich. Eine Commotio cerebri allein kann nicht die Ursache einer Meningitis 
sein, die Entstehung einer Meningitis ist nur dann möglich, wenn gleichzeitig 
eine äussere oder innere Verletzung gesetzt worden ist. Bei geringfügigen 
Misshandlungen aber hat man ganz besonders jedes Mal darauf zu achten, ob die 
Meningitis nicht eine zufällige zeitliche Aufeinanderfolge der Misshandlung ist, 
ob nicht vielmehr im Gehörorgan, in den Nebenhöhlen der Nase (Stirn-Keübein- 
höhlen, Siebbcinlabyrinth) eine Eiterung, also ein ätiologisches Moment für die 
Meningitis zu finden ist. Es resultirt demnach in solchen Fällen für den Gerichts¬ 
arzt die unabweisbare Verpflichtung, die oben genannten Höhlen auf das Genaueste 
zu untersuchen. Ders. 

B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Ueber eine die Nachweisung von Cholera-Vibrionen im Wasser 
erleichternde Untersuchungsmethode. Von Dr. Poniklo. (Wiener Klin. 
Wochenschrift; 1893, Nr. 14.) 

Um auch spärliche Cholerabakterien im Wasser nachzuweisen, empfiehlt 



Kleinere Mittheilungen und Beferate aus Zeitschriften. 219 

Verfasser die von ihm erprobte Methode der Züchtung der Bakterien in mit dem 
zu untersuchenden Wasser verdünnter Bouillon. 

Ein Liter des verdächtigen Wassers wird in sterilem Kolben mit 10°/ o 
steriler Bouillon der Art versetzt, dass die oberste Schicht der Mischung im 
Halse des Kolbens sich befindet, wodurch die Berührungsfläche derselben mit der 
Luft möglichst verkleinert wird. Nach 24stündigem Belassen im Thermostaten 
wird alsdann das an der Oberfläche sich bildende Häutchen mittelst des Platten* 
Verfahrens untersucht. In dieser Weise gelang auch bei weitfortgesetzter Verdün¬ 
nung des Cholerabakterien enthaltenden Wassers der Nachweis derselben leicht 
(die so gewonnenen Kulturen zeigten die Choleraroth- Reaktion weit deutlicher 
als die direkt aus Dejektionen gezüchteten Kulturen). 

Ein ähnliches Verfahren wendet Löffler an (cfr. Deutsche med. Wochen¬ 
schrift Nr. 11, p. 263). Dr. Flatten-Wilhelmshaven. 


Die Dauer der Verwesung in Gräbern lässt sich nach einem Berichte 
von Brouardel and Du Mesnil (Annales d’hygiCne publique et de mCdicine 
legale 1892, p. 29) wesentlich beschleunigen durch eine sachgemässe Drainirong 
der Kirchhöfe. Dieses Urtheil stützt sich auf Versuche, welche in einem Gräber¬ 
terrain eines Friedhofes ausgeführt wurden, dessen Erdreich zumeist aus Thon 
bestand und im Sommer nur in einer Tiefe bis zu 1,60 m, im Winter bis zu 
0,6 m Tiefe trocken war. Die Mehrzahl der Leichen, welche ausgegraben 
wurden standen im Grundwasser. 

Etwa ein Jahr nach der Drainirung wurden die ersten dort beerdigten 
Leichen exhumirt. Obschon dieselben nicht ganz ein Jahr unter der Erde ge¬ 
legen batten, waren sie ganz erheblich weiter in.der Verwesung fortgeschritten 
als eine Leiche, welche in dem nicht drainirten Theile des Kirchhofes schon fünf 
Jahre gelegen hatte. Ihre Organe waren grösstentheils kolliquirt, die Leichen 
theilweise skelettirt, während die Leiche aus nicht drainirtem Boden völlig er¬ 
halten und Adipocirebildung eingegangen war. Die Vorgefundenen Unterschiede 
zeigen sich in den von den Verfassern beigefügten Photographien in auffal¬ 
lender Deutlichkeit. Die gleichen Unterschiede konstatirten Verfasser an den 
Kadavern von Hammeln, welche ebendort eingegraben waren. Ders. 


Die Methoden der Fleischkonservirung. Von Stabsarzt Dr. Plagge 
und Unterarzt Dr. Trapp. Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Militär- 
Sanitätswesens. Berlin 1893. 130 S. 

Seitdem Appeat im Jahre 1809 „die Kunst, alle thierischen und pflanz¬ 
lichen Nahrungsmittel mehrere Jahre geniessbar zu erhalten“ gelehrt hatte und 
zwar durch Einkochen in Glasgefässen mit luftdichtem Verschluss, ist die Zahl 
der Konservirungsmethoden fortwährend gestiegen; so sind allein in Deutschland 
nnd drei anderen Hauptstaaten mehr denn 600 verschiedene Verfahren bei den 
betreffenden Patentämtern angemeldet. Die Verfasser haben 664 Methoden über¬ 
sichtlich zusammengestellt und auf Grund besonderer in dem Laboratorium des 
Friedrich Wilhelms-Institut angestellter Experimente und umfangreicher Lite¬ 
raturstudien einer kritischen Besprechung unterzogen. Sie kommen zu dem Er¬ 
gebnis, dass ein wesentlicher Fortschritt gegen frühere Zeiten — Räuchern 
kannte man vor vielen Jahrhunderten und Pökeln schon zu Homer’s Zeiten — 
nur für Büchsenkonserven erzielt ist, da diese den Anfordernngen, die man an 
ein gutes Dauerpräparat stellen muss, ziemlich nahe kommen; alle übrigen Kon- 
servirungsverfahren leiden an mehr oder minder erheblichen Mängeln, da weder 
die Wasserentziehung noch die Abkühlung mit Eis, noch der Luftabschluss und 
ebensowenig die Anwendung antiseptischer Mittel ein gebrauchsfähiges, d. h. in 
dem Nährwerth, der Schmackhaftigkeit nnd dem Anschaffungspreis ein dem 
frischen Fleisch annähernd gleichwertiges Produkt liefern. 

Wer sich für das wichtige Problem der Fleischkonservirung interessirt, 
wird in der mit vielem Fleiss zusammengestellten Arbeit hinreichende Belehrung 
finden. Dr. Schubert-Saarbrücken. 


Ueber die gesundheitlichen Nachtheile des Bewohnens feuchter 
Wohnungen nnd deren Verhütung vom sanitätspolizeilichen Standpunkte. 
Von Dr. Ascher, Kreiswundarzt in Bomst. Deutsche Vierteljahrsschrift für 
öffentliche Gesundheitspflege, Bd. XXV, Heft 2, April 1893. 



220 Kleinere Mittheilungen nnd Referate aus Zeitschriften. 

Die Feuchtigkeit der Wohnungen ist ein ausserordentlich gesundheits¬ 
schädliches Moment, wenn auch kaum je direkte Krankheits-Ursache. Sie beein¬ 
trächtigt durch Verlegung der Poren der Wände mit Wasser die Ventilation 
und entzieht unserem Körper Wärme, namentlich einseitig — Zug —. Wie 
wichtig ersteres ist, geht aus Pettenkofer’s Beobachtungen hervor, der fest¬ 
gestellt hatte, dass trockene Wände einen Wohnranm völlig genügend ventiliren 
können. Die Feuchtigkeit, namentlich die der Zwischendecken, des Fehlbodens, 
begtlnstigt die Entwickelung von Mikroorganismen, so dass schon die Abhängig¬ 
keit von Erkrankungen von ganz bestimmten Ecken eines Zimmers nachgewiesen 
werden konnte. Namentlich begünstigt die Feuchtigkeit die Entwickelung sapro- 
phitischer Parasiten. Lehrreich ist ein Fall von Ungefug, der im Auswurf 
von Kranken Sporen von Merulius lacrymans (Hausschwainm) nachwies. 

Die grösste Feuchtigkeitsmenge kommt beim Neubau in das Haus; wird 
die Wohnung vor völliger Austrocknung bezogen, so wird sie, da das Wasser 
der Athmung und der häuslichen Verrichtungen durch die kalten und nassen 
Wände nicht genügend abziehen kann, noch feuchter. Darum soll die Erlaubnis 
zum Beziehen nicht eher gegeben worden, als bis sämmtliche Räume trocken sind. 

Von grosser Wichtigkeit ist das Baumaterial, da die Wände durch ihre 
Poren die Wohnungen ventiliren müssen. Am geeignetsten ist Ziegelstein mit 
Mörtelverbindung, ungeeignet Kalkstein, Bruchstein, falls nicht eine hinreichende 
Menge des porösen Mörtels die Ventilation besorgt. Wird nnporöses Material 
genommen, so muss für künstliche Ventilation gesorgt werden, da sonst der 
beim Bewohnen entwickelte Wasserdampf nicht abziehen kann und sich an den 
Wänden niederseblägt. 

Ein besonderer Schutz der Wände ist an der Wetterseite nöthig, derselbe 
muss wasser- aber nicht luftdicht sein, am besten Ziegelsteine mit dachschuppen¬ 
förmig gestellten Schieferplatten oder Isolirmauern mit Ausfüllung durch Kiesel- 
guhr oder reinen Sand, letzteres wegen der Gefahr der Hellhörigkeit. 

Der innere wie der äussere Anstrich dürfen die Ventilation nicht auf- 
heben. — Damit der Fehlboden nicht zu viel Feuchtigkeit erhält, muss der 
Fussboden möglichst wasserdicht sein (Parkett, gefirnisste Dielen), in Küchen, 
Baderäumen etc. Asphalt. Der Fussboden des Erdgeschosses muss 0,6 m über 
dem Strassenniveau liegen, um nicht vom Strassenwasser befeuchtet zu werden. 
Zar Füllung der Fehlböden darf nur unverdächtiges reines, trockenes Material 
genommen werden. 

Wo das Dach luftdicht ist, muss für künstliche Ventilation gesorgt werden 
durch Dachreiter etc. Wichtig ist ferner die Ableitung des Tag-Wassers, so 
dass es nicht wieder in das Haus gelangen kann, ebenso wichtig die Kontrole 
über etwa vorhandene Küchenausgüsse. Die Zimmer dürfen nicht zu dicht be¬ 
legt sein, Schlafzimmer müssen im Winter zur Erhöhung der Ventilation 
wenigstens etwas geheizt werden. 

Am schwersten sind die Kellerräume trocken zu halten, da sie Wasser 
von oben, unten und den Seiten erhalten und die Ventilation durch die Seiten- 
wände nicht genügend stattfindet. Man hat daher, wo es irgend geht, Wohn- 
keller ganz weggelassen. Auch zur Aufbewahrung von Vorräthcn kann man 
geeignetere, ebenso billige Räume oberhalb des Erdbodens herstellen. 

Um die Fecuhtigkeit von unten abzuhalten, muss der Keller 0,5 m über 
dem höchsten Grundwasserstand liegen; sollte dies nicht möglich sein, so kann 
man durch Drainage und eventuellen Anschluss an eine Kanalisationsanlage den 
Stand des Grundwassers tiefer legen. Nothwcndig ist bei allen Häusern, auch 
bei kellerlosen eine wasserdichte Gründung des Hauses, da der im Boden liegende 
Theil eines Hauses das Wasser wie ein Docht in die oberen Theile saugt. — 
Gegen die seitliche Feuchtigkeit schützt man Wohnkeller durch Isolirmauern, 
welche auch für Ventilation sorgen, Vorrathskeller durch eine wasserdichte 
Schicht an der Anssenseite des Fundamentes. 

Ist einmal ein Haus feucht, so kann es nur sehr schwer trocken gemacht 
und durch Isolirwände trocken gehalten werden. Oft bleibt nichts übrig, als 
ein solches Haus einzureissen. 

Es genügt aber nicht gute Häuser zu bauen, man muss sie auch verständig 
benutzen; und darum sollten im Anschluss am die „Sanitäts - Kommissionen“ 
Spezial - Kommissionen — Wohnungsämter — gebildet werden, welche die 
Wohnungen regelmässig kontroliren, dabei Miether wie Wirthe auf Schädlich- 



Besprechungen. 221 

keiten aufmerksam machen, eventuell mit Hülfe der Polizei deren Beseitigung 
bewirken müssten. 

Ein Reiehsbaugesetz wäre sehr zu wünschen, scheint aber noch in weiter 
Feme zu liegen. Autoreferat. 


Besprechungea 

Dr. Ignatz Mair : Gerichtlich-medizinische Kasuistik der 
Kunstfehler. Eine Sammlung der in der deutschen Literatur 
veröffentlichten Fälle ärztlicher Unglücke und von Aerzten mit 
Uebertretung ihrer Berufspflichten begangenen fahrlässigen 
Tödtungen und Körperverletzungen. II. Abtheilung. Verlag 
von Louis Heuser. 

Die U. Abtheilung der Sammlung behandelt Antiseptik und Narkose. 
Es gehört gewiss zu den schwierigen Aufgaben des begutachtenden Arztes zu ent¬ 
scheiden, wie weit bei Körperverletzungen die ärztliche Behandlung durch Nicht¬ 
anwendung der sog. antiseptischen Heilmethode an dem ungünstigen Verlaufe 
der Wunden verantwortlich zu machen sei. Die Zeit dürfte wohl gekommen 
sein, dass die Anklage eines Arztes wegen Versäumnisses einer gewissen Art 
von Antiseptik, einer bestimmten Methode derselben, von dem Forum ver¬ 
schwindet; Uber die Prinzipien der sog. antiseptischen Methode und die Noth- 
wendigkeit ihrer Anwendung wird der Arzt klar sein müssen und bei Unter¬ 
lassung derselben ist er eventuell verantwortlich zu machen. Einige Fälle Uber 
medizinische Fahrlässigkeiten in der Wundbehandlung ergänzen die Ausführungen 
des Verfassers. 

In dem Abschnitte Uber Narkose werden die Wirkungen der Anaesthetika, 
besonders des Chloroforms, die direkten und indirekten Todesursachen bei An¬ 
wendung derselben ausführlich geschildert. Es ist für den begutachtenden Arzt 
eine grosse Erleichterung, der Anklage gegenüber die Qrenzen der Verantwort¬ 
lichkeit genau begründet zu finden. 

_ Dr. Rump- Osnabaück. 


Dr. theol. et phil. H. L Strack, Prof, der Theol. an der Universität 
Berlin; Der Blutaberglaube in der Menschheit, Blut¬ 
morde und Blutritus. München 1892. C. H. Beck’sche 
Verlagsbuchhandlung. 155 Seiten. 

Es ist in der ärztlichen Welt im Allgemeinen nur wenig Brauch, sich 
mit der Literatur der anderen Fakultäten zu beschäftigen; das verbietet sich 
fast von selbst durch die anstrengende praktische Thätigkeit des Arztes und 
durch die nur schwer zu bewältigende neue medizinische Literatur. Doch ist das 
vorliegende, als wissenschaftliche Streitschrift geschriebene Buch, welches inner¬ 
halb zweier Jahre seine vierte Auflage erlebt, lür den Arzt, besonders für den 
beamteten Arzt in unserer Zeit, welche künstlich Religionsgegensätze zu schaffen 
sucht, nicht nur interessant, sondern seine Kenntniss durchaus erforderlich. Es 
ist gleichsam ein Nachtrag zu den Handbüchern der gerichtlichen Medizin, da 
es eine Summe geschichtlicher Thatsachen enthält, welche den Mord aus Aber¬ 
glauben, speziell den Blutmord betreffen. Wenn wir nach der stetig wachsen¬ 
den Kenntniss der eigenthümlichen physiologischen Funktionen des Blutes und 
nach unseren heutigen Erfahrungen über Blutserumtherapie gewiss gern den 
Satz unterschreiben, dass das Blut „ein ganz besonderer Saft“ ist, so werden 
wir doch nimmermehr zugestehen, dass es bei sinnloser Anwendung übernatür¬ 
liche Kräfte zu wecken vermag, wie nach der Schilderung des Verfassers der 
Blutaberglaube es annimmt. 

Nachdem Verfasser in den ersten Kapiteln (1—IX) nachgewiesen hat, 
wie bei den geschichtlichen Völkern dem Blute stets eine grosse Bedeutung an¬ 
gewiesen worden ist, besonders zur Bekräftigung des gegebenen Wortes und zu 
ücilungszwecken, geht er näher ein (Kapitel X—XIII) auf den Blutaberglauben 




222 


Tagesüachrichten. 


bei Verbrechern (Diebskerzen u. s. w.), auf „Blutmorde“, auf den Aberglauben 
bei Wahnsinnigen, Verbrechen aus religiösem Wahnsinn und Menschenopfer 
(„Blutritus“). Der zweite Theil (Kapitel XIV—XX) beschäftigt sich streng 
sachlich mit der „Blutbeschuldigung“ des jüdischen Ritus und weist ihre völlige 
Haltlosigkeit in überzeugender Weise nach. 

So bietet das Büchlein des Wissenswerthen und des Anregenden die Fülle, 
und seine Lektüre ist wohl geeignet, endlich mittelalterliche Vorurtheile aus der 
Welt zu schaffen, wie wir sie in den Ritualmordprozessen des letzten Jahrzehnts 
leider auch auf ärztlicher Seite noch vertreten fanden. 

Kr.-Phys. Dr.C a s p a r - Greifenberg. 


Tagesnachrichten. 

Auf die von dem Vereine der Königsberger Apothekenbesitzer 
an Seine Majestät den Kaiser abgesandte Bittschrift ist seitens des Herrn 
Medizinal-Ministers (gez.: Bosse) nachfolgende Antwort ertheilt worden: 

Berlin, den 15. März 1893. 

„Seine Majestät der Kaiser und König haben die von Ew. Wohlgeboren 
im Aufträge des Vereins der Königsberger Apothekenbesitzer an AUerhöchstdie- 
selben unter dem 10. Dezember 1892 gerichtete lmmediatvorstellung, betreffend 
die Neugestaltung der Apothekengesetzgebung, an mich zur Prüfung und Be¬ 
scheidung abgegeben zu lassen geruht. 

Nach eingehender Prüfung der einzelnen Punkte der Vorstellung erwidere 
ich Ew. Wohlgeboren zur gefälligen Mittheilung an Ihre Auftraggeber folgendes: 

Eine Neugestaltung der Apothekengesetzgebung für Preussen 
ist nicht in Aussicht genommen, eine reichsgesetzliche Regelung aber seit meh¬ 
reren Jahren vorbereitet und z. Z. soweit vorgeschritten, dass ein Abschluss in 
nicht zu ferner Zukunft zu erhoffen ist. 

Was die Schädigung der Interessen der Apotheker betrifft, so beklage 
auch ich, dass Arzneien und Arzneimittel gegen die bestehenden gesetzlichen 
Bestimmungen aus Drogenhandlungen abgegeben werden und kann nur 
anheimstellen, etwaige Fälle der Art zur Kenntniss der zuständigen Behörden 
zu bringen. Die Angabe aber, dass eine Beaufsichtigung der Drogenhandlungen 
durch geeignete Sachverständige (Apotheker) mangele, entspricht nicht den That- 
sachen; denn einerseits werden sämmtliche Drogenhandlungen durch die Kreis¬ 
physiker und zwar vielfach unter Mitwirkung von Apothekern revidirt, anderer¬ 
seits aber unterliegen jene Verkaufsstätten, wie die Apotheken, einer im Laufe 
von drei Jahren wiederkehrenden amtlichen Besichtigung durch den Regierungs¬ 
und Medizinalrath in Gemeinschaft mit dem pharmazeutischen Revisions¬ 
kommissarins. 

Die Anlage neuer Apotheken wird bis zur reichsgesetzlichen Rege¬ 
lung des Apothekerwesens nach den bestehenden preussischen Bestimmungen 
erfolgen müssen, dass dabei Härten gegen die Besitzenden thunlichst vermieden 
werden, dafür bürgt die Umsicht der zuständigen Behörden; übersehen darf 
hierbei freilich nicht werden, dass in erster Linie das Bedürfniss der Bevölkerung 
in Betracht kommt, wie dies bereits in dem Erlasse meines Herrn Amtsvorgängers 
vom 25. September 1866 (Min.-Bl. f. d. inn. Verw. S. 194) ausgesprochen iBt. 

Dem Anträge auf Errichtung einer Standesvertretung für die 
Apotheker näher zu treten, vermag ich z. Z. nicht für rathsam zu erachten. 
Den Wünschen des Apothekerstandes glaube ich schon dadurch entgegen gekom¬ 
men zu sein, dass ich im Dezember v. J. eine Konferenz zur Berathnng Über 
die Einrichtung und den Betrieb von Apotheken, sowie über Apothekenrevisionen 
unter Zuziehung von einem Apothekenbesitzer für je 2 Provinzen habe abhalten 
lassen. In ähnlicher Weise gedenke ich auch künftig den Wünschen der Bethei¬ 
ligten thunlichst Rechnung zu tragen. 

Anlangend endlich die Beaufsichtigung der Apotheken durch 
Aerzte und den sonstigen Inhalt der Vorstellung, so mache ich darauf auf¬ 
merksam, dass die beaufsichtigenden Aerzte Beamte sind, welche in ihr Amt 
nur auf Grund des Bestehens einer staatlichen Prüfung gelangen; dieser sach¬ 
verständigen Aufsicht kann der Staat nicht entrathen, zumal dieselbe sich bisher 



Tagesnacbrichteii. 


2‘i3 


derart bewährt bat, dass die preussischen Apotheken, wie ich gern anerkonne, 
sich eines Rufes erfreuen, welcher demjenigen der Apotkeken anderer Länder 
keineswegs nachsteht“ 


Wie nicht anders zn erwarten war, hat der Kultusminister eine Erweite¬ 
rung der Disziplinarbefngniss der preussischen Aerztekammern unter der 
von den Aerztekammern geforderten Voraussetzung, dass ihnen auch in Bezug 
auf die beamteten Aerzte und die Militärärzte betreffs ihrer privatärztlichen 
Thätigkeit in irgend einer Weise eine disziplinäre Befugniss eingeräumt würde, 
abgelehnt. In dem betreffenden, an sämmtliche Herren Oberpräsidenten gerich¬ 
teten Erlasse vom 10. April heisst es, dass den nach dieser Richtung hin von 
sämmtlichen Aerztekammern ausgesprochenen Wünschen in keiner Weise 
nachgegeben werden könne und dass es der weiteren Erwägung der Aerzte¬ 
kammern überlassen bleiben müsse, ob dieselben unter diesen Umständen auf 
eine im Interesse des ärztlichen Standes und der Medizinalverwaltung wünschens¬ 
werten weitere Entwickelung der durch die Verordnung vom 25. Mai 1887 
erteilten Disziplinarbefngniss überhaupt verzichten wollen oder ob sie diese 
Weiterentwickelung auch ohne jene Voraussetzung für erspriesslich erachten. 
Die Königlichen Oberpräsidenten werden daher ersucht, die Aerztekammern 
nochmals zu einer Aeusserung aufzufordern und über das Ergebniss derselben 
demnächst zu berichten. 


Die gesundheitspolizeiliche Ueberwachung des Stromgebietes der 
Weichsel ist unter dem 24. April durch den Staatskommissar für dieses Fluss¬ 
gebiet, H. Oberpräsidenten v. Gossler mit Genehmigung des Herrn Ministers 
für die Ueberwachungsbezirke I (Schilno) und II (Brahmilnde) angeordnet und 
eine neue Anweisung unter dem 1. April d. J. erlassen. 


Die internationale Sanitätskonferenz in Dresden hat ihre Berathung 
am 15. April beendigt und eine Konvention vereinbart, der sofort von den 
vertretenen 18 europäischen Staaten 10 (Deutschland, Oesterreich - Ungarn, 
Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Montenegro, Niederlande, Russland, 
und die Schweiz') beigetreten sind. Die Konvention soll vorläufig fünf Jahre 
in Geltung bleiben und dann, wenn sie nicht gekündigt wird, sich von fünf zu 
fünf Jahren erneuern. Die Vereinbarung bezieht sich lediglich auf die allge¬ 
meine Regelung der internationalen Sanitätsmassregeln gegen die Cholera zu 
Land und Wasser. Die Beschlüsse sind in acht der Konvention als erster Adnex 
beigefügten Abschnitten zusammengefasst. Der erste Abschnitt handelt von 
der Art und dem Umfange der gegenseitigen Benachrichtigungen. Es 
ist auf sofortige Mittheilung eines nach klinischen Grundsätzen konstatirten 
Choleraheerdes im diplomatischen, bezw. im telegraphischen Wege, sowie die 
weitere, mindestens wöchentliche Mittheilung amtlicher Nachrichten über alle 
für die internationale Sanitätspflege und den internationalen Verkehr belang¬ 
reichen Momente — Stand der Epidemie, prophylaktische Massregeln, Verkehrs¬ 
einschränkungen sowohl in Bezug auf Personen- als Waarenverkehr — Bedacht 
genommen. 

Der zweite Abschnitt befasst sich mit den Bestimmungen, wann ein 
Gebiet cholerainfizirt und wieder cholerarein anzusehen sei, wann und wie lange 
Beschränkungen des Verkehrs aus und nach diesem Gebiete gerechtfertigt er¬ 
scheinen. In dieser Beziehung wird der Termin der Konstatirung des Cholera¬ 
heerdes einerseits, sowie jener des Ablaufs eines cholerafreien fünftägigen Zeit¬ 
raums nach dem letzten Cholerafalle bei vollendeter Desinfektion zum Massstabe 
genommen. 

Im dritten Abschnitt werden die Verkehrsbeschränkungeu 
begrenzt; Waaren, die das infizirte Gebiet fünf Tage vor dem Auftritte der 
Epidemie verlassen haben, sind freizulassen. Als Waaren, deren Einfuhr aus 
Infektionsgebieten verboten werden kann, werden im vierten Abschnitt lediglich 


*) Inzwischen hat auch England seinen Beitritt erklärt. 



Tagesnachrichtefl. 


221 

getragene Leibwäsche and Kleidungsstücke, benutztes Bettzeug, sofern diese 
Gegenstände nicht Reise- oder Uebersiedelungseffekten bilden, Lampen und Zeug¬ 
abfälle bezeichnet. Auch die Art der Desinfektion, die für die ebengenannten 
Objekte oder Bestandteile von Reise- und Uebersiedelungseffekten obligatorisch 
ist, wird in diesem Abschnitte abgehandelt. 

Im fünften Abschnitt wird die Landquarantäne als unzulässig, die 
Ueberwachnng der Reisenden durch das Zugbegleitungspersonal, die ärztliche 
Revision an der Grenze, die fünftägige Beobachtung am Aufenthaltsorte der 
Reisenden und die Anwendung verschärfter Ueberwachungs- und Desinfektions¬ 
massnahmen hinsichtlich der im fluktuirenden oder Massenverkehr einlaufenden 
Personen als zulässig erklärt. 

Im sechsten Abschnitt werden Vereinbarungen der Grenzstaaten 
über die für den Grenzverkehr erforderlichen Sanitätsmassnahmen, im sieben¬ 
ten Abschnitt die Ueberwachnng des FlussschifffahrtsVerkehrs im 
Sinne der im Vorjahre von der deutschen Reichsregierung erlassenen Regulative 
empfohlen. 

Der achte Abschnitt ist den auf die Seeschifffahrt anzuwendenden 
Sanitätsmassregeln gewidmet. Es wird zunächst der Unterschied zwischen 
infizirten, verdächtigen und unschädlichen Schiffen statuirt. Als infizirte sollen 
solche angesehen werden, die bei ihrer Ankunft oder während der letzten sieben 
Reisetage Cholerafälle an Bord gehabt haben. Bei ihnen hat eine Ausschiffung 
und Isolirung der Kranken, sowie eine einen fünftägigen Zeitraum nicht über¬ 
schreitende Beobachtung der übrigen Personen stattzufinden, ausserdem eine 
Desinfektion der schmutzigen Wäsche und ähnlicher Gegenstände. Verdächtige 
Schiffe sind solche, die während der Ueberfahrt zwar Cholerafälle gehabt haben, 
bei denen die letzteren aber mehr als sieben Tage zurückliegen. Bei diesen 
Schiffen hat eine ärztliche Besichtigung und Desinfektion der betreffenden 
Wäsche zu erfolgen; ausserdem können Besatzung und Passagiere während eines 
fünftägigen Zeitraums einer Ueberwachung unterzogen worden. Die unschäd¬ 
lichen Schiffe sollen in der Regel sofort zum freien Verkehr zugelassen werden. 
Die Behörde des Ankunftshafens kann jedoch die Desinfektion und andere Mass- 
regeln anordnen und Passagiere und Mannschaften einer sanitätspolizeilichen 
Ueberwachung unterwerfen. Letztere darf aber einen fünftägigen Zeitraum 
von dem Tage der Abfahrt des Schiffes von dem verseuchten Hafen nicht über¬ 
steigen. Für Schiffe, welche der Küstenschifffahrt dienen, können schärfere 
Massregeln vorgeschrieben werden. 

In einem zweiten Adnexe sind dann noch die von der Konferenz gefassten 
Beschlüsse über die künftige Handhabung der nothwendigen Sanitätsmass¬ 
regeln im Sulinaarme der Donau niedergelegt. 


Cholera. In Galizien sind im Bezirk Borszezow vom 13.—26. April 
17 Erkrankungen mit 10 Todesfällen vorgekommen und zwar in den am Zbrucz 
gelegenen Ortschaften Kudrynce (8 mit 6 Todesfällen), Podfilipie (1) Stobadka 
Turyleika (4 mit 2 Todesfällen), Cygany und Nowosiolka (je 1 Erkrankung und 
1 Todesfall), Losiacz und Zawale (je eine Erkrankung). 

In Frankreich hat die Cholera im Arrondissement LOrient (Departe¬ 
ment Morbihan) Ende März und Anfang April eine grössere Ausbreitung 
genommen. Vom 10. März bis 9. April sind daselbst in 25 Ortschaften 476 Er¬ 
krankungen mit 178 Todesfällen vorgekommen, davon 188 in der Zeit vom 
31. März bis 9. April. Die Zahl der Erkrankungen in der Stadt Lorient selbst 
betrug während jenes Zeitraums 85 mit 32 Todesfällen. Auch in den Orten 
Vannes sowie in Quimper (Bretagne) sollen Erkrankungen an Cholera vorge¬ 
kommen sein. Nach den letzten Zeitungsnachrichten scheint jedoch die Zahl der 
Erkrankungen in dem verseuchten Arrondissement wesentlich abzunehmen. Gleich¬ 
wohl sind durch Erlasse des Reichskanzlers vom 13. und 26. v. M. besondere 
Vorsichtsmassregeln gegen Schiffsherkünfte aus Lorient angeordnet. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- n. Med.-Rath i. Minden i. W. 

J. C. 0. Brunn, Rnchdruckerei, Minden. 




6. Jahrg. 


Zeitschrift 

fiir 


1893. 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

Sun.-Rathu.gerichtl.Stautphysikus in Berlin, Rq;.- und Medi/inalrath in Minden 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Meili /inalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitzeile 46 Pf. nimmt die Verlagshandlung und Rud. Mosse 

entgegen. 


No. 10. 


Eraeheint am 1. und 15. Jeden Monats« 
Preis Jährlich 10 Mark. 


15. Mai. 


Ueber Querulantenwahnsinn. 

Von Dr. Mittenzweig. 

Der Begriff des Querulantenwahnes spielt in Laienkreisen 
eine so zweifelhafte Rolle, dass man sogar öffentlich behauptet 
hat, er diene der Polizei und dem Gerichte als Handhabe, um 
unbequeme, geistesgesunde Persönlichkeiten in die Irrenhäuser zu 
schaffen oder wenigstens mundtodt zu machen. Wo der Straf¬ 
paragraph der Allgemeinen Gerichtsordnung nicht ausreiche, um 
den Querulanten zu überführen oder zur Ruhe zu bringen, da 
müsse die Psychiatrie eintreten, um den unbequemen und gemein¬ 
gefährlichen Nörgeler ausser Gefecht zu setzen. Die Darstellungen, 
welche die Psychiatrie von dem Querulantenwahn gäbe, sei eine 
geschraubte und erinnere an die Aufstellung des Begriffes vom 
moralischen Irresein, welcher von dem Reichsgerichte endgültig 
verworfen sei. Letzteres gelte namentlich von der psychologischen 
Begründung des Krankheitszustandes, nach welcher er auf mangel¬ 
haftem sittlichem Gefühl, insbesondere auf mangelhaftem Rechts¬ 
gefühl beruhen solle. 

Diesen Angriffen gegenüber verharrt die Psychiatrie bei ihrer 
Ansicht, dass der Querulantenwahnsinn eine wohl bekannte und 
definirte Geisteskrankheit, die Paranoia querulans, ist. Die 
Psychiatrie hat diese Ansicht meist nur in medizinisch-wissen¬ 
schaftlichen Kreisen geltend zu machen — wir Gerichtsärzte haben 
einen schwereren Standpunkt inne. Wir haben die Aufgabe, diese 
Ansicht im konkreten Falle dem Gerichtshöfe und den Behörden 
gegenüber zu vertheidigen und diese davon zu überzeugen. Wir 
müssen die Wege anfsuchen, auf denen uns dies am bequemsten 
und sichersten gelingt und wem es vergönnt war, solche Wege 
des Oefteren zu wandeln, dem erwächst damit die Pflicht, seinen 






220 


Dr. Mittenzweig. 


Kollegen, welche seltener damit befasst werden, seine Erfahrungen 
und Betrachtungen zugänglich zu machen. 

Aus diesem Gesichtspunkte lasse ich das Ergebniss, welches 
mir meine Erfahrungen in den letzten Jahren gebracht haben, in 
Nachstehendem folgen mit der Bitte um Nachsicht, wenn ich dem 
Einen nichts Neues, dem Anderen nichts Annehmbares zu bieten 
scheine. 

Die Allgemeine Gerichtsordnung, deren einschlägige Para¬ 
graphen nach einem neueren Erkenntniss des Reichsgerichts auch 
heute noch zu Recht bestehen, versteht unter Querulanten solche Per¬ 
sonen, welche die Gerichte und Behörden mit Eingaben und Beschwer¬ 
den belästigen und trotz ordnungsmässiger Bedeutung in dieser Weise 
tortfahren zu queruliren. 

Solche Personen handeln anfänglich nach ihrem angeborenen 
Charakter, dessen Grundzüge in Empfindlichkeit, Rechthaberei und 
Nörgelei bestehen, ohne dass sich von vornherein das Vorhandensein 
eines ausgesprochenen Wahnsinnes erkennen und feststellen lässt. 
Wir haben es in solchen Fällen mit der Frage nach dem ver¬ 
brecherischen oder krankhaften Querulantencharakter zu thun. 

Ich theile wohl mit Vielen die Anschauung, dass nicht jeder 
Querulant ein geisteskranker Mensch ist und dass nicht jeder queru- 
lirende Charakter als geisteskranker Zustand aufzufassen ist. 

Finden wir bei einer Person, welche querulirt, keine Wahnideen, 
so können wir den Geisteszustand, der sich in seinem Charakter und 
seinen Neigungen, namentlich aber in seinen querulirenden Hand¬ 
lungen ausspricht, nur dann als Krankheit ansprechen, wenn wir 
die Charakterbeschaffenheit auf eine erbliche Veranlagung zurück¬ 
führen können, wenn wir den Nachweis zu führen vermögen, dass 
der Querulant einer Familie angehört, in welcher Geisteskrank¬ 
heiten bereits vorhanden oder vorhanden gewesen sind nach dem 
Grundsätze, dass die erbliche Geisteskrankheit nicht stets als 
Geisteskrankheit derselben Art, sondern auch in anderer Form, 
oder als Nervenkrankheit, oder als originärer krankhafter Charakter 
in Erscheinung treten kann. 

In solchen Fällen stempelt der Nachweis der erblichen Geistes¬ 
krankheit den Querulantencharakter als einen ererbten krankhaften 
Geisteszustand in ähnlicher Weise wie der anscheinend ver¬ 
brecherische Charakter beim gleichzeitigen Bestehen deutlicher 
Heredität von Geisteskrankheit als moralisches Irresein wissen¬ 
schaftlich und forensisch aufzufassen ist. 

In anderen Fällen, meist solchen mit vorgeschrittenem und 
bereits länger andauerndem Querulantenwesen, haben wir ausser 
oder neben der krankhaften Veranlagung unser Augenmerk auf das 
Vorhandensein von Wahnideen, insonderheit von Verfolgungswahn- 
ideen, zu richten. 

Die Erfahrung lehrt, dass ein grosser Theil der Querulanten 
schliesslich von Verfolgungsideen beherrscht wird. 

Der Nachweis dieser Wahnideen ist nicht immer, leicht und 
ihr krankhafter Charakter wird nicht selten dadurch ver¬ 
schleiert, dass sich die Ideen an Vorkommnisse anknüpfen, bei 



Ueber Querulantenwahnsmn. 


227 


denen der Querulant in Wirklichkeit, nicht nur in seiner Ein¬ 
bildung und seinem Wahne beeinträchtigt ist. Und demnach wird 
sich der krankhafte Charakter dieser Ideen darlegen lassen, wenn 
man neben seiner Entstehung auch seine Kraft und Macht ins 
Auge fasst, mit welcher er die anderen Vorstellungen des Queru¬ 
lanten beherrscht sowie die Ausdehnung, welche der Kreis der 
Verfolgungen und Verfolger bald in dem Wahne des Kranken 
erlangt. 

Die Rechthaberei des Kranken wächst bald zu einer Lei¬ 
denschaft an, die dem Querulanten jede Besonnenheit und Ver¬ 
nunft raubt und nur den einen Gesichtspunkt gelten lässt: Erkennst 
Du meine (wahnhafte) Anschauung als richtig an, so bist Du mein 
Freund — thust Du dies nicht, so bist Du mein Feind. Den ver¬ 
meintlichen Feind aber verfolgt der Querulant mit leidenschaft¬ 
lichem Hass und mit allen — gerechten wie ungerechten — 
Mitteln; denn auch für die Unterscheidung der letzteren verliert 
er zunehmend jedes Urtheil. Wir sehen dann den ausgesprochenen 
Verfolgungswahnsinnigen, den „verfolgten Verfolger.“ 

Den Uebergang von dem strafbaren Querulanten ohne 
ausgesprochene Heredität zu diesem ausgesprochenen Wahnsinne 
bildet ein Stadium der Krankheit, welches ich gelegentlich mit dem 
Ausdruck des „beginnenden Querulanten Wahnsinnes“ bezeichnet habe. 

In diesem Stadium bildet der Querulant weniger eine 
Schwierigkeit für den wissenschaftlichen Psychiater als für den 
Gerichtsarzt, der den psychologischen Einfluss des beginnenden 
Wahnes begrenzen und die rechtlichen Folgen in seinem Gutachten 
abmessen soll. Dies ist ja auch in anderen Fällen eine heikle 
Aufgabe des beamteten Arztes. Fast nirgends aber tritt ihre 
Schwierigkeit so zu Tage, wie beim Querulanten dieses Stadiums. 

Ist der Betreffende noch fähig, sein Amt zu verwalten? 

Ist er in diesem Zustande strafbar? 

Ist er verhandlungsfahig? 

Ist er reif zur Entmündigung oder nicht? 

Die Beantwortung dieser Fragen ist meist schwieriger und 
verantwortungsreicher als diejenige, ob der Querulant geisteskrank 
oder geistesgesund ist. Denn hier kommen wir in das viel 
bestrittene Gebiet der Frage: Ist der Geisteskranke und Geistes¬ 
schwache damit eo ipso unfähig zur Verhandlung, zur Bestrafung, 
zur Mündigkeit? 

Bei Gelegenheit der Besprechung nachstehender Gutachten 
werde ich auf diese Frage noch näher eingehen. 

1 . Fall. Gutachten über den Geisteszustand der Frau G. 

Nach dem Inhalt der Akten und nach meinen eigenen 
Wahrnehmungen halte ich die Frau G. gegenwärtig für geistes¬ 
krank und ebenso bin ich der Ansicht, dass sie bereits im Jahre 
18 .. geisteskrank gewesen ist. 

Ihre Geisteskrankheit hat die Form der Paranoia querulans, 
einer scharf gekennzeichneten Form des Verfolgungswahnsinnes, 



228 


Dr. Mittenzweig. 


welche man in Frankreich mit dem bezeichnenden Namen „der ver¬ 
folgten Verfolger“ belegt hat. 

Die Krankheit entwickelt sich meistens bei Personen mit 
originärer Charakteranomalie, und bleibt das krankhafte Wesen 
dieses Zustandes dem Auge des nicht psychiatrisch gebildeten 
Arztes leicht verborgen, weil sich die Krankheit unmerklich aus 
der Persönlichkeit des Kranken durch Steigerung einzelner Charak¬ 
tereigenschaften bilden kann und weil andererseits das Krankhafte 
und Irre der Verfolgungsideen schwerer zu erkennen ist als bei 
anderen Formen der Paranoia, wo sowohl der Inhalt der Delirien, 
wie ihre Entstehungsweise auf den ersten Blick das krankhafte 
Wesen verrathen. Ein Delirium, in welchem sich Jemand fiir 
„Gott“ oder „den Kaiser“, „den Pabst“ hält, wird leicht als 
krankhaft erkannt; ebenso ein Delirium, in welchem sich jemand 
als fortwährend „elektrisirt“ bezeichnet. Diese Urtheilsdelirien 
erkennt selbst der Laie sofort an ihrem Inhalt. Ebenso wird ein 
Delirium leicht als krankhaft erkannt und anerkannt, wenn es 
aus offenbaren Sinnestäuschungen hervorgegangen ist. Ungleich 
schwieriger ist diese Erkenntniss bei den Urtheilsdelirien der 
querulirenden Kranken, und doch lässt sich auch hier der Nach¬ 
weis erbringen, dass sie auf krankem Boden und in krankhafter 
Weise erwachsen sind. 

Die vorstehende Abschweifung auf theoretisches Gebiet glaube 
ich machen zu müssen im Hinblick auf die Auslassung der König¬ 
lichen Staatsanwaltschaft, welche dahin geht, „dass erfahrungs- 
gemäss manche Aerzte nur allzu leicht geneigt seien, aus dem 
Vorhandensein irgend eines ethischen Defektes einen Schluss auf 
Geisteskrankheit zu machen, welcher in verhängnissvoller Weise 
in die bürgerliche Freiheit und in die Rechte des Staates einzu¬ 
greifen geeignet ist,“ und im Hinblick auf den Umstand, dass 
auch der Querulanten-Wahnsinn auf einen ethischen Defekt zu¬ 
rückgeführt wird und zurückzuführen ist. 

Ganz abgesehen von der Frage der Beurtheilung eines ethischen 
Defektes vor Gericht, handelt es sich, um dies gleich vorweg zu 
nehmen, im vorliegenden Falle nicht um den Nachweis eines 
ethischen Defektes, sondern um den Nachweis einer wissenschaft¬ 
lich festgestellten und festumschriebenen Form einer ausge¬ 
sprochenen und anerkannten Geisteskrankheit. 

Um dies nachzuweisen, bedarf es in erster Linie der that- 
sächlichen Feststellung, dass die Angeklagte queru- 
lirt hat. 

Frau G. hat das Gericht nicht nur mit ihren Klagen und 
Einwänden belästigt und die einzelnen Richter, ganze Gerichts¬ 
höfe und die Sachverständigen abgelehnt und verfolgt, sondern 
dies auch in einer Weise gethan, welche sie in hohem Grade und 
in vielen Fällen von Neuem mit dem Strafgesetz in Konflikt zu 
bringen geeignet war. Sie hat es an Beleidigungen, Verleumdungen 
und Strafanträgen nicht fehlen lassen. 

Die Reihe ihrer hierher zu rechnenden Handlungen begann 
mit dem Briefe an Frau M. vom 7. März 18 . . und der Erklärung 



Ueber Querulantenwahnsinn. 


229 


und Verwahrung vom 27. März desselben Jahres, und bildet 
gleichsam eine Fortsetzung der Handlungen ihres Ehemannes, 
wegen deren derselbe bereits für geisteskrank, speziell für „an 
Querulanten-Wahn leidend“ erklärt worden ist. 

Die Briefe und Eingaben an sich bewegen sich bereits auf 
querulirendem Gebiete, indem sie die höchste Justizbehörde durch 
Drohungen zu einem Schritte nöthigen wollen, welcher das ver¬ 
meintliche Recht der Angeklagten oder vielmehr des Ehemannes 
derselben durchsetzen sollte. 

Frau G. hat sich dadurch eine Klage wegen Nöthigung zu¬ 
gezogen und in der Folge deren Gang auf jede Weise zu hinter¬ 
treiben versucht. Sie hat sich hierbei des Rathes und der Beihülfe 
ihres Ehemannes in dem Grade bedient, dass es unmöglich ist, 
die Gedanken, Absichten, Pläne und Handlungen der beiden Ehe¬ 
gatten von einander zu scheiden. Die Eingabe vom 19. Mai 18 .. 
bekundet dies schon vor der Eröffnung des Hauptverfahrens. 
Dieselbe ist von beiden Ehegatten unterzeichnet und enthält die 
Beweise der Gemeinschaftlichkeit in ihren Plänen und Handlungen. 

Auf den 10. Juni 18.. wurde Frau G. zur Hauptverhand¬ 
lung geladen. Ihr Ehemann reichte indess ein Attest des Medi- 
zinalrathes Dr. R. ein, wonach sie ihrer Gesundheit wegen nicht 
im Termin erscheinen könnte. Das Attest wurde für unzureichend 
erachtet, und neuer Termin auf den 17. Juni angesetzt. Frau G., 
welche in ihrer Wohnung, von wo sie vorgeführt werden sollte, 
nicht angetroffen wurde, erschien gleichwohl im Termin und wurde 
verurtheüt. 

Gegen dieses Urtheil legte Frau G. Revision ein, und fast 
gleichzeitig reichte ihr Ehemann dem Staatsministerium ein Ge¬ 
such um Einstellung des gegen ihn schwebenden Entmündigungs- 
Verfahrens ein, indem er sich zu jeder billigen Erklärung bereit 
erklärte und sich verpflichtete, in keiner Form auf die Sachen 
zurückzukommen, um nur für sich zu leben. Das Gesuch blieb 
erfolglos. 

Das Urtheil wurde vom Reichsgericht aufgehoben, und neuer 
Tennin auf den 16. Dezember 18 .. angesetzt. Unter dem 7. De¬ 
zember bat Frau G. um Aufhebung des Termins aus Rücksicht 
auf ihre Kinder, die der Pflege bedürften und auf ihren eigenen 
Gesundheitszustand. Dem Anträge wurde nicht stattgegeben. Bei 
Aufruf der Sache erschien Herr G. und erklärte, dass seine auf 
dem Gerichtskorridor anwesende Frau einen plötzlichen Ohnmachts¬ 
anfall bekommen habe und deshalb nicht im Stande sei, zu ver¬ 
handeln. Da ich, der Endesunterzeichnete zufällig im Gerichts¬ 
gebäude anwesend war, so erhielt ich den Auftrag, die p. G. zu 
untersuchen. Bei meinem Eintritt in das Wartezimmer, wo Frau 
G. auf einer Bank lag, rief mir Herr G. zu, dass seine Frau 
epileptisch sei und soeben einen Anfall bekommen habe. Beim 
Versuche, die Augenlider der Frau G. zu öffnen, stöhnte dieselbe 
und kniff blinzelnd die Lider zu, so dass eine Untersuchung der 
Pupillen unmöglich wurde. Frau G. war bleich, ihre Haut war 
kühl, sie würgte und brachte dabei Schleim und Wasser heraus. 



230 


Dr. Mltteraweig. 


Ihr Ehemann flösste ihr fortwährend kaltes Wasser ein. Das 
Ganze bildete eine erregte Szene. 

Ich theilte dem Gerichte mit, dass ich nicht unterscheiden 
könnte, wie viel Wahrheit, wie viel Simulation an dem Benehmen 
der Frau G. sei, rieth aber von der weiteren Verhandlung ab. 
Die Verhandlung wurde vertagt auf den 30. Dezember 18.. 

Beim Beginn des Termins erklärte Herr G., dass seine Ehe¬ 
frau am selben Morgen bereits einen Krankheitsanfall gehabt habe. 
Gleichwohl trat das Gericht in die Verhandlung ein. So oft ein 
Antrag des Ehemannes abgelehnt wurde, reagirte Frau G. mit 
irgend einer Krankheitserscheinung. Trotzdem unterhielt sich 
Frau G. lebhaft mit ihrem Manne, sobald der Gerichtshof sich zur 
Berathung zurückzog. Sie bat wiederholt um Vertagung, sprach 
dabei aber in langer, wohl berechneter Rede. Schliesslich 
musste Herr G. das Verhandlungszimmer verlassen. Frau G. 
lehnte meine ärztliche Hülfe ab. Als die Vertagung von Frau 
G. nicht durchgesetzt wurde, stürzte oder warf sie sich (nach 
meiner Auffassung) zu Boden und verursachte eine stürmische 
Szene, welche ich an anderem Orte des Näheren beschrieben habe. 
Die Verhandlung wurde unmöglich und abgebrochen. 

Unter dem 2. Januar 18 .. gelangte ein Schreiben der Frau G. 
an die Strafkammer folgenden Inhaltes: 

„Pie im Termin vom 30. Dezember p. a. erhobene Frage, ob meine schrift¬ 
lichen Ablehnungsgründe für die Akten bestimmt seien, möchte ich mit dem Hin¬ 
weise ausser Zweifel stellen, dass ev. die Ablehnung unverständlich und nicht zu 
bcurtheilen wäre, mache auch ausdrücklich auf den Schlusspassus des Aktenstückes 
aufmerksam. 

lieber den Sachverständigen M., der ein eidesstattliches Zeugniss über 
meine Yerhandlungsfähigkeit abgab, ohne sich im Geringsten in irgend einer 
Weise über meinon Gesundheitszustand zu informiren, dagegen mich in unquali- 
fizirbarer Weise verdächtigte, ist Beschwerde resp. Strafantrag gestellt. Herr 
M. hat im Termin am 16. Dezember p. a., 12 Uhr, am Ende eines um ca. 9 1 /* Uhr 
begonnenen Krankheitsanfalles, mich gesehen, und verleugnet jetzt, ohne den 
Schatten eines Grundes oder Beweises, sein damaliges Gutachten nebst den be¬ 
gründenden objektiven Thatsachen. Wie das augenscheinlich aus der Luft 
gegriffene Dementi resp. neue Gutachten vom Gericht ohne Weiteres angenommen 
werden konnte, gegenüber kaum abzuweisenden Eindrücken und ernsten Betheu¬ 
erungen, sowie dem Zeugnisse des Med.-Raths Dr. R., dessen neuerliche Zuzie¬ 
hung ich cv. beantragt hatte, — bldbt offene Frage. Nur als Pendant hierzu 
erklärlich ist die Ablehnung meines Ehemannes als Rechtsbeistand, und seine 
Ausweisung, weil er, absolut nothwendiger Weise, mit Wort und Stimme für 
mich eintrat. Rechtsausführungen etc. hat er, in Respektirung einer noch so 
unnatürlichen Position, derart zu unterdrücken gewusst, dass selbst die flagran¬ 
teste Rechtsverletzung, Ausschliessung der Oeffeutlichkeit auf staatsanwaltlichen 
Wink, ohne meine Befragung, ihn nicht aufzuregen vermochte. Nur persönliche 
Bemängelungen und thatsächliche Unrichtigkeiten sind von ihm zurückgewiesen 
worden. Bezüglich der Entmündigung ist auch zu den Akten zu konstatiren, 
dass nicht ein gerichtliches Urtheil, sondern der hinter unserem Rücken, aller¬ 
dings unter auffallendster Betheiligung des Ministers und seiner Organe zu 
Stande gekommene Beschluss eines nicht etatsmässigen Gerichts - Assessors vor¬ 
liegt, dass zunächst gegen die Sachverständigen Dr. M. und Dr. F. Disziplinar- 
Strafanträge gestellt sind, und dass der Vormund meines Mannes mit dringlichsten 
Anträgen und Verwahrungen bei dem Herrn Justiz-Minister und den Gerichten 
hervorgetreten ist, nachdem er bereits vorher im Verein mit hohen Beamten 
Offizieren, Geistlichen etc. an den Herrn Minister eindringlichste Vorstellungen, 
gerichtet. 



Ueber Quernlantenwahnsinn. 


231 


Dass bei Alledem die Anfechtungsklage gegen den Staatsanwalt den 
unglaublichsten Schwierigkeiten und Abnormitäten begegnet, ist hier gleichfalls 
zu erwähnen. Es ist ferner hinzuweisen auf beiliegende Drucksache, einen in 
Tausenden von Exemplaren verbreiteten, von juristischer Seite inspirirten Zei¬ 
tungsartikel, wo der sittliche und amtliche Charakter des Herrn Ministers 
öffentlich in denkbar stärkster Weise angegriffen ist, ohne dass ein (direkt pro- 
vocirtes) Einschreiten stattgefunden hätte. 

Wenn Ehre, Pflicht und Gewissen im Munde Preussischer Justizbeamten 
nicht als lerer Schall gelten soll, so habe ich zu erwarten, dass das Verfahren 
gegen mich eingestellt werde, bis alle diese Verhältnisse gebührend klar 
gestellt sind. 

Es wird sich dann zeigen, dass nicht Nöthignng zu einer Amtshandlung, 
sondern Abwehr von Verbrechen resp. eines unverschuldeten Nothstandes zur 
Rettung aus Lebensgefahr in meinem Falle vorliegt.“ 

Abgesehen vom Inhalt verräth der Umstand, dass auch diese 
Eingabe, wie so viele andere, von der Hand des Herrn G. geschrie¬ 
ben und von seiner Ehefrau unterschrieben ist, dass das Ehe¬ 
paar von ebendenselben Vorstellungen der Beeinträchtigung und 
Verfolgung erfüllt ist, von ebendenselben Absichten geleitet 
wird und eben dieselben Wege der Verfolgung einschlägt. 

Inzwischen war auf den 20. Januar neuer Verhandlungs¬ 
termin anberaumt. Die Angeklagte sandte in Folge dessen ein 
neues Zeugniss der Herren Dr. E. und Dr. R. ein, wonach sich 
Frau G. zur Zeit noch in einem Zustande so hochgradiger Gereizt¬ 
heit und nervöser Erregtheit befände, dass ihre Vernehmungsfahig- 
keit dadurch einstweilen als ausgeschlossen erachtet würde und 
wonach ihr ein Wechsel des Aufenthaltes von mindestens zwei¬ 
monatlicher Dauer gerathen war. Frau G. erschien im Termin 
nicht. Die Sachverständigen erklärten, dass sie ohne Untersuchung 
der Angeklagten ein Gutachten über ihren Zustand nicht abgeben 
könnten, dass es zu diesem Behufe sogar nothwendig sei, die 
Angeklagte auf sechs Wochen in einer Krankenanstalt beobachten 
zu lassen, und das Gericht beschloss die Verhaftung der Angeklagten 
und ihre Vorführung. Letztere wurde unmöglich. Die Sachver¬ 
ständigen erklärten nunmehr auf Befragen, das sie nach den 
Mittheilungen des Staatsanwalts an der Zurechnungsfähigkeit der 
Angeklagten zweifelten und beantragten behufs Feststellung ihres 
Gemüthszustandes ihre Unterbringung in eine öffentliche Anstalt. 

Die Kammer behielt sich die Entscheidung vor und setzte 
neuen Termin an. 

Vorher erhob Frau G. Beschwerde gegen den Haftbefehl 
unter Berufung auf die Gutachten der Dr. R. und Dr. E., indem 
sie hervorhob, dass sie „schon seit der Jugend an krampfartigen 
Zuständen und allgemeiner Kränklichkeit leide". 

Am 22. Januar wurde sie verhaftet. 

Nach dem Berichte des Kriminalkommissars hatte sich Frau 
G. am 20. Januar wie eine Rasende benommen. Bei der Ver¬ 
haftung am 22. Januar benahm sie sich ruhiger, wie vermuthet 
wird, weil ihr Ehemann abwesend war. 

Die Beschwerde gegen den Haftbeschluss wurde vom Kammer¬ 
gericht zurückgewiesen. 

Im Termin vom 6. Februar wurde Frau G. verurtheilt und 



282 


Dr. Mittenzweig. 


nach dem Termine aus der Haft entlassen. In ihrer Revisions¬ 
schrift vom 1. April sagt Frau G. über ihren Krankheitszustand: 

„Seit meiner Jugend leide ich an krampfartigen und neuralgischen Zu¬ 
ständen und unter deren Einfluss an periodischer Reizbarkeit und Aufregung, 
wodurch zumal bei hinzukommenden Gemüths-Erregungen ich schon oft zu über¬ 
schnellen, impulsiven Handlungen fortgerissen worden bin. Den Brief an die 
Frau M. habe ich geschrieben unter dem unmittelbaren Eindruck erschüt¬ 
ternder Mittheilungen, wie sie in einem zu den Akten gegebenen Bericht nieder¬ 
gelegt sind. Selbst davon überwältigend, (P) hatte ich für meinen seit Jahren 
von einer rücksichtslosen Uebermacht gehetzten Ehemann das Aensserste zu 
befürchten, an etwaige Folgen, Gesetzesverletzungen habe ich nicht gedacht, am 
wenigsten daran, dass der Brief dem Minister vorgelegt werden könnte, wie er 
auch thatsächlich durch Wochen ohne Folgen geblieben ist. Ich hoffte eher, 
dem Hause des Ministers einen Dienst zu leisten und ein Verbrechen abzu¬ 
wehren etc.“ 

Das Urtheil wurde vom Reichsgericht aufgehoben. Auf den 
27. Mai war neuer Tennin anberaumt. Der Vertheidiger zeigte 
unter dem 26. Mai dem Gerichte an, dass er den Dr. E. geladen, 
um ein Gutachten darüber zu erstatten, dass die Angeklagte sich 
in einem Gemüthszustande und Anschauungskreise befinde, welcher 
von demjenigen ihres entmündigten Gemahls nicht wesentlich ab¬ 
weiche, dass sie ausserdem aber auch unter dem Einflüsse hoch¬ 
gradigster Hysterie und des Genusses von Morphium jedenfalls 
zeitweise in Zuständen krankhafter Erregung sich befinde, 
welche die Annahme begründet erscheinen lassen, dass ihre freie 
Willensbestimmung dann ausgeschlossen sei. 

Unter dem 25. Mai beantragte Frau G. Vertagung des Ter¬ 
mins und schrieb dabei unter Andern: „Gilt die Vergewaltigung 
nebst allen begleitenden und folgenden Rechtsverletzungen, wie 
sie handgreiflich vorliegen, für feststehend, so würde meine Be¬ 
strafung ganz unmöglich und nicht weniger ungereimt sein, als 
wenn mutatis mutandis anerkannte Idealgestalten — Fidelio — 
wegen unbefugten Waffentragens zur Verantwortung gezogen 
werden sollten.“ 

Im Termine vom 27. Mai beschloss das Gericht: In Er¬ 
wägung, dass der Sanitätsrath Dr. L. die Erklärung abgegeben 
hat, dass er auf Grund der heutigen Verhandlung Zweifel an der 
Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten habe und beantragen müsse, 
dieselbe in eine öffentliche Anstalt zu bringen und dort beobachten 
zu lassen, in Erwägung, dass der Gerichtshof bei der hochgradigen 
Erregung der Angeklagten diese Zweifel theilt, beschliesst der 
Gerichtshof, die Angeklagte in der Königlichen Charitö unterzu¬ 
bringen und auf ihren geistigen Zustand dort untersuchen zu 
lassen. Die Untersuchung darf die Dauer von sechs Wochen nicht 
überschreiten. 

Frau G. hielt sich seit dem Termine verborgen, es erging 
Haftbefehl und Steckbrief. Unter dem 2. Juni sandte Frau G. 
Beschwerde ein, in welchem sie unter Andern sagt: 

„Ich habe in zwei längeren Verhandlungen vor Gericht gestanden, einmal 
mit einem untreuen, dann ohne jeden Vertheidiger — der bestellte Oflizialbei- 
stand fiel thatsächlich aus —, ohne dass die Gerichtspersonen oder die anwesenden 
Gerichtsärzte den geringsten Zweifel an meiner Zurechnungsfähigkeit gefasst 
hätten. 



Ueber Querul&ntenwahnsiim. 


233 


Die Aufwerfung der Frage ist ein unverantwortlicher Akt des Vertheidi- 
digers, der mich nur zwei Mal vorher kurz gesprochen und daher völlig inkom¬ 
petent zu nennen ist. — Derselbe hatte mir auch zugemuthet, auf jeden Wahr¬ 
heitsbeweis zu verzichten und meine Thatsachen zum Schein zurückznnehmen.... 
Derselbe hat mich mit seinem Anträge überfallen.Ich lehne jede gerichts¬ 

ärztliche Untersuchung ab, so lange die wegen falscher Zeugnisse und jeder 
Unzuverlässigkeit belangten Dr. L. und M. des aktiven und passiven Schutzes 
der Behörden sich erfreuen. 

• Ich lehne die Beschwerde-Instanz ab, da dieselbe bösartige, untreue Bichter 
bei der wider mich verhängten willkürlichen und widerrechtlichen Freiheits¬ 
beraubung, Amtsmissbrauch und andere öewalthandlungen hartnäckig gedeckt 
und auf diese Weise sich mit schuldig gemacht hat. 

Ich lehne das Königliche Kammergericht in pleno ab, da dasselbe unter 
Vorsitz des Präsidenten und letzterer für sich offen Gesetzesverletzungen übelster 
Art zum Schaden meines Ehemannes aktiv und passiv begünstigt hat. 

Den Herrn Juistizminister lehne ich, als in jeder Richtung interessirt, 
selbstverständlicher Weise ab und beantrage, diese Beschwerde Seiner Majestät 
dem Kaiser und König, als obersten Gerichtsherrn und Schirmer des Rechts in 
Seinen Landen zu unterbreiten.“ 

Am 10. Juni wurde Frau G. verhaftet und in die Charite 
übergeführt. 

Nach der Beobachtung in der Charite gab Herr Dr. W. sein 
Gutachten dahin ab: 

„Frau G. ist geisteskrank und auch zur Zeit der inkrimi- 
nirten Handlung geisteskrank gewesen. Sie leidet, beeinflusst von 
ihrem Gatten, an einer bestimmten Form der Paranoia (Verrückt¬ 
heit), dem Querulantenwahnsinn. Es ist mit Wahrscheinlichkeit 
anzunehmen, dass sich diese Krankheit auf hysterischer Basis 
entwickelt hat.“ 

Da es mir versagt war, Frau G. einer genaueren Unter¬ 
suchung zu unterziehen, so referire ich nach der Beobachtung des 
Dr. W. Folgendes: Die 35jährige Frau G. stammt aus einer 
Familie, in der nach ihrer Angabe Geistes- oder Nervenkrank¬ 
heiten nicht vorgekommen sind. Sie selbst war nach ihrer Angabe 
stets gesund, nur zart besaitet. 

Sie ist jetzt eine grazil gebaute, blass und leidend aussehende 
Frau, an deren inneren Organen sich Abnormitäten nicht nach- 
weisen lassen. 

Nur bei Erregungen bemerkt man eine gewisse Unruhe und 
Zuckungen in der Gesichtsmuskulatur, in den ausgestreckten 
Händen leichten Tremor. Sonst körperlich alles normal (keine 
Ovarie etc.). Geistig ist sie in der Anstalt ruhiger geworden. 
Ihre Gesprächsweise ist weitschweifig; sie beschäftigt sich aus¬ 
schliesslich mit dem Schicksal ihres Mannes und dem Ausgang des 
eigenen Prozesses. 

Bezeichnend ist ferner ihr Ausspruch: „Würde ihr Mann 
jetzt von Herrn Dr. R. für geisteskrank erklärt, so müsse sie 
auch diesen Arzt für einen Feind ihres Mannes ansehen.“ 

Das vorstehende Gutachten wurde von dem Gerichte nicht 
für ausreichend erachtet; ich sandte nachstehende Begründung ein: 

Wenn ich behaupte, dass Frau G. geisteskrank ist, so leiten 
mich hierbei dieselben Wahrnehmungen und Erwägungen, welche 




234 


Dr. Mittenzweig. 


auch Herrn Dr. W. zu eben demselben Urtheil geführt haben. 
Hierbei macht es keinen wesentlichen Unterschied, dass ich per¬ 
sönlich einige Handlungen in den Gerichtsterminen selbst mit 
erlebt habe, den Haupttheil meines Begründungsmaterials muss 
auch ich den Akten entnehmen; denn nur sie geben uns das Ge- 
sammtbild wieder, in welchem sich der Geisteszustand der Ange¬ 
klagten in der letzten Zeit darstellt. Ueber ihre Vorgeschichte 
ist nur wenig ermittelt worden und selbst über ihre Krankheits¬ 
geschichte hören wir widersprechende Angaben. 

Ihr Ehemann hat sie mir als epileptische Kranke vorgestellt, 
die Herren Dr. E. und Dr. R. sprechen einmal von krampfartigen 
Zuständen und allgemeiner Kränklichkeit, das andere Mal von 
einem Zustande hochgradiger Gereiztheit und nervöser Erregtheit. 
Herr Dr. W. urtheilt, dass sich ihr jetziger Zustand auf hysteri¬ 
scher Basis entwickelt habe, doch habe er körperliche Symptome 
der Hysterie bei ihr nicht auffinden können. 

Dies ist die geringe Kenntniss, welche wir von ihrer Ver¬ 
gangenheit haben. 

Bekannter sind uns die Vorgänge aus den Jahren 18.. und 
18.., beginnend mit dem Briefe vom 7. März 18.. 

Diese Vorgänge, im Verein mit den mir bekannten Vorgängen 
ihres ebenfalls von mir begutachteten Ehemannes, haben mir die 
Ueberzeugung aufgedrungen, dass auch Frau G., ebenso wie ihr 
Ehemann, an Querulanten Wahnsinn leidet. 

Die oben von mir wiedergegebenen Ereignisse lehren, dass 
Frau G. schon mit ihrem ersten Briefe an Frau von S. auf den 
geschäftsmässigen Gang des Entmündigungs - Prozesses ihres Ehe¬ 
mannes einen Druck und Einfluss ausüben wollte, der zum Zweck 
hatte, die Entmündigung ihres Mannes zu beseitigen resp. zu 
verhindern. 

Wegen dieses Briefes und der Eingabe an das Gericht 
zu C. wegen Beleidigung, Verleumdung und Nöthigung ange¬ 
klagt, suchte sie nunmehr den gegen sie angestrengten Straf¬ 
prozess auf jede Weise hinzuziehen und ihre Verurtheilung un¬ 
möglich zu machen. Sie lehnte Richter und Sachverständige in 
wiederholten Fällen ab. Diese Ablehnung erstreckte sich auf das 
Kammergericht und seinen Präsidenten, auf den Justizminister und 
selbst auf ihre Vertheidiger. Sie liess es hierbei an Beleidigungen 
und den bösartigsten Unterstellungen nicht fehlen, verfolgte ein¬ 
zelne dieser Personen selbst mit Strafanträgen etc. 

Ich halte es nicht für erforderlich, die ganze Reihe dieser 
Handlungen, welche ich oben entwickelt habe, noch einmal vor- 
zuführen. Sie sind so zahlreich und so unverschleiert, dass sich 
ihr Charakter als eine lange Reihe von querulirenden Handlungen 
ohne weiteres ergiebt. Mit dem Ausdruck der querulirenden 
Handlung will ich dieselben nicht schon jetzt als krankhaft hin¬ 
stellen; es bedarf vielmehr eines besonderen Beweises, wenn man 
das Queruliren als den Ausfluss einer krankhaften Geistesbeschaffen- 
heit bezeichnen will. Querulirende Handlungen sind solche, welche 
! >e Gerichte und Behörden unaufhörlich belästigen und den vor- 



Ueber Querulantenwahnsinn. 


235 


geschriebenen normalen Lauf der Gerechtigkeit zu stören und zu 
unterbrechen geeignet sind. 

Frau G. hat den normalen Lauf ihres Prozesses und der 
einzelnen Termine zu vereiteln gesucht durch Anträge jeder Art, 
die sich meistens als uumotivirte herausstellten, und hat, wenn 
diese Anträge nicht fruchteten, die Verhandlungen dadurch unmög¬ 
lich gemacht, dass sie anscheinend in Ohnmacht, Krämpfe und 
tobsuchtsartige Zustände verfiel. Ich bin noch heute der Ansicht, dass 
diese letzteren Zustände willkürlich hervorgerufene waren und bin 
in dieser meiner Ansicht noch bestärkt durch die Thatsache, dass 
Frau G., als sie nach der energischen Massregel ihrer Verhaftung 
erkannte, ihr bisheriges Benehmen während der Termine habe 
doch nicht den gewünschten Erfolg, nunmehr im Stande war, 
Stunden lang zu verhandeln und dass sie trotz aufregender Vor¬ 
kommnisse während dieser Verhandlungen von keinen störenden 
Zufällen befallen wurde. Auch während ihres Aufenthaltes in der 
Charitö sind solche Zufälle nicht beobachtet worden. 

Herr Dr. W. schreibt dies ihrer Willenskraft zu — ich für 
meine Person erkläre mir dies durch die Simulation der früheren 
Krampfzufälle und glaube den Nachweis für die Richtigkeit meiner 
Ansicht geführt zu haben. Dieser Nachweis wird auch durchaus 
nicht nichtig, wenn ich mit Herrn Dr. W. annehme, dass Frau G. 
eine hysterische Person ist. Solche hysterische Kranke lieben die 
Simulation und Uebertreibung auf Grund ihres krankhaften Wesens. 
Ich steife mich andererseits nicht auf diesen Beweis von dem 
Vorhandensein einer hysterischen Basis und eines hysterischen 
Charakters, weil uns, wie gesagt, das frühere Leben und Wesen 
der Angeklagten verhüllt ist. 

Ich komme jetzt zur Begründung meiner Behauptung, dass 
das querulirende Handeln der Angeklagten ein krankhaftes und 
dass es nicht aus überlegtem und besonnenem Denken hervorge¬ 
gangen sei. Es ist weder aus rafiinirter Bosheit, noch aus augen¬ 
blicklicher Unbesonnenheit hervorgegangen, — sondern aus einem 
krankhaften Vorstellungskreis, aus Wahnvorstellungen der Verfol¬ 
gung und Beeinträchtigung. 

Dass Frau G. in allen Personen, welche ihr entgegentreten 
und ihrer Ansicht nicht beipflichten, Verfolger und Feinde sieht, 
das venäth sie in allen ihren Eingaben, Beschwerden, Verhand¬ 
lungen und Gesprächen. Hat sie doch dem Dr. W. zugestanden, 
sie würde auch Dr. R. für ihren Feind halten, wenn er ihren 
Ehemann für geisteskrank erklärte. 

Dass diese Vorstellungen krankhafte Wahnvorstellungen sind, 
lässt sich an ihrer Entstehung und ihrem wachsenden Umfang 
nachweisen. 

Die Verfolgungsideen, welche die Angeklagte beherrschen, 
sind nicht entstanden auf Grund von Thatsachen, welche eine Ver¬ 
folgung der Angeklagten erschlossen lassen, sondern auf Grund 
von eingebildeten und in keiner Weise als wirklich vorhanden zu 
beweisenden Annahmen. Die Angeklagte geht z. B. von der 
Vorstellung aus, ihr Ehemann sei unschuldig, er sei der Verfolgte, 



236 


Dr. Mittenzweig: Ueber Querulantenwahnsinn. 


auch der Herr Minister verfolge ihn, weil er ein Geheimniss des recht¬ 
lich und moralisch schuldigen Ministers kenne, und man gewinnt 
aus ihrer (und ihres Mannes) Darstellung die Ansicht, dass der 
Herr Minister Initiative ergriffen und den Herrn G. verfolge, 
um ihn mundtodt zu machen. Das Studium der Akten indess 
ergiebt das gerade Gegentheil. ‘ Der Herr Minister hat keine 
Ahnung von der Existenz des Herrn G. und seinen Prozessen. 
Da fuhrt — ein Zufall — den Herrn G. zur Kenntniss eines 
angeblichen strafwürdigen Verbrechens des Herrn Ministers, und 
Herr G. beutet diese Kenntniss aus, um den Herrn Minister in 
seinem Interesse zu Handlungen zu bewegen. 

Die Andeutungen des Herrn G. lassen den Herrn Minister 
kalt. Herr G. wird entmündigt. 

Nunmehr übernimmt Frau G. die Holle des einschüchternden 
Verfolgers, und wird deshalb wegen Nöthigung etc. verklagt. Mit 
der Klage wächst die Anzahl ihrer vermeintlichen Feinde. Letz¬ 
tere ergreifen nach ihrer Ansicht gegen Pflicht, Gewissen und Eid 
die Partei ihres Gegners und treten damit in die Reihe ihrer 
Verfolger. Auch das warum? erklärt sie, indem sie ohne jeden 
Anhalt bei jedem annimmt, dass er sich dem Herrn Justizminister 
angenehm machen will. Dass dem wirklich so sei, dass ihre 
Unterstellungen irgend welche thatsächliche Begründung hätten, 
das versucht sie nicht weiter zu beweisen. Besonders gegen die 
Sachverständigen, die ihren Ehemann für geisteskrank erklärt 
haben, wendet sich ihr Angriff, und namentlich der Unterzeichnete 
hat die ganze Schwere ihres Hasses fühlen müssen. Dabei passirt 
es ihr, dass sie Thatsachen, die ihr bekannt sein müssen, unter¬ 
drückt und selbst das Gegentheil davon behauptet. So giebt sie, 
wie ihr Ehemann, an, dass der Uuterzeichnete den Geisteszustand 
ihres Mannes beurtheilt habe, ohne den Mann selbst untersucht 
zu haben. Und doch muss ihr bekannt sein, dass ihr Ehemann 
mehr denn eine Stunde lang von ihm beobachtet ist. Des Ferneren 
giebt sie an, dass der Unterzeichnete sein Gutachten vom 16. De¬ 
zember 18.. ohne jeden Schein von Grund in der Folge geändert 
habe und doch weiss sie, dass derselbe dies mit den Angaben der 
Gerichtsdiener motivirt hat, welche sie, die Angeklagte, gleich 
nach dem Termin vom 16. Dezember 18.. beobachteten, ohne 
einen Schein von Schwäche an ihr zu bemerken. 

Ich nehme nicht an, dass Frau G. mit Besonnenheit und 
Ueberlegung in bösartiger Absicht die Unwahrheit hierin sagt, 
sondern bin der Ansicht, dass sie sich ihrer Handlungen nicht 
vollkommen bewusst ist, dass sie die Ereignisse nicht richtig und 
nicht unparteiisch auffasst, dass sie die Ereignisse in ihrer Lei¬ 
denschaft nur so auffasst und im Gedächtniss behält, wie sie 
nützen können. Leicht verständlich ist ein solches Wesen nicht. 
Wie aber bei anderen Formen der Geisteskrankheit, so müssen 
wir auch bei dieser Form der Paranoia querulans uns damit be¬ 
gnügen, dass wir die Thatsache der mangelnden Reproduktions¬ 
treue bei ihr beobachten, ohne uns das psychische Räthsel voll¬ 
kommen erklären zu können. 



Aus Versammlungen und Vereinen. 


237 


So Hesse sich bei jeder speziellen Verfolgungsidee der Frau 
G. nachweisen, dass sie des ^tatsächlichen Hintergrundes entbehrt, 
dass sie irrthtimlich und subjektiv entstanden ist. Dass die Zahl 
der einzelnen Verfolgungsvorstellungen stets gewachsen ist und 
noch wachsen muss, ergiebt sich aus der gegebenen Darstellung, 
sowie aus der Aeusserung der Frau G. über Herrn Dr. R. 

Charakteristisch für das Krankhafte der Vorstellungen ist 
auch der Umstand, dass nichts die Angeklagte von dem Irrthüm- 
lichen ihrer Wahnideen überzeugen kann. 

Man könnte noch Zweifel hegen, ob diese Handlungen wirk¬ 
lich krankhafte sind, ob sie nicht doch als strafbare verbrecherische 
Handlungen aufgefasst und beurtheilt werden müssen. 

Ohne darauf speziell einzugehen, will ich hier betonen, 
dass Erfahrung und Wissenschaft bewiesen haben, dass solche 
Personen irre, d. h. geisteskranke Personen sind. Hinweisen will 
ich ferner auf die klare und verständnisvolle Beurtheilung des 
R.-A. G. Auch auf die Untersuchung will ich mich hier nicht 
speziell einlassen, ob Frau G. in ihrem Wesen den Boden zur 
Krankheit in sich getragen hat oder ob sie von ihrem in gleicher 
Weise erkrankten Ehemann induzirt ist. Letzteres sei, wie Herr 
Dr. W. bereits erwähnt hat, nicht selten und auch im vorliegenden 
Falle anzunehmen. 

Ich gebe schliesslich mein Gutachten dahin ab, dass Frau G. 
an Wahnvorstellungen leidet, welche aus irrigem Urtheil entstanden 
sind; dass diese Wahnvorstellungen das querulirende Handeln der 
Angeklagten veranlasst haben und dass diese Krankheit als 
Querulantenwahnsinn zu bezeichnen ist. 

(Fortsetzung folgt.) 


Aus Versammlungen und Vereinen. 

4. Versammlung des Vereins der Ufedisinalbeamten des 
Reg.-Bes. Stettin am 24. April 1893 an Stettin. 

Anwesend waren 14 Mitglieder. Vor Beginn der Versammlung fand eine 
Besichtigung der neuerbauten Schlachthausanlage statt, wobei einige 
pathologische Thierpräparate demonstrirt wurden. 

Die Versammlung begann unter Leitung des Vorsitzenden, Reg.- u. Med.- 
Rathes Dr. Kater bau, zunächst mit einigen geschäftlichen Mittheilungen, unter 
denen besonders hervorgehoben wurde, dass die ersten beiden Gegenstände der 
vorigen Tagesordnung, die Obergutachten der Berufsgenossenschaften und die 
Erweiterung der Disziplinarbefugniss der Aerztekammern betreffend, als nun¬ 
mehr gegenstandslos, nicht mehr, wie es bestimmt worden war, auf die Tages¬ 
ordnung des Preussischen Medizinalbeamten-Vereins gebracht worden sind. 

Alsdann berichtete H. Reg.- u. Med.-Rath Dr. Katerbau über einige 
behördliche Verordnungen aus dem letzten Jahre. 

Zum Schluss trug H. Kr.-Phys. und Geh. San.-Rath Dr. Wilhelmi- 
Swinemünde seine eigenen Erfahrungen und Anschauungen über asiatische 
Cholera vor. 

An der Hand der bisherigen geschichtlichen Erfahrungen und der geogra¬ 
phischen Verbreitung, welche die Cholera genommen, suchte der Vortragende nach¬ 
zuweisen, dass eine Verbreitung dieser Krankheit durch die Flüsse, insbeson¬ 
dere durch das Wasser, weder jemals erwiesen, noch überhaupt plausibel sei. 
Längs der Flüsse hätte die Krankheit sich nur fortgepflanzt, sofern grosse Städte 
an ihnen gelegen seien, und die Wanderung der Krankheit von einer Stadt zur 



288 Kleinere Mitthcilungen and Referate ans Zeitschriften. 

anderen stattgefunden habe. Nicht Feuchtigkeit, sondern im Gegentheil Trocken- 
heit habe nach seinen Beobachtungen stets eine Förderung der Krankheit zur 
Folge gehabt. Trockenheit und Wärme förderten, Nässe und Kälte 
hemmten die Krankheit. Ob der Oommabacillus thatsächlich der Erreger 
der Krankheit ist, hält Vortragender durchaus nicht für abgeschlossen, es könne 
auch ein Zersetzungsprodukt der Choleradejekte sein. 

In der hieran sich schliessenden Diskussion wurde den Ausführungen des 
Vortragenden durchweg entgegengetreten. 

Nach Schluss der Sitzung blieben die Anwesenden noch zu gemeinsamem 
Abendessen zusammen. 

Dr. Fr eye r-Stettin. 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

Hygiene und offcntlichcs Sanitätswesen: 

Die Verhütung des Kindbettfiebers. Von Prof. Dr. Löh lein. Verlag 
von J. F. Bergmann in Wiesbaden. Gross 8°, 35 S. 

Als 9. Punkt der „gynäkologischen Tagesfragen“ bespricht der 
bekannte Verfasser, der Leiter der Frauenklinik in Giessen, die Verhütung 
fieberhafter Erkrankungen im Wochenbett — eine Frage, die Alle und nicht 
zum wenigsten uns Medizinal - Beamte iuteressiren muss. Er erinnert an die 
Schrecken der vorantiseptischen Zeit, wo die geburtshülflichen Kliniken ein reiches 
Material für die Demonstrations-Kurse der pathologischen Anatomie lieferten, 
und sodann an die Ueberganszeit der 70 er Jahre, wo man zwar bereits wusste, 
dass die Krankheitsträger meist durch die Hände und Gerätschaften des Pflege- 
Personals in die Geburtswege gebracht wurden, wo man aber kein zuverlässiges 
Mittel kannte, jene Schädlinge femzuhalten. Wie anders ist das jetzt geworden! 
Getrosten Muthes sieht der Geburtshelfer dem Wochenbett der von ihm entbun¬ 
denen Frauen entgegen, auch wenn er eingreifende Operationen unter ungünstigen 
äusseren Verhältnissen ausführen musste. 

Verf. untersucht nunmehr, wie sich die Verhältnisse seit Einführung der 
Antiseptik in der Anstaltspraxis und in der Hauspraxis gestaltet haben. 

In den Anstalten ist seit dem Ende der 60er Jahre, wo die Mortalität 
in Folge von „puerperalen Prozessen“ immer noch 3 °/ 0 und darüber betrug, die 
Sterblichkeit — nicht mit einem Schlage, sondern Schritt für Schritt — auf 0,5 
bis 0,3 °/ 0 gesunken. In der Giessener Klinik starben während der letzten 
4 Jahre von 1000 Entbundenen an puerperaler Infektion nur 2, von denen die 
eine bereits infizirt aufgenommen, die andere durch Kaiserschnitt entbunden 
wurde, nachdem 7 Stunden vor ihrer Aufnahme das Fruchtwasser abgeflossen 
war. Es war also bei den Kreissenden, die vom Geburtsbeginn an in der Klinik 
abgewartet werden konnten, die Wochenbetts-Sterblichkeit = Null. Wae die 
ErkrankungsZiffer betrifft, so erkrankten während der letzten 2 Jahre inner¬ 
halb der ersten Woche nach der Geburt 8,3 °/ 0 aller Entbundenen, und von diesen 
hatte hei 4,3 °/ 0 die Temperatur nur einmal 38° überschritten. Und dies Alles, 
trotzdem in 15,3 °/ 0 aller Fälle grössere geburtshilfliche Operationen nöthig 
wurden und zahlreiche Geburts-Komplikationen Vorlagen ! — Aus anderen Kliniken 
werden ähnliche, z. Th. noch etwas günstigere Erfolge gemeldet. Dieses vor¬ 
zügliche Resultat wurde in der Giessener Klinik erreicht, ohne dass regelmässige 
prophylaktische Scheiden - Ausspülungen vorgeuommen wurden. Nur in Vs — l U 
aller Fälle, wo die Möglichkeit der Anwesenheit pathogener Keime nicht mit 
Sicherheit ausgeschlossen werden konnte, erfolgte ein sorgfältiges und schonendes 
Auswischen und Ausreiben der Scheide mit Watte, die in Sublimat - Lösung 
getränkt war. Die Indikationen für diese prophylaktische Desinfektion des 
Geburtskanals möge man im Original nacklesen, ebenso die Art, wie die Anti¬ 
sepsis vor und bei der Geburt gehandkabt wird. Sie zeichnet sich dadurch aus, 
dass sie einfach und von jeder Künstelei frei ist. Erwähnt sei nur, dass zum 
Dammschutz über den ganzen Damm eine Lage (mit Sublimat-Lösung getränkter) 
Watte gelegt und durch diese schützende Decke hindurch der Austritt unter¬ 
stützt wird. 

Für uns viel wichtiger ist der 2. Tkeil, der die Erfolge der Antiseptik in 



Kleinere Mittheilungen and Referate ans Zeitschriften. 


239 


der Hanspraxis behandelt. Es ist unmöglich, den reichen und anregenden 
Inhalt auch nur annäherungsweise kurz wiederzngebcn; ich will desslialb einige 
Punkte herausgreifen. Dass trotz aller vom Staate, von den Aerzten, den 
Hebammen und dom Publikum aufgewendeten Mühe die Erfolge bis jetzt nicht 
deutlich hervortreten, hat eine ganze Reihe von Gründen. Jeder Erfahrene wird 
mit dem Verfasser übereinstimmen, »wenn er hierbei auf die gesteigerte Ope¬ 
rationsfrequenz hinweist und die Aerzte vor der unnützen Vielthuerei (namentlich 
durch Lösung der Placenta und Anlegung der Zange) dringend warnt. Beim 
Dnrchsehen der Hebammen - Tagebücher haben wir Physiker ja reichlich Gelegen¬ 
heit, hierüber Studien zu machen, und es muss gewiss Kopfschütteln erregen, 
wenn bei manchen Hebammen jede 6. oder 7. Geburt durch künstliche ärztliche 
Hülfe beendet wird. Aus meinem früheren Wirkungskreise habe ich berechnet, 
dass die Zahl der geburtshülflichen Operationen von 2,92 auf 4,47 °/ 0 (die der 
Zangen - Applikationen von 1,10 auf 2,31 °/ 0 ) gestiegen ist. Wir brauchen auch 
kein Geheimniss daraus zu machen, dass bei einem unverhältnissmässig hohen 
Prozentsatz der schweren Puerperal - Fälle ärztliche Eingriffe vorausgegangen 
sind. Ich will nicht einmal von solchen Aerzten reden (wie ich sie kennen 
gelernt habe), die bei geburtshülflichen Operationen nicht einmal die Manschetten 
ablegen oder die Zange ungereinigt und (im Winter!) ungewärmt direkt aus der 
Verband - Tasche in die Gesehlcchtstheile der Kreissenden einführen; aber auch 
der gewissenhafte Antiseptiker sollte in seinem eigenen Interesse das vorsichtige 
pflichtgemässe Abwarten dem hastigen rücksichtslosen Handeln vorziehen. 

Den Hauptnachdruck legt der Verfasser natürlich auf den Zustand des 
Hebammenwesens. Alles ist zu unterstützen, was den allgemeinen Bildungsgrad, 
die Fachausbildung, die materielle Stellung der Hebammen zu bessern und die 
Einzelnen vor der Degeneration zu bewahren im Stande ist. Unter den hier 
erwähnten Punkten möchte ich die „Allgemeine Deutsche Hebammenzeitung“ 
heransgreifen, die bei manchen Kollegen noch immer einem gewissen — meiner 
Ansicht nach ganz unberechtigten — Misstrauen begegnet. Sie ist vortrefflich 
redigirt und weisst namentlich fortwährend die Hebammen auf die Schranken 
ihrer Thätigkeit hin, verdient also auch seitens der Physiker die wärmste Em¬ 
pfehlung gegenüber der Behörde. Ich habe bei keiner Hebamme, die eine eifrige 
Leserin dieser Zeitung war, jene Ueberhebung gefunden, wie sie uns gerade bei 
beschränkten und jeder Weiterbildung abholden Personen so oft zu unserm Leid¬ 
wesen entgegentritt. 

Einen breiten Raum in der Erörterung nehmen natürlich die von der 
Hessischen Regierung eingeführten „Wiederholungslehrgänge“ für 
Hebammen in den Staats-Entbindungs-Anstalten ein. Alles, was der Ver¬ 
fasser bereits in seinem ersten Berichte über diese Kurse rühmend hervorheben 
konnte, hat sich auch beim 2. Kursus in erfreulicher Weise gezeigt. Nach dem 
sicherlich kompetenten Urtheil des Verfassers giebt es kein Mittel, durch das 
die Regierung zur Zeit und unter den gegebenen Verhältnissen die Hebammen 
— wenn wir von der Hebung ihrer materiellen Lage absehen — wirksamer vor 
der Degeneration schützen könnte, keines, das sie (namentlich auch die älteren 
Hebammen) mit den modernen antiseptischen Massftgeln gründlicher vertraut 
machen könnte, als diese Kurse in der Anstalt. Möchte doch der Preussische 
Staat bald ähnliche Kurse cinführen! Denn, dass die jetzigen von den Physikern 
abzuhaltenden Nachprüfungen den Zweck der Weiterbildung nur unvollkommen 
erfüllen, darüber besteht wohl keine Meinungsverschiedenheit. Bereits vor meh¬ 
reren Jahren habe ich bei einer anderen Gelegenheit aus den Erfahrungen meiner 
früheren Stelle statistisch den Nachweis hierüber zu erbringen versucht. Ja, ich 
habe in der letzten Zeit die betrübende Erfahrung machen müssen, dass eine 
eingehende Nachprüfung nicht einmal ein sicheres Urtheil darüber gestattet, ob 
eine ältere Hebamme sieh in den modernen Anforderungen der Antiseptik prak¬ 
tisch noch zurechtfindet. Zur Ergänzung der Nachprüfungen und zur Ueber- 
wachung der Thätigkeit der Hebammen scheint mir daher ein Verfahren sehr 
geeignet, dass im hiesigen Bezirk vor Kurzem eingeführt ist: Bei jedem Fall 
von Kindbettfieber werden durch den Physikus an Ort und Stelle die Entbundene, 
die bei der Geburt zugegen gewesenen Zeugen, der Arzt und die Hebamme nach 
einem genau vorgeschriebenen Schema auf das Eingehendste über alle Vorgänge 
bei der Geburt und im Wochenbett vernommen und etwaige InstruktionsWidrig¬ 
keiten festgestellt. Jede Hebamme, die auch nur einmal durch ein solches Fege¬ 
feuer hindurchgegangen ist, hat erstens ein sehr eindringliches Repetitorium über 



240 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


ihre Pflichten durchgemacht und ist zweitens der auf ihr lastenden Verantwort¬ 
lichkeit schwer bewusst geworden; der Physikus hat aber hier die unvergleich¬ 
liche Gelegenheit, die Hebamme so kennen zu lernen, wie sie im Altagsleben 
wirklich ist und nicht nur, wie sie sich im Staatsgewande des Nachprüfungs- 
Termins präsentirt. Dass ich — auch nach Einführung der staatlichen Repe¬ 
titionskurse — aus vielen Gründen nicht auf die Nachprüfungen durch den 
zuständigen Physikus verzichten möchte, habe ich schon in meinem vorhin 
erwähnten Aufsatze betont und hebe es nochmals hervor. 

Bei Besprechung der den Hebammen zu gebenden prophylaktischen 
Spezialvorschriften berührt der Verfasser auch die von Einigen in letzter 
Zeit aufgestellte Forderung, dass den Hebammen die innere Untersuchung 
ganz zu verbieten sei. Löhlein verwirft diese Forderung mit Recht, und zu 
den angegebenen Gründen möchte ich noch das hinzufügen, was Frau 0. Gebauer 
in Nr. 6 der Allgemeinen Deutschen Hebammenzeitung vorgebracht hat: dass 
nämlich nur auf diesem Wege (der inneren Untersuchung) eine Kenntnissnahme 
im Geburtsmechanismus und ein richtiges Urtheil über den Geburts-Verlauf sich 
erwerben lässt, und das die Hebammen, welche bei jeder Entbindung auf die 
innere Untersuchung verzichten, eine Fortbildungs-Gelegenheit aufgeben, die sich 
schnell genug rächen würde, wenn der ganze Stand diesen Pass innehielte. Das 
ist gewiss richtig; und wenn sich die Hebamme bei jeder inneren Untersuchung 
das Bewusstsein der Verantwortung lebendig erhält, wenn also jede innere Unter¬ 
suchung zu einer Haupt- und Staats-Aktion gemacht wird, über die Rechenschaft 
abgelegt werden muss, dann kann dieser Eingriff den Hebammen ruhig gestattet 
werden. Nur dass auch hier die Aerzte mit gutem Beispiel vorangehen! 

Auch darin wird jeder Sachkenner mit dem Verfasser übereinstimmen, 
dass man bezüglich des den Hebammen zu übergebenden Antiseptikums an 
der Karbolsäure festhalten soll und zwar an der 3 °/ 0 Lösung. Wenn er aber 
sagt, dass der lächerliche Zusatz von einigen Esslöffeln einer 2 °/ 0 Lösung auf 
eine kolossale Wasserschüssel Wasser endlich in das Reich der Mythe herabge¬ 
stiegen ist, so muss ich dem nach meinen hiesigen Erfahrungen widersprechen. 
Ich habe kaum eine ältere Hebamme gefunden, die nicht für die Reiniguug der 
Geschlechtstheile vor der Geburt dem Waschwasser einige Esslöffel ihrer 3 4 / 0 
Lösung zugesetzt hätte. Sobald es nur etwas nach Karbol riecht, tritt schon ein 
wohlthuendes Gefühl der Sicherheit ein! Mag dieses Gefühl trügerisch und also 
gefährlich sein, so beruht es in diesem Falle offenbar auf der richtigen Empfin¬ 
dung, dass die in den §§.71 und 109 des neuen Lehrbuchs vorgeschriebene 
Reinigung der Geschlechtstheile („mit- lauwarmem, wenn möglich durchgekochtem 
Wasser“) unzulänglich ist. Die minist. Verfügung vom 22. November 188® verlangt 
wenigstens (§. 6) gründliches Waschen unter Anwendung der Waschbürste und 
von Seife, und ich weiss nicht, warum die Redaktion des Lehrbuchs Seife und 
Bürste gestrichen hat. Denn bei vielen unserer Kreissenden (namentlich auf dem 
Lande) lässt sich eine Reinigung der Geschlechtstheile nur mit Wasser gar nicht 
erzielen. Auf der anderen Seite sind auch solche Vorschriften nicht durchzuführen, 
wie sie Leopold bezüglich der Desinfektion der äusseren Geschlechtstheile giebt, 
dass nämlich diese 6 Minuten lang abgebürstet (!) und dann noch 3 Minuten lang 
mit 2'/i °/<> Karbol-Lösung abgerieben werden sollen. Und diese Reinigung soll 
bei jeder länger dauernden Geburte aller 3 Stunden wiederholt werden! — 

Zum Schluss bespricht der Verfasser die wichtige Frage, wann und von 
wem eine Erkrankung im Wochenbett als Puerperalfieber dem Physikus an ge¬ 
zeigt werden soll. Er hält es für unthunlich, den Hebammen diese Entschei¬ 
dung zu überlassen, und meint, es müsste zu den grössten Unzuträglichkeiten 
führen, wenn die Hebamme auf irgend ein bestimmtes Fieber-Symptom hin — 
etwa bei einer Temperatur über 38,5 oder 39° — zur amtlichen Meldung ver¬ 
pflichtet würde und daraufhin seitens des beamteten Arztes persönliche Nach¬ 
fragen in Bezug anf den „gemeldeten Puerperalfieber -Fall“ stattfände. Ich bin 
nicht ganz dieser Meinung und glaube, dass die Anzeigen der Hebammen nicht 
zu entbehren sind; ich habe auch niemals Unzuträglichkeiten erlebt, wenn sich 
bei meinen Nachforschungen an Ort und Stelle das vermuthete Kindbettfieber 
als eine harmlosere Krankheit herausstellte, und ich halte die bei solchen Ge¬ 
legenheiten zu machenden Beobachtungen über das Verhalten der Hebammen für 
äusserst werthvoll. Aber nach meiner Ansicht ist der richtige Weg der, wie er 
im hiesigen Bezirk vorgeschrieben ist, dass die Hebammen jede fieberhafte Er¬ 
krankung einer Wöchnerin dem Physikus zu melden verbunden ist, und dass sich 



Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften. 


241 


der Physikn8 (falls die Meldung nicht direkt als Kindbettfieber lantet) dann mit 
dem behandelnden Arzte in Verbindung setzt. Erklärt dieser die Krankheit mit 
Bestimmtheit nicht für Kindbettfieber, so unterbleibt jede Lokal - Recherche, 
andernfalls finden in der vorhin angegebenen Weise die Ermittelungen statt, um 
einer Verschleppung des Kindbettficbers vorzubeugen. Dass eine solche „Ver¬ 
schleppung“ durch eine Hebamme, die sich in jedem einzelnen Fall ihre Verant¬ 
wortung bewusst ist und in jedem Falle streng nach antiseptischen Grundsätzen 
verfährt, nach unseren Anschauungen eigentlich nicht denkbar erscheint, ist 
gewiss ebenso richtig, wie dass die Mehrzahl unserer Hebammen diesem eben 
gezeichneten Ideal recht fern steht. Aber die Zahl derer, die sich ihm nähern, 
wächst von Jahr zu Jahr, und hierzn beizutragen, ist die Pflicht jedes Arztes 
und jedes Physikus. Jeder sollte deshalb auch die Schrift Löhleins von der 
ich nur einige zusammenhanglose Brocken habe geben können, lesen und — 
beherzigen! Kr.-Phys. Dr. Gleitsmann-Wiesbaden. 

Einfluss der Steil- und Schrägschrift. In Nr. 18—15 d. J. bringt 
die Münchener medizinische Wochenschrift den zweiten Bericht 1 ) der vom ärzt¬ 
lichen Bezirksverem zu München gewählten Kommission zur Ptüfung des Ein¬ 
flusses der Steil- und Schrägschrift auf die Augen, Körper und Kopfhalten der 
Schulkinder. Die betreffenden Untersuchungen sind in denselben Schulen, wie 
im Vorjahre, fortgesetzt; von den Schülern (ca. 8000) schrieben ca. 66% steil 
und 44% schräg. 

Die von Dr. Brunner ausgeführten Untersuchungen der Wirbelsänle 
ergaben 



überhaupt 

bei Knaben. 

bei Mädchen. 

Rachitis. 

25,5% 

24,2 % 

20,6 T 

flache Rücken .... 

10,4 „ 

9,6 „ 

11,2 , 

Skoliose. 

1,8» 

1,9 , 

0,24 „ 

1,8 , 

Kyphose. 

Biegung der Lendenwir¬ 

0,2, 

0,13 „ 

belsäule . 

6,9 „ 

63 , 

5,9 „ 


Im Allgemeinen stimmten diese Untersuchnngsresultate mit denen des 
Vorjahres überein, nur in Bezug auf die rachitischen Erkrankungen nnd der 
Kyphose zeigte sich eine wesentliche Abnahme, in Bezug auf Skoliose eine ge¬ 
ringe Zunahme. 

Die Untersuchungen der Sehschärfe ergaben fast vollständige Ueber- 
einstimmung mit dem Vorjahr: bei 58°/ 0 war derselbe normal; ebenso waren 
unter den Knaben wiederum verhältnissmässig mehr Normalsichtige (62,5 %) als 
unter den Mädchen (53,0 °/ 0 . In der I. Klasse waren etwas weniger Normal¬ 
sichtige 54,8 % als in der n. und III. Klasse (59,0 und 59,8 °/ 0 ); desgleichen 
unter den schrägschreibenden Schülern weniger als unter den steilschreibenden 
(55,3 gegenüber 60,0 °/ 0 ). 

Die Prüfung der Refraktion ergab: 

Emmetropen 60,3% gegenüber 64,0 °/ 0 im Vorjahre 
Hypermetropen 21,1 „ „ 24,4 „ „ 

Myopen 6,2 „ „ 3,6 „ „ 

Astigmatiker 10,2 „ „ 7.8 „ „ 

sonstige Anomalien 3,2 „ „ 2,1 „ „ * 

Bei den Knaben waren mehr Emmetropen (62,8%) und Kurzsichtige 
(5,5 %) als bei den Mädchen (57,6 und 5,0 %), bei diesen dagegen mehr Hyper¬ 
metropen und Astigmatiker (22,3 und 12,0% gegen 20,0 und 8,5 %). In 
den steilschreibenden Schulen fanden sich nur 4,8 % Kurzsichtige, in den schräg¬ 
schreibenden dagegen 5,8%. 

Die Körperhaltung war bei 

Steilschrift - Schrägschrift 

absolut grade . bei 33,7% 22,8 % Schulkindern. 

mehr oder weniger schief . „ 66,3 „ 77,2 „ „ 

Recht ausschlaggebend zu 'Gunsten der Steilschrift war das Verhältniss 
in der ersten Klasse, in der die Kinder gleich beim Eintritt in die Schule steil 

‘) Das Referat über den ersten Bericht ist in Nr. 18 der Zeitschrift, 1892, 
S. 431 gebracht. 






242 Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften. 

schreiben lernen, also vorher gar nicht schräg geschrieben haben. Hier wurde 
normale Körperhaltung bei 34,2% steilschreibenden Schulkindern gefunden, da¬ 
gegen nur bei 14,4% schrägschreibenden. Auch die Kopfhaltung war bei 
den steilschreibenden Schulkindern erheblich besser als bei den schrägschreiben¬ 
den; dieselbe wurde bei den ersteren 2% mal soviel absolut gerade (9,5 % 
gegenüber 3,8%) und 2 mal soviel relativ gerade (33,5% gegenüber 17,5%) 
als bei letzteren gefunden. Linksneigung des Kopfes ist bei beiden Schreibe¬ 
arten viel häufiger als Rechtsneigung; ebenso ist die Neigung des Kopfes nach 
links ein beträchtlicherer als nach rechts (durchschnittlich 11,7° bei Steilschrift 
und 15,7° bei Schrägschrift gegen 4,4 und 6.4°). 

Die Entfernung der Augen von der Federspitze stellte sich 
bei den Untersuchungen im vorigen Jahre bei den steilschreibenden Kindern um 
3,3 cm grösser (27,9 cm), als bei den schrägschreibenden. 

Die bei den im Jahre 1891 ausgeführten Untersuchungen festgestellten 
Vorzüge der Steilschrift: bessere Körper- und Kopfhaltung, geringere Annähe¬ 
rung an die Schrift, werden somit durch das Ergebniss der vorjährigen Unter¬ 
suchungen wiederum bestätigt. Es ist durch dieselben aber auch eine Besserung 
der Schreibhaltung bei der Schrägschrift konstatirt und zwar besonders bei den 
grösseren Schülern und in denjenigen Klassen, in denen das Interesse und die 
Energie des Lehrers einen entsprechenden Einfluss auf die Haltung der Schul¬ 
kinder beim Schreiben ausgeübt hat. Oberstabsarzt Dr. Segge 1, der wiederum 
die Untersuchungen über die Körperhaltung, Sehschärfe und Accommodation 
ausgeführt hat, kommt in seinem Berichte zu dem Schluss, dass der Vorrang 
der Steilschrift in Bezug auf die bessere Schreibhaltung genügend erwiesen aei. 
Die bei der Steilschrift in Folge des Ellenbogens bedingte gute Körperhaltung 
werde von den Schulkindern aber nur anfänglich angenommen und nicht lange 
festgehalten, bei eintretender Ermüdung trete wie bei der Schrägschrift fehler¬ 
hafte Schrägstellung der Wirbelsäule, starke Neigung des Kopfes zur Seite unter 
gleichzeitiger Annäherung zur Schreibfläche ein, so dass seines Erachtens die 
Einschränkung des Schulunterrichtes ein noch dringenderes Gebot sei 
als eine Aenderung der Schreibmethode. Diese Einschränkung hätte sich noch 
weniger auf die Zahl von Si hreibstunden als vielmehr auf die Abkürzung der 
Stunden in der Weise zu erstrecken, dass von den kleineren Schulkindern, die 
leichter ermüden, nicht länger als eine Viertelstunde geschrieben und die Dauer 
des Schreibens in den aufsteigenden Klassen allmählich, aber niemals bis zu einer 
Stunde erhöht werden dürfe. Rpd. 


Ergebnisse der Schutzpockenimpfung im Königreiche Bayern im 
Jahre 1891. Vom Königlichen Centralimpfarzte Dr. Ludwig Stumpf-München. 
Medizinische Wochenschrift 1892; Nr. 51 und 52. 

Das Gcsammtergebniss stellt sich wie folgt: Es sind von 100 Impfpflich- 


tigen bei den 


Erstimpfungen. 

Wiederimpfungen. 


1891 

gegen 

1890: 

1891 

gegen 

1890: 

im Laufe des Geschäftsjahres 

uugeimpft gestorben . . 

10,3 

71 

9,7 

0,15 

71 

0,12 

verzogen. 

0,9 

71 

0,7 

1,50 

71 

1,00 

impfptiiehtig geblieben . . . 

82,8 

71 

83,0 

98,35 

71 

98,28 

Von 100 impfpflichtig Geblie¬ 
benen sind geimpft. . . 

92,75 

71 

93,9 

98,75 

71 

98,76 

ungeimpft geblieben .... 

7,25 

71 

0,1 

1,25 

71 

1,24 

und zwar weil 

wegen Krankheit zurückgestellt 

5,50 

71 

4,7 

0,75 

71 

0,70 

aus der Schulpflicht entlassen 

— 

71 

— 

0,08 

71 

0,07 

nicht aufzufinden. 

0,95 

n 

0,9 

0,12 

71 

0,17 

vorschriftswidrig entzogen . . 

(),S0 

71 

0,5 

0.3 

71 

0,30 

Von 100 Geimpften sind geimpft 
mit Erfolg.08,71 

71 

99,0 

90,7 

71 

96,3 

ohne Erfolg .... 

1,29 

71 

1,4 

3,3 

71 

ö,V 

Die Zahl der Fehlirapfungcn 
betrug bei der Impfung mit 

Menschenlymphe: 

a) von Körper zu Körper 

0,1 

n 

0,7 

3,0 

71 

2,6 






Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


243 


Erstimpfungen. 
1891 gegen 1890: 


b) Glyccrinlymphe . . . 

Ji 

0,5 

c) anders aufbewahrter . 

0,95 „ 

0,4 

Impfung mit Thierlymphe: 



a) mit Glycerinlymphe 

1,2 * 

1,75 

b) anders aufbewahrter . 

1,6 - 

0,70 


Wiederimpfungen. 
1891 gegen 1890: 

“ » } 23,7 

3,5 „ 3,6 

2,2 „ - 


Die Thierlymphe wurde fast ausschliesslich von der Königl. Ccntral- 
impfnnstalt geliefert, die 469729 Portionen Lymphe (40696 Portionen mehr 
als im Vorjahre) produzirt hat von 103 Kälbern. Von diesen Portionen sind 413817 
versandt, 10459 an der Centralstelle selbst verbraucht, 37420 Portionen wegen 
nachträglicher Erkrankung der Impfthiere vernichtet und 7353 in Bestand ge¬ 
blieben. Die Menge der von den einzelnen Kälbern gewonnenen Lymphe schwankte 
au Trockensubstanz von 1,20 bis 31,78 gr. 

Das öffentliche Impfgeschäft war ebenso wie im Vorjahre fast allgemein 
in der kurzen Zeit von 6 Wochen (letzte Aprilwoche bis Mitte Juni) erledigt; 
vorzugsweise wurde im Monat Mai geimpft. 


Als Impfmethode kam fast ausschliesslich der einfache Schnitt zur 
Anwendung, und zwar bei Erstimpflingen 5 Schnitte auf jedem Arm; bei Wieder¬ 
impfungen 5—6 auf dem linken Arm. Mit Kreuz- und Querschnitten wurde nur 
selten geimpft; die Zahl der Impfschnitte war dann eine geringere. Die Vor¬ 
schriften in Bezug auf Reinigung der Impfinstrumente u. s. w. scheinen immer 
beachtet zu sein; ein Impfarzt hat in jedem Impftermin 50 Lanzetten zur Hand 
gehabt und mit der nämlichen Lanzette nur je einmal geimpft. 

Betreffs der Autorevaccinationen wird von fast sämmtlichen Impf¬ 
ärzten betont, dass sich hierbei meist nur abortive Bläschen entwickelten. Ferner 
ist mehrfach die Beobachtung gemacht, dass je jünger die Kinder zur Impfung 
gebracht werden, desto geringer sind besonders die Schnitterfolge der Impfung. 
So hat ein Impfarzt z. B. bei den im Jahre 1890 geborenen Impflingen 56,7 °/ 0 
Schnitterfolg, bei den im Jahre 1891 geborenen aber nur 34,1 0 / 0 erzielt; ein 
anderer 91,8 °/ 0 und 82,3 °/ 0 . Bei den Wiederimpflingen war bei denjenigen mit 
sichtbar und gut entwickelten, von der ersten Impfung herrührenden Impfnarben 
der Impferfolg meist ein viel schlechterer, als bei solchen mit schwachen, kaum 
sichtbaren Narben. 


Erythem und Impferysipel ist nur in ganz vereinzelten Fällen be¬ 
obachtet worden. Todesfälle von Geimpften in dem zwischen Impfung und Nach¬ 
schau liegenden Zeiträume sind 10 beobachtet, die aber sämmtlich nicht auf die 
Impfung, sondern auf andere Krankheiten zurückgeführt werden konnten. 

Rpd. 


Die Ergebnisse der Impfung im Grossherzogthum Hessen im Jahre 

1891. Korrespondenzblatt der ärztlichen Vereine des Grossherzogthums Hessen, 

1892, Nr. 11. 

Von 100 impfpflichtig Gebliebenen wurden im Berichtsjahre bei den 

Erstimpfungen Wiederimpfungen 

geimpft. 88,75 °/ 0 95,97 °/ 0 

blieben ungeimpft. 11,25 „ 4,03 „ 

und zwar weil 

wegen Krankheit zurückgestellt 8,30 „ 1,77 „ 

aus der Schulpflicht entlassen . — 1,92 „ 

nicht anfzufinden. 0,67 „ 0,16 „ 

vorschriftswidrig entzogen . . 2,28 „ 0,18 „. 


Die Wiederimpfungen sind ausschliesslich mit animaler Lymphe aus¬ 
geführt; bei den Erstimpfungen haben noch einige Privatärzte humanisirte 
Lymphe benutzt, jedoch nur bei 0,5 °/ 0 der Erstimpflinge, so dass 99,5 °/ 0 gleich¬ 
falls mit animaler Lymphe geimpft sind. Die Thierlymphe wird aus dem Lan¬ 
desimpfinstitut zu Darmstadt sowohl den Impfärzten, als den Privatärzten unent¬ 
geltlich verabfolgt. Die damit erzielten Erfolge haben sich von Jahr zu Jahr 
gebessert und betrugen bei den 





Kleinere Mittheiluugcn and .Referate aas Zeitschriften. 


244 


im Jahre 

1885 

Erstimpflingen: 
92,7% 

Wiederimpfpf 
79,5 % 

77 

1886 

93,4 „ 

81,0 „ 

77 

1887 

93,9 „ 

78,1 „ 

77 

1888 

97,0 „ 

81,3 „ 

rt 

1889 

98,7 „ 

91,4, 

* 

1890 

98,7 „ 

90,5 , 

71 

1891 

99,0 „ 

93,5 , 


Die Zahl der wegen Krankheit zurückgestellten Impfpflichtigen hat sich 
im Berichtsjahre gegenüber dem Vorjahre etwas erhöht (8,30 °/ 0 bei den Erst¬ 
impflingen and 1,77% bei den Wiederimpfpflichtigen gegen 7,31 °/ 0 und 1,32 % 
im Jahre 1890). Die meisten Zurtlckste Hangen erfolgten in Rheinhessen (12,2 
und 3,2°/ 0 ), die wenigsten bei den Erstimpflingen in Oberhessen (5,8%) and bei 
den Wiederimpfpflichtigen in Starkenburg (0,85 %). 

Erfreulich ist das allmähliche Zurückgehen der vorschriftswidrig der 
Impfang entzogenen Kinder, deren Zahl im Jahre 1885 noch 3,58% für 
die Erst- and 0,40 % für die Wiederimpfpflichtigen betrag gegen 2,18 and 0,18 % 
im Berichtsjahre. Rpd. 


Ergebnisse der amtlichen Pockentodesfallsstatistik im Deutschen 
Reiche vom Jahre 1891. Von Regierangsrath Dr. Rahts in Berlin. Sonder- 
abdruck aas: Medizinalstatistische Mittheilangen aas dem Kaiserlichen Oesand- 
heitsamte. Bd. 2. Berlin 1893; Verlag von Jalias Springer. 


Die Zahl der im Deutschen Reiche während des Jahres 1891 vorgekom¬ 
menen Pockentodesfälle betrag nar 40, d. h. 18 weniger als im Vorjahre; 
darunter 6 Todesfälle von rassischen Aaswandern, so dass auf die Bewohner 
des Deutschen Reiches eigentlich nar 34 Pockentodesfälle entfallen. Es starben 
somit an Pocken nar 0,8 auf je eine Million Einwohner, gegenüber 3,05 im fünf¬ 
jährigen Durchschnitt der Jahre 1886/90. Die 40 Todesfälle vertheilen sich anf 
28 Ortschaften, von denen 17 in Preussen, je 4 in Bayern and Sachsen, je 1 in 
Renss j. L., Bremen and Eisass - Lothringen gelegen sind. In stärkerer Verbrei¬ 
tung sind die Pocken nirgends aufgetreten; die am meisten betroffenen Orte 
waren Berlin mit 5 Todesfällen, Zabrze, Trier and Barmen mit je 3, Laarahütte 
(Kreis Kattowitz) und Olbersdorf (Kreishauptmannschaft Zwickan) mit je 2 Todes¬ 
fällen; in den anderen 22 Ortschaften starb nur je eine Person an Pocken. 

Von den in Preassen vorgekommenen Pockentodesfällen (26) betrafen 
6 Personen/ die im Aaslande geboren waren and 13 ereigneten sich in Orten, 
die nahe der Aaslandsgrenze liegen; in Bayern entfielen von den 4 Todesfällen 
2 auf unmittelbar an der österreichischen Grenze belegenen Bezirksämtern; des¬ 
gleichen in Sachsen 4 von 5 Todesfällen. Der in Reuss j. L. beobachtete Pocken¬ 
todesfall ist ebenso wie derjenige in Eisass - Lothringen aaf Einschleppung von 
Aussen zurückzuführen; die in Bremen verstorbenen Personen waren um dieselbe 
Zeit erkrankt, wo dort 9 Kinder aas rassischen and böhmischen Aaswanderer¬ 
familien von den Pocken ergriffen waren. 


Dem Geschlechte nach waren von den Verstorbenen 21 männlich and 


19 weiblich; dem Alter nach 


über 

77 

77 


über 2 Jahr 
2-10 „ 
10-20 „ 
20- 30 „ 


11 . 

5. 

2 . 

2 , 


über 30—40 Jahr: 6. 
„ 40-50 „ : 3. 

„ 50-60 „ : 8. 

„60 „ :3. 


Die Mehrzahl dieser Verstorbenen war entweder gar nicht oder nar ein¬ 
mal bezw. ohne Erfolg geimpft. 


Vergleicht man die Pockensterblichkeit im Deutschen Reiche pro 1891 
mit derjenigen in anderen europäischen Staaten, so ergiebt sich, dass von 100 000 
in grösseren Städten lebenden Bewohnern gestorben sind 

in Deutschland (235 Städte) 0,14 gegen 0,26 im Jahre 1890. 


Oesterreich 

( 52 

• ) 

29,19 

, 15,7 


T7 

Ungarn 

( 12 

. ) 

0,62 

. 3,3 

77 

77 

Schweiz 

( 15 

. ) 

0,60 

» 2,2 

77 

9 





Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


245 


in Belgien ( 63 Städte) 29,44 gegen 11,64 im Jahre 1890. 

TT» 1 ' L H AA \ A K AA A A rt 


Frankreich 

(100 

„ ) 

15,62 

n 14,7 

n 

n 

England 

( 28 

yi ) 

0,19 

„ 0,1 

n 

n 

Italien 

( 69 

n ) 

7,18 

7i 25,2 

n 

n 


Amtsärztlich beglaubigte Ausweise über Pockenerkrankungen liegen 
aus allen deutschen Bundesstaaten mit Ausnahme von Preussen vor. Darnach 
sind in 8 Bundesstaaten 126 Personen an den Pocken erkrankt, und zwar 45 
in Bayern, 37 in Sachsen, 1 in Württemberg, 2 in Schwarzburg-Rudolstadt, 4 
in Reuss j. L., 32 in Bremen, 3 in Hamburg und 2 in Eisass - Lothringen. Ab¬ 
gesehen von Bremen sind die meisten Erkrankungen in Olbersdorf, Amtshaupt¬ 
mannschaft Zittau (16 mit 2 Todesfällen) vorgekommen; in den übrigen Ort¬ 
schaften ist die Zahl der Erkrankungen nicht über 5 gestiegen, meist aber auf 
1—2 beschränkt geblieben. 

Von den Erkrankten waren im Alter 





davon leicht erkrankt: 

schwer erkrankt! 

gestorben: 

über 

0— 2 Jahre 15, 

11 = 73,4% 

2 = 13,3% 

2 = 13,3% 

n 

2— 5 

n 

15, 

13 = 86,6 „ 

1 = 6,7 B 

1 = 6,7, 

n 

5—10 

n 

9, 

7 = 87,8 „ 

2 = 22,2 „ 


n 

10—15 

fl 

5, 

4 = 80,0 B 


«s 

© 

§ 

II 

vH 

n 

15—20 

n 

5, 

4 = 80,0 B 

1 = 20,0 B 

- - 

n 

20—30 

yf 

12, 

7 = 58,3 „ 

5 = 41,7 „ 

- - 

71 

30—40 

fl 

21, 

14 = 66,6 „ 

5 = 23,8 , 

2 = 9,6 B 


40—50 

fl 

21, 

9 = 42,9 B 

10 = 47,5 „ 

2 = 9,6 B 

rt . 

50—60 

71 

14, 

5 = 35,8 „ 

4 = 28,4 , 

5 = 35,8 B 

n 

60 Jahre 


9, 

5 = 55,6 B 

3 = 33,3 B 

1 = 11,1 „ 




126, 

79 = 62,7% 

33 = 26,1 % 

14 = 11,2% 


Von den Erkrankten waren: 

ungeimpft. 

einmal als Kind geimpft . . . 

wiedergeimpft. 

in unbekanntem Impfzustande . 


Es sind 

von den Ungeimpften . . 
„ einmal als Kind 

Geimpften . . . 
„ Wiedergeimpften. 

„ mit unbekanntem 

Erfolg Geimpften. 


leicht erkrankt: 
21 = 67,7% 

47 = 62,7 „ 

11 = 61,1 „ 


. . 31 = 24,7% 

. . 75 = 59,4 „ 

. . 18 = 14,3 „ 

. . 2 = 1 , 6 , 

schwer erkrankt: gestorben: 

7 = 22,6% 3 = 9,7 % 

20 = 26,7 „ 8 = 10,6 „ 

6 = 33,3 „ 1 = 5,6 B 

— — 2 = 100 % 


Bei Personen bis zu 30 Jahren sind Pockenerkrankungen mit tödt- 
lichem Ausgange nur bei Ungeimpften oder ohne Erfolg Geimpften beobachtet; 
mit Erfolg wiedergeimpfte Personen sind mit einer Ausnahme an Pocken nicht 
gestorben. Personen im Alter von 31 Jahren und darüber sind, wenn sie nur 
im frühen Kindesalter einmal mit Erfolg geimpft waren, vor tödtlich verlau¬ 
fenen Pockenerkrankungen nicht zu schützen gewesen. Rpd. 


Die Bewegung der Bevölkerung in Oesterreich während des 
Jahres 1891. Oesterreichisches Sanitätswesen; 1893, Nr. 6 u. 7, 

Die Zahl der Geborenen betrug 947017 = 39,3% 0 der Bevölkerung 
gegen 37,8 % 0 im Jahre 1890. In allen Kronländern machte sich eine Zunahme 
der Geburtsziffer bemerkbar mit Ausnahme von Görz - Gradiska und Vorarlberg. 
Die höchste Geburtsziffer hatten wiederum Galizien und Bukowina 46,4 und 
45,7 % 0 , die niedrigste Vorarlberg und Tyrol 29,1 und 29,7 % 0 , Von 
100 Geborenen waren todtgeboren 2,9% (1890: 2,8%); unehelich 
geboren 14,7 (1890: 15,0%); die grösste Verhältnissziffer der Todtgeburten 
weisen Triest und Niederösterreich (6,0 und 4,3), die niedrigste Dalmatien, Krain 
Vorarlberg und Tyrol (0,8, 1,6, 1.7 und 1,8) auf. Die meisten unehelichen 
Geburten sind ebenso wie im Vorjahre in Kärnthen (44,0%), Salzburg (27,4 %), 
Niederösterreich (25,8%) und Steiermark (25,0 %) vorgekommen die wenigsten 
in Görz und Gradiska 2,8 %), Istrien (3,1 %) und Dalmatien (4,1 %). 






246 


Kleinere Mittheilungen and Referate ans Zeitschriften. 


Von den einzelnen Monaten zeigt der Jannar die höchste, der Jhni die 
niedrigste Geburtsziffer; zwischen beiden Monaten findet im Allgemeinen ein 
allmähliches Ab- und Ansteigen der Gehörten statt. 

Die Zahl der Gheschliessnngen ist in keinem Jahre so hoch ge¬ 
wesen, als im Jahre 1891: 186418 = 8 % 0 der Bevölkerung (7,56 °/ 00 im Vor¬ 
jahre). 

Dem Alter nach waren von den Eheschliessenden 


bis 24 Jahr alt ... . 

Männern: 
16,75% 

Frauen: 
47,67 % 

über 24—30 Jahr . . . 

48,24 „ 

89,96 „ 

, 30-40 „ . . . . 

22,31 „ 

8,06 „ 

15,03 „ 

, 40—50 „ ... . 

6,86 „ 

» 50 „ ... . 

5,64 „ 

1,98 „ 


Die ZahlderGestorbenen ohne Todtgeburten betrug 673 315 = 27,9 °l 00 
gegen 29,37 °/ 00 im Vorjahre. Verhftltnissmässig hohe Sterbeziffern hatten ebenso 
wie im Voijahre Bukowina (34,0 °/ 00 ) und Galizien (31,1 °/ 00 ), niedrige dagegen 
Dalmatien (24,4 °l 00 ) und Kämthen (24,5 °/ 00 ). 


Dem Alter nach standen von den Verstorbenen: 
im Alter von über 0— 5 Jahr 48,4 °/ 0 gegen 48,2 # / 0 im Vorjahre. 


n 

, , 5-15 , 

5,6 , 

Ti 

5,7 , 

Ti 

n 

, , 15-30 „ 

7,1, 

n 

7,0 „ 

ff 

n 

» „ 30-60 „ 

17,3 , 

Ti 

17,4 „ 

Tt 

» 


21,6, 

n 

21,7 , 

Ti 


Dem Geschlechte nach waren von 10Ö Verstorbenen 51,2 männliche 
und 48,8 weibliche Individuen. 

Der Zeit nach entfallen die meisten Todesfälle auf den 
die wenigsten auf den Monat Juli; zwischen beiden Monaten 


Monat Januar, 
macht sich ein 


Anfangs ziemlich plötzliches (Mai bezw. November) und dann allmähliches Ab¬ 
steigen und Ansteigen bemerkbar. 

Von je 100 Lebendgeborenen starben im ersten Lebensjahre 24,3°/ 0 
nnd zwar von den ehelichen Kindern 23,3 %, von den unehelichen 30,1 %. Eine 
verhältnissmässig hohe Kindersterblichkeit zeigten besonders die Kron- 
länder Salzburg (27,2 °/ 0 ), Bukowina (26,7 °/ 0 ), Oberösterreich 26,8 °/ 0 ) und Böhmen 
(26,4°/ 0 ); eine niedrige dagegen: Dalmatien (16,5°/ 0 ), Krain (18,1 °/ 0 ) und Görz- 
Gradiska (18,7%). Dementsprechend war auch der natürliche Bevölke¬ 
rungszuwachs, der sich für den Gesammtstaat auf 10,20 °/ 00 stellte, am 
höchsten in Dalmatien (15,9%); am niedrigsten in Salzburg (1,6 °/ t0 ) und Triest 
(1,8 °/oo). Rpd. 


Die Seehospize and die skrophulösen Kinder. Von Dr. Nicola 
Candela. Giornale di medicina pubblica. Jahrg. XXIII, Nr. 8 u. 9, 1892. 

Dass in einem längeren Aufenthalt an der See die grösste Wolilthat be¬ 
steht, die man skrophulösen Kindern erweisen kann, ist allgemein anerkannt, 
und hat in fast allen Kulturstaaten zur Gründung von Seehospizen geführt. In 
Italien wirken jetzt über 400 Komitees für deren Erhaltung und Neugründung — 
das erste von ihnen 1862 von B a r e 11 a i in’s Leben gerufen — und es bestehen 
20 Seehospize, 13 am Mittelmeer uud 7 an der Adria. Behandelt wurden in 
einem Jahre 5631 Kinder; eine sehr grosse Zahl, wenn man sie mit der für 
Deutschland (1119) und Frankreich (685) vergleicht, aber gering im Vergleich 
mit Grossbritannien, das in 23 Hospizen mit 2500 Betten 16 000 Kinder in einem 
Jahr verpflegte. Candela beklagt, dass sich die Behandlung auf die Sommer¬ 
monate beschränkt — allerdings schwer begreiflich bei den klimatischen Ver¬ 
hältnissen besonders Süditaliens — und dass der Aufenthalt für jedes Kind auf 
nur 30—40 Tage bemessen ist. Ausserdem wünscht er, dass vor der Aufnahme 
ein ärztliches Attest gefordert wird, was jetzt nur in zwei Hospizen geschieht, 
dass man regelmässig Messungen und Wägungen vornimmt, und dass Vor¬ 
kehrungen zur Aufnahme von Säuglingen getroffen werden, wie in Atlantic city 
(Nordamerika), wo für diese mit ihren Müttern 20 kleine Baracken bestehen. 
Vor allem soll aber der Aufenthalt der Kranken sich nicht auf so kurze Zeit 
beschränken, sondern die Hospize sollen das ganze Jahr geöffnet sein, und ihre 
Pfleglinge erst nach möglichst vollständiger Heilung entlassen. 

Dr. W o 11 e m a s - Gelnhausen. 






Besprechungen. — Tagesnachrichten. 


247 


Bericht über den Gesundheitszustand der Provinz Neapel Tür 1891. 

Von Dr. Bessone. Giornale di medicina pubblica. Jahrg XXIII, 9, 1892. 

Die Geburtsziffer war 37,2, die Sterbeziffer 28,5 auf 1000 Einwohner. 
Von besonderem Interesse ist, dass die Sterblichkeit an Unterleibstyphus, die 
1881—1885 noch 0,02 auf 1000 Einwohner betrug, 1891 auf 0,2 zurückgegangen 
war. An Tuberkulose starben von 1000 Einwohnern 2,6. Ders. 


Besprechungen 

Dp. Henry Menger, Medizinalassessor bei dem Königl. Medizinal¬ 
kollegium der Provinz Brandenburg: Ausrüstungs-Nach¬ 
weis für transportabele Baracken-Lazarethe unter 
Angabe der Preise und Bezugsquellen. Im Aufträge 
des Central - Comit6 der Deutschen Vereine vom Rothen Kreuze 
zusammengestellt. Berlin 1893. In Kommission von R. v. 
Decker’s Verlag. 

Das vorliegende kleine Werk bildet gleichsam die Fortsetzung zu dem 
von dem Verfasser seiner Zeit erstatteten Bericht über die vom Centralkomitß 
der deutschen Vereine vom Rothen Kreuze im Jahre 1891 in Tempelhof errich¬ 
teten transportablen Baracken-Lazarethe 1 ). Es bringt eine kurze, aber sehr 
genaue Beschreibung der inneren Einrichtung und Ausstattung der Kranken- 
und Wirthschafts - Baracken mit vortrefflichen, auf Erfahrungen beruhenden 
Rathscblägen in Bezug auf die Organisation und Anlage der Baracken, auf die 
Wahl des Platzes, auf die bei der Ausrüstung zu beobachtenden Grundsätze, 
auf die Raumvertheilung u. 8. w. Das Verständniss des Textes wird durch 
zahlreiche Abbildungen in anschaulicher Weise erläutert. — Den zweiten Theil 
des Buches bildet eine sehr sorgsame Zusammenstellung der Kosten der einzel¬ 
nen Baracken und ihre Ausrüstung unter Angabe der Preise und der Bezugs¬ 
quellen für die einzelnen Gegenstände. 

Das vorzüglich ausgestattete Werk wird den Medizinalbeamten besonders 
jetzt, wo die Frage nach Beschaffung von Baracken zur eventuellen Unterbrin¬ 
gung von Cholerakranken häufiger an sie herantreten dürfte, sehr willkommen 
sein und kann ihnen als zuverlässiger Rathgeber nach jeder Richtung hin em¬ 
pfohlen werden. Rpd. 


Tagesnachrichten. 

Zur Medizinalreform. Von den politischen Blättern wurde in jüngster 
Zeit folgende Mittheilung gebracht: „Die Vorarbeiten für die preussische 
Medizinalreform sind an den zuständigen Stellen bereits so weit gefördert, dass 
voraussichtlich noch während der laufenden Laudtagssession bestimmte Er¬ 
klärungen vom Ministertische werden gegeben werden können. Unter Anderem 
handelt es sich dabei namentlich um eine Aufbesserung der Stellung der Kreis¬ 
physiker.“ 

Wir registriren diese Mittheilung, glauben aber kaum, dass sie sich be¬ 
wahrheiten wird, besonders mit Rücksicht auf die neulich von dem Herrn 
Ministerial-Direktor in der Hauptversammlung des preussischen Medizinalbeamteu- 
Vereins abgegebenen Erklärung, dass der Herr Minister zwar fortgesetzt darauf 
bedacht sei, die Stellung der Physiker zu verbessern, dass er aber die endgültige 
Beschlussfassung darüber bis zum Inkrafttreten des Reichsseuchengesetzes ver¬ 
tagt habe. Insofern können wir nur bedauern, dass der Reichstag aufgelöst und 
dieses Gesetz nicht mehr zur Verabschiedung gelangt ist. Hoffentlich wird 
es aber dem neuen Reichstage sofort wieder vorgelegt; an seine Annahme, aller¬ 
dings wohl mit wesentlichen Aenderungen, dürfte kaum zu zweifeln sein. 

Inzwischen wird aber voraussichtlich die auf der Tagesordnung des Ab¬ 
geordnetenhauses am 30. Mai stehende Interpellation des Grafen Douglas, 


*) Vergleiche das Referat in Nr. 12 der Zeitschrift, Jahrg. 1892, S. 320. 



248 


Tagesnachric b ten. 


betreffend Massregeln gegen die Cholera, dem Herrn Minister anch Veranlassung 
geben, sich über Ziel und Wesen der geplanten Medizinalreform auszusprechen 
und sich hierbei heraussteilen, inwieweit die vorher erwähnte Mittheilung auf 
Wahrheit beruht. 


Im Laufe dieses Sommers sollen in ähnlicher Weise, wie im Jahre 1887, 
hygienische Kurse für Verwaltungsbeamte an einigen hygienischen Univer¬ 
sitätsinstituten unter Leitung der betreffenden Professoren stattfinden. Nach dem 
vom H. Minister der Medizinalangelegenheiten genehmigten Programm werden 
in diesen Kursen die wichtigsten Abschnitte aus dem Gebiete der öffentlichen 
Gesundheitspflege, wie Reinhaltung der Städte, Wasserversorgung, Wohnungs¬ 
hygiene, Massregeln gegen die Verbreitung ansteckender Krankheiten, Begräbniss- 
wcsen, Verkehr mit Nahrungsmitteln u. s. w. einer eingehenden Erörterung in 
Verbindung mit praktischen Demonstrationen, Besichtigungen u. s. w. unterzogen 
werden. Als Honorar für diese Kurse ist die Summe von 36 Mark einschliesslich 
Institutsgebühren festgesetzt. Der erste derartige Kursus wird in der Zeit vom 
6.—17. Juni für die Verwaltungsbeamten aus den Provinzen Westfalen, Hessen- 
Nassau und der Rheinprovinz im hygienischen Institute der Universität Marburg 
unter Leitung des Prof. Dr. Fränkel stattfinden. 


Der Senat in Bremen hat die Einrichtung eines staatlichen Labora¬ 
toriums für Bakteriologie beschlossen und zum Leiter desselben den Stabsarzt 
Dr. Kurth, Hillisarbeiter beim Reichsgesundheitsamte, berufen. 


Cholera. In Galizien ist in der Zeit vom 26. April bis 3. Mai nur 
ein Erkrankungsfall mit tödtlichem Ausgange in Kudrynce vorgekommen. Aus 
der vorhergehenden Woche sind nachträglich noch eine Erkrankung in Smykowce 
und 1 Todesfall in Buczacz gemeldet. Seit dem 3. Mai sind neue Cholerafälle 
nicht zur amtlichen Kenntniss gelangt 

In Frankreich hat die Cholera in der Stadt Lorient abgenommen, 
im Arrondissement dagegen etwas zugenommen. Die Zahl der Erkrankungen 
betrug in der Stadt vom 8. bis 14. April: 18 mit 2 Todesfällen, vom 15. bis 
21. April: 8 mit 6 Todesfällen; im Arrondissement während derselben Zeit 
40 und 77 Erkrankungen mit 10 bezw. 27 Todesfällen. 

In Russland herrscht die Seuche noch in grösserer Ausbreitung in den 
Gouvernements Podolien nnd Ufa. 


Offener Brief an die Herren Kollegen I 

Den Herren Kollegen mache ich die ergebene Mittheilung, dass ich mit 
der Bearbeitung einer medizinischen Literatur- ued Gesetz - Sammlung für Me¬ 
dizinalbeamte, Physikatskandidaten und Aerzte nach alphabetisch geordneten 
Stichwörtern beschäftigt bin. 

Diese Stichwörter sind den drei grossen Gebieten der Hygiene, der Me¬ 
dizinalgesetzgebung nnd der gerichtlichen Medizin entnommen, und decken sich 
als solche bereits vielfach mit den schriftlichen Themata der Physikatskan¬ 
didaten. 

Durch Aufnahme dieser Themata unter die Stichwörter hat die Samm¬ 
lung an Brauchbarkeit wesentlich gewonnen. Ich richte daher an die Herren 
Kollegen die kollegiale Bitte, mich bei meiner Arbeit zu unterstützen und mir 
die Ihnen einst ertheilten Themata jedes auf besonderem Blatt — nebst den 
dazu benutzten Literaturverzeichnissen baldigst und gütifi^t zuzusenden. 

Die Kollegen brauchen nicht zu befürchten, damit anzustossen, da der 
Herr Minister Bedenken gegen die Herausgabe des Werkes nicht hat. 

Weissenfels, den 4. Mai 1893. 

Dr. 8ch.roed.er, Kreisphysikus. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden L W. 

J. 0. O. Brau«, Buehdrnoktrei, Minden. 





6. Jahrg. 


Zeitschrift 


1893. 


für 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben yon 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rath u. gerichtl. Staatphysikus in Berlin. Reg.- und Mediiinalrath in Minden. 

and 

Dr. WILH. SANDER 

Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagsh&ndlung und Rud. Mosse 

entgegen. 


No. 11. 


Erscheint am 1. and 15. Jeden Monate. 
Freia jährlich 10 Mark. 


1. Juni. 


Ueber einen seltenen Fall von Sturzgeburt. 

Mitgetheilt von Dr. Gabriel Corin in Lüttich. 

Zahlreich sind jetzt in der Literatur die Fälle, in welchen 
das Kind aus den Geschlechtsteilen beinahe hervorgeschossen ist, 
während die Mutter gebückt oder selbst aufrecht stand und jeden¬ 
falls die sofortige Entbindung nicht erwartete. 

Neuerdings hat noch Pullmann 1 ) über einen solchen Fall 
berichtet, welchen er selbst behandelt hatte. Wenn auch die 
forensische Wichtigkeit dieser Vorkommnisse nicht bestritten werden 
kann, so dürften wir doch kaum einen neuen Fall veröffentlichen, 
falls nicht die begleitenden Umstände ihm ein besonderes Interesse 
verliehen. Es handelt sich um eine Sturzgeburt, welche bei einer 
sonst ganz gesunden Frau und bei voller Geistesgegenwart ihr 
unbewusster Weise vorgekommen ist. 

Frau J., 32 Jahre alt, III gebärend, von normaler Stärke 
und Entwickelung; besonders ist das Becken wohlgebaut, seine 
Durchmesser normal, die Schamspalte nicht zu weit, kein Damm¬ 
riss vorhanden. Die zwei vorhergehenden Entbindungen habe ich 
selbst behandelt und wegen Trägheit der Wehen mittels Zange 
vollendet. Uebrigens waren die zwei Kinder gut entwickelt, kräftig 
und sind noch heute lebend und gesund. 

Die in Frage stehende Schwangerschaft war von einem aus¬ 
gesprochenen Status gastricus begleitet, welche! die Ernährung 
etwas erschwert hatte, ohne doch einen besonderen Schwäche¬ 
zustand hervorzurufen. Während der Schwangerschaft wurde ich 
öfter konsultirt und jedesmal fand ich die Frau und ihren Gemahl 


*) Vierteljahrsschrift für die gerichtliche Medizin. Dritte Folge, 1. Bd., 
2. Heft, S. 276. 









250 


Dr. Corin: Ueber einen seltenen Fall von Sturzgebart. 


sehr erfreut auf den zu erwartenden Zuwachs in ihrer Familie, 
da sie nämlich zwei Töchter hatten und einen Knaben verlangten. 

Den 28. Januar d. J., als sie erst am Ende des achten 
Monates der Schwangerschaft zu sein angab, was übrigens bei der 
kombinirten Untersuchung als richtig sich erwies, verspürte sie 
Wehen, weshalb sie mich rufen liess. Bei meiner Ankunft fand 
ich, dass der Muttermund ausdehnbar war, dass aber die Eihäute, 
selbst während der Wehen nicht aus demselben vorsprangen. 

So verflossen nun drei Tage mit intermittirenden Wehen, trotz¬ 
dem war am 31. Januar um 10 Uhr Morgens der Muttermund nur von 
Ftinfmarksttickgrösse. Das Fruchtwasser war noch vorhanden. 
Die Untersuchung ergab, dass es sich um eine Hinterhauptslage 
und zwar wahrscheinlich um eine 0. I. S. A. handelte. 

Als ich das Zimmer verlassen wollte, da die Wehen noch 
schwach und selten waren, verlangte die Frau zu Stuhle zu gehen. 
Ich gestattete ihr um so mehr zu dem Nachtstuhle zu gehen, als 
ich soeben touchirt, die Eihäute intakt, und den Kopf noch etwas 
beweglich im Beckeneingang gefunden hatte. Der Topf des Nacht¬ 
stuhles war ungefähr 40 cm hoch und mit Wasser halb erfüllt. 
Kaum sass die Frau auf demselben, so hatte sie eine starke Kolik 
und wir hörten das Fallen eines Gegenstandes in’s Wasser. 

Wir wollten die Frau sogleich aufstehen lassen; das ver¬ 
weigerte sie aber, indem sie behauptete, dass es um eine Koth- 
entleerung sich handelte und dass sie auch noch Drang fühlte. 
Als sie eine Minute später nichts mehr zu verspüren angab, 
zwangen wir sie aufzustehen und sahen überrascht ein scheinbar 
todtes Kind, kopfüber im Wasser. Die Nabelschnur war nicht 
gerissen und der Mutterkuchen nicht ausgestossen; die spontane 
Ausstossung desselben geschah, während die Mutter zu Bett ge¬ 
bracht wurde. 

Durch künstliche Athmung wurde das Kind rasch wieder¬ 
belebt. Es war ein kräftiges achtmonatliches männliches Kind, 
hatte eine Körperlänge von ungefähr 45 cm; ich unterliess leider 
die Durchmesser und den Umfang des Kopfes zu messen und 
später war dies nicht mehr möglich; die übrigen Zeichen (Nägel, 
Wollhaare, Hoden) entsprachen aber der berechneten Zeit. 

Obgleich kein äusserliches Zeichen eines Schädelbruches im 
Augenblicke der Geburt vorhanden war, bekam doch das Kind 
Nachmittags beträchtliches Nasenbluten. Leider war ich verhindert, 
dasselbe zu besuchen; der Tod erfolgte denselben Abend und das 
Kind wurde am nächsten Tage beerdigt. Die Eltern hatten eine 
etwaige Obduktion abgelehnt. 

Meines Wissens giebt es in der Fachliteratur keinen Fall, 
wo eine Pluripara ein fast reifes Kind bei vollkommener Geistes¬ 
gegenwart unbewusst geboren hat. Aber nicht minder bemerkens- 
werth sind die begleitenden Umstände. In der That ist der Tod 
des Kindes zweifelsohne dem Falle in den Topf zuschreiben. Ueber- 
dies wäre es auch möglich gewesen, dass die Frau, als sie den 
Kothdrang verspürte, zur Befriedigung desselben einen Abort be¬ 
nutzt hätte. Dann wäre das Kind sammt der Nabelschnur und 



Dr. Schlüter: Epidemiologischer Kursus zur Bekämpfung etc. 


261 


der Nachgeburt sicher in die Tiefe hinabgestürzt und Veranlassung 
zu gerichtlichem Einschreiten vorhariden gewesen. Es lässt sich 
nicht läugnen, dass solche Fällen auch in gerichtsärztlicher Praxis 
Vorkommen können und dass bei dem h'eutigen Stande der Frage 
der Tod der Frucht als verbrecherisch oder mindestens als fahr¬ 
lässig angesehen werden würde, besonders wenn es sich um eine 
Pluripara handelte, die eine gewisse Erfahrung über die zu er¬ 
wartenden Vorkommnisse haben sollte. 

Wenn es sich um eine uneheliche Pluripara, eine Wittwe, 
eine Lohnarbeiterin handelte, welche ein Interesse hätte, ihren 
Zustand zu verbergen, würde die Frau wahrscheinlich für schuldig 
gelten. 

Die weiteren Schlussfolgerungen überlasse ich jedem Gerichts¬ 
arzte zu ziehen. 


Epidemiologischer Kursus zur sanitätspolizeilichen Bekämpfung 

der Cholera. 

Von Kreisphysikus Dr. Schlüter in Gütersloh. 

Auf Ersuchen des Herausgebers der Zeitschrift habe ich ver¬ 
sucht, nachstehend ein kleines Referat über den sechsten, unter 
Leitung des Herrn Geh. Med.-Rath Dr. Koch im Institut für 
Infektionskrankheiten abgehaltenen epidemiologischen Kursus zur 
wirksamen sanitätspolizeilichen Bekämpfung der Cholera zu geben, 
in der Annahme, dass sich vielleicht diejenigen Kollegen, welche 
an den Kursen nicht Theil genommen haben, dafür interessiren werden. 

In einem einleitenden Vortrage präzisirte zunächst Herr Geh. 
Rath Koch den Zweck des Kursus und hob hervor, dass er von 
einer Uebung in der bakteriologischen Untersuchung absehe; es solle 
vielmehr das Wesen der Cholera in einzelnen Vorträgen erörtert, 
die Erfahrungen, welche sich aus der letzten Epidemie im Jahre 
1892 ergeben hätten, klargelegt, sowie die sanitätspolizeilichen 
Massregeln besprochen werden, die auf Grund dieser Erfahrungen 
als wirksam anzusehen seien. Die an den beiden ersten Tagen 
von H. Privatdozent Dr. Pfeiffer und H. Prof. Dr. Pfuhl ge¬ 
haltenen Vorträge erstreckten sich demgemäss hauptsächlich auf 
das Wesen der Cholera, die Art ihres Entstehens und 
ihrer Verbreitung, auf die klinischen und pathologi¬ 
schen Verhältnisse, die bakteriologischen Thatsachen 
u. 8. w., während am letzten Tage H. Geh. Rath Dr. Koch selbst 
die nothwendigen Schutzmassregeln gegen die Cholera einge¬ 
hend erörterte. Der Inhalt der einzelnen Vorträge war ungefähr 
folgender: 

Die Frage, ob die Cholera in jedem Falle eingeschleppt wird oder auch 
autochthon entstehen kann, ist mit Sicherheit für die Einschleppung ent¬ 
schieden. Die Cholerabazillen erlangen ihre pathogene Wirkung nicht etwa erst 
im Darmkanal oder durch siechhafte Bodenverhältnisse, sondern besitzen dieselbe 
von vornherein. Grade durch das Verdienst von Dr. Koch ist auch beim Cholera¬ 
bacillus eine Konstanz der Art nachgewiesen, und es ist nicht anzunehmen, dass 
er sich nnter günstigen Umständen etwa aus Saprophyten entwickeln kann, sondern 
er ist sicher ebenso wie der Milzbrand- und Tuberkel-Bazillus seit Jahrtausenden 



252 


Dr. Schlüter. 


in seiner Art vorhanden gewesen. Man muss jetzt den Glaubenssatz als erwiesen 
aunehmen, dass die Cholera ^ets ein geschleppt wird; denn es ist 
kein Fall eines autochthonen Entstehens bekannt, wenn auch die 
Einschleppung ebenso wie bei andern Infektionskrankheiten nicht immer sicher 
nachgewiesen werden kann. Endemisch herrscht die Cholera dauernd in^Theilen 
von Vorder- und Hinter-Indien, besonders im Gangesdelta und in Theilen 
von China und Cochinchina; in Europa tritt sie alle 10 Jahre als Epidemie auf. 
In Vorder-Indien ist sie bis zum Jahre 1817 unbekannt gewesen, und jedenfalls 
damals aus Hinter-Indien, wo sie wahrscheinlich seit Jahrtausenden endemisch 
gewesen ist, eingeschleppt worden. Nach Europa wurde die Cholera stets durch 
den Verkehr verschleppt und zwar bis zur Eröffnung des Suezkanals auf dem 
Landwege, da sie sich, wie zuerst Pettenkofer nachgewiesen hat, auf Schiffen 
nicht lange genug hält und in Folge dessen bei der langen Zeit, die bisher der 
Schiffsverkehr von Indien nach Europa in Anspruch nahm, auf der Fahrt zum 
Erlöscheu kam. Auf dem Landwege war dagegen in den Karavanenzügen eine 
dauernde Kette von Erkrankungen gegeben und wurde dadurch die Einschleppung 
ermöglicht. Dass sich übrigens die Cholera auch unter günstigen Umständen 
bis zu 52 Tagen auf einem Schiffe halten kann, ist durch den Fall mit einem 
italienischen Auswandererschiff bewiesen, an dessen Bord nach der Abfahrt von 
Genua auf der Fahrt nach Süd-Amerika Cholera ausbrach und das in Folge dessen 
weder in Buenos-Ayres, noch in Rio de Janeiro an Land gelassen wurde, so dass 
es nach Genua zurückkehren musste. Derartige günstige Umstände für die Cholera 
finden sich auf Auswanderer- und Truppentransport-Schiffen, die mit Menschen voll¬ 
gepfropft sind. Bei den Schiffen, welche den Suezkanal passiren, geht bei der lang¬ 
samen Fahrt und dem öfteren Aufenthalt das Schiffspersonal häutig an’s Land und 
kann auf diese Weise die Cholera leicht eingoschleppt worden Auch im Jahre 1884 
ist die Seuche nachweislich nach Toulon aus Cochinchina eingeschleppt worden und 
wahrscheinlich in derselben Weise im Jahre 18112 nach Paris; denn es sind da¬ 
mals auf Truppentransportschiffen mehrfach Todeslälle an Cholera vorgekommen. 

Die Einschleppung geschieht meist durch leichte, als Cholera gar nicht 
erkannte Erkrankungsfälle. Jedenfalls hat es sich bei der isolirten Epidemie in 
Gonsenheim im Jahre 1886 auch um Einschleppung durch eine Person gehandelt 
und nicht um mittelbare Importirung durch Waaren, da ein solcher Fall za 
den äussersten Seltenheiten gehört und überhaupt kaum Vorkommen dürfte. 

Die Einschleppung der Seuche in Hamburg ist zweifelsohne ebenfalls 
durch den Personenverkehr erfolgt, wiewohl der Weg nicht mit Bestimmtheit 
ermittelt worden ist. Eine Importirung auf dem Seewege aus Havre ist nicht 
wahrscheinlich, weil damals der Schiffsverkehr zwischen Hamburg und Havre 
nicht erheblich war und die Nachforschungen keine Handhabe für eine derartige 
Annahme gegeben haben. Viel wahrscheinlicher ist eine Einschleppung auf dem 
Landwege durch russische, aus verseuchten Gegenden herstammende Auswanderer. 
Der Einwand, dass dann vorher schon irgendwo in den von den Auswanderern 
berührten Orten der Ausbruch der Cholera hätte stattfinden müssen, ist hinfällig, 
weil dies durch zweckmässige Massregeln verhindert worden ist. Die Aus¬ 
wanderer sind nämlich von der russischen Grenze in geschlossenen Zügen bis 
in die Nähe von Berlin nach Buhleben geführt, dort in einem Barackenlager vom 
Verkehr abgesperrt und dann nach Hamburg weiter befördert worden. Auch in 
Hamburg hat man sie nach Möglichkeit in einem mit hoher Mauer umgebenen 
Barackenlager von jedem Verkehr ausgeschlossen, aber hier traten andere, die 
Einschleppung der Seuche begünstigende Umstände hinzu: Die Quaianlagen 
Hamburgs haben eine Kanalisation für sich, deren Siele im Hafen ausmünden, 
in dessen unmittelbarer Nähe die Auswanderer in Baracken untergebracht waren. 
Die Dejektionen derselben, das Schmutzwasser von ihrer Wäsche u. s. w. ge¬ 
langten somit uudesinfizirt in den Hafen. Es war zwar ein zweckentsprechender 
Desinfektionsapparat aufgestellt und in dauernder Thätigkeit, aber derselbe 
genügt nicht für die vielen Menschen, noch weniger aber die Desinfektion der 
Wäsche und sonstiger Sachen mit Schwefeldäinpfen, wie sie in einem Schuppen 
ausgeführt wurde, denn bekanntlich wirkt schweflige Säure nur in wässriger 
Lösung desintizirend. Wenn nun auch bei keinem Auswanderer ein wirklicher 
Cholerafall konstatirt worden ist, so erscheint die Annahme doch gerechtfertigt, 
dass virulente Cholerakeime in das Hafenwasser gelaugt sind. Hier fanden die 
Keime damals die günstigsten Verhältnisse für ihre Weiterentwickelung vor, da 
das Hafenwasser stark verunreinigt war und bei der herrschenden tropischen 



Epidemiologischer Korsos zur sanitätspolizeilichen Bekämpfung der Cholera. 253 


Hitze eine Temperatur bis za 25—26 0 C. hatte. Für diese Annahme spricht der 
• ganze Verlauf der Epidemie, die anfangs auf das Hafengebiet beschränkt blieb 
und erst später sekundär durch die Wasserleitung eine ansgedehnte Verbreitung 
annahm. 

Auch der Ausbruch der verschiedenen lokalen Epidemien an andern Orten 
des Deutschen Reichs erklärt sich durch Verschleppung von Hamburg aus, wenn¬ 
gleich dieselbe nicht immer direkt nachgewiesen werden konnte, z. B. bei der 
kleinen Epidemie in Eberswaldo, wo 5 Erkrankungsfälle mit 3 Todesfällen vor¬ 
kamen und bei der Epidemie in Nietleben. 

Die Theorie, dass die Epidemien im Winter durch überlebende Keime ver¬ 
ursacht werden, ist nicht haltbar; die Keime können sich nicht etwa Jahre lang 
versteckt halten und die Chancen für ihre Haltbarkeit sind überhaupt im Winter 
sehr gering, weil die zu ihrem Wachsthum erforderlichen bestimmten Bedingungen 
nur im Hoch- und Spätsommer gegeben sind. Im Winter sind 16 °C., die 
niedrigste Temperatur, bei der die Cholerabazillen wachsen und gedeihen können, 
selten vorhanden. Während ferner die Lebensdauer der Bazillen unter günstigen 
Bedingungen 15—18 Tage beträgt, erniedrigt sich dieselbe im Winter auf wenige 
Tage; ebenso gehen sie im Boden und in Fäkalstoften nach wenigen Tagen zu Grunde, 
so dass ein Ueberdauern der Keime über den Winter hinaus sehr unwahrschein¬ 
lich ist. Ein Ueberwintern der Bazillen kann nur im mensch¬ 
lichen Körper stattfinden und besteht in einer Kette von 
immer neuen Erkrankungsfällen. Einzelne Glieder dieser Kette werden 
allerdings oft übersehen, namentlich leichte, anscheinend unbedeutende Durchfälle. 

Das endemische Vorhandensein der Cholera in Vorder- und Hinter-Indien 
erklärt sich, weil dort dauernd dieselben günstigen Bedingungen vorliegen, wie 
sie im August 1892 in Hamburg gegeben waren. Zum Beispiel finden sich in 
der Umgebung von Calcutta unzählige kleine, von den Hütten der Eingeborenen 
umgebene Teiche (Tanks), welche die Dejektionen aufnehmen und in denen die 
schmutzige Wäsche gewaschen wird. Das Wasser dieser Teiche wird auch zum 
Trinken benutzt und da in ihnen bei den lokalen und klimatischen Verhältnissen 
die Keime fortwährend wachsen und gedeihen können, so resultirt eine fort¬ 
dauernde Kette von Erkrankungen. Die Grundbedingungen für die Cholera in 
Indien zu beseitigen, wird schwerlich zu erreichen sein, um so mehr müssen wir 
uns deshalb mit der dauernden Gefahr der Einschleppung nach Europa ver¬ 
traut machen. 

Auf Befragen liess sich der Vortragende (Dr. Pfeiffer) auch über die 
Pettenkofer’sche Theorie aus. Der Ausgangspunkt für Pettenkofer war 
die Beobachtung, dass die Kurve der Typhus-Morbidität und Mortalität genau mit 
dem Steigen und Fallen des Grundwassers znsammenhing. Zunächst nahm 
Pettenkofer als Ursache des Typhus gasförmige Miasmen in Folge der Fäul- 
nissprozesse im Boden an und nach der Entdeckung der pathogenen Krankheits¬ 
erreger passte er seine Theorie dieser Thatsache an. Dass der Boden durch 
Benutzung allmählich fast- überall in den sogenannten siechhaften Zustand ver¬ 
setzt wird, darüber dürfte ein Zweifel nicht bestehen, anderseits sprechen aber 
die Untersuchungen in Bezug auf die Möglichkeit des Gedeihens der pathogenen 
Keime im Boden und Grundwasser ganz zu Ungunsten der Pettenkofer’schen 
Theorie. In der Tiefe von 2 m sind Boden und Grundwasser steril und die 
Thatsache, dass in der Tiefe, wo das Grundwasser auf- und abschwankt, Bakterien 
überhaupt nicht vorhanden sind, giebt der Theorie den Todesstoss. Dass z. B. 
Cholerakeime, welche etwa aus undichten Abortsgruben in den Boden gelangen, 
dort weiter gedeihen können, ist ausgeschlossen, weil die Temperatur des Bodens 
nicht dauernd 16 0 C. beträgt; denn selbst im Hochsommer ist in der Tiefe von 
2—3 m nur eine Temperatur von 6—8°C. vorhanden. Die Versuche von 
Esmarch haben bewiesen, dass Milzbrand-, Typhus- und Cholerakeime in solcher 
Tiefe im Boden keine Spur von Wachsthum zeigen. Aber selbst bei vorhandenem 
Wachsthum würden die Keime aus dem Boden gar nicht heraus gelangen 
können, denn eine Herausbeförderung durch das Steigen des Grundwassers oder 
durch die Luftströmung ist nicht möglich, ganz abgesehen davon, dass es in den 
oberen Bodenschichten ausserdem eine Unmasse von Bakterien giebt, die derartige 
Keime nicht aufkoinmen lassen werden. Selbst Sandfilter von nur 60—100 cm. 
Mächtigkeit machen bakterienhaltiges Wasser fast keimfrei trotz der verhält- 
nissmässig grossen Geschwindigkeit des Durchströmens; bei gewachsenem Boden 
ist die Durchströmung aber unendlich viel langsamer und derselbe filtrirt des- 



254 


Dr. Schlüter. 


halb noch viel vollständiger. Nach den Versuchen von Petri bleiben auch bei 
dem durch Au- und Absaugen (mittelst der Luftpumpe) bewirkten, mit grosser 
Geschwindigkeit erfolgenden Durchströmen von Luft durch ein Sandfilter, die 
Keime im Sande zurück. Typhus und Cholera sind von der Temperatur abhängig 
und deswegen ist das Zusammentreffen ihrer grössten Häufigkeit mit dem 
niedrigsten Grundwasserstande im Sommer und das seltene Auftreten bei dein 
hohen Grundwasserstande im Winter ganz natürlich; es gehen aber beide Er¬ 
scheinungen ohne inneren Zusammenhang einfach nebeu einander her. 

Was die klinischen und pathologischen Verhältnisse der 
Cholera anlangt, so findet man Erbrechen und Durchfall nicht in allen 
Krankheitsfällen, z. B. fehlen sie ganz bei den schweren Formen der Cholera 
sicca, wo durch die schwere Intoxikation vom Darmkanal aus die Vergiftung des 
ganzen Körpers zu akut ist, desgleichen in sehr leichten Fällen. So sind z. B. 
in Hamburg Kommabazillen bei Personen mit normalem Stuhlgange und ohne 
Erbrechen aufgefunden worden. 

In den typischen Fällen von Cholera finden sich regelmässig Vergiftungs¬ 
erscheinungen, welche auf einer Lähmung des Gefäss- und Temperatur - Centrums 
beruhen und nicht etwa von der Eindickung des Blutes in Folge des Wasser¬ 
verlustes durch Erbrechen und Durchfall herrühren. Die Prostration, Cyanose 
und Pulslosigkeit lassen sich nur durch die Einwirkung des von den Bazillen 
produzirten Giftes erklären. Als wichtige Erscheinung tritt bei den noch um¬ 
hergehenden Kranken eine geringe Spannung des Pulses auf, bei den schwerer 
Erkrankten ein Sinken der Temperatur häufig bis zu 34—35 °C., manchmal sogar 
bis 31 0 C. Es zeigt sich dann ein kolossaler Kollaps, wie er sich ähnlich nur 
bei Erfrierung oder bei zu langem Aufenthalte in eiskaltem Wasser findet. Dazu 
kommen fast regelmässig Muskelkrämpfe und Anurie (Wiederkehren der Urin¬ 
absonderung ist bekanntlich von guter Vorbedeutung); die Stuhlgänge sind sehr 
wässerig, nicht fäkulent, ähneln einer dünnen Hafersuppe und enthalten eine 
grosse Menge von Schleimflocken, welche aus abgestossenen Epithelien bestehen. 
Diese Schleimflocken enthalten die grösste Menge von Kommabazillen, und zwar 
besonders in den abgestorbenen und abgestossenen Epithelien. 

Bei der Sektion findet sich, wenn der Tod im ersten’ Stadium einge¬ 
treten ist, die Haut und Muskulatur trocken, das Blut verdickt, Peritoueum und 
Darmschlingen mit einer leiraartigen Masse überzogen, der Darm gleichmässig 
intensiv roth gefärbt und schwappend gefüllt, ferner Schwellung der Plaques und 
der solitären Follikel. Ist der Tod im späteren Stadium erfolgt, so findet man 
sekundäre Veränderungen z. B. metastatisehe Abscesse, Prozesse in den Lungen, 
diphtherische Erkrankungen der Darm- und Blasenschleimhaut. Es sind dies aber 
keine echte diphtherische Erkrankungen, .sondern Reaktionserscheinungen, 
Einwirkungen der Fäulnissbakterien, die nach Verlust der schützenden Epithel¬ 
decke des Darms durch die Cholerabakterien Zutritt in die Blutbahn erlangen. 
Die häufig auftretende und durch das Choleragift hervorgerufene parenchymatöse 
Erkrankung der Nieren und die Koagulationsnekrose sind nicht typisch. 

Eine Verwechselung nach dem Sektionsbefunde mit Cholera nostras 
ist leicht möglich, da sich diu Fälle so ähnlich sehen können, wie ein Ei dem 
andern. Auch mit Arsenik-, Fleisch- und gewissen Pilzvergiftungen liegt die 
Möglichkeit einer Verwechselung vor. Die Cholera nostras wird auch durch 
Bazillen, aber nicht durch dun Bacillus Finkler-Prior bedingt. Sie ist von der 
echten Cholera nicht ira Wesen, sondern nur durch den Krankheitserreger zu 
unterscheiden, auch giebt es keine Epidemien von Cholera nostras. (?) 

Weder klinisch noch pathologisch-anatomisch ist eine 
sichere Feststellung d e r (Mi o 1 e r a bei einem einzelnen Falle mög¬ 
lich. Erst wenn die Erkrankungsfälle sich häufen und epidemisch Auftreten, kann 
mit Bestimmtheit Cholera angenommen werden; dann kommt die Diagnose jedoch zu 
spät und die Massnahmen erfolgen post festurn. Von um so grösserer Bedeutung 
ist daher die bakteriologische Untersuchung; denn sie allein 
ermöglicht uns sofort beim ersten Erkrankungsfalle eine 
sichere Diagnose zu stellen. Je schneller die ersten Erkrankungsfälle 
aber festgesteilt werden können, desto sicherer ist eiue Weiterverbreituug der 
Seuche zu verhüten. 

Bei der Untersuchung empfiehlt es sich zunächst den mikroskopischen 
Befund aus dem Stuhlgang bezw. aus dem Darminhalt der Leiche festzustellen. 
Zu diesem Zwecke fischt inan eine Schleimflocke aus dein Sedimente heraus, bringt 



Epidemiologischer Kursus zur sanitttspolizeilichen Bekämpfung der Cholera. 265 


diese auf ein Deckglftschen, lässt sie auf demselben durch Hin- und Herziehen 
hoch über der Flamme unter gleichzeitigem Verreiben mit dem Platindrahte 
antrocknen. Man zieht das Deckgläschen dann noch 1—3 mal durch die Flamme 
und färbt hierauf das Präparat, wozu man am besten eine frisch bereitete 5°/ 0 
wässrige Verdünnung der Zie hl'sehen Fuchsinlösung an wendet, die man 
mindestens 6 Minuten lang einwirken lässt. Es treten dann die schöngefärbten 
Bakterien und Epithelzellen deutlich hervor, ln typischen Fällen, zu welchen 
gerade sehr oft die ersten Erkrankungen gehören, wird man meist eine Bein¬ 
kultur von Kommabazillen finden, oder Häufchen von Bazillen, die in gewissen 
Zügen angeordnet sind. Die Diagnose ist dann schon gesichert. 

Bei Sektionen empfiehlt es sich, die Schleimschicht des Darms mit dem 
Skalpell abzustreichen und auf dem Deckglas auszustreichen, da in dieser die 
Bazillen viel mehr enthalten sind, als im Darminhalt selbst, in dem sie ausser¬ 
dem nicht gleichmässig vertheilt sind. 

Unter Umständen ist die Diagnose aus dem mikroskopischen Befund 
schwierig, weil sich im Darmkanal bei Gesunden und Kranken den Komma¬ 
bazillen sehr ähnliche Bakterien vorfinden, welche nur der Geübte unterscheiden 
kann; dieselben sind morphologisch dünner, länger, an den Enden zugespitzt 
und stammen von den Spirochäten des Zahnschleims her; sie wachsen jedoch auf 
keinem uns bekannten Nährboden. Bei dem mikroskopischen Befunde 
giebt also nur das Auffinden von Kommabazillen in Reinkultur 
oder in typisch angeordneten Häufchen neben abgestorbenen 
Epithelzellen Sicherheit; in anderen Fällen muss das Urtheil bis nach 
Vornahme der Platlenkultur aufgeschoben werden. 

Bei der Anwendung des Platten-Verfahrens wachsen, wenn 
frische Stuhlgänge untersucht werden, oft zahlreiche charakteristische Kolonien, 
auch bei Vorhandensein von wenig Cholerabazillen, weil in derartigen Stuhlgängen 
ausser den Cholerabaziilen keine Bakterien Vorkommen, welche die Gelatine ver¬ 
flüssigende Kolonien bilden. Die Cholerakolonien aus frischen Stühlen sehen 
anders aus wie die aus Kulturen; bei den ersteren ist die Verflüssigung der 
Gelatine intensiver, während die aus Kulturen sich bildenden Kolonien das Ver¬ 
mögen der Verflüssigung oft verloren haben. Weil man diese Thatsache nicht 
genügend berücksichtigte, glaubte man z. B. in Nietleben im Anfang Cholera 
nostras vor sich zu haben. Die Aussaat bei der Plattenkultur geschieht 
mit Schleimflöckchen oder mit Abstrich von der Darmschleimhaut; die zu 
ebnutzende Gelatine muss stark alkalisch sein, so dass sich Lakmuspapier 
intensiv blau färbt. Zum Wachsen der Kolonien ist eine Temperatur von 
20 bis 23° C. erforderlich; das Zimmer muss daher entweder geheizt oder die 
Kulturen in der Nähe des Ofens aufgestellt werden. Nach 18 bis 20 Stunden 
kann man dieKolonien schon mit blossemAuge sehen. Unter dem 
Mikroskop erscheinen sie körnig, mit unregelmässig welliger Begrenzung, leicht 
grau und thoilweise glashell. Sie zeigen ferner häufig ein Zucken durch Geissel- 
bewegung der Bakterien, was besonders bei Abdämpfung des Lichtes sichtbar 
wird. Bei solcher Baschafi'enheit hat man bei frischen Stuhlgängen, in welchen 
andere Bazillen mit Verflüssigung der Gelatine nicht Vorkommen, unzweifelhaft 
Cholerabazillen-Kolonien vor sich und kann, selbst wenn nur eine einzige derartig 
charakteristische Kolonie gefunden wird, mit Bestimmtheit die Diagnose auf 
Cholera stellen. In 95°/ 0 der Fälle kommt man auf diese Weise zum sicheren 
Ziele. In den wenigen Fällen, in welchen bei frischem Stuhlgänge eine sichere 
Diagnose nicht möglich ist, sind besondere Störungen vorhanden, z. B. wenn im 
Stuhlgang das Bacterium coli, welches Säure produzirt und deshalb die Gelatine 
für die Cholerabazillen zum Wachsthum ungeeignet macht, zahlreich vertreten 
ist oder in den seltenen Fällen, wenn die Cholerabazillen atypisch wachsen. 
Diese Beobachtung ist in Hamburg und Altona am Ende der Epidemie gemacht, 
jedoch sind solche Fälle für die Praxis wegen der Seltenheit nicht schwer¬ 
wiegend. Vielleicht erklärt sich dieses atypische Wachsthum der Cholerabazillen 
dadurch, dass sie vorher längere Zeit im Wasser unter ungeeigneten Bedingungen 
gelebt und dadurch an Wirksamkeit cingebiisst haben. 

Bei alten Stuhlgängen oder, wenn denselben Flusswasser beigemischt ist, 
liegen andere Bedingungen vor durch die Gegenwart von anderen Bazillen, welche 
die Gelatine rasch verflüssigen, und deshalb ist die Untersuchung von Latrinen¬ 
inhalt und von infizirtem Wasser viel schwieriger. Gewöhnlich ist ja das zu 
untersuchende Wasser überhaupt stark mit Bakterien verunreinigt; in Hamburg 



256 


Dr. Schlüter. 


wurden z. B. im Elbwasser 40 —100 Tausend Keime in 1 ccbm. gefunden und 
darunter befanden sich viele die Gelatine stark verflüssigende Arten. Ans diesem 
Grunde muss man bei der Untersuchung von Latrineninhalt oder verdächtigem 
Wasser so Vorgehen, dass man die etwa darin enthaltenen Cholerabazillen in 
günstige Verhältnisse, unter welchen sie sich rascher wie die anderen Bazillen 
vermehren, bringt. Zu diesem Zwecke verwendet man eine 1 bis 2 prozentige, mit 
Kochsalz versetzte Peptonlösung und erwärmt dieselbe nach Zusatz des Latrinen* 
Inhalts im Brutschrank; die etwa vorhandenen Cholerabazillen steigen wegen 
ihres Sauerstoff bedürfuisses nach oben und bilden ein Häutchen, welches direkt 
nach Färbung mikroskopisch untersucht wird. Dasselbe Verfahren lässt sich auch 
bei der Untersuchung von Wasser anwenden, jedoch ist es hier nicht so sicher, 
weil im Wasser den Kommabazillen sehr ähnliche Bakterienformen ohne pathogene 
Bedeutung Vorkommen. Die Diagnose muss desshalb noch durch das Platten- 
Kulturverfahren gesichert werden. Wenn viele die Gelatine verflüssigende Bak¬ 
terien vorhanden sind, eignet sich übrigens eine Aussaat auf Agar besser, nur 
sind dann die Cholerakeime nicht so charakteristisch. 

Die Choleraroth-Reaktion, eine Indol-Beaktion, ist für die Prog¬ 
nose der Cholera ebenfalls nicht ohne Bedeutung. Dieselbe tritt bei dem Pepton¬ 
verfahren im Brutschrank eventuell schon nach 16—20 Stunden deutlich ein und 
findet sich sonst nur beim Vibrio Metschnikoff, welcher beim Menschen nicht 
vorkommt. Von Werth ist die Reaktion jedoch nur bei Reinkulturen, weil auch 
die Fäulnissbakterien die Eigenschaft besitzen Indol und gleichzeitig salpetrige 
Säure aus den Nitraten zu bilden. 

Der Choleraprozess ist, wie dies Koch gleich im Anfang der Ent¬ 
deckung des Bacillus ausgesprochen hat, eineVergiftung. Die Cholerabazillen 
durchschwimmen nie die Blutbahn wie bei Milzbrand, sondern sie wuchern auf 
der Oberfläche des Darms, in den Epithelzellen und auch in den Lieb er¬ 
kühn’sehen Krypten; dagegen dringen sie nicht tiefer in das Gewebe ein und 
nur bis zur Basalmembran. Wenn man sie durch Schütteln mit Chloroform¬ 
wasser oder durch Austrocknen abtödtet, so bleiben sie giftig, aber nicht mehr 
infizirend. Damit 'das Gift durch Eindringen in den Körper zur Wirksamkeit 
gelangen soll, muss eine Zerstörung der Epithelzellen des Darms durch die 
nekrotisirende Einwirkung der Bazillen vorhergehen. Zur Erklärung der leichten 
Fälle von Cholera hat die Ansicht viel wahrscheinliches, dass dann eine Zer¬ 
störung der Epithelzellen nicht stattgefunden hat. Ebenso kann man annehmen, 
dass die prädisponirenden Momente die Widerstandsfähigkeit dadurch herabsetzen, 
dass sie das Epithel vorher schädigen. Für die Bazillen der Cholera ist zunächst 
der saure Magensaft schädlich, dann müssen sie die im Darmkanal akklimatisirten 
Bakterien überwinden; schliesslich ist noch eine Nekrotisirung des schützenden 
Epithels erforderlich, damit das Gift der Bazillen durch Eindringen seine volle 
Wirkung äussern und einen schweren Cholerafall hervorrufen kann. 

Aehnlich wie hei anderen Infektionskrankheiten scheint durch einmaliges 
Ueberstehen der Cholera eine Immunität bedingt zu werden; die Immunität 
ist zwar noch nicht sicher erwiesen, aber es sind auch keine Erfahrungen für 
das Gegentheil bekannt. Jedenfalls tritt in Folge des Ueberstehens der Cholera 
eine Veränderung in der Blutbeschaffenheit ein; denn wenn man 4 bis 8 Wochen 
nach der Erkrankung an Cholera einem Menschen Blut entzieht, so verleiht 
das Serum des Bluses, wie durch Thierversuche festgestellt ist, Schutzkraft gegen 
eine Infektion mit lebenden Cholerabazillen. 

Will man die Cholera wirksam bekämpfen, so muss man vor allem die 
Lebenseigenschaften der Cholerabazillen genau kennen. Sie ge¬ 
deihen und wachsen nur bei einer bestimmten Temperatur, deren Minimum j. 6°C. 
ist, im Winter ist ein Wachsthum der Bazillen daher nur in geheizten Räumen 
oder im Darm des Menschen möglich. Lebens- und infektionsfähig bleiben sie 
allerdings für kurze Zeit auch im Winter, wie sich das in Nietleben gezeigt 
hat. Die Bazillen bedürfen ferner Sauerstoff und entwickeln sich nur, wenn 
Sauerstoff vorhanden ist, sie sind also nicht anaerob; für das Gegentheil ist 
der bekannte Versuch von Hüppe mit der Züchtung im Ei nicht beweisend, da 
die Eischale porös und für Luft durchgängig ist. Durch Eintrocknen sterben die 
Bazillen rasch und schon nach einigen Stunden ab, während sie sich in den 
Stuhlgängen durchschnittlich mehrere Tage lang halten. Im Wasser bleiben 
sie nur am Leben, wenn dasselbe Salze enthält, sie halten sich daher nur im 
Fluss- oder Brunnenwasser, während sie in destillirtem Wasser rasch absterben. 



Epidemiologischer Kursus zur sanitätzpolizeilichen Bekämpfung der Cholera. 257 


Id Altona blieben sie z. B. in einem Brunnen bei 8° C. 18 Tage lang lebend 
und infektionsfähig. In Flüssen halten sich meist am Bande auf, wo gerade das 
Gebrauchswasser entnommen wird. Sie können einige Meilen weit verschleppt 
werden, wenn aber über diese Entfernung heraus Erkrankungen auftreten, so 
muss man an eine Verschleppung durch Menschen denken. 

In schmutziger feuchter Wäsche halten sich Cholerabazillen lange und können 
sich sogar vermehren, da sie vor dem Austrocknen geschützt sind und öfter günstige 
Temperaturbedingungen antreffen. Eine Abkühlung auf kurze Dauer vertragen sie 
ganz gut, 0°C. und darunter jedoch nur einige Tage lang; dagegen werden sie 
durch desinfizirende Mittel, sogar schon durch die Salzsäure des Magens, ver¬ 
nichtet und man muss den Magensaft durch eine öproz. Sodalösung alkalisch 
machen, wenn sie den Magen ungefährdet passiren sollen. 

Dauerformen der Cholerabazillen kennen wir nicht, wenigstens ist bis jetzt 
noch keine Sporenbildung oder Theilung nachgewiesen. Ein Uebergangsstadium 
haben sie weder im Wasser, noch im Boden, sondern sie sind sofort nach dem 
Verlassen des menschlichen Körpers infektiös. 

Wenn eine Choleraepidemie langsam fortschreitet, muss man an direkte 
Uebertragung durch die Abgänge der Kranken denken, bei explosionsartigem 
Auftreten, also bei Massenerkrankungen, ist dagegen immer eine allgemeine 
Quelle durch das Gebrauchwasser zum Trinken, Spülen u. s w. anzunehmen. 
Auch die Milch, seltener Butter und Weichkäse, kann der Träger sein. Der 
Waarenverkehr ist nur für deii Nah- und Kleinverkehr zwischen Produzent und 
Konsument gefährlich. In dieser Hinsicht lehrt die Erfahrung aus der Hamburger 
Epidemie, dass eine Verschleppung nach entfernten Orten nur durch Personen 
und nicht durch Waaren stattgefunden hat. Dass die mit Dejektionen beschmutzte 
Wäsche, so lange sie sich in feuchtem Zustande befindet, besonders gefährlich 
ist, liegt auf der Hand, dagegen ist die Leiche eines an Cholera Gestorbenen 
nur dadurch gefährlich, weil sie mit Dejektionen beschmutzt ist. 

Für Epidemien von Cholera, welche durch das Gebrauchswasser 
hervorgerufen werden, ist charakteristisch, 1. der plötzliche massenhafte 
Ausbruch, 2. die Beschränkung auf das Gebiet der Wasserver¬ 
sorgung und 3. die gleichmässige Vertheilung in diesem Ge¬ 
biete. In dieser Beziehung haben die Epidemien in Hamburg und Nietleben 
genügende Beweise geliefert. 

Man hat früher beobachtet, dass einzelne Orte für Cholera immun waren, 
aber nach den jetzigen Erfahrungen sind verschiedene Städte, welche früher 
Choleraheerde waren, immun geworden und zwar besonders durch eine gute 
Wasserleitung, z. B. Halle a. S., Danzig und auch Altona. Der Boden spielt jeden¬ 
falls in dieser Beziehung keine Bolle und nicht einmal die Kanalisation, welche 
z. B. in Hamburg vorzüglich ist. Nietleben liegt z. B. aul einem Porphyrfelsen 
und nur die Gärtnerwohnung, deren Bewohner von der Cholera verschont blieben, 
hat Grundwasser; die Leute daselbst hatten auch von dem infizirten Leitungs¬ 
wasser getrunken, aber angeblich nur nach dem Essen, demnach zu einer Zeit, 
wo mehr Magensaft produzirt wurde. 

Was nun die gegen die Cholera wirksamen Schutzmass- 
regeln und die nothwendigen sanitätspolizeilichen Massnahmen 
betrifft, so stimmen die alten Anschauungen über die Infektionskrankheiten 
mit unserem heutigen Wissen nicht mehr überein; die frühere Eintheilung in 
kontagiöse, miasmatische und kontagiös- miasmatische Krankheiten ist jetzt hin¬ 
fällig geworden. Speziell die Cholera ist eine parasitische Krankheit sui generis, 
denn wo der Parasit nicht vorhanden ist, da ist keine Cholera 
möglich; der Parasit muss ausserdem in den Darmkanal gelan¬ 
gen. Die Cholera ist demnach eine Infektionskrankheit mit 
spezifischem Charakter undauf dieser Anschauung basiren die 
nothwendigen Schutzmassregeln. 

Eine Absperrung der Landesgrenze, etwa durch Truppenkordons, ist 
erfahrungsgemäss ganz unwirksam, die Verbreitung der Cholera auf dem Land¬ 
wege ist überhaupt weniger zu befürchten, als solche auf dem Wasserwege der 
Flüsse. Auch den Waarenverkehr im Grosshandel, den internationalen Verkehr, 
brauchen wir nicht zu stören und zu beunruhigen, ja sogar die gefürchteten Lumpen 
haben nicht die ihnen zugeschriebene Bedeutung für die Verschleppung der Seuche. 

Vor allem ist der cholerakranke Mensch in’s Auge zu fassen. Ein 
solcher Mensch im Inkubationsstadium ist anscheinend gesund und doch ist er 



258 


Dr. Schlüter. 


krank und kann andere Menschen infiziren; ebenso sind die leichten Erkrankungen 
an Cholera für die Verschleppung besonders gefährlich, da derartige Kranke oft 
noch weitere Reisen unternehmen und erst in Folge eines Diätfchlers hinterher 
schwer krank werden. Deshalb muss sich unsere Aufmerksamkeit auf diejenigen 
Menschen lenken, die ans Choleragegenden kommen; sie müssen für 5 Tage und 
zwar jeden Tag beobachtet werden, denn das Inkubationsstadium der Cholera 
beträgt 2—5 Tage. Eine solche Massregel ist für die praktischen Verhältnisse 
ausreichend, um sie jedoch durchzufilhren, ist für alle aus Choleragegenden 
zugereisten Personen die Meldepflicht bei der Ortspolizei 
behörde vorzuschreiben. 

Wenn zu Anfang eine ärztliche Inspektion dieser Personen stattgefunden 
hat, so genügt meist bei den gebildeten und zuverlässigen das tägliche Ein¬ 
ziehen von Erkundigungen und die Frage nach etwaigem Durchfall. Anders 
liegt die Sache bei umherziehenden Personen, Handwerksburschen, Hausirern, 
Zigeunern, Bummlern u. s. w., die^e sind ira Krankenhause oder in passenden 
Räumen zu isoliren und zu beobachten; auch sind dieselben durch Abschliessung 
der Klosets zur Benutzung eines Nachtstuhls zu veranlassen, damit eine bakte¬ 
riologische Untersuchung des Stuhlganges stattfinden kann. Es sind deswegen 
im Nothfalle getrennte Räume für Kranke und Verdächtige zu beschaffen. 
Die Cholera ist hauptsächlich eine Krankheit der Armen und solche Kranke 
sind am gefährlichsten. 

Besondere Aufmerksamkeit erheischen auch die Auswanderer und Ar¬ 
beitertrupps. Desgleichen ist der Verkehr auf den Wasserstrassen be¬ 
sonders in’s Auge zu fassen. Auf dem Wasser leben in Kähnen in Norddeutschland 
Tausende von Menschen — man kann ihre Zahl auf 10 bis 20 Tausend 
schätzen — und durch dieselben wird die Cholera gerade am leichtesten ver¬ 
schleppt. Von den 32 in Berlin im Vorjahre au Cholera erkrankten Personen 
waren 14 bis 15 Schiffer und die übrigen zugereiste Hamburger oder solche, die 
am Wasser zu thun hatten und auf dem Wasser zugereist waren. Im Jahre 
1892 waren deshalb auf den Wasserwegen Untersuchungsstationen eingerichtet, 
durch die eine einmalige tägliche Kontrole der Schiffer, Flösser u. s. w. garantirt 
wurde. Dieser Massregel schreibt Koch es zu, dass die Cholera sich im vorigen 
nicht in Deutschland eingenistet hat. Bei den Schiffen hat auch stets eine Des¬ 
infektion des Gefahr bringenden Kielwassers, welches die Schiffe mitschleppen, 
stattzufinden. Nach diesen Prinzipien sind auch die Schiffe in den Häfen zu 
behandeln; für den internationalen Verkehr ist dagegen festgesetzt, dass beson¬ 
dere Massregeln nur gegen infizirte Schiffe nöthig sind, deren Mannschaft isolirt 
und täglich untersucht werden muss. 

Die Basis aller sanitätspolizeilichen Massregel gegen 
die Cholera bildet die Anzeigepflicht der Aerzte für alle 
Fälle von Cholera und alle auf Cholera verdächtigen Fälle. 
Für die gemeldeten Fälle dieser Art ist die Diagnose so schnell als 
möglich bakteriologisch festzustellen und deshalb die schleunigste Ueber- 
sendung der Untersuchungsobjekte an die hierfür bezcichneten Institute erfor¬ 
derlich. Von der Untersuchung durch die Physiker ist abgesehen worden, weil 
ihre Untersuchungen zu lange, meist 5—6 Tage gedauert, so dass auf diese 
Art zu viel kostbare Zeit verloren gegangen und die nothwendige Bekämpfung 
der Krankheit zu spät erfolgt ist. 

Bis zur bakteriologischen Feststellung der Diagnose ist jeder angcmeldete 
verdächtige Erkrankungsfall wie echte Cholera zu behandeln. Ist bakteriologisch 
die Diagnose Cholera gestellt, so ist der Kranke am besten im Krankenhause 
zu isoliren oder wenn das nicht zu erzielen ist, so wird er im Hause isolirt und 
die übrigen Hausbewohner werden evakuirt und in passenden Räumen unter¬ 
gebracht, um dort täglich beobachtet zu werden. Eine derartige Evakuation 
und Isolirung ist selbstverständlich meist nur im Anfangsstadium oder am Ende 
einer Epidemie möglich. 

Während der Verkehr im Grosshandel keine Gefahr bringt und ohne Be¬ 
schränkung bleiben kann, gilt dies nicht für den Nahverkehr zwischen 
Produzent und Konsument, weil derselbe unter Umständen gefährlich ist, speziell 
ist die Ausfuhr von Milch, Butter und Weichkäse aus einem infizirten Orte zu 
verbieten. In Trotha waren z. B. die erkrankten Personen in einem Viehstalle 
beschäftigt, und es ergab sich, dass die Milchgefässe mit dem infizirten Saale¬ 
wasser gespült wurden. Im Uebrigen soll man den Nahverkehr nicht zu sehr 



Epidemiologischer Kursus zur sanitätspolizeilichen Bekämpfung der Cholera. 259 

beschränken; man braucht nicht zu ängstlich zu sein, auch wenn ein oder der 
andere Fall durch diesen Verkehr als entstanden deukbar wäre. 

Die Ueberwachung des Eisenbahnverkehrs ist so einfach wie mög¬ 
lich zu gestalten: Es genügt beim Uebertritt Uber die Grenze bei Gelegenheit der 
Zollrevision eine ärztliche Inspektion durch einfaches Ansehen, und erforderlichen 
Falls weitere Beobachtung verdächtiger Reisender am Ankunftsorte. Eine Des¬ 
infektion der Effekten hat keinen Zweck, weil sie in wirksamer Weise nicht 
durchführbar ist und alles Unnütze vermieden werden soll. Nach der inter¬ 
nationalen Uebereinkunft bleibt die Desinfektion auf Wäsche beschränkt, welche 
mit Cholera- oder verdächtigen Dejektionen beschmutzt ist. Eine Desinfektion 
der Dejektionen bei Benutzung der Klosets in den Bahnzügen ist praktisch 
nicht durchführbar und hat auch keine grosse Wichtigkeit, denn der Bahndamm 
ist ein fiir die Weiterentwicklung etwaiger auf ihm ausgestreuter Cholerakeime 
ungünstiges Terrain und die Gefahr ist nicht gross, dass sie von dort durch 
einen Regenguss in öffentliche Wasscrläufe gelangen. Dagegen ist bei Anwen¬ 
dung von Kübeln die Gefahr viel grösser, weil dann die Dejektionen gesammelt 
und auf einer Station desinfizirt werden müssen. 

Bei dem Flussverkehr ist nicht allein die Schiffs-, sondern auch die 
Uferbevölkerung zu überwachen, weil beide mit einander häufig in Verkehr 
stehen. Es kommen daher oft in der Nähe der Flüsse in kleinen Orten lokale 
Epidemien vor, welche durch diesen Verkehr entstanden sind und sich wegen 
der versteckten Lage der Orte leicht der Entdeckung entziehen, wie z. B. im 
vorigen Jahre in einem kleinem Orte an der Weichsel. Die Flösser auf der 
Weichsel und auf dem Rhein werden am zweckmässigsten in grossen Trupps 
mit Sonderzügen in die Heimath geschafft werden, was sich durch Gewährung 
von Fahrpreisvergünstigungen ebenso wie bei Auswanderern leicht er¬ 
reichen lässt. 

Beim Auftreten eines einzelnen Falles von Cholera ist jedesmal nach der 
Quelle des Infektion zu forschen und hei jedem weiteren Falle den Faden der 
Infektion zu verfolgen. Wenn die Annahme richtig ist, dass die Cholera bei uns 
nicht überwintern kann, so ist die Ausrottung jedenfalls leichter, wenn sie auch im 
Sommer bei Epidemien grösserer Art kaum durchführbar sein dürfte. Bei der Epi¬ 
demie von 1892 ist zum ersten Male festgestellt, dass die Bazillen bei den erkrankt 
gewesenen Personen, ähnlich wie bei der Diphtherie, längere Zeit haften; sie 
sind bis zu 18 Tagen in den Stuhlausleerungen Erkrankter nachgewiesen, so dass 
die Genesenen im Anfang und gegen Ende der Epidemie eigentlich nicht vor 
Ablauf von 3 Wochen aus der Isolirung entlassen werden dürfen. 

Die Desinfektion soll sich auf die Dejektionen der Kranken und die 
mit ihnen verunreinigten Sachen erstrecken, auf das Schmutz- und Waschwasser, 
Kleider und Wäsche. Es kommen hauptsächlich Flüssigkeiten in Betracht, 
weil die Fäkalien meist gar nicht in die Latrinen, sondern in die Wäsche und 
deren Spülwasser gelangen. 

Als Desinfektionsmittel steht der Aetzkalk an der Spitze, weil er 
überall am leichtesten zu beschaffen und am billigsten ist und nicht wie die 
Karbolpräparate monopolisirt werden kann. Die rohe Karbolsäure muss durch 
Mischung mit Kaliseife oder Schwefelsäure in Wasser lüsslich gemacht werden. 
Verdünnte Mineralsäuren sind gleichfalls brauchbar; bei Kreolin, Lysol und ähn¬ 
lichen Mitteln aus Kresolen ist zu beachten, dass sie nicht zu viel verdünnt 
werden dürfen, weil sie schon Wasser enthalten; also mindestens 5°/ # Lösungen. 

Die Kleider, Betten und Matratzen werden in Dampfapparaten 
desinfizirt. Solche Apparate sind als stationäre einzurichten, müssen mit */* Atmos¬ 
phäre Ueberdruck arbeiten, zweckmässig aufgestellt und gut bedient werden. 

Die Wäsche muss immer mit Dampf oder Karbolseifen-Lösung desinfizirt 
sein, ehe sie an die Wäscherinnen gelangt. 

Die Latrinen desinfizirt man mit Kalkmilch unter Umrtthren, bis der 
ganze Inhalt kräftig alkalisch reagirt, später genügt der tägliche Zusatz von 1 1. 
Kalkmilch. Beim Herrschen einer Choleraepidemie soll keine Entleerung der Ab¬ 
trittsgruben, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist, stattfinden und eine Desinfek¬ 
tion derselben ist natürlich nur da erforderlich, wo Cholera vorhanden ist. Jede 
nnnöthige Desinfektion ist überhaupt zu vermeiden, da sie die Mittel vergeudet 
und falsche Sicherheit giebt. 

Hinsichtlich der für die Desinfektion am meisten in Betracht kommenden 
und deshalb sorgfältig zu behandelnden Schmutzwässer ist zu bedenken, 



260 


Dr. Schlüter. 


dass alle Desinfektionsmittel zur Bntfaltung ihrer Wirkung eine gewisse Zeit, 
etwa eine Stunde, erfordern und es müssen deshalb zur Mengung mit den Mitteln 
mehrere Behälter zur Verfügung stehen. 

Die Wände und Decken der Wohnungen sind, wo es angeht, mit Kalk- 
zu behandeln, die Möbel mit Kaliseifenlösung abzuwaschen; Ledertheile und 
Wagen werden mit Karbollösung besprengt und durch Austrocknen, besonders 
in der Sonne, desinfizirt. 

Zur Desinfektion ungeeignete Sachen, besonders nicht werthvolle, werden 
verbrannt und der Eigenthümer wird entschädigt. 

Die Leichen von an Cholera gestorbenen Personen sind in mit Chlor¬ 
kalklösung getränkte Tücher zu hüllen, der Boden des Sarges ist mit Säge- 
spänen, auf welche Chlorkalk gestreut wird, zu bedecken und der SaTg zu Ver¬ 
pichen; bei solchen Vorsichtsmassregeln ist ein Transport der Leiche nicht gefährlich 
und eine Abkürzung der Beerdigungsfrist nicht nothwendig. Das Waschen der 
Leiche ist zu verbieten, wenn es nicht mit stark desinfizirenden Lösungen 
geschieht, ebenso der Aufenthalt des Leichengefolges im Trauerhause. Im Erd¬ 
boden ist die Leiche nicht mehr gefährlich und daher keine Feuerbestattung 
erforderlich; solange diese nicht allgemein durchgeführt wird, bietet sie über¬ 
haupt keine Vortheile und ist für die Hygiene gleichgiltig. 

Als Vorbeugungsmittel ist die Sorge für gutes und keim¬ 
freies Trinkwasser am wichtigsten. Eine Central-Wasserleitung 
ist gefährlich, wenn sie kein keimfreies Wasser liefert. Die Sandfilter haben sich 
ni Altona, welches eine der bestgeleiteten Wasserleitungen besitzt, bei sorgfäl¬ 
tiger Handhabung bewährt, was umsomehr hervorgehoben werden muss, weil das 
Wasser an der Entnahmestelle stark verunreinigt ist. Aber trotz der sorgfältigen 
Ueberwachung entstand daselbst eine Nachepidemie, weil ein Sandfilter durch 
Einfrieren nicht genügend filtrirte. Aus diesem Faktum ergiebt sich die Lehre, 
dass bei unserm Klima überdachte Filter vorzuziehen sind. Es ist ausserdem 
eine Kontrole des Filtrates nothwendig, welche in der täglich vorzunehmenden 
bakteriologischen Untersuchung des Wassers von jedem einzelnen Filter bestehen 
muss, wenigstens in Zeiten der Gefahr und da, wo gefährliches Wasser gebraucht 
wird. Das zu untersuchende Wasser muss gleich nach dem Austreten aus dem 
Filter entnommen werden und dürfen nicht mehr als 100 Keime in 1 ccm ent¬ 
halten sein. Jedes schlecht funktionirende Filter muss vom Beinwasser-Be- 
servoir ausgcschaltet werden. Keimfreies Wasser nimmt in der Leitung durch 
Berührung mit der Luft zwar nachträglich wieder Keime auf, die jedoch un¬ 
gefährlich sind, wenn nicht Infektionsstoffe hineingelangen. 

Das Grundwasser ist filtrirtes Wasser und das Filtriren dauert bei 
feinkörnigem Boden vielleicht Monate lang, so dass eine derartige Filtrirung der 
künstlichen voransteht und keimfreies Wasser liefert. Eine nachträgliche Infi- 
zirung des keimfreien Grundwassers kann bei grossen Anlagen, wenn auf der 
Entnahmestelle keine Menschen wohnen, leicht ausgeschlossen werden. In der 
Nähe von Wasserläufen fiiesst das Grundwasser mit dem Strom, wird aber nicht 
dadurch verunreinigt, da es mit dem Flusswasser nicht direkt kommunizirt, denn 
auf dem Flussboden befindet sich eine undurchlässige Schlammschicht. Das 
Grundwasser ist meist eisenhaltig, und es lagert sich beim Zutritt der Luft und 
dem Stagniren in den Wasserleitungsröhren Eisenschlamm ab. Bei Einzelent¬ 
nahme von Wasser muss man dafür sorgen, dass das reine Grundwasser nicht 
nachträglich verunreinigt und infizirt wird, was am sichersten beiBohrbrnnnen 
vermieden werden kann. Die Kesselbrunnen sind deshalb so gefährlich, 
weil sie meist durch Hereinfliessen von unreinem Wasser von oben her oder von 
der Wandung aus, zumal im Winter bei gefrorenem Erdreich, verunreinigt 
werden; die Ummauerung ist nicht undurchlässig herzustellen, weil sie der Ein¬ 
wirkung des Frostes ansgesetzt ist. Bei Kesselbrunnen muss man deswegen 
ein Bleirohr in die Wasserschicht leiten und einen Abschluss nach oben hin 
hersteilen. Dies wird erzielt, indem man durch Hineinschütten von Kies und Sand 
nach oben hin ein Filter bildet oder zu demselben Zwecke das Bleirohr über 
dem Wasserstande durch die Wandung des Brunnens nach aussen seitlich ableitet, 
darüber abdeckt und Sand aufschüttet. Brunnen werden am besten unter die 
erste isolirende bis in die zweite wasserhaltige Schicht, also bis in die Kies¬ 
schicht geführt; eisenhaltiges Wasser kann vom Eisen mittelst Filtrirung durch 
Koks und Sand befreit werden, wie man das auch in Hamburg ausgeführt hat. 

Die Massregel, das Trink- und Brauchwasser vor dem Genuss abzu- 



Epidemiologischer Korsos zur samtätspolizeilichen Bekämpfung der Cholera. 261 

kochen, ist immer nnsicher, da sie omgangen wird; in Nietleben war diese 
Anordnung auch im Sommer 1892 getroffen nnd wurde zunächst befolgt, dagegen 
später nicht mehr, als die Gefahr vorüber zu sein schien. 

Wenn das Resultat der chemischen Untersuchung eines Brunnen* 
wassere schlecht ist, so ergiebt sich, dass der Brunnen sich in gefährlicher Nähe 
einer ekelhaften Vernnreinignngsstelle befindet, jedoch wird das Wasser nur 
infizirend, wenn es pathologisch wirksame Keime enthält. 

Das Eis ist nicht gefährlich, wenn es einige Zeit gelagert hat, da die 
Cholerabazillen eine derartige Kälte nur drei Tage lang aushalten, bei Typhus 
dessen Keime widerstandsfähiger sind, ist eine Infektion leichter möglich. 

Das Baden in infizirtem Wasser ist unbedingt zu verbieten. 

Hinsichtlich der Assanirungsmassregeln ist vor allem die Rein¬ 
haltung des Bodens in den Ortschaften wichtig. Zur Wegschaffnng der Abfall¬ 
stoffe und Schmutzwässer ist das Rieselsystem das beste Verfahren, wenn 
es auch nicht absolut reines Wasser liefert, weil dabei der Boden schliesslich zu 
sehr überlastet wird und an einzelnen Stellen versagt; ausserdem bleibt die 
Verunreinigung der öffentlichen Wasser durch die Nothauslässe bestehen. 

Das Klär ung sv er fahre n desinfizirt nicht, weil der Kalk zu kurze 
Zeit einwirkt und weil zu rasch Fällungsmittel zugesetzt werden. Wenn keine 
Cholera vorhanden ist, braucht man hinsichtlich der Schmutzwässer nicht zu 
ängstlich zu sein, da wir eine Verunreinigung der Flüsse doch nicht verhüten 
können. 

Das Abfuhrsystem berücksichtigt nur die Fäkalien und gar nicht die 
wichtigen Schmutzmässer. 

In Betreff der Wohnungshygiene ist Reinlichkeit nothwendig. 
Wichtig ist ferner, einer Ueberfüllung der Wohnungen vorzubeugen, da 
diese Unreinlichkeit im Gefolge hat und bei Cholera leichter eine unmittelbare 
Uebertragung von Mensch zu Mensch hervorruft, während dieselbe sonst mehr 
durch Wasser oder Nahrungsmittel erfolgt. In Hamburg herrschte die Krank¬ 
heit sogar weniger in den alten Qnartieren, als in den modernen übervölkerten 
Miethskasernen. Auch bricht die Cholera mit Vorliebe in geschlossene Anstalten 
ein, in welchen eine Menge von Menschen den gleichen Bedingungen unterworfen 
sind. Dazu kommt, dass die unteren Volksklassen, die hauptsächlich in über¬ 
füllten Wohnungen wohnen, der Belehrung in Bezug auf die Voreichtsmassregeln 
gegen die Cholera schwer oder garnicht zugängig sind. 

Während des Kursus fanden ausserdem noch zahlreiche Demon¬ 
strationen statt. So demonstrirte am ersten Tage Herr Privat- 
Dozent Dr. Pfeiffer eine Cholerakultur, ein Präparat aus Cholera¬ 
stuhl, welches fast Reinkultur war und ein zweites mit Anordnung 
der Kommabazillen in Zügen. Am zweiten Tage zeigte Herr 
Professor Dr. Pfuhl den Thierversuch und wurden 3 Meerschwein¬ 
chen mit einer auf Agar gewachsenen Cholerakultur von der Bauch¬ 
höhle aus vergiftet Am letzten Tage führte derselbe die Theilnehmer 
des Kursus in eine der Baracken des Instituts für Infektionskrank¬ 
heiten, erörterte deren Bau und Einrichtung und zeigte schliesslich 
den Dampfdesinfektionsapparat des Instituts im Betriebe. Dabei hob 
er hervor, dass man bei derartigen Apparaten das Hauptgewicht 
auf die Zuleitung des Dampfes von oben her und auf das Arbeiten 
mit überspanntem Dampfe legen müsse. 


Nach Drucklegung des vorstehenden Referates wurde dem 
Herausgeber der Zeitschrift noch von anderer Seite ein gleicher 
Bericht über denselben Kursus zugeschickt. Von einem voll¬ 
ständigen Abdruck desselben musste, um Wiederholungen zu ver¬ 
meiden, leider Abstand genommen werden; wir bringen daher nur 
den Schluss desselben, in dem einige von H. Geheimrath Dr. Koch 
bei Gelegenheit der Kurse den Medizinalbeamten gemachten Vor- 



262 Die Frage der Vornntersuchuugen in der Wohnung d. Medizinaibeamten etc. 

würfe näher besprochen und zurückgewiesen werden. Der Bericht¬ 
erstatter schreibt: 

„Zum Schluss mögen an dieser Stelle nochmals die von Herrn 
Geheimrath Dr. Koch in den Kursen den Medizinal - Beamten 
gemachten Vorwürfe als vollständig unbegründet zurückgewiesen 
werden. Dass die Medizinalbeamten durch ihre Lauheit und Un- 
thätigkeit mit daran Schuld getragen hätten, dass der erste Ent¬ 
wurf des Reichsseuchengesetzes im Bundesrathe abgeändert sei, 
dieser Vorwurf Koch’s wird jedenfalls sämmtlichen Kollegen ebenso 
neu und ungerechtfertigt, wie den Theilnehmern des Kursus er¬ 
scheinen. Noch erstaunter waren aber diese und dürften 
sicherlich alle übrigen Medizinal - Beamten sein über die von Koch 
in den Kursen ausgesprochene Verwunderung und Missbilligung, 
dass keiner der preussischen Physiker im vorigen Jahre die Ge¬ 
legenheit wahrgenommen habe, eine so bedeutende und lehrreiche 
Epidemie, wie die Hamburger jüngste Choleraepidemie, persönlich 
an Ort und Stelle zu studiren. Mit Recht wurde sofort beim Aus¬ 
spruche dieses Vorwurfes von einem älteren, wohl erfahrenen 
Medizinalbeamten entgegnet, dass die Physiker zu dieser Zeit seit 
langem wirklich einmal unentbehrlich gewesen seien und 
ihren Wirkungskreis angesichts der drohenden Gefahr keineswegs 
hätten verlassen dürfen, ganz abgesehen davon, dass ein etwaiges 
Urlaubsgesuch auch abschläglich beschieden worden wäre. Von 
Herrn Geheimrath Koch, den wir preussischen Physiker stets 
als mit Stolz aus unserer Mitte hervorgegangen betrachten und 
von dem wir ein regeres Verständniss der augenblicklich unge¬ 
nügenden Stellung der Physiker in Preussen aus eigener An¬ 
schauung erwarten durften, hätten wir solchen Vorwurf um so 
weniger erwartet, als dieser im völligen Widerspruch steht mit 
der s. Z. von Allerhöchster Stelle öffentlich zum Ausdruck ge¬ 
brachten ehrenden Anerkennung der hervorragenden und auf¬ 
opfernden Thätigkeit der Medizinalbeamten zur Zeit der letzten 
Choleraepidemie.“ 


Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung des Medizinal¬ 
beamten bei Abgabe mündlicher Gutachten im Termin. 

Wir bringen nachstehend drei, von Kollegen uns zur Verfü¬ 
gung gestellte gerichtliche Entscheidungen, die vom Landes- 
gericht in Duisburg, von dem Königl. Kammergericht 
in Berlin und von dem Reichsgericht in der Frage betreffs 
der Gebühren für Voruntersuchungen in der Wohnung des Medi¬ 
zinalbeamten bei Abgabe mündlicher Gutachten im Termin getrof¬ 
fen sind: 

I. Beschluss des Landgerichts in Duisburg vom 
10. September 1892. 

Der Kreisphysikus Dr. Marx in Mühlheim war auf Antrag 
der Königl. Staatsanwaltschaft vom Königl. Amtsgericht in Folge 



Die Fratre der Voruntersuchungen in der Wohnung il. Medizinalbeamleu etc. 2f> > 

des Ministerialerlasses vom 13. Juli 1892 zur Rückzahlung: von 
Gebühren für Voruntersuchungen in 4 Füllen aus dem Jahre 1889 
aufgefordert. Gegen diesen Antrag erhob er bei dem Königl. 
Landgericht in Duisburg Beschwerde und begründete dieselbe 
folgendermassen: 

„1. Die in Frage stehenden, im Aufträge des Gerichts gemachten Vor¬ 
untersuchungen mussten vor dem Terminstage vorgenommeu werden; es sind 
neben und ausserhalb des Termins von mir geforderte Leistungen, welche 
n i cjhjt zur Obwartung des Termins gehören, und für welche mir demgemäss im 
Verhältuiss zu Mühe und Zeitvers&umniss eine Entschädigung zusteht. Ich berufe 
mich hierbei auf die Entscheidung des Reichsgerichts vom 19. April 1888 
(juristische Wochenschrift 1888 Nr. 13 und 14 S. 215). 

2. Will man, entgegen dieser Entscheidung der Ansicht der Königl. 
Staatsanwaltschaft beitreten, dass für derartige Voruntersuchungen §. 6 (Gebühren 
für Vorbesuche) des Gesetzes vom 9. März 1872 keine Anwendung finden 
kann, so muss der Gebührenanspruch zugebilligt werden nach §§.3 — 5 der 
Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige vom 30. Juni 1878 unter 
Berücksichtigung der mit den fraglichen Geschäften verknüpften Zeitversäumniss, 
denn derartige Untersuchungen im Aufträge der Gerichtsbehörden gehören nicht 
zu den vom Gesetz besonders bestimmten Dienstleistungen, zu welchen der Mc- 
dizinalbeamte unentgeltlich verpflichtet ist. 

3. Untersuchungen in der Wohnung der zu Untersuchenden sind häufig 
unmöglich, unzweckmässig und nicht im Interesse der Sache wegen unpassender 
Räumlichkeit, Mangel an Licht, je nach Art der Untersuchung auch mit Rück¬ 
sicht auf die Umgebung (worauf insbesondere bei Untersuchungen von kindlichen 
Geschlechtsteilen Rücksicht zu nehmen), wegen des notwendigen Gebrauchs 
von Instrumenten, Spiegel, (letzteres besonders bei Untersuchungen auf Schleim, 
Eiter, Trippergift, Samenflecken etc.). Thatsächlich ist es mir wiederholt vorge¬ 
kommen, dass ich bei Vor besuchen die zu Untersuchenden in meine Wohnung 
bestellen musste, weil aus obigen Gründen die Untersuchung in der Wohnung 
der Leute nicht möglich war. 

Es müsste im höchsten Grade unbillig und ungerecht erscheinen, auch dem 
Interesse der Sache widerstreben, wollte man deshalb dem Medizinalbeamten 
die Gebühren entziehen. 

4. Die Reflexionen der Königl. Staatsanwaltschaft auf die Gebühren für 
Erstattung eines schriftlichen Gutachtens sind meines Erachtens nicht zu¬ 
treffend. Diese Gebühren bewegen sich zwischen 6 und 24 M. Wenn auch die 
höheren Sätze „insbesondere“ — nicht etwa „nur“ — dann zu bewilligen sind, 
wenn die Untersuchung, resp. das Gutachten besonders schwierig und zeitraubend 
ist, mikroskopische und andere Instrumente etc. erfordert, so kommen doch in allen 
anderen Fällen nicht immer der niedrigste, sondern die niederen Sätze 
in Anwendung und der Niedrigste nur da, wo es sich um ganz einfache, wenig 
Zeit und Mühe erfordernde Gutachten handelt, gleichviel ob die vorherige Unter¬ 
suchung einer Person oder Sache damit verbunden ist oder nicht. Letzteres ist 
oft genug nicht der Fall. Wo dies aber nöthig ist, wird der Gutachter fast 
stets unbeanstandet 9 M. liquidiren können, (d. i. gleich einem Vorbesuch und 
Terminsabwartung); und dabei kann er sich die Zeit zur Abfassung des Gut¬ 
achtens nach Belieben mit Rücksicht auf seine Zeit wählen, so dass er keine 
Schädigung durch Versäumniss hat. 

Uebrigens sind, wie bereits oben bemerkt, die Voruntersuchungen für 
gerichtliche Termine oft genug schwierig und mühevoll, erfordern Mikroskop 
und andere Instrumente, so dass in vielen Fällen die beanspruchte Gebühr von 
3 M. bescheiden genug erscheint.“ 

Dieser Beschwerde wurde seitens der Strafkammer des König¬ 
lichen Landgerichts in Duisburg durch Beschluss vom 10. Sep¬ 
tember 1892 stattgegeben unter Aufhebung der vom Amtsgericht 
erlassenen Verfügungen aut Rückzahlung der Gebühren. Das 
Urtheil lautet wie folgt: 

„In den genannten drei Untersuchungssachen war vor den Terminen vom 



264 Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc. 


2. Oktober, 20. November und 23. April 1889 amtsrichterlich die Untersuchung 
bestimmter Personen und zwar in der Sache gegen Fr. zweier Personen 
dem Beschwerdeführer in seiner Wohnung übertragen und erhielt derselbe für 
den empfangenen Vorbesuch je 3 M. und in der Sache gegen Fr. 6 M. auf 
die Kasse angewiesen und gezahlt In Folge Erinnerung der Königlichen Ober¬ 
rechnungskammer hat die Königliche Staatsanwaltschaft zu Duisburg gegen diese 
Anweisung Beschwerde erhoben und das Amtsgericht durch Verfügung vom 
10. September 1892 den Dr. Marx aufgefordert, in 2 Fällen je 3 M. und in 
einem Falle 6 M. der Gerichtskasse zu erstatten. Hiergegen erhebt Dr. Marx 
Beschwerde mit dem Anträge, die Berechtigung der gezahlten Gebühren anzu¬ 
erkennen und den Antrag der Königlichen Staatsanwaltschaft abzulehnen. 

Die Beschwerde ist für begründet gehalten. 

Nach §. 13 der Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige vom 

3. Juni 1878 ist für Gebührenfestsetzungen der von den Gerichten den Medizinal¬ 
beamten übertragenen Geschäfte das preussische Gesetz vom 9. März 1872 auf¬ 
recht erhalten. Nach §. 3 1 dieses somit Anwendung findenden Gesetzes haben 
die Medizinalbeamten für Abwartung eines Termins 6 M. und bei längerer Dauer 
von drei Stunden für jede ganze oder angefangene Stunde 1,50 M. zu liquidiren. 

Nach §. 6 daselbst ist, wenn zu der verlangten sachkundigen Ermittelung 
besondere Vorbesuche nöthig sind, falls nicht die Voraussetzungen für Reisekosten 
und Tagegelder vorliegen, für jeden Vorbesuch eine Gebühr von 3 Mark zu 
bewilligen. 

Hier ist in Frage, oh unter Vorbesuch nur der von dem Medizinalbeamten 
gemachte oder auch der in seiner Wohnuug empfangene zu verstehen ist. 

Das Beschwerdegericht hat diese letztere Auslegung angenommen. Denn 
einmal spricht hierfür der Wortlaut des §. 6, wonach für jeden Vorbesuch, 
wenn nicht Tagegelder und Reisekosten liquidirt werden dürfen, eine Gebühr 
von 3 Mark zu bewilligen ist, so dass also unter „Vorbesuch* im weitesten 
Sinne sowohl der gemachte, als auch der empfangene zu sub- 
stituiren ist. Ferner spricht hierfür, dass der §. 3 l , der für Abwartung 
eines Termins eine Vergütung von 6 M. festgesetzt, nur für die terminliche 
Thätigkeit Entschädigung bietet. 

Wenn im Allgemeinen auch richtig sein mag, dass dem Sachverständigen 
die Art und Weise, auf welche er sich das für sein Gutachten erforderliche 
Material zu verschaffen suchte, zu überlassen ist, so ist hiervon im vorliegenden 
Falle abgewichen, da der Sachverständige den richterlichen Auftrag zur Unter¬ 
suchung vor dem Termine in seiner Wohnung erhalten hat. Durch die Erledi¬ 
gung dieses Auftrages ist dem Sachverständigen eine besondere Mühewaltung 
erwachsen, für welche der §. 3 keine Vergütung trifft und auch eine andere 
Entschädigung als aus §. 6 in dem Gesetze, insbesondere aus §. 10, nicht 
enthalten ist. Es würde somit bei einer Unterscheidung der Vorbesuche in 
gemachte und empfangene für einen gemachten Vorbesuch 3 M. und für einen 
empfangenen nichts zu liquidiren sein. Die Mühewaltung des Arztes scheint aber 
wenigstens als Regel dieselbe zu sein, ob sie sich bei einem gemachten oder 
einem empfangenen Vorbesuche äussert; bei dem letzteren könnte sie dadurch 
noch intensiver werden, dass dem Arzte seine Hülfsmittel zugänglicher gemacht 
sind. Da der Sachverständige überhaupt nach §. 3 der Gebührenordnung vom 
30. Juni 1878 für seine Bestimmungen eine Vergütung erhält, der Medizinal¬ 
beamte für den empfangenen Vorbesuch aber nicht vergütet werden soll, so 
würde die Vergütung für den gemachten Vorbesuch sich nur auf den Umstand 
gründen lassen, dass der Sachverständige in letzterem Falle einen Weg zurück¬ 
gelegt hat, für welchen jedoch nur unter den Voraussetzungen zu liquidiren ist, 
wenn Tagegelder und Reisekosten liquidirt werden dürfen. Somit hat der §. 6 
ohne Rücksicht auf den Weg für die ärztliche Leistung eine Vergütung von 3 M. 
für jeden Vorbesuch bestimmt und ist daher dieser Betrag auch für den em¬ 
pfangenen Vorbesuch mit Recht angewiesen. 

Diese Auffassung steht auch dem Beschlüsse des Reichsgerichts vom 
19. April 1888 nicht entgegen und kann den in der Beschwerdeschrift der 
Königlichen Staatsanwaltschaft entwickelten Gründen, worin insbesondere auf 
den Erlass des Justizministeriums vom 15. Juli 1892 Bezug genommen wird, nicht 
beigetreten werden.“ 



Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc. 265 

II. Beschluss des Kammergerichts vom 20. Dezember 1892. 

Der Augenarzt Dr. Cr. in Kottbus war gerichtsseitig beauf¬ 
tragt, ein mündliches Gutachten im Termin als Sachverständiger 
über einen Augenverletzten abzugeben und zu diesem Zwecke 
vorher in seiner Wohnung eine Untersuchung des Verletzten auf 
seinen Sehzustand vorzunehmen. Der für die Untersuchung (3 M.) 
liquidirte Betrag war ihm auch zunächst anstandslos ausbezahlt 
worden; auf Grund des vorerwähnten Justitz-Ministerialerlasses 
aber später wieder gestrichen. Eine dagegen erhobene Beschwerde 
wurde von dem Königl. Landgerichte in Kottbus als begründet 
anerkannt und die Gerichtskasse zur Auszahlung des liquidirten 
Betrages von 3 M. angewiesen. Gegen diesen Beschluss wurde 
vom Oberstaatsanwälte Beschwerde beim Kammergericht erhoben, 
von diesem der Beschluss des Landgerichts wieder aufgehoben 
und dem Anträge des Oberstaatsanwalts gemäss auf Rückzahlung 
der Gebühren erkannt. Der betreifende Beschluss des Kammer¬ 
gerichts (IX. Civilsenat) vom 20. Dezember 1892 lautet wie folgt: 

„Durch Beschloss der m. Civilkammer des Königlichen Landgerichts za 
Cottbas vom 4. Juli 1892 war die Vernehmung des Augenarztes Dr. Cr. 
daselbst als Sachverständigen darüber angeordnet worden, ob der von dem Mit¬ 
beklagten Sch. abgegebene Pfeilschuss unmittelbar den Verlust des linken 
Auges des Klägers zur Folge gehabt habe oder nicht. Der Sachverständige 
beantragte darauf, zu veranlassen, dass ihm der Kläger einige Tage vor dem 
auf den 29. September 1892 anberaumten Termine zn einer Untersuchung vor¬ 
gestellt werde. Dies ist denn auch in der Wohnung des Arztes geschehen. Für 
die Untersuchung liquidirte dann der Sachverständige ein Gebühr von 3 M., für 
die Wahrnehmung des Termins eine solche von 6 M., zusammen 9 M. Mit 
Rücksicht auf den Runderlass des Herrn Justizininisters vom 13. Juli 1892 — 

I. 3346 — setzte jedoch der beauftragte Richter die Gebühr nur auf 6 M. fest* 
In Folge der hiergegen von dem Sachverständigen erhobenen Erinnerung hat die 
bezeichnete Civilkammer durch Beschluss vom 7. Oktober 1892 die Gerichtskasse 
zu Kottbus angewiesen, dem Sachverständigen Augenärzte Dr. Cr. für die vor 
dem Termine am 26. September 1892 an dem Knaben A. vorgenommene Unter¬ 
suchung die liquidirten 3 M. zu zahlen. 

Hiergegen hat die Oberstaatsanwaltschaft bei dem Königlichen Kammer 
gerichte in Vertretung der Staatskasse Beschwerde mit dem Anträge eingelegt- 
den vorbezeichneten Beschluss aufzuheben und die von dem Augenärzte Dr. Cr. 
gegen die Gebührenanweisung vom 29. September 1892 geführte Beschwerde 
vom 1. Oktober 1892 zurückzuweisen. 

Zur Begründung der Beschwerde hat sie lediglich auf die Ausführungen 
des gedachten Runderlasses Bezug genommen. 

Die Beschwerde ist, sofern man annimmt, dass die genannte Civilkammer 
nur an Stelle des von ihr beauftragten Richters die in §. 17 Absatz 2 der Ge¬ 
bührenordnung für Zeugen und Sachverständige vom 30. Juni 1878 vorgesehene 
Berichtigung der ursprünglichen Gebühren festsetzung — in Folge der von dem 
Sachverständigen Dr. Cr. erhobenen Erinnerung vorgenommen hat, als die in 
§. 17 Absatz 3 dieses Gesetzes zugelassene Beschwerde an sich statthaft, auch 
in der gesetzlichen Form eingelegt (Allg. Verf. vom 28. Februar 1885, §. 14 

J. M. Bl. S. 92). 

Sie muss auch für begründet erachtet werden. 

Es kann für den vorliegenden Fall dahin gestellt bleiben, ob, wovon der 
erste Richter ausgeht, eine Gebühr auf Grund des §. 6 des Gesetzes vom 
9. März 1872 deshalb nicht zum Ansätze gebracht werden darf, weil dieser sich 
nur auf Vorbesuche, welche der Arzt der untersuchenden Person, nicht aber auf 
solche, welche diese jenem gemacht hat, beziehe. Auch als ein von dem Sach¬ 
verständigen dem Kläger erstatteter Vorbesuch würde derselbe den 
Sachverständigen nicht zum Bezüge der besonderen Gebühr aus dem angezogouen 



266 Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc. 


§. 6 berechtigen. Dieser gewährt den Medizinalpersonen nicht für jeden Vor¬ 
besuch schlechthin, sondern nur für „besondere Vorbesuche“, welche 
behufs der angeordneten „sachkundigen Ermittelung“ erforderlich sind, eine 
Gebühr von je 3 M. Die Vorbesuche müssen also „besondere“ sein, um Anspruch 
auf die besondere Gebühr des §. 6 zu gewähren. Den Gegensatz zn ihnen bildet, 
wie sich ans dem ganzen Zusammenhänge des Gesetzes ergiebt, derjenige Vor¬ 
besuch, welcher lediglich behufs Vornahme der für die betreffende sachkundige 
Ermittelung erforderlichen mindestens einmaligen Untersuchung der 
bezüglichen Person ausgeführt wird. Denn schon nach der Natur der Sache 
muss davon ausgegangen werden, dass ein Arzt, welchem eine bestimmte Er¬ 
mittelung aufgegebeu wird, die betreffende Person, falls er nicht etwa ihren 
Körper- oder Geisteszustand anderweit mit Zuverlässigkeit kennen gelernt hat, 
vor Abgabe seines Gutachtens einer Untersuchung unterwerfen muss. Diese aber 
setzt, sofern sie nicht ausnahmsweise im Termine zur Abgabe des Gutachtens 
selbst erst vorgenommen wird, stets einen Besuch, sei es des Arztes bei der zu 
untersuchenden Person, oder dieser bei jenem, voraus. Diese Besuche können 
daher mit den „besonderen Vorbesuchen“ des §. 6 nicht gemeint sein, der¬ 
selbe hat vielmehr, wie sich aus dem Gegensätze ergiebt, diejenigen Besuche im 
Auge, welche ausser der regelmässig erforderlichen, mindestens einmaligen 
Untersuchung der betreffenden Person, behufs der angeordneten sachkundigen 
Ermittelung, nothwendig sind, also solche, welche die regelmässige Zahl von 
einem überschreiten, insbesondere behufs einer längeren oder längere Zeit 
fortgesetzten Beobachtung in einer Mehrzahl nach wissenschaftlichen 
Grundsätzen erforderlich sind. 

Diese Bedeutung des §. 6 wird auch durch die Vorschrift des §. 3 Absatz 2 
des Gesetzes, auf welche auch bereits in dem erwähnten Erlasse hingewiesen 
ist, bestätigt: 

„Die höheren Sätze sind insbesondere dann zn bewilligen, wenn 
eine zeitraubende Einsicht der Akten nothwendig war, oder die Un¬ 
tersuchung die Anwendung des Mikroskops oder anderer Instru¬ 
mente oder Apparate erforderte, deren Handhabung mit besonderen 
Schwierigkeiten verbunden ist.“ 

Denn hier wird ausdrücklich die Schwierigkeit der vor der Abgabe des 
Gutachtens oder der Erstattung des Berichts anzustellenden Untersuchung 
nur als ein Umstand bezeichnet, welcher lediglich auf die Bemessung der Gebühr 
für dieses Gutachten oder den Bericht innerhalb des gesetzlichen 
Bahmens der beweglichen Gebührensätze Einfluss ausüben soll. Die Anstellung 
einer Untersuchung überhaupt als einer nicht besonders gebührenpflichtigen 
Handlung wird also ohne Weiteres vorausgesetzt. Durch die Gebühr für 
das Gutachten bozw. den Bericht soll somit diejenige für die vorgängige Unter¬ 
suchung bezw. für den hierzu erforderlichen Besuch, bezüglich dessen es demnach 
hier ganz gleichgültig ist, ob er von dem Arzte der zu untersuchenden Person 
oder von dieser jenem gemacht ist, mitabgegolten werden. Dieser Grundsatz 
aber stellt sich nach dem ganzen Zusammenhänge des Gesetzes als ein allge¬ 
meiner dar und muss daher auch da gelten, wo, wie für die Abwartung eines 
Termins, nicht ein beweglicher, sondern ein festbestimmter Satz ausgeworfen ist. 

Zu demselben Ergebnisse führt auch die Betrachtung der Entstehungs¬ 
geschichte der einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes vom 9. März 1S72. 
Dieses ist an die Stelle des V. Abschnitts — „Taxe für die gerichtlichen Aerzte 
und Wundärzte“ — der Medizinalpersonentaxe vom 1. Juni 1815 getreten und, 
wie eine Vergleichung beider lehrt, in vielen seiner Vorschriften auf dem Boden 
jener älteren Bestimmungen erwachsen. In jenem Abschnitte fand sich nun eine 
allgemeine, dem §. 6 des jetzigen Gesetzes entsprechende, gleichmässig auf 
besondere Vorbesuche behufs Abwartung eines Termines oder Erstattung eines 
schriftlichen Gutachtens, auf Untersuchungen des körperlichen oder geistigen 
Zustandes einer Person, bezügliche Vorschrift nicht. Vielmehr enthielt er nur 
folgende einschlägige E i n z e 1 bestimmungen : 

„§. 7. Für ein Attest über den Gesundheits- oder Krankheitszustand 
oder einer Verletzung 20 Sgr. bis 1 Thlr. 

§. 8. Ist es zur Ausstellung eines solchen Attestes nothwendig, dass 
der Physikus sich zu dem Kranken oder Verletzten begeben muss, weil 
dieser selbst nicht das Zimmer verlassen kann, so bekommt der Phy- 



Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc. 267 

sikus mit Inbegriff des ausgestellten Attestes 1 bis 
2 Tklr.“ 

Auch hier war demnach mittelbar der Grundsatz anerkannt, dass fttr einen 
Vorbesuch, und zwar selbst für einen solchen, behufs dessen der Physikus sich 
zu dem Kranken oder Verletzten begeben musste, nur zusammen mit der 
Gebühr für das Gutachten ein einheitlicher, allerdings höherer Satz als 
sonst, zu gewähren sei. 

Ferner §. 9: 

„Für die Untersuchung eines Gemüthszustandes 

a. wenn das Gutachten darüber zu Protokoll diktirt wird, 2 Thlr., 

b. wenn ein besonderes Gutachten verlangt wird, incl. des¬ 
selben 4 Thlr. 

Sind im Aufträge des Richters mehrere Besuche nüthig, so wird 
jeder einzelne wie ein gewöhnlicher ärztlicher Besuch angesehen und 
renumerirt.“ 

Hier wird gleichfalls, wie der Wortlaut ergiebt, an sich die ansgewor¬ 
fene Gebühr für die Untersuchung und das Gutachten einheitlich 
gewährt, und nur wenn mehrere Besuche nach der Anordnung des Richters 
auszuführen waren, sollten die einzelnen wie gewöhnliche ärztliche Besuche 
besonders vergütet werden. Die Abstattung nur eines Besuches, welchen das 
Gesetz eben in jedem Falle behufs Vornahme der Untersuchung als nothwendig 
voraussetzte, sollte demnach durch jene an sich einheitliche Gebühr für Unter¬ 
suchung und Gutachten mitabgcgolten werden. 

Für die Annahme aber, dass von jenem so in der früheren Gesetzgebung 
in einzelnen Anwendungen anerkannten Grundsätze der Gesetzgeber bei 
der Aufstellung der allgemeinen Vorschrift des §. 6 des gegenwärtig gelten¬ 
den Gesetzes habe abweichen wollen, liegt um so weniger Anlass vor, als die 
Begründung zu dem ersten Entwürfe dieses Gesetzes (Drucksachen des Hauses 
der Abgeordneten aus der X. Legislaturperiode, IIL Session 1869 Bd. 4 Nr. 255) 
— die späteren Vorlagen enthalten keine besondere Begründung — in der hier 
fraglichen Hinsicht keine irgendwie abweichende Auffassung erkennen lässt, 
vielmehr zur Rechtfertigung des §. 6 nur ganz allgemein angeführt: 

„Für den hier vorgesehenen Fall eine bestimmte Vorschrift zu 
haben, ist ein in der Praxis hervorgetretenes Bedilrfniss. Der Vor¬ 
schlag sebst wird einer näheren Motivirung nicht be¬ 
dürfen.“ 

Aber auch der §. 10 des Gesetzes vom 9. März 1872, auf welchen der 
Vorderrichter im Anschlüsse an den mit dem gedachten Runderlasse mitgetheilten 
Beschluss des Reichsgerichts vom 6. Februar 1888 seine Entscheidung gestützt 
hat, lässt sich zur Begründung einer besonderen Gebühr für den von einem 
medizinischen Sachverständigen behufs Vornahme einer angeordneten sachkundi¬ 
gen Ermittelung gemachten oder empfangenen Besuch, bei welchem lediglich die 
einzige nothwendige Untersuchung der betreffenden Person vorge¬ 
nommen worden ist, nicht heranziehen. Der §. 10 will, wie schon aus seiner 
in seinen Eingangsworten: 

„Insoweit die Gebühren vor stehend nicht nach festbestimm¬ 
ten Sätzen geregelt sind, ist der im einzelnen Falle anzuwei¬ 
sende Betrag etc.“ 

enthaltenen ausdrücklichen Bezugnahme auf die vorhergehenden Bestimmungen 
des Gesetzes hervorgeht, aber auch sein Wortlaut im Uebrigen ergiebt, nur in 
Ergänzung der vorhergehenden einzelnen Gebührenvorschriften einen allgemeinen 
Massstab für die Bemessung derjenigen Gebühren aufstellen, welche in den vor¬ 
angestellten Paragraphen nicht nach „festbestimmten“ Sätzen, sondern nur durch 
Festsetzung eines Höchst- und eines Mindestsatzes geordnet sind. Für die 
Anwendung des so der festsetzenden Behörde gelassenen Ermessens giebt er 
bestimmte Weisungen. Nicht aber enthält er, worauf die entgegengesetzte 
Meinung hinausläuft, eine sog. clausula generalis, welche ermächtigte, für eine 
in den vorhergehenden Paragraphen nicht ausdrücklich vorgesehene Leistung der 
Medizinalpersonen eine Gebühr nach völlig freiem Ermessen der fest¬ 
setzenden Behörde zu bestimmen. Dies würde auch gerade dem ausgesprochenen 
Zwecke des Gesetzes, die Gebühren der Medizinalpersonen in den einschlägigen 
Fällen bestimmt und genau, sowie den verwendeten Zeitverhältnissen entsprechend 
zu regeln, widersprechen. 



268 Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinal beamten etc. 

Da nun im vorliegenden Falle der von dem Augenärzte Dr. Cr. 
empfangene eine Besuch des Klägers lediglich die Vornahme der einzigen behufs 
Abgabe des von ihm erforderten Gutachtens nöthigen Untersuchung bezweckt 
bat, so ist diese und der empfangene Bestich durch die Gebühr für den dem¬ 
nächst von ihm abgewarteten Termin mit abgegolten und eine besondere Gebühr 
hierfür gesetzlich unstatthaft. 

Demgemäss kann es dahin gestellt bleiben, ob eine besondere Gebühr für 
die von dem Sachverständigen vorgenommene Untersuchung der Augen des 
Klägers auch nach §. 6 des mehrerwähnten Gesetzes deshalb ausgeschlossen ist, 
weil er den bezüglichen Besuch nicht seinerseits dem Kläger gemacht, sondern 
von diesem in seiner, des Sachverständigen, Wohnung empfangen hat; ingleichen: 
wie die von dem ersten Richter aufgeworfene Frage zu beantworten ist, ob und 
welche Gebühr bei der hier angenommenen Auslegung des §. 10 einem ärztlichen 
Sachverständigen dann zuzubilligen wäre, wenn nach Vornahme der Untersuchung 
der anberaumte Termin in Folge inzwischen eingetretener Erledigung des Rechts¬ 
streites aufgehoben würde. 

Der angefochtene Beschluss ist deshalb dahin abzuändem, dass dem 
Augenärzte Dr. Cr. für die erwähnten Verrichtungen lediglich auf Grund 
des §. 3 Nr. 1 des gedachten Gesetzes eine Gebühr von 6 M., dagegen keine 
weitere auf Grund des §. 6 oder des §. 10 festgesetzt wird. 

Kosten des Beschwerdeverfahrens kommen nach §. 45 des Gerichtskosten¬ 
gesetzes nicht zum Ansatz.“ 

Gegen diesen Beschluss erhob der Augenarzt Dr. Cr. Be¬ 
schwerde beim Reichsgericht, das dieselbe aber aus formellen 
Gründen als unzulässig zurückwies, da die angefochtene Entschei¬ 
dung nach ihrem Ergebniss mit der von dem beauftragten Richter 
vorgenommene Festsetzung vollständig übereinstimme, so dass es 
an einem neuen selbstständigen Beschwerdegrunde, der nothwen- 
digen Voraussetzung für die Statthaftigkeit der weiteren Beschwerde 
nach §. 531, Abs. 2, der Civilprozessordnung fehle. 

EU. Beschluss des Reichsgerichts vom 6. Februar 1 893. 

Ebenso wie in dem ersten Falle hatte das Landgericht in 
Duisburg durch Beschluss vom 7. Oktober 1892 auch in einem 
ähnlichen, den Kreisphysikus Dr. Beermann dortselbst betreffenden 
Falle diesem für eine in seiner Wohnung vor dem Termine vor¬ 
genommene EFntersuchung 3 Mark Gebühren zugebilligt. Hier¬ 
gegen erhob der Oberstaatsanwalt Beschwerde und wurde diese 
Beschwerde vom 2. Civilseuat des Oberlandesgerichts in Hamm 
durch Beschluss vom 10. November 1892 als begründet anerkannt. 
Gegen diesen Beschluss legte jedoch der genannte Sachverständige 
beim Reichsgericht -weitere Beschwerde ein und erkannte der 
4. Civilseuat desselben in seiner Sitzung vom 6. Februar 1893: 
dass der Beschwerde stattzugeben, der angefochtene Be¬ 
schluss aufzuheben und der Beschluss des Landgerichts 
zu Duisburg dahin abzuändern sei, dass der Kreisphysikus 
Dr. Beermann für die von ihm vorgenommene 
ETntersuchung eine Vergütung von 1,50 Mark 
erhält. 

Die Begründung lautet folgendermassen: 

„Pas Landgericht zu Duisburg hatte durch Beweisschluss die Vernehmung 
des Kreisphysikus Pr. B e e r 111 a n u als Gutachters über die Körperbeschaffenheit 
des Beklagten angeordnet und dem Sachverständigen aiifeesreben, noch vor dem 
Termine den Beklagten, den er zu diesem Zwecke zu sich zu bestellen habe, zu 



Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc. 269 


untersuchen. Dr. Beermann kam dem Aufträge nach; er untersuchte in seiner 
Behausung den Beklagten und erstattete demnächst im Termine das Gutachten. 
An Gebühren liquidirte er für den Termin 6 M. und für die diesem vorausge¬ 
gangene Untersuchung 3 M., welches Liquidat durch den Vorsitzenden festgesetzt 
wurde und mit 9 M. zur Zahlung gelangte. Auf die Erinnerung des Oberstaats¬ 
anwalts, die sich gegen die Bewilligung einer Gebühr für die von dem Sachver¬ 
ständigen vor dem Termine in seiner Wohnung vorgenommene Untersuchung 
neben der Terminsgebühr richtete, hielt das Landgericht durch Beschluss vom 
7. Oktober 1892 auf Grund des §. 6 des Preussischen Gesetzes, betreffend die 
den Medizinalbeamten für die Besorgung gerichtsärztlicher etc. Geschäfte zu 
gewährenden Vergütungen, vom 9. März 1892 und des §. 13 der Deutschen 
Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige die Verfügung des Vorsitzenden 
aufrecht. Das Oberlandesgericbt hat durch Beschluss vom 10. November 1892 
diese Entscheidung aufgehoben, die streitige Gebühr von der Liquidation abge¬ 
setzt und die Wiedercinziehung der gezahlten 3 M. zur Gerichtskasse angeordnet. 
Gegen diesen Beschluss ist von Dr. Beermann die weitere Beschwerde erhoben, 
die für begründet zu erachten ist. 

Das Oberlandgericht ist unter Hinweis auf eine Verfügung des Preussischen 
JuBtizministers vom 13. Juli 1892 der Auffassung des Landgerichts, die sich an 
die Entscheidung des Reichsgerichts in Sachen R. wider V. VI. B. 43/88 
vom 19. April 1888 anschliesst, mit der ErwägUDg entgegengetreten: für 
die Beurtheilung sei allein das Preussische Gesetz vom 9. März 1872 massgebend; 
nach dem §. 6 dieses Gesetzes stehe aber dem Medizinalbeamten nur für die von 
ihm gemachten, also ausserhalb seiner Behausung abgestatteten Vorbesuche, 
nicht auch für die in seinem Hause empfangenen Besuche eine besondere Gebühr 
von 3 M. zu; auch werde das Liquidat nicht durch die Bestimmung des §. 10 
desselben Gesetzes gerechtfertigt; vielmehr sei mit Rücksicht darauf, dass ein 
Gutachten ohne vorausgegangene Prüfung oder einmalme Untersuchung des zu 
begutachtenden Gegenstandes der Regel nach nicht erstattet werden könne, 
davon auszugehen, dass diese einmalige, dem im Termine abgegebenen Gutachten 
zu Grunde gelegte Untersuchung — abgesehen von den im Gesetze vorgesehenen 
Ausnahmefällen — durch die Terminsgebühr des §. H Nr. 1 des Gesetzes abge¬ 
golten werde; diese Annahme werde durch den §. 3 Nr. 6 ebenda, betreffend 
die Gebühren für schriftliche Gutachten, unterstützt, wonach die dort bestimmten 
höheren Gebührensätze insbesondere dann zu bewilligen seien, wenn die Unter¬ 
suchung die Anwendung schwierig zu handhabender Instrumente oder Apparate 
erforderte. 

Dem Oberlandesgerichte ist darin beizupflichten, dass der Entscheidung 
allein das Gesetz vom 9. März 1872 zu Grunde zu legen ist. Der §. 13 der 
Deutschen Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige bestimmt, dass, 
soweit für gewisse Arten von Sachverständigen besondere Taxvorschriften beste¬ 
hen, welche an dem Orte des Gerichts, vor welches die Ladung erfolgt, und an 
dem Aufenthaltsorte des Sachverständigen gelten, lediglich diese Vorschriften zur 
Anwendung kommen. Solche besonderen Taxvorschriften sind aber für Medizinal¬ 
beamte in dem Gesetze vom 9. März 1872 enthalten. Dieses Gesetz bildet daher 
die alleinige Norm für die Bestimmung der Vergütung, welche den Medizinal¬ 
beamten als Sachverständigen zusteht, sodass die Anwendung der Deutschen 
Gebührenordnung in den von ihr für die Bemessung der Vergütung der Sach¬ 
verständigen aufgestellten Grundsätzen (vgl. §. 378 der Civilprozessordnung) 
hier ausgeschlossen ist. 

Es ist auch ferner mit dem Oberlandesgerichte anzunehmen, dass das 
streitige Liquidat durch die §§. 6 und 10 des Gesetzes vom 9. März 1872 nicht 
geschützt wird. Der §. 6, der dem Medizinalbeamten für jeden Vorbesuch eine 
Gebühr von 3 M. bewilligt, hat nur solche Besuche im Auge, die der Medizinal¬ 
beamte ausserhalb seiner Behausung vornimmt. Dies ergiebt sich aus 
dem gebrauchten Ausdrucke: „Vorbesuche machen“ und sodann daraus, dass 
die Gebühr nur für den Fall bewilligt ist, dass nicht die Voraussetzungen vor¬ 
liegen, unter denen Tagegelder und Reisekosten liquidirt werden dürfen. Der 
§. 10 besagt: 

„Insoweit die Gebühren vorstehend nicht nach bestimmten Sätzen 
geregelt sind, ist der im einzelnen Falle anzuweisende Betrag nach der 
Schwierigkeit des Geschäfts und dem zur Ausrichtung desselben erfor¬ 
derlich gewesenen Zeitaufwande festzusetzen. Diese Festsetzung hat, 



270 Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc. 

wenn sich Bedenken gegen die Angemessenheit des liquidirten Betrages 
ergeben, die zuständige Regierung oder Landdrostei endgültig zu 
bewirken.“ 

Diese Vorschrift bezieht sich nach dem Wortlaute, und wie auch aus der 
Entstehungsgeschichte des Gesetzes, insbesondere aus der Begründung des Ent¬ 
wurfs, der mit unwesentlichen Abänderungen zum Gesetze erhoben ist, erhellt, 
nur auf solche Fälle, für die das Gesetz eine ihrem Satze nach unbestimmte 
Gebühr vorschreibt, enthält aber nicht die Ermächtigung, für Geschäfte, deren 
Honorirung im Gesetze nicht vorgesehen ist, eine Gebühr nach arbiträrem Er¬ 
messen festzusetzen. 

Dagegen kann dem Oberlandesgerichte in den weiteren Erwägungen nicht 
gefolgt werden. Dem Medizinalbeamten steht, wie schon das Reichsgericht in 
der Entscheidung vom 19. April 1888 ausgesprochen hat, nach dem bezeichneten 
massgebenden Gesetze für die ihm aufgetragene Untersuchung vor dem Termine 
auch dann, wenn solche in seiner Behausung stattfindet, eine besondere 
Gebühr neben der Terminsgebühr zu. 

Aus dem Umstande, dass der §. 6 a. a. 0. eine besondere Vergütung nur 
für die Vorbesuche ausserhalb der Wohnung des Medizinalbeamten fest¬ 
setzt, ist nicht zu folgern, dass für eine vorherige Untersuchung in der 
Wohnung die Gewährung einer besonderen Vergütung ausgeschlossen sei. 
Der §. 6 bezweckt, die Gebühr für die Besuche ausserhalb der Wohnung auf 
einen bestimmten Satz zu fixiren; dass ein weitergehender Zweck 
obgewaltet hat, ist weder aus dem Gesetze noch aus den Motiven desselben 
ersichtlich, wie auch die letzteren keine Andeutung darüber enthalten, dass dem 
Medizinalbeamten für die in seiner Wohnung empfangenen Besuche eine 
Vergütung nicht zustehen solle. Die Vorschrift des §. 8 Nr. 6 ebenda, auf 
welche sich das Oberlandesgericht stützt, kann nicht in Betracht kommen. Dort 
sind die Gebühren für schriftliche Gutachten auf 6 bis 24 M. bestimmt, sodass 
ein ausreichender Spielraum gegeben ist, bei der Festsetzung der Gebühr die 
vom Sachverständigen aufgewendete Mühcwaltuug, also auch die empfange¬ 
nen Besuche zu berücksichtigen; letzteres ist dadurch nicht ausgeschlossen, 
dass weiter angeordnet ist: die höheren Sätze seien insbesondere dann zu 
bewilligen, wenn eine zeitraubende Einsicht der Akten nothwendig war oder die 
Untersuchung die Anwendung des Mikroskops oder anderer Instrumente oder 
Apparate erforderte, deren Haudhabung mit besonderen Schwierigkeiten verbun¬ 
den ist. In dem §. 3 Nr. 1 ist für die Bemessung der Terminsgcbühr ein 
solcher Spielraum nicht gegeben. Die Terminsgebühr ist auf 6 M. und, insofern 
der Termin über drei Stunden dauert, für jede folgende ganze oder angefangene 
Stunde auf 1,50 M. fest bestimmt. Es lässt nun aber gerade diese Art der 
Bestimmung der Gebühr die Unrichtigkeit der Auffassung des Oberlandesgerichts 
erkennen. Nach dem Wortlaute des §. 3 Nr. 1 steht die Gebühr dem Sachver¬ 
ständigen für die Abwartung des Termins zu. Aus dieser Fassung ergiebt 
sich, das das Gesetz nicht davon ausgeht, dass durch die Terminsgebühr auch 
vor dem Termine vorgenommene Untersuchungen abgegolten werden. Dass der 
Sachverständige, um ein Gutachten erstatten zu können, der Regel nach zuvor 
eine Untersuchung der Person oder Sache vornehmen muss, ist an sich nicht 
entscheidend. Geschieht diese Untersuchung im Termine, so bildet sie eine 
zur Abwartung des Termins gehörende, also eine einen Bestandtheil 
der Terminsabwartung ausmachende Thätigkeit, und dann wird sie durch 
die Terminsgebühr abgegolten. Erfolgt sie dagegen auf Erfordern der Behörde 
vor dem Termine, so ist sie eine besondere, von der Terminsabwartung 
getrennte Leistung, für die der Sachverständige auch dann, wenn die Unter¬ 
suchung in seiner Behausung stattgefunden hat, entschädigt werden muss. 
Diese Annahme entspricht unbedenklich dem Sinne des Gesetzes, welches andern¬ 
falls es mit klaren Worten ausgesprochen hätte, dass dem Medizinalbeamten für 
die von ihm vor dem Termine in seiner Behausung vorgenommene Unter¬ 
suchung eine Vergütung neben der Terminsgebühr versagt sei. Die entgegen¬ 
gesetzte Auffassung würde auch nicht nur zu Unbilligkeiten führen, die vor¬ 
nehmlich erkeuubar hervortreten würden, wenn wiederholte Untersuchungen 
stattgefunden, sondern unter Umständen zu einer direkten Bcnachtheiligung des 
Sachverständigen Anlass geben. Denn wenn die Untersuchung nicht erst im 
Termine erfolgt, sondern schon vor demselben bewirkt wird, so hat dies eine 
Abkürzung der Terminsdauer zur Folge; dem Sachverständigen würde daher, 



Di« Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc. 271 

wenn der Termin ohne vorangegangene Untersuchung länger als drei Stunden 
gedauert haben würde, während er, nachdem die Untersuchung tbats&chlich 
vorher stattgefunden hat, die Dauer von drei Stunden nicht überschreitet, nur 
ein Anspruch auf die gewöhnliche Terminsgebtihr von 6 M., nicht aber auch ein 
Anspruch auf die Zuschlagsgebühr zustehen, welche letztere er im andern Falle 
zu fordern berechtigt gewesen wäre. 

Das Gesetz stellt nun zwar für solche von dem Medizinalbeamten vor 
dem Termine in seiner Behausung vorgenommenen Untersuchungen eine beson¬ 
dere Taxe nicht auf. In dieser Hinsicht gewährt jedoch für die Bemessung der 
Vergütung der §. 3 Nr. 1 des Gesetzes einen bestimmten Anhalt. Die Gebühr 
für einen Termin mit der Dauer bis zu drei Stunden ist auf 6 M. nud die Gebühr 
für die über die Grenzen eines solchen Termins hinausgehende 
Leistung auf 1,50 M. für jede folgende ganze oder angefangene Stunde fest¬ 
gesetzt. Mit Rücksicht hierauf ist es als dem Sinne des Gesetzes entsprechend 
anzusehen, dass dem Sachverständigen auch für seine Mühewaltung vor dem 
Termine und insbesondere für eine Thätigkeit der hier beregten Art neben der 
Terminsgebühr eine besondere Vergütung von 1,50 M. für jede ganze ober auge- 
fangene Stunde zu bewilligen ist, eine Vergütung, die nur im Hinblicke auf 
§. 6 des Gesetzes einer Einschränkung insofern unterliegt, als sie den Betrag 
von 3 M. für jeden Besuch im Höchstbetrage nicht übersteigen darf. 

Der Kreisphysikus Dr. Beermann hat in Folge der an ihn ergangenen 
Aufforderung die amtliche Anzeige erstattet, dass er auf die Untersuchung des 
Körperzustandes des Beklagten und auf die Notizen bezüglich des Befundes 
etwa eine halbe Stunde Zeit verwendet habe. Es steht ihm daher neben der 
Terminsgebühr von 6 M. noch eine Vergütung von 1,50 M. zu. 

Nach diesen Ausführungen war der angefochtene Beschluss aufzuheben 
und auf die Beschwerde des Oberstaatsanwalts nnter Abänderung des landge¬ 
richtlichen Beschlusses, wie geschehen, Entscheidung zu treffen.“ 

In den drei vorstehenden Erkenntnissen ist somit die Frage, 
ob den Medizinalbeamten für Voruntersuchungen in ihrer Wohnung 
bei demnächstiger Abgabe mündlicher Gutachten im Termin Ge¬ 
bühren und eventuell in welcher Höhe zustehen, von drei ver¬ 
schiedenen Gerichten verschieden beantwortet worden. Während 
das Kammergericht entsprechend dem Erlasse des Herrn Justiz¬ 
ministers vom 13. Juli 1892 den Medizinalbeamten für eine der¬ 
artige Voruntersuchung keine besondere Gebühr zubilligt, stehen 
das Reichsgericht und das Landgericht übereinstimmend auf dem 
entgegengesetzten Standpunkte. Das Reichsgericht bemisst jedoch 
die dem Medizinalbeamten in solchem Falle zustehende Gebühr 
nach Analogie der im §. 3 Nr. 1 des Gesetzes vom 9. März 1872 
enthaltenen Bestimmungen auf 1,50 Mark für jede ganze oder an¬ 
gefangene Stunde, das Landgericht in Duisburg dagegen auf Grund 
des §. 6 des genannten Gesetzes auf 3 Mark. 

Wenn nun auch durch die Entscheidung des Reichsgerichts 
die in Rede stehende Frage zunächst endgültig entschieden ist, 
so dürfte es doch nicht überflüssig sein, auf die Ausführungen der 
vorher mitgetheilten Entscheidungen etwas näher einzugehen. 

Uebereinstimmend wird in ihnen zunächst die Ansicht vertreten, 
dass in Gemässheit des §.13 der Deutschen Gebührenordnung für 
Zeugen und Sachverständige das Gesetz vom 9. März 1872 die 
alleinige Norm für die Bemessung der Gebühren der Medizinal- 
Beamten bildet und demnach eine Anwendung der Deutschen Ge¬ 
bührenordnung auch selbst in denjenigen Fällen ausgeschlossen ist, 
in denen für eine bestimmte Thätigkeit der Sachverständigen keine 
besondere Tax Vorschrift in jenem Gesetze vorgesehen ist. Ebenso 



272 Die Frage der Voruntersuchungen in dor Wohnung d. Medizinalbeamten etc. 

stimmen alle drei Erkenntnisse dahin überein, dass der §. 10 des Ge¬ 
setzes vom 9. März 1872 sich nur auf solche Fälle bezieht, für die das 
Gesetz eine ihrem Satze nach unbestimmte Gebühr vorschreibt, und 
daher keine Ermächtigung enthält, für nicht im Gesetze erwähnten 
Geschäfte eine Gebühr nach arbiträrem Ermessen festzusetzen. Das 
Eeichsgericht setzt sich somit durch sein jetziges Erkenntniss in 
Widerspruch mit demjenigen vom 19. April 1888, in dem es sowohl 
die Zulässigkeit der Anwendung der Deutschen Gebührenordnung, 
als des §.10 des Gesetzes vom 9. März 1872 bei den in diesem 
Gesetze nicht vorgesehenen Fällen anerkannt hatte. Es lautet 
ausserdem ungünstiger für den Medizinalbeamten als das damalige 
Urtheil, das für eine Voruntersuchung in der Wohnung des Medi¬ 
zinalbeamten eine Gebühr von 3 Mark mit Eücksicht auf die 
Schwierigkeit des Geschäftes und den zur Ausrichtung desselben 
erforderlich gewesenen Zeitaufwand als angemessen bezeichnete. 
Jetzt wird die Gebühr dagegen auf die Hälfte (1,50 Mark) er- 
mässigt, — denn eine Untersuchung dürfte wohl nur in Ausnahme¬ 
fällen länger als eine Stunde dauern — und als massgebend für 
diese Gebührenfestsetzung lediglich der Zeitaufwand ange¬ 
nommen, die Schwierigkeit der Untersuchung selbst aber 
gar nicht berücksichtigt. Wenn daher auch das Eeichsgericht 
prinzipiell die Frage des Gebührenanspruchs bei Voruntersuchungen 
in der Wohnung des Medizinalbeamten zu Gunsten und entgegen 
der vom Herrn Justizminister in dem Eunderlass vom 13. Juli 1892 
vertretenen Ansicht entschieden hat, so kann uns die Entscheidung 
in Bezug auf die Höhe der zugebilligten Gebühr keineswegs be¬ 
friedigen. Dieselbe steht auch dadurch, dass sie die mit der Unter¬ 
suchung verbundene Mühewaltung völlig ausser Acht lässt und 
allein die verwendete Zeit in Anrechnung bringt, im vollen Wider¬ 
spruch mit dem Sinne des Gesetzes vom 9. März 1872, wie solcher 
besonders im §. 10 seinen Ausdruck gefunden hat. 

Man muss sich überhaupt wundern, dass das Eeichsgericht 
den §. 3 Nr. 1 des Gesetzes als Anhalt für die Bemessung der 
Gebühr annimmt, obwohl es ausdrücklich in seinem jetzigen Er¬ 
kenntniss den Grundsatz aufstellt, dass eine Untersuchung vor dem 
Termin keinenBestandtheil desselben bildet. Ist dies aber nicht 
der Fall, dann kann noch viel weniger die Voruntersuchung gleich¬ 
sam als eine über die Grenzen des Termins hinaus¬ 
gehende Leistung angesehen und dementsprechend mit 1,50 M. 
pro Stunde honorirt werden. 

Ferner sagt das Eeichsgericht, dass der §. 6 des Gesetzes 
nicht auf die empfangenen Besuche, sondern nur auf die ge¬ 
machten Besuche Anwendung finde; trotzdem wird dieser Para¬ 
graph wieder in dem Urtheil als massgebend für die bei Vor¬ 
untersuchungen in der Wohnung des Sachverständigen zu gewährende 
Höchstgebühr herangezogen, indem diese den Betrag von 3 Mark 
nicht übersteigen darf. Falls demnach ein Sachverständiger mehr 
als 3 oder 4 Stunden zu einer derartigen Untersuchung gebraucht 
hat, wird er dafür trotzdem nur 3 Mark, also die Gebühr für zwei 
Stunden bezahlt erhalten. Solche lang dauernden Untersuchungen 



Die Frage der Voruntersuchungen in der Wohnung d. Medizinalbeamten etc. 278 

dürften in Wirklichkeit allerdings wohl nicht Vorkommen; aber 
wenn einmal der §. 6 von dem Gerichtshöfe als nicht massgebend 
für empfangene Vorbesuche erachtet wird, dann kann er auch 
nicht bei der Bemessung der Höchstgebühr für dieselben als Mass¬ 
stab herangezogen werden. Das Reichsgerichtsurtheil setzt sich 
hier somit in gleicher Weise mit seinen eigenen Ausführungen in 
Widerspruch, wie bei der Heranziehung des §. 3 Nr. 1 als Anhalt 
für die Bemessung der in Rede stehenden Gebühr. 

Unseres Erachtens verdient die Entscheidung des Land¬ 
gerichts in Duisburg demReichsgerichtsurtheile gegenüber unbedingt 
den Vorzug, auch vom juristischen Standpunkte aus. Das Wort 
„Vorbesuch“ kann an sich jedenfalls ebensowohl einen „gemachten“ 
wie einen „empfangenen“ Vorbesuch bedeuten. Desgleichen wider¬ 
spricht der Zwischensatz des §. 6, „falls nicht die Voraussetzungen 
vorliegen, unter denen Tagegelder und Reisekosten liquidirt werden 
dürfen,“ keineswegs dieser Auffassung, denn durch diese Einschrän¬ 
kung soll nur bestimmt zum Ausdruck gebracht werden, dass bei 
auswärtigen Vorbesuchen eine Gebühr für den Vorbesuch selbst 
neben Tagegeldern und Reisekosten unzulässig ist. Glaubte man 
aber gerichtsseitig unter Vorbesuche nur „gemachte“ verstehen zu 
müssen, dann bot zweifellos die Position 7 in §. 3 „Befundschein“ 
einen viel richtigeren Anhalt für die Gebühr als Position 1; da 
bei Ausstellung eines Befundscheines hauptsächlich die Mühe¬ 
waltung der Untersuchung in Betracht kommt, aber nicht die 
wenig Arbeit und Zeit beanspruchenden Zeilen eines solchen 
Scheines. 

Auf alle Fälle muss die in dem Reichsgerichts¬ 
urtheil zugebilligte Gebühr von 1,50 Mark für eine Vor¬ 
untersuchung im Hause des Arztes als viel zu niedrig 
und der damit verbundenen Mühewaltung nicht ent¬ 
sprechend bezeichnet werden; es ist dies eine Vergütung, 
die sogar hinter den betreffenden Sätzen der Taxe vom 21. Juni 
1815 zurückbleibt, wenn man bedenkt, dass dafür alle ärztlichen 
Untersuchungen, ohne Rücksicht auf ihre Schwierigkeit u. s. w. 
geleistet werden müssen. 

Dass auch hohe Gerichtshöfe in ihren Entscheidungen gänzlich 
unhaltbare Ansichten entwickeln können, zeigt besonders das vor¬ 
stehende Erkenntniss des Kammergerichts. Dasselbe setzt sich 
mit seinen Ausführungen in vollen Widerspruch mit dem Er¬ 
kenntnisse des Obertribunals vom 4. Mai 1876, in dem aus¬ 
drücklich anerkannt wird, dass eine jede den Medizinalbeamten 
aufgetragene und ausserhalb seiner Wohnung vorgenommene Unter¬ 
suchung einer Person oder Sache als ein Vorbesuch im Sinne des 
§. 6 des Gesetzes vom 9. März 1872 anzusehen sei, während das Kammer¬ 
gericht vorzugsweise auf das Wort „besondere“ Gewicht legt imd 
den Gegensatz zu den besonderen Vorbesuchen in einem ein¬ 
maligen regelmässigen oder gewöhnlichen Vorbesuch 
findet, der seiner Meinung nach jeder Abwartung eines Termins, 
jeder Abgabe eines Gutachtens vorangehen muss und daher nicht 
als ein „besonderer“ honorirt zu werden braucht, sondern durch 



274 


Besprechungen. 


die Terminsgebühr (§. 3 Abs. 1) mit abgegolten wird. Diese Inter¬ 
pretation unterstellt zweifellos dem Gesetzgeber einen unklaren 
Ausdruck seines Willens und verstösst gegen den Wortlaut und 
den Zusammenhang des §. 6, ganz abgesehen davon, dass die An¬ 
nahme des Kammergerichts, jeder Terminsabwartung müsse unter 
allen Umständen ein einmaliger Vorbesuch vorangehen, willkürlich 
und unzutreffend ist. 

Jedenfalls geben die vorstehenden, in ihren Ausführungen 
weit auseinander gehenden gerichtlichen Entscheidungen einen 
neuen Beweis dafür, dass die Fassung des Gesetzes vom 9. März 
1872 keine sehr glückliche ist und die verschiedenartigsten Aus¬ 
legungen zulässt. Eine anderweite, jeden Zweifel auschliessende 
Neuredaktion des Gesetzes erscheint daher dringend erwünscht, 
dann können in demselben auch für diejenigen amtlichen Thätig- 
keiten Positionen ausgeworfen werden, für die bisher solche nicht 
vorgesehen sind. 

Nachdem das Reichsgericht in einem zweiten, die Honorirung 
der Voruntersuchung in der Wohnung der Medizinalbeamten be¬ 
treffenden Falle auf die Beschwerde des KreiBphysikus (Dr. Frey er 
in Stettin) durch Erkenntniss vom 3. Mai d. J. in gleicher Weise 
wie vorstehend entschieden hat, steht zweifellos eine baldige Ab¬ 
änderung des Justizministerial-Erlas8e8 vom 23. Juli 1892 zu 
erwarten, da er unter den obwaltenden Verhältnissen nicht mehr 
aufrecht zu halten ist 1 ). Die Reichsgerichts - Entscheidung wird 
übrigens künftighin auch bei der Bemessung der Gebühren für 
zuvoriges Aktenstudium bei Abgabe mündlicher Gutachten mass¬ 
gebend sein. Den Kollegen kann daher nur empfohlen werden, 
vorkommenden Falls ihre Liquidationen dementsprechend auf¬ 
zustellen. 


Besprechungea 

Dr. Fritz Elsner: Die Praxis der Chemiker bei Unter¬ 
suchung von Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegen¬ 
ständen u. 8. w., bei bakteriologischen Untersuchun¬ 
gen sowie in der gerichtlichen und Harn-Analyse. 
Ein Hiilfsbuch für Chemiker, Apotheker und Gesundheitsbeamte. 
Fünfte, umgearbeitete und vermehrte Auflage. Mit zahlreichen 
Abbildungen im Text. Hamburg und Leipzig 1892 und 1893. 
Verlag von Leopold Voss. 1.—5. Lieferung. 

Die schnelle Aufeinanderfolge der Auflagen des vorliegenden Werkes 
spricht schon an sich für seine Brauchbarkeit und für die grosse Verbreitung, 
die es in den betheiligten Kreisen gefunden hat. Nach den bis jetzt erschie¬ 
nenen 5 Lieferungen der fünften Auflage zu urtheilen, hat das Werk eine gründ¬ 
liche, dem jetzigen Stande der Wissenschaft auf diesem Gebiete entsprechende 
Umarbeitung erfahren. Insbesondere betrifft dies die Abschnitte über thierische 
und pflanzliche Fette, über Milch, Mehl, Bier, Wein, Spirituosen, Kakao und 
Kaffee; ausserdem sind einige neue Abschnitte, z. B. über Pepton, Kefir u. 8. w. 


') Ist inzwischen bereits geschehen. 



Besprechungen. 


275 


hinzugekommen. Ebenso wie in den früheren Auflagen hat Verfasser von den 
verschiedenen Untersuchungsmethoden nur diejenigen aufgenommen, die sich auf 
Grund eigener Erfahrungen als praktisch und zuverlässig bewährt haben. Gerade 
dadnrcb ist aber sein Buch ein vorzüglicher und unentbehrlicher Bathgeber nicht 
nur für den stets in der Praxis stehenden Nahrungsmittelchemiker, sondern auch 
für alle diejenigen, die nicht immer in der Lage sind, selbst die zahlreichen, 
fast täglich neu auftauchenden Untersuchungsmethoden auf ihren Werth zu 
prüfen, oder nur selten derartige Untersuchungen vorzunehmen haben. Auch 
den Medizinalbeamten kann das Buch für ihre etwaige amtliche Thätigkeit bei 
Ausführung des Nahrungsmittelgesetzes als treuer Berather empfohlen werden. 

Epd. 


Dr. R. Robert, kaiserl. russischer Staatsrath u. ord. Professor der 
Pharmakologie in Dorpat: Lehrbuch der Intoxikationen. 
Mit 63 Abbildungen im Text. Stuttgart 1893. Verlag von 
Ferd. Enke. Gross 8°, 816 S. 

Verfasser sagt in seinem Vorworte sehr richtig: „Da mehr als die Hälfte 
aller jetzt in Deutschland, Oesterreich und Deutschrussland praktizirenden Aerzte 
auf der Universität keine spezielle Ausbildung in Toxikologie erhalten hat, so 
ist ihnen in ihrer Bibliothek ein verständlich geschriebenes, mit erschöpfendem 
Begister versehenes Werk über Intoxikationen, das gleichzeitig als Lehrbuch 
und als Handbuch dienen kann und in dem sie sich im Falle einer Vergiftung 
rasch orientiren können, unentbehrlich.“ Die Zahl der Aerzte, die eine spezielle 
Ausbildung auf der Universität nicht genossen haben, dürfte sogar noch eine 
viel höhere sein, als sie vom Verfasser angenommen wird; um so erwünschter 
und verdienstvoller ist daher die Herausgabe des vorliegenden Werkes, das 
gleichsam eine neue, aber sehr erweiterte Auflage des von dem Verfasser vor 
6 Jahren herausgegebenen, aber längst vergriffenen Kompendiums der Toxiko¬ 
logie bildet. 

Das Werk ist, wie schon gesagt, in erster Linie für Mediziner, praktische 
Aerzte sowohl wie Studirende der Medizin, bestimmt; es soll aber auch dem 
Bakteriologen, dem Apotheker, Gerichtschemiker und dem Gerichtsarzte in toxi¬ 
kologischen Fragen ein zuverlässiger Rathgeber sein und kann diesen Anspruch 
um so mehr erheben, als es hervorgegangen ist aus vieljähriger Thätigkeit im 
Laboratorium, Kursen, Seminaren und Vorlesungen, die sich über sämmtliche 
Abschnitte der allgemeinen und speziellen Toxikologie erstreckten. 

Die Eintheilung des umfangreichen Stoffes ist im grossem Ganzen der* 
selbe wie in dem vorerwähnten Kompendium: Der erste, allgemeine Theil 
bringt in zwei Abtheilungen Allgemeines über Intoxikationen und den Nachweis 
derselben; der zweite spezielle Theil behandelt in 3 Abtheilungen: 

1. die Stoffe, die schwere anatomische Veränderungen veranlassen, un 
zwar vornehmlich am Ort der Applikation (ätzende Säuren, Alkalien, 
Salze, andere lokal irritirende thierische, pflanzliche oder künstlich 
darstellbare organische Gifte, sowie reizende Gase und Dämpfe) oder 
auch an anderen Körperstellen (Blei, Wismuth, Phosphor, Mutterkorn 
u. s. W •). 

2. Blutgifte, je nachdem sie in rein physikalischer Weise die Blutzirku¬ 
lation stören, z. B. Wasserstoffsuperoxyd, Ricin u. s. w., oder ein ganz 
besonders starkes Auflösungsvermögen für rothe Blutkörperchen besitzen, 
wie Phallin, Solanin, Arsenwasserstofl u. s. w., oder Methämoglobin- 
bildung im Blute hervorrufen, wie chlorsaures Kali, Pyrogallol, 
Hydrazin und seine reduzirenden Verbindungen, Nitrobenzol, Nitro¬ 
glycerin, Amylnitrit, Aethylnitrit, Pikrinsäure, Anilin, Antifebrin, Anti- 
pyrin, Schwefelkohlenstoff u. s. w., oder endlich eine eigenartige Wir¬ 
kung auf den Blutfarbstoff und dessen Zersetzungsprodukte ausüben, 
wie Schwefelwasserstoff, Stickoxyd, Blausäure und Cyankalium, Kohlen¬ 
oxyd u. s. w. 

3. Gifte, die ohne schwere anatomische Veränderungen veranlasst zu 
haben, tödten können und zwar: a) Gifte des Cerospinalnervensystem 
(Chloroform und andere Anästhetika, Opium und seine Alkaloide, Alko- 



276 


Besprechungen. 


holica, Chloralpräparate, Cocain, Atropin, Strychnin und Ähnliche 
Alkaloide, Camphor, Kohlensäure, Santonin, Chinalk&loide n. s. w.); 
b) Herzgifte (Digitalis, Helleborus, Mnscarin u. s. w.). 

Als Anhang (6. Abtheilnng) ist eine kurze Abhandlung beigefOgt, die 
giftigen Stoffwechselprodukte der Menschen und der Thiere und der in ihnen 
theiU intra vitam, theils post mortem unter Umständen vorhandenen oder sich 
in ihren Nahrungsmitteln entwickelnden Mikroorganismen. Hier werden die 
giftigen Eiweisse und eiweissähnlichen Substanzen (Toxalbumine), das Giftig¬ 
werden an sich unschädlicher Nahrungsmittel (Wurst-, Fleisch-, Käse-Vergiftung), 
die Autitoxikationen (Ammoniämie, Urämie, Glykosnrie u. s. w.), die Ptomaine 
u. s. w. besprochen. 

Bei jedem einzelnen Gifte werden Aetiologie und Statistik, Wirkung und 
Dosis, Krankheitsbild, Therapie, Sektionsbefund und Nachweis auf Grund eigener 
Erfahrungen nnd experimenteller Versuche, sowie unter kritischer Benutzung 
der von anderen Forschern gemachten Beobachtungen erörtert und zwar bei den 
häufig, besonders in der gerichtsärztlichen Praxis vorkommenden Giften in sehr 
ausführlicher und erschöpfender Weise, bei den selteneren Giften ent¬ 
sprechend kürzer. 

Durch sehr genaue Literaturangaben und ein sorgfältig ausgearbeitetes 
Begister wird die Brauchbarkeit des Buches nur noch erhöht. Dasselbe bildet 
eine höchst werthvolle Bereicherung der einschlägigen Literatur und kann ins¬ 
besondere den Medizinalbeamten mit Rücksicht auf ihre gerichtsärztliche Thätig- 
keit auf’s Wärmste empfohlen werden. Rpd. 


Dr. A. Lustig, ord. Prof, der allgem. Patholog. zu Florenz: Diag¬ 
nostik der Bakterien des Wassers. In’s Deutsche über¬ 
setzt von Dr. Teuscher in Jena; mit einem Vorwort von Prof. 
Dr. Baumgarten in Tübingen. Jena 1893. Verlag von Gustav 
Fischer. Gr. 8°, 128 S. 

Das vorliegende Werk schliesst sich in der Art der Darstellung der von 
Eisenberg herausgegebenen Hülfstabellen zur bakteriologischen Diagnostik 
an. Verfasser hat sich bemüht, alle bisher im Wasser aufgefundenen Bakterien 
auf Grund der bisher in der Literatur vorhandenen, aber vielfach zerstreuten 
Angaben und Beschreibungen, sowie auf Grund seiner eigenen Beobachtungen 
und Untersuchungen übersichtlich in Tabellenform zusammenzustellen unter 
kritischer Sichtung und sorgfältiger Ausarbeitung der differential - diagnostischen 
Merkmale. Zunächst werden die für den Menschen und für Thiere pathogenen 
Bakterien aufgeführt, dann die nicht pathogenen Mikrokokken, Bazillen und Spi¬ 
rillen, je nachdem sie die Gelatine verflüssigen oder nicht, sowie einzelne Spi¬ 
rillen und Schizomyzeten. Es sind nicht weniger wie 186 verschiedene Bak¬ 
terien die hier nach ihrer Form und Anordnung, Entwicklung auf oder in den 
allgemein üblichen Nährböden und bei den verschiedenen Temperaturverhältnissen, 
nach ihrer etwaigen Eigenbewegung, Sporenbildung, pathogenem Verhalten und son¬ 
stigen Eigentümlichkeiten genau beschrieben werden; bei den meisten sind 
ausserdem der Namen des Forschers angegeben, der den betreffenden Mikroorga¬ 
nismus entdeckt bezw.* zuerst boschrieben hat, desgleichen die zugehörigen 
Literaturstellen. 

Verdient aus dem vorliegenden Werke ein Abschnitt besonders hervor¬ 
gehoben zu werden, so ist es derjenige über den Typhusbazill, dem die Beschrei¬ 
bung der typhusähnlichen Bazillen beigefügt ist. In höchst ausführlicher und 
übersichtlicher Weise werden hier die einzelnen unterscheidenden Merkmale des 
echten Typhusbazill und der zahlreichen ihm ähnlichen Bazillenarten angeführt 
und ihr Werth für die Differentialdiagnose kritisch beleuchtet. Nicht ganz so 
vollständig sind der Vibrio der asiatischen Cholera und die demselben ähnlichen 
Bazillen behandelt. 

Gerade jetzt, wo unsere Aufmerksamkeit immer mehr auf das Wasser 
als Träger und Verbreiter seuchenartig auf tretender Krankheiten, speziell der 
Cholera und des Typhus, gerichtet ist und die bakteriologischen Wasserunter- 



Besprechungen. 


277 


suchungcn im Vordergründe des hygienischen Interesses stehen, wird das Er¬ 
scheinen einer deutschen Ausgabe des höchst verdienstvollen Werkes des ita¬ 
lienischen Verfassers in den betheiligten Kreisen gewiss mit Freuden begrilsst 
werden. Es macht dem Fachgenossen vielfach die Nothwendigkeit eigener Kon- 
troluntersuchungen, sowie das Nachschlagen der Literatur überflüssig, es 
schützt vor schwerwiegenden Verwechselungen und bildet somit ein schwer ent¬ 
behrliches Hülfsmittel, einen zuverlässigen Bathgeber bei allen bakteriologischen 
Untersuchungen des Wassers. 

Eine freundliche Aufnahme und weite Verbreitung dürfte dem Werke 
auch in deutschen Fachkreisen gesichert sein. Rpd. 


Dr. Ed. Golebiewski, Vertrauensarzt bei der nordöstlichen Bauge¬ 
werks - Berufsgenossenschaft in Berlin: Aerztlicher Kom¬ 
mentar zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 
1884. Mit praktischen Rathschlägen zur Untersuchung, Be¬ 
handlung und Beurtheilung von Unfallverletzten. Berlin 1893. 
Karl Heymann’s Verlag. 8°, 261 S. 

Längere Zeit war die Beck er'sehe „Anleitung zur Bestimmung der Ar¬ 
beit#- und Erwerbsunfähigkeit nach Verletzungen“ das einzige Buch, um dem 
Arzte als Rathgeber auf diesem für ihn mehr oder weniger neuen Gebiete seiner 
ärztlichen Tbätigkeit zu dienen. Fast gleichzeitig mit der 4. Auflage dieses 
vortrefflichen Buches sind dann vor Kurzem in schneller Aufeinanderfolge zwei 
andere derartige Arbeiten (von Blasius und Kaufmann) erschienen, von denen 
besonders dasjenige von Kaufmann als ein höchst beachtenswertes Handbuch 
bezeichnet werden muss. Diesem ebenbürtig schliesst sich jetzt das vorliegende 
Werk an, dass auch im Wesentlichen nach denselben Grundsätzen wie jenes 
bearbeitet ist, nur mit dem Unterschiede, dass in ihm nur die Unfallgesetzgebung 
des Deutschen Reiches und nicht auch diejenige der Schweiz und des öster¬ 
reichischen Staates wie dort Berücksichtigung gefunden hat. An Uebersichtlich- 
keit und vor Allem an Brauchbarkeit für die Aerzte im Deutschen Reiche hat 
das Buch dadurch indessen gewonnen, da für diese im Allgemeinen die Unfall¬ 
vorschriften in anderen Ländern wenig oder gar kein Interesse haben. 

Das Buch soll nicht nur den Aerzten, sondern auch den Berufsgenossen¬ 
schaften zur Information über alle wichtigen ärztlichen Fragen des Unfallver¬ 
sicherungsgesetzes dienen, um dadurch ein erspriessliches Zusammenarbeiten 
beider Theile thunlichst zu fördern; denn nur wenn auf beiden Seiten möglichst 
gleiche Erfahrungen vertheilt sind, steht ein solches nach Ansicht des Verfassers 
zu erwarten. In erster Linie ist das Werk aber für die Aerzte bestimmt, gleich¬ 
wohl dürfte es auch für die Bernfsgenossenschaften von grossem Nutzen sein, 
um diese über manche verkehrte Anschauungen in Bezug auf Thätigkeit, 
Pflichten und Befugnisse des Arztes bei der Behandlung und Begutachtung 
Unfallverletzter zu belehren. 

Der Verfasser bringt zunächst die für den Arzt wichtigsten Bestimmungen 
des Unfallversicherungsgesetzes mit den erforderlichen Erläuterungen, die sich 
thcils auf Entscheidungen des Rcichsversicherungsamtes, theils auf andere Kom¬ 
mentare, insbesondere auf das bekannte Werk von W o e d t k e stützen. Er 
geht dann auf den Begriff Unfall und Betriebsunfall über und bezeichnet 
hier mit Recht die von Blasius vertretene Ansicht, dass bei jedem Falle von 
Bruch das Vorhandensein eines Unfalles zu bestreiten sei, als völlig unhaltbar und 
mit den wissenschaftlichen Erfahrungen sowie mit den Entscheidungen des 
Reichsversicherungsamtes nicht in Einklang stehend. 

Sohr sachgemäss sind die im dritten Abschnitte gegebenen Rathschläge 
in Bezug auf das von den Aerzten während des Heilverfahrens im Interesse 
der Unfallverletzten sowohl wie der Berufsgenossenschaften zu beobachtenden 
Verfahren. Nicht minder klar und verständlich sind die beiden folgenden Ab¬ 
schnitte über Erwerbsunfähigkeit und Bestimmung des Grades 
derselben bei den einzelnen Verletzungen bearbeitet. Zutreffend bemerkt Ver- 



278 


Besprechungen. 


fasser, dass die Abschätzung der durch den Unfall erlittenen Beeinträchtigung 
der Erwerbsunfähigkeit in jedem einzelnen Falle unter Erwägung aller sonstigen 
besonderen Umstände und nicht an der Hand einer Unfallskala stattfinden müsse; 
die letztere könne höchstens als allgemeiner Anhalt dienen. 

Fast alle in der Unfallpraxis Torkommenden Verletzungen sind in Bezug 
auf ihre Heilungsdauer und ihre etwaigen Folgen für die Erwerbsunfähigkeit 
ziemlich eingehend behandelt unter Heranziehung zahlreicher Entscheidungen des 
Reichsversicherungsamtes; nur bei dem Kapitel „traumatische Neurose“ hat es 
sich Verfasser recht leicht gemacht und zur genaueren Orientirung auf die 
einschlägige Literatur verwiesen, die nicht Jedermann zur Verfügung stehen 
dürfte. 

Die von vielen Seiten behauptete Zunahme des Simulantenthums seit dem 
Bestehen des Unfallsversicherungsgesetzes kann Verfasser nicht zugeben. Er 
sagt sehr richtig, dass es sich in der Mehrzahl der Fälle nur um eine einfache 
Uebertreibung seitens der Verletzten handelte, diese aber keineswegs als Simu¬ 
lation bezeichnet werden könne. Er giebt dann sehr beherzigenswerthe Winke, 
um einen Simulanten zu entlarven und empfiehlt als sicherstes und bestes Mittel, 
jeden einzelnen Fall genau zu untersuchen und zu individualisiren, nach seiner 
Art besonders zu prüfen und zu beurtheilen. Dabei dürfe der Verletzte nicht 
im Geringsten ahnen, dass man ihn auf Simulation beobachte, man müsse ihm 
scheinbar alle seine Klagen glauben; denn je sicherer er sich dem Arzte gegen¬ 
über fühle, desto leichter werde er in die ihm gelegte Falle gehen. 

Die werthvollsten Abschnitte des Buches bilden unzweifelhaft die letzten 
Kapitel über die ärztlichen Untersuchungen der Unfallverletzten und über die 
Abgabe ärztlicher Gutachten. Die hier niedergelegten, sehr ausführlichen und 
äusserst praktischen Rathschläge beruhen zweifellos auf eigene, reiche Erfahrun¬ 
gen und werden daher nicht nur denjenigen Aerzten, die verhältnissmässig 
selten mit Unfallkranken zu thun haben, sondern auch den auf diesem Gebiete 
häufig beschäftigten Aerzten zu ihrer Information sehr willkommen sein. Jeden¬ 
falls kann man nur wünschen, dass die von dem Verfasser in Bezug auf die 
Untersuchung und Begutachtung der Verletzten wie in Bezug auf die geschäft¬ 
liche Behandlung der Unfallsachen gegebenen Anleitungen von den praktischen 
Aerzten überall berücksichtigt werden, dann dürften auch die in Kreisen der 
Berufsgenossenschaften so oft und leider nicht immer ohne Grund gemachten 
Klagen über unvollständige und mangelhafte ärztliche Gutachten sehr bald 
aufhören. Bpd. 


Dl*. Wiener, Kr.-Phys. u. Geh. San.-Rath; Taxe für die preus- 
sischen Medizinalpersonen vom 21. Juni 1815. Mit 
den Zusatzbestimmung'en bis auf die neueste Zeit. 
2. Aufl. Berlin 1893. Kommissions-Verlag von Alfred H. 
Fried & Co. Kl. 8°. 71 S. 

Seit langer Zeit hat man von Seiten der preussischen Aerzte dahin zu 
wirken gestrebt, dass die seit 1815 bestehende Medizinaltaxe zeitgemäss, Ähn¬ 
lich der im Jahre 1890 für das Königreich Sachsen herausgegebenen Taxe umge¬ 
ändert werde. In jüngster Zeit sind auch die Aerztekammern gutachtlich in 
dieser Beziehung gehört worden, so dass man der Herausgabe der neuen Taxe 
in nicht allzuferner Zeit entgegensehen kann. Der verstorbene Verfasser hat in 
der Erwägung, dass zur Zeit noch die alte Taxe zu Recht besteht und beson¬ 
ders dem Richter im Civilprozesse als Unterlage zur Festsetzung der Gebühren 
dient, diese neben den seither als Ergänzungen erlassenen Bestimmungen zusam¬ 
mengestellt und erläutert. Als Anhang für die Bestimmung der Gebühren für 
neuere Untersuchungsmethoden, Operationen u. s. w. ist die sächsische Taxe, in 
welcher alle diese einschlägigen Verrichtungen mit möglichst grosser Ausführ¬ 
lichkeit berücksichtigt sind, angegeben. Dr. Israel-Medenau (Ostpr.). 



Tagesnachrichten. 


279 


Tagesnachrichten. 

Zur Medizinalreform. In der Schlesischen Zeitung war kürzlich von Neuem 
die Frage angeregt, ob es nicht bei der jetzt bevorstehenden Reform des Medi¬ 
zinalwesens räthlich und angängig sei, wenigstens einen Theil der Medizinal¬ 
abtheilung von dem Kultusministerium abzulösen und mit dem Ministerium des 
Innern in Verbindung zu bringen. Demgegenüber schreibt man aus Berlin: 
„Mag immer eine Reihe von verwaltungstechnischen Gründen zu Gunsten einer 
solchen Umgliederung sprechen, so ist doch auf der anderen Seite gar nicht zu 
bestreiten, dass der jetzige Zustand die Aufrecherhaltung von Beziehungen 
gestattet, die für die Landeswohlfahrt von grosser Wichtigkeit sind. Selbstver¬ 
ständlich fällt es Niemandem ein, auch die Abtrennung der Universitätskliniken 
und des medizinischen Universitätsunterrichts vom Kultusministerium zu befür¬ 
worten. Zwischen diesen Centren der Wissenschaft aber und den staatlichen, 
provinziellen und kommunalen Heilanstalten und Krankenhäusern findet jetzt 
ein so fruchtbringender Austausch von Erfahrungen statt, wie er nur ausgedacht 
werden kann und sich praktisch ermöglichen lässt, wenn ein und derselbe 
Minister das Auge über sämmtlichen bezüglichen Stätten hat und ohne Weiteres 
immer aufs Neue Nachforschungen veranlassen kann, wie weit die nicht der 
Theorie und der Forschung, sondern dem praktischen Leben unmittelbar dienen¬ 
den Krankenhäuser im Lande den fortschreitenden Anforderungen der Wissen¬ 
schaft genügen. Von nicht gering zu schätzender Bedeutung scheint auch zu 
sein, dass derselbe Minister, dem die Theoretiker der Heilkunde unterstellt sind, 
auch die Praktiker kontroliren kann. Es siud auf diese Weise schon wiederholt 
Aerzte, die sich in ihrem verhältnissmässig bescheidenen praktischen Berufskreise 
besonders auszeichneten, in Wirkungssphären versetzt worden, in denen es ihnen 
vergönnt war, sich die grössten Verdienste um die Wissenschaft und die leidende 
Menschheit zu erwerben.“ 

Durch die vorstehenden Ausführungen ist die Zweckmässigkeit der Ver¬ 
einigung der Sanitätspolizei (denn nur um die Abtrennung dieses Zweiges der 
Medizinalabtheilung kann es sich handeln) mit dem Ministerium des Innern 
keineswegs widerlegt. Gleichwohl erscheint es uns nicht angezeigt, gerade jetzt eine 
derartige Abtrennung zu befürworten, wo die Frage der Medizinalreform von dem 
Herrn Kultusminister so thatkräftig, wie noch nie zuvor von einem seiner Amtsvor¬ 
gänger, in die Hand genommen ist und ihre endgültige Lösung voraussichtlich 
in der allernächsten Zeit mit Sicherheit zu erwarten steht. 


Die auf die Tagesordnung der Abgeordnetenhaus - Sitzung vom 30. Mai 
gestellte Berathung der vom Graf Douglas eingebrachten Cholera-Inter¬ 
pellation ist mit Rücksicht darauf, dass der Herr Kultusminister dieselbe 
persönlich zu beantworten wünscht und leider in Folge einer nothwendigen Bade¬ 
kur in Karlsbad am Erscheinen im Abgeordnetenhause verhindert war, vorläufig 
von der Tagesordnung abgesetzt worden und wird erst beim Wiederzusammentritt 
des Landtages (Ende Juni) zur Berathung gelangen. 


Die Frage der Reform der Irrengesetzgebnng ist kürzlich auch im 
Herrenhause (am 25. Mai) bei Gelegenheit der Berathung über eine von dem 
Dr. Sternberg (Charlottenburg) eingereichten Petition eingehender erörtert 
worden. Von mehreren Rednern (von Durant, Graf Pfeil, Graf Klin- 
kowström) wurde im Sinne des bekannten Aufrufes der Kreuzzeitung auf die 
Reformbedürftigkeit des heutigen Trrenwesens hingewiesen und von Seiten der 
Staatsregierung durch Herrn Geh. Obermedizinalrath Dr. Skrzeczka die Er¬ 
klärung abgegeben, dass im Staatsministerium zwischen den betheiligten Ressorts, 
Erörterungen über eine Reform des Irrenwesens unter gleichzeitiger Erwägung 
einer etwaigen Aenderung des Entmündigungsverfahrens bereits seit geraumer 
Zeit schweben. 


Auf die diesjährige Tagesordnung der am 26. und 27. Juni in Breslau 
stattfindenden Aerztetages ist ausser den schon früher festgestellten Berathungs- 



280 


Tagesnachrichten. 


gegenständen: ärztlicher Dienst an Krankenhäusern, Umgestaltung des Vereins¬ 
blattes, anch das Reichssenchengesetz gesetzt. Inzwischen hat der ärzt¬ 
liche Bezirks-Verein in Düsseldorf am 16. Mai auf einen Bericht von Dr. Busch - 
Krefeld bestimmte Sätze als Vorlage für den Aerztctag bei Berathnng des 
Seuchengesetzes genehmigt, die im Wesentlichen mit den Beschlüssen des 
Preussischen Medizinalbeamten-Vereins übereinstimmen, mit Ausnahme der Be¬ 
stimmung betreffs Ausdehnung der Anzeigepflicht auf die Kurpfuscher. 


VIII. internationaler Kongress für Hygiene und Demographie in 
Budapest. Die einzelnen Sektionen des im Jahre 1894 stattfindenden Kon¬ 
gresses sind bereits gebildet und die vorbereitenden Sektionsvorstände gewählt. 
Die Zahl der Sektionen für Hygiene beträgt 13: 1. Aetiologie der Epidemien 
(Bakteriologie), 2. Prophylaxis der Epidemien, 3. Gewerbehygiene, 4. Kinder- und 
Schulhygiene, 5. Nahrungsmittel, 6. Bauhygiene, 7. Hygiene der Städte, 8. Hygiene 
des Verkehrswesens (Eisenbahn- und Schifffahrtsverkehr, Touristik), 9. Armee¬ 
hygiene (Lagerhygiene, Rothes Kreuz, Erste Hülfe), 10. Hygiene der Bäder), 
ll. Sanitätspolizei, 12. Thierhygiene und 13. Pharmacie. Für die Abtheilung 
der Demographie sind 7 Sektionen gebildet: 1. Geschichte, 2. Anthropometrie, 
3. Technik der Demographie, 4. Demographie der Urproduzenten, 5. Gewerbe¬ 
arbeiter, 6. Demographie der grossen Städte und 7. Statistik der körperlichen 
und geistigen Defekte. 

In der 5. hygienischen Sektion für Nahrungsmittel wird beabsichtigt, die 
Organisation der Kontrole der Lebensmittel, die Massennährung der Arbeiter 
und die Trinkwasserfrage als Haupt - Borathungsgcgenstände auf die Tagesord¬ 
nung zu setzen. In dieser Sektion sind ausserdem 8 Untergruppen gebildet für: 
1. Milch und Milchprodukte, 2. Alkohol und alkoholische Getränke, 3. Fleisch, 
Mehl und Mehlprodukte, 4. Genussmittel und Gewürze, 5. Trinkwässer, Mineral¬ 
wässer, Kunstwässer und Quellenprodukte, 6. Volksnährung, 7. Hygiene der 
Ernährung und 8. Konserven. _ 


Cholera. In vergangener Woche ist in Hamburg ein vereinzelter, 
tödtlich verlaufender Fall von Cholera vorgekommen. Von verschiedenen politischen 
Zeitungen wird dieser Fall in Zusammenhang gebracht mit dem am 27. Mai 
erfolgten Zusammentritt der Reichs - Cholerakommission im Kaiserlichen Gesund¬ 
heitsamte. Diese Kombination beruht jedoch auf einem Irrthume, da die Ein¬ 
berufung der Kommission bereits vor länger als acht Tagen beschlossene Sache 
war, also zu einer Zeit, wo von dem neuen Erkrankungsfall in Hamburg noch 
gar keine Rede sein konnte. 

Die Stadt Hamburg wird übrigens jetzt laut einer Bekanntmachung der 
dortigen Cholera - Kommission ausschliesslich mit filtrirtem Wasser versorgt und 
ist seit dem 28. Mai die alte Schöpfstelle der Stadt - Wasserkunst geschlossen. 

In Oesterreich, speziell in Galizien, sind Erkrankungen an Cholera 
in der zweiten Hälfte des Mai nicht mehr vorgekommen. 

In Frankreich hat die Cholera in den ergriffenen Departements 
Morbihan und Finistere keine grössere Ausbreitung genommen. In der Stadt 
Lorient scheint die Seuche erloschen zu sein. Aus dem ganzen Departement Morbihan 
sind in der Zeit vom 24. April bis 8. Mai 26 Todesfälle (vom 2.—8. Mai 28 Er¬ 
krankungen mit 12 Todesfällen) gemeldet; aus Quimper (Departements Finist&re) 
in derselben Zeit 17 Erkrankungen mit 10 Todesfällen. Zeitungsnachrichten 
zu Folge sollen Ende Mai 2 Cholera-Todesfälle in Toulouse vorgekommen sein. 

In Russland herrscht die Cholera nach wie vor in grosser Ausbreitung 
nur noch in Podolien; die Zahl der Erkrankungen betrug hier in der Zeit 
vom 28. März bis 27. April 636 mit 200 Todesfällen. 


Notiz: Der heutigen Nummer der Zeitschrift ist der offizielle 
Bericht über die zehnte Hauptversammlung des Preussischen Medi¬ 
zinalbeamten-Vereins beigegeben. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden L W. 

J. 0. 0. Brom, BvehdrtioktrtJ, Minden. 





6. Jahrg. 


Zeitschrift 

für 


1803. 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rathu.gerichtl.Stadtphysikus inBerlin. Reg.- und Meduinalrath in Minden. 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Yerlagshandlung und Rud. Moese 

entgegen. 


No. 12. 


Erscheint am 1« und 15* jeden Monats. 
Freia jährlich 10 Mark. 


15. Juni. 


Ueber Querulantenwahnsinn. 

Von Dr. Mittenzweig. 

(Fortsetzung.) 

II. Gutachten über den Geisteszustand des Herrn 
Pfarrer C. Witte zu Berlin 1 ). 

A. Sachlage. 

a. Nach dem Inhalt der Akten. 

Der Pfarrer C. Witte, geb. am 26. November 1835 zu 
Cronberg, Kreis Mettmann, als Sohn des Hauptlehrers W. daselbst, 
bezog mit dem Reifezeugniss des Gymnasiums zu Elberfeld um Michaelis 
1853 die Universität Bonn, studirte zeitweise auch in Berlin und 
hat im April 1857 sein erstes, im Oktober 1858 sein zweites theo¬ 
logisches Examen bei dem Königlichen Konsistorium in Koblenz 
bestanden. Nachdem er vorher als Hülfsprediger und Vikar fungirt 
hatte, wurde er am 16. Februar 1859 ordinirt und an demselben 
Tage in das Pfarramt zu Beverungen eingeführt. Vom 1. Oktober 
1864 bis zum 15. August 1870 war er erster Missionsprediger der 
Berliner Gesellschaft zur Beförderung des Christenthums unter 
den Juden, alsdann bis zum 1. Januar 1877 erster Diakonus an 
der St. Elisabeth - Kirche und Prediger an der damaligen Golgatha- 
Kapelle in Berlin, von jenem Zeitpunkte ab Pfarrverweser an der 
neugegründeten St. Golgatha - Kirche. Im Februar 1879 wurde er 
als Pfarrer dieser Kirche eingeführt, in welchem Amte er bis 
Januar d. J. gewaltet hat. Er ist zum zweiten Male verheirathet 
und Vater von 3 Söhnen und einer Tochter. 

Durch Verfügung des Königlichen Konsistoriums vom 16. Januar 


*) Da das Gutachten bereits von Herrn Pfarrer Witte in einer Broschüre 
grösstentheils veröffentlicht ist, so liegt keine Veranlassung vor, Namen und Zeiten 
zu ändern oder nur anzudeuten. 








282 


Dr. Mittenzweig. 


1892 wurde ihm die Eröffnung gemacht, dass der Fall seiner Ver¬ 
setzung in den Ruhestand vorliege, weil er wegen Schwäche seiner 
geistigen Kräfte zu der Erfüllung seines Amtes dauernd un¬ 
fähig sei. 

Diese Verfügung wurde begründet durch sein gesammtes 
Verhalten seit mehr als einem Jahre, namentlich 

durch seine an den Evangelischen Ober-Kirchenrath und an 
das Konsistorium erstatteten Berichte; 

durch sein Benehmen gegen die ihm zur Seite gestellten 
Kirchenältesten (vornehmlich den Kirchenkassen - Rendanten, Amts¬ 
gerichtssekretär Sp.), sowohl bezüglich der Veranlassung als der 
weiteren Behandlung der zwischen Witte und diesen entstan¬ 
denen und fortbestehenden Streitigkeiten; 

insbesondere durch die Art und Weise, in der er den Vorsitz 
und die Leitung der Geschäfte und Verhandlungen des Gemeinde- 
Kirchenraths geführt hat, und durch seine an die Aeltesten er¬ 
lassenen Rundschreiben; 

ferner durch sein Verhältniss zu seinen Amtsbrüdern an der 
St. Golgatha - Kirche 

und endlich durch seine Kundgebungen in den langwierigen 
mündlichen Verhandlungen, wodurch jüngst die ihm Vorgesetzte 
Behörde im Interesse seiner selbst und der Gemeinde ihn zur Be¬ 
sinnung zu bringen und seine Versöhnung mit den Kirchenältesten 
herbeizuführen vergeblich bemüht war. 

Aus diesem allen habe das Konsistorium entnommen, dass 
unter der Einwirkung allmählich entwickelter Wahnvorstellungen 
sowohl von dem Werthe und der Bedeutung seiner eigenen Person, 
wie von den Absichten Anderer seine (in früheren Jahren hervor¬ 
ragende) Urtheilskraft in dem Masse geschwächt sei, dass er — 
bei vielem Scharfsinn und Gedanken - Reichthum im Nebensächlichen 
— in der Hauptsache nicht mehr im Stande sei, die ihn umgebenden 
Verhältnisse klar zu erkennen und mit der für sein Amt erforder¬ 
lichen Besonnenheit die Folgen seiner Handlungen richtig zu be- 
urtheilen, weder nach dem moralischen Werthe der letzteren, noch 
nach ihrer Zweckmässigkeit. — 

Eine Erläuterung dieser Verfügung hat das Konsistorium in 
einem Berichte an den Evangelischen Ober - Kirchenrath gegeben, 
worin es heisst: 

„Dass die W.’sehen Eingaben an Hochdenselben nnd an uns in letzterer 
Zeit, namentlich seit vielen Monaten von einer, mit der Arbeitskraft der Behörde 
gar nicht in Einklang zu bringenden Häufigkeit und Länge — mit einer, die 
meist einfache Sachlage und die sittlichen Gesichtspunkte völlig ausser Acht 
lassenden, nörgelnden Spitzlindigkeit — abgefasst sind, die das sorgfältige und 
eingehende Lesen der Akten schon nach einiger Dauer dem einfachen und ge¬ 
sunden Verstände zur Qual macht. 

Dabei zeigt sich W. in seinem Gedankenkreis derartig gebannt, dass er 
diesen auch bei dem Leser ohne Weiteres voraussetzt-, und in fast allen seinen 
Eingaben z. B. von dem „Kuhstallgeflüster“ redet, ohne auch nur anzudeuten, dass er 
damit Besprechungen seiner Gegner in einer sehr wenig bekannten, den Namen 
„Kuhstall“ führenden Gastwirtschaft im Norden Berlins meint. Die Ursache 
dieser Erscheinung ist eine höchst übertriebene Empfiudung der Wichtigkeit 
seiner Person, eine Empfindung, der er häufig durch Selbstlob Ausdruck giebt 
und die er noch anderweitig an den Tag gelegt hat — so z. B. durch ein end- 



Ueber Querulanten Wahnsinn. 


288 


loses Reden über sich und für sich und gegen Andere, wie es in den Versamm¬ 
lungen des Gemeindekirchenraths bis zum völligen Ausschluss der Geltend¬ 
machung der von der seinen abweichenden Meinungen der Aeltesten gediehen 
war, so dass die kleinliche Rechthaberei und Rücksichtslosigkeit, mit der er 
seinen Vorsitz führte, die Fortdauer derselben nicht länger möglich erscheinen lies. 

Seine Eingenommenheit von sich selbst geht sogar so weit, dass er sich 
eine für andere vernichtende, göttliche Bevorzugung beimisst. So hat er, um 
von mehreren Beispielen nur eines zu erwähnen, wiederholt die Erkrankung des 
Oberhofpredigers Dr. K. als die Folge des seiner Meinung nach ungerechten 
Verhaltens dieses hochstehenden Geistlichen gegen ihn bezeichnet. 

Seine Person gegen vermeintliche Ehrenkränkungen durch Injurienprozesse 
zu vertheidigen, erklärt er wiederholt für Gottesdienst und schliesst dann auf 
Zureden des Richters Vergleiche mit seinen Gegnern, die nicht einmal zur end¬ 
gültigen Beilegung des Streites führen, sondern noch widerwärtige Zänkereien 
in öffentlichen Blättern zur Folge haben. 

Gegen ihn Partei zu nehmen, macht nach seiner Behauptung an sich und 
ohne Weiteres moralisch schlechter, und jeden, der ihm widerstrebt, überhäuft er 
mit Schmähworten und bösartigen Verdächtigungen. 

Um die ihm nachtheiligen Zeugenaussagen eines, seiner ganzen Erschei¬ 
nung und seinem Benehmen nach einfachen und ihm nicht einmal irgendwie 
feindlich gesinnten alten Mannes, des Sohnes eines ehemals wohl bekannten 
alten Geistlichen, zu entkräften, scheut sich W. nicht zu berichten, dass der 
Zeuge, sein damaliger Aeltester bei St. Golgatha, sich vor Jahren über die 
Onanie einer jetzt längst verheiratheten Tochter beklagt habe. 

Ueberall bei seinen Gegnern sieht er x& ßdih) xoö 2axav£, was er offen und 
mit diesen Worten ausspricht. 

Damit im Zusammenhänge steht eine stetige Besorgniss, dass alle Welt 
ihm feindlich gesinnt sei, ihm seine Stellung und sein Ansehen missgönne, seine 
Ehre und sein Amt ihm rauben, ihn überlisten und kränken wolle. 

Und alles, was er in seiner Umgebung hört und sieht, bezieht er auf 
seine Person. 

Mit seiner Frau beobachtet er die Bewegungen seiner vermeintlichen 
Gegner auf der Strasse und zieht daraus Schlüsse auf Anschläge, die gegen ihn 
gesponnen werden. 

Wiederholt hat er als seinen Lebensgrundsatz erklärt: Wer ihn vernichten 
wolle, den vernichte er. Und es gehört wenig dazu, um Jemanden bei ihm in 
jener Absicht soweit zu verdächtigen, dass er rücksichtslos gegen ihn herzieht, 
um ihn seinerseits um Ehre und Amt zu bringen. 

Ein redendes Beispiel dafür ist sein Verhalten gegen den Kirchenkassen¬ 
rendanten im Ehrenamte, Amtsgerichtssekretär Sp. Dabei sah er einen offenbar 
harmlosen Vorgang bei der Kassenrevision als eine ihm gestellte gefährliche 
Falle an. 

Hiernach kann es nicht Wunder nehmen, dass er zu einem Bewusstsein 
eigener Schuld durchaus nicht zu gelangen vermag. 

Obwohl er die Aeltesten seit langer Zeit in mündlichen Reden bei den 
Verhandlungen im Gemeindekirchenrath und in schriftlichen, alles Mass an Rück¬ 
sichtslosigkeit übersteigenden Zirkularen schwer verletzt hatte, war er doch in 
den Verhandlungen Dezember v. J. und Januar d. J. auch durch die eindring¬ 
lichsten Vorstellungen von Seiten des Generalsuperintendenten Dr. Br. und des 
mitunterzeichneten Präsidenten nicht zu bewegen, sich auch nur im Geringsten 
schuldig zu bekennen. 

Dies und noch vieles Andere spricht für seine Erkrankung an Grössen- 
und Verfolgungswahn, und Ansätze dazu scheinen schon seit einem Jahrzehnt 
und länger bei ihm vorhanden gewesen zu sein, da er seinen Bekannten von 
jeher durch seine Ruhmredigkeit auffiel und lästig wurde.“ 

Ueber die Beschaffenheit und Entwicklung von W.’s Charakter 
und Geisteseigenschaften ergeben die in den Akten niedergelegten 
Thatsachen und Urtheile Folgendes: 

Bis zur Zeit seines Amtsantrittes in Beverungen finden wir 
nichts Bemerkenswerthes. Erst seine Bewerbung um das Missions¬ 
amt in Berlin giebt dem Herrn Superint. B. in B. Veranlassung 



2S4 


Dr. Mittenzweig. 


zu einer charakterisirenden Aeusserung. Derselbe schreibt (Acta 
personalia Bd. I, Bl. 9 tf) unter dem 16. Oktober 1S62: 

^Wenn Pastor W\ dem evangelisch-lutherischen Bekenntnis» treu zu- 
gethan ist. so erfüllt er damit seine heilige Pliicht: denn einmal ist er aut die¬ 
selbe vorschriftsmäßig bei seiner Ordination verpflichtet, zum anderen bestimmen 
die sogenannten Bekenntnis.* - Paragraphen der Kirchenordnuug ausdrücklich, dass 
die lutherischen symbolischen Bücher auch selbst in den der Union beigetretenen 
Gemeinden in voller Geltung bleiben. Stimmt ein Pastor mit denselben nicht 
überv-in, so sollte er, wenn eine Gemeinde lutherischer Konfession ihn berult, doch 
pflichtmärsig diesen Huf ablehnen. Pastor W\ weiss aber recht gut, dass es 
vollkommen gleichgültig ist. ub man lutherisch, refurmirt oder sonstwie in die 
Holle fährt, und dass sein Beruf an der Gemeinde der ist, zu suchen und selig 
zu machen, vor Allem, dass er selbst zu trachten hat, dass er selig wird mit 
Furcht und Zittern. So weit ich sehen kann, hat er sein Amt unter sehr 
schwierigen Verhältnissen gewissenhaft versehen, namentlich aber ohne 
alle Menschen furcht. Es konnte deshalb nicht fehlen, dass Gemeinde¬ 
glieder ihn um seines entschiedenen Auftretens in der Predigt und Seelsorge 
Willen meinten an feinden zu müssen, indessen ist meines Wissens auch 
zu diesen sein Verhältnis ein gutes und freundliches, und die übrigen hängen 
ihrn mit vieler Liebe an. Geachtet wird er von Allen. Für den Aufbau der 
noch in Entwicklung begriffenen Gemeinde ist er unermüdlich thätig gewesen. 
— Es ist die Folge seiner Bemühungen, dass ein Pfarr-Dotations- Kapital, 
2d Morgen Ländereien, Kirci.platz, ein Kapital zum Kirchenbau zusammeu- 
gekomincn und die 1700 Thlr. Schulden, welche auf dem Pfarr-, Kirchen- und 
.Schulbau» standen, getilgt sind. 

Las Altlutherthum anlangend, so glaube ich, dass er die Separation tief 
beklagt und nicht die geringste Neigung hat, der Landeskirche untreu zu werden.* 

In einem zweiten Schreiben vom 6. Februar 1864 schreibt 
Herr Sup. B.: 

„Ob ich W. aber gerade für Ihren Zweck empfehlen kann, weiss ich nicht. 
Ich habe keine Kenntnis», ob Sie dieselbe Auslegung der Propheten verlangen, 
wie z. B. die Rheinische Gesellschaft und die Engländer, wonach das Israel nach 
dem Fleisch einen Vorrang vor den Heidenchristen behält u. s. w. Diese Aus¬ 
legung wird er nie acceptiren. Ausserdem aber scheint er mir eine wirklicheAb- 
nejgung gegen die Juden zu haben und sie vorzugsweise nach der Seite hin zu 
betrachten, dass sie den Herrn gekreuzigt und den Fluch auf sich geladen haben, 
wenigstens habe ich es schon für meine Pflicht gehalten, ihn zu fragen, ob seine 
Stellung zu den Juden der Liebe und der Nachfolge St. Pauli, Homer 1 ff ent¬ 
spreche. Irre ich mich darin oder kann er dies überwinden, so halte ich ihn 
allerdings zum Missionar geeignet. Er ist in der Unterhaltung frei- 
uni t h i g, gewandt und f a c i 1 e. u 

Im Jabre 1865 vollendete W. eine Schrift, welche Bl. III. c. 
als gediegener Beitrag zu den Arbeiten der Mission unter Israel 
bezeichnet wird. 

In den siebziger Jahren hat W. viele Krankheiten in seiner 
Familie gehabt, und auch er selbst war in Folge grosser Anstren¬ 
gungen leidend geworden. Aus diesem Grunde hatte schon im 
Jahre 1878 sein Hausarzt Pause, Stärkung und speziell eine Kur 
in Ems aufs Dringendste empfohlen. Die Verhältnisse gestatteten 
indess damals einen Urlaub nicht. Erst im Sommer 1875 konnte 
er eine Erholungsreise machen. 

Zu Ende 1874 war die erste Pfarrstelle der St. Elisabeth- 
Gemeinde neu zu besetzen, und wurde in dieselbe der Pfarrer Qu. 
berufen, welcher am 16. November 1874 das Pfarrhaus bezog 
(Bl. 202 ff, Personl. I). W. hat damals nach den Akten trotz er¬ 
haltener Anzeige die Schlüssel zur Studirstube nicht rechtzeitig 
überliefert und vom Superintendenten der Diözese Berlin II eine 



Ueber Querulantenwahnsinn. 


285 


Aufforderung erhalten, dies schleunigst zh thun. Inzwischen 
aber war die Auslieferung der Schlüssel bereits erfolgt, und W. 
antwortete dem Superintendenten in einem Schreiben, in welchem 
das Konsistorium eine ironisirende Glossirung und eine 
unpassende Kritik des Schreibens des Superintendenten fand. 
Dieses Schreiben lautet: 

„Schleunigst antwortet Ew. Hochehrwürden der Unterzeichnete, dass 
er die nach eben eingegangener Anordnung des Herrn Königl. Superintendenten 
schleunigst an Herrn Pfarrer design. Qu. zu entsendenden Schlüssel schon 
vorgestern schleunigst an den Herrn Prediger Qu. auf schriftliches Er¬ 
suchen des Predigers v. K. übersandt hat. Es ist bereits vor 48 Stunden ge¬ 
schehen. 

Wir leben in ernster Zeit; ihre Aufgaben sind schwer. Jeder Geistliche 
hat sich zu freuen, wenn er in inferioren Dingen nicht zu viel hin 
und her zu schreiben hat etc.“ 

Auf den 12. Dezember 1875 hatte ferner der Pfarrer Qu. 
ihn zu sich zu einer Tasse Thee etc. eingeladen. Diese Einladung 
lehnte er jedoch mittelst folgenden Schreibens ab: 

„Verehrter Herr Bruder! Wie herzlich würde ich mich freuen, wenn es 
nicht durch ihr ganzes bisheriges Betragen mir unmöglich gemacht wäre, der 
im Grunde z. Z. mich überraschenden Einladung zu folgen. Leider haben Sie 
mir’s unmöglich gemacht, — zu meinem Bedauern, ja zu meiner Betrübniss. 

Pesthaltend an der Gemeinschaft des Glaubens, welchen wir mit einander 
haben und daher sie freundlich grüssend Ihr C. W.“ 

Dieses Schreiben erhielt er mit folgender Unterschrift in 
originali zurück. 

„Solcher Dank auf eine freundliche Einladung wird von der verletzten 
Hausfrau, die dergleichen nie gekannt hat, einfach wieder zurückgeschickt. 

gez. A. Qu., geb. M.“ 

Hierauf antwortete W. dem Pfarrer Qu. am 13. Dezember 
1875 mittelst eines mit dem Amtssiegel verschlossenen Schreibens 
dahin: 

„Mit Bezug auf die gestern per Post mit Beginn des Gottesdienstes mir 
gewordenen Zeilen Ihrer Gattin bemerke ich Ihnen, dass ich Ihre Frau Ge¬ 
mahlin an der Einladung für im Wesentlichen unschuldig noch heute halte, wie 
ich denn auch heute noch das Vertrauen hegen möchte, dass Ihre Gattin meine 
Ablehnung schon eher für gerechtfertigt halten würde, wenn ihr das Verhalten ihres 
Gatten gegen seinen nächststehenden Amtsbruder bekannter wäre. Uebrigcns 
braucht, auch abgesehen von verletzten Hausfrauen hüben und drüben, eine 
Korrespondenz zwischen Ihrer Gattin als Hausfrau und mir um so weniger zu 
entstehen, als ich jeden Anlass dazu vermieden habe. Sie sind der eigentlich 
Einladende, und sind die meisten Einladungen, wie ich vernehme, sogar von 
Ihrem Küster, der ja nicht zugleich von ihrer Frau Gemahlin ressortirt, ge¬ 
schrieben worden. Sie allein hatte ich darüber zu verständigen, wie ich zu 
Ihrer in meinen Augen werthlosen und verwerflichen Einladerei stehe. Wie Sie 
durch Ihr ganzes bisheriges Betragen sich von den schuldigen Rücksichten gegen 
einen Amtsbruder bis hin zur Frage des täglichen Brodes thatsiiehlich dispensirt 
und die Ehre verwirkt haben, mich unter ihren Gästen zu sehen, so dispensirc 
ich Sie von allen süffisanten velleites und theatralischen maneuvres. 

Das Mitglied des Gemeinde - Kircheuraths C. W. 

An den Herrn Pfarrer Qu., Vorsitzenden des Gemeinde-Kirchenraths. 

Hochehrwürden.“ 

Letzteres Schreiben hat der Pfarrer Qu. in der nächsten 
Gemeinde-Kirchenraths-Sitzung unter Protest W.’s verlesen, und 
es entspann sich daraus eine Differenz, so dass der Gemeinde¬ 
kirchenrath die Angelegenheit dem Konsistorium mitzutheilen 
beschloss. 

Sein Benehmen, dem Superintenden Str. gegenüber, entschul- 



286 


Dr. Mittenzweig. 


digte W. später damit, dass er dazumal in einen Zustand der 
Nervosität gerathen sei, welche es für ihn schwierig machte, jeden 
einzelnen Zwischenfall mit völliger Ruhe zu erledigen. 

Zum Verständniss des Vorfalles mit Qu. sei erwähnt, dass 
W. als erster Diakonus der Elisabeth - Gemeinde die Hoffnung ge¬ 
hegt hatte, in die erledigte Pfarrstelle dieser Gemeinde berufen 
zu werden, während der Pfarrer Qu. berufen wurde. Ferner 
glaubte W., dass dieser die Verhandlungen über seine Gehalts¬ 
erhöhung in die Länge zöge (Bl. 203 1. c.) und anderes mehr. 

Das Konsistorium hob schon bei dieser Gelegenheit hervor: 

„Was achliesslicfi die vielfachen herben und invektiven Ausdrücke betrifft, 
welche der Prediger W. in seinen an das Konsistorium zu der Disziplinarunter- 
suchung gerichteten Vorstellungen bezüglich des Pfarrers Qu. gebraucht hat, so 
entziehen sich dieselben einer disziplinarischen Beurtheilung, da etc.“ 

Auffällig erscheinen auch schon aus dieser Zeit Redewendungen 
W.’s, welche Ueberschätzungs- und Verfolgungsideen verrathen, 
so z. B.: 

Bl. 38: „Fama ruit, der phanthastische Jubel der Feinde — warum sollte 
er nicht gross sein.“ 

Bl. 40: „Mag der Prediger Qu. seine Einladung vor Gott und dem sittlich¬ 
religiösen Urtheil verantworten, — Gott richtet mich auf wie durch den Zu¬ 
spruch seines Geistes so durch den tröstlichen Beistand edler Männer.“ 

„So gewiss das „audiatur et altera pars“ und das „suum cuique“ gelten, 
halte ich an meiner ehrerbietigen Zuversicht fest.“ 

„Vor der empfindungslosen und hartherzigen Empfindlichkeit des Predigers 
Qu. Respekt zu haben, liegt mir ferne, als solche aber habe ich sie erkannt.“ 

„Mehr denn 5 Jahre diene ich der Gemeinde. Vier Hülfsprediger haben 
mir zur Seite gestanden. Unser Verhältniss war ein ideales, es sind Verhältnisse 
für die Ewigkeit geworden. Da kommt nun ein Mann, der noch keinerlei kol- 
legialische Probe bestanden hat, darf mich verklagen und hat Erfolg, ehe ich 
auch nur gehört bin.“ 

„Prediger D. erklärte mir, „ich würde bald exmittirt werden und plötzlich 
anderwärts auftauchen, in Berlin gehe das rasch.“ Ich (W.) führe das an als 
Symptom dafür, wie ich hier seit Jahren im Kampf um’s Dasein stehe. Ich 
bin derjenige, der des Schutzes einer Köuigl. Preussischen Behörde bedarf etc.“ 

Noch eine andere Eigenthümlichkeit W.’s macht sich schon 
in diesen Schriftstücken geltend, nämlich die Benennung einzelner 
Vorgänge mit auffallenden Bezeichnungen und der Gebrauch dieser 
Bezeichnungen, welche nur dem Eingeweihten deutbar sind, in 
seinen Eingaben an die Vorgesetzten Behörden, z. B. der Bezeich¬ 
nung: „Thee-Einladung“, „Thee-Konflikt“, Thee-Sache, Schlüssel¬ 
sache etc.“ 

Andererseits ist aus jener Zeit hervorzuheben, dass W. dem 
begütigenden Einfluss seiner Vorgesetzten und seiner damals noch 
lebenden ersten Frau sein Ohr lieh. Bl. 84 1. c. sagt er: 

„Sein (des Superintendenturverwesers) Schreiben hat mich zur ernstlichen 
Erwägung des Wortes geführt, dass des Menschen Zorn nicht thut, was vor 
Gott recht ist; tt 

und von seiner Frau schreibt er: 

„Das kann ich zwar sagen, dass ich vor dem Ausbruch eines Konflikts 
gezittert habe; um so mehr hätte ich am 13. Dezember, nachdem ich jenen 
Schlag empfangen, einen Gegenstoss nicht führen sollen, sondern, Alles dem 
anheirnstellend, der da richtet, meine christliche Ehre darein setzen sollen, 
zu schweigen, wie ich vor Jedermann sonst darüber geschwiegen. 

Beklagen muss ich, dass ich darin nicht dem Käthe meiner lieben Frau 
gefolgt bin, w r elche mir rieth, ich solle auch das schweigend hinnehmeu, dagegen, 



Ueber Qnerolantenwahnsinn. 287 

wenn ich etwas thun wolle, den Amtsbrader Qa. persönlich darüber, ihn b e - 
suchend, anreden. 

Aber das Gefühl der empfangenen Beleidigung war mir 
leider zu mächtig geworden.“ 

Charakteristisch für Witte’s Ehrgeiz und Eigensinn ist auch 
seine Zurückweisung einer Versetzung. Er schreibt diesbezüglich 
am 18. April 1876 an das Konsistorium (Bl. 122): 

„beehre ich mich nochmals und ganz gehorsAmst zu erklären, dass die 
Proposition aus allen massgebenden Gründen für mich unannehmbar bleibt. 

Im Zusammenhang mit der Thee- Angelegenheit kann und darf ich nicht 
von hier weichen. 

Hochwürdiges Konsistorium wolle vertrauen, dass ich meine öffentliche 
Ehre, welche seit hochverehrlicher Suspensions - Verfügung vom 6. Januar (1876) 
in diese Thee • Sache verflochten ist, in jedem Falle unversehrt auf meine Kinder 
überliefern werde.“ 

In einem Schreiben des Konsistoriums an den Herrn Minister 
F., betr. Beantragung einer Unterstützung W.’s, heisst es ferner: 

„Jedenfalls mussten wir zu der Ueberzeugung gelangen, dass ein Ver¬ 
bleiben des p. W. in seiner jetzigen Stellung eine Unmöglichkeit ist. Anderer¬ 
seits liesa sich nicht verkennen, dass sich der p. Witte der Tragweite seiner 
Handlungsweise nicht voll bewusst war und ist, dass seine Verbitterung ihm 
den klaren Blick raubt und ihn in eine psychologisch krankhafte 
Stimmung einer Art von Verfolgungswahn versetzt hat. Wir ver¬ 
suchten deshalb, ihn im Wege der Güte zu einem Eingehen auf seine Versetzung 
zu bewegen; indess ohne Erfolg. Nunmehr blieb nichts übrig als die Disziplinar- 
untersuchung gegen ihn zu eröffnen. — Schon damals war W. nicht zur Einsicht 
in sein Unrecht zu bringen und halsstarrig im Kampfe um seine äussere Ehre.“ 

Der Inhalt des Adhibendum I wirft ebenfalls Streiflichter 
auf das Benehmen W.’s in dieser Disziplinaruntersuchung. Sie 
bilden die Erläuterung zu den bereits angezogenen Stellen und 
die ausführlichen Begründungen zu dem Urtheil des Konsistoriums. 
So namenlich der Bl. 20 des Adh. I stehende Brief W.’s an den 
Superintendenten Str., ferner ein solcher (Bl. 21), in welchem 
es heisst: 

„Das bestehende gesetzliche Verhältniss ehre ich mit freudigem Gehorsam, 
aber zur richtigen Würdigung meiner amtlichen Stellung gehört mir immerhin 
auch die Rücksicht auf die Würde meines eigenen Amtes, 
meiner Stellung und meiner Person.“ 

Und ferner: 

„Der untergebene Geistliche, namentlich auf dem Boden unserer Kirche, 
wird je nach Lage und Charakter der Dinge nicht leicht darauf verzichten, auch 
bei seinem geistlichen Herrn Vorgesetzten und für diese Zeitlichkeit sich an 
Herz und Gewissen zu wenden.“ 

Schliesslich ist beziehentlich dieser ersten Disziplinarunter¬ 
suchung noch im Allgemeinen hervorzuheben, dass W. zwar in 
seiner Vertheidigungschrift sein Unrecht gegenüber dem Sup. Str. 
nur theilweise, sein Unrecht gegen den Pfarrer Qu. überhaupt 
nicht anerkannte, sich aber doch bei dem Erkenntniss des Konsistoriums 
beruhigte, wenigstens äusserlich keine Schritte that, um seinen ver¬ 
meintlichen Rechte Anerkennung zu verschaffen. 

Abgesehen von der Verwarnung vom 27. März 1880 finden 
sich in den Akten bis zum Jahre 1889 keine besonderen Vor¬ 
kommnisse erwähnt. Gleichwohl war dieses Jahrzehnt von 1878 
bis 1888 für die Gestaltung von W.’s äusseren und inneren Ver¬ 
hältnissen an Vorkommnissen sehr inhaltsreich und folgenschwer, 
namentlich dadurch, dass sein Erscheinen auf der Bühne der poli- 



288 


Dr. Mittenzweig. 


tischen Wahlkämpfe ihn mit St. Zusammentreffen liess, ihn schliesslich 
mit diesem in einen persönlichen Konflikt verwickelte und dass im 
Gefolge dieses Kampfes neben dem Aufrühren und Aufbauschen 
mancher an sich unerheblicher Thatsachen auch die Differenzen aus 
dem Schoosse der Gemeinde und namentlich aus dem Gemeinde- 
Kirchenrathe in die Oeffentlichkeit gezerrt wurden. 

Die Acta personalia Band II und III nebst den Adhibenda 
II. Bd. I und II, sowie die beiden Bände mit Zirkularen umfassen 
die Vorgänge aus der Zeit von 1889 bis 1892 und liefern gleich¬ 
zeitig das Material zur Kenntniss der Vorgänge aus dem genannten 
Jahrzehnt, insofern sie zur Erklärung der leztjährigen Ereignisse 
und Handlungen Witte’s nothwendig ist. Aus diesen Akten ist 
Folgendes ersichtlich: 

Mit dem Beginn des Jahres 1889 hatte Herr Hofprediger 
St. unter dem 10. und 19. Januar je eine Beschwerde über W. an 
das Königl. Konsistorium und dieser wiederum unter dem 23. Febr. 
resp. 22. März eine Beschwerde über den Hofprediger St. an den 
Evangelischen Oberkirchenrath eingereicht. 

Das Konsistorium fand keine genügende Veranlassung zu 
einem disziplinarischen Einschreiten gegen W.; der Evangelische 
Oberkirchenrath indess ertheilte ihm unter dem 25. März 1889 
einen Verweis und fügte hinzu: 

„Dabei wird von uns vorausgesetzt, dass ähnliche Publikationen *) in Zu¬ 
kunft unterbleiben werden. Sollte diese Erwartung sich als hinfällig erweisen, 
so würden schärfere disziplinarische Massnahmen in Erwägung gezogen werden 
müssen. 

Es ist Thatsache, dass an diese Veröffentlichungen die peinlichsten Er¬ 
örterungen in der Tagespresse geknüpft worden sind, welche in weiten Kreisen 
der evangelischen Kirche und in den Gemeinden gerechtes Aufsehen und 
Aergemiss zu erregen geeignet waren und zweifellos erregt haben. In einer 
Zeit, in welcher Irreligiosität und Gleichgültigkeit gegen die Kirche mehr und 
mehr um sich greifen, muss die Würde des geistlichen Amtes nach allen Rich¬ 
tungen doppelt sorgfältig gewahrt, insbesondere aber von jedem Träger desselben 
gefordert werden, dass er in Selbstverleugnung durch Sanftmuth und Verträg¬ 
lichkeit den Gemeinden ein vorbildliches Beispiel gebe (cfr. §§. 70, 71. Tit. 11 
Thl. II Allgem. Landrechts). 

Gegen diese Amtspflicht haben Sie durch obige öffentliche Kundgebungen 
verstossen und dadurch die abfälligen und gehässigen Beurtheilungen in der 
Presse mit veranlasst. Die Beweggründe, welche Sie in Ihren bei den Akten 
befindlichen Erklärungen für Ihr Vorgehen angeführt haben, können wir als 
eine Rechtfertigung desselben nicht ansehen. 

Bei dieser Sachlage treten die Einzelheiten, namentlich die Frage, welcher 
von beiden Geistlichen der zuerst angegriffene gewesen und welchen derselben 
ein grösseres Mass von Schuld treffe, in der Bedeutung zurück und bedürfen einer 
näheren Erörterung und Feststellung nicht.“ 

Da diese letzte Vorbestrafung W.’s im ursäclilichen Zu¬ 
sammenhänge mit der nun folgenden Disziplinaruntersuchung steht, 
so erscheint es für die Beurtheilung seines Verfahrens vortheilhaft, 
auf die ersten Ursachen der Anklagepunkte des Genaueren ein¬ 
zugehen. 

Als im Jahre 1878 Hofprediger St. als konservativer Kan¬ 
didat des VI. Berliner Wahlkreises aufgestellt war, und als W., 


') St. und W. hatten Artikel veröffentlicht, deren Sinn auf eine gegen¬ 
seitige Bezichtigung des Mangels an Wahrhaftigkeit hinauslief. 



Ueber Querulantenwahnsinn. 


289 


der von der Anschauung ausging, dass für die grösstentheils 
aus Arbeitern bestehende Bevölkerung des VI. Wahlkreises der 
Fabrikbesitzer H. ein viel geeigneterer Vertreter sein würde, aus 
diesem Grunde für die Kandidatur dieses Letzteren eintrat, da 
theilte St. seinem damaligen Parteimitgliede Gr. mit, dass W. seine 
Unterschrift dazu hergegeben hätte, um den Kommerzienrath W. 
den Titel als Geheimer Kommerzienrath auszuwirken, und beauf¬ 
tragte ihn, in der Versammlung diese Mittheilung zu benutzen 
und event. den Wählern vorzustellen, dass ein Mann, der jüdischen 
Mitbürgern Titel und Ehren verschaffen helfe, nicht geeignet sei, 
mit einer selbstständigen konservativen Agitation hervorzutreten. 

Hofprediger St. selbst hat damals einen dahinzielenden Brief 
an W. nicht geschrieben. In einem gerichtlichen Erkenntniss 
gegen B. war aber in der Begründung irrthümlicher Weise gesagt, 
dass dies geschehen sei, indem augenscheinlich dieser nicht exis- 
tirende Brief von den beiden Vertheidigern und dem Gerichtshöfe 
mit einem wirklichen Briefe St. an W. aus dem Jahre 1885 ver¬ 
wechselt worden war. 

Ueber die Existenz dieses, wie Hofprediger St. ihn nennt, 
„in der Phantasie des Gerichtshofes existirenden Briefes“ entspann 
sich der erste Streit zwischen St. und W., welcher mit dem Ver¬ 
weise vom 25. März 1889 für W. endete. 

Trotz dieser Verwarnung erschien im Buchhandel W.’s 
Broschüre „Mein Konflikt mit Herrn Hof- und Domprediger St“. 

In der dieserhalb angestellten Disziplinaruntersuchung gegen 
W. erkannte das Königliche Konsistorium unter dem 6. März 1890 
dahin, dass der Angeschuldigte zu einer Geldstrafe von dreihundert 
Mark und zum Ersatz der baaren Auslagen des Verfahrens ver- 
urtheilt werde. 

In dem Erkenntniss wird am Schlüsse bemerkt: 

„Die Erklärung für derartige Anfeindungen kann nur in der Stimmung 
gefunden werden, in welcher sich der Angeklagte schon seit Jahren — übrigens 
nicht ohne Veranlassung — in Bezug auf den Hofprediger St. befindet. 
Man hat es offenbar hier mit einer Idiosynkrasie des Angeklagten zu thun, 
die es ansschliesst, ihm die absolute Grundlosigkeit eines Theiles seiner Angriffe 
als besonders belastend zuzurechnen. Eine Folge dieser Idiosynkrasie ist 
auch dies, dass der Angeklagte den Gegnern des Hofpredigers St. alles glaubt, 
während er hinter den eigenen Erklärungen des Letzteren ohne Weiteres nur 
Lug und Trug sieht.“ 

Am Schlüsse heisst es: 

„Daneben kam in Betracht, dass dem Angeklagten, trotz seiner Vorstrafen, 
das Zeugniss eines eifrigen und treuen, fest zu den Bekenntnissen der Kirche 
haltenden Geistlichen nicht versagt werden konnte. Aus diesem letzteren Um¬ 
stande auch schöpfte das Kollegium die Hoffnung, der Angeklagte werde durch 
eine milde Beurtheilung seiner Fehltritte wiederum auf den rechten Weg geführt 
und zur Umkehr von der abschüssigen Bahn bewogen werden, auf die er sich 
durch seine Feindschaft gegen den Hofprediger St. hat leiten lassen.“ 

Gegen diese Entscheidung legte sowohl der Ankläger wie der 
Verurtheilte Berufung ein. 

Am 2. September 1890 reichte W. dem Evangelischen Ober- 
Kirchenrath seine Berufungsschrift im Umfange von 348 Blättern 
ein unter Beilegung der beiden Broschüren „Meine Konflikt etc.“ 
und „Wider das St.’sche „Volk“. 



290 


Dr. Mittenzweig. 


Dieselbe ist wegen verspäteter Einreichung nicht berück¬ 
sichtigt worden. 

Unter dem 21. Januar bestätigte der Evangelische Ober- 
Kirchenrath die Entscheidung des Konsistoriums vom 6. März 1890. 
In der Begründung sagt dieser Erlass: 

„Beide Broschüren, welche inhaltlich in engem Zusammenhänge stehen, 
enthalten heftige Angriffe und schwere Vorwürfe gegen den Hofprediger St. 
und bilden deshalb von Seiten des Angeschuldigten eine Fortsetzung jenes vor 
der grossen Oeffentlichkeit geführten Kampfes der beiden Geistlichen, wegen 
dessen die oberste Kirchenbehörde soeben disziplinarisch gegen sie vorgegangen 
und vor dessen Fortsetzung auch der Angeschuldigte in der Vorfügung vom 
26. März 1889 unter Hinweis auf die ernsteren disziplinarischen Folgen etwaiger 
weiterer ähnlicher Publikationen nachdrücklich gewarnt war. Dass es sich in 
beiden Broschüren um Publikationen ähnlichen Inhalts handelt, wie solche jener 
Verfügung des Evangelischen Oberkirchenraths zu Grunde lagen, ist durch die 
Broschüren selbst und durch die Erklärungen des Angeschuldigten als erwiesen 
und thatsächlich festgestellt erachtet worden. 

Ob in der Verfügung vom 25. März 1889 ein Verbot solcher Publikationen 
oder nur eine Warnung des Angeschuldigten zu finden bezw. ob die Behörde zu 
einem derartigen Verbot überhaupt befugt gewesen sei, bedarf keiner weiteren 
Erläuterung. Unzweifelhaft steht der kirchlichen Aufsichtsbehörde das Urtheil 
darüber zu, was die Amtspflicht von den ihr unterstellten Geistlichen der Landes¬ 
kirche fordert und die Behörde hat den Angeschuldigten nicht darüber in Zweifel 
gelassen, wie sie ihrerseits bei ähnlichen Publikationen die Sache auffassen werde. 

In dieser Beziehung ist an der, der Verfügung vom 25. März 1889 zu 
Grunde liegenden Auffassung lediglich festzuhalten. 

Der Angeschuldigte selbst konnte über die Meinung der ihm in dieser 
Verfügung gemachten Eröffnung nicht im Unklaren sein, und es ist nicht anzu¬ 
nehmen, dass dieserhalb Zweifel bei ihm thatsächlich bestanden haben. Ob die 
Fortsetzung jenes gehässigen Kampfes in der Oeffentlichkeit durch die Zeitungen 
oder durch die Broschüren erfolgt ist, bleibt völlig gleichgültig. 

Es kann aber auch nicht zugegeben werden, dass der Angeschuldigte in 
der Nothwehr gehandelt, weil er von der Vorgesetzten Behörde ohne Schutz 
gelassen sei. Dem Hofprediger St. war, wie dem Angeschuldigten bekannt, im 
März 1889 seitens des evangelischen Ober-Kirchenraths ebenfalls das Geeignete 
eröffnet worden. Seitdem hat. St. sich aller öffentlicher Angriffe gegen den An¬ 
geschuldigten enthalten. Der Artikel in Nr. 89 der Zeitung „Das Volk u , welcher 
erwiesener Massen vom Hofprediger St., wenn auch mit nicht näher festge- 
stellten Abänderungen seitens des Redakteurs L. versehen, herrührt, trägt das 
Datum des 15. Februar 1889, ist also vor der Verfügung vom 25. März 1889 
veröffentlicht. Ueberdies ist der Artikel Gegenstand einer besonderen Privat¬ 
klage des Angeschuldigten gegen Hofprediger St. wegen Beleidigung gewesen 
und durch deu zwischen den Parteien abgeschlossenen Prozessvergleich vom 
6. November v. J. erledigt. 

Wenn Angeschuldigter von der Annahme ausgeht, Hofprediger St. sei, 
wenn nicht direkt als Verfasser, so doch als intellektueller Urheber für die in 
den beiden Broschüren erwähnten, den Angeschuldigten beleidigenden Zeitungs¬ 
artikel aus dem April 1889 moralisch verantwortlich, so fehlt für diese Annahme 
jeder Beweis. Die Redakteure L. und E., welche zeugeneidlich über diese Punkte 
vernommen worden sind, haben das Gegeutheil bekundet. Unmöglich kann der 
Augeschuldigte von den Kirchenbehörden einen Schutz gegen Angriffe solcher 
Personen erwarten, welche der Disziplinargewalt dieser Behörden nicht unter¬ 
stellt sind. 

In dem vorliegenden Verfahren ist das entscheidende Gewicht lediglich 
auf die gehässige Fortsetzung des Aufsehen und Aergeruiss gebenden Streites 
als solche zu legen, dem Inhalte der Broschüren im Einzelnen aber keine 
selbstständige disziplinarische Bedeutung beizumessen. 

Insbesondere ist nicht angenommen worden, dass es im Bewusstsein und 
in der Absicht des Angeschuldigten gelegen habe, die schuldige Ehrerbietung 
gegen seine Vorgesetzte Behörde durch die öffentliche Kritik des Erlasses vom 
25. Alärz 1889 zu verletzen, oder dass ihm mit Rücksicht auf die Anwendung 



Ueber Querulantenwahnsinn. 


291 


eines Schriftwortes (S. 56 Z. 2 and 3 der ersten Broschüre), dessen Heranziehung 
allerdings hätte vermieden werden sollen, ein Mangel an Ehrfurcht vor der 
heiligen Schrift vorzuwerfen sei. 

Die Mittheilung des Gespräches zwischen der Ehefrau des Angeschuldigten 
und dem Chefredakteur v. H. (S. 2 und 3 der ersten Broschüre) tritt in diszipli¬ 
narischer Hinsicht wesentlich zurück. 

Wie schon bei Erlass der Verfügung vom 25. März 1889 kann es auch 
jetzt dahin gestellt bleiben, auf welcher Seite in dem Streite der beiden Geist¬ 
lichen die überwiegende Schuld liegt und inwieweit die Beschuldigungen und 
Vorwürfe des einen Theiles durch Angriffe und Neigungen des anderen Theiles 
aufgewogen werden. Schon in der Entscheidung des Konsistoriums vom 
6. März v. J. ist in dieser Beziehung anerkannt, dass es sich um Handlungen 
eines durch Kränkungen von gegnerischer Seite schwer gereizten Mannes handelt. 
Es rechtfertigt sich daher um so mehr, den Vorwurf der Beleidigung des Hof¬ 
prediger St. als einen selbstständigen Belastungspunkt bei der disziplinarischen 
Würdigung des Verhaltens des Angeschuldigten auszuscheiden, als sich inzwischen 
beide TheUe, wie bereits oben erwähnt, unter der Erklärung, dass sie sich keine 
persönliche Kränkung zufügen wollten, vor Gericht wegen der Beleidigungen 
verglichen haben. 

Aus allen diesen Gründen erscheint es zutreffend, dass das Konsistorium 
in der Publikation der beiden Broschüren des Angeschuldigten einen erheblichen 
Vcrstoss gegen die Amtspflicht erblickt hat u. s. w.“ 

W. hat sich in der Folge noch mit zwei Immediat-Gesuchen 
an Se. Majestät gewandt, aber ohne Erfglg. 

Als charakteristisch für seine Anschauungsweise ist auch das 
Schreiben an das Konsistorium vom 16. Juni 1891 zu erwähnen, 
welches lautet: 

„Nachdem seitens hochwürdigsten Evangelischen Oberkirchenraths mittelst 
Verfügung vom 4. Juni 1891 meine Bitte um Erlass der Ordnungsstrafe sowie 
um Zurücknahme des März-Verweises von 1889 zurückgewiesen worden ist, so 
habe ich fast umgehend unter noch näherer Darlegung des Thatsächlichen meine 
Bitte erneuert. Auch in diesem Studium habe ich, der Verantwortlichkeit ein¬ 
gedenk, nach bestem Wissen und Gewissen das Meine thun wollen. 

Es ist mir im Einklang mit den Rechten, welche ich schon als Unterthan 
habe, als Pflicht erschienen, zugleich Sr. Majestät, unserem Allergnädigsten 
Herrn, hiervon allerunterthänigst Meldung zu thun. 

Es ist dies nicht im Sinne einer Beschwerde, sondern unter Ausdruck einer 
Hoffnung geschehen. 

Ein vielfach Misshandelter fährt fort zu hoffen.- 

Ich bin mir bewusst, nur solches gethan zu haben, was an sich der 
höchsten, auch kirchenregimentlicheu Anerkennung um deswillen werth sei, weil 
es an sich nur gut sei. So habe ich denn mit einer noch vollkommeren Dar¬ 
stellung des Thatsächlichen neu dem Guten dienen wollen.“ 

Aehnlich schreibt er am 7. August 1891: 

„.. wohl aber aus tiefinnerlichen Gründen, habe ich jüngst 

Hochw. Oberkirchenrath aufs Neue die Bitte vorgetragen, für die Aufhebung 
der wider mich verhängten Disziplinarstrafen wirksam werden zu wollen.“ 

Ferner am 7. September 1891: 

„Als Preusse hatte und habe ich ausserdem den mit dem Christenthum 
und der Amtspflicht keineswegs-kollidirenden Ehrgeiz, dass in Preussen Jedem, 
erst recht einem Geistlichen die Vertheidigung seines guten Namens erlaubt 
sein, ja als etwas Selbstverständliches zustehen müsse. . . 

Gegenüber aller sonstigen Betrübniss trage ich die unerschtitterte und 
tröstliche Ueberzeugung in mir, mein unantastbares Recht in unantast¬ 
barer Weise wahrgenommen zu haben. Ich weiss dabei sehr wohl, dass 
meine Ueberzeugung gegen Beschlüsse nichts vermag und für nichts 
geachtet werden kann.- 

Meine Eingaben, durch welche ich die Vollziehung der Strafe abzuwenden 
gesucht, sind von christlichem, patriotischem Geiste eingegeben gewesen. Ich 
war berechtigt und verpflichtet dazu, weil ich das Thatsächliche am besten 
in seinem Umfange, seiner Aufeinanderfolge und seinem Zusammenhänge kenne. 



292 


Dr. Mittenzweig. 


Ich will übrigens ganz gehorsamst nicht verhehlen, dass ich das konsistoriale 
Loyalitäts-Monitum vom 31. Jannar 1889 viel bitterer als Verweis und 
Ordnungsstrafe empfinde. Mit ihm ward ein Schatten auf meinen Charakter oder 
auf meine Handlungsweise vom ethischen Gesichtspunkte aus geworfen.“ 

Aus W.’s Beschwerdeschrift ist ferner die Art und Weise 
anzuführen, in welcher sich der Verklagte über die Persönlichkeit 
des Herrn Präsidenten H. und des Herrn Konsist. - Rath A. aus¬ 
spricht, Bl. 330 des Adh. n. 1 . und ebendaselbst Bl. 359, wo er 
sagt: „Wie mag es doch wohl kommen, dass ein Königl. Preussi- 
scher Gerichtshof und schon zuvor ein Schöffengericht mehr Ver¬ 
stand, Herz und Gewissen in harmonischem Zusammenweilen be- 
thätigen als dieser zeitige Herr Präsident des Königl. Konsistoriums 
der Provinz Brandenburg“; Bl. 398: „Durch sein Schweigen hat 
aber insonderheit der Führer bei den Konsistorial - Geschäften, 
Präsident H., sich auch noch „fremder Sünden“ theilhaftig gemacht, 
wovon er auch durch sein Alter sich hätte füglich abhalten lassen 
sollen“; ferner Bl. 391 und ff., Bl. 427. Eine Glossirung über die 
christliche und landrechtliche Sanftmuth findet sich Bl. 438, über 
den unbedingten Gehorsam Bl. 464. 

Nicht unwichtig für die Beurtheilung W.’s ist die Kenntniss 
von dem Wesen und dem Einfluss seiner Ehefrau. Von Interesse 
ist diesbezüglich die Wiedergabe der Unterredung zwischen 
Frau W. und Herrn v. H. (Bl. 470 1. c.), in der Frau W. unter 
andern sagt: 

„Ich an meines Mannes Stelle hätte es nicht gethan. Ich habe damals 
vor 3 Jahren zu meinem Manne nngef&hr so gesagt: „Da hast den Mann jetzt 
in der Hand, verdirb ihn! Sonst wird er Dich zu verderben trachten. Aber 
mein Mann übte immer and immer wieder Schonung.“ 

In der Moabiter Plarrwahl vom Jahre 1888 spielte Frau 
W. eine aktive, für ihren Ehemann nicht ungefährliche Rolle; auch 
sonst hat sie ihn in seinen Ansichten und Plänen eher bestärkt 
als davon abgebracht. 

Der dritte Band der Acta personalia führt uns in die Wirren 
und Streitigkeiten ein, in welche W. besonders in den letzten 
Jahren im Sehoosse seiner Gemeinde verwickelt worden war, und 
welche schliesslich zu dem Beschlüsse des Königlichen Konsistoriums 
vom 16. Januar 1892 und damit zu seiner zwangsweisen Emeri¬ 
tirung führten. 

W. hatte durch die Zwistigkeiten mit dem Hofprediger St., 
durch die Injurien - Prozesse gegen die Anhänger desselben und 
durch sein Auftreten gegen die Mehrzahl des Gemeinde - Kirchen¬ 
raths, gegen seine Amtsbrüder in St. Golgatha und einzelne Mit¬ 
glieder der Gemeindevertretung wie der Synodal - Deputation den 
Unwillen der genannten Herren erregt. Weit davon entfernt, sich 
nunmehr der Ruhe und des Friedens in seiner Gemeinde zu be- 
fleissigen und den ungünstigen Eindruck, den seine bisherige 
Politik hervorgerufen hatte, zu verwischen sich zu bemühen, ver¬ 
folgte er beharrlich die betretene Bahn, unbeirrt durch die Gefahren, 
welche er für den Frieden und das kirchliche Leben seiner Ge¬ 
meinde, für das gesammte Ansehen der Kirche, namentlich in der 
tonangebenden Hauptstadt des Reiches und für das Wohl seiner 
Person und seiner Familie dadurch heraufbeschwören musste. 



Ueber Querulanten Wahnsinn. 


298 


Einzelne Mitglieder des Kirchenraths, Gruppen aus demselben und 
bisweilen der gesammte Kirchenrath richteten Beschwerden an das 
Königliche Konsistorium über die Art und Weise der Leitung in 
den Sitzungen, über die Form und den Inhalt der von W. an den 
Kirchenrath gesandten Zirkulare und über die Aergernisse, welche 
er durch sein Streben bei Durchführung seiner Ansichten und 
Pläne dem Kirchenrath und der Gemeinde bereitete. Die Ent¬ 
gegnungen W.’s auf diese Beschwerden, welche an das Konsis¬ 
torium und schliesslich auch an den Evangelischen Oberkirchenrath, 
gerichtet waren, enthielten zum Theil unverständliche Anspielungen, 
Andeutungen und ironische Wendungen und seine Aeusserungen 
waren so wenig in einfachen und schlichten Worten abgegeben, 
dass sie selbst von dem Konsist. - Rath A., der doch die gesammten 
Vorgänge aus der Vergangenheit kannte und an die W.’schen 
Redeweisen gewöhnt war, nur unvollkommen verstanden wurden. 

So sagt W. in seiner Beschwerdeantwort vom 25. Feb. 1891: 

„Herr Lehrer E. hatte, wie er auch schon früher durch sein Verhalten 
gegenüber guten, auch unter seiner eigensten Mitwirkung entstandenen Be¬ 
schlüssen unheilsam überrascht hatte, in zwei letzten Sitzungen der Gemeinde¬ 
vertretung die Legalität der Versammlung mit nichtigen Gründen angegriffen 
nnd mich, wenn auch ohne endgültigen Erfolg, verdächtigt. Das darf er nicht, 
er soll auch das nicht, selbst wenn er es mit seinem Altargelübde für verträg¬ 
lich halten möchte.“ — 

„Es ist werthvoll und erwünscht, dass einzelne Männer noch über ihre 
eigene Absicht hinaus offenbar werden, und kann ich solches nur fördern. 
Ich zweifle es nicht an, dass dieselben in Gemeinschaft mit Herrn D. als ein 
vierblättriges Kleeblatt erscheinen. — Des „Kuhstallsgeflüsters“ ist längst genug 
geworden, auch des geistesverwandten Geflüsters überhaupt. Von treuen 
Männern werde ich auch ferner unterrichtet bleiben, um die Netze zu zerreissen. 
— Es wird uns im Sinne des Invaliditäts- und Altersversicherungs¬ 
gesetzes noch die Fürsorge für einige in unserem Gemeindedienst beschäftigte 
Männer obliegen 1 ) 

An anderer Stelle schreibt W.: 

„Aber es genügte dem abwesend gewesenen Dr. B. mit gellender 
Stimme zu schreien: „Ich erhebe Protest 1“ — 

„Der Möglichkeit der Lüge, die Gemeindevertretung habe mir mit einem 
früheren Beschluss ein Misstrauensvotum geben wollen, war vorgebeugt, wo sie 
etwa schon in Kurs gebracht war, ein Ende gemacht (Bl. 11)“ — 

„Meine Stimmung und Haltung waren auf’s Denkbarste ruhig, und ist es 
meinen Gegnern niemals gelungen, mich zu reizen. Immer freilich pflege ich 
an die sittliche radix zu gehen oder wenigstens dem clair obscur zu Leibe zu 
gehen. (Blatt 11).“ — 

„Auch die Beschwerdeführer begeben sich unter den angeblichen Schild 
ihrer „Ueberzeugung und Friedens-Liebe“, indem sie nur ihrer Willkühr und 
der Befriedigung ihrer demokratischen Neigungen folgen, für das Bischen von 
nur scheinbar konservativem Hauch sich auf dem Gebiete der Kirche mit Drang- 
salirung des Pfarrers schadlos haltend, mögen sie hierbei den Diakonus als 
Gönner oder Handlanger erachten.“ — 

„Die Streit-Differenz dreht sich hauptsächlich um das Begehren des 
Diakonus, ein nur koordinirter zweiter Vorsitzender für Armenpflege zu werden 
und zu diesem Zwecke die Gemeinde zu halbiren und zu zerreissen. Auf seine 


*) Ich bemerke hier vorweg, dass W. mir gelegentlich der mit ihm ge¬ 
führten Unterredungen diese für den Uneingeweihten ganz unverständlichen Aus¬ 
drücke erklärt und dabei gemeint hat, dass Herr Konsist. - Rath A. dieselben 
wohl hätte verstehen müssen. Als ich ihm dann entgegenhielt, dass doch auch 
die anderen Mitglieder des Konsistoriums seine Beschwerden lesen und verstehen 
müssten, erwiderte er, Herr A. sei Referent und lese sie auch wohl nur allein. 



294 


Dr. Mittenzweig. 


brüskirende Weise pflege ich mich sehr duldsam und schweigsam zu verhalten, 
schon um andere nicht in Verlegenheit zu bringen.“ — 

„Den stinkenden Sack mit den stinkenden Noten habe ich in der Sitzung 
mit Ekel vor der ekelhaften D.’schen Inscenation präsentirt. Der Sack stinkt 
weiter im zweiten Konf.-Saal, und schaffe ich ihn anders wohin, da sich nicht 
einmal M. seiner erbarmen zu wollen scheint.“ — 

„Durch mein Cirkular habe ich, wie ich hoffe, dem „Euhstallgeflttster“ 
ein Ziel gesetzt. Was ich unter „geistesverwandtem“ Geflüster verstehe, wissen 
die Beschwerdeführer am besten. Nötigenfalls könnte ich auch hierüber noch 
weiter mich aussprechen.“ — 

„Meinen Verstand ausschliessend, haben diese Leute ihren eigenen nicht 
unversehrt behalten, sondern geschädigt.“ 

Unter dem 7. Juli 1891 lief beim Königl. Konsistorium eine 
Eingabe von 14 Herren ein, welche sich gegen Herrn D. und 
seine Anhänger richtete (Bl. 45—48). 

Am 23. Juli beschwerte sich Herr Diakonus H. über W. 
Am 31. Juli 1891 fand eine Sitzung des Kirchenraths statt, in 
welcher beschlossen wurde, das Konsistorium zu ersuchen, das dem 
langjährigen Kirchenkassen - Rendanten Sp. seitens des Pfarrers 
W. geschehene Unrecht wieder gut zu machen, und den Pfarrer 
W. von seinem Amte als Vorsitzenden der Gemeindekörperschaften 
so lange zu entbinden, bis sämmtliche streitige Angelegenheiten 
entschieden seien. 

W. hatte unter dem 30. Juli 1891 Herrn Sp. aufgefordert, 
sein Amt niederzulegen, hauptsächlich wegen seiner Gedächtniss- 
schwäche; die wahre Ursache dieser Amtsaufkündigung aber war 
der Umstand, dass auch Herr Sp. in der letzten Zeit mit seinem 
Pfarrer nicht mehr zu gehen vermochte, ihn nicht mehr unter¬ 
stützte, sondern anscheinend auf die Seite seiner Gegner trat. Herr 
Sp. wird allseitig als braver und harmloser Mann dargestellt, der 
sein Amt als Rendant viele Jahre lang mit Treue und Geschick 
versehen hatte. Seine brüske Entlassung und W.’s beleidigendes 
Auftreten gegen den alten ehrwürdigen Mann scheint in der 
ganzen Gemeinde einen grossen Sturm erregt zu haben. 

Als ein Beispiel der von W. erlassenen Zirkulare diene fol¬ 
gendes vom 2. April 1891: 

„Nachdem am 12. März die versammelt gewesenen Herren auf Anregung 
des Herrn Dr. B. alle, alle gegen mich die Hand erhoben haben, als ob es sich 
zugleich um eine recht gefällige Leibesübung handle, ist mein Vertrauen in die 
Gesinnung, Einsicht, Fähigkeit und Tüchtigkeit Einzelner zwar noch tiefer herab¬ 
gestimmt, als es schon vorher der Fall war, und der Bann dieser ohne Ursache 
und ohne Befugniss verübten That ruht leider noch auf ihnen fast allen. Es 
war ein Verhalten ohne Rücksicht. Aber dies kann mich, da vom Auslande her, 
dies Mal in der Aufeinanderfolge Kirchenbauverein — L., Diakon. B. — Gefahr 
vor den Thoren steht, nicht zögern lassen, zu einer ausserordentlichen Sitzung 
auf heute Donnerstag, den 2. April 7 Uhr Abends, in Hinblick auf Ihre durch 
freiwilliges Gelübde übernommenen Pflichten so zusammen zu berufen, einzu¬ 
laden und zu bitten, als ob keinerlei Zwiespalt uns gegenüber dem Auslände 
hemmen könnte . . . tt 

Die folgenden Beschwerde - Entgegnungen W.’s vom 27. und 
28. August, sowie vom 3. September sind ebenfalls reich an be¬ 
lastenden Stellen: W. führt ein Beispiel an, dass auch andere 
Pfarrer Stellen aus der heiligen Schrift in ihren Artikeln anzögen, 
ohne deshalb wie er selbst, einen Vorwurf zu erfahren. (Superint. 
Kr.) Er fährt fort: 



Ueber Querulantenwahnsinn. 


296 


„Fürwahr bin ich bereits mehr als genug geschlagen, und die Nämlichen, 
die mich schlngen, ermahnten mich zur Friedfertigkeit, im Interesse noch 
Anderer, die mich schlagen.“ — 

„Mein Amtsbrader B. wusste es damals bereits aas dreier Zengen Mond, 
dass er in dieser Beziehung von dem Superint. D. in gar nnnöthiger Weise irre 
geführt war.“ — 

„H. hatte mich verdächtigt mit einer verleumderischen Erfindung in Kon¬ 
firmandensachen, zu mir kam Herr Sup. D. nicht, ich hatte den Pfarrer B. nicht 
verdächtigt, und zu B. ging der Herr Superintendent, um mich bei B. zu 
verdächtigen.“ — 

„Neue Konflikte standen in Aussicht. Ich brach ihnen die Spitze ab, ja 
beugte ihnen vor und bethätigte zugleich arglos mein damaliges Vertrauen zu 
dem Herrn Superintendenten.“ — 

„Ich hegte und hob die Autorität des Herrn Superintendenten und habe 
die Sache durch ihre Fährlichkeiten hindurchgesteuert.“ — 

„Man hatte ein wohl begreifliches Interesse hie und da, mich zu isoliren. 
Man hatte zwei Eisen gegen mich im Feuer. Standen mir „Liberale“ bei, cs 
ward zu meiner Verdächtigung benutzt, standen sie mir nicht bei, so ward auch 
dies ebenmässig benutzt.“ — 

„Im Allgemeinen habe ich es mit Verschwörungen zu thun.“ — 
„Genug, Herr Sup. D. hat die ersten Quadersteine zum Fundament der 
D.’schen Beschwerden vom 2. März mildiglich und frei geliefert.“ — 

„Ad I. Ich habe die Herren B. und D. auf ihrem gemeinschaftlichen 
schlendernden Wege nicht gesehen. (Bezieht sich auf den späteren Vorwurf, 
dass Witte alles auf sich bezöge.) — 

„Sollte Herr Konsist.-Rath M., einer meiner Richter, sich zu tief mit D. 
eingelassen haben.“ — 

„Schon Mancher, der schlecht an mir gehandelt hat, ist dadurch noch 
schlechter geworden.“ (S. Motivirung der W.’schen Geisteskrankheit.) — 

„Nun aber, zumal er (D.) dem Konsist.-Rath M. nachsagte, dieser habe 
ihn am 25./26. November 1889 gefragt, ob denn Nichts gegen mich Seitens der 
Gemeinde vorgebracht werden könne.“ — 

„Wort für Wort ist eine frevelhafte Verleumdung.“ 

Ich bemerke hier, dass die D.’schen Beschwerden zurück¬ 
gewiesen sind, ebenso wie die spätere Beschwerde des Majors 
Sch. W. konnte daraus wohl ersehen, dass das Konsistorium und 
sein vermeintlicher Gegner, Konsist. - Rath A., die Angelegenheiten 
sorgfältig und unbefangen prüften und, wenn er wirklich Recht 
hatte, ihm zur Seite traten, selbst noch in diesem Endstadium 
seiner Sache. Und doch spricht er wiederholt das Gegentheil 
aus, so Bl. 155 e.: 

„Dass ich das Buch nicht mit Sanftmuth bekommen, hat sich heraus¬ 
gestellt, und bis zur Stunde vergeblich ist meine Bitte um eine hochgeneigte, 
meinen Schutz einschliessende Intervention geblieben. — Vermöge des in meiner 
Vokationsurkunde mir garantirten Schutzes klopfe ich um solchen bittend hier¬ 
durch ganz gehorsamst nochmals an.“ 

In den Verhandlungen der Kreis-Synode Berlin II vom 
22. Mai 1891 waren die Beschwerden über W. öffentlich zur 
Sprache gekommen, und namentlich dieser Umstand hat es bewirkt, 
dass seine Angelegenheit schärfer betrieben wurde. Seine Vor¬ 
gesetzten waren unausgesetzt bemüht, einen Vergleich und einen 
Frieden zwischen ihm und dem Gemeinde - Kirchenrath herbeizu¬ 
führen. Es war vergeblich. W. schien durch die Vorhaltungen 
momentan von seinem Unrecht überzeugt zu werden und versprach, 
seine Hand zur Versöhnung zu bieten. Aber schnell war solche 
Regung verraucht, und die Versöhnung blieb aus. 

Es ist für die Beurtheilung W.’s äusserst wichtig, gerade 
diese eindringlichen, Stunden langen Unterredungen zu kennen, 



296 


Dr. Mittenzweig. 


um sich zu überzeugen, dass nichts unversucht geblieben ist, um 
ihm die Einsicht in sein Unrecht zu bringen. Wir werden später 
zu suchen haben, was die Ursache dieses Verhaltens gewesen ist 
und noch heute ist. 

Bl. 155 g registrirt Herr Konsist. - Präs. Sch. eine solche 
Vorhaltung von mehrstündiger Unterredung und schreibt: 

„In derselben machte ich ihm hinsichtlich aller von den Betheiligten gegen 
ihn geführten Beschwerden ernsteste, ihn in keiner Weise schonende Vorhaltungen, 
wies ihn namentlich auf das Nachdrücklichste hin auf das Unzulässige seines 
Verhaltens gegen die Aeltesten und bei Leitung der amtlichen Versammlungen, 
seiner ewigen Bodens- und Rechthaberrolle, seiner Herrschsucht in der Verwaltung, 
seiner Art der Protokollführung, seiner verletzenden und ungehörigen Zirkulare, 
seines unangemessenen Auftretens gegen den Rendanten, seines die Thätigkeit 
seiner Amtsbrüder verhindernden Verhaltens, sowie auf die Quelle aller dieser 
Verfehlungen, welche ich fand in Selbstsucht, Selbstüberschätzung, Lieblosigkeit, 
Mangel an Geduld und Friedfertigkeit, Vergessen seines Berufes und der damit 
ihm auferlegten Verantwortlichkeit für die Seelen seiner Gemeindemitglieder, 
auch der Aeltesten, und in anderen einem Geistlichen als Prediger des Evan¬ 
geliums Jesu Christi Ubelanstehenden, ja selbst bei jedem sonstigen Christen 
verwerflichen Eigenschaften und Beweggründen. 

Nachdem er sich lange unausgesetzt vertheidigt und alle Schuld auf 
andere geschoben hatte, wobei er immer nur (?) thatsächliche und innere Ver- 
theidigungsmoinente vorbrachte, schien er, wenn auch nicht zur Anerkennung 
einer Verfehlung, so doch zu ernsterem Nachdenken über das Gesagte zu 
kommen, dankte herzlich und offenbar in dem Momente mit voller Aulrichtigkeit 
für die ihm gemachten Vorhaltungen und die ganze ihm gewährte Unterredung, 
versprach auch Alles ihm Mögliche in der ihm angedeuteten Richtung zu thun, 
um den Frieden wieder herzustellen und zu erhalten.“ 

Ein neuer Vorfall, das Eindringen und die Ausweisung W.’s 
aus der D.’schen Versammlung goss Oel in’s Feuer und beschäftigte 
die Zeitungen. 

Herr Präsident Sch. und Consist. - Rath A. hatten den Gen.- 
Superint. Dr. Br. darum gebeten, und auch dieser hatte mit W. 
eine eingehende seelsorgerische Unterhaltung gepflogen. Präs. Sch. 
hatte sodann eine Zusammenkunft mit dem Kirchenältesten R., 
der sich folgendermassen über die Angelegenheit aussprach (Blatt 
326): 

W. habe in der Gemeinde nicht, wie er behaupte, grossen persönlichen 
Anhang, Liebe und Vertrauen. Man werde sich immer mehr bewusst, dass er 
herrscksüchtig sei, es mit der Wahrheit nicht genau nehme, unnöthig schwatzhaft 
sich verhalte und dabei die Ehre und den Ruf Dritter nicht schone. Dass das 
Verhalten W.’s auf Geisteskrankheit beruhe, wie mehrfach angedeutet werde, 
könne er (R.) nicht glauben; W. sei ein überaus gescheuter, bis zur Spitzfindig¬ 
keit verstandesbegabter Mann, der Fehler beruhe auf moralischer Schwäche.“ 

Am 17. Dezember wurden W. scharfe und bestimmte Mass- 
regeln gegeben und ihm unter dem 21. Dezember bekannt gemacht. 
Er erklärte sich bereit, den Anordnungen Folge zu leisten, seine 
Verfehlungen anzuerkennen und seinen Gegnern die ihren zu ver¬ 
geben. Auf den 4. Januar 1892 wurde eine Versammlung be¬ 
stimmt, in welcher die Versöhnung öffentlich stattfinden sollte. 

Das Konsistorium hatte am 17. Dezember diesen Versuch 
beschlossen, um W. seiner, wie vermuthet wurde, auf Grössenwahn 
und Verfolgungswahn zurückzu führenden Verirrung zu entreissen. 
Sollte der Versuch erfolglos sein, so sollte Witte vorläufig sus- 
pendirt und ärztlich untersucht werden. 

Der Versuch schlug fehl. 



Ueber Querulantenwahnsinn. 


297 


Vorher, nämlich unter dem 19. und 21. Dezember 1891, hatte 
W. noch zwei Schreiben an den Ev. Oberkirchenrath gerichtet, 
von denen dieser schrieb: 

„Der unklare und verworrene Inhalt beider Schriftstücke in Verbindung 
mit dem gesummten Verhalten des Pfarrers W. in den letzten Jahren giebt zu 
so schweren Bedenken gegen seine Zurechnungsfähigkeit Anlass, dass es uns 
angezeigt erscheinen will, durch gerichtsärztliche Sachverständige festzustellen, 
ob p. W. nicht etwa wegen Schwäche seiner geistigen Kräfte zu der Erfüllung 
seiner Amtspflichten als dauernd unfähig zu erachten sein möchte.“ 

Der erstgenannte Brief lautet: 

„Als eine Art von „öffentlichem Geheimniss“ wird jetzt in Umlauf ge¬ 
bracht, unseres allergnädigsten Herrn, unseres Kaiser und Königs Majestät habe 
Allerhöchst Anstoss genommen an meinen Prozessen. 

Begreiflicher Weise würde mir das sehr schmerzlich sein. Ich wäre dann 
zunächst ein Opfer entstellender Berichte geworden. Denn menschlicher Weise 
kann Sr. Majestät es nur verborgen geblieben sein, mit wie objektiv sowie sub¬ 
jektiv gutem Grunde ich in meine Prozesse eingetreten bin. 

Es wurde eine Mobilmachung aggressiver Kräfte fühlbar. Noch eine 
Reihe von Prozessen, lauter unerlässlichen, steht bevor, und sie müssen durch- 
gefochten werden. 

Dies zu thun, ist ein gottesdienstliches Werk, und Königliche Gerichts¬ 
behörden sind keine unheiligen Instanzen. 

Ich stehe vor manchen Dingen, welche ich als sogen. Unbegreiflichkeiten 
bezeichnen möchte. 

Von Königlichem Konsistorium werde ich mehrfach wie ein Deliquent 
behandelt. Meine Berichte, im Uebrigen wenigstens den Vorzug habend, ab¬ 
schriftlich in meinen Händen zu sein, werden bemängelt, al£ ob sie keine Be¬ 
rücksichtigung verdienten, zum Theil sind sie sogar abhanden gekommen. In 
Nichts ist mir irgend ein Verstoss nachgewiesen worden. Bisher ist es auch 
nicht für erforderlich erachtet worden etc.“ 

Am Schlüsse der Eingabe bittet W. um Eröffnung der Dis- 
ziplinaruntersuchung. 

Im Schreiben vom 21. Dezember 1891 zieht er den Antrag 
zurück. Am 23. Dezember sendet er an Herrn Konsist. - Rath A. 
einen Entwurf zur event. Benutzung als Vorbereitung der Ver¬ 
sammlung vom 4. Januar 1891, unter Beifügung zweier Briefe, 
welche drei Schriftstücke den alten Geist W.’s an der Stirn trugen, 
so dass Herr A. antwortete: 

„Sehr lieber und geehrter Herr Pfarrer! Durch den Schritt, den Sie mit 
Ihren beiden Briefen von gestern gethan haben, bin ich von Neuem in grosse 
Sorge um Ihr und Ihrer Familie Wohl gerathen. — Ich glaube kaum, dass 
Ihnen noch zu helfen ist; aber denke dabei auch: Herr, hilf meinem Unglauben.“ 

W. antwortete darauf, er sei zwiefach missverstanden: 

„Gleich Ihnen steuere ich auf das Ziel des Friedens hin, beuge mich aber 
der ausschliesslich massgebenden und das Steuer führenden Einsicht ohne Weiteres 
und mit freudigem Gehorsam.“ 

Und gleichwohl, trotz dieser Versicherung, fügte er sich am 
4. Januar 1892 nicht, sondern verhinderte die Versöhnung durch 
ein halsstarriges Festhalten an seinem angeblichen Rechte und 
durch Mangel an Entgegenkommen hinsichtlich Beilegung der Be¬ 
leidigungen und Prozesse. Auch im Uebrigen verstand er sich 
nirgends zu einem wirklichen Bekenntniss seiner Schuld, behauptete 
vielmehr, überall in seinem vollen Recht gewesen zu sein und 
war nur vom Standpunkte äusseren Gehorsams bereit, weiterhin 
das zu meiden, was von dem Konsistorium verboten sei. Am 
7. Januar 1892 legte W. Protest gegen seine Suspension ein. 
Unter dem 11. Januar 1892 sendet er einen Bericht, betreffend 



298 Dr. Mittenzweig: Ueber Qaerulantenwahnsinn. 

die Ang-elejrenheit der Konfirmanden des Pfarrers W. an das 
Konsistorium; unter demselben Datum einen zweiten Bericht mit 
einem Zeitungsartikel, in welchem seine Ehefrau der Agitation in 
der Konfirmanden-Angelegenheit bezichtigt wird. Er verwahrt 
sie dagegen, aber mit dem Hinzufügen: „Hätte meine Frau das 
gethan. was ihr beigemessen wird, so hätte sie freilich nur Gutes 
gethan.“ 

Am 16. Januar 1892 erfolgte die Amtsentsetzung wegen 
Geistesschwäche mit der oben angegebenen Motivirung in Folge 
Beschlusses des Konsistoriums vom 14. Januar. 

Noch am 4. Januar hatte W. angefragt, ob die Suspension 
sich auch auf den Konfirmanden-Unterricht erstrecke, am 6. Jan., 
ob dies der Fall sei für Sterbende, die das heilige Abendmahl 
verlangten. 

Am 6. Januar neue Anfrage wegen des Konfirmanden - Unter¬ 
richts ; am selben Tage Eingabe bezüglich seiner Gegner. 

Am 7. Januar Eingabe, betreffend Einleitung der Disziplinar- 
untersuchung. 

Am 9. Januar Eingabe, betreffend weitere Zerstörungen des 
Gemeindelebens. Diese Eingabe verräth auch W.’s Antheil an 
den Agitationen gegen die Pastoren H. und S., so z. B. in den 
Worten: „Natürlich ist es gegen mein Gewissen, ihnen für ihre 
Seelen solche Persönlichkeiten wie den Diakonus H. und Hülfs- 
prediger S. zu empfehlen.“ 

Am 14. Januar Eingabe, betr. die D.’sche Klage (Vergleich). 

Am 15. Januar Eingabe, betreffend den Notensack des M. 

Am 15. Januar Eingabe, betreffend den Hülfsprediger S. 

Am 26. Januar Eingabe, betreffend das St.-D.’sche „Volk“. 

Fernere Eingaben sind von W. ergangen am 19., 22., 23., 
27. Januar je eine. 

Er greift das Konsistorium und Herrn Konsist. - Rath A. an 
(Bl. 446). 

Bl. 447 und 448 sagt W.: 

„Einer der von mir behufs meines Schutzes gegen die „geistliche“ Ver¬ 
gewaltigung besuchten Irrenärzte sagte mir etc.“ — 

„Die Konsistorialherren Sch. und A. sind mir nicht geborene Väter, ich 
ehre sie ira gesetzlichen Rahmen als mir Vorgesetzte Beamte, wenigstens den 
Herrn Präsidenten Sch. — Aber vergreifen sollen und dürfen sich solche 
Beamte nicht an mir. — Ich hatte ursprünglich mit Schwierigkeiten vom Konsist.- 
Rath M. her zu ringen. Nun aber ist seitens des Königl. Konsistoriums noch 
weit Schlimmeres geschehen. Gross und Klein sucht man gegen mich einzu- 
sclmchtern. Grausam gegen mich handelnd, nimmt man das Wort „Liebe“ in 
den Mund. Prozesse zu führen sei gegen die Liebe. Mir aber den Prozess zu 
machen, streitet nicht gegen ihre Liebe. — D. und die anderen Konsistorial- 
Lieblinge.“ — 

„Man hat mich darin nicht verstehen wollen, dass Prozessftthrung, nament¬ 
lich wenn die zum Schutze berufenen Beamten mit den Gegnern des Schutz¬ 
suchenden wie freundschaftlich intim werdeu, etwas Unerlässliches, ja ein gottes¬ 
dienstliches frommes Werk sei, und mir liegt es fürwahr nicht ob, mich hierin 
noch erst verständlicher machen zu sollen.“ 

Und ferner Bl. 456: 

„Ich bin prozcssäüchtig. Meine Prozesse führe ich der Noth gehorchend, 
nicht dem eigenen Triebe. — Wie ich schon wiederholt ausgesprochen habe, 
liegt es mir nicht daran, meine Gegner durchaus bestraft zu sehen. Vielmehr 



Zar Medizinalreform. 


299 


and wesentlich kommt es mir darauf an. dass die Thatsachen klar gestellt 
werden und dass die Würde meines Amtes und meiner Person und nicht an 
letzter Stelle die meiner Vorgesetzten Behörde nicht ohne die unerlässliche Ge- 
nugthuung bleibe. Würden nur beide Theile gehört, so würden die hohen 
Behörden nicht länger mehr das Opfer bitterböser Täuschungen bleiben, 
Täuschungen, durch welche ein gerechtes Urtheil über mich aufs Empfindlichste 
erschwert geblieben ist.“ 

Nachträglich hat W. noch mehrere Gesuche an den Evang. 
Oberkirchenrath und an den Herrn Minister des Innern gerichtet. 
Das eine Gesuch an den Evang. Ober-Kirchenrath umfasst 110 
Folioseiten und wendet sich sehr eingehend gegen seine Suspension 
und Emeritirung. Alle sind in demselben Sinne verfasst. 

Auf die Aussagen des Herrn Konsist.-Rath A. (Bl. 439) 
komme ich später zurück. (Fortsetzung folgt.) 


Zur Medizinalreform. 

Die Frage der Medizinalreform ist in jüngster Zeit wiederum 
aus Anlass der vom Grafen Douglas im Abgeordnetenhause ein- 
gebrachten Interpellation, betreffend Massregeln zur Bekämpfung 
der Cholera, Gegenstand der Besprechung in der politischen Presse 
gewesen. So schreibt die Vossische Zeitung in ihrer Morgenaus¬ 
gabe vom 7. d. M. 

„Bei den Erörterungen, die in Hinsicht darauf bisher in der Presse ge¬ 
pflogen worden sind, wird zumeist als Kernpunkt der ganzen Angelegenheit die 
Besoldung der Kreis-Physiker hingestellt. Die Kreis - Physiker müssten, so hört 
man sagen, höher besoldet werden. Am besten wäre es, wenn man ihnen ein 
so hohes Gehalt zuwiese, dass sie die private Praxis ganz entbehren könnten. 
Sie könnten dann gehalten werden, ihre ganze Thätigkeit der Ausübung ihreB 
Staatsamtes zu widmen. Gegen diese Anschauungen kann nicht dringend genug 
angekämpft werden. Sie fassen die Lage der Dinge in ganz falschem Lichte 
auf. Zuzugeben ist, dass die Besoldung der Kreis - Physiker im Verhältniss zu 
ihren Aufgaben überaus gering ist. Durch die Erhöhung der Besoldung wird 
aber die jetzige Unzulänglichkeit der Medizinal - Verwaltung nicht gehoben 
werden. Die Stelle, an der bei der Neuordnung anzusetzen ist, liegt auf ganz 
anderem Gebiete, in der jetzt üblichen Vorbildung der preussischcn Medizinal- 
Beamten. Ursprünglich wurde von den Physikats - Kandidaten wenig mehr als 
etwas Kenntniss der gerichtlichen Medizin verlangt. Später sind die Anforde¬ 
rungen gesteigert worden. Es wurden die Anforderungen in den bisherigen 
Prüfungsfächern, in der gerichtlichen Medizin, Psychiatrie, Hygiene und Sanitäts¬ 
polizei erhöht; ausserdem kam noch die pathologische Anatomie vornehmlich auf 
Virchow’s Betreiben als neuer Prüfungsgegenstand hinzu. Das Wesentlichste 
aber ist, dass jetzt in der Hygiene lediglich theoretische Kenntnisse, und nicht 
praktische Fertigkeiten verlangt werden. Es kann jemand mit einem Physikat 
belehnt werden, der noch niemals z. B. eine Luft- oder Wasseruntersuchuug aus¬ 
geführt hat. Das thatsächlich auch, entsprechend der Eigenheit der Prüfungs¬ 
vorschriften, viele Physiker mit der Praxis der hygienischen Untersuchuugsmethode 
nur ganz unzulänglich oder gar nicht vertraut sind, ist schon mehrfach zu Tage 
getreten. Insbesondere führt Prof. Rubner, Ordinarius für Hygiene an der 
Berliner Universität, im Klinischen Jahrb. darüber Klage, dass die Sanitätsberichte 
schwere Mängel in dieser Hinsicht anfweisen. Bekanut ist ferner, dass das 
preussische Medizinal - Ministerium es ganz ablehnte, die bakteriologische Unter¬ 
suchung in Cholerafällen den Kreis-Physikern zu überlassen; dass sie diese 
vielmehr anwies, in jedem Falle die Hülfe eines bakteriologischen Universitäts- 
Institutes oder eines Militär-Sanitätsamtes in Anspruch zu nehmen. Was noth 
thut, das ist vor allem, dass die Medizinalverwaltung den Amtsärzten und den¬ 
jenigen Aerzten, die in die Physikatslaufbahn eintreten wollen, Gelegenheit zur 
gründlichen praktischen Ausbildung in den in Frage kommenden Gebieten giebt. 



300 


Zur Medizm&lrefortn. 


Za diesem Zwecke müsste cs ihnen ermöglicht werden, ohne die beträchtlichen 
persönlichen Aufwendungen, die jetzt nöthig sind, an den gerichtsärztlichen, 
hygienischen und bakteriologischen Kursen theilzunehmen. Zum Vorbilde könnten 
dem Ministerium die entsprechenden Veranstaltungen der Militär-Medizinal-Ver- 
waltung dienen. Sodann wäre es förderlich, von dem Physikats-Kandidaten eine, 
wenn auch kurze, praktische Dienstleistung im Medizinalwesen (sie könnten 
Kreis - Physikern und Regiarungs - Medizinalräthen als Assistenten beigegeben 
werden) zu verlangen. Den Physikern die Ausübung der Praxis ganz zu ver¬ 
bieten, ist zu widerrathen, weil sie dann allzu leicht jede Fühlung mit ärztlichen 
Dingen verlieren. An Medizinalbcamten und Universitätslehrern wird gerade die 
Entfremdung von der ärztlichen Praxis sehr unliebsam bemerklich.“ 

Wenn der vorstehende Artikel von einigen Zeitungen als 
„offiziös“ bezeichnet wird, so befinden sich diese jedenfalls in einem 
grossen Irrthum, denn dazu ist der Inhalt des Artikels viel zu 
unlogisch und zeigt zu wenig Vertrautheit mit den einschlägigen 
Verhältnissen. „Gegen die Anschauung, dass die Medizinalbeamten 
höher besoldet werden sollen, damit sie ihre ganze Thätigkeit der 
Ausübung ihres Staatsamtes widmen können, kann nicht dringend 
genug angekämpft werden“ sagt der angeblich offiziöse Verfasser, 
gleichwohl fordert er aber, dass die Physiker in allen hygienischen 
Untersuchungsmethoden geübt sind und dieselben ausführen können. 
Nun, zur Ausführung derartiger Untersuchungen gehört bekannt¬ 
lich nicht nur Uebung und Erfahrung, sondern vor allem auch recht 
viel Zeit, besonders wenn man keinen Assistenten hat, wie die 
Herren Professoren in den Instituten, sondern alles allein be¬ 
sorgen muss. Sollen vielleicht diese Untersuchungen von den Phy¬ 
sikern auch noch bei einem Gehalt von 900 Mark, den der Ver¬ 
fasser schon jetzt den an die Physiker gestellten Aufgaben gegen¬ 
über als zu gering bezeichnet, übernommen werden? Und wo bleibt 
dann die Zeit zur Privatpraxis, wovon sollen sie und ihre Fami¬ 
lien leben? Die Medizinalreform ist unseres Erachtens in erster 
Linie eine Geldfrage, d. h., die Physiker müssen derartig 
besoldet werden, dass von ihnen alle diejenigen Aufgaben ge¬ 
fordert werden können, die im Interesse der öffentlichen Gesund¬ 
heitspflege gefordert werden müssen, und dazu rechnen auch wir 
die Ausführung der hauptsächlichsten hygienischen Untersuchungen. 

Aber mit der Regelung der Besoldung muss auch die Re¬ 
form der amtlichen Stellung der Physiker Hand in Hand 
gehen. Es müssen ihnen ähnliche Machtbefugnisse eingeräumt 
werden, wie z. B. den Gewerbeinspektoren; denn zur Zeit fehlt 
ihnen das Recht jeden selbstständigen Vorgehens, sie sind ledig¬ 
lich auf die Requisition der unteren Polizeibehörden angewiesen, 
ihre ganze amtliche Stellung ist eine nebensächliche und hat kaum 
Aehnlichkeit mit derjenigen eines Beamten, wie dies auch 
von dem Kollegen Dr. Fielitz auf der letzten Hauptversammlung 
des Preuss. Medizinalbeamten Vereins in zutreffender Weise aus¬ 
geführt ist. 

Auch der von dem Verfasser den Medizinalbeamten gemachte 
Vorwurf in Bezug auf die Unzulänglichkeit ihrer Kenntnisse trifft 
in keiner Weise zu. Die anerkennenden Worte, die im Jahre 1889 
Minister v. Gossler im Abgeordnetenhause über die Thätigkeit 
der Medizinalbeamten äusserte: „Es ist auf unsere Medizinalbe- 



Zur'Medizinalreform. 


301 


amten ein neues Leben mit frischer Kraft übergegangen, — es 
besteht bei ihnen durchweg ein lebendiger Sinn, ein volles Ver- 
ständniss für die grösseren Aufgaben der Medizinalpolizei in der 
modernen Ausgestaltung“, sind seitdem von höchster und mass¬ 
gebender Stelle mehrfach bestätigt worden. Mit nicht hoch 
genug zu schätzendem Eifer und Fleiss haben sich die Medizinal¬ 
beamten gerade in den letzten Jahren bemüht, den überaus schnellen 
Fortschritten der Bakteriologie und Hygiene zu folgen und kein 
Opfer gescheut, um sich auf diesem Gebiete das Nöthige anzu¬ 
eignen. Aber was hilft ihnen denn alles wissenschaftliche Streben, 
was hilft ihnen die mit schweren pekuniären Opfern erkaufte Theil- 
nahme an den Fortbildungskursen, die Anschaffung theurer Instru¬ 
mente u. 8. w., wenn sie in Folge ihrer ungenügenden amtlichen 
Stellung keine Gelegenheit haben, das Geleimte wieder praktisch 
zu verwerthen? Man gebe den Medizinalbeamten daher nur erst 
einmal die erforderliche unabhängige, mit entsprechenden Befug¬ 
nissen und mit entsprechendem Gehalte ausgestattete amtliche 
Stellung, sie werden derselben schon voll und ganz gerecht 
werden! 

Der Ansicht von der ungenügenden Ausbildung der Medizinal- 
Beamten kann nicht scharf genug entgegengetreten werden. Es 
scheint, als ob dieselbe besonders in gewissen Professoren-Kreisen 
ihre Stütze findet; den Herren Theoretikern ist es vielleicht unan¬ 
genehm, wenn sich die Medizinalbeamten den täglich neu auf¬ 
tauchenden, im Reagenzglase gewonnenen Forschungsresultaten auf 
bakteriologischem und hygienischem Gebiete gegenüber skeptisch 
verhalten, besonders, wenn diese mit iliren langjährigen, praktischen 
Erfahrungen im Widerspruche stehen; aber man wird sich in den 
betreffenden Kreisen daran gewöhnen müssen, dass erfahrene Männer 
nicht wie junge Studenten in verba magistri schwören! 

Dabei wollen wir allerdings den Werth der Fortbildungskurse 
für die Physiker keineswegs unterschätzen; wir stimmen mit dem 
Verfasser des Artikels auch dahin überein, dass es nicht ange¬ 
zeigt erscheint, den Physikern die Ausübung der Praxis ganz zu 
verbieten; die letztere muss nur künftighin nicht mehr die Haupt- 
thätigkeit des Physikus wie bisher bilden, sondern erst in zweiter 
Linie kommen. In zutreffender Weise wird dies in einem anderen, 
von den politischen Blättern soeben gebrachten Artikel ausgeführt, 
der folgendermassen lautet: 

„Bei der Medizinalreform, die der jetzige Minister der Medizinal- 
angelegenheiten in Angriff zu nehmen ernstlich Willens ist, handelt es sich um 
die Ausführung eines in seinen Grundzügen seit Langem feststehenden Planes. 
Vor Allem gilt es, die Stellung der Medizinalbeamten aufzubessern und auf der 
einen Seite ihre Befugnisse, auf der andern ihre Pflichten zu erweitern. Dass 
es in der Absicht liege, die Stellen der Kreisphysiker pensionsfäbig zu machen, 
wurde bereits mitgetheilt. Strittig ist noch die Frage, ob die betreffenden Be¬ 
amten berechtigt bleiben sollen, Privatpraxis neben der amtlichen beizubehalten. 
Doch neigt die Mehrheit der zuständigen Berather entschieden der Ansicht zu — 
und der Minister scheint ihnen unbedingt Recht zu geben —, dass es nicht nur 
gestattet bleiben müsse, sondern geradezu erwünscht sei, wenn die Kreisphysiker 
auch nach Aufbesserung Ihrer Stellen und einer anderen Umgrenzung ihres Be¬ 
rufskreises Privatpraxis ausüben. Allerdings wird die letztere in vielen, um 
nicht zu sagen den meisten Fällen denjenigen Umfang nicht mehr haben, wel- 



302 Bericht über die XV. Jahressitzung des Vereins Deutscher Irrenärzte. 

chen sie bis jetzt besitzt. Damit fällt dann aber auch die stellenweise übergrosse 
Konkurrenz fort, welche den Privatärzten durch die Kreisphysiker gemacht wird. 
Sobald das im Entwurf bekannte Reichsseuchengesetz zur Verabschiedung gelangt, 
ist die Durchführung der Medizinalreform unerlässlich. Dass dieselbe auch dann 
noch an dem nothwendigen Mehrerforderniss an Geld scheitern würde, ist um so 
weniger anzunehmen, als der nöthige Betrag sich auf nur etwa eine Million 
beziffert.“ 

Wie im Kultusministerium die Regelung der Frage gedacht 
und beabsichtigt ist, darüber wird jedenfalls die demnächstige Be- 
rathung über die Douglas’sehe Interpellation Aufschluss geben. 
Nach allen bisher in dieser Hinsicht von massgebender Stelle aus 
abgegebenen Erklärungen dürfte die Entscheidung im Sinne des 
zuletzt erwähnten Artikels und damit auch dem Wunsche der 
Medizinalbemten gemäss ausfallen. Rpd. 


Bericht über die am 25. u. 26. Mai d. J. in Frankfurt a. M. 
stattgehabte XV. Jahressitzung des Vereins der Deutschen 

Irrenärzte. 

„Psychiatrie und Seelsorge“ hiess das erste Verhand¬ 
lungsthema der diesjährigen Jahressitzung des Vereins der 
Deutschen Irrenärzte, welche am 25. und 26. Mai d. J. in 
Frankfurt a. M. stattfand. Die Wichtigkeit dieses und des fol¬ 
genden Verhandlungsgegenstandes: „Die Bestrebungen zur 
Abänderung des Verfahrens bei der Anstaltsaufnahme 
und bei der Entmündigung der Geisteskranken“ hatte 
das Preussische Kultusministerium bewogen, zwei Vertreter, Min.- 
Direktor Dr. Bartsch und Geh. Ober-Md. - Ratli Dr. Schönfeld, 
zur Sitzung zu entsenden. — 

Bei beiden Gegenständen handelte es sich vorzugsweise um 
Abwehr der Angriffe, der gegen die Irrenärzte, gegen Richter 
und Sachverständige, und gegen die wissenschaftliche Psychiatrie 
gerichtet werden. Sie gehen in erster Linie von der orthodox¬ 
kirchlichen Partei aus, welche behauptet, dass in den Irrenan¬ 
stalten, soweit sie unter ärztlicher Leitung stehen, die Einwirkung 
der Kirche, die Seelsorge, gehemmt und unmöglich gemacht werde, 
und- welche bestrebt ist, die Pflege und Behandlung aller Geistes¬ 
kranken in die Hand der Kirche zurückzubringen, der sie ge¬ 
bühre und gehöre. 

Der Unterzeichnete Referent, welcher das erste Thema be¬ 
sprach, zeigte an der Hand der Geschichte der Psychiatrie, wie 
die nach langen Kämpfen endlich überwundenen theologischen An¬ 
schauungen, welche die Psychosen auf den Ausfluss der Sünde, des 
Besessenseins von Dämonen und vom Teufel zurückführen, jetzt 
wieder ihr Haupt erheben, um die Wissenschaft zum Stillstand 
und zur Umkehr zu zwingen und um alle Fortschritte der Huma¬ 
nität, wie sie die ärztliche Auffassung der Seelenstörungen den 
unglücklichen Kranken gebracht hat, wieder in Frage zu stellen. 
In ihren Angriffen ist den orthodoxen Gegnern jedes Mittel recht. 
Durch eine Blumenlese aus ihren Schriften und ihren Agitations- 



Bericht Aber die XV. Jahressitzung des Vereins Deutscher Irrenärzte. 303 

Kundgebungen illustrirte der Redner ihr Verfahren. Er schilderte 
sodann die positiven Erfolge, welche diese kirchliche Partei und 
die mit ihr verbundene innere Mission auf dem Gebiete der Irren¬ 
pflege, der Pflege der Epileptiker und der Idioten thatsächlich 
schon erreicht hat; mit Zahlen wurde nachgewiesen, welche grosse 
Ausdehnung die pastoralen Anstalten bereits erfahren haben, ins¬ 
besondere in Preussen nach dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 
11. Juli 1891 über die erweiterte Armenpflege. — Fragt man nun, 
nach welchen Anschauungen und wissenschaftlichen Grundsätzen 
diese vielen Kranken beurtheilt und also auch behandelt werden, 
so findet man, dass abstruse philosophische Theorien und fanatisch¬ 
religiöse Doktrinen an die Stelle der humanen psychiatrisch - medi¬ 
zinischen Maxime treten, dass die Irren für ihr Thun verantwort¬ 
lich gemacht und als Solche angesehen werden, in welchen das 
Böse oder „Der Böse“ mächtig ist. — In eigentümlichem Gegen¬ 
satz zu der bereits erreichten Ausdehnung der pastoralen Irren¬ 
pflege steht der Mangel an Staatsaufsicht, welcher bei den meisten 
derartigen Anstalten Statt hat, der Mangel an Verpflichtungen, 
zur Aufnahme gefährlicher oder störender Kranker, das absolute 
Befreitsein von einer staatlichen Kontrole ihrer Ausgaben und Ein¬ 
nahmen, obwohl sie doch — ganz abgesehen von den grossen Dar¬ 
lehen der Provinzial-Verwaltungen — öffentliche, ihnen aus den 
konzessionirten Kollekten zufliessende Gelder verbrauchen. 

Es sind daher die so charakterisirten Bestrebungen von Seiten 
des Staates und von Seiten aller Aerzte, welche eB wohl meinen 
mit ihrer Wissenschaft, mit der Ehre ihres Standes, und mit dem 
Wohl der Geisteskranken, auf’s energischste zu bekämpfen.- 

Geh. Med.-Rath Dr. Zinn-Eberswalde, als Korreferent, er¬ 
klärte sich mit den Ausführungen des Referenten völlig einver¬ 
standen. Er machte den ganzen Verband Deutscher evang. Irren¬ 
seelsorger mit verantwortlich für die Lehren und Massnahmen der 
orthodoxen Führer v. Bodelschwingh, Hafner und Genossen, 
falls er nicht bald öffeutlich klare Stellung dazu nehme. Sodann 
kennzeichnete er den Gegensatz, in welchem der gegenwärtige 
Stand der Sache zu den altbewährten Grundsätzen der preussischen 
Regierung steht, wie sie in dem Erlass des Ministers v. Harden¬ 
berg an Dr. Langermann zu Anfang dieses Jahrhunderts 
niedergelegt sind. Die Irrenärzte ihrerseits stehen noch ganz auf 
dem Boden der darin angegebenen Grundsätze, dass der Arzt jedes 
Mal angeben solle, bei welchen Kranken es der Seelenzustand 
zulässt, dass ihnen religiöser Zuspruch und Ermunterung zu Theil 
wird, und dass die Irrenheilkunde ein Theil der Medizin ist, welche 
im innigen untrennbaren Zusammenhänge zur Gesammt - Medizin 
steht. Zinn ging dann auf die Behandlung der Geisteskranken 
in den Anstalten mit Diakonen und Diakonissen als Pflegepersonal 
ein und beweist aus Thatsacken, dass das gewohnheitsmässige 
Austheilen von Prügeln seitens dieses Personals die Konsequenz 
der kirchlich - psychiatrischen Anschauungen sei. Auch Zinn richtet 
zum Schluss eine Mahnung an die jüngere Generation der Aerzte, 



304 Bericht über die XV. Jahressitzung des Vereins Deutscher Irrenärzte. 


keine Stellen an solchen von Geistlichen geleiteten Anstalten 
anzunehmen. — 

Die ausserordentlich zahlreiche Versammlung nahm hierauf 
einstimmig die vorher von den Referenten und dem Vorstande ver¬ 
einbarten Thesen an, zu denen auch ein anwesender langjähriger 
Irrenseelsorger seine Zustimmung erklärte. Dieselben lauten wie 
folgt: 

„I. 1) Das Irresein ist eine Krankheit des Gehirns und des Nerven¬ 
systems; der Irre ist ein Kranker, der für sein Thun und Lassen verantwort¬ 
lich nicht gemacht werden kann. 

Der von den Pastoren v. Bodelschwingh, Hafner und Genossen 
vertretene Standpunkt, welcher die dem Irrsein zu Grunde liegende Krankheit 
auf den Begriff der Sünde und des Besessenseius zurückführen, den Irren 
als „dämonisch“ krank geworden und „für sein Thun und Lassen verant¬ 
wortlich“ erklären will, steht im Widerspruch mit den durch Wissen¬ 
schaft und Erfahrung unanfechtbar sichergestellten Thatsachen 
und in schroffem Gegensätze zur Kechtspflege, Gesetzgebung und 
öffentlichen Meinung alller Kulturstaaten der Welt. 

2) Die Lehre der Pastoren v. Bodelschwingh, Hafner und Ge¬ 
nossen ist nur geeignet, alte Vorurtheile neu zu beleben, einen Gegensatz 
zwischen dem Anstaltsgeistlichen und der ärztlichen Oberleitung zu schaffen, ein 
gedeihliches Zusammenwirken beider zu erschweren und die unglücklichen 
Kranken und ihre Familien aufs schwerste zu schädigen. 

Diese Lehre, praktisch bethätigt, würde nothwendig zur Verkehrung 
des Charakters der Irrenanstalten in den von Strafanstalten, zur Be¬ 
strafung der Geisteskranken, zum Exorcismus und schliesslich zu den 
Hexenprozessen des 16. und 17. Jahrhunderts führen. 

In den Konferenzen des „Verbandes deutscher evangelischer Irrenseel¬ 
sorger“ ist gegen die Lehren und Forderungen der Pastoren v. Bodelschwingh 
und Genossen nur ganz vereinzelter Widerspruch erhoben, aber ein Beschlnss 
nicht gefasst worden. Es ist um so mehr Pflicht des Verbandes deutscher 
evangelischer Irrenseelsorger — wenn er nicht mitverantwortlich sein will — 
endlich öffentlich klare Stellung zu der Lehre, den Bestrebungen und Forde¬ 
rungen der v. Bodelschwingh, Hafner und Knodt zu nehmen, als 
diese Herren, soweit bekannt, den Verband gegründet und dessen Leitung in 
Händen haben. 

3) Nicht unter ärztlicher Leitung und Verantwortung stehende An¬ 
stalten für Geisteskranke — einerlei, ob dieselben heilbar oder unheilbar 
sind —, für Epileptische und für Idioten entsprechen nicht den Anforde¬ 
rungen der Wissenschaft, Erfahrung und Humanität und können deshalb als 
„zur Bewahrung, Kur und Pflege dieser Kranken geeignete Anstalten“, 
auch im Sinne des Preussischen Gesetzes vom 11. Juli 1891, nicht betrachtet 
werden. 

Unheilbare Geisteskranke bedürfen der ärztlichen Fürsorge nicht minder 
als die heilbaren. 

4) Es ist deshalb Pflicht des Staates, der Provinzial- und Kreisverbände, 
die hülfsbedürftigen Geisteskranken, Epileptischen und Idioten in eigenen, 
unter ärztlicher Leitung und Verantwortung stehenden Anstalten 
zu bewahren, zu behandeln und zu verpflegen. 

5) Alle im Besitz von Privaten oder religiösen Genossenschaften befind¬ 
lichen Anstalten der genannten Art müssen unter verantwortliche ärztliche 
Leitung und unter besondere Aufsicht der Staatsbehörde ge¬ 
stellt werden. 

6) Als leitende und für die Leitung verantwortliche Aerzte 
dürfen nur psychiatrisch theoretisch und praktisch vorgebildete Aerzte 
angestellt werden. Ihre Anstellung an im Besitz von Privaten oder von religiösen 
Genossenschaften befindlichen Anstalten bedarf, wie ihre Dienstanweisung, der 
Genehmigung der Staatsbehörde. 

7) Die fernere Annahme einer Stelle an einer nicht unter ärztlicher 
Leitung stehenden Anstalt durch einen Arzt widerstreitet dem öffentlichen 
Interesse und der Würde des ärztlichen Standes. 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


305 


II. 1) Die an den Irrenanstalten angestellten Geistlichen werden überall 
in Deutschland von den Direktoren und Aerzten „in ihrer Thätigkeit ge¬ 
würdigt und unterstützt“, sofern dieselben das „Maasa und die Art 
pastoraler Einwirkung den ärztlichen Vorschriften unterordnen.“ 

Die deutschen Irrenärzte erkennen es als ihre Pflicht an, das religiöse 
Bedürfniss ihrer Kranken befriedigen zu lassen, sie sind einmüthig der Ueber- 
zeugung und handeln demgemäss, dass an Irrenanstalten den Kranken eine 
ausreichende Seelsorge nicht fehlen dürfe, dass aber der Umfang und 
die Art derselben von der Weisung des leitenden Arztes abhängen 
müsse und nur im Einvernehmen mit demselben erfolgen könne, dass dieselbe 
aber überall da zu gestatten sei, wo ein Nachtheil für den Eiranken nach pflicht- 
gemässem Ermessen des Arztes nicht zu befürchten ist. 

Die deutschen Irrenärzte weisen die Behauptung der Pastoren v. B o d e 1 - 
schwingh und Genossen, dass in den Irrenanstalten die Einwirkungen der 
Kirche auf die Kranken wesentlich beeinträchtigt, und die Kranken des ihnen so 
nöthigen religiösen Trostes oft in unverantwortlicher Weise beraubt seien als 
eine Unwahrheit zurück. 

2) Die Anstalten sollen für Kranke aller Konfessionen bestimmt sein, 
sogenannte konfessionelle Anstalten sind nicht zu empfehlen. 

Für den Wartedienst in den Anstalten sind Angehörige religiöser Ge¬ 
nossenschaften oder Orden mit Rücksicht auf die nothwendige einheitliche 
ärztliche Leitung ebenfalls nicht zu empfehlen. 

Die Behauptung jedoch, dass die Irrenärzte aus dem persönlichen 
Grunde der Einführung dieses Personals widerstrebten, weil sie dadurch „etwas 
von ihrer Macht aus der Hand geben müssten und von ihnen damit eine Ent¬ 
sagung gefordert würde, die gerade dem Arzt einer Irrenanstalt nicht ganz 
leicht sei“, müssen wir als eine unbegründete Verdächtigung ablehnen. 
Nur die Rücksicht auf das Wohl der Kranken, nicht aber persönliche 
Rücksicht oder der persönliche religiöse Standpunkt ist für unsere Entscheidung 
massgebend. Die deutschen Irrenärzte thun, was ihre Pflicht ihnen vorschreibt; 
die Erfüllung einer Pflicht hat für dieselben weder „etwas Bedenkliches“, noch 
wird sie von ihnen als „Entsagung“ empfunden.“ Dr. Siemens-Lauenburg. 

(Schluss folgt.) 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Ueber den augenblicklichen Stand der bakteriologischen Cholera¬ 
diagnose. Von Prof. Dr. K. Koch. Zeitschrift für Hygiene und Infektions¬ 
krankheiten; 1893, XIV. Bd., 2. H., S. 319. 

„Wir können es jetzt wohl als eine feststehende Thatsache ansehen, dass 
die Cholerabakterien unzertrennliche Begleiter der asiatischen Cholera sind und 
dass der Nachweis derselben das Vorhandensein dieser Krankheit mit unfehlbarer 
Sicherheit beweist“, mit diesem Satze beginnt Koch seine neueste Abhandlung, 
fügt aber in Anmerkung ausdrücklich hinzu, dass das Fehlen oder vielmehr das 
Nichtauffinden der Cholerabakterien in einem cholcraverdächtigen Falle keines¬ 
wegs unter allen Umständen das Nichtvorhandensein der Cholera beweist, da 
ebenso wie bei anderen durch Mikroorganismen bedingten Infektionskrankheiten 
einzelne Cholerafälle Vorkommen können, die man wegen ihres sonstigen Ver¬ 
haltens als unzweifelhafte Choleraerkrankungen ansehen muss, bei denen aber 
entweder wegen mangelhafter Befähigung der Untersuchenden oder wegen nicht 
rechtzeitiger Untersuchung Kommabazillen nicht gefunden werden. In allen 
zweifelhaften Erkrankungsfällen ist somit der Nachweis der Cholerabazillen für 
die Diagnose von grösster Bedeutung und daraus ergiebt sich der grosse Werth 
der bakteriologischen Untersuchung für die Bekämpfung der Cholera. Sie setzt 
uns in den Stand, der „Seuche auf Schritt und Tritt entgegenzutreten und sie 
gerade dann zu bekämpfen, wenn sie gering und schwach ist, und von welchem 
bedeutenden Nutzen diese Art der Choleraprophylaxis ist, welche sich gegen die 
einzelnen Fälle richtet, hat der bisherige Verlauf der Epidemie in Deutschland 
in unzweifelhafter Weise erkennen lassen.“ 

Um den Werth der bakteriologischen Diagnose vollständig ausnutzen zu 



306 


Kleinere Mittheilongen und Referate aus Zeitschriften. 


können, ist aber eine schnelle und sichere Ausführung derselben durchaus noth- 
wendig, denn sowohl die Ausbreitung der Cholera im Orte des Ausbruches selbst, 
als ihre Verschleppung nach anderen Orten geht meist so schnell vor sich, dass 
die Verzögerung der Massregeln um einige Tage, selbst um einen Tag, das 
schwerste und nicht wieder gut zu machende Unheil anrichten kann. Die bak¬ 
teriologische Technik muss auch im Stande sein, die leichtesten Fälle asiatischer 
Cholera zu diagnostiziren, bei denen also keine merkbare Krankheitssymptome vor¬ 
handen und selbst die Dejektionen scheinbar von normaler Beschaffenheit sind. 
Leider werden derartige Erkrankungen wohl kaum zur amtlichen Kenntniss und 
damit zur bakteriologischen Untersuchung gelangen; gerade deshalb werden sie 
aber auch künftighin eine grosse Gefahr für die Weiterverbreitung der Seuche 
bilden, die sich trotz aller Vorsichtsmassregeln nicht völlig vermeiden lässt. 

Das bisherige Gelatineplatten-Verfahren zum Nachweis der Cholerabazillen 
hatte den Fehler, dass es zu lange Zeit, mindestens 2 Tage, beanspruchte und 
ausserdem in denjenigen leichten Erkrankungszufällen, wo in den Dejektionen 
nur wenige Bazillen vorhanden sind, im Stich liess. Man hat daher von allen 
Seiten nach Verbesserungen des Verfahrens gesucht und sind diese Bestrebungen 
nicht ohne Erfolg geblieben. Der eine hat dieses, der andere jenes Scherflein 
hierzu beigetragen, und ist auf diese Weise eine Untersuchungsmethode zur 
Ausbildung gelangt, die gegen die früheren als ein wesentlicher Fortschritt be¬ 
zeichnet werden muss und daher auch den weitesten Kreisen zugänglich gemacht 
zu werden verdient. 

Das Verfahren, das zur Zeit im Institut für Infektionskrankheiten geübt 
wird und sich auf Grund umfangreicher Erfahrungen als erprobt erwiesen hat, 
ist nach Koch folgendes: 

Zunächst werden aus dem Darminhalte mikroskopische Präparate, 
womöglich von Schleimflocken angefertigt, mit verdünnter Ziehl’scher Fuchsin¬ 
lösung gefärbt und untersucht. Zeigt sich in denselben die charakteristische 
Anordnung der Cholerabakterien in Häufchen oder Schwärmen, in denen die Ba¬ 
zillen sämratlich die gleiche Richtung haben, oder eine Reinkultur derselben, 
was in nahezu der Hälfte der Fälle zutrifft, so kann daraufhin die Diagnose 
auf asiatische Cholera mit Sicherheit gestellt werden; also schon innerhalb 
weniger Minuten nach dem Eintreffen der Untersuchungsobjekte. Grade mit 
Rücksicht auf dieses schnelle Ergebniss der mikroskopischen Untersuchung ist 
diese für die Choleraprophylaxis von grösster Bedeutung, sie setzt allerdings eine 
grosse Uebung und Erfahrung des Untersuchenden voraus. 

Zur vollkommenen Sicheruug der Diagnose wird dann gleich eine Pepton- 
und eine Gelatinekultur augelegt. Die Peptonkultur wird in der Weise 
ausgeführt, dass man in ein Reagenzglas mit sterilisirter 1 prozentiger Pepton¬ 
lösung ein oder mehrere Platinösen der Dejektion, oder wenn dieselbe Schleim¬ 
flocken enthält, einige solcher Flocken bringt und bei einer Temperatur von 37 0 
hält. Etwa in den Dejekten vorhandene Ckolerabazillen streben in Folge ihres 
starken Sauerstoffbedürtnisses nach der Oberfläche der Flüssigkeit und vermehren 
sich daselbst sehr rasch, ungestört von den übrigen Fäccsbakterien, die mehr in 
den tieferen Schichten der Flüssigkeit bleiben. Schon nach 6—8 Stunden zeigt 
die Flüssigkeit die ersten Spuren von Trübung, unter Umständen bildet sich auch 
an der Oberfläche ein sichtbares feines Häutchen; entnimmt man dann mit der 
Platinöse ein Tröpfchen von der Oberfläche der Lösung und untersucht dieses 
mikroskopisch, so findet man bei reichlichem Vorhandensein von Cholerabakterien 
im Aussaat-Material meist eine Reinkultur derselben und ist in diesem Falle 
zur Abgabe eines bestimmten llrtheils berechtigt. Sind dagegen in den Fäces 
nur wenige Cholerabazillcn vorhanden gewesen, dann erscheinen sie später an 
der Oberfläche und sind auch mehr oder weniger mit anderen Bakterien, beson¬ 
ders mit Bact. coli vermischt. Hier gestattet das Verfahren kein bestimmte» 
Resultat, bietet aber gleichwohl für das Gelatine- und Agarplattenvcrfahren den 
unentbehrlichen Vortheil der Anreicherung der Cholerabazillen. Zu bemerken 
ist übrigens noch, dass es vortheilhaft ist, den Kochsalzzusatz der Peptonlösung 
auf l°/n zu erhöhen, die Flüssigkeit stark alkalisch zu machen und das Peptou 
zuvor auf seine Fähigkeit als bevorzugtes Nährmaterial für Cholerabazillen zu 
prüfen, da sich nicht jedes der künstlichen Peptonpräparate dazu eignet. 

In der Technik des Gela t in e pla tteil-Verfahrens hat sich nichts ge¬ 
ändert; dasselbe wird allerdings in Bezug auf Feinheit und Schnelligkeit von der 
Peptonkultur übertroffen, kann aber trotzdem für die Diagnose nicht entbehrt 



Kleinere Mittheilnngen und Referate ans Zeitschriften. 


307 


werden. Es sind daher stets gleichzeitig mit der Peptonkultur auch Gelatine* 
platten mit dem Untersuchungsmateriale in der bekannten Weise anzulegen nnd 
diese bei 22® C. zu halten; die sich bildenden Kolonien erreichen dann schon in 
15—20 Stunden ihr charakteristisches Aussehen. Sind nur wenige Cholerabazillen 
in dem Untersuchungsobjekte, so empfiehlt es sich, diese erst durch die Pepton¬ 
kultur in wenigen Stunden anzureichern und aus diesen Gelatineplatten anzulegen. 
Dieselben werden dann sehr bald von Kolonien übersät sein, während sich sonst 
nur vereinzelte oder gar keine entwickelt hätten. Abweichungen in der Zu¬ 
sammensetzung der Gelatine, langsame Entwickelung bei niedriger Temperatur 
können ein abweichendes Aussehen der Kolonien bedingen, ebenso wie solches 
bei älteren, lange Zeit im Laboratorium fortgezüchteten Cholerabakterien beob¬ 
achtet wird. Die Kolonien zeigen dann eine sehr geringe Neigung zur Verflüssigung 
und breiten sich mehr platten- und schildartig aus. Bei frischen Cholerabak¬ 
terien gehört ein derartiges atypisches Wachsthum zur grössten Seltenheit; die 
Diagnose wird dann durch die Anwendung anderweitiger Kriterien festgestellt 
werden müssen. 

Die Agarplattenkultur bietet zwar kein so charakteristisches Wachs¬ 
thum der Cholerabakterien wie die Gelatineplatten; sie hat aber den Vorzug, 
dass die Platten einer hohen Temperatur (37 °C.) ausgesetzt werden können und in 
Folge dessen schon nach 8—10 Stunden verhältnissmässig grosse Kolonien liefern, 
die, nachdem sie mikroskopisch geprüft sind, theils zur Anlegung von Reinkulturen 
in Peptonlösung dienen und in kurzer Zeit die Choleraroth - Reaktion ermög¬ 
lichen, theils auch direkt zum Thierversuch verwendbar sind. Die Kulturen 
werden in der Weise angelegt, dass man eine Peptonkultur des Ausgangsmate¬ 
rials zur Aussaat benutzt und dann einige Platinösen auf der Oberfläche des in 
Doppelschalen ausgegossenen, zuvor wieder erstarrten Agars ausstreicht; das Ver¬ 
fahren bildet somit gleichsam die Vervollständigung der Peptonkultur und führt 
in zweifelhaften Fällen schneller und sicherer als das Gelatineplattenverfahren 
zu einem endgültigen Ergebnisse. 

Zur weiteren Unterstützung der Diagnosse dient ferner dieCholeroth- 
oder Indol-Reaktion. Ausser den Cholerabakterien giebt es allerdings noch 
andere Bakterien, die entweder Indol produziren oder Salpetersäure zu salpe¬ 
triger Säure zu reduziren vermögen, aber von den mit den Cholerabazillen mor¬ 
phologisch in Folge ihrer gekrümmten Form zu verwechselnden Bakterien besitzt 
keine diese Eigenschaft und aus diesem Grunde ist der Cholerarothreaktion für 
die Unterscheidung der Cholerabakterien von ähnlich geformten Mikroorganismen 
ein sehr hoher Werth beizumessen. Es muss jedoch bei dieser Reaktion darauf 
geachtet werden, dass ein durch Vorversuche als geeignet befundenes Pepton 
zur Verwendung gelangt (s. weiter unten das Referat über die betreffenden Ver¬ 
suche von Bleisch), dass die zur Reaktion benutzte Schwefelsäure völlig frei 
von salpetriger Säure ist und nur eine Reinkultur von Cholerabakterien in Pep¬ 
tonlösung (nicht in Fleischbrühe) zur Anstellung der Versuche benutzt wird. 

In den schwierigsten Fällen muss auch zum Thier versuch gegriffen werden, 
um ganz sicher zu gehen. Man verfährt dabei so, dass man von der Oberfläche 
einer Agarplattenkultur (flüssige Gelatinekulturen sind zu diesem Versuche nicht 
zu gebrauchen) mit einer, ungefähr 1,5 mg. der Kultur fassenden Platiuüse eine 
volle Oese entnimmt, in ca. 1 ccm. sterilisirter Bouillon vertheilt und in die 
Bauchhöhle (nicht in den Darm) eines Meerschweinchens einspritzt. Es treten 
dann bald nach der Injektion die charakteristischen Vergiftungserscheinungen 
ein, vor allem ein sehr schneller, durch das Thermometer leicht festzustellendcr 
Temperaturabfall, dem schliesslich der Tod folgt. Diese bei so geringer Dosis 
schon eintretende tödtlich wirkende Eigenschaft kommt unter allen gekrümmten, 
spirillenartigen Bakterien nur allein den Cholerabazillen zu; daraus ergiebt sich 
von selbst ihr grosser Werth für die Diagnose in zweifelhaften Fällen. 

Die früher benutzten Kulturen im hohlen Objektträger und auf Kartoffeln 
sind ebenso wie die Gelatinestichkultur durch die vorstehend beschriebenen sechs 
Einzelverfahren überflüssig gemacht. Werden diese Verfahren in zweckmässiger 
Reihenfolge und Kombination richtig angewandt, so führen sie stets zu einer 
sicheren Diagnose, die in der Regel schon vor Ablauf von 24 Stunden und selbst 
in den schwierigsten Fällen in höchstens 48 Stunden beendet sein kann. Zunächst 
wird stets die mikroskopische Untersuchung unter gleichzeitiger Anlegung der 
Gelatine- und Plattenkultur auszuführen und bei Gewinnung von Reinkulturen 
an der Oberfläche der Peptonkultur mit diesen die Indolreaktion anzustellen sein. 



308 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


Ist das Ergebniss dieser Untersuchungsverfahren ein unsicheres, so sind von der 
Peptonkultur Agarplatten anzulegen, um möglichst schnell grosse Cholerakolonien 
zu bekommen. Dies kann schon 10 Stunden nach der Aussaat der Fall sein und 
ist dann die Diagnose gesichert; zweckmässig wird dieselbe aber noch durch 
einige mit diesen Cholerakolonien angelegte Peptonreinkulturen und durch die 
damit angestellten Indolreaktionen kontrolirt. Für diejenigen Fälle endlich, in 
denen zwar in der Peptonkultur, wenn auch etwas später und in geringerer Zahl, 
Kommabazillen auftreten, während auf den Gelatineplatten nur ganz vereinzelte 
oder gar keine charakteristischen Kolonien zu finden sind, kommt alles auf die 
richtige Benutzung der aus den Peptonkulturen geimpften Agarplatten an. Die 
auf diesen aber vorhandenen verdächtigen Kolouicn müssen sofort auf frischen 
Agar- und Gelatineplatten sowie in Peptonröhrchen fortgepflanzt und sobald als 
möglich für die Indolreaktion und den Thierversuch verwendet werden. 

Zur Untersuchung von Wasser auf den Gehalt von Cholera¬ 
bakterien empfiehlt Koch noch am Schluss seiner Abhandlung das zur Zeit 
im Institut für Infektionskrankheiten übliche und auf dem Prinzip der Anreiche¬ 
rung der Choleraflüssigkeiten durch Peptonkulturen beruhende Verfahren. Zu 
diesem Zwecke werden von dem zu prüfenden Wasser mehrere Einzelproben von 
je 100 cm entnommen und denselben je 1 °/ 0 Pepton und Kochsalz zugesetzt. 
Die mit Pepton versetzten Proben werden sodann bei 37 0 C. gehalten und nach 
10, 15 und 20 Stunden Agarplatten damit beschickt. Alle ihrem Aussehen nach 
verdächtigen, auf der Agarplatte zur Entwickelung gekommenen Kulturen sind 
hierauf zunächst mikroskopisch zu prüfen und, sofern sie aus gekrümmten Bak¬ 
terien bestehen, weiter zu züchten behufs Anstellung der Indolreaktion und des 
Thierversuches, die bei Wasseruntersuchungen unter allen Umständen die Dia¬ 
gnose vervollständigen müssen. Mit Hülfe dieses Verfahrens sind während der 
Winterepidemie in Hamburg, Altona und Nietleben Cholerabakterien im Elb¬ 
wasser, in einem Brunnen in Altona, auf den Rieselfeldern in Nietleben, ira 
Saalewasser und im Leitungswasser der Anstalt in Nietleben nachgewiesen, 
also in Gewässern, die zu Choleraerkrankungen in Beziehung standen und aus 
denen beim Aufhören der Epidemie auch die Cholerabakterien verschwun¬ 
den waren. Rpd. 


Ueber einige Fehlerquellen bei Anstellung der Choleraroth-Reak¬ 
tion und ihre Vermeidung. Von Kreisphysikus Dr. M. Blei sch in Kosel. 
Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheit. 1893, XIV. Bd., H. 1, S. 103. 

Das Ausbleiben der Choleraroth-Reaktion bei Versuchen mit einer der 
vorjährigen Choleraepidemie entstammenden Cholerakultur gab dem Verfasser 
Veranlassung, eingehende Untersuchungen in Bezug auf die Ursache dieses Aus¬ 
bleibens anzustellen. Dieselben führten zu folgendem Ergebniss: 

Die für das Zustandekommen der Choleraroth - Reaktion neben Indol noth- 
wendigen Nitrite werden durch die Cholerabakterien im Wesentlichen aus den 
im Nährmedium vorhandenen Nitraten gebildet. 

Schon ein sehr geringer Ueberschuss von Nitraten im Nährmedium über 
das an sich sehr niedrig liegende Optimum genügt indess, um den Eintritt der 
Reaktion unter dem Einfluss der aus ihnen im Ueberschuss gebildeten Nitrite zu 
verhindern. — Den gleichen Einfluss übt ein Ueberschuss fertiger Nitrite im 
Nährboden aus. 

Eine weitere Veranlassung zum gänzlichen oder längeren Ausbleiben der 
Reaktion kann unter Umständen eine durch die Zusammensetzung des Nähr¬ 
mediums bedingte mangelhafte, bezw. verzögerte Indolbildung abgeben. 

Andererseits kann die Verwendung nitrithaltiger Nährmedien oder Säuren 
zur Reaktion eine Choleraroth-Reaktion Vortäuschen. 

Der Gehalt der in gewöhnlicher Weise zubereiteten Flcischpeptonbouillon 
an den zur Reaktion nothwendigen Stoffen, besonders an Nitraten, ist ein so 
wenig konstanter, dass in Rücksicht auf die daraus entspringenden Fehlerquellen 
ihre Verwendung als Nährinediuiu bei Anstellung der Cholerarothreaktion zu 
diagnostischen Zwecken sich nicht empfiehlt. An ihrer Stelle sind reine Pepton- 
kochsalzlösungeu anzuwenden, denen die Nitrate in der zur Reaktion nothwen¬ 
digen Menge genau zugemessen worden sind. Verfasser empfiehlt hierzu fol¬ 
gende Lösung: 



Kleinere Mittheilnngen und Referate ans Zeitschriften. 


309 


Pept. sicc. (Witte) 2.00 
Natr. clorat. puriss. 0,5 
Aqu. dest. 100.00 

Sol. Kal. nitric. purissim. (0,80 : 100) gtt. XXX—L. 

Die Lösung wird gekocht, filtrirt und ist dann nach der Sterilisationn zum 
Gebrauche fertig. 

Sie hat ausser ihrer einfachen Herstellungsweise auch den Vorzug, dass 
sie die Reaktion schon nach 4—6 ständigem Aufenthalte im Brutschränke bei 
37° C. deutlich giebt, während diese in Fleischpeptonbouillon erst nach 12—24 
Stunden, oft auch erst nach mehreren Tagen eintritt. 

Betreffs der zur Hervorrufung der Reaktion zu verwendenden Säuren macht 
Verfasser endlich darauf aufmerksam, dass nur völlig nitratfreie Mineralsäme, 
insbesondere aber nitratfreie Schwefelsäure, geeignet sind. Rpd. 


1. Ueber das Verhalten der Cholerabazillen im Eise. Von Prof. 
Dr. Renck in Halle a./S. Fortschritte der Medizin Nr. 10, 1893. 

2. Weitere Beiträge zur Biologie des Cholerabacillus. Einfluss 
der Kälte auf seine Lebensfähigkeit. Von Prof. Dr. Uf fei mann in 
Rostock. Berliner klinische Wochenschrift. 1893, Nr. 7. 

Der Ausbruch der Cholera in der Provinzial - Irrenanstalt in Nietleben, 
mitten im Winter bei Temperaturen von — 20° C., legte die Frage nahe, ob 
Cholerabazillen im Eise kouservirt werden oder zu Grunde gehen. Die darauf¬ 
hin im hygienischen Institute in Halle ausgeftthrten Versuche haben zu dem 
Resultate geführt, dass die Zahl der Cholerakeime in einem vorher mit infizirten 
und dann zum Gefrieren gebrachten Wasser sich schon nach 24 Stunden um 
mehr als 50 °/ 0 vermindert hatte und nach drei Tagen ununterbrochener Frost¬ 
wirkung alle Cholerabazillen getödtet waren; dass die Abtödtung aber etwas 
später eintrat (nach 6—7 Tagen), wenn die Frostwirkung unterbrochen wurde. 
Es ist daher mit Bestimmtheit anzunehmen, dass im Eis, das älter als 8 Tage 
ist, entwickelungsfähige Cholerabazillen nicht mehr vorhanden sind. 

Zu einem ähnlichen Resultat ist auch Uf fei mann bei den von ihm in 
dieser Hinsicht angestellten Versuchen gekommen. Er fand, dass die Cholera¬ 
bazillen spätestens nach 5 Tagen im Eise abgestorben waren; dass sie aber 
immerhin die Kälte, selbst Temperaturen von —24,8 0 C., einen gewissen Zeit¬ 
raum ertragen können, und erst nach einer gewissen, von der Intensität der 
Kälte abhängigen Zeit derselben erliegen. 

Auch die in neuerer Zeit im Königlichen Institut für Infektions¬ 
krankheiten angestellten einschlägigen Versuche haben zu demselben 
Ergcbniss geführt. Rpd. 


Untersuchungen über die Brauchbarkeit der Berkefeld-Filter 
aus gebrannter Infusorienerde. Von Dr. Martin Kirchner, Stabsarzt und 
Vorsteher der hygienischen Versuchsstation des X. Armeekorps in Hannover. 
Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten; 1893, XIV. Bd., 2. H., S. 299. 

Ueher die Brauchbarkeit und Wirksamkeit der aus gebrannter Infusorien¬ 
erde hergestellten sogenannten Berkefeld’schen Filter lagen bisher äusserst 
günstige Untersuchungsergebnisse, besonders aus den hygienischen Instituten von 
Breslau (von Dr. Nordmeyer und Dr. Bitter) sowie aus dem hygienischen 
Institute des Prof. Dr. Gr über in Wien (von I)r. Prochnick) vor 1 ). Dr. 
Kirchner kann sich auf Grund eingehender von ihm augestellter Versuche diesem 
Urtheile leider nicht anschliessen, sondern kommt zu dem Resultat, dass 

1. die Filter kein zuverlässig keimfreies Filtrat geben uud die Keiin- 
freilieit, wenn sie überhaupt eintritt, nicht längere Zeit, sondern nur 
höchstens einige Zeit andauert; 

2. die Filter pathogene Bakterien nicht länger zurückhalten, als nicht 
pathogene und 


*) Vergleiche das Referat über diese Arbeiten in Nr. 20 dieser Zeitschrift, 
Jahrg. 1891, S. 503. 



310 


Besprechungen. 


3. dass sich ihre Anwendung im Grossen vom praktischen Standpunkte 
aus nicht empfiehlt, da ihre Leistungsfähigkeit schnell abnimmt und 
nur durch häufig wiederholte, umständliche und bei der Brüchigkeit 
des Filtermaterials gefährliche Keinigungsmassregeln wieder herge¬ 
stellt werden kann. 

Den Charaberland -Filtern gegenüber stehen somit dieBerkefeld’schen 
in Bezug auf Keimdichtigkeit zurück, sind ihnen aber betreffs der Leistungsfähig¬ 
keit überlegen. Verfasser hofft, dass es dem Fabrikanten gelingen möge, die 
Keimdichtigkeit seiner Filter zu erhöhen und deren Zerbrechlichkeit zu vermin¬ 
dern; das erstere wird allerdings nur auf Kosten der Ergiebigkeit der Filter 
erreicht werden können. Rpd. 


Besprechungen 

Dr. L. W. Liersch, Kreisphysikus und Geh. San.-Rath: Die linke 
Hand. Eine physiologische und medizinisch-prak¬ 
tische Abhandlung für Aerzte, Pädagogen, Berufs- 
Genossenschaften und Versicherungs - Anstalten. 
Berlin 1893. Verlag von Richard Schoetz. 47 Seiten. 

Die Rechtshändigkeit beruht beim aufrechtstehenden und gehenden Menschen 
auf anatomischen und physiologischen Eigeuthümlichkeiten des menschlichen 
Organismus. Die Rechte war von Anfang an die Hand der Abwehr, des Schwerte«; 
die Linke diejenige, die das verletzlichste Organ des Körpers, das Herz, zn 
schützen hatte, also die des Schildes. Von diesem JStandpunkt ausgehend und 
zugleich beweisend, dass die Rechtshändigkeit von jeher nicht fakultativ, sondern 
obligatorisch gewesen ist, betrachtet Verfasser die Schädigungen, die besonders 
dem jugendlichen Organismus aus der alleinigen Anwendung der rechten 
Hand erwachsen. Er rechnet hierzu: 1. die seitliche Rückgratsverkrümmung 
(Skoliosis), 2. Erkrankungen und Fehler der Augen, 3. innere Leiden. — Des 
Weiteren betrachtet er die schädlichen Folgen und die Gebrauchsbeeinträchti¬ 
gungen der rechten bezw. linken Hand, welche durch Unfallsverletzungen her¬ 
vorgerufen werden. Es werde die Verschiedenheit in der Abschätzung der 
Eiubusse an normaler Erwerbsfähigkeit an den Angaben fünf verschiedener 
Autoren (Berufsgenossenschaften) demonstrirt und der Wunsch wird ausgesprochen, 
dass eine allgemeingültige Zusammenstellung oder Anleitung zur Bemessung der 
Erwerbsunfähigkeitsgrade aufgestellt und eingeführt werde. Man wird sich 
diesem Wunsche anschliessen, wenn man bedenkt, dass z. B. im Jahre 1887 von 
15 970 entschädigten Unfällen 5150, also beinahe ein Drittel an den Händen 
vorkamen. — Das Zusammenwirken beider Hände ist für das Zustandekommen 
fast jeder Arbeit nothwendig: daher die Mahnung und der Hinweis des Ver¬ 
fassers auf die Ausbildung der Zweihäudigkeit (Ambidexterität), daher sein Vor¬ 
schlag als Vorbeugungsmittel bei so manchen Uebelständen neben der Rechten 
auch die Liuke auszubilden. Seine Worte sollten gewissermassen eine Ehren¬ 
rettung der linken Haud sein. 

Es liegt hier eine äusserst geistreich geschriebene, mit höchst interessanten 
Bemerkungen versehene Abhandlung vor, die zugleich von reicher Lebenserfahrung 
Zeugniss ablegt. Da sie ausserdem recht viele Anregungen bietet, so können 
wir die Lektüre derselben den Herren Kollegen auf’s angelegentlichste empfehlen. 

Dr. Israel-Medenau (Ostpr.). 


R. Schulize, Stadtbauinspektor in Köln a. Rh.: Bau und Betrieb 
von Volksbadeanstalten. Mit einem Vorworte von Geh. 
San.-Rath Dr.Lent. Mit 45 Abbildungen im Text. Bonn 1893. 
Verlag von Emil Strauss. 68 Seiten. 

Während die grossen Städte gerade in den letzten Jahren mit dem Bau 
öffentlicher Badeanstalten vorgegangen sind, haben die mittleren und kleineren 
Gemeinden meist aus Furcht vor erheblichen Kosten sich nicht so häufig, wie 
es im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege liegt, an die Aufgabe heran¬ 
gewagt. Die ärztlichen Kreise haben jede Gelegenheit benutzt, um das Interesse 



Tagesnachrichten. 


311 


für den Bau von Volksbadeanstalten zu erwecken. Durch das vorliegende Werk 
ist nunmehr auch die Möglichkeit gegeben, sich über die Kosten und die Raum- 
ansprtiche bis in’s kleinste Detail Auskunft zu holen. Der Verfasser hat als 
Vorlagen für zu schaffende Volksbäder Typen der bisher ausgeführten oder ent¬ 
worfenen Anlagen gesammelt, hat Angaben über die Einrichtung der Gebäude, 
die badetechnischen Einzelheiten und die Höhe der gemachten Kostenaufwendungen 
gemacht, endlich die bisher erzielten Betriebsergebnisse dargelegt. Durch Grund¬ 
risse, Abbildungen der Gebäude und innerer Einrichtungen wird das Beschriebene 
anschaulich gemacht. Das Werk zeigt deutlich, dass die Brausebäder-Anlage 
mit so geringem Kostenaufwande verbunden ist, dass selbst kleine Gemeinden 
dieser segensreichen Einrichtung theilhaftig werden können. Möge deshalb im 
Interesse der körperlichen und sittlichen Fortentwickelung unseres Volkes das 
mit vielem Fleiss ausgearbeitete Werk baldigst Eingang in die betheiligten 
Kreise finden. Ders. 


Tagesnachrichten. 

Auf Veranlassung des Herrn Ministers der Medizinal - Angelegenheiten 
werden im Institut für Infektionskrankheiten in Berlin von Mitte Juni d. J. ab 
unentgeltliche Vorlesungen über Cholera für praktische Aerzte abgehalten 
werden. Jeder Cyklus dieser Vorlesungen ist auf eine Woche und auf täglich 
zwei Stunden berechnet. Es können dazu etwa 50 Zuhörer zugelassen werden. 
Anmeldungen sind an den Direktor des Instituts Geh. Med.-Rath Dr. Koch 
zu richten. 


Eine zweite internationale Sanitätskonferenz soll im Spätherbst d. J. 
in Paris abgehalten werden, um die auf der ersten Konferenz in Dresden nicht 
erledigten, auf das Sanitätswesen im Orient beziehenden Fragen zu erledigen. 

Die in Dresden getroffene Uebereinkunft ist inzwischen dem Bundes¬ 
rath zur Beschlussfassung zugegangen und im Reichsanzeiger veröffentlicht. 
Wir bringen in der heutigen Beilage den Wortlaut derselben. 


Vom 8. —10. September d. J. wird der I. internationale Samariter- 
Kongress in Wien unter dem Präsidium des Prof. Dr. Billroth, Präsident, 
Bürgermeister Dr. Prix, und Dr. A. Loew, Vizepräsidenten, stattfinden. 

Die bisher zur Berathung angenommenen Verhandluugsgegenstände sind 
folgende: 

1. Welche Erfolge hat das freiwillige Rettungswesen bisher aufzuweisen? 

2. Wie verhält sich die zukünftige Stellung der freiwilligen Hülfeleistung 
zur offiziellen? 

3. Welche grundsätzliche Bestimmungen sollen in dem Statute eines 
Samariterbundes enthalten sein? 

4. a) Nach welchen Grundsätzen sind Personen zum Rettungs- und Sama¬ 
riterdienste auszuwählen ? 

b) In welcher Weise kann die Schulung einzelner Personen oder ge¬ 
schlossener Vereine in einheitlicher Form bewerkstelligt werden? 

c) Auf welche Weise sind Rettungsgesellschaften und Samaritervereine 
zweckentsprechend auszurüsten? 

5. Welche Stellung soll der Samariterbund ira Kriege einnehmen? 

6. In welcher Weise können freiwillige Feuerwehren ohne Gefährdung 
ihres eigentlichen Hauptzweckes zum Samariterdienste herangezogen werden ? 

7. Ist die Gründung eines statistischen Bureaus für den Samariterbund 
wünschenswerth oder erforderlich? 

8. In welcher Weise sind die Geldmittel für einen Samariterbuud bei¬ 
zuschaffen ? 

Wie ist die Wasserwehr als solche für allgemeine Hülfszwecke cinzu- 
richteu ? 

10. In welcher Weise sind öffentliche und private Krankenanstalten für 
die Zwecke des Samariterbundes heranzuziehen? 



312 


Tagesnachrichten. 


In Hamburg ist unter dem 12, Mai d. J. vom Senat der Bürgerschaft 
der Entwurf eines Gesetzes betreffend die Wohnnngspflege vorgelegt, 
durch den bessere Wohnungsverhältnisse unter staatlicher Beaufsichtigung ge¬ 
schaffen werden sollen. Darnach wird beabsichtigt, die Stadt in 36 Pflegebezirke 
zu theilen und für jeden Bezirk einen Vorsteher und eine je nach dem Bedürf¬ 
nisse zu beinessende Zahl Wohnungspfleger zu bestellen, die sich durch Revisionen 
u. s. w. genaue Kenntniss von den Grundstücken und Wohnungen ihres Bezirks 
zu verschaffen und für die Abstellung Vorgefundener Missstände mit Hülfe des 
städtischen Baupolizeiamtes zu sorgen haben. In dem Gesetzentwürfe sind be¬ 
stimmte Erfordernisse für die Verwendbarkeit der Gelasse und Räume zum 
dauernden Aufenthalt von Menschen gegeben und wird z. B. für jede Wohnung 
ein besonderer verschliessbarer Zugang, ein eigener Abort, eine eigene Koch¬ 
stelle u. s. w. verlangt. In den Schlafzimmern sollen auf jedes Kin d unter 10 
Jahren mindestens 0,1 qm Fensterfläche mit 5 cbm. Luftraum, auf jede ältere 
Person 0,2 qm Fensterfläche mit 10 cbm Luftraum bei 2 bezw. 4 qm Grund¬ 
fläche entfallen. 


Die Nordd. Allg. Ztg. schreibt: „Die Art, wie im vorigen Jahre die Ru¬ 
brik der Choleranachrichten bei uns zu einer ständigen in den Zeitungen 
gemacht und jeden Tag möglichst zu füllen versucht wurde, konnte nur zu sehr 
angethan erscheinen, ira Auslande ganz falsche Begriffe über den Grad der Ver¬ 
breitung der Seuche innerhalb unserer Reichsgrenzen zu erwecken. Auch ist 
die Neigung, jeden einzelnen Cholerafall so breit wie möglich zu treten, im 
Auslände schlechterdings nicht verständlich. Berücksichtigt man, dass insbesondere 
der Theil des Inhalts unserer Zeitungen telegraphisch nach dem Auslande ver¬ 
breitet wird, welcher unser Gedeihen in irgend welcher Beziehung fragwürdig 
erscheinen lassen kann, so erwächst der Presse und dem Publikum die doppelte 
Verpflichtung, gerade auch auf dem in Frage stehenden Gebiet die denkbar 
grösste Selbstzucht zu üben und in der möglichsten Beschränkung diejenige 
Weisheit zu erkennen, die uns verhältnissmässig leicht schwere Verluste am 
Nationalvermögen erspart. Diese Weisheit zu üben, sollte um so weniger schwer 
fallen, als in der Ürganisirung der Reichscholerawehr die beste Bürgschaft dafür 
gegeben ist, dass im Falle des Wiedereinbruchs der Cholera in die Reichsgrenzen 
alles mobil ist, um den Feind, wo immer er auch auftreten möge, so schnell und 
wirksam, wie denkbar, zu schlagen.“ 

Wir können diesen Standpunkt nur völlig theilen und haben schon bei 
Gelegenheit der Berathung des Reichsseucheiigesetzes auf der diesjährigen Haupt¬ 
versammlung des Vereins darauf hingewiuseu, dass es keineswegs zweckmässig 
sei, jeden einzelnen Erkrankungsfall von Cholera, Pocken u. s. w. sofort 
öffentlich bekannt zu machen und an die grosse Glocke zu bringen, da der da¬ 
durch z. B. für industrielle Städte erwachsende Schaden in Bezug auf Handel 
und Verkehr in keinem Vergleich steht zu (lein Nutzen, den derartige Bekannt¬ 
machungen für die angebliche (?) Beruhigung der Bevölkerung haben sollen. 


Cholera. In Hamburg sind keine weitere Erkrankungen vorgekommen. 
Auch in Oesterreich, speziell in Galizien ist seit nunmehr 4 Wochen ein 
Cholorafall nicht mehr zur amtlichen Kenntniss gelangt. Dagegen ist die Seuche 
in Süd-Frankreich an verschiedenen Orten ausgebrochen, insbesondere in 
Cette, Montpellier und Frontignan (Departement Herault), sowie in Alais und 
Niiues (Departement Gard); während in dem westlich gelegenen bisher am meisten 
ergriffenen Departement Morbihan in den letzten Wochen nur noch vereinzelte 
Choleraerkrankungen beobachtet sind, ln Alais sind bis zum 13. Juni 49 Per¬ 
sonen der Krankheit erlegen, in Oette bisher 11 und in Montpellier 4. 

Wie nicht anders zu erwarten war, ist mit dem Eintritt der Pilgerfahrten 
nach Mekka auch die Cholera dortselbst zum Ausbruch gekommen; Zeitungs¬ 
nachrichten zu Folge sollen vom 8.—14. d. Mts. bereits 185 Personen an dem ge¬ 
nannten Orte in Folge von Cholera gestorben sein. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i W. 

J. G. C. Brun«, BnchdruckereJ, Minden. 




6. Jahrg. 


Zeitschrift 

für 


1898 . 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rathu.gerichtl.Staatphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in Minden. 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagsbandlnnff and Rad. Mosse 

entgegen. 


No. 13. 


Erscheint am 1. und 15. Jeden Monats. 
Preis Jährlich 10 Mark. 


1. Juli. 


Ueber Querulantenwahnsinn. 

Von Dr. Mittenzweig. 

(Fortsetzung.) 

A. Sachlage. 

b. Nach der persönlichen Untersuchung Witte’s. 

Im Allgemeinen kann ich vorausschicken, dass W. sich 
sehr bereitwillig auf meine Einladung zur Untersuchung gestellt 
und dass er mir seine ganze Zeit zur Verfügung geboten bat, 
sodass er mir eher zu viel als zu wenig Zeit verschaffte, 
ihn kennen zu lernen. Was den Gewinn anlangt, den ich hieraus 
zu ziehen vermochte, so entsprach er indess nicht ganz meinen 
Wünschen, und zwar kam dies daher, dass er die Neigung besitzt, 
bei Beantwortung einer präzis gestellten Frage, zuerst weit aus¬ 
zuholen, dann sich in die einzelsten Einzelheiten zu vertiefen und 
schliesslich die Frage nicht so scharf zu beantworten, wie sie ge¬ 
stellt ist. Die Ursache dieser Beantwortungsweise liegt m. E. 
darin, dass W. äusserst gern die Gelegenheit benutzt, die, ich 
möchte fast sagen, ihm lieb gewordenen Themata zu behandeln, 
wobei sich wiederholentlich herausstellt, dass er dieselben fast mit 
denselben Worten, um nicht zu sagen, verbo tenus wiedergiebt 
und dass sich seine Auslassungen ebenso verbo tenus meistens in 
den Akten wieder vorfinden. 

Ueber seine Personalien hat er mir das bereits in den Akten 
Stehende wiederholt, so dass ich diesbezüglich nur wenig Neues 
gehört habe. 

Sein Vater war Hauptlehrer in E. und starb im Jahre 1867 
im Alter von 58 Jahren an den Folgen einer Operation; er ist 
nach W.’s Angabe sehr begabt gewesen. Seine Mutter ist im 
Alter von 73 Jahren gestorben; sie hat nie an Migräne, an 
Krämpfen oder dergleichen gelitten, sie hat sechs Kinder geboren 







814 


Dr. Mittenzweig. 


und hatte, wie W. mir auf eingehendes Befragen mittheilte, eine 
ähnliche Lähmung der linken Gesichtsseite, wie er selbst. Von 
seinen Geschwistern leben noch ein Bruder als Kaufmann in 
London und eine Schwester als Gesellschafterin in Barmen. Beide 
sollen körperlich und geistig völlig gesund sein. 

Von dem Bruder hatte W. gelegentlich des D.’schen Kon¬ 
firmationsstreites erwähnt, dass er die Gewohnheit gehabt, ohne 
Grund plötzlich in Lachen auszubrechen. Auf Befragen gab W. 
an, dies sei nur ein einziges Mal vorgekommen bei Besuch eines 
älteren Herrn, und da hatte der Knabe guten Grund zum Lachen. 
Er habe dies Beispiel nur angeführt, um der Familie D. eine Be¬ 
schämung zu ersparen. 

Mit 17 1 /» Jahren war W. Abiturient. Er war damals sehr 
klein, körperlich knabenhaft und schämte sich, mit den anderen, 
grossen erwachsenen Jungen in’s Examen zu gehen; aber der 
Schulrath selbst habe ihn dazu ermuntert. Studirt habe er in 
Bonn und Berlin. Sein Patriotismus habe ihn nach Berlin hin¬ 
gezogen. 

Die Ereignisse hier in Berlin hat mir W. in derselben Weise 
wiedergegeben, wie er sie in den Akten niedergelegt hat. Von 
D. sagt er, er wolle die Rechte der Gemeindevertretung vertreten 
gegenüber dem Gemeindekirchenrath. Abgesehen von K.’s Person, 
meint W., konnte er auch auf den Gemeinde - Kirchenrath rechnen 
bis zum Jahre 1889. 

Von 1889 an wurde die St.’sche Angelegenheit, die bis dahin 
latent gewesen war, patent. Der Kampf zwischen St. und ihm 
war der Kampf eines konservativen Mannes, gegen eine von St. 
getragene pseudokonservative Bewegung. W. sah grosse Gefahr 
in dem Programm St.’s, welches hiess: Befreiung der Kirche vom 
Staat. Deshalb habe er sich St. nicht angeschlossen. 

Ueber sein Verhältniss zu dem Synodal - Deputirten D. spricht 
sich W. folgendermassen asu: Herr D. bekleidet das Amt eines 
Gemeindevertreters seit Januar 1883. Schon seit dem Jahre 1880 
hatte er die Erkenntniss, dass Herr D. für die Gemeinde eine 
schwierige Persönlichkeit sei. Im Jahre 1883 trat ihm D. in 
schroffem Gegensatz gegenüber mit M. und K. in Sachen der 
Lithurgie und des Altargesanges, und durchkreuzte durch Be¬ 
schwerden beim Konsistorium den Weg, auf dem die Angelegenheit 
in freundschaftlicher Versammlung mit den Gemeindevertretern 
geordnet werden sollte. D. wollte nur seine Macht zeigen. Er 
wollte auch Patronatsältester und sein Miethsherr werden. Dass 
beides nicht geschah, hat er nie überwunden. K. war von D. 
gewonnen, und beide waren so taktlos, sich an andere Geistliche 
zu wenden. W. trat freiwillig von seinem Plane zurück, obwohl 
der Altargesang sein Ideal war. Schon 1886 habe er (W.) dem 
Probst v. d. G. gesagt, dass er D. um des Friedens willen habe 
zum Kreissynodal - Deputirten wieder wählen lassen, trotzdem er 
dazu kaum passte. Man lache viel, wenn er spreche. 

H. Konsist.-Rath A. sei ihm feind geworden, früher war er 
sein Freund. Aber A. glaubte, seine Freundschaft für ihn sei 



Ueber Qaerolantenwahnsiim. 


315 


ein Hindernis» für seine Carriäre gewesen und wollte dieses 
Hinderniss aus dem Wege räumen. Auch der Präsident Sch. sei 
ihm nicht gewogen. Einen bestimmten Grund dafür giebt W. nicht 
an. Ebenso wäre der Konsist.-Rath M. stets sein Gegner gewesen, 
desgleichen der frühere Präsident H. Die anderen Mitglieder des 
Konsistoriums kennten seine Angelegenheit nicht, sie liessen sich 
von Sch. und namentlich von A. leiten. 

Weshalb ihm die einzelnen Mitglieder des Kirchenraths feind¬ 
lich gesinnt seien, dafür hat er nur die allgemeine Erklärung, dass 
sie für St. und gegen ihn Partei ergriffen hatten. 

Die Gemeindevertreter und die Mitglieder selbst ständen in 
überwiegender Mehrheit auf seiner Seite. 

Wie weit sich W. in diesen seinen Anschauungen täuscht, 
das werden wir später erkennen können. 

Nachdem ich so mit ihm seine Stellung im Allgemeinen be¬ 
sprochen hatte, wandte ich mich zu der Erörterung der einzelnen 
Punkte, aus denen das Königl. Konsistorium geschlossen hatte, dass 
er geisteskrank und geistesschwach ist. 

* Das Gutachten des Konsistoriums gipfelt darin, dass W. an 
Grössenwahn und Verfolgungswahn leide und dadurch die Fähig¬ 
keit verloren habe, die ihn umgebenden Verhältnisse richtig zu 
erkennen und besonnen zu handeln. Dass er an Grössenwahn 
leide, entnimmt das Konsistorium aus der Menge, der Grösse und 
Beschaffenheit seiner Eingaben und Reden, aus der Art, wie er 
den Vorsitz in den offiziellen Versammlungen führte und aus ein¬ 
zelnen Aeusserungen. 

Was seine Eingaben anlangt, so sagt W., er sei zu einer 
so grossen Anzahl von diesen gezwungen worden, weil er sich 
gegen die über ihn eingereichten Beschwerden hätte vertheidigen 
müssen und weil seine Beschwerden beim Konsistorium keine Be¬ 
rücksichtigung gefunden hätten. Hätte das Konsistorium seine 
Eingaben prompter beantwortet, so hätte es sich viele Arbeit 
erspart. 

Der grosse Umfang der Beschwerden war nothwendig, weil 
eine erschöpfende Widerlegung stets mehr Ausführungen und 
Worte erforderte als die Beschwerde selbst. Zum Verständniss 
der Sache musste er oftmals auf fernliegende Ereignisse zurück¬ 
greifen und deren Verlauf darstellen. 

Auch die Beschaffenheit der Beschwerden sei der Natur und 
Lage der Sachen angemessen. Seine Beschwerden habe er zwar 
an das Plenum des Konsistoriums gerichtet, er wisse aber, dass 
nur H. Konsist.-Rath A. dieselben lese, und dieser wiederum sei 
mit seinen Angelegenheiten so vertraut, dass er jede Redewendung 
und jeden anderen eigenthümlichen und unverständlich erscheinen¬ 
den Ausdruck ohne Weiteres verstehe. 

Selbst der Präsident Sch. habe ihm bei seinen Unterredungen 
mitgetheilt, das er über die Einzelheiten nicht unterrichtet sei. 
Daher hätte er sich daran gewöhnt, Ausdrücke, wie „Thee- Kon¬ 
flikt“, „Schlüsselsache“, „Kuhstallgeflüster“ und dergl. auch in 
seinen offiziellen Eingaben zu gebrauchen. 



316 


Dr. Mittenzweig. 


Den Vorwurf nörgelnder Spitzfindigkeit müsse er ablehnen. 
Hiervon sei ihm kein Exempel zu demonstriren versucht. So oft 
ich ihm solche nachzuweisen versuchte, ergoss er sich in längerer 
Rede darüber, dass er dazu berechtigt war, weil die Thatsachen, 
um die es sich in den Redewendungen handelte, wahr seien. Von 
dem Kern der Sache, der Taktlosigkeit in Anwendung der 
Form, liess er sich nicht überzeugen. 

In derselben Weise vertheidigte er die Menge, Ausdehnung 
und Beschaffenheit seiner Reden. 

Auch hier gab er niemals zu, dass er seine Person und seine 
Angelegenheiten all zu sehr in den Vordergrund gedrängt hätte. 
Nur im Interesse der Sache hätte er so handeln und sprechen 
müssen, nicht seine Person, sondern sein Amt hätte er in den 
Vordergrund gestellt. Er selbst sei bescheiden und demüthig und 
offenbare dies überall und bei jeder Gelegenheit. 

Auf meinen wiederholten Einwand antwortete er mir wörtlich: 

„Ich schrieb an Herrn A., als an einen Mann, der mit mir seit 12 Jahren 
in genauen Beziehungen steht, mit dem ich mündlich über dieselben Dinge viel¬ 
fach konferirt habe und dem das Lesen meiner Eingaben in keiner Weisq 
Schwierigkeit bereiten konnte. Ich hatte zu rechnen auf 2 Männer, abgesehen 
von Präsidenten, mit A. und Br. Ich habe an Br. manchen parallelen Brief ge¬ 
schrieben. Im Mai/Juni 1891 wurde Br. krank, und ich habe seit der Zeit seiner 
geschont. Es war mir bekannt, dass A. thatsächlich der einzige Leser war. 
Der Präsident Sch. hat am 4. Januar 1891 selbst gesagt, dass er erst mit dem 
1. April 1891 einträte, überhäuft mit Arbeit und deshalb weniger orientirt sei. 
Dagegen wusste A. ganz genau Bescheid, was ich mit jedem Worte sagte. 

Meine Eingaben sind nie monirt worden, man hat mir vielmehr Kompli¬ 
mente gemacht. A. selbst hat meine Broschüre ein Meisterstück genannt; er 
fügte hinzu: „Diese Broschüre hat Sie gerettet“. 

Es sind mir auch manche Wendungen dahin ausgelegt, als ob mir eine 
moquante Absicht untergelegen hätte, während ich bei Gebrauch derselben eine 
konkrete Angelegenheit im Auge hatte, so z. B. die Berührung des Invaliditäts¬ 
und Alterversorgungsgesetzes. Ebenso das Dankschreiben von Ende August in 
der Angelegenheit der Kassenverfügung. Auch dies sollte Hohn sein, und doch 
war es warmer Dank.“ 

Selbst den Gebrauch der bei älteren Angelegenheiten ange¬ 
wandten Worte, welcher bereits früher gerügt ist, versucht W. 
mir gegenüber zu rechtfertigen, z. B. die Wiederholung des Wortes 
„schleunigst“, den Ausdruck „empfindungslose und hartherzige Em¬ 
pfindlichkeit des Pfarrers Qu.“, „versuchsweise und versucherisch“ 
und dergleichen mehr. In allen diesen Sachen findet er nichts 
Besonderes und Eigentümliches, nichts, was Anderen nicht auch 
erlaubt wäre. 

Und doch sind dies alles Punkte, welche dem unbefangenen 
Leser sofort auffallen und anstössig erscheinen, während W. nicht 
fühlt oder einsieht, dass er damit für seine Person etwas Be¬ 
sonderes prätendirt. 

Dass W. den Vorsitz in den offiziellen Versammlungen und 
namentlich auch im Gemeinde - Kirehenrathe in einerWeise fühlte, 
welche seine Selbstüberhebung und seine Rücksichtslosigkeit gegen 
Andere wie seine Nichtachtung Anderer beweist, stellt er ebenfalls 
in Abrede. Er hält seine Weise für die angemessene und be¬ 
rechtigte, er müsse die Sachen klären und feindliche, verderbende 
Ansichten bekämpfen. So habe er z. B. bei der Gehaltsfrage 



Ueber Querulantenwahnsinn. 


817 


nicht nur seine Person, sondern besonders seine Stelle und seine 
Nachfolger im Auge gehabt. 

Seine einzelnen Aeusserungen anlangend, sucht er auch 
diesen mir gegenüber mit dialektischer Gewandtheit die Spitze ab¬ 
zubrechen. Manches sei missverstanden, manches falsch und ent¬ 
stellt wiedergegeben, manches harmlos gesprochen, manches völlig 
berechtigt, manches aber auch völlig aus der Luft gegriffen. So 
sei kein wahres Wort daran, dass er mit seiner Ehefrau den 
Spaziergang des Pastor B. mit D. von seinem Fenster aus beobachtet 
und nun geargwöhnt habe, dass beide gegen ihn konspirirten. Wo 
er Vermuthungen gefasst und aufgestellt habe, da seien sie auch 
ineistentheils später durch die Thatsachen bestätigt worden. Er 
habe sich selten, fast nie getäuscht. Den Prediger Cr. habe er 
von Anfang an für einen krystallklaren Charakter gehalten, und 
als ihn D. bei ihm verleumden wollte, habe er sofort gewusst, dass 
er sich in Cr. nicht täusche. Es sei auch in der Folge erwiesen 
worden. Habe doch der Gang der Ereignisse gelehrt, dass er 
schon vor Jahren die Verhältnisse richtig beurtheilt und geschätzt 
hätte. Man habe ihm thatsächlich keinen Fehler nachweisen 
können, und dennoch sei wörtlich eingetroffen, was Herr W. ihm 
einstmals prophezeiht, man werde ihn verfolgen und ihn schliess¬ 
lich für geisteskrank erklären. 

Dass er seit Jahren verfolgt werde und sich verfolgt fühle, 
das sei kein Wahn, sondern Wirklichkeit. St., D., K., A. spielten 
hierbei eine Rolle, und ihre Haupt-Motive habe er wiederholentlich 
nachgewiesen. Wenn er dagegen reagire, so sei es einfach die 
Pflicht der Selbsterhaltung. Auch St. gegenüber habe er dies be¬ 
wiesen; denn er habe lange Zeit geschwiegen, und erst als er 
selbst von ihm angegriffen wurde, darauf geantwortet. Die Injurien¬ 
prozesse habe er einleiten müssen, weil er seinen Namen von den 
Verleumdungen reinwaschen musste. Dies war seine Pflicht als 
Pfarrer, als Mann und als Familienvater. Da das Konsistorium 
ihn nicht schützen wollte, so musste er den Schutz des weltlichen 
Gerichtes suchen, auch das sei eine gesetzliche und nicht unheilige 
Instanz. Und hier habe er stets Schutz gefunden. 

Uebrigens giebt er auch zu, dass nicht alle Mitglieder im 
Konsistorium gegen ihn feindlich gehandelt hatten, so namentlich 
nicht Br. und Dr. B. 

Was seinen wiederholt ausgesprochenen Grundsatz anlangt: 
„Wenn Dich jemand verderben will, so verdirb ihn zuvor,“ so 
hält er diesen in seiner moralischen und selbst christlichen Würdi¬ 
gung aufrecht und sucht ihn selbst mit Belägen aus der heiligen 
Schrift zu vertheidigen. 

Mit einem Wort, W. stellt in Abrede, dass man in seinem 
Thun und Handeln irgend etwas Unsittliches oder gar Krankhaftes 
finden könne. 

Ich füge hinzu, dass Frau Pfarrer W. und Herr Dr. P., sein 
Arzt, seine Meinung theilen und dieselbe energisch vertreten, dass 
aber andere Personen, welche ihm nahe stehen und denen ich ein 
objektives Urtheil zutraue (z. B. Rechtsanwalt S.), mir mitgetheilt 



818 


Dr. Mittenzweig. 


haben, W. habe auf sie den Eindruck gemacht, dass er entweder 
schon geistig krank sei oder doch an der Grenze der Geistes¬ 
krankheit stehe. 

In der Unterhaltung mit W. fallt dies weniger auf, und auch 
körperlich macht er den Eindruck eines frischen und gesunden 
Mannes. Wie er mir selbst mittheilt, lebt er sehr einfach, ist auch 
sehr enthaltsam, namentlich im Genuss von geistigen Getränken. 
Er ist ein Freund körperlicher Bewegung, badet und schwimmt 
gern und regelmässig. 

Mittelgross, zart, aber gut genährt, von frischer Gesichts¬ 
farbe, lebendiger Bewegung und Sprache macht er den Eindruck 
eines gesunden Mannes, der eher jünger denn älter aussieht im Ver¬ 
gleich zu seinen Lebensjahren. Sein Körper und sein Kopf sind 
regelmässig, letzterer namentlich symmetrisch gebildet. Nur im 
Gesicht zeigt Witte eine geringe Auffälligkeit, eine leichte 
Lähmung des Nervus facialis, welche an und für sich in ihrer 
Isolirtheit ohne Bedeutung wäre und nur dadurch erwähnenswerth 
wird, dass nach W.’s Angabe, auch bei seiner verstorbenen Mutter 
eine gleiche Abweichung vorhanden gewesen ist. 

Seine Sinnesorgane funktioniren gut, seine Körperorgane sind 
gesund. Nur leichte Neigung zu Katarrhen der Augenlider und 
des Kehlkopfes nimmt man an ihm wahr. Appetit, Verdauung und 
Schlaf sind angeblich tadellos. 

Nirgends finden sich Störungen der Motilität, Sensibilität 
oder der Reflexe. 

B. Gutachten. 

Herr Pfarrer W., 57 Jahre alt, stammt von geistesgesunden 
Eltern und sind auch in seiner gesummten Familie Geisteskrank¬ 
heiten irgendwelcher Art noch nicht vorgekommen. Die erwähnte 
Eigentümlichkeit seines Bruders erscheint nach der von W. ge¬ 
gebenen Erklärung bedeutungslos. Was die linksseitige Gesichts¬ 
lähmung der Mutter anbetrifft, so ist es allerdings ein sonderbares 
Erbtheil, dass diese auf den Sohn überkommen ist, bei ihrem 
isolirten Vorhandensein darf man indess auch hierauf kein grosses 
Gewicht legen, weil gerade einseitige Facialis-Lähmungen häufig 
Vorkommen. Eine erbliche Belastung von wesentlicher Bedeutung 
lässt sich sonach bei W. nicht feststellen. 

Seine körperliche und geistige Beschaffenheit deutet ebenfalls 
nicht darauf hin, dass bei ihm eine Prädisposition zu einer Geistes¬ 
krankheit zu suchen wäre. W. ist nicht gross, aber kräftig und 
gesund. Seine eben nur angedeutete linksseitige Gesichtslähmung 
will ich ebenso wenig in’s Treffen führen, wie seine diesbezügliche 
Heredität. Im Uebrigen ist eine Abweichung in der Funktion des 
gesammten Nervensystems nicht aufzufinden. 

Auch besondere Krankheiten, welche eine Schwächung des 
Körpers und namentlich des zentralen Nervenapparates hätten herbei¬ 
führen können, hat W. nicht überstanden. 

Ebenso wenig lassen sich Trunksucht, Ausschweifungen oder 
körperliche Strapazen als etwaige Krankheitsursachen geltend 
machen. 



Ueber Quernlantenwahnsinn. 


819 


Nur ein Moment macht sich im Laufe der Zeit bemerkbar, 
d. i. ein zeitweiliges Klagen über körperliche und geistige Ab¬ 
spannung. Wiederholentlich hat W. geklagt, dass er durch die 
Sorge und den Kummer über die Krankheit seiner Frau und seines 
Sohnes, durch grosse Ueberarbeitung nervös und erholungsbedürftig 
geworden wäre. Zeitweise hat er auch Erholungsreisen angetreten, 
ein anderes Mal aber haben die Umstände dies nicht erlaubt. Als 
anderen und nicht unwichtigen Faktor einer erworbenen Disposition 
spreche ich die dauernden Gemüthsbewegungen an, welche eine 
Folge seiner aufreibenden Konflikte waren und welche zweifels¬ 
ohne mit seiner nervösen Reizbarkeit in wechselseitiger ursäch¬ 
licher Beziehung gestanden haben. Es scheint mir sehr wahr¬ 
scheinlich, dass der jetzige Zustand nicht die Höhe erreicht hätte, 
welche er zur Zeit besitzt, wenn rechtzeitig ein dauernder und 
wirksamer, d. h. in Wahrheit durchgeführter Urlaub W. aus seinen 
aufregenden Verhältnissen herausgerissen und die äusseren Ver¬ 
anlassungen der Gemüthsbewegungen ihm fern gehalten hätte. 
Die Verhältnisse und der lebhafte Charakter haben dies nicht 
gestattet. Selbst in’s stille Bad folgten ihm Briefe, Zeitungsnach¬ 
richten und dergleichen geistige Fäden, welche ihn auch hier 
beschäftigten, reizten und zu fernerer Thätigkeit hinrissen. 

Alles dies fiel bei ihm auf einen fruchtbaren, aber gefährlichen 
Boden, welcher gebildet wurde von einer Reihe von Charakter¬ 
zügen, deren Verschmelzung eine Disposition zur Entwicklung von 
Geistesstörung erfahrungsgemäss abzugeben vermag. 

Wenn wir die hohe Lebensstellung W.’s., die Stellung des 
ersten Pfarrers einer grossen christlichen Gemeinde Berlins, mit 
dem Lebensbilde in Vergleich ziehen, welches uns bei dem Studium 
der Akten vor Augen tritt, dann überkommt uns wohl ohne Aus¬ 
nahme das Gefühl, dass wir vor etwas Unbegreiflichem stehen. 
Wir fragen uns: wie kann ein christlicher Pfarrer dauernd in 
solche Zwistigkeiten gerathen? Wie kann seine Person und sein 
Amt so in die Oeffentlichkeit gezerrt werden? Wie kann er in 
so massloser Weise gegen Laien, Amtsbrüder und Vorgesetzte 
Vorgehen ? 

Wir wollen ganz davon absehen, ob er in manchen oder 
vielen Dingen der Beleidigte ist oder der Beleidiger, der Schädi¬ 
gende oder der Geschädigte, der Misshandelnde oder der Gemiss- 
handelte, ob er in diesen oder jenen Dingen Recht hat oder 
Unrecht. 

Mag dem sein, wie es will, auf jeden Fall beleidigt die 
Art und Weise, wie W. auf tritt, das Masslose in seinen Schritten 
unser Gefühl. 

Dasselbe tritt uns entgegen, wenn wir sein Wesen analysiren 
und wenn wir hierbei neben den herrlichsten Geistesgaben eine 
Reihe von Charaktereigenschaften entdecken, deren Vorhandensein 
wir am wenigsten bei einem christlichen Pfarrer vermuthen, der 
doch durch seine Erziehung und sein Studium, durch seinen Lebens¬ 
gang und seine Lebensstellung ein Vorbild der nachsichtigen 
Liebe und Sanftmuth, der Demuth und des Gehorsams, der Selbst- 



320 


Dr. Mittenzweig. 


losigkeit und Aufopferung, des Anstandes und der feinen Form 
sein sollte. 

Statt dessen stossen wir bei W. auf Ehrgeiz und Empfind¬ 
lichkeit, auf Herrschsucht und Selbstsucht, auf Argwohn und 
Misstrauen, auf Mangel an Gehorsam und Ehrerbietung, auf Hass 
und Rachsucht. 

Dass er ehrgeizig und empfindlich für seine Person ist, das 
hat er uns schon zur Zeit seines Abiturientenexamens verrathen. 
Weil er so knabenhaftes Aussehen hatte, wollte er noch nicht in’s 
Examen gehen, trotz guter Kenntnisse. Er musste erst von 
anderen bewogen werden, seine kleine Eitelkeit zu überwinden. 
Dann studirte er und wurde Pastor. Seine Neigung führte ihn 
zur Missionsgesellschaft. Wieviel sein Ehrgeiz dazu beitrug, ihn 
nach der Hauptstadt des Reiches zu ziehen, das lässt sich nicht 
bestimmen. Seine Werbung um die Pfarrstelle in St. Elisabeth, 
die Wahl Qu. verletzte seinen Ehrgeiz und hatte den Konflikt 
mit diesem zur Folge. 

Sein Ehrgeiz fand ferner Befriedigung in seinen Erfolgen 
gegenüber der Sozialdemokratie. W. war furchtlos, wie ihn 
Superintendent B. schilderte, in die Versammlungen der Oranien¬ 
burger Vorstadt gegangen und war dort trotz drohender Gefahr 
aufgetreten. Er selbst sagt von sich: „Ein guter Hirt verlässt 
nicht seine Herde, wenn der Wolf kommt.“ Den Muth spreche 
ich ihm zu, aber auch den Ehrgeiz. Auch die Hartnäckigkeit, 
mit der er jede vermeintliche Verletzung seiner Ehre vertheidigte 
und rächte, spricht für einen hohen Grad dieser Charaktereigen¬ 
schaft. Ihm genügte nicht die Erhaltung seiner christlichen Ehre, 
auch der Schild seiner Mannes - Ehre musste rein erhalten bleiben. 
Seine Ehre verlangte, dass er sich im Konflikt mit Qu. nicht ver¬ 
setzen liess. Nur seine Ehre zwang ihn, die Strafe von 300 Mk. 
zu zahlen, damit seine Kinder nicht leere Wände sähen. Nicht 
der Gehorsam gegen das Gesetz bewog ihn dazu, sondern die 
Furcht vor vermeintlicher Schande in den Augen seiner Kinder. 

Ein edler Ehrgeiz ist gewiss eine edle Eigenschaft des 
Mannes, auch bei einem Pfarrer; etwas anderes ist es insonderheit 
für den letzteren, wenn der Ehrgeiz so in den Vordergrund tritt, 
wie bei W., zumal wenn er dann in Verbindung auftritt mit 
Herrschsucht. 

Nicht nur D. zeiht ihn dieser Eigenschaft, auch die Mit¬ 
glieder des Gemeinde - Kirchenraths beklagen sich wiederholt und 
bitter über die tyrannische Leitung der Versammlungen, die keine 
andere Meinung neben sich aufkommen liesse. Dem Pastor H. 
gegenüber kehrt W. das Verhältniss von Pfarrer und Diakonus 
schroff heraus. Die Zirkulare beweisen das Uebrige. Mit dieser 
Herrschsucht im engen Zusammenhang steht seine Selbstsucht. 
Was ihm geuehm war, dazu sollen sich auch die Andern bequemen. 
Er wollte die Weisen des spezifischen Lutherthums in St. Golgatha 
einführen und scheute selbst nicht den Kampf mit einem Theil 
der Gemeinde, obwohl der Friede in der Gemeinde ihm doch vor 
Allem am Herzen liegen musste. Dass er auch finanzielle Rück- 



Ueber Querulantenwahnsinn. 


321 


sichten sprechen liess, soll nicht betont werden, aber im Interesse 
seiner Stelle und seiner Nachfolger trat er in pekuniärer Beziehung 
energisch und zähe auf. Schon der Superintendent B. wies auf 
seinen praktischen Sinn und seine Thatkraft bei finanzieller Hebung 
der Pfarre und Kirche in Beverungen hin. In St. Golgatha ver¬ 
folgte W. denselben Plan. Hier wurde ihm seine hartnäckige 
Zähigkeit übel vermerkt. 

Wenn diese drei genannten Eigenschaften schon auf einen 
hohen Grad von Egoismus hindeuten, so verstärkt sich diese An¬ 
nahme noch, wenn wir erfahren, dass W. überdies äusserst arg¬ 
wöhnisch und misstrauisch war. Nur wenigen Menschen schenkte 
er Vertrauen, ich nenne H., Cr., Br., Dr. B. Den meisten miss¬ 
traute er, und wenn er Misstrauen hegte, so wuchs dies an zu 
krankhafter Höhe. Stets glaubte er, dass seine Gegner etwas 
gegen ihn im Schilde führten. Sprachen in der Synode zwei mit 
einander, so bezog er deren Gespräch auf sich. Er argwöhnt, dass 
B. und H., H. und D. u. s. w. gegen ihn konspirirten. Man wolle 
ihn kränken, beleidigen, schädigen, verderben. Ueberall sieht er 
Verschwörungen. Jedermann, der ihm entgegentritt, und wäre es 
noch so sachlich, ist sein persönlicher Feind. Die Mitglieder des 
Kirchenraths sind ihm persönlich feind, D. hat sie gewonnen und 
verschwört sich mit ihnen zu seiner Verfolgung. Der Konsistorial- 
rath A. verfolgte ihn aus unedlem Motive. Als ich vor Kenntniss 
der speziellen Verhältnisse Herrn W. mittheilte, dass vor seinem 
Besuche bereits Herr Konsist.-Rath A. mich aufgesucht habe, um 
mir den Auftrag des Konsistoriums zu übermitteln und mich 
darüber äusserte, dass mir auch die sehr umfangreichen Akten 
zugesandt werden sollten und dass Herr A. mir zur Erleichterung 
der Orientirung Anhaltspunkte, „einen rothen Faden“, wie ich mich 
W. gegenüber ausdrückte, in Aussicht stellte, da witterte er sofort 
neuen Verrath. Auch ich sollte befangen gemacht werden. Die 
Menge dieser Vorkommnisse veranlasste das Konsistorium nicht 
ohne Grund zur Annahme eines gewöhnlichen Verfolgungswahns. 

W. war aber nicht der Mann, der die ihm zugefügte odei 
vermeintlich zugefügte Unbill und Ungebühr leidend hinnahm. 
Er war, wie er selbst sagt, zu leidenschaftlich, um dagegen nicht 
zu reagiren. 

Schon in früheren Jahren erfuhr dies der Pfarrer Qu., der 
Superintendent Str., später Herr Hofprediger St. und seine „drei 
Redakteure“, der Kirchenrath und seine Mitglieder, namentlich 
auch Herr Kirchenkassen-Rendant Sp., das Konsistorium und seine 
Mitglieder, Herr Superint. D., der Präsident H. und andere mehr. 

Aber nicht nur in leidenschaftlicher Erregung reagirte W. 
auf Angriffe, welche gegen seine Person gerichtet schienen, sondern 
bei kaltem Blute und mit Ruhe und Ueberlegung ging er an die 
Zurückweisung und Wiedervergeltung von Kränkungen und Invek- 
tiven. War doch sein und seiner Ehefrau Wahlspruch in den oft 
geäusserten Worten enthalten: „Wer mich verderben 4 will, den 
verderbe ich.“ W. will dieses Wort aus dem Munde des Prof. W. 
vernommen und sich angeeignet haben. Frau W. gebrauchte es 



322 


Dr. Mittenzweig. 


Herrn v. H. gegenüber; W. selbst hat gegen Herrn Konsist.-Rath 
A. und Präsident Sch. diesen Satz vertheidigt, ihn als nicht un¬ 
moralisch und nicht unchristlich hinzustellen gesucht und damit 
seine diesbezügliche Moral vertheidigen wollen. Er hält dafür, 
dass der Satz die Nothwehr ausdrücke, er dehnt den Begriff der 
Nothwehr aber sehr weit aus und überschreitet dieselbe nicht nur, 
sondern handelt sogar nicht selten nach dem Muster einer präven¬ 
tiven Nothwehr. In welcher Weise aber W. diese Nothwehr und 
die Abwehr zur Wahrung seiner Interessen ausübt, davon zeugen 
seine Schriften, Beschwerden, Eingaben und Zirkulare fast auf 
jeder Seite. Wie er leicht dazu gelangt, in Jemand seinen Gegner 
zu sehen, so fehlt es ihm auch nie an Anhaltspunkten, um ihn 
anzugreifen, zu kränken, zu beleidigen. Nicht selten wird ihm 
sogar vorgeworfen, dass er auch zu Verleumdungen greife und es 
mit der Wahrheit nicht genau nehme. Die Mitglieder des Ge¬ 
meinde - Kirchenrathes, welche am meisten unter ihm zu leiden 
hatten und welche nach dem Ausspruch der Herren A. und Sch. 
ernste, besonnene Männer und von der friedfertigsten Absicht be¬ 
seelt sind, klagen in der herbsten Weise über die Behandlung, der 
sie seitens ihres Pfarrers W. dauernd ausgesetzt sind. Als Beispiel 
für die Rachsucht und die schnöde Behandlung von Seiten seines 
Pfarrers dient der langjährige Kirchenkassen - Rendant Sp. Dieser 
hatte sich lange Zeit völlig parteilos in dem Streit zwischen W. 
und Gemeinde - Kirchenrath gehalten; schliesslich glaubte W., dass 
auch Sp. auf die Seite seiner Gegner getreten sei, und in kurzer 
Zeit hatte er mit Benutzung kleiner Unregelmässigkeiten im 
Kassenwesen es dahin gebracht, dass er den alten, verdienten 
Herrn in barscher Weise „wegen zunehmender Gedächtnisschwäche“ 
aus dem Amte weisen konnte. 

Sein Benehmen gegen seine Vorgesetzte Behörde ist geradezu 
masslos, die Rücksichtslosigkeit seiner Sprache und seiner Angriffe 
spottet jeder Beschreibung. Dem Konsist.-Rath A., welcher die 
Anklage zu vertreten hat, wirft er alle erdenklichen Böswillig¬ 
keiten vor. Er konspirire mit seinen Gegnern, er mache böswillige 
Unterstellungen, er wolle ihn verderben, er sei sein Feind aus 
Eigennutz, ja, W. schreckt nicht davor zurück anzudeuten, dass in 
böswilliger Absicht aus seiner Broschüre zwei Blätter von grosser 
Bedeutung heimlich herausgeschnitten seien während ihres Ver¬ 
wahrsams im Konsistorium. 

Schon vor Zeiten hat W. wegen solchen Benehmens einen 
Verweis erhalten, als er den Brief des Superint. Str. ironisirte; 
sein Vorgehen in den letzten beiden Jahren aber spottet jeder 
Beschreibung und jeder Remedur. Da die Entscheidungen und Be¬ 
richte des Konsistoriums sich vielfach auf die früheren Schriften 
W.’s beziehen, so will ich nur eine kurze Blumenlese an der Hand 
eines seiner letzten Schreiben an den Evangelischen Ober-Kirchen- 
Rath folgen lassen (8. Februar 1892). Er sagt darin: 

„Schon Mancher hat mir erklärt, dass er durch solche Verfügung den 
Verstand verlieren würde. Ob Dieser oder Jener solchen Erfolg wider mich 
erhofft hat, Gott weiss es.“ — 



Ueber Querulanten Wahnsinn. 


323 


„Und fürwahr, ich habe die Machtmittel solcher M&nner nie unterschätzt, 
und ihre ,Ansichten* hingen von ihrer Absicht ab.“ — 

„Im Juni 1891 bekomplimentirte mich A. als Verrückten. Ich erkannte, 
dass er die Situation am Wenigsten nach ihrer sittlichen radix begriff und den 
Menschen wie den Dingen nicht gewachsen war.“ — 

„Als A. sich etwas administrative Erleichterung zu verschaffen gesucht 
hatte, indem er mich im Juni 1891 privatissime für verrückt erklärte, habe ich 
noch auf sein Gewissen zu wirken versucht.“ — 

„Ich war damals gezwungen, vor dem Konsistorium zu erklären, dass 
ich seine Besorgniss für mich ohne Dank ablehne, indem ich mich im Immediat- 
Sanatorium Gottes befinde.“ — 

„Konsistorial-Rath M. nämlich, einer der Intimsten des Hofpredigers St. 
und im Uebrigen ohne jegliche Ursache ein ausgesprochener Gegner von mir.“ — 
„Seit der Zeit ist eine dämonische Agitation wider mich in Szene gesetzt.“ — 
„Aber es gab Solche (im Konsistorium), denen ich lieber geworden wäre, 
wenn D. Hecht gehabt hätte, und denen ich immer weniger lieb wurde, je mehr 
das Unrecht von D. und Genossen zu Tage trat. Es wurde stellenweis gehandelt, 
als ob unter den missbrauchten Titeln von Friede und Versöhnung es nur noch 
eine Pflicht gebe, mich als vogelfrei zu behandeln und preiszugeben, dagegen 
meine Feinde, D. und Genossen, zu bekomplimentiren, zu hätscheln und zu 
bestärken.“ — 

„L. geht’s wie Manchem; er gilt für meinen Freund und er, der mir über 
seinen verstorbenen Kollegen B. mit Recht früher Stein und Bein geklagt, ver¬ 
band sich nun mit dessen Bruder wider mich auf der Synode.“ — 

„Dem Konsist.-Rath A. war es wohl bewusst, dass jeder etwa gelingende 
Versuch, mich zu schwächen, gleichbedeutend mit einer mehrseitigen Stärkung 
meiner Gegner war. Die wirksamste Schwächung war die, mich mit allerlei 
Gerede, etwa z. B. unter der Firma einer für christlich ausgegebenen „Demuths“- 
Nttance, an mir selbst irre zu machen.“ — 

„Unter die, die mir ohne Grund und gegen Beruf meinen Amtsweg und 
Lebensgang erschwert haben, gehört auch Herr Ober-Konsist.-Rath D., mein 
früherer Superintendent. Einerseits gab er Verdächtigungen, von Diakonus H. 
wider mich angebracht, ohne Vorfrage bei mir weiter, andererseits scheute er 
sich nicht, mich, wiederum natürlich ohne mein Wissen und Ahnen, ebenso auch 
ohne Ursache als einen Verdächtiger eines meiner Amtsbrüder zu verdächtigen 
(Angelegenheit B.).“ — 

„Durch Superint. D. hatte ich unerlässlicher Weise über Diakonns H. zu 
berichten. Meine damaligen Berichte, von Superint. D. vermöge seines Amtes 
mit Marginal-Bericht versehen, und von den Herren H., Br., A. gelesen, sind 
seitens des Königlichen Konsistoriums unter damaliger Leitung, nachdem sie die 
Feuerprobe bestanden, verschwunden; man hatte nichts bemängeln können.“ — 
Diakonus H. ist von meinem Gegner Konsist. - Rath M. entdeckt und aus¬ 
gesucht, gemeinschaftlich mit Herrn Dr. K. empfohlen und mittelst Empfehlung 
von dieser Seite Herrn Dr. Br. zugeschoben.“ — 

„Bei Konsist.-Rath A. ist mir eine mehrfache Gedächtnissunfähigkeit 
entgegengetreten. Etwas de me und contra me Gehörtes erschien ihm als etwas 
a me Gesagtes. Ich habe ihm sagen müssen, das sei ja zum Gruseligwerden 
und könne ja Unglück anstiften. Ich erkannte je länger je mehr seine Hülf- 
losigkeit gegenüber seinen wirklichen Aufgaben; er fand nicht die Kraft in 
sich, Leute wie Sp. oder R. zurechtzuweisen und richtig zu behandeln. Je mehr 
ihr Unrecht und mein Recht zu Tage kam, um so grösser ward diese seine 
Hülflosigkeit. Nun suchte er, um zugleich alles von mir Vorgebrachte zu ent- 
werthen, sich durch die Auskunft zu retten, dass ich geistesgestört u. s.‘ w. sei. 
Die Erwägung, ob solcher Auskunftsversuch verbrecherisch sei oder nicht, ist 
ihm wohl ziemlich fern geblieben. 

Schon im Sommer 1889 hatte er, um im Grunde meine Verantwortlichkeit 
zu treffen, von Ungeheuerlichkeiten mit erstaunlicher Oberflächlichkeit gefaselt. 

Schon damals war zu erkennen, dass er mich zu verderben begehrte. In 
sittlichen Beurtheilungen sah ich mich mehrfach von ihm, soweit er sich wenigstens 
ausspracb, durch eine Kluft geschieden.“ — 

„Auch der Präsident hatte keine Befugniss, diesem Herrn R. vorher oder 
nachher solches Recht einzuräumen und sein willkürliches Verhalten zu besiegeln 



Dr. Mittenzweig. 


324 


oder za belohnen. Meines Erachtens giebt es kaum etwas Bedenklicheres, als 
wenn die Autorität sich in den Dienst der Anarchie stellt.“ — 

„Wissen denn Sch. und A. trotz ihrer Aemter nicht, dass sie, wie sehr 
sie mir auch grollten, doch nicht so entgleisen durften?“ — 

„Freilich liegt Methode in dem Sch. • A.’schen Vorgehen gegen mich tadel¬ 
losen Pfarrer.“ — 

„Ohne ärztliches Zeugniss und von Niemanden inspirirt als den 
Herren Sch. und A., womit jede heilige Inspiration hier ausgeschlossen ist, hat 
ein ganzes behördliches Kollegium vereideter Männer die Fahrlässigkeit oder 
dess etwas gehabt, mich für dauerndem Wahn und dauernder Unfähigkeit ver¬ 
fallen zu erklären. Und dieses Kollegium, unser Königliches Konsistorium, heisst 
eine geistliche Behörde!“ — 

„Wer aber fähig ist, seinen Nächsten ohne Ursache für verrückt zu erklären, 
wird der zuverlässig in Berichten sein wollen oder können?“ — 

„Sogar das, was der oberkirchenräthliche Dezernent angeregt hatte, reicht 
nicht an die Thaten Sch.-A’s. heran.“ — 

„Wie sehr man mit vollem Bewusstsein so grauenhaft an mir handelte, 
geht aber schon hervor ..." 

Nur dem Herrn Generalsup. Dr. Br. gegenüber scheint W. 
kein Misstrauen zu hegen. Er schreibt: 

„Ihm war meine Erholungsreise, wenn mich nicht Alles täuscht, nicht 
etwa ein Mittel, daraufhin und in meiner Abwesenheit mir „Geistesschwäche“ 
wie mit einem Steinwurf nachzuwerfen und mittels eines mehrwöchentlichen 
Beiseaufenthalts über die ganze Dauer meines Lebensganges zu verfügen.“ — 

Die Gesammtheit der vorgenannten Eigenschaften wurzelt in 
einem krassen Egoismus, welcher in der Jugend W.’s von seinen 
glänzenden Geistesgaben überstrahlt wurde, im späteren Alter 
aber, namentlich durch die äusseren Verhältnisse, die exponirte 
Stellung, der sich W. aussetzte und die scharfen Gegensätze, in 
welche er mit politischen und kirchlichen Gegnern gebracht wurde, 
wucherte und schliesslich seine Persönlichkeit beherrschte. 

Daneben wurde überdies, nicht nur vom Konsist. - Rath A., 
welcher allerdings am meisten mit W.’s Person und seinen Ange¬ 
legenheiten sich amtlich zu beschäftigen hatte, sondern auch von 
anderen Personen und insonderheit von dem ganz unbefangenen 
Ober - Kirchenrath die Bemerkung gemacht, dass auch die Intelli¬ 
genz W.’s gelitten haben müsste. 

Die Verworrenheit der beiden W.’schen Berichte an den 
Ober - Kirchenrath vom 19. und 21. Dezember 1891 und der Ent¬ 
wurf für eine Verfügung des Konsistoriums an den Gemeinde¬ 
kirchenrath vom 23. Dezember sprechen dafür, dass er damals die 
Besonnenheit ganz verloren hatte. 

Auch sein Gedächtniss scheint durch die dauernde Gemüths- 
erregung, trotz der Schärfe für manche Dinge, hie und da gelitten 
zu haben. Die mehrfachen Anklagen, dass W. an einem Mangel 
an Wahrheitsliebe leide, finden für mich nur in mangelnder Re¬ 
produktionstreue für manche Erlebnisse ihre Erklärung. 

Ich komme hiermit auf den Schwerpunkt meines Gutachtens 
und zu der Frage: Ist das Benehmen W.’s namentlich aus der 
letzten Zeit die Folge eines unsittlichen Charakters oder die Folge 
einer krankhaften Geistesstörung. 

Die Stimmen darüber sind getheilt. 

Am schärfsten hat sich Herr R. diesbezüglich ausgesprochen, 
wenn er sagt, er halte nicht dafür, dass W. geisteskrank sei, 
sondern moralisch schwach. 



Ueber Querulantenwahnsinn. 


325 


Ich kann mich diesem Urtheile des Herrn R. nicht an- 
schliessen, sondern bin gegenteiliger Ansicht: Herr W. ist nicht 
moralisch schlecht, sondern geisteskrank. Er besitzt von Natur 
einen krankhatten Charakter, und auf der Grundlage dieses Charak¬ 
ters hat sich unter der Ungunst übel wirkender äusserer Einflüsse 
eine Geisteskrankheit entwickelt. 

Neben dem krassen Egoismus, welcher W. beherrscht, haben 
wohl die meisten Beobachter seines Lebens oder Leser seiner 
Akten sich des Gefühls nicht erwehren können, dass in seiner 
Persönlichkeit ein unbegreifliches Etwas steckt, was nicht an Bös¬ 
willigkeit, sondern an krankhaften Zwang erinnert. Diese ewige 
Rechthaberei, welche selbst auf die eindringlichsten Zusprüche 
von Männern, welche W. hoch zu verehren scheint, nur schein¬ 
bar und nur auf Stunden zum Nachgeben gebracht werden kann, 
seine heftigen, masslosen und bösartigen Angriffe und Verdächti¬ 
gungen erwecken dem unbefangenen Leser an und für sich schon 
das Gefühl, dass er es mit einem kranken Menschen zu thun habe. 

Lange Jahre hat man vor einem Räthsel gestanden, wenn 
man Personen, wie W., sich in einem unvernünftigen und zweck¬ 
losen Kampf mit wirklichen oder vermeintlichen Gegnern müde 
kämpfen sah, lange blieb das Wesen solcher Menschen dem Auge 
der Welt und Wissenschaft verborgen. Die immer wiederkehrende 
Erfahrung, dass der Lebensgang und Lebenskampf dieser 
Menschen stereotyp denselben Weg nahm, zu demselben trostlosen 
Ziele, dem Ruin der Person und seiner Familie und nicht selten 
zum ausgesprochenen Wahnsinn, zur Verrücktheit führte, hat uns 
eine Erklärung auch für das Wesen dieser Personen gegeben. 

Wie bei anderen Personen derart, finden wir auch bei W. 
den krankhaften Punkt in dem Gefühls vermögen, in einem Mangel 
des Rechtsgefühls. Er, der scheinbar nur nach Recht uud Wahr¬ 
heit strebt, verräth von früh auf ein mangelndes Gefühl für das 
verletzte Recht anderer Personen. Und nicht allein das unbe¬ 
stimmte Gefühl hierfür fehlt ihm, sondern es fehlt ihm auch trotz 
hoher Begabung und trotz eines bis zur Haarspalterei und Spitz¬ 
findigkeit scharfen Verstandes die Einsicht in das Unrecht, welches 
er mit diesem Eingriff in die fremde Rechtssphäre begeht. 

W. besteht so beharrlich auf sein wirkliches oder vermeint¬ 
liches Recht und sucht rücksichtslos Anerkennung desselben, selbst 
wenn er dabei und dadurch die Rechte anderer Personen mit 
Füssen tritt, weil er kein Verständniss für das Anderen zugefügte 
Unrecht hat. Er ist in dieser Beziehung farbenblind. 

Dies beweist er insbesondere gegenüber den seelsorgerischen 
Zusprüchen und Ermahnungen der Herren Br. und B., und ferner 
durch den genannten Entwurf vom 23. Dezember 1891. 

Dieser Entwurf wurzelt m. E. nicht in Bosheit, sondern in 
jedem Mangel an Verständniss für das Unvernünftige und Un¬ 
rechte, was er von dem Gemeinde-Kirchenrath und dem Konsis¬ 
torium fordert. Denn bei genauerer Prüfung besagt dieser Ent¬ 
wurf: Wenn der Gemeinde - Kirchenrath alle Punkte, welche W. 



326 


Dr. Mittenzweig. 


je gefordert hat, nach seinem Wunsch erfüllt, dann will er die 
Hand zur Versöhnung bieten. 

Der ethische Defekt, der W. angeboren ist, drückt seinem 
Wesen und seinem Charakter den Stempel der Krankheit auf, und 
erst nachdem wir diesen Gesichtspunkt gewonnen haben, haben 
wir den richtigen Schlüssel zu seinem Leben und Treiben, zu 
seinem Denken und Handeln gefunden. Selbst manche vorher 
unverständliche Einzelheiten seines Wesens stellen sich jetzt unver- 
htillt dar. 

Aus dieser ethischen Verkümmerung erklärt sich der wuchernde 
Egoismus, dem ein starkes sittliches „Ich“ nicht entgegentritt, 
weil es eben selbst mangelhaft entwickelt ist. Ihm entspricht der 
unzähmbare Ehrgeiz, der Mangel an Zartgefühl, an Rücksicht, an 
Duldsamkeit, die Empfindlichkeit für die eigene Person neben der 
Rücksichtslosigkeit gegen andere, die Selbstsucht und Selbstüber¬ 
hebung neben der Missachtung seiner Gegner, die Beschönigung 
der eigenen Handlung neben der Verdächtigung und böswilligen 
Unterstellung der harmlosesten Vorgänge seitens anderer Personen. 

Dass wir es in Wahrheit mit einem krankhaften Gefühls¬ 
mangel zu thun haben, dafür sprechen auch leise Andeutungen 
einer Betheiligung des Intellektes. Die Unklarheit und Verworren¬ 
heit mancher Berichte verräth einen Mangel an klarem Denken 
und ruhiger Besonnenheit. Die Ursache dieses Mangels ist einer¬ 
seits die dauernde Gemüthserregung W.’s, welche die verständige 
und objektive Auffassung der ihn interessirenden Begebnisse hin¬ 
dert und seinen Vorstellungskreis mit falschen Bildern erfüllt, 
andererseits ein wirklicher Mangel an Logik und Erkenntniss für 
den inneren Zusammenhang höherer sittlicher Interessen. Mit 
feinem Verständniss ist bereits in dem Gutachten des Konsistoriums 
dieser Punkt hervorgehoben, wo es heisst: „dass er bei vielem 
Scharfsinn und Gedankenreichthum im Nebensächlichen — in der 
Hauptsache nicht mehr im Stande sei, die umgebenden Verhält¬ 
nisse klar zu erkennen und mit der für sein Amt erforderlichen 
Besonnenheit richtig zu beurtheilen.“ 

Einen zweiten Defekt des Intellektes bemerken wir, aller¬ 
dings erst in seinen Anfängen, auf dem Gebiet des Gedächtnisses. 
Dem ihm vorgeworfenen Mangel an Wahrheitsliebe stimme ich 
nicht bei. Ich glaube aus der Thatsache, dass seine Angaben 
sich bisweilen nicht mit der Wahrheit decken, entnehmen zu 
dürfen, dass er einen Mangel an Reproduktionstreue besitzt, und 
bin um so mehr dieser Ansicht, als auch Herr Konsist. - Rath A. 
mir gegenüber persönlich bemerkt hat, dass ihm wiederholt eine 
Unklarheit des Gedächtnisses bei W. aufgefallen sei. 

Eine andere Frage ist ferner die, ob W. bereits an Wahn¬ 
ideen leidet, im Speziellen an Grössenwahn und Verfolgungswahn. 

Der Beweis hierfür ist m. E. in dem jetzigen Entwickelungs- 
Stadium der Krankheit schwer zu erbringen. Dass das Hervor¬ 
treten und Hervorkehren seiner eigenen Persönlichkeit bereits 
Wahn wäre, möchte ich nicht unterzeichnen, dass die Idee, er 
werde von vielen Seiten verfolgt, als Verfolgungswahn schon jetzt 



Ueber Querulantenwahnsinn. 


327 


aufzufassen sei, will ich auch dahingestellt sein lassen. Ganz 
unberechtigt erscheint mir zwar die letztere Annahme nicht, 
namentlich mit Rücksicht auf den Umstand, dass in letzterer Zeit 
der Kreis seiner vermeintlichen Verfolger einen immer grösseren 
Radius erhalten hat und dass recht wenig 'dazu gehört, um nach 
dem Urtheil W.’s in diesen Kreis aufgenommen zu werden. 1 ) 

Gleichwohl nehme ich Anstand, es auszusprechen, dass W. 
bereits an ausgesprochenen Wahnideen leide. Sein Krankheitsbild 
weist uns weniger auf die Krankheitsform der unkomplizirten oder 
der halluzinatorischen Paranoia (Wahnsinn und Verrücktheit), als 
auf die Form der Paranoia querulans, den sogenannten Queru¬ 
lantenwahn hin. 

Die zahllosen Konflikte, die Unverträglichkeit, die Recht¬ 
haberei, die krankhafte Verfolgung des vermeintlichen Rechtes, 
die Furcht, an seiner äusseren Ehre zu verlieren, die Art und 
Weise seines Kampfes um die Wiedergewinnung seines Rechtes 
und seiner Ehre, sein Vordringen bis in die höchsten Instanzen, 
die Länge, Häufigkeit und Beschaffenheit seiner Eingaben und Be¬ 
schwerden, die mangelnde Einsicht in das von ihm begangene 
Unrecht und in die Folgen seines unvernünftigen und zweckwidrigen 
Treibens, kennzeichnen schon jetzt den echten krankhaften Queru¬ 
lanten. Und auch der Umstand, dass er den richterlichen Be¬ 
hörden bisher nicht beschwerlich gefallen ist, widerspricht keines¬ 
wegs der Annahme, dass er an Querulantenwahn leidet. 

W. hat freilich Prozesse geführt, aber bisker keinen ver¬ 
loren und darum noch keinen Anlass gefunden, auch in dem 
Richter einen Gegner oder Verfolger zu sehen. 

Ich gebe hiernach mein Gutachten dahin ab 
dass W. an einer chronischen Geistesstörung, nämlich 
an Querulantenwahnsinn leidet. 

In dem Begleitschreiben an das Konsistorium habe ich ferner 
ausgeführt: 

Was die Frage der Entmündigung aulangt, so hat Witte’s 
Geist bisher eine dauernde Schädigung noch nicht erlitten. Seine 
Krankheit befindet sich im ersten Stadium und hat bisher weder 
eine dauernde Beraubung der Besonnenheit oder Vernunft, noch 
eine sekundäre Geistesschwäche zur Folge. Es ist sogar nicht 
ausgeschlossen, dass die leidenschaftliche krankhafte Erregung, 
welche jetzt seinen Geist trübt und die Herrschaft seiner Krank¬ 
heit über die Vernunft bedingt, durch die Entfernung aus dem 
Amte und den Fortfall der durch dieses bedingten Aufregungen 
schwinden kann. 

Diesen meinen Standpunkt habe ich auch in der Diagnose 
des beginnenden Querulanten-Wahnsinnes gewahrt. 


*) Die Arbeit Magnan’s über den Quernlantenwahn nnd die verfolgten 
Verfolger war mir zur Zeit der Erstattung des Witte’schen Gutachtens leider 
noch unbekannt. 



328 Bericht über die XV. Jahressitzung des Vereins Deutscher Irrenärzte. 


Aus Versammlungen und Vereinen. 

Bericht Uber die am 25. u. 26. Mai d. J. in Frankfurt a. M. 
stattgehabte XV. Jahressitzung des Vereins der Deutschen 

Irrenärzte. 

(Schluss.) 

„Die Bestrebungen zur Abänderung des Ver¬ 
fahrens bei der Anstaltsaufnahme und bei der Ent¬ 
mündigung der Geisteskranken“, wie sie sich in dem be¬ 
kannten „Aufruf“ und in den Reden der bekannten Agitatoren 
(Stöcker und A.) in den parlamentarischen Verhandlungen dar¬ 
stellten, charakterisirte Geh. Med.-Rath Dr. Zinn in einem um¬ 
fassenden, zwei Stunden währenden Vortrage. Er wies an der 
Hand der geschichtlichen Entwickelung des bezüglich der Irren 
und der Entmündigung geltenden Rechts nach, dass die jetzt zu 
Recht bestehenden Verwaltungs- und Gesetzes-Vorschriften auf 
sachkundigen und humanen Erwägungen beruhen und volle Gewähr 
und Sicherheit gegen verbrecherischen Missbrauch bieten. Er 
bedauerte, aussprechen zu müssen, dass die Unterzeichner des 
„Aufrufs“ ohne sorgfältige Prüfung der von ihnen mitgetheilten 
angeblichen Thatsachen und ohne genaue Kenntniss der wirk¬ 
lichen Verhältnisse, nur gestützt auf einseitige Angaben Betheiligter 
und auf deren Schriften, in unbegründeter Weise schwerwiegende 
Anklagen von so verderblicher, Misstrauen säender Wirkung gegen 
Aerzte und gegen die Rechtspflege agitatorisch in die Oeffentlich- 
keit geschleudert haben. Weiter bedauert er, dass bei den par¬ 
lamentarischen Verhandlungen über diese Dinge die Regierungs¬ 
vertreter bei den jetzigen Verhältnissen, wo ein Fachmann im 
Ministerium fehlt, nicht in der Lage gewesen wäreu, die that- 
sächlich bestehenden Verhältnisse darzulegen, womöglich die 
Resultate amtlicher Ermittelungen über die angeführten Fälle 
mitzutheilen und so das Unbegründete der Anklagen und Verdäch¬ 
tigungen nachzu weisen. — 

Die sich aus vielen Einzelangaben und daran geknüpften 
Erwägungen zusammensetzenden Ausführungen eignen sich nicht 
für ein kurzes Referat, es sei daher auf die in Kurzem erschei¬ 
nende Druckschrift hingewiesen, welche die vorstehend skizzirten 
Verhandlungen und Referate im Wortlaut bringt. Die Versamm¬ 
lung nahm einstimmig die nachstehenden, vom Referenten vorge¬ 
schlagenen Thesen an: 

Zu den im Preussischen Abgeordnetenhause vom 16. März 1892 und 
10. März 1893 von dem Abgeordneten Pastor Stöcker und zu den im „Auf¬ 
ruf“ der Kreuzzeitung vom 9. Juli 1892 in Bezug auf die über Auf¬ 
nahme in Irrenanstalten und deren Beaufsichtigung, Uber die für 
das Entmündigungsverfahren wegen Geisteskrankheit in Preussen 
gültigen Vorschriften und Gesetze und deren Handhabung durch die Verwaltung 
und Rechtspflege erhobenen Beschwerden, Beschuldigungen und Forderungen 
erklärt der am 25. und 26. Mai 1893 in Frankfurt a. M. zu seiner Jahressitzung 
versammelte „Verein der deutschen Irrenärzte“ einmüthig: 

I. 1) Die über die Aufnahme in Irrenanstalten — private und öffent¬ 
liche — und über die Entlassung aus denselben bestehenden Vorschriften und 



Bericht über die XV. Jahressitzung des Vereins Deutscher Irrenärzte. 329 


gesetzlichen Bestimmungen bieten volle Sicherheit gegen ungerechtfertigte 
Aufnahme und gegen ungerechtfertigte Verlängerung des Aufenthalts 
der Aufgenommenen in den Anstalten. 

Der Nachweis von in Preussen und im übrigen Deutschland angeblich 
vorgekommenen ungerechtfertigten Aufnahmen, oder zu Unrecht oder „böswillig“ 
verzögerten Entlassungen ist noch niemals geführt worden, auch nicht durch 
Pastor Stöcker und den „Aufruf“. 

2) Eine Milderung der gültigen Aufnahmebestimmungen ist ohne 
irgend welche Gefährdung der persönlichen Freiheit der Kranken 
durchtührbar und im Interesse derselben und der Möglichkeit ihrer Heilung 
dringend erwünscht. 

3) Die Verwirklichung der von dem Abgeordneten Pastor Stöcker und 
dem “Aufruf“ gestellten Forderung: die Entscheidung über die Auf¬ 
nahme“ in die Hand einer Kommission unabhängiger Männer zu legen“, 
würde den beabsichtigten Schutz nicht gewähren, eine rationelle Behandlung, 
Pflege und Bewahrung der Geisteskranken unmöglich machen, die öffentliche 
Ordnung und Sicherheit gefährden und zudem sich als kaum ausführbar erweisen. 

4) Die Aufnahme in eine öffentliche oder private Irrenanstalt kann und 
darf nicht von der vorher erfolgten Entmündigung abhängig ge¬ 
macht werden, wie das auch in allen deutschen Staaten, insbesondere Preussen 
anerkannt worden ist. 

II. 1) Die über die Beaufsichtigung der Irrenanstalten — öffent¬ 
lichen und privaten — bestehenden Vorschriften und die den Behörden zu dem 
Zwecke eingeräumten Befugnisse genügen den strengsten Anforderungen und 
bieten richtig gehandhabt nach jeder Richtung volle Sicherheit. 

2) Eine ihrem Zwecke mehr entsprechende nnd häufigere Ausführung 
der betreffenden Vorschriften ist im öffentlichen und im Interesse der Kranken 
und ihrer Familien dem „Verein der Deutschen Irrenärzte“ nur erwünscht. 

Die von massgebender Stelle ausgesprochene Absicht, einen „hervorragen¬ 
den Kenner der Psychiatrie“ in erster Linie mit der Beaufsichtigung der privaten 
und öffentlichen Irrenanstalten zu betrauen, entspricht, sofern derselbe auch 
durch langjährige Erfahrung im Anstaltsdienst mit der Irrenpflege vertraut 
ist, dem schon 1877 und 1878 (Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 34, p. 713 und f., 
Bd. 35 p. 527) von dem „Verein der deutschen Irrenärzte“ gestellten und seither 
wiederholten Verlangen; die endliche Verwirklichung dieses Verlangens wird 
mit grosser Befriedigung von den Irrenärzten aufgenommen werden. 

3) Die Beaufsichtigung der öffentlichen und Privatirronanstalten liegt 
schon jetzt „höheren Verwaltungsbeamten“ (Landesdirektor, Oberpräsident, Re¬ 
gierungspräsident) ob. Gegen die beabsichtigte Betheiligung „eiues höheren 
Verwaltungsbeamten“ an der Beaufsichtigung der Irrenanstalten neben dem 
„Kenner der Psychiatrie“ wird ein Einwand nicht erhoben. Wohl aber muss im 
Interesse der Kranken und ihrer Familien, im Interesse der Ruhe und Ordnung 
in der Anstalt gegen die Zuziehung von Elementen, „welche nicht nach Fach¬ 
kenntnissen urtheilen, sondern auf den Augenschein sehen“ entschieden 
Verwahrung eingelegt werden. 

4) Die Privatirrenanstalten sind ein dringendes Bedürfniss. Die von dem 
Abg. Stöcker und dem „Aufruf“ gegen die Irrenärzte, namentlich gegen die 
an Privatanstalten erhobenen Beschuldigungen sind unbegründet, ungerecht und 
— weil dadurch Misstrauen erregt wird, Virurtheile geweckt und genährt 
werden, — im Interesse der Kranken und ihrer Familien zu bedauern. 

III. 1) Die Entscheidung, ob eine Entmündigung zu verhängen oder eine 
ausgesprochene Entmündigung wieder aufzuheben sei, kann nur auf Grund ärzt¬ 
licher Gutachten durch R i c h t e r s p r u c h erfolgen. 

Die Verwirklichung des Verlangens des Abg. Pastor Stöcker und des 
„Aufrufs“, die „Entscheidung Über die Entmündigung in die Hand einer 
Kommission unabhängiger Männer zu legen, welche das Vertrauen ihrer 
Mitbürger geniessen, nicht nach Fachkeuntnissen urtbeilen, auch nicht 
durch medizinische Gutachten beeinflusst sind, sondern auf den Augenschein 
sehen“, würde nur das Interesse und das Wohl der in Frage kommenden Per¬ 
sonen, die Rechtssicherheit und das Vertrauen zur Rechtspflege schädigen, die 
öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden und seinen Zweck verfehlen. Ein 
solches Verlangen beruht auf völliger Unkenntniss der thatsächlichen Verhält¬ 
nisse und ist unausführbar. 



330 Bericht ttber die XV. Jahressitzung des Vereins Deutscher Irrenärzte. 


2) Das in Prenssen und Deutschland gültige Verfahren in Entmündigungs¬ 
sachen bietet durch die Anordnung provisorischer Fürsorge, durch die aus¬ 
gedehnte Zulassung der Anfechtungsklage, durch die Zulässigkeit einst¬ 
weiliger Verfügungen zum Schutze der Person und des Vermögens, durch 
die Möglichkeit, jederzeit, eventuell im Wege des Prozesses, die Wieder¬ 
aufhebung der Entmündigung erwirken zu können, durch Zulassung der 
Rechtsmittel — Beschwerde, Klage, Berufung, Revision — und durch die 
Befugniss des Staatsanwalts, in allen Fällen im Interesse des zu Ent¬ 
mündigenden oder des Entmündigten das Verfahren zu betreiben, einen aus¬ 
reichenden Schutz für die persönliche Freiheit, die bürgerliche Selbst¬ 
ständigkeit und das Vermögen aller derjenigen Personen, gegen welche der 
Verdacht einer Geisteskrankheit angeregt und deshalb ein Entmündigungsantrag 
gestellt ist. Keines der, vor Inkrafttreten des jetzigen Entmündigungsver¬ 
fahrens für das Deutsche Reich, in Preussen und den übrigen deut¬ 
schen Staaten in Geltung gewesenen Gesetze hat einen so weit¬ 
gehenden Schutz für die persönliche Freiheit und die bürgerliche Selbst¬ 
ständigkeit gewährt und damit solche Schonung mit dem körperlichen 
und geistigen Zustand des zu Entmündigenden oder des Entmündigten 
verbunden, wie das seit 1879 für das Deutsche Reich eingeführte Verfahren in 
Entmündigungssachen wegen Geisteskrankheit sie gewährleistet. 

3) Der Nachweis für die Behauptungen des Abgeordneten Pastor Stöcker 
und des „Aufrufs“, dass ungerechtfertigte Entmündigungen in Preussen oder 
im übrigen Deutschland vielfach oder auch nur einmal und namentlich, dass 
dieselben in Folge mangelhafter gesetzlicher Bestimmungen des 
Entmündigungsverfahrens vorgekommen seien, ist in keiner Weise 
erbracht und somit auch nicht der Nachweis für das angeblich vorhandene Be- 
dürfniss einer Abänderung des bestehenden Rechts. Es bleibt zu bedauern, dass 
in den von dem Abgeordneten Stöcker und dem „Aufruf“ namentlich bezeich- 
neten Fällen angeblich „ungerechtfertigter Entmündigung und Einsperrung in’s 
Irrenhaus“ nicht durch amtliche Untersuchung der wirkliche Sach¬ 
verhalt festgestellt worden ist. 

IV. 1) Der Staat hat die Pflicht, für eine bessere theoretische und prak¬ 
tische Ausbildung aller Aerzte in der Psychiatrie zu sorgen; zu dem Zweck 
muss die Zulassung zur ärztlichen Prüfung von dem Nachweis eines mindestens 
halbjährigen Besuchs einer psychiatrischen Klinik abhängig gemacht und 
die Psychiatrie als Gegenstand der ärztlichen Prüfung in die 
Prüfungsordnung aufgenommen werden. 

2) Der Oentralbehörde jeden Staates ist ein mit der Psychiatrie und 
der Irreupflege durch langjährige Erfahrung im Anstaltsdienst theoretisch und 
praktisch vertrauter Irrenarzt als technischer Rath beizugeben. Demselben 
ist die Leitung des gesammten Irrenwesens und die Oberaufsicht über die 
Irrenpflege zu übertragen, und hat derselbe diesem Amte ausschliesslich zu 
leben. (Beschl. d. V. d. d. Irrenärzte 1872, 1877, 1878 u. s. w. AUg. Ztschr. 
f. Psychiatr. Bd. 29, 34, 35 u. s. w.) 

Aus den weiteren Verhandlungen seien noch erwähnt die 
Vorträge über die z weckraässigste Art der Gehirnsektion. 
Die Redner (Siemerling, Weigert, Edinger u. A.) betonten, 
dass die älteren Methoden und auch die für die gerichtlichen Ob¬ 
duktionen von V i r c h o w vorgeschriebene für die Zwecke der 
genaueren Lokalisation und der späteren mikroskopischen Durch¬ 
forschung ungeeignet seien. Ein für alle Fälle passendes Schema 
giebt es nicht; diejenige dem individuellen Fall angepasste Methode 
ist die beste, welche bei klarem Einblick in die wichtigsten 
makroskopischen Verhältnisse das Objekt für die Zwecke der nach¬ 
folgenden mikroskopischen Untersuchung nicht verdirbt. Manche 
Redner sprechen sich im Prinzip für grosse Frontalschnitte aus. — 
Der letzte Vortrag bezog sich auf die Genese der konträren 
Sexualempfindung. Dr. Sioli charakterisirte die Letztere 



Atu Versammlungen und Vereinen. 


881 


als Defekt, als geistige Schwäche, als Störung in den Assozitations- 
bahnen. Sie entsteht auf dem Boden der Onanie; die meist abnorm 
früh dem Bewusstsein sich aufdrängenden Organempfindungen der 
Geschlechtstheile gewinnen in Folge der gestörten und geschwäch¬ 
ten Assoziationen hervorragende Bedeutung, die Vorstellung der 
eigenen bezw. homosexualen Körpertheile verbindet sich fest mit 
dem Wollustgefiihl und dominirt schliesslich die sexuale Empfindung. 

In der Diskussion blieb diese Theorie nicht ohne Widerspruch. 
Mendel nahm Veranlassung, die Gefahr hervorzuheben, welche 
in der Ausbreitung der über diese Gegenstände handelnden Bücher 
unter dem grossen Publikum liegt. Dadurch werden Perservitäten 
geradezu gezüchtet. Diese Literatur gehört nicht auf den Markt, 
sondern in die wissenschaftlichen Archive. 

Dr. Siemens - Lauen bürg. 

Bericht über die vom S5.-28. Bai d J. in Wfiraburg statt- 
gehabte XVIII. Versammlung des Deutschen Vereins für 
öffentliche Gesundheitspflege. 

I. Sitzungstag, Donnerstag, den 25. Mai d. J. 

Unter verh&ltnissmässig reger Beteiligung — die Präsenzliste wies am 
ersten Tage 225 Mitglieder als anwesend auf — eröffnete der Vorsitzende, Stadt¬ 
baurath Stubben (Köln), Vormittags 9 Uhr die Versammlung in dem grossen 
prachtvollen weissen Saale der Königlichen Residenz, der dem Vereine von Sr. 
Königl. Hoheit dem Prinzregenten in liebenswürdiger Weise zur Verfügung ge¬ 
stellt war. 

Nach den Begrüssungen von Seiten des Vertreters der Königlichen Staats¬ 
regierung, Reg.- und Med.-Raths Dr. Schmitt (Würzburg), des Oberbürger¬ 
meisters von Würzburg, Hofraths Dr. Steidle, des Rektors der Universität, 
Prof. Dr. Scholz und des DekanB der medizinischen Fakultät, Dr. Michel, 
erstattete zunächst der Vereinssekretär, Sanitätsrath Dr. Spriss (Frankfurt), den 
üblichen Geschäftsbericht, aus dem sich ergab, dass die Mitgliederzahl in Folge 
eines ungewöhnlich hohen Abgangs durch Tod von 1898 auf 1324 gesunken ist. 

Auf Antrag des Geschäftsausschusses des Vereins wurde sodann ein¬ 
stimmig beschlossen, Herrn Geheimrath Prof. v. Pettenkofer, den Nestor 
der hygienischen Wissenschaft in Deutschland, anlässlich seines bevorstehenden 
50 jährigen Doktor - Jubiläums zum Ehrenmitgliede des Vereins zu ernennen. Es 
ist dies die erste derartige Auszeichnung seit dem Bestehen des Vereins. 

Hierauf ging die Versammlung zum ersten Gegenstand der Tages¬ 
ordnung über: 

I. Die unterschiedliche Behandlung der Bauordnungen fiir das Innere, 
die Aussenbezirke und die Umgebung von Städten. 

H. Oberbürgermeister Adiek es (Frankfurt a. M.): Die vorstehende 
Frage hat den Verein schon in den Jahren 1874 und 1885 beschäftigt, seitdem 
haben sich die baulichen Verhältnisse, namentlich in den grösseren Städten, in 
Folge der überaus raschen Bevölkerungszunahme und der durch Spekulation her¬ 
vorgerufenen Preissteigerung der Baustellen keineswegs gebessert. In den 
älteren engbebauten Stadtbezirken herrscht nach wie vor Uebervölkerung und 
in den neuen Stadttheilen werden bereits ähnliche Miethskasemen wie in den 
alten erbaut, um das Bauterrain thunlichst auszunutzen; seitens der Behörden 
geschieht aber nichts, um dieser übertriebenen Ausnutzung der Baugrundstücke 
durch Einführung zweckmässiger Bauordnungen in wirksamer Weise entgegen 
zu treten. Die bestehenden städtischen Bauordnungen machen fast ausnahmslos 
keinen oder nur einen geringen Unterschied zwischen den älteren und neueren 
Stadttheilen und tragen daher aus übermässiger Rücksicht und Schonung der in 
der Altstadt vorhandenen hohen Grundwerthe nur in beschränktem Maasse den 
sozialen und gesundheitlichen Anforderungen Rechnung. Wenn nun auch eine 
derartige Rücksichtnahme für die älteren Stadttheile eine gewisse Berechtigung 



332 


Aus Versammlungen und Vereinen. 


hat, so ist sie für die neuen Aussenbezirke jedenfalls zu verworfen. Hier muss 
im gesundheitlichen Interesse eine weiträumige Bebauung, ein Bauen in die 
Breite, statt in die Höhe gefordert und der Bau von Miethskasemen verboten 
werden; denn gerade durch die letzteren wird der Grundwerth gesteigert, das 
Zusammendrängen der Bevölkerung begünstigt und jede bessere Bebauung ver¬ 
hindert. Daraus ergiebt sich die Nothwendigkeit, für das Innere der Städte 
einerseits und für die Aussenbezirke und Zwischengebiete andererseits unter¬ 
schiedliche Bauordnungen oder bauliche Sonderbestimmungen zu erlassen, die am 
besten nach bestimmten Zonengebieten abgegrenzt werden. Durch Einschränkung 
der zulässigen Höhe der Gebäude und der Zahl der Stockwerke, durch Forderung 
grösserer Hofräume, Vorgärten u. s. w., sowie durch Bestimmungen in Bezug 
auf den inneren Ausbau, die Einrichtung und Ausnutzung der Wohnungen lässt 
sich dann in den neuen Stadttheilen ein weiträumiges gesundes Wohnen ohne 
Steigerung der Miethspreise sicher stellen, und auch in den Uebergangsgebieten 
eine wesentliche Besserung der WohnungsVerhältnisse erzielen. Man darf nur 
nicht so ängstlich bei der Zonenabgrenzung sein; die Massregel ist allerdings 
eine tief einschneidende, aber finanziell betroffen werden dabei nur die Bau¬ 
spekulanten, die eine Rücksichtnahme nicht verdienen. Die segensreichen Folgen 
eines derartigen Vorgehens werden nicht ausbleiben, wie die in dieser Hinsicht 
gemachten Erfahrungen in Frankfurt a. M. und Altona gezeigt haben. Der sich 
hier Anfangs gegen die Neuerung gemachte Widerspruch, ist sehr bald ver¬ 
stummt und allgemein werden die gesundheitlichen und sanitätspolizeilichen 
Vortheile der neuen Bestimmungen anerkannt. 

Der Korreferent, H. Oberbaurath Prof. Baumeister (Karlsruhe) schliesst 
sich im Allgemeinen den Ausführungen des Vorredners an und betont gleichfalls, 
dass die Behandlung der alten und neuen Stadttheile in baulicher Hinsicht eine 
völlig verschiedene sein müsse. Er geht dabei auf die Bestimmungen einzelner 
neuer Bauordnungen, namentlich auch auf diejenigen der neuen Bauordnung für 
die Vororte von Berlin, näher ein und empfiehlt besonders die offene Bauweise, 
die einen ausgedehnten Luftwechsel, das Anbringen reichlicher Fenster, das 
Wegfällen von Brandmauern u. s. w. gestattet und sich nicht nur für Villen, 
sondern auch für kleinere Familien- und Arbeiterwohnungen eignet. Auch die 
Verweisung der Fabriken in einen bestimmten Bezirk hat sich in vielen Städten 
z. B. in Frankfurt a. M., Breslau u. s. w. bewährt. 

Ohne genau abgegrenzte Zoneuabtheilung und Erlass entsprechender bau¬ 
licher Bestimmungen lassen sich die Wohnungsverhältnisse der Städte nicht 
günstig gestalten. Die Schwierigkeiten, die der Durchführung dieser Massregel 
in den Aussenbezirken von Seiten der angrenzenden selbstständigen Gemeinden 
gemacht werden, müssen entweder durch Einverleibung dieser Gemeinden oder 
durch freihändige oder zwangsweise (im Enteignuugsverfahren) Erwerbung des 
in Betracht kommenden Bauterrains beseitigt werden. Ein solcher Erwerb von 
grösseren Banflächen seitens der Stadtgemeinden ist nicht nur von grosser 
hygienischer Bedeutung, sondern auch in pekuniärer Hinsicht nicht unvortheilhaft, 
da die Auslagen durch die spätere Werthsteigerung der Grundstücke reichlich 
gedeckt werden. 

Weiter bespricht Redner noch einzelne in den Bauordnungen aufzuneh¬ 
mende Vorschriften betreffs der Feuersicherheit und konstruktiven Sicherheit 
der Gebäude. Während er bei diesen Vorschriften eine Abstufung für die Ge¬ 
bäude in den älteren oder neueren Stadttheilen nicht für nothwendig erachtet, 
hält er unterschiedliche Bestimmungen in Bezug auf die Breite, Befestigung, 
Beleuchtung, Wasserversorgung der Strassen, sowie auf die Vorräume für zweck¬ 
mässig, jedoch sollen sich diese Unterschiede nicht nach den einzelnen Stadt¬ 
theilen, sondern nach dem Charakter der betreffenden Strassen und Baubezirke 
richten. 

Zum Schluss fordert Redner eine gesetzliche Regelung der Frage, insbe¬ 
sondere die Aufstellung allgemein gültiger Grundsätze von Seiten des Staates; 
denn ohne dessen Mitwirkung sei eine Durchführung der in Vorschlag gebrachten 
und in gesundheitlichem wie sozialpolitischem Interesse unbedingt erforderlichen 
Massregeln nicht möglich. 

Beide Referenten hatten ihre Ausführungen in folgenden gemeinschaft¬ 
lichen Leitsätzen zusammengefasst: 

1. „Die rasche Bevölkerungszunahme der meisten, namentlich der grösse¬ 
ren deutschen Städte, und die ausserordentliche Bedeutung guter Wohn- 



Aus Versammlungen und Vereinen. 


333 


Verhältnisse für die gesammte soziale Entwicklung lassen eine zweck¬ 
entsprechende bauliche Anlage der neuen Stadttheile als 
eine Angelegenheit von grösster Wichtigkeit erscheinen. 

2. Die für die meist engbebauten älteren Stadttheile erlassenen 
oder zu erlassenden baupolizeilichen Bestimmungen können 
naturgemäss wegen der nothwendigen Rücksichtnahme auf die einmal vor¬ 
handenen hohen Grundwertho den Anforderungen der Gesundheitspflege und 
Sozialpolitik nur in sehr beschränkter und bedingter Weise gerecht werden 
und sind daher an sich nicht geeignet, auf die neuen Stadttheile 
Anwendung zu finden, in denen es sich zum grössten Theil noch 
um reines Ackerland oder unfertiges Baugelände, im Uebrigen 
aber um dünner bebaute Grundstücke handelt. 

3. Die diesen Erwägungen zuwiderlaufende, aber in fast allen Städten 
herrschende gleiche Behandlung der Altstadt und der neuen 
Stadttheile hat zugleich mit einer weit überdas sozialpolitisch zulässige 
Maass hinausgehenden Zusammendrängung der Bevölkerung die 
äusserste Ausnutzung des Baugeländes und — da die Bodenpreise 
wesentlich durch das polizeilich zugelassene Maass der baulichen Ausnutzung 
mitbestimmt werden — eine durchaus ungesunde Steigerung der 
Bodenpreise zur Folge gehabt, welche alle Versuche einer im allge¬ 
meinen Interesse dringend zu fordernden, weiträumigerenGestaltung 
der neuen Bauquartiere auf das Aeusserste erschwert. Ausserdem wird 
durch die einfache Uebertragung der altstädtischen Bestimmungen eine 
den verschiedenen Anbaubedürfnissen (grössere und kleinere 
Wohnungen, Fabriken und kleinere gewerbliche Anlagen) entsprechende 
Eintheilung und Ausgestaltung der neuen Stadttheile 
gehindert. 

4. Die an manchen Orten sich findenden Sonderbestimmungen über 

a) sehr dicht bebaute ältere Grundstücke, 

b) Grundstücke, welche nicht an regulirten und kanalisirten Strassen 
liegen, 

c) bisher schon bebaute Plätze im Vergleich zu leeren, 

d) Fabrikbezirke, 

e) Bezirke mit offener Bauweise, 

genügen nicht, um der Bevölkerung der neuen Stadttheile, namentlich den 
Unbemittelten, gute WohnungsVerhältnisse zu sichern; vielmehr 
bedarf es umfassender, zu einem einheitlichen Ganzen verbundener Sonder¬ 
bestimmungen für die neuen Stadttheile, um durch dieselben 
ira Anschluss an die Bebauungspläne und die von der Stadterweiterung nach 
Lage der örtlichen Verhältnisse zu lösenden Aufgaben, allen Bevölke¬ 
rungsklassen ein weiträumiges und gesundes Wohnen zu sichern, und 
den verschiedenen Anbaubedürfnissen — soweit die Verhältnisse 
dies gestatten — in fest abgegrenzten Bezirken (Wohn-, Fabrik-, 
gemischten Vierteln) Rechnung zu tragen. 

5. Insbesondere bedarf es energischer Vorschriften zur dauernden 
Verhinderung der übermässigen Ausnutzung der Baugrund- 
stücke, sowohl durch angemessene Beschränkung der Gebäudehöhen, 
als durch Festhaltung genügender freier Hof räume und unter Umständen 
auch freier Räume zwischen Gebäuden (Bauwich), und zwar 
sollte der Flächenraum der unbebaut zu lassenden Grundstückstheile auch 
von der Zahl und Beschaffenheit der auf dem Grundstück anzu¬ 
legenden Wohnungen abhängig gemacht werden, wobei unter 
Umständen Vorgärten und auch Theile breiterer Strassen mit zur Anrech¬ 
nung gebracht werden könnten. 

6. Die durch die Verhältnisse gebotenen Unterschiede in Bezug auf den 
Grad der zulässigen Baudichtigkeit lassen sich in der Regel nur 
mittelst fester Grenzen zwischen bestimmten Zonen oder Bezirken 
sichern, wobei nach Umständen Uebergangsbestimmuugen für ge¬ 
wisse schon in die Bebauung hineingezogene Grundstücke vorzusehen sind. 

7. Bei rationeller Gestaltung der Vorschriften über Feuersicherheit 
und konstruktive Festigkeit bedarf es keiner Abstufungen der¬ 
selben für die einzelnen Stadttheile; es ergeben sich eben von selbst auf 



834 Aas Versammlungen und Vereinen. 

weiträumiger bebautem Gelände mannigfache Verbilligungen 
beim Bauen. 

8. Zweckmässig sind Unterschiede in der Breite und Befestigung der 
Strassen, in der Behandlung von Vorräumen, sowie in der Kon¬ 
struktion etlicher Baugegenstände an und vor den Häusern. Desfallsige 
Anordnungen sind aber nicht nach Stadttheilen zu gliedern, sondern nach 
dem Charakter der einzelnen Strassen und Blöcke. 

9. Unter neuen Stadttheilen im Sinne dieser Leitsätze (vergl. 2. 3. 4.) ist 
nicht nur das augenblicklich zur städtischen Gemarkung gehörige Gelände 
zu verstehen; vielmehr müsste alsbald das gesammte, in absehbarer 
Zeit in städtische Verhältnisse eintretende Gebiet von ein¬ 
heitlichen Gesichtspunkten aus, und zwar, insoweit eine entsprechende 
Erweiterung der städtischen Gemarkung unthunlich ist, vermittelst Zu¬ 
sammenwirkens aller zuständigen Behörden, den vorerwähnten baupolizei¬ 
lichen Beschränkungen unterworfen werden. 

10. Ausser den baupolizeilichen Vorschriften sind vielfach privatrecht¬ 
liche Vereinbarungen und Bestimmungen Uber Bebauung und Be¬ 
nutzung bestimmter Bezirke oder Baublöcke empfehlenswerth, weil dieselben 
eine grössere, den Bedürfnissen genau angepasste Individualisirung und 
weitergehende Beschränkungen iz. B. Ausschluss von Etagenwohnungen, 
von Wirthschaften a. a. m.) gestatten. 

11. Die hier geforderten Sonderbestimmungen für die neuen Stadttheile 
sind nach Massgabe des Landesrechtes durch Gesetz, Verordnung oder Orts¬ 
statut herbeizuführen. 

Landesgesetzliche Ausführungsbestimmungen zur Ge¬ 
werbe-Ordnung (§.23,) würden zwar in einigen Beziehungen den 
Erlass von Vorschriften über Fabrikviertel erleichtern, sind aber keine 
Vorbedingung für Einführung dieser Sonder-Bestimmungen durch Polizei- 
Verordnung.“ 

In der sich an die Vorträge anschliessenden Diskussion wird von Herrn 
Stadtrath Hendel (Dresden) auf die Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, die 
bei der Erweiterung der Städte diesen durch die angrenzenden oder von ihnen 
zum Theil eingeschlossenen Gemeinden iu baupolizeilicher Hinsicht erwachsen, 
und deren Beseitigung meist nur mit den grössten pekuniären Opfern zu er¬ 
reichen ist. 

H. Oberbürgermeister Merkel (Göttingen) stimmt den Referenten in 
Bezug auf die Nothwendigkeit der gesetzlichen Regelung der Frage zu; gleich¬ 
zeitig empfiehlt er, bei der Verkoppelung der Ländereien im Stadtweichbilde 
für die Errichtung eines guten Wegenetzes Sorge zu tragen, wodurch später die 
Anlage neuer Stadttheile wesentlich erleichtert werde. 

H. Oberbürgermeister F r i t s c h e (Charlottenburg) weist auf die Schwie¬ 
rigkeiten hin, die den Behörden bei Erlass von Bauordnungen Seitens der 
Grundbesitzer gemacht werden. Er warnt ferner davor, den Einfluss der Bau¬ 
ordnungen in Bezug auf die Besserung der WohnungsVerhältnisse zu überschätzen, 
so lange die Art der Ausnutzung der Wohnungen nicht auch einer strengen 
Kontrole unterworfen werde. 

H. Oberbürgermeister Ad ick es kann die Befürchtung in Bezug auf den 
Widerstand der Grundbesitzer nicht theilen; in Frankfurt sei dieser Widerstand 
durch eine lebhafte Bewegung gegen die übermässige Ausnutzung der Baustellen 
mit Erfolg beseitigt. Zum Schluss betont er die Nothwendigkeit eines staat¬ 
lichen Eingriffes auf diesem in sozialpolitischer wie hygienischer Hinsicht wich¬ 
tigen Gebiete. 

Die Versammlung nahm hierauf die folgende von Geh. Sanitäts-Rath 
Dr. Le nt (Köln) beantragte Resolution einstimmig an: 

„Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege erkennt die von 
den Referenten geforderte unterschiedliche Behandlung der Bauordnung für das 
Innere, die Aussenbezirke und die Umgebung vou Städten als ein dringendes 
Bedürfniss an und empfiehlt den Staatsregierungen und den betheiligten Ge¬ 
meindebehörden, von diesem Gesichtspunkte aus in eine Revision der bestehenden 
Bauordnungen und, soweit erforderlich, der Gesetzgebung baldigst einzutreten.“ 



Aas Versammlungen and. Vereinen. 


885 


II. Reformen auf dem Gebiete der Brodbereitnng. 

H. Prof. Dr. Lehmann (Würzburg): Das in Deutschland gebräuchliche 
Brod besteht in den Städten im Allgemeinen aus einem mittelsanren, klein¬ 
porösen nnd verhältnissmässig gut durchgebackenen Graubrod; auf dem Lande 
dagegen häufig aus schlechteren Brodsorten, namentlich gilt dies in Bezug auf 
das in Norddeutschland noch viel konsumirte Schwarzbrod. Während hier der 
Roggen die hauptsächliche Brodfrucht ist und besonders auf dem Lande meist 
reines Roggenbrod bereitet wird, hat in den Städten die Verwendung von Weizen, 
— als Mischung mit Roggen, — immer mehr zngenommen und bildet diese 
Mischung (*/ 3 Roggen und ‘/s Weizen) in Sttddeutschland die Regel. 

Als Fehler der Brodbereitnng kommt zunächst die Vernnreinigung 
des Getreides durch Unkraut in Betracht, die besonders in nassen Jahren, wo 
die Unkräuter fippig gedeihen, oft eine sehr erhebliche ist. Durch sorgfältige 
Reinigung lässt sich der Unkrautsamen allerdings ausscheiden; schon der Produ¬ 
zent kann dies in befriedigender Weise besorgen, noch besser die Landmühlen 
und am vollkommensten die Kunstmühlen, aber leider geschieht dies nicht 
immer in ausreichendem Maasse. Während Referent in den von Kunstmühlen 
gelieferten Mehlen selten mehr als 0,3 °/ 0 Unkrautsamen gefunden hat, steigt 
dieser Prozentsatz in Mehlen von Landmühlen mitunter auf 1—2 °/ 0 und in 
Mehlproben aus dem nördlichen Deutschland noch viel höher z. B. in rheinischen, 
aus ostpreussischem Roggen hergestellten Schwarzbroden wurden bis 7,3 '% Korn¬ 
rade, bis 3,5 °/ 0 Wicken, bis 1,5 °/ 0 Vogelknöterich, bis 1 u / 0 Mutterkorn und 
ausserdem noch Mäusekoth, Erde u. s. w. festgestellt. Ein Gehalt von 1—2 °/ 0 
Unkrautsamen macht nach Ansicht des Referenten das Mehl zum Genüsse un¬ 
tauglich ; dnreh starke Säuerung wird jedoch die Wirksamkeit der giftigen Bei¬ 
mischungen unschädlich gemacht und erklärt sich daraus die verhältnissmässig 
seltene nachtheilige Wirkung der dem Brode, speziell dem Schwarzbrode, beige¬ 
mischten schädlichen Stoffe auf die Gesundheit der Bevölkerung. Andererseits 
wird aber stark angesäuertes Brod nicht von Jedermann vertragen. 

Ein nicht minder wichtiger Gesichtspunkt für die Brotbereitung ist die 
Zermahlung des Getreides. Je feiner dieselbe geschieht, desto grösser ist 
die Ausnützung und die Verdaulichkeit des aus dem Mehle gebackenen ßrodes. 
Am ungünstigsten liegen daher diese Verhältnisse bei dem sogenannten Schrot- 
brod, das in Folge dessen bis 10 °/ 0 schlechter als das gewöhnliche Brod aus¬ 
genutzt wird. 

Ferner darf der Kleiegehalt des Brodes nicht zu gross sein; denn 
durch ungenügende Ausscheidung der Kleie wird der Stickstoffgehalt des Brodes 
vermindert. Am besten wird die Kleie durch das Uhlhorn’sehe Getreide¬ 
schälverfahren ausgeschieden, durch das die verholzten Hülsen des Getreides 
entfernt und die Appetitlichkeit wie die Ausnützlichkeit des Brodes vermehrt 
werden. Schrotbrode aus geschältem Roggen sind daher auch viel verdaulicher 
als ans ungeschältem. 

Die Säuerung des Brodes ist nach Ansicht des Referenten nur hinsicht¬ 
lich des Geschmackes von Bedeutung. Während in der Schweiz das Brod gar 
nicht gesäuert wird, liebt man in Norddentschland ein ziemlich stark gesäuertes, 
in Mitteldeutschland ein mässig angesäuertes Brod. Die Ausnützung des Brodes 
wird durch die Säuerung eher begünstigt als beeinträchtigt. 

Weizenmehl wird bei der Brodbereitung besser ausgenützt, wenn es mit 
Roggenmehl vermischt wird; dasselbe gilt umgekehrt von Roggenmehl. Die in 
Süddeutschland übliche Mischung beider Mehlsorten ist daher sehr rationell. 

Von Bedeutung für das Brod als Nahrungsmittel ist sein Eiweiss- 
gehalt. Derselbe hängt grösstentheils von den Getreidearten ab und ist z. B. 
im russischen und süddeutschen Weizen am höchsten (bis 15,5 °/ 0 ). Es empfiehlt 
sich in Folge dessen der Anbau derartiger stickstoffreicher Getreidesorten. In 
jüngster Zeit hat man auch Versuche gemacht, den Eiweissgehalt des Brodes 
durch Zusatz des Aleuronats, eines bei der Weizeustärkeproduktion mitge¬ 
wonnenen, sehr eiweissreichen (SO °/ 0 ) Nebenproduktes, zu erhöhen und kann dieses 
Verfahren nur empfohlen werden. Das Brod wird dadurch nicht wesentlich 
vertheuert und auch sein Geschmack kaum verändert; namentlich für den eisernen 
Bestand der Soldaten verdienen Aleuronatzwiebäcke verwendet zu werden. 

Mit Rücksicht auf die Billigkeit lässt sich auch Mais zweckmässig als 
Ersatz für Weizen verwenden; er hat allerdings einen geringeren Eiweissgehalt 
als dieser, dagegen einen grösseren Gehalt an Fett. 



336 


Besprechungen. 


Verbesserungen auf dem Gebiete der Brodbereitung werden nach Ansicht 
des Referenten am sichersten durch leistungsfähige Brodfabriken an gebahnt; das 
durch diese hergestellte bessere Brod wird schliesslich auch das Kleingewerbe 
zur Aufgabe eingebürgerter Missbrauche bei der Brodbereitung zwingen. 

Die von dem Vortragenden aufgestellten, nicht zur Abstimmung bestimmten 
Schlusssätze lauten wie folgt: 

1. „Der Zustand des Brodes ist, von Hungerjahren und besonders armen 
Gegenden abgesehen, in den meisten Theilen von Deutschland als ein leid¬ 
licher, in den meisten Städten als ein guter zu bezeichnen, nur in den 
Schrotbrod verzehrenden Gegenden herrschen vielfach noch sehr schlechte 
Verhältnisse. Die Fehler des Schwarzbrodes sind am häufigsten: 

1) Herstellung aus ungenügend gereinigtem Getreide, 

2) ungenügende Zermahlung des Getreides, 

3) ungenügende Abscheidung der Kleie, 

4) zu starke Säuerung des Brodteiges; der Nachtheil der starken Säue¬ 
rung ist allerdings vielfach überschätzt, und es muss zugegeben 
werden, dass die Nachtheile der Säuerung zum Theil von bisher 
nicht gewürdigten Vortheilen mehr als ausgeglichen werden können. 

2. Die Vermeidung der erwähnten Fehler ist leicht: 

1) Bei einiger Sorgfalt lassen sich die Unkräuter selbst auf Land¬ 
mühlen annähernd vollständig entfernen; dieselben sind nicht werth- 
los, sondern geröstet ein gutes Viehfutter. Der Handel mit den 
abgeschiedenen Unkräutern bedarf staatlicher Aufsicht. 

2) u. 3) Mit Hülfe des U hlhorn’sehen DekortikationsVerfahrens lässt 
sich eine Entfernung der verholzten Kleie und damit eine höchst 
wesentliche Verbesserung der Appetitlichkeit und Ausnützbarkeit 
des Brodes aus ganzem Korn erzielen; ein gutes Zermahlen be¬ 
fördert die Ausnutzbarkeit weiter. 

4) Die zu starke Säuerung ist einfach durch kürzere Gährungsdauer 
zu verhüten. 

3. Von weiteren Vorschlägen zur Verbesserung oder Verbilligung des deut¬ 
schen Brodes verdienen namentlich folgende Beachtung: 

1) der Anbau stickstoffreicher Getreidesorten, 

2) die Verwendung von Mais, Hülsenfrüchte, 

3) die Verwendung von Aleuronat nach Hundhausen. 

4. Am leichtesten werden kapitalkräftige Brodfabriken bahnbrechend auf 
dem Gebiete der Brodverbesserimg Vorgehen und eingebürgerten Missbrauch 
beseitigen können. Die Hygiene hat also ein grosses Interesse an ihrem 
Entstehen.“ 

In der dem Vortrage folgenden kurzen Diskussion stimmt H. Privat¬ 
dozent Dr. Prausnitz (München) im Allgemeinen den Ausführungen des Vor¬ 
tragenden zu, kann sich jedoch dem günstigen Urtheile über das Uhlhorn’sche 
Schälverfahren nicht anschliessen, da die Zermahlbarkeit des Getreides durch 
dasselbe beeinträchtigt werde. Auch dem Aleuronat kann er keine grosse Be 
deutung für die Brodbereitung beimessen, da es in viel zu geringen Mengen 
hergestellt werde. Zweckmässig sei ein Zusatz von Magermilch zur Erhöhung 
des Eiweissgehaltes des Brodes. Dem gegenüber wird von H. Stadtrath K a 11 e 
(Wiesbaden) der Werth des Aleuronats für die Brotbereitung hervorgehoben und 
auch in einem Schlussworte vom Herrn Referenten nochmals auf die günstigen 
Versuche hingewiesen, die seitens der Militärverwaltung in dieser Hinsicht ge¬ 
macht sind. Die Produktion des Stärkeklebers sei allerdings keine ausreichende, 
gleichwohl sei es nicht gerechtfertigt, deshalb diesen für die Steigerung des 
Eiweissgehaltes des Brodes sehr werthvollen Stoff unbenutzt zu lassen. 

(Fortsetzung folgt.) 


Besprechungen 

Dr. Ralf Wichmann, Spezialarzt für Nervenkrankheiten in Braun¬ 
schweig: Der Werth der Symptome der sogenannten 
traumatischen Neurose und Anleitung zur Beur- 



Besprechungen. 


337 


theilung der Simulation von Unfall-Nervenkrank¬ 
heiten. Für Krankenkassen - Aerzte und Medizinal - Beamte. 
Braunschweig 1892. Druck und Verlag von Friedrich 
View eg & Sohn. Gross 8°, 100 Seiten. 

Seitdem Oppenheim im Jahre 1884 die Ansicht aufstellte, dass die nach 
Verletzungen mitunter zurückbleibenden Störungen des Nervensystems als ein 
eigenes, von ihm „traumatische Neurose“ bezeichnetes Krankheitsbild aufzufassen 
seien, ist diese Frage sehr häufig Gegenstand der lebhaftesten Debatten auf 
ärztlichen Versammlungen gewesen und hat nicht minder Veranlassung zu zahl¬ 
reichen Erörterungen in der Fachliteratur gegeben, ohne dass bisher eine 
Einigung in diesem wissenschaftlichen Streite erzielt worden wäre. Auch auf 
dem diesjährigen Kongress für innere Medizin hat bekanntlich „die traumatische 
Neurose“ auf der Tagesordnung gestanden; der von den Referenten Strümpell- 
Erlangen und Wernicke -Breslau vertretene Oppenheim’sehe Standpunkt 
eines einheitlichen besonderen Krankheitsbildes fand aber in der Versammlung 
keineswegs überall Zustimmung, insonderheit traten J o 11 y- Berlin und Schulze- 
Bonn den Ausführungen der Referenten entgegen und sprachen den Wunsch aus, 
dass der Kollektivname, traumatische Neurose, wieder verschwinden möge. 

Verfasser hat sich in seiner Schrift auf eine Erörterung der in Rede 
stehenden, nach seiner Ansicht ziemlich nebensächlichen Streitfrage nicht ein¬ 
gelassen. Ihm kam es hauptsächlich darauf an, den Kassenärzten und Medizinal- 
Beamten in ihrem Bestreben, sich über die Frage der traumatischen Neurose 
wie der Unfall - Nervenkrankheiten überhaupt und etwaiger Simulation möglichst 
genau und schnell zu informiren, auf Grund der bis jetzt in dieser Hinsicht 
feststehenden Thatsachen eine Anleitung zur Untersuchung und zur richtigen 
Beurtheilung derartiger Fälle zu geben. Er behandelt daher der Reihe nach 
die einzelnen für die traumatische Neurose angeblich charakteristischen sub¬ 
jektiven und objektiven Symptome mit Rücksicht auf ihren diagnostischen 
Werth und kommt dabei schliesslich zu dem Ergebniss, dass alle diese Symptome 
mehr oder weniger auch bei anderen, nicht auf traumatischem Ursprung beruhenden 
chronischen Krankheiten besonders bei Neurasthenie, Hysterie und Hypochondrie 
beobachtet werden, dass sie ausserdem grösstentheils subjektiver Art sind, sich 
in Folge dessen leicht simuliren lassen und auch thatsächlich gelegentlich simulirt 
werden. Um sich vor Täuschung zu schützen, müsse man bei der Untersuchung 
und Beobachtung derartiger Unfallverletzter gar nicht an traumatische Neurose 
denken, sondern jeden einzelnen Fall stets präzisiren und versuchen, ihn in 
die allbekannten, von allen Aerzten auch anerkannten übrigen Krankheitsbilder 
cinzureihen. 

Die vom Verfasser gegebenen Rathschläge in Bezug auf die Untersuchung 
solcher Fälle beruhen auf eine reiche eigene Erfahrung und werden vielfach 
durch Einfügung einschlägiger Fälle aus seiner Praxis illustrirt. Er betont die 
Schwierigkeit einer Entlarvung von Simulation und warnt mit Recht davor, 
Jemanden als einen Simulanten zu erklären, che ein bestimmter Beweis dafür 
erbracht sei, auch wenn man selbst davon innerlich fest überzeugt sei, dass 
Simulation vorliege. 

Wir können den Kollegen das eingehende Studium der vorliegenden Arbeit 
nur dringend empfehlen; sie werden dann sicherlich weniger Gefahr laufen, von 
derartigen Kranken getäuscht zu werden. Nach Ansicht des Referenten ist 
allerdings eigentliche Simulation bei den Unfallverletzten nicht so häufig, wie 
vielfach von Aerzten, auch scheinbar vom Verfasser und besonders von den Be¬ 
rufsgenossenschaften angenommen wird; in der Regel handelt es sich besonders 
Anfangs lediglich um eine Uebertreihung der bestehenden Beschwerden, aber 
nicht um absichtliche Vortäuschung. Erst später, nachdem die Kranken durch 
wiederholte Untersuchungen von verschiedenen Aerzten und die an sie gestellten 
Fragen klüger geworden, gleichsam medizinisch ausgebildet sind, geht das Simu¬ 
liren los, so dass, wie Verfasser sehr richtig sagt, jeder später untersuchende 
Arzt dem Verletzten gegenüber einen viel schwierigeren Stand als sein Voruuter- 
sucher hat. Die Ansicht des Verfassers, dass Simulanten ambulatorisch ebenso 
gut als in einem Krankenhause entlarvt werden können, wird wohl nicht überall 
Zustimmung finden; denn selbst dem tüchtigsten Arzte fehlt hierbei ein sehr 
wichtiges Hülfsmittel zur Entlarvung: die fortgesetzte Kontrole des Verletzten 



338 


Tagesnachrichten. 


durch das Krankenwärterpersonal oder durch andere Kranke, ohne dass es der 
Verletzte selbst merkt Ausserdem ist es bekanntlich äusserst schwierig, die 
Rolle eines Simulanten wochenlang konsequent durchzufnhren, ohne nicht hin 
und wieder aus derselben herauszufallen. Verfasser scheint auch selbst der 
Anstaltsbehandlung derartiger Kranker den Vorzug zu geben; er will sie nnr 
nicht in den allgemeinen Krankenhäusern, sondern in Spezialkrankenhäusern, 
oder in besonderen, von Spezialisten geleiteten Abtheilungen der grossen Kranken* 
häusern untergebracht wissen, also gewissermassen in kleinen Unfallkrankenhäu* 
sern, die im Anschluss an bestehende Krankenhäuser errichtet sind. Rpd. 


Dr. George H. F. Nuttall: Hygienic measures in relation 
to infections diseases. New-York und London 1893. 
G. P. Putnam’8 sons. 

Die einzelnen Infektionskrankheiten werden in alphabetischer Reihenfolge 
kurz besprochen, die Art ihrer Verbreitung, die Resistenzfähigkeit und die 
übrigen Lebensbedingungen ihrer Erzeuger, soweit sie bekannt sind, und im An¬ 
schluss daran die zweckmässigsten Massregeln zu ihrer Bekämpfung, speziell 
durch Desinfektionsmassregeln, angegeben. Um häufige Wiederholungen dabei 
zu vermeiden, ist ein Abschnitt über Desinfektionsmittel im Allgemeinen und 
über ihre Anwendung in Bezug auf den Kranken und seine Umgebung, auf 
Kleidungsstücke, Exkrete etc. vorausgeschickt, und bei den einzelnen Krank¬ 
heiten nur kurz erwähnt, welche der vorher ausführlich geschilderten Massregeln 
nöthig sind. Zum Schluss wird noch die chirurgische Desinfektion kurz behandelt. 
Das Ganze bildet ein Büchlein von 100 Textseiten und zeichnet sich durch Be¬ 
rücksichtigung der neuesten Forschungen, sowie durch eine sehr klare und über¬ 
sichtliche Anordnung und Darstellung vortheilhaft aus. 

Eine deutsche Uebersetzung ist bei Hirschwald in Berlin bereits 
erschienen, wird aber von Herrn Nuttall als „in jeder Hinsicht verunglückt“ 
bezeichnet, und die Verantwortlichkeit dafür abgelehnt. 

Dr. Woltemas-Gelnhausen. 


Tagesnachrichten. 

Zur Medizinalreform. Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung 
bringt in der Morgenausgabe vom 15. Juni d. J., Nr. 275, nachfolgenden, schein¬ 
bar aus offiziöser Feder stammenden Artikel: 

„Eine nothwendige Folge des Zustandekommens des Reichs - Seuchen¬ 
gesetzes wird die Durchführung der Medizinalreform in Preussen sein. 
Eine solche ist längst geplant; der Ausführung des Vorhabens haben sich aber 
bis jetzt immer neue Hindernisse in den Weg gestellt, und nicht in letzter 
Linie ist es die Rücksicht auf die Finanzlage des Staates gewesen, welche den 
zuständigen Minister veranlasste, in Bezug auf das den beamteten Aerztcn zuge¬ 
wandte Muss der Fürsorge sich eine Beschränkung aufzuerlegen, die ihm durch¬ 
aus nicht erwünscht sein konnte. 

Wird eine praktische Medizinalreform insbesondere auch das Ziel verfolgen 
müssen, die Stellen der beamteten Aerzte zu möglichst auskömmlichen zu machen, 
so erscheint dies schon um deswillen gerechtfertigt, weil die Ansprüche des 
Staates an diese Beamten mit dem Inkrafttreten des Reichs - Seuchengesetzes 
bedeutend grössere werden. 

Die Aufbesserung der Lage der in Frage stehenden Berufsklassen ist aber 
auch ohnedies nothwendig geworden, weil sich der Pflichtenkreis derselben schon 
bisher erweitert und vollständig verändert hat. 

Während in früheren Zeiten der Schwerpunkt der amtlichen Thätigkeit 
des Kreisphysikers hauptsächlich nach der gerichtsärztlichen Seite hin lag, hat 
sic sich im Laufe der Zeit und in dem Masse mehr, je mehr die öffentliche 
Gesundheitspflege als Aufgabe der staatlichen Fürsorge geschätzt werden sollte, 
nach der Seite der Hygiene hin verschoben. Im Zusammenhang damit hat der 
Physikus zahlreiche Pflichten übernehmen müssen, die früher ganz ab von seinem 
Wege lagen. Aus ihrer Wahrnehmung aber erwächst ihm nicht nur viel Arbeit, 



Tagesnachrichten. 


889 


sondern anch mancher Verdruss und Naohtheil, denn es ist unvermeidlich, dass 
ihm durch die Art, wie er von Amtswegen gezwungen ist, die Rücksicht der 
öffentlichen Wohlfahrt den Interessen Einzelner gegenüber zu vertreten, Kon¬ 
flikte nicht erspart bleiben und die Möglichkeit, Privatpraxis zu treiben, gegen 
früher nicht unerheblich erschwert und vermindert wird. 

War es längst nöthig, ihn hierfür so weit als thunlich schadlos zu halten, 
so lässt sich diese Verpflichtung mit dem Augenblick nicht weiter von der Hand 
weisen, wo der Staat mit erhöhten Ansprüchen an die Leistungsfähigkeit des 
beamteten Arztes herantritt. Es wird vor Allem auch als gerechtfertigt an¬ 
erkannt werden müssen, dass die Stellen der Physiker zu pensionsfähigen erhoben 
werden. Das liegt auch im Interesse der Medizinalverwaltung, die zur Zeit 
gar keine Handhabe hat, um in Fällen, wo die Kraft des beamteten Arztes 
nicht mehr ausreicht, einen erwünschten Personenwechsel eintreten zu lassen. 

Ist es nicht zu empfehlen, den Kreisphysikern die Ausübung der Privat¬ 
praxis neben der amtlichen Thätigkeit ganz zu verbieten, und zwar auch schon 
um deswillen, weil der beamtete Arzt dann am besten davor bewahrt bleibt, 
einseitig zu werden, wenn er mit dem Leben und den verschiedenen Verhält¬ 
nissen des Lebens in so intimer Verbindung bleibt, wie es die berufsärztliche 
Thätigkeit mit sich bringt, so wird doch aus der Durchführung der Medizinal¬ 
reform in vielen Fällen eine Verminderung der privatärztlichen Thätigkeit der 
Kreisphysiker sich ergeben und damit die Konkurrenz eine schwächere werden, 
welche den Privatärzten durch die beamteten Aerzte auch jetzt noch besonders 
da gemacht wird, wo die Letzteren in Folge ihrer schlechten Dotirung darauf 
angewiesen sind, sich möglichst viel Privatpraxis zu verschaffen. Der ärztliche 
Stand als solcher hat also an der Durchführung der Medizinalreform mindestens 
dasselbe Interesse, wie die beamteten Aerzte im Speziellen und die Verwaltung 
des Medizinalwesens, resp. der Staat.“ 


Zur Taxfrage. Amtsärztliche Atteste für Staatsbeamte. Der 
Herr Finanzminister hat im Beschwerdewege neuerdings wiederum, wie bereits 
am 13. August 1892 (vergleiche Zeitschrift für Medizinalbeamte Nr. 20, 1892, 
Seite 517) entschieden, dass amtsärztliche Atteste resp. motivirte Gutachten 
für Staatsbeamte den ausstellenden Physikern zu honoriren seien. 

Das Nähere ist aus den beiden folgenden Schreiben der Königl. Provinzial- 
Steuer - Direktion ersichtlich l ): 

Berlin, den 24. Dezember 1892. 

Euer Hochwohlgeboren theilen wir hierdurch auftragsgemäss ganz ergebenst 
mit, dass der Herr Königliche Provinzial-Steuer-Direktor hierselbst nach seiner 
Verfügung vom 17. d. Mts., Nr. 18 668, sich nicht in der Lage befindet, die von 
Ihnen für die amtsärztliche Untersuchung des Steuer - Aufsehers S. liquidirten 
9 Mark zur Zahlung anzuweisen, da Euer Hochwohlgeboren erst nach dem 
16. Februar 1844 als Königlicher Physikus angestellt sind und Ihnen daher nach 
dem Erlasse des Herrn Ministers der geistlichen Angelegenheiten vom 20. Januar 
1853 ein Anspruch auf Gebühren nicht zustche, wie auch in einem früheren 
gleichen Falle von der Königlichen Ober - Rechnungskammer entschieden worden 
sei, und da die Berufung auf einen in der Nr. 20 der Zeitschrift für Medizinal¬ 
beamte, Jahrgang 1892 enthaltenen Finanzininisterial - Erlass vom 13. Aug. d. J. 
um so weniger Veranlassung geben könne, von den bisherigen Vorschriften abzu¬ 
weichen, als in diesem, einen Spezialfall betreffenden Erlasse die Gründe, aus 
welchen die Zahlungsanweisung erfolgt ist, nicht näher angegeben worden sind. 
Die seiner Zeit eingereichte Liquidation, sowie die Nr. 20 der Zeitschrift für 
Medizinalbeamte erfolgen anbei zurück. 

Königliches Haupt - Steuer - Amt für ausl. Gegenst. 

Auf die hierauf eingelegte Beschwerde erfolgte nachfolgende Antwort: 

Berlin, den 26. April 1893. 

Auf die an den Herrn Finanz - Minister gerichtete Vorstellung vom 
10. Januar d. J. habe ich, im Aufträge desselben, Euer Hochwohlgeboren bei 


') Der Redaktion mitgetheilt von Herrn Bezirksphysikus Geh. San.-Rath 
Dr. Lewin in Berlin. 



340 


Tagesnachrichten. 


Rückgabe der beifolgenden beiden Anlagen ergebenst mitzntheilen, dass Ihr An¬ 
spruch auf Zahlung einer Entschädigung für das von Ihnen unterm 30. Ok¬ 
tober y. J. ansgestellte Attest über den Gesundheitszustand des Steuer - Aufsehers 
S. als gerechtfertigt anerkannt worden ist. 

Euer Hochwohlgeboren wollen daher dem Königlichen Haupt - Steuer - Amte 
für ausländische Gegenstände hierselbst eine Liquidation über die Ihnen zustehenden 
Gebühren gefälligst zur Zahlungsanweisung einreichen. 

Der Provinzial - Steuer - Direktor. 


Unter der Mannschaft des Bayerischen Infanterie-Regiments 
in München ist seit dem 21. Mai d. J. der Typhus ausgebrochen und sind 
seit dieser Zeit 280 Mann unzweifelhaft, an dieser Krankheit erkrankt und 16 
Mann in Folge derselben gestorben. Die Ursache der Seuche scheint trotz der 
von Seiten des Kriegsministeriums und der berufenen Dienstesstellen angeord¬ 
neten umfassenden und weitgehenden Untersuchungen noch nicht genau fest¬ 
gestellt zu sein und bleibt es einer vom Königl. Staatsministerium des Innern 
und dem Königl. Kriegsministerium berufenen, aus Vertretern dieser Ministerien 
und der städtischen Behörden, aus hervorragenden Klinikern, Aerzten und Fach¬ 
männern gebildeten Kommission Vorbehalten, in dieser Hinsicht auf Grund der 
Forschungsresultate Klarheit zu verschaffen. Das Ergebniss der Beratbung dieser 

Kommission soll seiner Zeit bekannt gegeben werden. 

\ 


Erkrankungen nach Fleischgenuss. In Hettstedt (Gebirgskreis 
Mansfeld) und einigen umliegenden Ortschaften sind in der Zeit vom 4.—14. Juni 
nach dem Genuss von Fleisch eine bedeutende Anzahl von Erkrankungen (103) 
vorgekommen, die mehr oder weniger unter denselben Erscheinungen (hohes 
Fieber, mitunter Schüttelfrost, grosse Hinfälligkeit, Genick-, Kreuz- und Kopf¬ 
schmerzen, Flimmern und Schwindel, Uebelkeit, Erbrechen, Leibschmerzen, Durch¬ 
fälle) verliefen. Das Fleisch, nach dessen Genuss die Erkrankungen erfolgten, 
war in allen Fällen von drei bestimmten Schlachtern bezogen und soll angeblich 
von zwei nothgeschlachteten Ochsen gestammt haben, die jedoch von dem Thier¬ 
arzt untersucht und für schlachtbar befunden waren. Die Erkrankungen traten 
meist 18 Stunden nach dem Genuss des Fleisches auf; dasselbe war in einer 
grossen Zahl von Fällen roh, als sogenanntes Hackfleisch, genossen, einige Mal 
auch gebraten; gut gekochtes Fleisch scheint weniger zu Erkrankungen Ver¬ 
anlassung gegeben zu haben. 


Cholera. Im südlichen Frankreich scheint die Seuche immer 
mehr an Ausbreitung zu gewinnen. In Cette sind in der Zeit vom 14.—24. Juni 
28, in Alais 70, in Montpellier 24 Cholera-Todesfälle vorgekommen; auch in 
Toulon und Umgegend ist in jüngster Zeit die Krankheit aufgetreten. 

In Mekka nimmt die Zahl der Todesfälle in Folge von Cholera von Tag 
zu Tag; zu in der Zeit vom 13.—16. Juni erlagen 377, vom 17.—20. Juni 830 
und vom 21.—25. Juni 1485 Personen der Seuche. 


Berichtigung : In dem in Nr. 12 der Zeitschrift gebrachten Re¬ 
ferat über „Fehlerquellen bei Anstellung von Choleraroth- 
Reaktion von Dr. Blei sch“ muss es in der auf Seite 309 angegebenen 
Formel für Peptonlösung Solut. Kal. nitric. puriss. „0,08:100“ statt „0,80:100“ 
und am Schlüsse des Referats „nitritfreie“ Mineralsäure, insbesondere „nitrit¬ 
freie“ Schwefelsäure statt „nitratfreie“ heissen. Die in dem Referat mitge- 
theilte Formel für die Peptonlösung setzt übrigens die Anwendung eines alkali¬ 
schen Peptons voraus, das ganz oder wenigstens soweit frei von Nitraten ist, 
dass diese an sich für den Eintritt der Reaktion ohne Bedeutung sind. Für 
jedes Peptonfabrikat ist daher stets durch Vorversuche diejenige Menge des 
Nitratzusatzes zu ermitteln, bei welcher die intensivste Reaktion in kürzester 
Zeit erzeugt wird. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W. 

J. C. C. Brun«, ßuehdruckerei, Minden. 





Zeitschrift - JSÄ - 

für 

MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rathu.gerichtl.Stautphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrathin Minden. 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 

Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlung und Rad. Hots# 

entgegen. 


Die Verhandlungen des preussischen Abgeordnetenhauses über 
die Interpellation des Grafen Douglas, betreffend Massregeln 

gegen die Cholera. 

Am 4. d. M. hat endlich die Verhandlung über die von dem 
Grafen Douglas eingebrachte Interpellation: „Welche Massregeln 
gedenkt die Königliche Staatsregierung der Choleragefahr gegen¬ 
über zu ergreifen?“ im preussischen Abgeordnetenhause stattge- 
fimden. Das Ergebniss derselben wird speziell die Medizinalbe¬ 
amten wenig befriedigen, besonders im Hinblick auf die Erklärung 
des Herrn Ministers: „Dass er einen durchgearbeiteten, einheit¬ 
lichen, brauchbaren Plan für die Medizinalreform in seinem Ressort 
nicht vorgefuiiden habe und dass er sich diesen erst schaffen müsse, 
worüber noch mancher Tropfen Wasser den Berg herunterlaufen 
könne.“ Die Medizinalbeamten werden dieser Erklärung des Herrn 
Ministers gegenüber sicherlich sehr enttäuscht und verwundert 
sein, und diese Enttäuschung und Verwunderung ist um so ge¬ 
rechtfertigter, wenn man sich erinnert, dass schon im Jahre 
1877 der jetzige Kultusminister dem Abgeordnetenhause gegen¬ 
über als Regierungskommissar die Erklärung abgegeben hat: 
„Dass ein vollständiger Plan für die Reorganisation der 
Medizinalverwaltung bereits von der wissenschaftlichen Depu¬ 
tation für das Medizinalwesen ausgearbeitet sei, so dass das 
Ministerium hoffentlich bald in die Lage kommen werde, diese 
Vorlage an das Abgeordnetenhaus gelangen zu lassen.“ Seitdem 
sind fast jedes Jahr ähnliche Erklärungen vom Ministertische aus 
erfolgt; immer hiess es, der Plan ist fertig, seine Ausführung 
scheitert nur an dem Widerstand des Finanzministers, — und nun, 
wo alle Welt annimmt, dass die Choleragefahr endlich diesen 
Widerstand gebrochen hat, da muss der Medizinalbeamte aus dem 
Munde des Herrn Ministers vernehmen: Dass ein brauchbarer 


No. 14. 


Erscheint am 1. und 15. jeden Monats. 
Preis jährlich 10 Mark. 


15. Juli. 









842 Verhandlungen d. preuas. Abg.-Hauses ab. d. Interpellation <L Grafen Douglas. 

Plan überhaupt nicht vorhanden sei und dass noch geraume Zeit 
darüber vergehen dürfe, ehe der Minister in der Lage sein werde, 
ein so tief eingreifendes und kostspieliges Reformprojekt wie die 
Medizinalreform in’s Leben zu rufen. Fast könnte man glauben, 
dass auch die jetzige Generation der Medizinalbeamten, ebenso wie 
ihre Vorgänger, darüber hinsterben sollte, ohne dass es ihr ver¬ 
gönnt wäre, die schon seit Jahrzehnten in Aussicht gestellte 
Medizinalreform zur Durchführung gelangen zu sehen. Aber trotz¬ 
dem vermögen wir uns nicht zu dieser pessimistischen Anschauung 
zu bekennen; denn, wenn es auch der Herr Minister ablehnt, feste 
Versprechungen in Bezug auf die Reform der Stellung der Medi¬ 
zinalbeamten zu geben, so ist er doch andererseits seinen Er¬ 
klärungen gemäss so tief und fest von der Nothwendigkeit dieser 
Reform überzeugt, dass er voraussichtlich alles aufbieten wird, 
um dieselbe so bald als möglich zur Ausführung zu bringen. Es 
wird ihm dies allerdings um so eher gelingen, wenn er die Er¬ 
ledigung dieser Frage nicht mit derjenigen anderer, noch uner¬ 
ledigter Fragen auf dem Gebiete des Medizinalwesens verbindet, 
wie dies z. B. von dem Abgeordneten Dr. Grat in Bezug auf die 
Organisation des Aerztestandes u. s. w. gewünscht wird. Wir 
halten nach wie vor die Besserstellung der Medizinalbeamten für 
die dringlichste Seite, den Kern- und Kardinalpunkt der Medizinal¬ 
reform und müssen in dieser Hinsicht den Ausführungen des Abg. 
v. Pilgrim nur voll und ganz beistimmen. Eine Vermengung 
dieser Angelegenheit mit anderen, nur lose mit ihr zusammen¬ 
hängenden, würde ihre Lösung in nachtheiliger Weise beeinflussen, 
zum Mindesten aber in unerwünschter Weise verzögern. — 

Was die von dem Abg. Graf Douglas gemachten Reform¬ 
vorschläge anbetrifft, so können wir uns im Allgemeinen mit ihnen 
einverstanden erklären, weniger dagegen mit dem Vorschläge des 
Abg. Dr. Virchow, den praktischen Aerzten eine administrative 
Exekutive einzuräumen, ganz abgesehen davon, dass die Ein¬ 
räumung einer solchen wohl kaum den Wünschen der Aerzte ent¬ 
sprechen dürfte. Noch unrichtiger erscheint uns aber der weitere 
Vorschlag des genannten Abgeordneten, die Medizinalreform nicht 
von unten herauf, sondern von oben an zu beginnen. Gerade das 
Gegentheil ist unbedingt erforderlich; bei den Kreis -Medizinal- 
beamten, und nicht bei den Regierungs - oder Ministerial - Medizinal - 
Beamten, muss der Anfang in Bezug auf eine Besserstellung ge¬ 
macht werden! 

Zum Schluss noch ein Wort zu der in der Verhandlung des 
Abgeordnetenhauses zu Tage getretenen Ansicht über die angeblich 
ungenügende Vorbildung der Medizinal-Beamten. Wir haben dieses 
Kapitel bereits in Nr. 12 der Zeitschrift ziemlich eingehend erörtert 
und den in dieser Hinsicht von der „Voss. Ztg.“ den Medizinal- 
Beamten gemachten Vorwurf zurückgewiesen. Wenn einige ältere 
Physiker vielleicht nicht mehr mit den neueren wissenschaftlichen 
Ergebnissen auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege 
vertraut sind, so ist dies doch kein Grund, einer ganzen Beamten¬ 
klasse gegenüber von Unzulänglichkeit der Ausbildung zu sprechen; 



Verhandlungen d. preuss Abg.-Hauses tkb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 843 

auch unter den Militärärzten, die den Medizinalbeamten in jüng¬ 
ster Zeit mit Vorliebe als Muster gegenüber gestellt werden, giebt 
es sicherlich so manchen älteren, der nicht allen Anforderungen 
mehr entspricht. Jedenfalls stehen die preussischen Medizinal - Be¬ 
amten inBezug auf Ausbildung, wissenschaftliche Tüchtigkeit und 
Pflichteifer weder den Militärärzten noch den Medizinalbeamten 
irgend eines anderen Staates nach! 

„Man verlangt in Preussen,“ heisst es in einem von sachkun¬ 
diger Hand geschriebenen und gegen den vorher erwähnten Artikel der Vossischen 
Zeitung gerichteten Leitartikel in der Morgennummer des Hannoverschen Ku- 
rirs vom l.d.M., „von den Sanitätsbeamten mindestens dieselben 
Kenntnisse wie in anderen Staaten, nur durch ungenügende Besoldung 
wird ihnen eine nutzbringende Verwendung des Erlernten unmöglich gemacht. 

An Gelegenheit zum Lernen hat es schon längst nicht mehr gefehlt, 
sondern nur an Gelegenheit zum Ueben des Erlernten. Wenn die 
„Voss. Ztg.“ hervorhebt, dass der Minister es ablehnte, den Physikern bakterio¬ 
logische Untersuchungen in Cholerafällen zu überlassen, so ist das richtig, aber 
die Folgerungen hieraus sind ganz falsch. Es giebt eine grosse Anzahl Kreis¬ 
physiker, welche derartige Untersuchungen ebenso sicher ausführen können, wie 
Universitätslehrer oder Militärärzte, aber woher sollen sie die Zeit nehmen? 
Weiss die „ Vossische“ nicht, welche Einrichtungen und welche Müsse zu solchen 
Untersuchungen gehört? Und wenn Cholera im Kreise herrscht, wo soll dann 
der Sanitätsheamte zu finden sein: im Laboratorium oder an den bedrohten 
Orten? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein! 

Wenn ausserdem auf Professor Bubner’s Klagen Bezug genommen 
wird, „dass viele Physiker mit der Praxis der hygienischen Untersuchungs¬ 
methode unzulänglich oder gar nicht vertraut seien“, so wollen wir dagegen das 
interessante Faktum in Erinnerung bringen, dass erst in jüngster Zeit in einem 
hygienischen Universitätsinstitute von zwei Ordinarien Tage lang Cholerabazillen 
verkannt und für Finkler-Prior gehalten wurden! 

Man setze also nicht eine Beamtenklasse herab, die im Gegentheil seit 
langen Jahren mehr geleistet hat, als der Staat billiger Weise verlangen konnte. 

Es bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung, wie verkehrt es wäre, 
wollten wir die Medizinalreform im Sinne der „Voss. Ztg.“ vornehmen. Die 
Kreisphysiker werden ganz andere Dinge zu thun haben, als nur bakteriologische 
Untersuchungen anzustellen. Es kann nicht scharf genug betont werden, dass 
die öffentliche Gesundheitspflege ihre Hauptaufgabe nichtinderBekämpfung 
ausgebrochener Seuchen, sondern in deren Verhütung erblickt, 
und da liegt vor dem Beamten ein weites Feld der Thätigkeit, welches einen 
ganzen Mann beansprucht und nicht länger wie bisher so nebenbei besorgt 
sein will.“ 

Wir können uns diesen sachgemässen und zutreffenden Aus¬ 
führungen nur völlig anschliessen und müssten es bedauern, wenn 
die Tüchtigkeit eines Medizinalbeamten lediglich danach beurtheilt 
werden sollte, ob dieser Cholerabazillen fangen kann oder nicht. 
Unseres Erachtens liegt die Thätigkeit desselben auf ganz anderem 
Gebiete, als auf demjenigen der Bakteriologie, so wünschenswerth 
auch an und für sich seine Vertrautheit mit den bakteriologischen 
Untersuchungsmethoden ist; man kann aber, wie die Erfahrung 
lehrt, auch ohne eine solche Vertrautheit ein sehr tüchtiger, seiner 
Aufgabe völlig gewachsener Medizinalbeamter sein. „Alle Ächtung 
vor der Thätigkeit der Medizinalbeamten, sie haben getlian, was 
irgend möglich war“, sagt mit Recht der Abg. v. Pilgrim, und 
in gleicher Weise erkennt der Herr Minister ausdrücklich an, „dass 
die Medizinalbeamten bisher im Allgemeinen und bei schweren 
Aufgaben auch unter schwierigen Verhältnissen, namentlich, wenn 



344 Verhandlungen d. prenss. Abg.-Hauses üb. d. Interpellation d. Grafen Bonglas. 


es sich um öffentliche Nothstände gehandelt hat, niemals versagt 
haben und dass kein Grund vorliegt, dass sie auch künftighin nicht 
ihre volle Schuldigkeit thun werden“. Diese volle Schuldigkeit 
werden sie aber in noch viel höherem Maasse thun, wenn ihnen 
erst eine den grossen Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege 
entsprechende, mit den erforderlichen amtlichen Befugnissen aus¬ 
gestattete und ausreichend dotirte amtliche Stellung gewährt ist. 
Hoffen wir, dass sie schneller, als man nach den jüngsten Er¬ 
klärungen vom Ministertische aus annehmen muss, in die lang¬ 
ersehnte Lage kommen, diesen Beweis zu führen! 

Im Nachstehenden lassen wir die betreffenden Verhandlungen 
des Abgeordnetenhauses auf Grund des stenographischen Berichtes 
folgen. 

Abg. Graf Donglas dankt zunächst der Königlichen Staatsregierang für 
das, was sie gegenüber der drohenden Choleragefahr im vorigen Jahre geleistet 
habe; es sei an den Zentralstellen nicht nur aus allen Kräften, sondern noch 
über das Mas« der Kräfte hinaus, bis zum Erliegen gearbeitet worden. Auch 
der Beichsregierung und der Militärverwaltung, die mit grösster Bereitwilligkeit 
geeignete Kräfte zur Verfügung gestellt habe, gebühre der gleiche Dank. An¬ 
dererseits erscheine es aber weder opportun noch der Würde der Staatsregierang 
entsprechend, sich gleichsam auf fremde Hülfe zu stützen, auf die man ausser¬ 
dem nicht zu jeder Zeit rechnen könne. In Folge dessen erlaube er sich an 
die Staatsregierang die Frage zu richten: sind die nöthigen Organe vorhanden, 
um uns vor der Wiederholung ähnlicher Fälle wie in Nietleben, zu schützen? 
Ebenso dauernd, wie voraussichtlich die Choleragefahr bleiben werde, müssen 
auch die zur Abwendung dieser Gefahr erforderlichen Massregeln vorbereitet sein. 
Insonderheit gelte dies in Bezug auf die Assanirung der Wohnungen, des Grand 
und Bodens und des Wassers, sowie in Bezug auf das möglichst schnelle Er¬ 
kennen der Krankheit, das Feststellen ihres Ursprungs u. s. w. Beim Abwägen 
der Opfer, die durch solche gegen die Choleragefahr bedingten Organisationen 
und Massregeln hervorgerufen werden, müsse man auch die Vortheile in Rech¬ 
nung ziehen, die uns daraus gleichzeitig auch allen anderen epidemischen Krank¬ 
heiten gegenüber erwachsen. Die Cholera sei auch keineswegs die schlimmste von 
allen Seuchen; Diphtherie und vor aUem Tuberkulose fordern alljährlich eine 
viel grössere Anzahl von Menschenleben; auch könne man sich gegen die Cholera 
durch rationelle Lebensweise viel sicherer als gegen andere ansteckende Krank¬ 
heiten sichern. Bei der Bekämpfung der Infektionskrankheiten müsse der Schwer¬ 
punkt auf die Prophylaxe gelegt werden; wie viel durch diese geleistet werden 
könne, dafür liefere das Zurückgehen der Krankheits- und Sterblichkeitszahlen 
der deutschen Armee den besten Beweis. 

Will man aber diese Ziel erreichen, will man die für alle Zeit epoche¬ 
machenden Forschungen eines v. Pettenkofer oder eines Koch praktisch 
verwerthen, dann bedürfen wir vor allem eine Medizinalreform, die schon 
seit Jahrzehnten angestrebt, aber noch immer nicht zur Durchführung gelangt sei. 
Redner macht für dieselbe folgende Vorschläge: 

„Es dürfte sich empfehlen, mehrere Kreise zusammenzulegen, wenn 
es sich nicht um sehr volkreiche handelt, schon aus dem Grande der Er- 
sparniss. Man könnte eine Sanitätskommission bilden, bestehend aus dem 
Landrath respektive den Landräthen und dem Bezirksarzt. Wenn bei dieser 
Gelegenheit die Bezeichnung „Kreisphysikus“ in Wegfall käme und dafür 
„Bezirksarzt“ gesagt würde, so wäre das eine Verbesserung, denn die gegen¬ 
wärtige Bezeichnung ist weder deutsch, noch bezeichnend, noch schön. — 1 Man 
wird zunächst natürlich zu einem gemischten System übergehen müssen, da man 
nicht mit einem Schlage die ganze Reform vornehmen kann. Die Ausbildung 
würde namentlich zu richten sein auf Epidemiologie, Hygiene und Bakteriologie, 
dann auf Kenntnisse in der Verwaltung, indem die Aerzte eine Zeit hindurch 
bei dem Landrath oder bei der Regierung arbeiten könnten. Ferner würde es 
sich empfehlen, dass auch hier nach dem so bewährten Vorbilde der Militär¬ 
sanitätsverwaltung diese Herren nach gewissen Zeitabschnitten zur Theilnahme 



Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 345 

an den entsprechenden Kursen einberufen würden, denn es ist nicht möglich, 
dass jemand in diesen Fragen auf der Höhe bleibt, wenn er jahrelang ohne jede 
direkte Anschauung über diese meist so schnell fortschreitenden Wissenschaften 
bleibt. Die Wirkungskreise dürften sein: die Ueberwachung der gesammten 
hygienischen Verhältnisse des Bezirks, der Schulen, namentlich des Wassers in 
den Schulen, die Ueberwachung der Armenhäuser und der Krankenhäuser, das 
Impfen, sowie Funktionen am Gericht. Solche Aerzte müssten vor allen Dingen 
das Recht haben, unmittelbar einzugreifen, wo sie von einer Epidemie Kenntniss 
erhalten, was ihnen bis jetzt leider nicht zusteht. Han könnte ihnen eine 
Praxis gestatten, vielleicht in der Form, wie dies heute in Betreff der Regierungs¬ 
medizinalbeamten geschieht, dass sie die Erlaubniss haben, dieselbe zu betreiben, 
solange es mit ihrem Amte verträglich erachtet wird. Oder es dürfte sich viel¬ 
leicht eine konsultative Praxis, wie sie die Universitätsprofessoren zu haben 
pflegen, noch mehr empfehlen. Gehalt und Rang wären zu erhöhen. In Betreff 
des Gehalts möchte ich darauf hinweisen, dass unsere Medizinalverwal¬ 
tung ihre Beamten am schlechtesten in ganz Deutschland hono- 
rirt; es gilt dies allen übrigen Staaten und jetzt namentlich auch Hamburg gegen¬ 
über. Man müsste ihnen Pensionen zubilligen, und das müsste rückwirkend sein. 
Denn jetzt steht die Königliche Regierung häufig vor der meist sehr peinlichen Frage, 
entweder einen verdienstvollen Arzt, der lange Jahre hindurch dem Staate treu ge¬ 
dient hat, den kein Vorwurf trifft, als sein vorgerücktes Alter, in einer Weise zu ent¬ 
lassen, ohne alle Pension, die leicht verletzen, als ein Ausfall in den Einnahmen 
empfunden wird, oder, was leicht noch weit verhängnisvoller für viele werden 
kann, einer unfähigen Persönlichkeit diesen zu Zeiten hochwichtigen Posten an¬ 
zuvertrauen. Ferner müsste eine Wittwenpension ins Auge gefasst werden. So 
wie jeder Soldat, der ins Feld zieht, jeder Bergmann, der seinem gefahrvollen 
Beruf nachgeht, das Bewusstsein mit sich nimmt, dass, wenn er nicht zurück¬ 
kehrt, für seine Hinterbliebenen gesorgt ist, so sollte man dieses Bewusstsein 
auch den Herren geben, die sich oft im höchsten Masse exponiren müssen. 
Vor allen Dingen scheint es aber erforderlich, dass seitens der Regierung oder 
der Kreise dafür gesorgt wird, dass jeder der Herren, insoweit er es richtig zu 
verwenden versteht, ein Mikroskop hat. Man kann unmöglich jemandem, dessen 
Gehalt 900 Mark beträgt, zumuthen, dass er sich ein Instrument zulegt, das 
mit Zubehör 600 Mark kostet.“ 

Redner geht hierauf noch auf die sanitären Misstände der Woh¬ 
nungen und des Schlafstellenwesens sowie auf die Nothwendigkeit der 
Anstellung von Wohnungsinspektoren, Gesundheitsaufseher und Gesundheits¬ 
ämter ein, deren Organisation sich den lokalen Verhältnissen anpassen müsse. 
Für Leute, die den Tag über in der Industrie oder unter der Erde in schlech¬ 
ter Luft zu arbeiten haben, seien besser angelegte Wohnungen nothwendig 
als für solche, die den ganzen Tag in frischer guter Luft arbeiten. Er 
schlägt ferner vor, die hygienischen Institute als Sanitätsämter der Provinz 
auszugestalten und sie mit dem Medizinalkollegium in einen gewissen Konnex 
zu bringen. Auch empfehle es sich, den Parlamentariern, Schuldirektoren u. s. w. 
Gelegenheit zu geben, ah hygienischen Kursen, wie solche seiner Zeit für Ver¬ 
waltungsbeamte eingerichtet seien, theilzunehmen. Vor allem sei es aber nöthig, 
die wichtigsten hygienischen Grundsätze durch die Volksschulen in die weitesten 
Schichten der Bevölkerung hineinzutragen. 

Zum Schluss betont Redner, dass alle Ausgaben auf dem Gebiete der 
öffentlichen Gesundheitspflege reichliche Zinsen tragen und gerade durch eine 
mangelhafte Gesundheitspflege die grössten Verluste herbeigeführt werden. Er 
bittet die Königliche Staatsregierung, die von ihm gemachten Vorschläge in 
Erwägung zu nehmen und richtet speziell an den Finanzminister die Bitte, nun¬ 
mehr nach Feststellung der Steuerreformgesetzgebung seine zum Theil entlastete 
Kraft und seine reichen Erfahrungen auch in den Dienst dieser das Allgemein¬ 
wohl des Volkes betreffenden Fragen zu stellen. (Bravo). 

Kultusminister Dr. Bosse: M. H.! Der Wortlaut der von dem Herrn Inter¬ 
pellanten an die Staatsregierung gerichteten Anfrage geht dahin, welche Massregeln 
sie der Choleragefahr gegenüber zu ergreifen gedenkt. Nun hat freilich der Herr 
Interpellant eben ausgeführt, dass, wenn man den Wortlaut sich sehr genau ansieht, 
man daraus wohl entnehmen könnte, dass die Interpellation auch über die Cholera¬ 
gefahr, wenigstens über eine imminente Choleragefahr hinaus gemeint sei. Ich 
glaube aber doch sagen zu müssen, dass, wer die Interpellation liest, sie zunächst 



846 Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 


auf die imminente Choleragefahr, die möglicher Weise über unser Vaterland 
hereinbrechen könnte, bezieht, und ich werde mich daher zunächst auch auf die 
strikte Beantwortung der gestellten Anfrage beschränken. Diese Antwort könnte 
ich, der Geschäftslage des hohen Hauses entsprechend, sehr kurz fassen, indem 
ich Sie, was ja auch der Herr Interpellant anerkannt hat, auf die Ihnen vor¬ 
gelegte Denkschrift über die Massregeln verweise, die wir im vorigen Jahre 
gegen die Cholera ergriffen haben. Wir werden, da die in der Denkschrift 
Ihnen mitgetheilten Massregeln im vorigen Jahre, Gott sei Dank, einen über¬ 
raschend gnten Erfolg gehabt haben, wenn wiederum eine Invasion der Cholera 
bei uns erfolgen sollte, was Gott verhüten wolle, im Wesentlichen dieselben 
oder doch analoge Massregeln ergreifen, um einer in grösserem Umfange aus¬ 
brechenden Epidemie entgegenzutreten. Das ist im knappsten Rahmen rebus sic 
stantibus die eigentlich selbstverständliche Antwort, die ich auf die Interpellation 
zu geben habe; immerhin gehören aber dazu noch einige Bemerkungen, für die 
ich mir Ihre Geduld erbitten möchte, weil ohne sie doch das Bild von dem, was 
wir zu thun gedenken und bereits gethan haben für den Fall einer herein¬ 
brechenden Cholera, nicht ganz vollständig sein würde; selbst dann, wenn ich 
es in dem engsten Rahmen halte. Die Epidemie des Vorjahres, namentlich der 
erschreckende Ausbruch der Cholera in Hamburg, kam vollkommen überraschend. 
Wir haben an der Hand des sachverständigsten technischen Raths, der uns zu 
Gebote stand, gethan, was wir konnten, und unsere Massregeln sind ja auch von 
Erfolg gewesen. Immerhin haben wir aber aus dem Verlauf der Epidemie im 
Vorjahre Erfahrungen gewonnen, die uns damals in diesem Umfange und nach 
den bestimmten Richtungen hin, in denen wir sie gemacht haben, noch fehlten. 
Wir sind vielleicht im vorigen Jahre in manchen Richtungen zu weit gegangen, 
weiter als unbedingt nöthig gewesen ist; ich erkenne das bereitwillig an. Ich 
will nur einen Punkt hervorheben: das ist die Beschränkung des Verkehrs. Wir 
sind zu der Ueberzeuguug gelangt, dass wir in dieser Beziehung ohne jede Ge¬ 
fahr erheblich weitherziger sein können, als wir es damals, wenigstens im An¬ 
fänge, gewesen sind. Wir werden daher die Verkehrsbeschränkungen diesmal, 
wenn die Cholera wirklich in grösserem Umfange erscheinen sollte, auf ein 
Mindestmass einschränken können, und eine ganze Reihe von Massregeln, durch 
welche das Publikum sich belästigt fühlt, werden dieses Mal gar nicht mehr ii 
Frage kommen. Unsere Massregeln werden daher erheblich weniger empfindlich 
sein als im vorigen Jahr und — worauf auch Werth zu legen ist — auch erheb¬ 
lich billiger. Wir werden sie mehr konzentriren und dadurch auch in die Lage 
gesetzt werden, an wirklich gefährdeten Punkten — ich habe dabei namentlich 
die Wasserläufe im Auge — sie wirksamer gestalten zu können. 

Sodann sind unsere Vorbereitungen — und das ist ein wesentlicher Unter¬ 
schied gegen das vorige Jahr — an der Hand der gemachten Erfahrungen dies¬ 
mal bereits im Voraus getroffen. Im vorigen Jahre konnten wir das nicht thun, 
weil wir von der Cholera um diese Jahreszeit, in der wir uns jetzt befinden, 
noch gar nichts wussten. Das Personal, welches wir gebrauchen, ist designirt 
worden, ist jeden Augenblick in voller Zahl in Aktion zu treten bereit, soweit 
es nöthig ist. Die Vorkehrungen für die Diagnose der Cholera sind vervoll¬ 
ständigt; ich komme darauf noch zurück. Die bakteriologischen Stationen zur 
Untersuchung der vorkommenden Cholerafälle sind vermehrt, ihre Ausrüstung 
ist ausgiebig erfolgt, sie sind fix und fertig. Kurz, ich glaube versichern zu 
dürfen, was menschenmöglich ist, um der Gefahr zu begegnen, ist z. Z. voll¬ 
ständig vorgesehen. Wir stehen daher einer etwaigen Cholerainvasion diesmal 
besser gerüstet und mit günstigeren Chancen gegenüber als im vorigen Jahre. 

Zu diesen besseren Vorbereitungen gehört aber namentlich, dass wir 117 
gut befähigte, namentlich auch körperlich rüstige Medizinalbeamte, insbesondere 
Kreisphysiker, cinberufen haben, die gruppenweise in sechs Abtheilungen vom 
Geheimen Rath Kocii im Laufe dieses Frühjahrs in den Erfahrungen, welche 
bei der jüngsten Epidemie gewonnen sind, und in den Abwehrmassregeln gegen 
die Cholera unterwiesen worden sind. Diese Beamten sollen überall da, wo das 
Bedürfnis» vorliegt, auch ausserhalb ihres Kreises, zur Unterstützung der ört¬ 
lichen Behörde, zur Berathung der Sanitäts- Kommissionen u. s. w. verwendet 
werden. 

Der Ueberwachungsdienst auf der Weichsel — es hat sich im vorigen 
Jahre herausgestellt, dass die Stromläufe die gefährdetsten Punkte waren — der 
Ueberwachungsdienst auf der Weichsel, der ganz besondere Bedeutung hat wegen 



Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hause9 üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 347 

der aus Russland kommenden Flösser, ist bereits mit dem Beginn des Flösserei- 
verkehrs wieder aufgenomiuen worden. Die Flösser werden überwacht und auch 
znsammengehalten, damit sie nicht durch eine Zerstreuung in der Bevölkerung 
unabsehbaren Schaden anrichten können. Die einwandsfreie Wasserversorgung 
dieser Leute ist vollkommen gesichert. Um sodann die Natur der choleraver¬ 
dächtigen Erkrankungen und Todesfälle in möglichst zuverlässiger Weise aufzu¬ 
klären, ist für die Bedürfnisse des besonders gefährdeten Weichselgebiets eine 
neue bakteriologische Untersuchungsstation in Danzig eingerichtet worden und 
die Räume dazu — ich muss das dankbar hervorheben — sind von den städti¬ 
schen Behörden in der dankenswerthesten Weise uns zur Verttigung gestellt. 

Eine gleiche Anstalt fehlte bisher in den Rheinlanden, wo wir ja an der 
Universität Bonn zu meinem Bedauern ein hygienisches Institut noch nicht 
haben. Ich habe daher auch in Bonn eine solche Institution einrichten lassen; 
sie ist fertig und kann jeden Augenblick in Wirksamkeit treten. 

Im Uebrigen aber wird das Bedürfniss nach dieser Richtung durch die 
hygienischen Universitäts - Institute, das hiesige Institut für Infektionskrankheiten 
und aushülfsweise auch die militärischen Sanitätsämter vollkommen gedeckt. 

Was die Wasserversorgung und die Beseitigung der Abfallstoffe anlangt, 
so wird überall fortgesetzt unter Mitwirkung der Sanitätskommissionen dieses 
Gebiet überwacht. Aus Veranlassung der auch von dem Herrn Interpellanten 
erwähnten, höchst beklagenswerthen Epidemie in Nietleben sind die Behörden 
neuerdings streng angewiesen, diese Verhältnisse insbesondere in allen Anstalten 
mit grösserer Belegung scharf zu beobachten, etwaigen Missständen abzuhelfen 
und solche alsbald, wo sie sich finden, zu beseitigen. Wenn der Herr Inter¬ 
pellant gefragt hat, ob wir sicher wären, dass ein solcher Fall, wie Nietleben, 
nicht wiederkehre, so kann ich diese Frage freilich nicht bejahen. Aber auch 
wenn alles geschähe, was der Herr Interpellant verlangt hat, wenn wir unsere 
Medizinalreform in der ausgiebigsten Weise ausftihren — ich komme darauf noch 
zurück —, so werden wir doch nicht in die Lage kommen, sagen zu können: 
solche Fälle, wie sie in Nietleben vorgekommen sind, sind absolut unmöglich 
und können sich nicht wiederholen. Den abstrakten Möglichkeiten gegenüber, 
die ja ganz unabsehbar sind, lassen sich solche absoluten Versicherungen, wie 
übrigens der Herr Interpellant auch anerkannt hat, nicht abgeben; aber was 
möglich war, um ihnen vorzubeugen, ist geschehen. 

Ich möchte dann noch ein Wort einfügen über die internationale Sanitäts¬ 
konferenz in Dresden. Aus den Protokollen dieser Konferenz ist ersichtlich, 
dass die Grundsätze, auf denen sich in Preussen die Schntzmassregeln im inter¬ 
nationalen Verkehr herausgebildet hatten, im Wesentlichen dort zur Geltung 
gelangt sind. Also neue Einrichtungen nach dieser Richtung hin werden in 
Preussen nicht nöthig werden. Unsere beiden Quarantäne-Anstalten in Neufahr¬ 
wasser und Swinemünde habe ich jetzt eben durch Kommissarien meines 
Ministeriums einer sorgfältigen Untersuchung unterwerfen lassen. Ich kann nur 
bezeugen, dass nach den vorliegenden Berichten ihre Einrichtungen sich in 
musterhafter Ordnung befinden. 

M. H. t nehmen Sie zu der Antwort, die sich aus der Ihnen vorgelegten 
Denkschrift ergiebt, diese Bemerkung hinzu, so haben Sie im Wesentlichen, 
glaube ich, das Bild der Massnahmen, mit denen wir event. zu operiren ge¬ 
denken. Der Herr Interpellant, hat selbst hervorgehoben, dass er als die wesent¬ 
lichste Absicht der Interpellation die ansieht, im Laude Beruhigung darüber 
herbeizuführen, dass eintretenden Falls nichts versäumt werden wird, um der 
Seuche mit allen Mitteln, die der staatlichen Organisation zu Gebote stehen, 
erfolgreich entgegenzutreten. 

Nun glaube ich, dass zur Erreichung dieses Zweckes das, was ich gesagt 
habe, im Wesentlichen ausreichen wird. Freilich ist nun der Herr Interpellant 
über den Wortlaut der Interpellation bei seiner Begründung weit hinausgegangen 
Er hat eine Reihe ganz allgemeiner, über die spezielle Bekämpfung der Cholera¬ 
gefahr weit hinausgehender Massnahmen, ein System der allgemeinen Assanirung 
und als nothwendigstes Mittel dazu die organisatorische Reform unserer ge- 
sammten Medizinalverwaltung in Anreguug gebracht; Massnahmen, von denen 
ich ja anerkennen muss, dass sie, wenn sie zur Ausführung gelangen, natürlich 
auch der Oholeragefahr gegenüber von der wesentlichsten Bedeutung sein werden. 

Was nun dieses Eingehen auf den schon so oft in diesem hohen Hause 
verhandeltet Plan einer Reform unserer Medizinalverwaltung angeht, 



348 Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hausea üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 


so kann ich nicht gerade behaupten, dass mir in diesem Augenblick die Anregung 
dieser Frage sehr bequem wäre. Das ist ja aber auch nicht nöthig, und darauf 
kommt es nicht an. Ich bin allerdings mit dieser Angelegenheit in den Jahren 
1876 bis 1878, als ich in der Medizinalabtheilung des Ministeriums war, befasst 
gewesen; aber dazwischen liegt eine ganze Reihe von Jahren, in denen mir 
begreiflicher Weise die Einzelheiten einigermassen aus den Augen gekommen sind. 

Ich habe nun diese ganze Frage, kurz nachdem ich das Ministerium über¬ 
nommen hatte, meines Theils wieder angeregt und wieder aufgenommen. Ich 
muss aber dabei hervorheben, dass, so oft auch über die Sache verhandelt ist, 
ich ein ohne Weiteres verwerthbares Material odereinen kon¬ 
kreten Plan, mit dem ich nun hätte gleich operiren können, in 
den Akten des Ministeriums nicht vorgefunden habe: Anre¬ 
gungen und allgemeines Material in Hülle und Fülle, aber ein 
durchgearbeiteter, einheitlicher Plan, mit dem ich sofort an dieses 
hohe Haus hätte treten können, oder an den ich mich auch nur hätte anlehnen 
können — ich musste mir die Prüfung selbstverständlich Vorbehalten —, ein 
Plan für eine gesetzgeberische Aktion auf diesem Gebiet war 
nicht vorhanden, und den muss ich mir erst schaffen. So viel ist richtig, 
m. H., dass seit vielen Jahren gewisse Mängel in unserer Medizinalverwaltung 
auch innerhalb des Ministeriums schwer empfunden werden. Ich leugne diese Män¬ 
gel selbstverständlich nicht, ich kenne sie, wenigstens einen Theil davon« und es 
ist mein dringender Wunsch, dass sie abgestellt werden. In gewissem Sinne ist 
auch mein Herr Amtsvorgänger der Abhülfe bereits näher getreten; er hat in Ueber- 
cinstimmung mit dem Wunsch des Herrn Finanzministers, wie auch schon bei 
der Etatsberathung mitgetheilt worden ist, Ermittelungen herbeigeführt über 
die jetzigen Bezüge der Kreis-Medizinalpersoneu, und die Ergebnisse dieser 
Ermittelungen, die ja nach der Natur der Sache zum Theil sehr zweifelhafter 
Natur sind, werden jetzt nicht ohne Schwierigkeit zusammengestellt und Ihnen 
hoffentlich später zugehen. 

M. H., der Umstand, dass es sich hier in der That um die Befriedigung 
wichtiger, auch von der Medizinalverwaltung empfundener Bedürfnisse handelt— 
und ich muss hinzufügen, die wohlwollende Art, mit der der Herr Interpellant 
diese Dinge mir gegenüber behandelt hat, — nöthigen mich, ungeachtet dieser 
noch wenig geklärten Lage der Sache darauf einzugehen. Ich mnss aber be¬ 
tonen, dass das selbstverständlich nur in den allgemeinsten Umrissen geschehen 
kann, schon deshalb, weil die Frage — ich will nicht sagen: in der Hauptsache, 
aber zu einem wesentlichen Theil eine Finanzfrage ist. Weil ich sie nicht selbst¬ 
ständig lösen kann, muss ich mir nach dieser Richtung hin in Bezug auf die 
Ideen, die mir über die Lösung vorschweben, eine grosse Reserve auferlegen, 
und es wird noch mancher Tropfen Wasser den Berg herunter¬ 
laufen, ehe ich in der Lage sein werde, ein so tief eingrei¬ 
fendes und, wie ich hinzufügen muss, kostspieliges Reform¬ 
projekt in’s Leben zu rufen. 

Nun wird sich, wie auch der Herr Interpellant anerkannt hat, diese 
künftige Medizinalreform in Preussen wesentlich in zwei Richtungen bewegen: 
einmal — das ist die Grundlage für alle weiteren Schritte — müssen wir eine 
grössere Gewähr wie bisher dafür erstreben, dass die örtlichen Medizinalbeamten 
— ich will sie einmal die künftigen Kreisärzte, nennen —, dass die künftigen 
Kreisärzte mit den neuerdings gewonnenen wissenschaftlichen Ergebnissen auf 
den Gebieten der öffentlichen Gesundheitspflege: Hygiene, Bakteriologie, Epide¬ 
miologie, Assanirung der Wohnungen, Wasserfrage u. s. w. im grösseren Masse 
wie bisher vertraut werden, und dass sie, was bei einigen der älteren Herren 
vielleicht hier und da vermisst werden könnte, von der ungeheuren Bedeutung 
der öffentlichen, das gesummte Gesellschaftsleben der Menschen umfassenden 
Prophylaxe auf diesem Gebiet vollkommen durchdrungen sind. Das müssen wir 
erreichen, das ist die Vorbedingung der ganzen Medizinalreform, sie liegt in der 
Vorbildung der künftigen M e d i z i n a 1 b e a m t e n. 

In Wechselwirkung mit diesem Punkt steht dann die Regelung der 
amtlichen Stellung der örtlichen M e d i z i n a 1 b e a m t e n: nicht bloss 
ihres Gehaltsbezuges, von dem ich anerkenne, dass manche Aenderung in dieser 
Beziehung wünschenswert!! sein dürfte, sondern auch ihrer gesummten Stellung 
im Ilahmen der Verwaltung, ihrer Stellung zu den Regiminalbehörden, ihrer 
Initiative u, s. w. Indessen, m. H., dieser Punkt ergiebt, sowie man ihm näher 



Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses ob. d. Interpellation n. Grafen Donglas. 849 


tritt, eine ganze Reihe organisatorischer und finanzieller Fragen, deren Lösung 
die alleigrössten Schwierigkeiten bietet, und die ich jedenfalls nicht über das 
Knie brechen kann. 

Was mich am meisten beunruhigt hat beim Lesen der Interpellation, das 
ist die Gefahr, die für mich darin lag, dass ich dazu verleitet werden könnte, 
hier Versprechungen in dieser Beziehung zu machen, die ich dann später nicht 
halten könnte, dagegen verwahre ich mich; das will ich nicht und darf ich nicht 
thun, und damit wurde ich auch dem Landtage und dem Lande keinen Dienst 
erweisen. Denn dass die jetzigen Kreisphysiker, die in der Hauptsache auf ihre 
ärztliche Praxis angewiesen sind und die daneben zwar Beamte sein sollen, die 
aber andererseits gewisse Vorzüge der Beamtenstellung entbehren, so dass mir 
neulich ein Kreisphysiker sagte: Ja wir sind nicht Fisch noch Fleisch, — kurz, 
dass diese Stellung der Kreisphysiker gewisse sachliche Mängel darbietet, die 
auch zurückwirken auf die Wirksamkeit der ganzen Institution, darüber wird 
man wohl kaum im Zweifel sein. Alle diese Fragen und in Verbindung damit 
auch die Frage, inwieweit der örtliche Kreis-Medizinalbeamte auf die freie 
ärztliche Praxis zu verweisen ist, bedürfen der gründlichen Prüfung. Es liegen 
grosse Gefahren darin, unsere Medizinalbeamten von der Praxis ganz frei zu 
machen, sie nicht mehr in die Häuser hineinzuschicken, wo sie das Wichtigste 
sehen, was sie für ihre Aufgaben als Medizinalbeamte brauchen; und es liegen 
andererseits auch Gefahren darin, sie ganz auf die Praxis zu verweisen und 
damit ihre Kräfte zu absorbiren, so dass sie uns, wenn wir sie brauchen, mit 
dem Einwurf kommen: Das ißt nicht zu leisten Angesichts der Besoldung, mit 
der wir jetzt abgefunden werden. Kurz, alle diese Fragen werden jetzt einer 
sorgfältigen Prüfung innerhalb des Ministeriums unterzogen. Wir werden viel¬ 
leicht in der Lage sein — ich persönlich würde dazu geneigt sein —, wenn wir 
erst einmal die Sache einigermassen formulirt haben, Vertrauensmänner, viel¬ 
leicht eine freie Kommission, Uber diese Dinge zu hören. Zur Zeit bin ich 
nicht in der Lage, sagen zu können: So und so werden wir die Sache gestalten. 
Auch die Frage der örtlichen Gesundheitskommissionen und der vom Herrn 
Interpellanten erwähnten Anstellung von Gesundheits-oder Wohnungs-Inspektoren 
ist zur Zeit nach meiner Ueberzeugung noch nicht spruchreif. Wir müssen uns 
zunächst mit den Organisationen behelfen, die wir haben, und dabei sind wir 
unseren Medizinalbeamten zum mindesten die Anerkennung schuldig, 
dass sie bisher im Allgemeinen und bei schweren Aufgaben 
auch unter schwierigen Verhältnissen, namentlich wenn es 
sich um öffentliche Nothstände gehandelt hat, niemals versagt 
haben. Es wird sich ja auf diesem Gebiete manches verbessern 
lassen, aber es liegt doch nach den bisherigen Erfahrungen 
kein Grund zu der Annahme vor, dass unsere Medizinalbe¬ 
amten, namentlich in Zeiten der Noth, nicht ihre volle Schul¬ 
digkeit thun würden. Ich bin überzeugt, sie werden sie thun, 
wie sie ihre Pflicht bisher stets gethan haben, und die Besorgniss, 
dass daraus eine akute Gefahr erwachsen könnte, ist ohne jeden thatsächlicheu 
Anhalt. Dass wir dabei von militärischer Seite sehr bereitwillige Hülfe im vorigen 
Jahre gefunden haben, dafür sind wir sehr dankbar; ich sehe auch darin kein 
Unglück, aber wir werden darauf Bedacht zu nehmen haben, dass unsere Me¬ 
dizinalbeamten mindestens gleichwerthig auch nach dieser Richtung ausgebildet 
sind und auch ausgerüstet werden, wie es jetzt beim Militär der Fall ist. 

Ich darf also in dieser Beziehung mich dahin zusammenfassen: Eine 
Revision und erforderlichen Falls eine organische Reform 
unserer Sanitätsorganisation wird mit allem Ernst in Angriff 
genommen werden. Die grundlegenden Vorarbeiten dazu 
sind jetzt im Gange. Dass, m. H., dies alles nicht ans dem Hand¬ 
gelenk in’s Leben zu rufen ist, dass das einer sehr praktischen und ein¬ 
gehenden, sorgfältigen Erwägung bedarf, darüber brauche ich nicht zu reden. 
Nun bin ich mir ja wohl bewusst, dass bei allem Eifer, mit dem der Herr Inter¬ 
pellant seine humanitären Bestrebungen verfolgt, es vicdleicht auch schon als 
ein Erfolg zu verzeichnen ist, wenn diese Erklärungen, die ich bisher hier habe 
abgeben können, eine Beruhigung herbeigeführt haben. Aber auf der anderen 
Seite weiss ich mich mit ihm darin einig, dass mit blossen Vertröstungen auf die 
Zukunft diese Dinge nicht behandelt werden dürfen. Dazu ist die Sache zu 
gross und die Frage zu ernst. Glücklicher Weise bin ioh aber iu der Lage, 



350 Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauaes üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 


«war nicht alles Wünschenswerte auf einmal schon jetzt zu thun und in Aus¬ 
sicht zu stellen, aber einiges können wir doch sofort thun, ohne diese weit aus¬ 
sehende Neuorganisation abwarten zu müssen. Der Herr Interpellant hat mit 
Recht die Notwendigkeit von Lehrkursen hervorgehoben, die den Zweck haben 
sollen, in weiteren Kreisen Verständniss für die öffentliche Gesundheitspflege zu 
verbreiten; und in diesem Punkt bin ich mit ihm in jeder Beziehung einver¬ 
standen, ja, ich bin seinen dankenswerthen Anregungen nach dieser Richtung 
bereits zuvorgekommen. Wir haben nicht nur hygienische und bakteriologische 
Kurse für Aerzte und Medizinalbeamte, sondern auch solche für Verwaltungs- 
Beamte und Beamte der Schulverwaltung eingerichtet. Ich habe die Direktoren 
der hygienischen Institute der Universitäten Breslau, Königsberg, Kiel, Marburg 
und Berlin angewiesen, solche hygienische Kurse für Beamte einzurichten, und 
zwar dergestalt, dass diese Kurse, so weit sie Theilnahme finden und die Auf¬ 
gaben der Institute es gestatten, von Zeit zu Zeit wiederholt werden. Wenn 
es demnächst einer Anzahl von Abgeordneten gefällt, an diesen Kursen theil- 
zunehmen, so versteht es sich von selber, dass uns das die grösste Freude sein 
wird. In dieser Beziehung kann sich der Herr Interpellant beruhigen; ich 
fürchte nur, sehr zahlreich würde der Zugang von hier aus auf die Dauer wohl 
nicht werden. 

Diese Kurse sind zunächst auf vierzehn Tage berechnet; sie verfolgen als 
Ziel, den Theilnehmern durch Vorträge und Demonstrationen einen Einblick in 
die ihren Wirkungskreis berührenden Theile der öffentlichen Gesundheitspflege 
zu verschaffen. Diesem Zweck sollen die Sammlungen der Institute, sowie be¬ 
sonders auch die sanitären Einrichtungen der betreffenden Orte und ihrer Um¬ 
gebungen in möglichst ausgedehntem Masse dienstbar gemacht werden. Es 
handelt sich dabei um ein sehr grosses Menu: um die allgemeinen Aufgaben der 
Hygiene, Mortalitäts- und Morbiditätsstatistik, Krankheitsursachen, die krankheit- 
erregenden Parasiten; um Boden und Wasser, Wasserversorgung im Grossen, 
Filterbetrieb, Brunnenanlagen, Hausfilter; um Wohnungshygiene, gesundheits¬ 
schädliche Bestandtheile der Luft, Ventilation; Heizung, lokale und zentrale 
Heizanlagen; Schulbauten, Krankenhäuser, Isolirbaracken, Arbeiterwohnungen, 
Gefängnisse; um die Eutfernnng der Abfallstoffe, Kanalisation, Rieselwirthschaft, 
Kläranlagen, Abfuhrsysteme; um Volksernährung, Kost in öffentlichen Anstalten, 
Alkoholismus, Verfälschung der Nahrungsmittel, Fleischschau, Marktpolizei; um 
die wichtigsten Theile der Gewerbehygiene; ferner um daä Begräbnisswesen und 
die Verhütung der übertragbaren Krankheiten (Desiufektionswesen). 

An den einzelnen Kursen sollen 15 bis 20 Hörer theilnehmen, und wenn 
auch das Menu etwas reichlich ist, so versteht es sich doch von selbst, dass nicht 
alle Gegenstände mit gleicher Vollständigkeit in jedem Kurse behandelt werden 
können. Es ist Vorsorge getroffen, dass die Mitglieder der Verwaltungsbehörden 
und alle Personen, für welche die Kurse zugänglich sind, über deren Einrich¬ 
tung unterrichtet werden. Wir haben in Bezug auf die Kurse, was der Herr 
Interpellant gewünscht hat, bereits gethan; denn wir haben Kurse an den 
hygienischen Instituten, den Universitäten, sowie bei dem hiesigen Institut für 
Infektionskrankheiten einmal zur Fortbildung und Unterweisung von Medizinal¬ 
beamten, dann für Verwaltungsbeamte, sodann hygienische Uebungskurse für die 
Studirenden und endlich noch besondere epidemiologische Lehrkurse der Medizinal¬ 
beamten. Ich habe auch besonders Sorge dafür getragen, dass diese Kurse auch 
den Beamten der Schulverwaltung und der Seminare zugänglich werden. Viel¬ 
leicht lässt es sich später ermöglichen, in den Seminaren selbst Kurse über 
Schulhygiene und über die wissenswert-besten Zweige der allgemeinen Gesund¬ 
heitspflege einzurichten. Ich werde alle diese Einrichtungen persönlich im 
Auge behalten. 

Im Uebrigen haben wir hygienische Kurse und Vorlesungen nicht nur an 
den Universitäten, sondern auch an den technischen Hochschulen, wenn sie hier 
auch naturgemäss sieh wesentlich auf Gewerbehygiene beschränken. 

Das ist im Wesentlichen die Antwort, die ich zu geben habe. In weitere 
Einzelheiten einzugehen, würde, wue ich glaube, zwecklos sein. Aber ich hoffe, 
gezeigt zu haben, dass wir auf dem Posten sind, und dass die Mittel, mit denen 
wir der Cholera entgegen wirken und eintretenden Falls entgegenzu wirken denken, 
wohl vorbereitet sind. Wenn diese Darlegung dazu dient, das Vertrauen ira 
Lande zu stärken, so wird auch diese Interpellation nicht ohne segensreiche 
Folgen bleiben. (Bravo!) 



Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses üb. d. Intrepellation d. Grafen Donglas. 351 


Abg. Dr. Graf will es gern anerkennen, dass die Massregeln, welche 
die Staatsregierang in Verbindung mit der Reichsregierang im vorigen Jahre 
gegen die Cholera getröden bat, von grossem Erfolge gekrönt gewesen sind und 
dass namentlich die bessere Kenntniss von dem Träger der Infektion and seinen 
Lebensbedingungen anch schon zn greifbaren praktischen Resultaten geführt hat. 
Von grosser Bedeutung für die Verbreitung der Cholera sei besonders das Wasser 
und zwar sowohl in seiner Verwendung als Trinkwasser wie als Gebrauchs¬ 
wasser. Mit Befriedigung müsse man die getroffenen Vorkehrungen behufs Be¬ 
aufsichtigung des Flussverkehrs begrüssen, nicht minder aber auch den Fortfall 
aller unzweckmässigen Absperrungsmassregeln und weitgehenden Verkehrsbe¬ 
schränkungen. Falsch wäre es jedoch, sich in Sicherheit wiegen zu wollen; 
gerade die bitteren Erfahrungen im vorigen Jahre weisen darauf hin, wie noth- 
wendig es sei, die auf dem Gebiete des Nationalwesens dringend nothwendigen 
Reformen in Angriff zu nehmen. Vor allem sei eine bessere Vorbildung 
und Stellung der Medizinalbeamten erforderlich. Es gäbe wohl keine 
Frage, Uber die so allseitiges Einverständnis herrsche, und Angesichts der Er¬ 
lebnisse des vorigen Jahres müsse er es für unmöglich halten, dass der Finanz¬ 
minister noch länger gegen diese allerdringendste Bedürfnissfrage taub bleiben 
kann. Aufgaben für die Medizinalbeamten seien in genügender Weise vorhanden. 
Die bessere bakteriologische Kenntniss und die bessere Verwerthung dieser 
Kenntniss bilde nur einen kleinen Theil davon; die ganze öffentliche Gesund¬ 
heitspflege, die Prophylaxe der Krankheiten werde die Medizinalbeamten vollauf 
beschäftigen und darum müssen sie auch pensionsfähig und unabhängig von der 
Privatpraxis gestellt werden; denn nur, wenn sie nicht mehr Konkurrenten der 
praktischen Aerzte sind, können sie zu diesen in das richtige Verhältniss treten. 

Neben den berechtigten Wünschen der Medizinalbeamtcn müssen aber 
auch die Forderungen der praktischen Aerzte eingehende Berücksichtigung finden, 
eine solche sei die unerlässliche Vorbedingung für die Wirksamkeit jedes Reichs¬ 
seuchengesetzes. Die Beschränkung des jüngst dem Reichstage vorgelegten Ge¬ 
setz-Entwurfes auf die Cholera sei unter den obwaltenden Verhältnissen zu 
billigen, da eben jene Vorbedingung, eins wirkliche Organisation des 
Aerztestandes, ein Ausbau der Aerztekammer, fehle. Auch eine Revision 
des §. 29 der Gewerbeordnung, die Wiederherstellung des Kurpfuschereiverbots 
sei unbedingt erforderlich, dann falle auch der Streit fort, ob die Kurpfuscher 
anzeigepflichtig gemacht werden sollen oder nicht. Nach Ansicht der Mehrzahl 
der Aerzte sei es durchaus ausreichend, wenn die Aerzte und Haushallungs- 
Vorstände mit der Anzeigepflicht betraut werden; die Anzeige der letzteren be¬ 
dürfe allerdings der amtsärztlichen Bestätigung. Mit Recht müsse ferner ver¬ 
langt werden, dass, falls der Amtsarzt bei ärztlicher Anzeige noch weitere Er¬ 
mittelungen oder Massregeln für nöthig erachtet, der behandelnde Arzt davon 
benachrichtigt werde. Eine derartige Bestimmung fehle vollständig in dem 
Entwürfe des Seuchengesetzes. Desgleichen seien die in demselben gegebenen 
Garantien für die sehr wichtige Prophylaxe der Seuchen nicht ausreichend. Auf 
diesem Gebiete lasse sich mit Hülfe der Sanitätskommissionen Vieles erreichen, 
dieselben müssten nur zweckmässig umgestaltet und zu einem dauernden lebens¬ 
fähigen Institute gemacht werden. 

„Der Herr Minister hat,“ schliesst Redner seine Ausführungen, „aner¬ 
kannt, dass eine organische Reform unseres Medizinalwesens dringend nöthig ist. 
Er hat einschränkend hinzugefügt, dass ein fester Plan noch nicht bestehe, er 
hat leider auch in Aussicht stellen müssen, dass noch eine gewisse Zeit darüber 
hingehen werde, bis eine Vorlage an uns kommen könne. Ich verlange gewiss 
kein Versprechen von ihm — wir haben solche Versprechen schon früher gehabt 
und sie sind ungelöst geblieben — aber ich habe das Vertrauen zu ihm, dass 
er uns wirklich Thaten sehen lässt. 

Ein gutes Senchengesetz, eine befriedigende Medizinalreform, eine wirk¬ 
same Bekämpfung der Volksseuchen, sie alle setzen ein harmonisches und or¬ 
ganisches Zusammenwirken aller betheiligten Faktoren voraus: der Staatsbe¬ 
hörden und der Gemeinden, und nicht allein der beamteten Aerzte, sondern des 
gesammten, sich seiner Pflichten gegenüber dem öffentlichen Wohle voll bewussten 
Aerztestandes“ (Bravo). 

Abg. v. B'ülow (Wandsbeck) begründet hierauf seinen Antrag: „Die 
Staatsregierung aufzufordern, Ermittelungen über die durch die Bekämpfung der 
Cholera im Jahre 1892 entstandenen Kosten anzustellen und das Ergebniss dem 



852 Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 


Hanse der Abgeordneten in einer Nachweisung vorzulegen und dabei roitzu- 
theilen, welche dieser Kosten die Staatsregierung auf Landespolizeifonds zu 
übernehmen gedenkt.“ Nach seiner Ansicht ist die Frage, wer die Kosten des 
Seuchenkampfes zu tragen hat, in der dem Abgeordneten hause vorgelegten 
Denkschrift über die Cholera zu kurz behandelt. Durch Ministerialerlass vom 
5. November v. J. sind allerdings die Regierungspräsidenten aufgefordert, etwaige 
Anträge auf Erstattung der von den Gemeinden im landespolizeilichen Interesse 
gemachten Ausgaben zur Bekämpfung der Cholera alsbald einzureichen, es scheint 
aber, als ob dieser Erlass den Gemeinden gar nicht bekannt geworden ist, so 
dass nur sehr wenige derartige Erstattungsanträge gestellt sind. Nach Ansicht des 
Redners entspricht es nur der Billigkeit, wenn besonders die Gemeinden, denen unver- 
hältnissmässig grosse Kosten durch die zur Abwendung der Choleragefahr auch im 
allgemeinen Interesse ergriflenen Massregeln erwachsen sind, z. B. die Gemeinden in 
der Nähe von Hamburg, durch antheilige Uebernahme dieser Kosten seitens des 
Staates entschädigt werden. Wtinschenswerth sei es ausserdem, ein genaues 
Bild über die im vorigen Jahre entstandenen ortspolizeilichen Kosten zu erhalten; 
diese Ermittelung werde auch als werthvolles Material für das bevorstehende 
Reichsseuchengesetz dienen können und aller Wahrscheinlichkeit nach das Resultat 
ergeben, dass die Kosten in der alierungerechtesten Weise einzelne Gemeinden 
drücken. Im Kreise Stormarn haben dieselben z. B. 61 OCX) Mark betragen und 
sich nur auf 20 Gemeinden vertheilt. Auch bei der Bekämpfung der Viehseuchen 
werde ein Theil der Kosten vom Reiche und vom Staate getragen, warum soll 
dies bei den Menschenseuchen, die oft viel grösseren pekuniären Schaden her- 
vorrufen, nicht ähnlich gehandhabt werden? Allerdings sei es sehr schwer, zu 
entscheiden, welche der entstandenen Kosten ortspolizeilicher und welche landes¬ 
polizeilicher Art sind, aber bei jeder Massnahme zur Abwehr einer Seuche werde 
nicht nur der Ort des Ausbruchs, sondern auch die benachbarten Orte, ja das 
ganze Land gegen das weitere Umsichgreifen der Seuche geschützt. Darnach 
erscheine es angemessen, dass auch die weiter entfernt gelegenen und mit ge¬ 
schützten Theile des Landes an den Kosten theilnehmen, oder, da dies schwer 
durchführbar sei, dass die Hälfte derartiger Kosten aus Landespoiizeifonds 
gedeckt würde. 

Kultusminister Dr. Bosse: „M. H., ich kann dem Hohen Hause nur an¬ 
heimstellen, ob es glaubt, dass ausreichende Gründe vorliegen, um den Antrag 
des Herrn Abg. v. B ü 1 o w anzunehmen. Ermittelungen über die zur Bekämpfung 
der Cholera im Jahre 1892 entstandenen Kosten sind natürlich von uns angestellt 
worden, aber sie haben sich doch im Wesentlichen auf diejenigen Kosten be¬ 
schränkt, die wir auf landespolizeiliche Fonds übernommen haben; über die¬ 
jenigen Kosten, welche die einzelnen Ortsbehörden, die Gemeinden, hergegeben 
haben, um die Cholera zu bekämpfen, haben wir eine Zusammenstellung bisher 
nicht, und ich weiss auch nicht, ob es sich der Mühe verlohnt, die Ortsbehörden 
aufzufordern, eine solche Zusammenstellung einzureichen, um die Sache dann im 
Gesammtinteresse zusammenzustellen. Ich glaube nicht, dass das nöthig ist, 
weil ja jede einzelne Ortsverwaltung, wenn sie zur Bekämpfung der Cholera 
Ausgaben gehabt hat, die auf landespolizeiliche Fonds gehören, sie bei der Re¬ 
gierung liquidiren kann. Das haben die Gemeinden auch gethan, und ich muss 
gestehen, dass mir die Meinung des Herrn v. Bülow völlig unverständlich ist, 
dass der Erlass vom 5. September nicht ausgeführt sei, dass keine Erstattungs¬ 
anträge eingegangen sein sollen. Massenhaft sind solche bei uns eingegangen, 
und, dass das der Fall war, können Sie daraus sehen, dass unsere Berechnung 
in dieser Beziehung zwar noch nicht fertig ist, aber wir haben bis jetzt 
722500 Mark auf landespolizeiliche Fonds übernommen, wir rechnen dabei noch 
im Allgemeinen auf etwa 83 756 Mark, die noch dazu kommen werden, und wir 
können annehmen, dass vom Vorjahre auf landespolizeiliche Fonds zur Be¬ 
kämpfung der Cholera zu übernehmen sind rund 810000 Mark. Woraus Herr 
v. Bülow die Meinung hernimmt, dass die erwähnte Verfügung nicht aus¬ 
geführt werde, ist mir vollkommen unerfindlich; dies ist auch unwahrscheinlich. 
Die Gemeinden würden ja thöricht sein, wenn sie diejenigen Beträge nicht 
liquidiren wollten, die sie ausgelegt haben, von denen sie annehmen, dass sie 
landespolizeilicher Natur sind. Nun gebe ich gern zu, die Unterscheidung ist 
unter Umständen schwierig und auch zuweilen kitzlicher Natur. Es sind aber 
nach dieser Richtung hin ganz bestimmte Anweisungen ergangen; im Allge¬ 
meinen bleibt jedoch nichts anderes übrig, als dass — wie wir dies auch erkenn- 



Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 353 

bar unseren Berechnungen zu Grunde gelegt haben — als landespolizeilich die¬ 
jenigen Massnahmen anzusehen sind, die auf Verhinderung der Einschleppung 
der Seuche aus dem Auslande in’s Inland, oder auf ihre Verbreitung im Inlande 
von einer Gegend zur andern abzielen, wahrend die Massnahmen, die auf die 
Bekämpfung und Beschränkung der Krankheit innerhalb eines einzelnen Ortes 
gerichtet sind, ortspolizeilicher Natur sind. Wir sind auch im Allgemeinen mit 
der Unterscheidung bisher sehr gut ausgekommen. Es sind wirklich erhebliche 
Beschwerden bis jetzt gar nicht an uns gelangt; es ist ja möglich, dass sie noch 
kommen werden; aber ich bin nicht in der Lage, mich darüber auszusprechen, 
sofern solche Fälle nicht spezialisirt werden. 

Wenn das Haus es verlangt, so werden wir die Zusammenstellung der 
Kosten in Erwägung nehmen. Ich werde die gesammten Kosten, soweit wir 
sie kennen, zusammenstellen lassen, sie dann dem Hohen Hause vorlegen und 
Ihnen sagen: so und so viel haben wir auf die landespolizeilichen Kosten über¬ 
nommen. Mehr können wir nicht thun, um dem Anträge des Herrn v. Bülow 
gerecht zu werden.“ 

Abg. v. Pilgrim: „M. H! Seit Jahren habe ich die Frage wegen der 
Besserstellung der Medizinalbearaten hier im Hause wiederholt zur Sprache 
gebracht. Ich will deshalb auch heute nicht die Gelegenheit versäumen, mit 
wenigen Worten die Dringlichkeit der Lösung dieser Frage auszudrücken. Der 
Herr Interpellant hat ja in dankonswerther Weise auf diese wichtige Frage 
schon hingewiesen, und der Herr Minister hat in der Beantwortung dieser 
Interpellation wohlwollend ausgesprochen, dass diese Frage in der Bearbeitung 
begriffen sei, das9 dieselbe aber vermuthlich nicht eher gelöst werden würde, als 
bis die ganze Medizinalreform in’s Leben gerufen sein würde. Ich meine, m. H., 
wir dürfen nicht so lange warten mit der Besserstellung der 
Mcdizinalbeamten Angesichts der grossen Aufgaben, die ihnen 
nicht allein im allgemeinen sanitären Interesse, sondern viel¬ 
leicht schon bald ganz besonders durch die Choleragefahr 
erwachsen. Soll der Medizinalbeamte seine Schuldigkeit schon in gewöhn¬ 
lichen Verhältnissen thun, so muss er von der Privatpraxis nach Möglichkeit 
abgetrennt werden, damit er Zeit hat, wissenschaftliche Studien zu machen, um 
prophylaktisch gegen ansteckende Krankheiten wirken zu können; er muss so 
gestellt werden, dass er, wenn wichtige Momente vorliegen, frei dasteht und 
nicht durch Praxis gebunden ist. Wie sollen in Zeiten der Noth, wo die Kreis¬ 
physiker wesentlich durch die Privatpraxis in Anspruch genommen werden, diese 
Medizinalbeamten ihre Schuldigkeit thun können im öffentlichen Interesse? Sie 
werden bald hier-, bald dahin zu Patienten abberufen in dringenden Krankheits¬ 
fällen und haben solchem Rufe zunächst Folge zu leisten. Es liegt auf der 
Hand, so kann es nicht bleiben; es muss durchaus dahin gewirkt 
werden, dass die Medizinalbeamten auskömmliche Gehälter 
bekommen, und dass sie auch pensionirt werden können. Ich 
habe eine lange Praxis in dieser Beziehung, und ich kann sagen: alle Ach¬ 
tung vor der Thätigkeit der Medizinalbeamten; sie haben 
gethan, was irgend möglich war. Aber sobald sie in die höheren Jahre 
kommen und nicht mehr thun können, was nöthig ist, dann hat die Verwaltungs¬ 
behörde mit Beamten zu thun, die absolut nicht in der Lage sind, zu erfüllen, 
was verlangt wird, und das ist im öffentlichen Interesse wahrlich nicht mehr 
länger mit anzusehen. Ich möchte deshalb noch einmal den dringenden Wunsch 
aussprechen, dass der Herr Minister und zwar schon für den nächsten Etat, 
Fürsorge treffen möchte, dass auf diesem Gebiete Abhülfe geschaffen wird. Es 
ist das der Kern- und Kardinalpunkt der Medizinalreform. Stellen Sie die Me- 
dizinalbeamten besser in ihrem Gehalt und ihrer ganzen Stellung den Aufgaben 
des öffentlichen Wohles gegenüber, so werden Sie einen grossen Theil desjenigen 
schon gelöst haben, was in einem neuen Seuchengesetz, was in der Medizinal- 
reforra u. s. w. beabsichtigt wird. Darin liegt die Hauptsache: stellen 
Sie die Medizinalbeamten so, dass sie frei und ungehindert 
ihre Schuldigkeit thun können; dann haben wir den grössten 
Theil desjenigen erreicht, was zur Verhütung und zur Be¬ 
kämpfung von Seuchen und ansteckenden Krankheiten ge¬ 
schehen kann. Also nochmals bitte ich den Herrn Minister, diese Frage als 
eine besonders dringliche zu behandeln und zwar schon für den nächsten Etat. 
(Bravo.) 



354 Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 

Abg. Dr. Virchow erklärt sich zunächst mit dem Vorredner darin ein¬ 
verstanden, dass die preussische Regierung und Landesvertretung nicht absolut 
darauf warten sollen, bis das Reich seine Sachen fertig gemacht hat. Gerade 
auf dem Gebiete der Medizinalgesetzgebung gebe es eine Reihe von Fragen, die 
noch nicht reichsgesetzlich geordnet sind und bei denen daher ein selbstständiges 
Vorgehen der Landesregierung angezeigt sei. 

Er betont sodann, dass es entschieden zu weit gehe, den Staat gewisser- 
massen als Hauptverpflichteten zur Tragung der bei der Bekämpfung ansteckender 
Krankheiten entstehenden Kosten hinzustellen, die erstverpflichtete Instanz hierzu 
müsse die Gemeinde bleiben. Bei dem Kampfe gegen die Volksseuchen handele 
es sich nicht nur um Cholera und Pocken, sondern um alle anderen einheimischen 
Infektionskrankheiten, wie Diphtherie u. s. w., deren Verheerungen viel grösser 
sind, als diejenigen, die durch meist kurz dauernde, vorübergehende Cholera¬ 
epidemien hervorgebracht werden. Vor Allem müsse die Regierung die Be¬ 
schaffung der nötkigen Desinfektionsanstalten veranlassen, denn bis jetzt geschehe 
gerade in dieser Beziehung von Seiten der dazu verpflichteten Gemeinden sehr 
wenig und darum sei eine entsprechende Anordnung um so nothwendiger. 
Gründliche, vollständige Desinfektion der mit Infektionsstoffen behafteten Gegen¬ 
stände, wie Wäsche, Kleider, Bettzeug u s. w. bilde eine der wichtigsten Mass- 
regel gegen die Weiterverbreitung ansteckender Krankheiten. So lange nach 
dieser Richtung hin nichts Durchgreifendes geschehe, so lange bleibe eine reich¬ 
liche, stete Quelle der Volksseuchen, wie sie schlimmer nicht gedacht werden 
könne, bestehen. Auch die Behandlung der Leichen verlange die vollste Auf¬ 
merksamkeit. Man quäle sich immerfort, wie man die Leichen am zweckmässig- 
sten absondert und in unschädlicher Weise unterbringen soll, aber man komme 
nicht dahin, die einzige sichere Methode hierfür, die Feuerbestattung, anzu¬ 
wenden bezw. gesetzlich zuzulassen. Den einzigen Grund, der dagegen geltend 
gemacht werde, die Verletzung des religiösen Gefühls, könne Redner nicht als 
zutreffend anerkennen; im Gegentheil, gerade die bisherige Behandlung der Be- 
gräbnissplätze mit ihrem dreissigjährigen Gräberwechsel sei viel pietätloser und 
das christliche Gefühl viel mehr verletzend, als die Leichenverbrennung. 

Zum Schluss kommt Redner auf die Stellung der Medizinalbe¬ 
amten zu sprechen und sagt hierbei wörtlich: 

„Was die andere Frage anbetrifft, die mit Recht heute wiederholt berührt 
worden ist, nämlich die Stellung der Medizinalbeamten, so erkenne ich an, was 
Herr Graf Douglas hervorgehoben hat, dass es etwas Ungewöhnliches hat, 
dass in so hervorragendem Masse gerade die Militärärzte während der Cholera¬ 
zeit bevorzugt worden sind. Ich möchte aber doch darauf hinweisen, dass diese 
Betrachtung sich etwas mildert, wenn wir den anderen Fall in Betracht ziehen, 
wo das Umgekehrte stattfindet. Denken Sie einmal, dass wir in einen Krieg 
gerathen, dann ist die Militärverwaltung mit ihrem Personal insuffizient, dann 
greift sie auf die Civilärzte zurück, und zwar in einem Masse, wie wir es noch 
in Erinnerung haben, dass schliesslich gewisse Städte und Dörfer ganz und gar 
der ärztlichen Hülfe beraubt waren. Wenn aber eine plötzliche Kalamität auf- 
tritt, wie die Cholera, so ist allerdings kaum eine andere Organisation vorhan¬ 
den, welche so schnell und so wirksam helfen kann, wie die Militärorganisation. 
Die Militärärzte sind ja an sich freier beweglich; sie können vertreten werden 
innerhalb ihrer hierarchischen Organisation, welche Nachschübe eintreten lassen 
kann; da ist das leicht zu machen, und ich glaube daher kaum, dass wir ganz 
über diese Hülfe hinwegkommen werden. 

Ich möchte aber auch die Gelegenheit benutzen, um dem Herrn General¬ 
stabsarzt der Armee meine Anerkennung auszusprechen über die unaufhörliche 
Sorge, die er trägt, immer wieder neues, praktisch und wissenschaftlich geschul¬ 
tes Material von Aerzten zu erziehen, um eine immer grössere Zahl von Personen 
dieser Art zur Hand zu haben. Ich kann nicht verschweigen, dass ich wünschte, 
die Medizinalverwaltung möchte etwas ähnliches machen. Ich sehe z. B. in der 
That nicht ein, warum nicht eine Person, welche Aussicht hat zum Regierungs¬ 
medizinalrath ernannt zu werden, vorher eine eingehende Schulung in einem 
hygienischen Institut empfangen soll, warum ein solcher Kandidat nicht nach- 
weisen soll, dass er eine gewisse Reihe von Jahren hindurch mindestens Assistent 
gewesen ist in irgend einer solchen Anstalt. Da die Mediziualvcrwaltung der¬ 
artige Anstalten in einer gewissen Fülle in ihrer Hand hat, so steht gar nichts 
im Wege, dass sie eben solche Einrichtungen trifft wie die Militärverwaltung, 



Verhandlungen d. preuss. Abg.-Hauses üb. d. Interpellation d. Grafen Douglas. 355 

um sich ein geschultes Personal zu erziehen. Ich habe die Regierungsmedizinal- 
räthe zunächst hervorgehoben, weil ich allerdings glaube, dass diese Erziehung 
von oben herunter kommen müsste, nicht umgekehrt von unten herauf. Es ist 
nämlich die sonderbare Thatsache zu erwähnen, dass wir in Preussen immer die 
Entwickelung von unten herauf gesucht haben. Es hat viele Jahre gebraucht, 
bis es endlich auf Betreiben der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinal¬ 
wesen angeordnet wurde, dass der Kreisphysikus ein Mikroskop haben müsse. 
Damals verstanden die wenigsten Kreisphysiker zu mikroskopiren, und so wartete 
man wieder aut die junge Brut, die aus den Universitäten kommen sollte. Auf 
diese Weise ist man bis auf den heutigen Tag noch nicht dazu gekommen, eine 
vollkommen organisirte Hierarchie zu haben, in der überall geschulte Personen 
in genügender Zahl vorhanden sind. Vor allen Dingen müssen sie in den oberen 
Stellen sein; wenn man oben nicht weiss, was zu machen ist, und wie man es 
machen muss, dann ist es schwer, die unteren Instanzen zu kontroliren und zu 
rechter Zeit anzufeuern. Ich meine also: es ist sehr wohl möglich, dass der 
Herr Minister sich eine Art von Stab erzöge, aus dem die höheren Stellen be¬ 
setzt werden können. Es müsste das freilich immer weiter fortgeführt werden; 
aber vor allen Dingen sollten es die hohen Stellen sein, deren Träger die volle 
Vorbereitung zu thatkräftiger Arbeit erlangt haben. Au diese müssten sich die 
Hülfskräfte anschliessen. Wenn die sämmtlichen Mitglieder der Provinzial¬ 
medizinalkollegien auch genügend geschult würden, so würde es wahrscheinlich 
recht gut möglich sein, eine Anzahl von Aerzten zu sammeln, die man als eine 
mobile Kolonne benutzen könnte in Fällen besonderer Noth. 

Auf der anderen Seite möchte ich, was die Stellung der Medizinalbeamten 
anbetrifft, hervorheben, dass da allerdings auch ein Punkt kommt, der wesent¬ 
lich landespolizeilicher oder landesgesetzlicher Natur ist. Das ist nämlich die 
Frage, wieweit die Kompetenz der beamteten Aerzte in solchen Fällen gehen 
soll: ist der Arzt nichts weiter als der Berather des Landraths, dieser oder 
jener Polizeibehörde? Unsere Aerzte verlangen, wie ich meine, mit Recht, dass 
ihnen eine wirkliche Exekutive wenigstens in den schleunigen Fällen zugestanden 
wird. Ob man diese Exekutive auch darüber hinaus fortbestehen lassen will, 
das muss erst genauer Prüfung unterzogen werden; aber au erster Steile müsste 
der Arzt nicht blos der Berather irgend einer administrativen Instanz sein, zu¬ 
mal wenn diese administrative Instanz nicht verpflichtet ist, dasjenige auszu¬ 
führen, was der Arzt begutachtet. Wenn aber der Arzt sein Gutachten abgiebt, 
und der Landrath die Ausführung desselben für ganz überflüssig hält, so ist alle 
ärztliche Thätigkeit für nichts. Das ist es, was die Aerzte nicht blos kränkt, 
sondern was sie als eine wirkliche Lähmung empfinden. Sie wollen administra¬ 
tive Exekutive haben, und ich stimme ihnen darin bei, das für den ersten An¬ 
griff jeder Arzt eine solche Kompetenz haben müsse. Entstehen Zweifel über 
die Nothwendigkeit einer derartigen Anordnung, so mag die Behörde den Fall 
durch einen beamteten Arzt prüfen lassen und nach dessen Gutachten handeln. 
Aber der behandelnde Arzt darf wohl mit Grund in Anspruch nehmen, dass er 
die Anordnungen zu treffen hat, welche er nach bestem Wissen lür sofort noth- 
wendig hält und dass der später abgesandte beamtete Arzt ihn zu hören hat, 
damit eine Verständigung herbeigeführt werde; ich hoffe und wünsche, dass eine 
solche in der Regel gelingen wird. Die behandelnden Aerzte müssen auf ihre 
Verantwortung hin handeln können, aber ich erkenne an, dass dieses Recht 
seine Grenze haben muss. Die Verwaltungsbehörden müssen mitwirkeu in dem 
weiteren Verlaufe des Falls. 

Ich will über die Nothwendigkeit einer Verbesserung der finanziellen Aus¬ 
stattung der beamteten Aerzte nicht sprechen, wir haben sie hier schon wieder¬ 
holt erörtert. Ich unterlasse es, da ich die Vorstellung hege, dass der Herr Minister 
in seinem Herzen bereit ist, nach dieser Richtung hin energisch vorzngehen. Ich 
möchte nur darauf aufmerksam machen, dass das zu bemessende Gehalt nicht allzu 
knapp sein dürfte, damit die Neuerung eine nachhaltige Wirkung haben könnte. 44 

Nach einer persönlichen Bemerkung des Abg. v. Bülow, in der er seine 
Verwunderung ausspricht, dass ein von ihm als Landrath des Hamburg benach¬ 
barten Kreises Pinneberg gestellter Kosten-Erstattungsantrag bisher noch ohne 
Erfolg geblieben sei, wird die Debatte geschlossen und hierauf der Antrag 
v. Bülow abgelehnt. 



356 


Aus Versammlungen und Vereinen. 


Aus Versammlungen und Vereinen. 

Bericht üher die vom Ä5.-28, Hai d. J« in Würaburg statt- 
gehabte XVIII. Versammlung des Deutschen Vereins für 
öffentliche bSesundheitspflege. 

Zweiter Sitzungstag, Freitag, den 26. Mai d. J. 

III. Veber die Grundsätze richtiger Ernährung und die Mittel, ihnen bei 
der ärmeren Bevölkerung Geltung zu verschaffen. 

H. Privatdozent Dr. Pf ei ff er (München): Das von Voit vor 18 Jahren 
angegebene Durchschnittsmaass (118 g Eiweiss, 56 g Fett und 500 g Kohlen¬ 
hydrate) für das Nahrungsbedürfniss eines Arbeiters von mittlerem Körpergewicht 
(70—75 kg) und mittlerer Arbeitsleistung muss auch jetzt noch als zutreffend 
bezeichnet werden. Von verschiedenen Seiten ist allerdings seitdem die Ansicht 
vertreten, dass die von Voit verlangte Eiweissmenge zu hoch bemessen sei; bei 
den in dieser Hinsicht angostellten Versuchen ist aber stets der wichtige Punkt 
ausser Acht gelassen, dass sich das Nahrungsbedürfniss des Menschen nach seinem 
Körpergewichte, seinen Arbeitsleistungen u. s. w. richtet und dass selbstver¬ 
ständlich Leute von geringerem Körpergewichte (wie z. B. die Japaner), oder 
die leichtere Arbeit zu verrichten haben, mit weniger Eiweisszufuhr auskommen 
können. So braucht z. B. ein Zigarrenarbeiter nur 110 g Eiweiss, der Arbeiter 
eines Gussstahlwerkes dagegen 130 g; es muss also der Eiweissverbrauch den 
Bedürfnissen augepasst werden und empfiehlt sich sogar für den Arbeiter ein 
Ueberschuss von Eiweiss, da sein Ernährungszustand dadurch gesteigert und 
sein Wohlbefinden sowie seine Widerstandskraft gegen Krankheiten in Folge 
dessen erhöht wird. Umgekehrt verursacht eine Kost, die durch Ueberschuss 
an Kohlenhydraten den fehlenden Eiweissgehalt ersetzen soll, Verdauungsstörungen 
(Darmkatarrhe, Durchfälle, u. s w.) und damit eine Abnahme der Körperkräfte, 
der Leistungs- und Widerstandsfähigkeit. Auch durch das theuere Fett kann 
das Eiweiss nicht ersetzt werden, es muss daher jede Einschränkung der Eiweiss¬ 
zufuhr als eine Beeinträchtigung der Ernährung betrachtet werden. 

Die von mancher Seite aufgestellte Behauptung, dass durch eine zu 
eiweissreiche Nahrung die Reizbarkeit des Nervensystems gesteigert werde, und 
auf den gesteigerten Fleischkonsum die Zunahme der Nervosität unter der jetzigen 
Bevölkerung zurückzuführen sei, wird vou dem Referenten als eine völlig irr- 
thümliche bezeichnet; denn ganz abgesehen davon, dass eine solche Zunahme 
noch keineswegs erwiesen sei, müsse gerade in einer guten, eiweissreichen, die 
Widerstandskraft erhöhenden Nahrung das beste und sicherste Mittel gegen 
nervöse Erkrankungen gesucht werden: Mens sana in corpore sano! 

Der Korreferent H. Stadtrath Kalle (Wiesbaden) beleuchtet die Frage 
vom praktischen Standpunkte aus. D.e durch den industriellen Grossbetrieb 
herbeigeführte grosse Zunahme der städtischen Bevölkerung und zwar haupt¬ 
sächlich der ärmeren, sowie die unrationelle Lebensweise derselben hat den 
Gesundheits- und Ernährungszustand dieser Bevölkerungsklasse in hohem Grade 
beeinträchtigt. Den besten Beweis dafür liefern die Aushebungslisten, denn 
während in rein ländlichen Bezirken 9 / 10 der Militärpflichtigen brauchbar be¬ 
funden werden, beträgt dieser Prozentsatz in den Städten mit wenig Industrie 
nur 4 / 10 und in rein industriellen Städten sogar nur 3 / l0 . Schon vom militäri¬ 
schen Standpunkte aus ist daher eine Besserung dieser Verhältnisse dringend 
geboten; noch mehr aber im sozialpolitischen Interesse. 

Der unbemittelte Stadtbewohner ist in Bezug auf seine Ernährung zweifel¬ 
los ungünstiger gestellt, als der gleicharme Landbewohner. Es liegt dies weniger 
darin, dass er die Nahrungsmittel zu verhältnissmässig hohen Preisen kaufen 
muss, als vielmehr daran, dass die städtischen Arbeiter nur zu leicht die Ge¬ 
wohnheiten der Wohlhabenden nachahmen und ihr Geld für minder nährwerthige 
Nahrungs- oder Genussmittei ausgeben. Neben der unzweckmä.ssigen Auswahl 
der Nahrungsmittel spielt aber auch die unzweckmässige Zubereitung derselben 
eine Hauptrolle; denn bekanntlich fehlen gerade den städtischen Arbeiterfrauen 
die dazu erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, oft aber auch die Zeit und 
Lust. So lange diese Missstände bestehen, wird auch durch Erhöhung der Löhne 
keine Besserung der Ernährung der Bevölkerung erzielt werden. Vor allem 
kommt es daher darauf an, gegen jene schlechten Gewohnheiten anzukämpfen 
und wenn dies auch mit grossen Schwierigkeiten verknüpft ist, so lässt sich 



Aus Versammlungen und Vereinen. 


357 


doch bei richtigem Vorgehen viel erreichen, wie Redner auf Grund eigener Er¬ 
fahrungen in Wiesbaden mittheilen kann. Als Mittel zur Erreichung dieses 
Zweckes empfiehlt er folgende Massregeln: 

1. „Verbesserung der Kost derjenigen Personen, welchen diese fertig¬ 
gestellt geliefert wird, also besonders der Soldaten, der Insassen geschlossener 
Anstalten verschiedener Art und der Kostgänger von Arbeiter-Menagen, 
Volksküchen u. s. w.; 

2. Erleichterung und Verbilligung der Beschaffung von gesunden, nähr¬ 
kräftigen Lebensmitteln, insbesondere von Seefischen, Produkten der Milch¬ 
wirtschaft und leichtverdaulichen proteinreichen vegetabilischen Nahrungs¬ 
mitteln ; 

3. Belehrung und Anregung zur SelbBthülfe. 

Hierbei ist in’s Auge zu fassen: 

a) Mündliche Belehrung durch Arbeitgeber, Aerzte und andere Ver¬ 
trauenspersonen, sowie die Abhaltung von Vorträgen in Volksbildungs¬ 
und ähnlichen Vereinen; 

b) Verbreitung leichtverständlicher kleiner Druckschriften; 

c) Einrichtung von Kochschulen für arme Mädchen, in welchen neben 
praktischem auch theoretischer Unterricht ertheilt wird; 

d) Weckung des Verständnisses für die Bedeutung richtiger Ernährung 
durch den Volksschulunterricht. Und zwar kann dies geschehen, ohne 
dass man genötigt wäre, die Ernährungslehre als besonderes Unterrichts¬ 
tach zu behandeln, indem man die sich bei dem Unterricht in den jetzt 
eingeführten Fächern darbietenden Gelegenheiten benutzt, die Kinder 
über das Nährstoffbedürfniss des Menschen und den Nährstoffgehalt 
der wichtigsten Volksnahrungsmittel, sowie deren Preise aufzuklären.“ 

Als grösster Kostgeber hat der Staat die Ernährung der Soldaten im 
Allgemeinen rationell gestaltet, so dass dieselbe als eine gute bezeichnet werden 
kann; trotzdem ist sie noch nach einzelnen Punkten hin verbesserungsbedürftig, 
insbesondere sind täglich drei Mahlzeiten, ausserdem grössere Abwechselung der 
Speisen und etwas mehr Fett erwünscht. In den Arbeiter - Menagen, Volks¬ 
küchen u. s. w. wird meist eine gute nahrhafte Kost geboten; als hervorragendes 
Beispiel in dieser Hinsicht wird von dem Redner die Arbeiter-Menage von 
Krupp hervorgehoben. 

Durch Verbilligung und Verbesserung des Transports der zur Versorgung 
der Städte bestimmten billigen thierischen Lebensmittel kann der Staat als 
Eisenbahnbesitzer eine wesentliche Erleichterung bewirken; insbesondere muss 
der Verbrauch von Seefischen ebenso wie der Milchkonsum in den Städten thun- 
liehst gesteigert werden. Nicht minder wichtig ist die leichtere Beschaffung 
leicht verdaulicher proteinreicher vegetabilischer Nahrungsmittel durch zweck¬ 
mässige Gestaltung des Handels; namentlich sind hierbei die fabrikmässig auf¬ 
geschlossenen leicht verdaulichen Hülsenfrüchte, das Aleuronat, die Rado- 
mann'sehen Erdnusspräparate u. s. w. in’s Auge zu fassen. Erdnussgrütze 
enthält z. B. 48 % Eiweis und 22 °/ 0 Fett bei einem Preise von nur 40 Pfennig 
für das Kilo. Auch die Ausbreitung der Konsumvereine ist zu fördern. 

Empfehlenswerth ist ferner die Verpachtung kleiner Landstücke an 
Arbeiter, um diesen die Möglichkeit zu geben, sich ihren Bedarf an Kartoffeln, 
Gemüse u. s. w. selbst zu ziehen. Den Schwerpunkt legt der Vortragende aber 
auf die Belehrung und Anregung zur Selbstbülfe, ohne die alle anderen Mass¬ 
regeln nichts helfen würden. Am besten geschieht dieses durch Haushaltungs- 
schnlen und praktischen Unterricht der Mädchen im Kochen. Schon in der 
Schnle müssen die Kinder über die wichtigsten Grundsätze der Ernährung bei 
Gelegenheit des naturwissenschaftlichen Unterrichts, des Rechenunterrichts u. s. w. 
aufgeklärt werden; der Vortragende hat zu diesem Zwecke Tafeln über den Werth 
der einzelnen Nahrungsmitteln ehst Erläuterungen für den Lehrer anfertigen 
lassen, die in den Seminaren und Schulen des Grossherzogthums Hessen bereits 
eingeführt sind. Nach dem Austritt aus der Schule muss dann für die Mädchen 
der Unterricht in den Koch- und Haushaltuugsschulen erfolgen. Die Einrichtung 
einer solchen Schule in Wiesbaden hat sich durchaus bewährt. Hier wird der 
Kochunterricht in Kursen von 40—50 Tagen an je 12 Mädchen ertheilt, die 
wiederum in drei Gruppen getrennt werden. Die Schülerinnen jeder Gruppe 
haben sich unter Anleitung die Mahlzeit selbst zuzubereiten und jedesmal den 
Preis wie den Nährinhalt der betreffenden Speisen zu berechnen. In den An- 



858 Ans Versammlungen und Vereinen. 

stalten wird ausserdem der Sinn für Reinlichkeit, Ordnung u. s. w. geweckt und 
verdient die Einrichtung derselben daher den Vorzug vor sogenannten Wander¬ 
kochkursen, mit denen in Baden auf dem Lande Versuche gemacht sind. 

In der Diskussion empfiehlt Herr Heg.- und Med.-Rath Dr. Wernich 
(Berlin) gleichfalls eine thunlichst eiweissreiche Nahrung, während Stabsarzt 
Dr. Jäger (Stuttgart) eine Verminderung der Hülsenfrüchte die von den Sol¬ 
daten nicht sehr gern gegessen werden, in der Armeeverpflegung empfiehlt. 
Die Einrichtung von Kochschulen ist nach seiner Ansicht besonders für die 
besser gestellten Stände erwünscht, da die Mädchen ans den ärmeren Vokslklassen 
sich die erforderlichen Kenntnisse im Kochen, Waschen u. s. w. recht gut während 
ihrer Dienstzeit in besseren Häusern aneignen können. 

Stadtschultheiss R ü m e 1 i n (Stuttgart) kann sich mit sämmtlichen vom 
Korreferenten aufgestellten Thesen aus sozialpolitischen Gründen nicht einver¬ 
standen erklären. Viel wichtiger erscheint ihm ein energisches Vorgehen gegen 
jede Verfälschung von Nahrungsmitteln. 

Nach einem kurzen Schlussworte der beiden Referenten gelangte folgender 
vom Herrn Oberbürgermeister Dr. Steidle (Würzburg) gestellter Antrag zur 
Annahme: 

„Der Verein für öffentliche Gesundheitspflege spricht den Herrn 
Referenten seinen Dank aus und empfiehlt neben der Bekämpfung der 
Nahrungsmittelverfälschung die Schlusssätze den in Betracht kommenden 
Behörden, Arbeitsgebern und Vereinen zur möglichsten Beachtung.“ 


Deutscher Aerztetag lu Breslau aut 26. uud 27. Juni 4. J. 

Auf dem diesjährigen Aerztetage waren 139 Vereine mit 10388 Mitgliedern 
durch 89 Deligirte vertreten. Von den zur Berathung gelangten Gegenständen 
haben hauptsächlich Punkt 4 und 6 der Tagesordnung ein weiteres Interesse. Der 
erstere betraf „den ärztlichen Dienst in Krankenhäusern“. Das Referat 
hierüber erstattete Dr. Cnyrim (Frankfurt a. M.) und wurden die von ihm 
aufgestellten Thesen mit grosser Mehrheit angenommen. Dieselben lauten: 

1. Die Krankenhäuser sollen in erster Linie den humanen Zwecken einer 
guten Verpflegung und wirksamen ärztlichen Behandlung der Kranken dienen. 
Sie sollen aber auch mehr und mehr Stützpunkte der Wissenschaft werden. 

2. Der ärztliche Dienst in den Krankenhäusern ist derart zu organisiren, 
dass auf 100 bis 120 Kranke ein Oberarzt und mindestens zwei Assistenzärzte 
kommen. 

3. Es ist zu erstreben, dass die Oberärzte grosser Krankenabtheilungen 
auf Privatpraxis, mit Ausnahme der konsultativen, verzichten. Ihr Gehalt ist 
dementsprechend zu bemessen. 

4. Die Dienstzeit eines Assistenzarztes soll sich in der Regel nicht über 
ein bis zwei Jahre ausdehnen. 

5. Durch Anstellung bezw. Konsultirung von Spezialärzten ist dafür Sorge 
zu tragen, dass in allen Fällen die Kranken eine sachgemässe Behandlung finden. 

6. Für grössere Städte empfiehlt es sich, einen pathologischen Anatomen 
von Fach zur Vornahme der Obduktionen in den Krankenhäusern, sowie zu 
sonstiger wissenschaftlicher Unterstützung der Aerzte in- und ausserhalb der 
Hospitäler anzustcllen. 

7. Die systematische Ausbildung des Personals gehört zu den Aufgaben 
des ärztlichen Dienstes. 

8. Es ist als eine wesentliche Forderung für den ärztlichen Dienst in den 
Krankenhäusern zu betrachten, dass von den beobachteten Fällen möglichst ein¬ 
gehende Krankengeschichten niedergeschrieben, und dass diese, nach den Krank¬ 
heiten oder Krankheitsgruppen geordnet, aufbewahrt werden. 

9. Seitens der Hospitalverwaltungen ist die wissenschaftliche Thätigkeit 
der Aerzte dadurch zu fördern, dass in möglichster Ausdehnung die für dieselbe 
erforderlichen Einrichtungen und Apparate hergcstellt werden. 

10. Die Krankenhäuser sollen in grösserem Umfange als bisher Gelegenheit 
gewähren zur praktischen Ausbildung von Aerzten. 

Auch die vom Korreferenten H. Prof. Dr. Käst (Breslau) aufgestellteu 
Thesen gelangten nach geringen Aenderungen zur Annahme: 

1. An der Weiterbildung der Aerzte betheiligen sich die Krankenhäuser 
am zweckmässigsten in folgender Weise: Jeder neu geprüfte Arzt hat zwischen 



Aus Versammlungen und Vereinen. 


359 


der Staatsprüfung nnd der Erlangung der Approbation einen praktischen Dienst 
als Unterarzt in einem Erankenhause zu absolviren. 

2. Die Dauer dieser praktischen Krankenhausthätigkeit ist auf ein Jahr, 
für diejenigen, die ihrer Dienstpflicht als einjährig-freiwillige Aerzte genügt 
haben, auf ein halbes Jahr zu bemessen. Hiervon sind mindestens sechs Monate 
in einem der folgenden Krankenhäuser zu verbringen: 

3. a) die internen Kliniken, 

b) die inneren Abtheilungen grosser allgemeiner Krankenhäuser, 

c) gemischte Krankenhäuser von mindestens 100 Betten, welche inner¬ 
halb der letzten fünf Jahre nachweislich zu zwei Drittel belegt waren, 

d) die Krankenabtheilungen der Irrenanstalten. 

4. Die Zuweisung der Unterärzte an die einzelnen Krankenanstalten erfolgt 
durch die Reichszentralbehörde. 

5. Einem Krankenhause von 100 Betten sind höchstens vier Unterärzte 
zuzuweisen. 

6. Die Dienstordnung der Unterärzte ist durch ein Reglement von Reichs¬ 
wegen festzusetzen. 

7. Die Beaufsichtigung des Dienstes der Unterärzte geschieht durch die 
zuständige Landes- bezw. Provinzial - Medizinalbehörde. 

8. Nur derjenige Arzt, welcher seine Thätigkeit als Unter-Arzt zur Zu¬ 
friedenheit seiner Vorgesetzten durchgeführt hat, und darüber ein Attest des 
betreffenden Krankenhaus - Leiters vorlegen kann, wird zur selbständigen Aus¬ 
übung der Heilkunde zugelassen. Kann ihm dieses Attest wegen mangelnden 
Fleisses oder ungenügender Führung nicht ertheilt werden, so hat er ein weiteres 
Halbjahr als Unter-Arzt an einem von der Zentralbehörde ihm angewiesenen 
Krankenhause Dienst zu thun. 

9. Der Aerztetag spricht die Zuversicht aus, dass die städtischen Behörden 
und übrigen Krankenhausverwaltungen, sowie die leitenden Krankenhausärzte 
die Durchführung dieser im Interesse der Allgemeinheit liegenden Massregeln 
durch ihr Entgegenkommen und ihre thätige Mitwirkung zu fördern suchen werden. 

Ausserdem wurde der Geschäftsausschuss beauftragt, eine Umfrage bei 
allen deutschen Krankenhausverwaltungen zu halten, um festzustelien, unter 
welchen Bedingungen diese zur Anstellung von Unterärzten bereit wären. 

Ueber den zweiten Hauptpunkt der Tagesordnung, den Entwurf eines 
Gesetzes zur Abwehr gemeingefährlicher Krankheiten, referirte Dr. B u s ch 
(Crefeld). Dazu wurden folgende Thesen angenommen: 

I. 1. Die Anzeige der Krankheit soll eine einmalige sein und an die Mcdizinal- 
Behörde erstattet werden. Durch die Erfüllung der Anzeige dürfen den Aerzten 
keine Kosten erwachsen. 

2. Zur Anzeige verpflichtet sind nur die Aerzte und die Haushaltungs¬ 
vorstände sowie deren Stellvertreter. 

3 a. Für die Ermittelung der Krankheit ist die Anzeige des Arztes in 
der Regel genügend; die durch einen Laien bedarf der amtsärztlichen Fest¬ 
stellung. 

3 b. Wenn bei ärztlicher Anzeige Ermittelungen durch den beamteten 
Arzt vorzunehmen sind, so halten wir es für nothwendig, dass der behandelnde 
Arzt hiervon benachrichtigt wird und das Recht hat, den Untersuchungen bei¬ 
zuwohnen. 

4. Die Desinfektion soll auf öffentliche Kosten erfolgen. 

5. Für Aerzte, einschliesslich der Amtsärzte und Krankenpfleger, welche 
im Aufträge der zuständigen Behörde mit Personen, die an übertragbaren Krank¬ 
heiten leiden, in Berührung kommen, dabei selbst erkranken lind in Folge der 
Krankheit invalide werden oder, falls sie sterben, für die Hinterbliebenen 
hat Fürsorge aus öffentlichen Mitteln nach Massgabe landesgesetzlicher Regelung 
zu erfolgen. 

II. 1. Die wirksame Durchführung eines Reichsseuchengesetzes setzt die 
Schaffung einer deutschen Aerzteordnung voraus; eine solche ist schleunigst und 
dringend zu fordern, wie es auf mehreren Aerztetagen beschlossen ist. In dieser 
Aerzteordnung müssen Bestimmungen enthalten sein a) über die Rechte und 
Pflichten des praktischen Arztes; b) über die Rechte und Pflichten des beain- 



360 


Aua Versammlungen und Vereinen. 


teten Arztes*) (Stellung als Gesundheitsbeamter, auskömmliches Gehalt); c) Über 
das Verbot der gewerbsmässigen Kurpfuscherei. 

Der Erlass eines alle ansteckenden Krankheiten umfassenden Reichs- 
seuchengesetzes ist dringend erforderlich. 

2. Die obligatorische Leichenschau muss überall im Deutschen Reiche 
durchgeftihrt werden. 

3. Der Entwurf eines Reichsseuchengesetzes ist nothwendig einer ein¬ 
gehenden Berathuug durch die ärztlichen Staudesvertretungen zu unterstellen. 


Bericht über die 46. Konferenz der Hedizlnalbeamten des 
Regierungsbezirks Düsseldorf vom 29« April 1893. 

Die 46. Konferenz der Medizinalbeamten dos Reg.-Bez. Düsseldorf hatte 
33 Teilnehmer, darunter als Gast Herrn Reg. - Assessor von Peistel. 

Der Vorsitzende, Herr Regierungs- und Medizinalrath Dr. Michelsen 
begrüsst Herrn Reg.-Assessor von Peistel, seinen Mitarbeiter auf der Re¬ 
gierung, den jüngst ernannten Kreisphysikus Dr. Schrakamp in Kempen und 
theilt den Tod des im Alter von 83 Jabren verstorbenen Kreiswundarztes 
Dr. Rheins in Neuss mit. 

Bei den Regeln für die Ernährung der Kinder sind Wünsche nach 
Aenderungen laut geworden; es soll hierüber auf der nächsten Versammlung be- 
rathen und Dr. Hartcop in Bannen als Berichterstatter darum gebeten werden. 

Es wird beschlossen, die Sammlung von Gerönne*s Medizinal¬ 
verfügungen fortzusetzen. 

Mehrere Regierungsverfügungen des letzten halben Jahres werden 
kurz bösprochen. 

Zu Punkt 2 der Tagesordnung waren von den Berichterstattern, den 
Kreisphys. und San.-Rath Dr. Bauer in Moers und Dr. Albers in Essen 
„Thesen über Vorschläge zur Abfassung einer Polizeiverordnung betr. 
die Desinfektion der Wohnungen bei ansteckenden Krankheiten“ auf¬ 
gestellt worden. Nach eingehender Berathung, an der sich auch Herr Reg.- 
Assessor von Peistel betheiligte, wurden die Thesen schliesslich in folgender 
Form angenommen: 

1. Die zuständigen Behörden haben für das Vorhandensein der erforder¬ 
lichen Desinfektionseinrichtungen und Desinfektoren Sorge zu tragen. 

Vereinigung von Gemeinden zu gemeinschaftlichen Einrichtungen ist zu¬ 
lässig. Hierbei sollen im Nothfalle die Kreisverbände unterstützend eintreten. 

2. In Fällen von Scharlach, Diphtherie, bösartigen Masern, Ruhr, Fleck- 
und Unterleibstyphus, Rückfallfieber, Pest, gelbem Fieber, Cholera und Pocken 
ist nach Ablauf der Erkrankung eine Desinfektion der Wohnungen, speziell des 
oder der Krankenzimmer, der gebrauchten und aller mit dem Kranken in Be¬ 
rührung gekommenen Gegenstände zu bewirken durch einen amtlich angestellten 
Desinfektor nach Massgabe einer zu erlassenden Desinfektionsordnung. 

Von Lungenschwindsüchtigen bewohnt gewesene Räume dürfen erst nach 
erfolgter Desinfektion wieder bezogen werden. 

3. In Fällen, in denen wegen allzu grosser Raumbeschränkung eine 
Evakuation der Bewohner nothwendig wird, hat die Ortsbehörde für deren Unter¬ 
bringung zu sorgen, bis die Beziehung der desinfizirten Wohnung wieder möglich 
wird. Die vorübergehend zu evakuirenden Personen sind zu isoliren bis nach 
erfolgter Desinfektion; erforderlichen Falls kann eine Räumung der Wohnung 
und Isolirung verlangt werden. 

4. Die Desinfektionsarbeiten werden von den Kreisphysikern überwacht. 
Dieselben können mit dieser Ueberwachung praktische Aerzte im Falle ihres 
Einverständnisses beauftragen. 

Die Desinfektoren sind nach vorangegangener Prüfung von den Polizei¬ 
behörden anzustellen, deren allgemeiner Dienstaufsicht sie auch zu unterstellen 
sind. In technischer Beziehung unterstehen dieselben der Kontrolc der Kreis- 
physiker, deren dienstlichen Anweisungen sie Folge zu leisten haben. 

’) Derartige Bestimmungen dürften wohl kaum in eine Aerzteordnung 
gehören. 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


861 


5. Die entstehenden Kosten trägt bei Armen die Gemeinde; Wohlhabende 
zahlen nach Massgabe eines Tarifs. 

Ueber Punkt 3 der Tagesordnung: Begräbnissordnnng konnte wegen 
der vorgerückten Zeit nur der eine Berichterstatter, Kreisphys. Sanitätsrath 
Dr. Wiesemes in Solingen gehört werden. Das Referat des anderen, sowie 
die Diskussion werden die nächste Konferenz beschäftigen. 

Während einer Pause wurde der fahrbare Desinfektionsapparat 
von Polizeikommissar Tilger, angefertigt von Weyerguns in Düsseldorf 
besichtigt. Nachdem er in Betrieb gesetzt, stieg im Innern nach 1 j 4 Stunde die 
Temperatur auf 110° C. Hineingei angene Kleidungsstücke blieben trocken und 
unversehrt. 

Nach Schluss der Verhandlungen vereinigte ein gemeinschaftliches Mahl 
und eine duftende Maibowle die Theiinehmer in fröhlicher Tafelrunde. 

Dr. Hofacker -Düsseldorf. 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Zur Milchfrage. Das Herannahen der heissen, trockenen Jahreszeit mit 
ihren gastro-intestinalen Störungen namentlich des Kindes- und des Säuglings- 
Alters giebt genügend Veranlassung, das Interesse der Herren Spezialkoüegen 
auf einige neuere Arbeiten über die Milchfrage zu lenken. Zunächst sei der ver¬ 
dienstvollen That mehrerer Posener Kollegen gedacht, über die Pan ly 
(Posen) unter Hintenansetzung seiner eigenen Person in einem Artikel der Deut¬ 
schen med. Wochenschrift (Nr. 18, 4. Mai 1893 „Zur Beschaffung sterilisirter 
Milch“) in überaus knapper, aber alles wesentliche berücksichtigender Form be¬ 
richtet. Der kaum zu kürzende Inhalt ist etwa folgender: 

Auf Grund Soxhlet’s und Aufrechtes neuester Postulate, dass die 
Milch möglicht bald nach dem Melken sterilisirt werden soll (— damit die in 
derselben enthaltenen Keime nicht erst zu reichlicher Entwickelung kommen und 
das Sterilisiren erschweren; Amu. d. Ref. —) sind jene Herren mit einem 15 km 
von Posen entfernt wohuenden Inhaber einer Dampf - Molkerei in Verbindung 
getreten, um die Milch gleich direkt neben dem Stalle sterilisiren zu lassen. 
Sorgfältig ausgesuchte Kühe in peinlich sauberen Ställen werden lediglich 
trocken gefüttert, und die Sauberkeit beim Melken wird aufs Schärfste über¬ 
wacht. Die Milch ist bakteriologisch als leicht sterilisirbar erkannt und hat sich 
als haltbar und vor allem als bekömmlich bewährt. Sie wird in Soxhlet’schen 
Flaschen mit dem neuen einfachen Verschluss sterilisirt, mittelst Federwagen 
nach der Stadt gesandt und dort von einem Drogisten und 2 Kolonialwaaren- 
händlern zu 3 Pfg. die 100 Gr.- und 6 Pfg. die 200 Gr.-Flasche verkauft. Den 
Armen- und Krankenhaus-Aerzten ist von den betreffenden Verwaltungen die 
Verordnung der Milch für die Monate Juli, August und September gestattet. 
Um dieselbe aber auch wenig bemittelten Kreisen zugänglich zu machen, hat 
man es durch eine für diesen Zweck veranstaltete Sammlung ermöglicht, an be¬ 
stimmten Stellen (Krankenhäusern) die Milch zu 15 Pfg. pro Liter zu verab¬ 
folgen. — Von Wichtigkeit ist eine bei diesem Sterilisirungs-Verfahren gemachte 
— neue — Beobachtung, dass die Milch für den Transport im Sommer bei höhe¬ 
ren Temperaturen als 17° C. mittelst Wasserdampf von 104° C. (nicht 100°) 
sterilisirt werden muss. Bei höherer Temperatur sterilisirt, verliert die Milch 
ihre Opalescenz, bräunt sich und wird dadurch für den Säuglings - Magen weniger 
bekömmlich. 

Den Herren Kollegen, die Gelegenheit haben sollten, derartige Versuche 
zu wiederholen, sei die kleine Schrift Weidmanns, eines Molkereifachmanns; 
„Die Methode der Milch - Conservirung etc.“ (Bremen 1893, M. Heinsius) auf 
das Angelegentlichste empfohlen. Der Verfasser erläutert zunächst kurz die 
Herkunft der Bakterien in der Milch und ihre Vermehrungsfähigkeit. „Dem 
Drüsengewebe einer gesunden Kuh entströmt sterile Milch.“ Durch unverdaute 
Futterreste (Koth), Streu, die melkenden Hände, den Staub der Gefässe und des 
Stalles, gelangen massenhaft Bakterien in die Milch. — Dass übrigens nicht 
wenig Kuhkoth getrunken wird, bewies Renk, der in der Marktmilch Halles 



362 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


bis 0,3625 gr Koth pro Liter fand. — Für die Vermehrung der Bakterien in 
der Milch ist die Temperatur von bedeutendem Einfluss. Weigmann bespricht 
sodann die zumeist wahrnehmbaren Wirkungen der Milchbakterien, wie die Säure- 
und die Lab-Gerinnung, die Milchfehler (rothe etc. Milch) und kommt zu einer 
Kritik der Konservirungsmittel. Die chemischen sind [in wirksamen Mengen 
angewandt, theils gesundheitsschädlich wie die Borsäure und die Salicylsäure, 
theils befördern sie, wie die Alkalien, direkt die Entwickelung der Bakterien. 
Die Konservirung durch Kälte hat den Nachtheil, dass der Rahm ausgeschieden 
wird, gesondert gefriert und sich beim Anfthauen nicht mehr genügend verthei¬ 
len lässt. Bei der Konservirung durch Hitze entwickelt sich leicht der unan¬ 
genehme Kochgeschmack. Von den eingedickten Milchkonserven ist die S c h a r f sehe 
zu empfehlen. Das Pasteurisiren, das sehr ausführlich unter Abbildung von 
Apparaten besprochen wird, hat 2 Fehler: Anbrennen und Kochgeschmack. Die 
Vorzüge des Sterilisiren werden dagegen — in ausführlicher Besprechung — 
anerkannt, dabei aber betont, dass die hohen Temperaturen von 110—130° C M 
wie sie zur Tödtung des Heubaccillus nöthig sind, den Wohlgeschmack und die 
Bekömmlichkeit der Milch vernichten. — Zu einem ähnlichen Ergebniss kommt 
auch Hesse („Ucber Milchsterilisation im Grosbetriebe tt , Zeitschrift für Hygiene 
XIII 1. 1893). Derselbe hält aber 140° C. zur sicheren Sterilisation nothwendig. 

Ein eigenes Kapitel widmet Weigmann der Kindermilch, von der er 
fordert, dass sie 1. keine pathogenen Keime, 2. keine Toxine und Toxin bildenden 
Keime enthalten und 3. keine Gährung durchmachen darf. Ein einmaliges Auf¬ 
kochen, namentlich mit nachherigem Erkaltenlassen der Milch in offenen Ge- 
fässen, schützt dagegen nicht; die Milchkochapparate von Soltmann u. 8. w. 
sind schwer zu reinigen und erfordern ein Umgiessen in andere Gefässe; man 
muss eben die Milch nach dem Sterilisiren vor Neuinfektionen schützen, und das 
besorgt am besten der Soxhlet’sche Apparat. Auch hier gilt, dass die Milch 
um so leichter zu sterilisiren ist, je weniger Keime sie enthält. Langes Erhitzen 
verändert die Eiweissstoffe und vor Allem den Milchzucker und macht die Milch 
dadurch schwer verdaulich. Er kommt in Folge dessen zu dem Schlüsse, dass 
eine strenge polizeiliche Kontrole der Milch sich nicht nur auf etwaige Ver¬ 
fälschungen erstrecken soll, sondern auch auf die sanitäre Beschaffenheit; er 
verlangt strenge Gesetze, betreffend den Schutz der Milch vor Infektion mit 
Krankheit« - Keimen durch beständige Kontrole der Viehbestände und durch 
scharfe polizeiliche Handhabung spezieller Vorschriften, betreffend Reinhaltung 
der Milch, nicht nur zum Schutz des konsumirenden Publikums, sondern auch 
zum Nutzen des Milch-Lieferanten und des Milch - Händlers. 

— Dass strenge sanitäre Massregeln auch für die anfänglich schwer davon 
Betroffenen grossen Nutzen haben können, haben die früheren, strengeren Ver¬ 
fügungen über die Zulassung tuberkulösen Fleisches zum Verkaufe gezeigt; es 
haben sich viele Besitzer grösserer Viehbestände veranlasst gesehen, ihr Vieh 
einer regelmässigen thierärztlicheu Kontrole auf Tuberkulose oder der Impfung 
mit Tuberkulin zu unterziehen, und so die Assaniruug ihrer Viehbestände ange¬ 
bahnt. Derartige Erfolge könnten auch strenge Vorschriften in Betreff der 
Milch haben. A. d. Kef. — 

Es ist interessant, dass auch ein anderer Vertreter der Molkerei-Wirth- 
schaft, Flaak, (Zur Milchsterilisirung; Molkerei-Zeitung, Hildesheim 1893, 
Nr. 11 und 12) sieh lur schärfere polizeiliche Beaufsichtigung der Milch ausspricht. 

Schon früher waren von ärztlicher Seite, namentlich in ausführlicher, 
übersichtlicher Darlegung von Marx („Die polizeiliche Uehenvachung des Ver¬ 
kehrs mit Milch. u Vierteljahrsschrift für üffentl. Gesundheitspflege, Bd. 22, H. 3) 
strenge Polizei - Vorschriften, womöglich aber ein Reichsgesetz, gefordert worden. 
Wenn auch zur Zeit ein Reiclisgesetz nicht zu erwarten ist, so wären doch 
Vorschriften von Seiten der Herren Regierungspräsidenten dringend erwünscht. 
Die Milchfrage allein von dem Stand} unkte Suxhlet’s zu lösen, ist vorläufig 
für manche Gegenden nicht gut möglich. Wohl aber lasseu sich seine Grund¬ 
prinzipien in Form von Polizei - Vorschriften und Belehrungen durch Kreisblätter, 
Sanitäts - Kommissionen etc. verbreiten und durchführen, also im Wesentlichen: 
Gesunde Milchkühe, trockenes Futter, saubere Ställe, sauberes Melken (Vorsicht 
in Betreff Infektion), kaltes Aufbewahren bis zum Verkauf, für den Privatmann: 
sofortiges Abkochen und Kaltstellen. 

— Wenn darauf hiugewiesen wird, dass jede sterilisirte Milch nach längerer 
Aufbewahrung im Brutschrank verdirbt, so ist dem entgegen zu halten, dass der 



Kleinere Mittheilongen und Referate ans Zeitschriften. 


363 


Bedarf der Milch gewöhnlich an demselben Tage gedeckt and die Milch kühl 
und nicht bei Brutofentemperatur verwahrt wird. A. d. Ref. — 

Der kleineren Arbeiter-Bevölkerung, namentlich der ländlichen, ist das 
Halten guter Milch-Ziegen zu empfehlen; der Fettgehalt dieser Milch ist nur 
wenig von dem der Kuhmilch verschieden (vergl. Lüttig: Milch als Nahrung, 
D. V. f. öffentl. Ges., Bd. XXY, Heft II, 1893). — Ziegen sind übrigens billig 
anzuschaffen und zu unterhalten, Perlsucht ist bei ihnen sehr selten und vor 
Allem ist ihr Euter in Folge ihres trockenen Kothes, der geringen Menge des¬ 
selben und der leichteren Möglichkeit, die Streu zu wechseln, sauberer zu halten 
als das der Kühe. A. d. Ref. — 

Dr. A scher, Kreiswundarzt in Bomst. 


Die Frage der Verwerthung des Fleisches tuberkulöser Schlacht- 
thiere ist am 16. Januar d. J. in einer Sitzung des veterinärärztlichen 
Centralausschusses des Grossherzogthums Hessen einer Berathung 
unterzogen worden, an der ausser dem Vorsitzenden und den Mitgliedern der 
Ministerialabtheilung für öffentliche Gesundheitspflege die drei Delegirten der 
veterinärärztlichen Provinzialvereine, sowie noch drei weitere Veterinärärzte und 
die mit der Ausführung bezw. Ueberwachung der Fleischbeschau in den 5 Städten 
des Grossherzogthums betrauten Veterinärärzte theilnahmen. 

Der Art. 318 des Grossh. Hess. Polizeistrafgesetzes bestimmt, dass das 
Fleisch kranker Thiere, wenn solches bei der Fleischbeschau als für die mensch¬ 
liche Gesundheit unschädlich noch genossen werden könne, nur unter Angabe der 
Eigenschaft, also mit Bezeichnung der Krankheit des Schlachtthieres verkauft 
werden darf. Nach dieser gesetzlichen Bestimmung kann daher zur Zeit in 
Hessen das Fleisch tuberkulöser Schlachtthiere nur in öffentlichen Freibänken, 
oder sonst kenntlich gemacht, verkauft werden. Dieser Modus wurde seither, 
abgesehen von den Widersprüchen und Agitationen der Metzger, allgemein für 
den richtigen gehalten und auch der Landesausschuss der landwirtschaftlichen 
Vereine Hessens hat in seiner Resolution vom Jahr 1889 und wiederholt im Jahr 
1891 dies anerkannt. 

Durch den bekannten Erlass der Preussischen Ministerien vom 26. März 
v. J. und durch denjenigen des Bayrischen Staatsministeriums vom 25. Juui v. J.‘) 
angeregt, hatten nun die Metzgerinnungen, sowie auch eine Anzahl Landwirthe 
bei der Grossherzoglichen Regierung um Aenderung der bestehenden Vorschrift 
im Sinne jener Erlasse nachgesucht. 

Mit Rücksicht hierauf hat der veterinärärztliche Ccntralausschnss den be- 
regten Gegenstand hauptsächlich nach der praktischen Seite einer Berathung 
unterzogen, wobei zunächst die Frage erörtert wurde, was für die Landwirt¬ 
schaft eigentlich gewonnen wäre, wenn auch in Hessen nach dem Preussischen 
oder Bayrischen Erlasse verfahren würde. Von sämmtlichen anwesenden Vete- 
rinärärzten wurde dabei festgestellt, dass bei der in Hessen allenthalben in der 
Fleischbeschau eingehaltenen Praxis im Wesentlichen nur Fälle von ausgesproche¬ 
ner Tuberkulose zur Anzeige kämen, sodass, wenn, wie der Preussische Erlass 
vorsehe, gutgenährte Schlachtthiere, welche tuberkulöse Veränderungen nur in 
einer Körperhälfte zeigten, dem freien Verkehr überwiesen würden, bei genauer 
Untersuchung aller wegen Tuberkulose beanstandeter Schlachtthiere etwa nur 
24 °/ 0 derselben freigegeben werden könnten, dass aber nach dem Bayrischen 
Erlass, wenn man den Begriff „lokalisirt und im ersten Stadium der Entwickelung 
begriffen“ nicht für beliebig dehnbar halte, es sich höchstens unr um die Frei¬ 
gabe ganz einzelner Schlachtthiere handeln könne. Der Prozentsatz der tuber¬ 
kulös befundenen Schlachtthiere wurde nach dem Ergebniss der Fleischbeschau 
im Jahr 1892, wie folgt, angegeben: in der Stadt Darmstadt 2,7 °/ 0 , Mainz 1,38 °/ 0 
Offenbach 2,3 o/o, Giessen 3,25 °/ 0 und Bensheim 2,8 °/ 0 ; das Ergebniss auf dein 
Lande weicht hiervon nicht erheblich ab. Auf Grund dieser Angaben wurde 
hervorgehoben, dass die Gleichmässigkeit des Ergebnisses der Fleischbeschau in 
Hessen in Bezug auf die Zahl der als tuberkulös behandelten Schlachtthiere nur 
der erwähnten Vorschrift zu danken sei, was ganz besonders auffalle, wenn man 
die Tuberkulosestatistik von 1838/89 damit vergleiche. Man findet da Städte, 


l ) Vergleiche Beilagen zu Nr. 9 und 14 dieser Zeitschrift 1892, S. 63 
und 102. 



364 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


wo 15 bis 20 °/ 0 , und wieder andere, wo nur gegen */* °/o tuberkulöser Schlacht- 
thiere verzeichnet seien. Z. B. sei in Frankfurt a. M., wo fast alle tuberkulösen 
Schlachtthiere in den freien Verkehr kämen, über 10 °/ 0 , in Wiesbaden, wo vor 
dem vorjährigen Preussischen Erlass alle mit Tuberkulose behafteten Schlacht¬ 
thiere auf die Freibank verwiesen worden seien, nur 1,66 °/ 0 verzeichnet. Auch 
das Verhältnis» der freigegebenen Stücke sei in den verschiedenen in Betracht 
gezogenen Städten ganz ungleich. Von sämmtlichen anwesenden Veterinärärzten 
wurde anerkannt, dass bei der zur Zeit in Hessen üblichen Praxis von einer 
rigorosen Handhabung der Fleischbeschau nicht die Rede sein könne. Bezüglich 
der durch den Verkauf auf der Freibank verursachten Verluste wurde erwähnt, 
dass derselbe in manchen Fällen nur ein unerheblicher sei, und dass, wenn er 
auch in anderen Fällen sich höher stelle, im Durchschnitt es sich doch nur um 
20 °/ 0 handele; zugleich aber seien die Landwirthe auch wieder gegen Ueber- 
vortheilungen seitens der Metzger und Händler geschützt, indem nur wegen 
wirklich als tuberkulös beanstandeter Schlachtthiere Währschaftsansprüche geltend 
gemacht werden könnten. Mehrere der anwesenden Veterinärärzte erwähnten auch, 
dass die hessischen Landwirthe durchaus nicht allgemein eine Aenderung der 
bestehenden Vorschrift verlangten, ja, dass sehr viele sie für allein richtig und 
gerecht hielten, nur einzelne grössere Landwirthe, namentlich Besitzer von Milch- 
wirthschaften, unter deren Viehständen die Tuberkulose besonders häufig ist, 
wünschten jene Aenderung. Von einem Veterinärarzte wurde allerdings auch 
erwähnt, dass die Metzger aus hessischen Städten mitunter grössere Schwierig¬ 
keiten beim Einkauf der Schlachtthiere hätten wegen der hier bestehenden stren¬ 
geren Vorschrift. 

Auf die Frage, ob die anwesenden Veterinärärzte selbst sich für Beibehal¬ 
tung der bestehenden Vorschrift oder für eine Aenderung und eventuell für 
welche aussprächen, erklärten alle bis auf einen, dass sie die bestehende Ein¬ 
richtung für gut und gerecht und auch für den Landwirth nicht drückend 
erachteten, dass bei einer Aenderung in gedachtem Sinn aber eine deutliche 
Grenze für die Freigabe der tuberkulösen Schlachtthiere gar nicht zu ziehen sei, 
dass man insbesondere dann auch befürchten müsse, es werde von Seiten der 
Metzger mit allen möglichen Mitteln, namentlich auch durch die Heranziehung 
von weniger selbstständigen und energischen Thierärzten zur Ausübung der 
Fleischbeschau, angestrebt werden, dass die gedachte Grenze immer weiter 
gezogen würde. Nur einer der anwesenden Veterinärärzte hielt im Interesse der 
Landwirthe eine Aenderung dahingehend für angemessen, dass man das Fleisch 
gutgenährter Schlachtthiere, welche nur an lokalisirter Tuberkulose erkrankt 
gewesen seien, freigebt:; freilich müsse dann eine strenge Kontrole darüber durch 
den beamteten Thierarzt ausgeübt werden. 

(Korrespondenzblatt der ärztlichen Vereine des Grossherzogthums Hessen 1893 Nr. 2.) 


Die Irrren-, Heil- und Pflegeanstalten sowie die Augen- und Ent¬ 
bindungsanstalten des Deutschen Reiches nach den Erhebungen der 
Jahre 1886, 1887 und 1888 nebst einem Anhänge: Häufigkeit der Todes¬ 
fälle im Wochenbett und am Kindbettfieber. Von Regierungsrath Dr. 
Rahts in Berlin. Sonderabdruck aus Medizinal - Statistische Mittheilungen aus 
dem Kaiserlichen Gesundheitsamte. 2 Bd. Verlag von J. Springer, Berlin. 

a. Die Irren-, Heil- und Pflegeanstalten. Die Gesammtzahl 
der Anstalten betrug am Ende der Berichtszeit 257, darunter 124 öffentliche 
und 133 private; die Zahl der Betten betrug 52 286, von denen 40280 d. h. 77 °/ 0 
auf die öffentlichen Anstalten entfielen. 81,6 °/ 0 der verpflegten Personen befan¬ 
den sich in den öffentlichen Anstalten. Dem weiblichen Ge sc blechte gehörten 
im Durchschnitt 48,2 °/ 0 der verpflegten Irren an. Auf je eine Million 
Bewohner des Reiches kamen 1007 Geisteskranke. In den drei 
Jahren hat die Zahl der geisteskranken Anstaltsinsassen sich um 6206 d. h. 
14,6 °/ 0 des Anfangsbestandes vermehrt, während die Bevölkerung des Reiches 
in dieser Zeit nur um etwa 3,2 °/ 0 zugenommen hat. Der Gesammtzugang an 
Irren betrug jährlich etwa 423 auf 1 Million und wenn man die den allgemeinen 
Krankenhäusern zugegangenen Geisteskranken hinzurechnet 564 auf 1 Million 
Einwohner. 

Was die einzelnen Krankheitsformen betrifft, so zeigte sich ein 



Kleinere Mittheilungen und Referate au & Zeitschriften. 


365 


Unterschied bei beiden Geschlechtern derart, dass beim weiblichen Geschlecht die 
einfachen Seelenstörungen weitaus am häufigsten waren, während die Paralyse 
und der Säuferwahnsinn mehr beim männlichen Geschlecht vorkamen. 

Das Delirium potatorum war am häufigsten in Bremen, Schleswig- 
Holstein, Berlin, West- und Ostpreussen; am seltensten in Westfalen und Ham¬ 
burg; im Grossherzogthum Hessen und im Herzogthura Braunschweig war D. p. 
überhaupt nicht verzeichnet. Die Sterblichkeit der männlichen Deliranten war 
9,4 °/ 0 . In den Irrenanstalten zu Bremen, Schleswig-Holstein und Westpreussen 
entspricht ein hoher Prozentsatz von geisteskranken Trinkern einer geringen 
Anzahl von Paralytikern, so dass die Vermuthung nahe liegt, dass in diesen 
Anstalten mehr den kausalen Beziehungen Rechnung getragen worden ist. Der 
Abnahme der geisteskranken Trinker (1885: 14,7 °/o> 1888: 9,0 °/ 0 des Zuganges) 
entspricht eine deutliche Zunahme der Paralytiker in den Irren - Anstalten 
(1884: 17,0 °/ 0 , 1888: 20,4 °/ 0 des Zuganges). Die überwiegende Mehrzahl der 
männlichen Deliranten sind in öffentlichen Anstalten behandelt worden (138 bezw. 
34: 1000), während die paralytische Seelenstörung fast ebenso oft in öffentlichen 
wie in privaten Anstalten zur Behandlung kam. 

Einfache Seelenstörung ist im Zugänge weitaus am häufigsten 
verzeichnet. Verhältnissmässig selten war diese Form in den Anstalten Berlins 1 
Braunschweigs und des Königsreichs Sachsen. Von den männlichen Kranken 
dieser Art starben kaum 10°/ o , von den weiblichen 10,5 °/ 0 . 

Die mit Epilepsie und Hysteroepilepsie verbundene Seelenstö¬ 
rung war verhältnissmässig häufig in Eisass-Lothringen, im Königreich Sachsen 
und bei den weiblichen Kranken der Berliner Anstalten (13—15 °/ 0 ); gering in 
Bayern, Württemberg und Baden (3—4 °/ 0 ). In den Privatanstalten war diese 
Form häufiger als in den öffentlichen. Von je 100 männlichen starben 15,5, von 
je 100 weiblichen Kranken 14,9. Die Letalität war somit höher als 
bei jeder anderen Form der Seelenstörung. 

Angeborene Imbezillität einschliesslich Idiotie und Kreti¬ 
nismus war am häufigsten in den Anstalten des Herzogthums Braunschweig 
vertreten (35 °/ 0 ). Es starben 10,1 °/ 0 . 

ln dem dreijährigen Berichtszeitraum hat sich die Zahl der Anstalts¬ 
kranken bei denen männlichen Geschlechts um 15,1 °/ 0 , bei denen weiblichen 
Geschlechts um 14,0°/ 0 vermehrt. Am beträchtlichsten war das Anwachsen 
der Krankenzahl bei der paralytischen Seelenstörung, dann bei den mit Epi¬ 
lepsie verbundenen Krankheitsformen. Eine Abnahme von 18 auf 15 ist nur 
für die weiblichen Deliranten festzustellen gewesen. 

Erbliche Belastung war im Ganzen, wenn man von notorischen 
Trinkern absieht, bei Vs bis etwa Vs aller behandelter Geisteskranken festge¬ 
stellt, verhältnissmässig selten bei den Paralytikern, am häufigsten bei den an 
einfacher Seelenstörung Leidenden. Der Begriff der erblichen Belastung ist in 
den verschiedensten Anstalten so verschieden aufgefasst worden, dass ein Ver¬ 
gleich zwischen denselben bedeutungslos erscheint. — 

b. Die Augenheilanstalten. Seit dem Jahre 1883 hat sich die Zahl 
der öffentlichen Augenheilanstalten um 4, die der Privatanstalten um 
24 vermehrt. Im Ganzen standen am Ende des Berichtszeitraumes 3006 Betten in 
32 öffentlichen und 82 Privatanstalten für Augenkranke zur Verfügung. Die 
Hamburger öffentliche Anstalt mit 103 Betten scheint eine der grössten im Reich 
zu sein. 

Die Zahl der Anstaltsinsassen hat sich von Jahr zu Jahr ver¬ 
mehrt, im Jahre 1888 kamen auf jedes in den Anstalten verfügbare Bett 10 bis 
11 Kranke zur Aufnahme. 

Von den einzelnen Krankheitsgruppen sind die Hornhautleiden am 
häufigsten zur Behandlung gekommen, dann die Krankheiten des Linsensystems, 
unter dieses am meisten dt*r graue Star. Erkrankungen der Thrünenorgane, 
der Ghoriodea und der Augenmuskeln sind häufiger beim weiblichen als beim 
männlichen Geschleckte beobachtet worden. 

c. Entbindungsanstalten. Es bestanden 70 öffentliche Entbindungs¬ 
anstalten, von denen jede durchschnittlich über 32 bis 33 Betten verfügte. Die 
Wirksamkeit der 118 Privatentbindungsanstalten war eine verhältnissmässig ge- 



366 Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften. 

ringfügige, im Jahre kamen auf durchschnittlich 2 bis 3 Betten nur 5 bis 6 Ent¬ 
bindungen. 

In jeder öffentlichen Anstalt wurden in den drei Jahren im Mittel 665, 
jährlich 221 bis 224 Personen entbunden; im Ganzen wurden von 46133 Personen 
46 603 Kinder geboren. Die Zahl der Todtgeborenen belief sich auf 2725 *= 58 
auf je 1000 Neugeborenen. 

Mittels geburtshilflicher Operationen wurden in den öffentlichen 
Anstalten 94 von je 1000 Gebärenden entbunden; von den Operrirten starben 
5,4 °/ 0 . Am seltensten wurden Operationen in den Anstalten Posens und Ost- 
preussens, am häufigsten in denen Lübecks und Mecklenburgs vorgenommen. 

Von je 1000 Wöchnerinnen sind in den öffentlichen Anstalten 15 an 
Kindbettfieber erkrankt und kaum 4 gestorben; die letzten Zahlen sind im 
Vergleich zu früheren Berichtsperioden als niedrig anzusehen. Das Kindbett- 
fieber ist somit in den öffentlichen Entbindungsanstalten des 
ganzen Reiches viel seltener geworden und namentlich die 
Sterblichkeit an Kindbettfieber beträchtlich gesunken. 

Häufigkeit der Todesfälle im Wochenbett und an Kindbettfieber 
im Deutschen Reich. Die Abnahme der Erkrankungen an Kindbettfieber in 
den öffentlichen Entbindungsanstalten des Reiches gab Veranlassung, statistische 
Erhebungen darüber anzustellen, ob eine solche Abnahme auch sonst zu kon- 
statiren sei. Aus den grösseren Städten des Reichs (Orte mit 15000 und mehr 
Einwohnern) gehen dem Kaiserlichen Gesundheitsamte monatliche Ausweise über 
die Todesfälle an Kindbettfieber sowie über die Zahl der Lebend- und Todt¬ 
geborenen zu, so dass für diese ein zuverlässiges, statistisches Material zu Gebote 
stand. Für die kleineren Städte und das platte Land bezw. für die Gesammt- 
bevölkerung werden zwar in Bayern, Baden, Hessen und Eisass-Lothringen die 
jährlich gemeldeten Todesfälle an Kindbettfieber nachgewiesen, in Preussen fehlt 
es aber an solchen Nachweisungen. Doch können die standesamtlichen Nach¬ 
richten über die Zahl sämmtlicher im Kindbette gestorbenen Personen einen 
brauchbaren Anhalt geben, weil nämlich die Erfahrung in anderen Staaten lehrt, 
dass man annähernd die Hälfte der im Kindbette erfolgenden Todesfälle dem 
Kindbettfieber zur Last legen darf. 

Für die Gesammtbevölkerung aller Städte mit 15000 Einwohnern und 
darüber ergiebt sich nun von 1881 bis 1891 ein erhebliches ununterbrochenes 
Sinken der Sterblichkeit an Kindbettfieber (von 35,8 bis 19,4:10 000.) Im 
Königreiche Preussen kamen unter der Stadtbevölkerung die meisten Todes¬ 
fälle im Kindbett während des Jahres 1881 zur Aufzeichnung. Seit dieser Zeit 
lässt sich eine ziemlich stetige beträchtliche Abnahme feststellen. In der Land¬ 
bevölkerung zeigt sich diese Abnahme erst seit dem Jahre 1885. Es starben 
im Kindbett auf je 10000 geborene Kinder in den Stadtgemeinden im Jahre 
1881:51,5, im Jahre 1890:33,1 Personen; in den Landgemeinden im Jahre 
1885:64,2:10000, im Jahre 1890:47,7 Personen. — Im Königreiche Bayern 
sind während des Jahres 1885 die meisten Todesfälle an Kindbettfieber vorge¬ 
kommen, seit dieser Zeit ist es noch nicht seltener gewesen als vor 1885. Das 
Minimum ist vielmehr in den Jahren 1879, 1880, 1883 beobachtet worden. — 
Im Königreiche Sachsen ist während der letzten Jahre im Allgemeinen eine 
Abnahme der Sterbefälle seit 1884 eingetreten, doch haben die Jahre 1888 und 
1889 wieder ein geringes Ansteigen der Verhältnisszifiern gegenüber dem Jahre 
vorher gezeigt. Auf je 10000 geborene Kinder kamen im Jahre 57,2 Kindbett¬ 
krankheiten überhaupt. — Im Staate Hamburg sind in den 3 Jahren 1889 bis 
1891 verhältnisswässig weit weniger Wöchnerinnen als in den Jahren 1881 bis 
1883 gestorben, eine stetige Abnahme der Todesfälle war indessen nicht fest¬ 
zustellen. — 

Das Gesammtergebniss der Untersuchungen kann man dahin 
zusammenfassen, dass während der letzten Jahre überall im Deutschen Reiche 
eine Abnahme der Todesfälle im Kindbett, bezw. an Kindbett¬ 
fieber sich nach weisen lässt. Am erheblichsten war diese Abnahme in 
den grösseren Städten des Reiches zu bemerken. Ebenso deutlich liess sich für 
dass gesammte Königreich Preussen die Abnahme der im „Kindbett“ eintretenden 
Sterbefälle nach weisen. Zu Anfang des vorigen Jahrzehnts starben von rund 
105U0Ü0 Entbundenen im dreijährigen Durchschnitt (1880 bis 1882) noch 6125 im 



Tagesnachrichten. 


367 


Kindbett, in den Jahren 1888 bis 1890 von rund 1100000 Entbundenen jährlich 
nur 4948 im Kindbett. Dieser allmählich erreichte Qewinn von jährlich mehr 
als 1000 Menschenleben ist sicher als Folge der besseren sanitären Fürsorge 
anzusehen, die den Wöchnerinnen erst dann zu Theil werden konnte, nachdem 
man die Natur des Puerperalfiebers und die Mittel zur Verhütung desselben 
richtig erkannt hatte. _ Dr. Israel-Medenau. 


Statistik der Krankenhäuser in Italien. Giornale di medic. pubblica, 
März 1893. 

Nach der Zusammenstellung des statistischen Bureaus bestanden 1891 in 
Italien 1158 öffentliche und private Krankenhäuser — ohne Einrechnung der 
Irrenhäuser und Entbindungsanstalten —, in denen 372965 Kranke behandelt 
worden waren, davon zwei Drittel Männer. Im Verhältniss zur Bevölkerung 
fanden am meisten Kranke Hospitalbehandlung in Mittel- und Oberitalien, am 
wenigsten im Süden und auf den Inseln. Ueber 889 Anstalten lagen nähere 
Angaben vor; dieselben verfügten über 37765 Betten und ein Pflegepersonal 
von 2701 Wärtern und 4246 Wärterinnen; von letzteren gehörte fast die Hälfte 
religiösen Orden an, von den Männern nur 85. Eine eigentliche Ausbildung von 
Krankenwärtern fand nur in 10 Krankenhäusern statt. Mit 391 Hospitälern 
waren Polikliniken verbunden. 

Dr. Woltem a s - Gelnhausen. 


Tagesnachrichten. 

In voller körperlicher Rüstigkeit und geistiger Frische hat am 30. v. M. 
Geheimrath v. Pettenkofer sein fünfzigjähriges Doktorjubiläum 
gefeiert. Wie nicht anders zu erwarten war, sind dem hochverdienten Be¬ 
gründer und thatkräftigen Förderer der wissenschaftlichen -Hygiene an diesem 
Tage Ehrenbezeugungen und Glückwünsche in reichstem Maasse zu Theil 
geworden, der beste Beweis für die grosse Hochachtung und allseitige Verehrung, 
die der Jubilar weit über die Grenzen seines engeren Vaterlandes hinaus geniesst. 
Seine Verdienste auf dem Gebiete der Hygiene sind mit goldenen Lettern in die 
Geschichte dieser Wissenschaft eingeschrieben; verdanken wir doch seinen grund¬ 
legenden und bahnbrechenden Forschungen in erster Linie die bedeutenden Fort¬ 
schritte, die gerade in den letzten Jahrzehnten in Bezug auf die Eutwickelung 
der öffentlichen Gesundheitspflege in Deutschland gemacht sind. Möge es ihm 
vergönnt sein, noch manches Jahr in der gleichen beneidenswerthen Frische und 
Rüstigkeit wie bisher thatkräftig zu sein zum Segen des Vaterlandes und zur 
Freude seiner zahlreichen Verehrer, unter denen die Medizinalbcamten nicht den 
kleinsten Thtil bilden! 


Der vierte internationale Kongress gegen den Missbrauch alko¬ 
holischer Getränke wird unter dem Patronat der Königin-Regentin der Nieder¬ 
lande und unter Ehrenpräsidentschaft des niederländischen Ministers des Innern 
Tak van Poortvliet in den Tagen vom 16. bis 18. August 1893 im Haag 
stattfinden. Präsident des Organisations-Komites ist Staats-Minister J. Heems- 
kerk. Der offizielle Empfang der Kongressteilnehmer wird am 15. August, 
Abends 8 Uhr, durch den Bürgermeister im Rathhause erfolgen. Die Sitzungen 
werden im Gebäude für Kunst und Wissenschaften, Zwarteweg 7, stattfinden. 
Bis jetzt haben sich etwa 300 Theilnehmer angemeldet. Die Eintheilung der 
Vorträge ist nach dreierlei Gesichtspunkten erfolgt, und zwar wird an erster 
Stelle über „Den Alkohol in Beziehung zur Physiologie und Hygiene“, an zwei¬ 
ter Stelle über „Die auf die freie Entschliesung des Menschen wirkenden Mittel“ 
und an dritter Stelle über „Die Zwangsmittel zur Bekämpfung des Alkohol¬ 
missbrauchs“ verhandelt werden. Bezüglich des ersten Punktes werden Dr. Dyce 
Duckworth, London, L. P. Walburgh Schmidt, Amsterdam, A. Schmitz, 
Bonn, und Dr. A. Forel, Zürich, über den Einfluss des Alkohols auf den 
menschlichen Organismus, J. Grant Mills, London, über den Einfluss des Alko¬ 
holhandels auf die unzivilisirten Völkerschaften sprechen. Dr. A. Bär, Berlin, 



338 


Tagesnachrichten. 


wird statistische Mitteilungen über die Sterblichkeit, Kriminalität und Geistes¬ 
krankheit bei Alkoholikern geben. In der zweiten Abtheilung der Vorträgre wer¬ 
den die verschiedenen Gesellschaften zur Bekämpfung des Alkoholismus, die 
Mitarbeit von Kirche und Presse, die Frauenthätigkeit, die Trinkasyle, die 
Volkskaffeehallen, die Bekämpfung der Trinksitten, die Besteuerung alkoholischer 
Getränke, die Einwirkung aut die Jugend u. a. in. behandelt werden. Als 
Zwangsmittel werden die amerikanischen Prohibitivgesetze, die Massregeln 
europäischer Staaten gegen den Alkoholmissbrauch, die Alkoholmonopole, das 
Licenz- und Konzessionswesen, endlich die Beschränkung Trunksüchtiger in ihrer 
bürgerlichen Rechtssphäre zur Besprechung gelangen. 


Betreffs der in der Mannschaft des bayerischen Infantrie-Leib- 
Regiments in München ausgebrochenen Typhus - Epidemie hat die zur 
Untersuchung des Sachverhaltes einberutVne Kommission (s. Nr. 13 der Zeit¬ 
schrift, S. 340) auf Grund der eingehendsten Untersuchungen «ich einstimmig’ 
dahin ausgesprochen: 

1. Die verabreichten Nahrungsmittel, insbesondere die Konserven und 
Dörrgemiise sind nicht als Ursache der gegenwärtigen Typhusepidemie bei dem 
genannten Regiment zu betrachten. — Ebensowenig hat eine Vergiftung durch 
Fleisch, durch metallische oder sonstige Gifte stattgefunden. 

2. Die Entstehung der Epidemie beruht auf den ungünstigen Untergrunds¬ 
verhältnissen der Hofgartenkaserne als örtlicher und der abnormen Trockenheit 
der Frühjahrsmonate als zeitlicher Ursache. 

3. P2s muss nach den Ergebnissen der Untersuchung angenommen werden, 
dass der Typhuserreger durch das Wasser eines lediglich zu Reinigungszwecken 
benützten Pumpbrunnens (Kesselbrunnens) bei der Dampfküche der Hofgarten¬ 
kaserne in den Spülbehälter dieser Küche gelangte, wo er in dem daselbst befind¬ 
lichen Spülwasser unter dem Einflüsse eines mittleren Wärmegrades die günstigsten 
Bedingungen für die Weiterentwickelung fand. 

4. Nach der ganzen Sachlage wird man zu der Annahme gedrängt, dass 
die weitere Verbreitung des Typhuserregers durch die mit diesem Wasser ge¬ 
spülten und dadurch infizirten Speisetrausportkessel und Menagegeschirre der 
Mannschaften erfolgte. 


Cholera. Die amtlichen Nachrichten über die Verbreitung der Cholera 
in S iid-Fr&nkreich sind trotz der Beschlüsse der Dresdener Sanitätskonferenz 
so ungenau und mangelhaft, dass sich ein klares Bild darüber nicht gewinnen 
lässt. Alais ist jetzt jenen Beschlüssen geiuiis.s amtlich als Choleraheerd be¬ 
zeichnet. In Marseille sollen täglich 13—20 Personen an Cholera sterben; 
in Toulon und Umgegend 5—7; auch in Nantes und Paris sind Zeitungs- 
Nachrichten zu Folge Cholera!alle vorgekommen. 

Von Südfrankreich aus scheint die Cholera nach Spanien (Palafrugell 
in der Grenzprovinz Gerona) und Italien (Mailand, Pavia, Monaco) verschleppt 
zu sein. Auch im nordöstlichen Ungarn (Szathmer, Tisza- Kerecseuy, 
Hortyen) und in dem siebenbürgisehen Orte Dees sind vereinzelte choleraver¬ 
dächtige Erkrankung«- und Todesfälle vorgekommen. 

In Russland nimmt die Cholera im Gonvernement Podolien wieder 
zu; vom 28. Mai bis 17. Juni sind daselbst 102 Erkrankungen mit 31 Todes¬ 
fällen vorgekommen. Auch in Moskau sind vom 18.—28. Juni 32 Personen 
an der Cholera erkrankt und davon 11 gestorben. 

Ziemlich ausgebreitet ist die Cholera im Vilajet Bassora (asiatische 
Türkei); die Zahl der Todesfälle belief sich dort bis zum 23. Juni auf 818, 
davon 350 in Bassora, 410 in Abulhassib. 

Tn Mekka (Arabien) sind vom 2(5. Juni bis 2. Juli 4079, vom 3. bis 
f5. Juli 1 SCO Choleratodesfülle festgestellt. Mit dem Abzug der Pilger hat die 
Seuche etwas abgenommen, ist dagegen von Mekka aus nach Dsheddah ver¬ 
schleppt, wo vom 3. bis 9. Juli 1332 Pilger der Cholera erlagen. 

Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden L W 

J. C. C. Bruns, Buchdruckerei, Minden. 



6. Jahrg. 


Zeitschrift 


1893. 


für 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rath u.gerichtl. Staat physikus inBerlin. Reg.- und Medizinalrath in Minden. 

und 

Dr. WILH. SANDER 

M evlii.inalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlung und Rud. Mobs« 

entgegen. 


No. 15. 


Erscheint am 1. und 15. Jeden Honatn. 
Preis Jährlich 10 Mark. 


i. 


Aug. 


Die Steilung der preußischen Kreisphysiker. 

Von Kreisphysikua Dr. Kosak in Stade. 

Nachdem am 4. d. M. die Verhandlung über die Interpellation 
des Grafen Douglas im preussischen Abgeordnetenhause stattge¬ 
funden hat, wird nun wohl auch den Vertrauensseligsten unter 
den Kreisphysikern klar geworden sein, was sie bezüglich der 
Medizinalreform zu erwarten haben. Die so vorsichtige Rede des 
Herrn Ministers versprach nichts und liess nur das zu deutlich 
erkennen, dass in absehbarer Zeit die Medizinalreform in Preussen 
nicht durchgeführt werden wird 1 ). 

So sind denn alle Hoffnungen wieder begraben, die die politi¬ 
schen Blätter uns im vorigen Sommer machten, als die Cholera so 
rauh die Aufmerksamkeit auf unsere Thätigkeit und unsere Stellung 
lenkte. Wir haben unsere Schuldigkeit gethan, nun aber können 
wir wieder gehen und es bleibt uns nur erlaubt, darauf stolz 
zu sein, dass man im Ministerium darauf rechnet, dass wir in 
Zeiten der Noth unsere volle Schuldigkeit wieder thun werden, wie 
wir sie bisher stets gethan. 

Das wäre gut und schön und vor allen Dingen bequem und 
billig. Wie aber der Schreiber dieser Zeilen die Stimmung unter 
den Kreisphysikem bei Gelegenheit der letzten amtlichen Kurse 
im Institut für Infektionskrankheiten in Berlin kennen gelernt hat, 
ist nicht anzunehmen, dass diese „Beamten“ auch dieses Mal ihre 
Angelegenheiten so ohne Weiteres ad acta legen lassen werden. 
Wir wollen klipp und klar aussprechen, dass unter den Physikern 
jetzt geradezu Erbitterung darüber herrscht, dass man in Preussen 


*) Diese Anschauungen des Verfassers erscheinen nach Lage der Verhält¬ 
nisse doch etwas zu pessimistisch. Red. 







370 


Dr. Rusak. 


niemals ein Ohr für ihre gewiss berechtigten Wünsche bat, und 
wir sind der Hoffnung und der Ueberzeugung, dass die Physiker 
diesen Wünschen von jetzt an in der Presse nachhalti/gen und 
kräftigen Ausdruck geben werden. Die Erinnerung daran, wie sie 
besonders im vorigen Sommer zur Zeit der Choleranoth gezwungen 
waren, die Praxis, von der sie mit ihrer Familie leben müssen, 
zu vernachlässigen, um den Anforderungen genügen zu können, 
welche ihr mit dem nicht pensionsfähigen Gehalt von 900 M. 
bezahltes Amt an sie stellte, ist noch frisch in der Erinnerung 
der Kreisphysiker und hat jeden von ihnen überzeugt, dass die 
bisherigen Zustände nicht mehr schweigend geduldet und ertragen 
werden können. 

Es besteht aber unter den Kreisphysikern nicht nur der 
Wunsch, ihre besonderen Interessen nachdrücklich zu vertreten, son¬ 
dern auch die allgemein aus selbsterlebten Vorkommnissen gewonnene 
Ueberzeugung, dass die amtliche Stellung des Physikus im Inter¬ 
esse einer wirksamen Amtsführung eine völlig andere und vor 
allen Dingen selbstständige werden muss. Liegt die Hauptaufgabe 
des Sanitätsbeamten in der Prophylaxe, in der Verhinderung der 
Weiterverbreitung von Infektionskrankheiten und Volksseuchen, so 
muss er ein für alle Mal, wie kürzlich zur Zeit der Cholera, eigene 
Initiative erhalten und nicht weiter fein still zu sitzen haben, bis 
eine höhere Intelligenz, natürlich ein Jurist, das Vorhandensein von 
Uebelständen anerkennt und nun den Fachmann in Bewegung setzt 
und dirigirt. Dass eine solche Reform nicht ohne Aufwendung 
höherer Geldsummen wie die bisher in der Medizinalverwaltung 
gebrauchten durchzuführen ist, ist klar; dass aber eine solche 
Reform in 20 Jahren nicht aus dem Stadium der Vorbereitungen 
herausgekommen ist, obwohl das Abgeordnetenhaus nahezu ein- 
müthig die Mehrforderungen bewilligen würde, kann nicht allein 
daran liegen, dass im Finanzministerium eine gründliche Abneigung 
herrscht, sich über die Beschaffung der nöthigen 2 bis 3 Millionen 
die Köpfe zu zerbrechen. Stände an der Spitze der Abtheilung 
für Medizinalangelegenheiten ein Mediziner und nicht ein Jurist, 
so würde die Reform eine so nachhaltige, weil fachmännische Ver¬ 
tretung gefunden haben, dass längst auch die Unterstützung des 
Finanzministers gewonnen wäre. Ein Fachmann als Leiter der 
Abtheilung würde mit den übrigen technischen Räthen das nach den 
Worten des Herrn Ministers in Hülle und Fülle vorhandene Ma¬ 
terial unzweifelhaft rascher zur Herstellung eines einheitlichen und 
wohl begründeten Reformplanes verwerthen können als ein Jurist, 
der auch beim besten Willen nie das lebendige Interesse eines 
Fachmannes haben wird, weil er sich in die vielen, hierbei in 
Betracht kommenden technischen Fragen des Medizinalwesens erst 
mühsam einzuarbeiten hat und sie naturgemäss nicht völlig beherrscht. 
Auch im Kriegsministerium steht an der Spitze der Medizinal- 
abtlieilung ein Fachmann; wie vorzüglich aber das Militär-Sanitäts¬ 
wesen unter Leitung dieses Fachmannes verwaltet ist, zeigt die 
allseitige Anerkennung, die dasselbe gerade in jüngster Zeit mit Recht 
befunden hat. Die erste Forderung der Medizinalbeamten muss 



Die Stellung der preusaischen Kreisphysiker. 


371 


also dahin gehen, dass auch an die Spitze des Zivil-Medizinal¬ 
wesens, der Medizinalabtheilung im Kultusministerium, ein Fach¬ 
mann gestellt wird. Die Medizinalangelegenheiten würden dann 
nicht mehr, um mit den zutreffenden Worten des Abg. Dr. Graf 
zu reden, die Rolle des Aschenbrödels im Kultusministerium spielen, 
haben sie doch hier zur Zeit nicht einmal einen eigenen Ministerial¬ 
direktor, sondern müssen diesen mit einer anderen Abtheilung 
dieses Ministeriums theilen. 

Noch wichtiger als die Reform an der Spitze des Medizinal¬ 
wesens ist aber diejenige der Stellung der Kreismedizinalbeamten, 
die keineswegs so lange vertagt zu werden braucht, bis die 
angeblich unzulängliche Vorbildung der Kreisphysiker eine bessere 
geworden ist. Man kann ohne Ueberhebung sagen, dass die 
Kenntnisse der jetzigen Medizinalbeamten in den Gebieten der 
Hygiene, der Bakteriologie, der Epidemiologie u. s. w. erheblich 
grössere sind, als man in massgebenden Kreisen anzunehmen 
geneigt ist. Die Kreisphysiker in allen Theileu der Monarchie 
haben, zum Theil mit erheblichen pekuniären Opfern, jede Ge¬ 
legenheit benutzt, die ihnen geboten wurde, um sich mit den 
neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften auf diesen Gebieten 
theoretisch und praktisch bekannt zu machen, und ein Theil von 
ihnen hat im vorigen Sommer Gelegenheit gehabt, ihre Kenntnisse 
zum Wohl der Allgemeinheit praktisch zu bethätigen. Traurig 
ist einstweilen nur, dass sie so gut wie nie Gelegenheit haben, 
ihre Kenntnisse in den genannten Gebieten praktisch zu verwerthen. 
Das ist gerade das Streben der Physiker, deshalb wünschen sie 
eine gerechte und genügende Besoldung, damit sie nicht mehr 
fast ausschliesslich auf den Erwerb durch die Praxis hingewiesen, 
ihre Kräfte und ihr Wissen ihrer Thätigkeit als Sanitätsbeamte 
widmen können. Das, was ihnen an Praxis auf diesen Gebieten 
fehlt, würde schlimmsten Falls durch die Theilnahme an regel¬ 
mässig zu wiederholenden Kursen zu erreichen sein. 

Es stellt zu hoffen, dass in dieser Angelegenheit noch mehrere 
Physiker das Wort ergreifen. Um eine Diskussion über die An¬ 
gelegenheit anzuregen, erlaube ich mir kurz die hauptsächlichsten 
Forderungen zn formuliren, welche betreffs der künftigen Stel¬ 
lung der Kreisphysiker, für die auch wir den Titel Kreis- oder 
Bezirksarzt vorziehen würden, zu erheben sind: 

1. Die Kreisphysiker (Kreisärzte, Bezirksärzte) sind unmittel¬ 
bare Staatsbeamte und beziehen ein in bestimmten Zeiträumen 
steigendes und pensionsfähiges Gehalt von 3000 bis 5000 M., 
daneben Wohnungsgelder, Bureaugelder und Entschädigungen für 
Dienstreisen. Bei der Pensionirung kommen auch die Jahre in 
Anrechnung, während welcher der Kreisphysikus schon vor der 
Medizinalreform im Amte war. 

2. Die amtlichen Befugnisse der Kreisphysiker sind den An¬ 
forderungen der öffentlichen Gesundheitspflege entsprechend zu 
erweitern; insonderheit ist ihnen das Recht eigener Initiative 
einzuräumen. 

3. Die Kreisphysiker sind in bestimmten Zwischenräumen zu 



372 Die Cholerakurse und die angebliche Unzulänglichkeit der Kreisphysiker. 


Fortbild ungs-Kursen einzuberufen, die an den hygienischen Univer¬ 
sitäts-Instituten abgehalten werden. Die Kosten dieser Kurse 
trägt die Staatskasse; die Theilnehraer erhalten Reise- und 
Tagegelder. 


Die Cholerakurse und die angebliche Unzulänglichkeit der 

Kreisphysiker. 

(Eingesandt.) 

Eine grössere Enttäuschung ist wohl keinem Beamtenstande 
seit langer Zeit zu Theil geworden, als den zu den Cholerakursen 
berufenen Kreisphysikern, musste doch jeder derselben dort zu der 
Ueberzeugung gelangen, dass er erst dann als Commissarius ver¬ 
wendet werden würde, wenn die Assistenten der bakteriologischen 
Institute aufgebraucht seien. Als Entree des mit Spannung er¬ 
warteten Menus empfingen die Theilnehmer des Kurses aus Herrn 
Geheimrath Koch’s Munde die Mittheilung, die Physiker hätten 
„den an sie gestellten Erwartungen, von ganz vereinzelten Fällen 
abgesehen, nicht entsprochen“. Eine recht kalte Douche! Wenn 
ein Mann von der Bedeutung Koch’s an denjenigen Beamten, 
welche in erster Linie dazu bestimmt sind, die ersten Fälle einer 
Seuche festzustellen und die erforderlichen Massregeln anzugebeu, 
eine derartige generelle Kritik übt, so kann dieselbe ihre Wirkung 
an massgebender Stelle nicht verfehlen, und dass sie diese Wirkung 
nicht verfehlt hat, zeigt nicht nur die bekannte Ministerial-Ver¬ 
fügung, durch welche die bakteriologische Diagnose der ersten 
Cholerafälle den hygienischen Instituten übertragen ist, sondern 
auch die jüngst in der politischen Presse und im Abgeordneten¬ 
hause laut gewordenen Ansichten über die ungenügende Vorbildung 
der Medizinalbeamteu. Es soll nicht bestritten werden, dass hier 
und da Ungeschicklichkeiten vorgekommen sind, welche jene Ver¬ 
fügung für einzelne Bezirke als vorläufig augezeigt erscheinen 
liess. Aber warum denn allen Medizinal - Beamten das Recht der 
bakteriologischen Diagnose zu beschneiden, obwohl sich eine grosse 
Anzahl derselben in dieser Hinsicht als durchaus zuverlässig be¬ 
währt hat? Streng genommen, hätte man dann auch den hygieni¬ 
schen Universitäts - Instituten die Untersuchungen nicht belassen 
sollen, nachdem eines derselben seiner Zeit nicht im Stande ge¬ 
wesen ist, Cholerabazillen aufzufinden, wo solche vorhanden waren. 
Und wenn ferner die Nothwendigkeit vorlag, eine grössere Anzahl 
bakteriologisch ausgebildeter Kreisphysiker in jedem Regierungs¬ 
bezirke zu haben, warum hat man dann nicht, nachdem die Gefahr 
der Cholera verschwunden und die Kreisphysiker wieder abkömmlich 
waren, diesen Gelegenheit gegeben, sicli die nöthigen bakterio¬ 
logischen Kenntnisse zu verschaffen ? Dazu genügen allerdings keine 
Kurse von 3 Tagen, sondern solche von mindestens 30 Tagen! Von 
Koch ist in den diesjährigen Cholerakursen bei Darlegung seiner 
epidemiologischen Ansichten und seiner Methoden besonders klar 
und häufig betont, dass man in möglichst ununterbrochener 



Die Cholerakurse und die augebliche Unzulänglichkeit der Kreisphysiker. 373 


praktischer Uebung der Methoden bleiben müsse, wenn man sich 
an eine Choleradiaguose heran wagen wolle. Eine Choleradiag¬ 
nose musste nach Koch’s Darlegungen demjenigen, der erst in 
die Bakteriologie hätte eintreten wollen, geradezu als ein auserordent- 
lich schwieriges Wagniss erscheinen. Und doch scheint es Koch gar 
nicht sehr ernst damit zu sein, die Kreis -Physiker zu diesem an¬ 
scheinenden Wagniss zu befähigen, denn seinem Einflüsse wäre 
es ein leichtes gewesen, den Physikern statt dreitägiger Kurse 
solche von längerer Dauer zu verschaffen. Stattdessen scheint 
es, als seien die Physiker gerade durch die Stellung, 
welche Koch in Frage der Medizinalreform genommen 
hat, kalt gestellt worden. Es klang wie bittere Ironie, als 
Koch einem Physikus, welcher ihn, behufs Fortübung der bakte¬ 
riologischen Methoden, um eine Cholerakultur bat, die Antwort 
gab, er sei dazu nicht berechtigt, hierzu bedürfe es einer Eingabe 
des Physikus an den Herrn Minister. Dagegen erhielten die Theil- 
nehiuer an den Petri’sehen Kursen im Reichs - Gesundheitsamte 
direkte Vorschriften für den Transport der Kulturen, die sie mit¬ 
nehmen wollten. 

Besonders betonte Koch, die Physiker hätten bakteriologisch 
zu langsam gearbeitet. Dieser Tadel ist, von vielleicht sehr 
wenigen Ausnahmen abgesehen, unberechtigt. Vor Allem, weil 
Koch selbst nunmehr ganz anders die Methoden anwendet, als 
zur Zeit, wo er seine Methoden publizirte. Koch hat aber 
bis vor Kurzem weder selbst noch durch seine Assistenten auch nur 
eine Zeile über diejenige Modifikationen in die Oeffentlichkeit ge¬ 
bracht, welche seine Methoden in seinem Laboratorium erfahren 
haben. Er hatte Nichts publizirt über den Werth, welchen er der 
Cholerarothreaktion beimisst, hatte nicht gesagt, dass man sehr oft 
auf Stichkultur verzichten kann. Wenn andere Bakteriologen hier¬ 
über sich in diesem Sinne aussprachen, so war dies eben bedeutungs¬ 
los, so lange ihre Vorschläge nicht von Koch gleichsam öffentlich 
sanktionii t waren. Besonders aber der Medizinalbeamte war bei der 
grossen Tragweite der Sache gezwungen, erst dann von Cholera zu 
sprechen, wenn er Alles beisammen hatte, was von Koch 
als zur Charakteristik des Cholerabakteriums gehörig bezeichnet 
worden war. Hatte doch Koch z. Z. die Stichkultur geradezu als 
experimentum crucis für die Diagnose bezeichnet. Dass Finkler- 
Prior nur ein Gespeust, nicht ein wirklicher Konkurrent bei 
der Diagnose der Cholera ist, war, als die Arbeiten erschienen, 
welche Koch selbst veröffentlichte, mindestens nicht erwiesen. Wenn 
also Physiker langsamer arbeiteten als Koch, so folgt daraus noch 
lange nicht, sie hätten berechtigten Erwartungen nicht entsprochen. 
Sie entbehrten viel mehr der schnelleren Methoden, über welche 
Koch und sein Stab verfügte, weil Koch bis dahin seine Zu¬ 
stimmung zur Aenderung der Methoden nicht veröffentlicht hatte. 
Ohne die autoritative Zustimmung Koch’s mussten sie jede Ab¬ 
weichung von seinen alten Methoden einem crimen laesae majes- 
tatis gleichschätzen. 

Es kann allerdings Vorkommen, dass Physiker zu langsam 



374 


Aus Versammlungen und Vereinen. 


arbeiten. Daran tragen aber nicht die Physiker die Schuld. Wer 
gezwungen ist, den ganzen Tag des lieben Brodes willen seinem 
ärztlichen Berufe nachzugehen, bei Sturm und Wetter über Land 
zu fahren, der kann nicht so ruhig und schnell bakteriologische 
Untersuchungen vornehmen, als dies einem von jeder Praxis unab¬ 
hängigen, nur seinen amtlichen Verpflichtungen sich widmenden 
Mediziner in einem mit allen Hülfsmitteln ausgerüsteten hygienischen 
Institute möglich ist. Die Schwierigkeiten, welche die Verbin¬ 
dung von Amt und Praxis mit sich bringt, scheint Koch, der 
doch selbst einmal Physikus war, entweder ausnahmsweise nicht 
gekannt oder vergessen zu haben. Koch durfte also vom Physikus 
nicht das erwarten, was er erwartet hatte. Haben die Physiker 
aber dennoch alles geleistet, was sie bei ihrer jetzigen Stellung 
überhaupt leisten konnten, so verdient dies besondere Anerkennung. 
Der Tadel, welchen Koch ausspricht, ist ein unverdienter! 

Soll der Physikus das leisten, was man von ihm berechtigter 
Weise im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege verlangen 
muss, so bedarf es vor Allem erst einer vollständigen Umwandlung 
seiner amtlichen Stellung, nicht nur in Bezug auf Gehalt und 
Pension, sondern auch in Bezug auf amtliche Befugnisse. 

Nach dieser Richtung sollte Koch an massgebender Stelle 
allen seinen Einfluss aufbieten, anstatt dass er die Physiker durch 
den ihnen gemachten Vorwurf herabsetzt, ihre Autorität schädigt 
und ihre an und für sich schon hinreichend schwierige Stellung 
nur noch schwieriger macht! 


Aus Versammlungen und Vereinen. 

Bericht über die vom 85.-28. Hui d. .F. in Würzburx stntt- 
xehabte XVIII. Versammlung; des Deutschen Vercius für 
öffentliche Gesundheitspflege. 

Dritter Tag. 

IV. Vorbengungsraassregeln gegen Wasser Vergeudung. 

H. Wasser werkdircktor Kümmel (Altona): Die meisten Wasserwerke 
erleiden grosse Verluste theils durch Undichtigkeit oder Brüche der Leitungen, 
besonders wenn diese Schäden längere Zeit unbemerkt bleiben, theils durch 
Sorglosigkeit und Missbrauch der Abnehmer. Durch eine derartige Vergeudung 
wird nicht nur die Wasserversorgung, namentlich bei knappem Wasserzufluss 
gefährdet, sondere auch in vielen Fällen der Preis des Wassers erhöht und um 
so mehr liegt es im öffentlichen Interesse, derselben vorzubeugen. Der grösste 
Bedarf an Wasser und in Folge dessen auch die grösste Wasservergeudung 
findet bei den Privatabnehmern statt. Der Wasserkonsum für öffentliche Zwecke 
(Strassenbesprengung, Bedürfnissanstalten, Spülung von Kanälen, Springbrunnen 
u. s. w.) ist im Allgemeinen gar nicht so bedeutend, wie vielfach angenommen 
wird; er beträgt z. B. in Berlin nur 9*/ 4 °/„, in Dresden 8,0°/„, in Stettin 6,0°/ 0 , 
in Breslau 5'/» °/ 0 , in Düsseldorf 5,0°/ 0 , in Hannover sogar nur 2'/»°/o, während 
er sich in Süddeutsch land in Folge der dort üblichen ununterbrochen laufenden 
Brunnen wesentlich höher stellt (in Würzburg auf 28,0 °/ 0 , in Nürnberg auf 
20,0 °/„, iu Karlsruhe auf 25,0 °/ 0 , in München auf 20 °/ 0 ). Jedenfalls ist es Pflicht 
der Wasserwerke, die häuslichen Wasseraulagen einer ausgiebigen Koutrole zu 
unterziehen und da erfahrungsgeinäss die Wasservergeudung dort am grössten 



Aas Versammlungen and Vereinen. 


375 


ist, wo das Wasser auf Grund einer Schätzung den Abnehmern nach dem freien 
Ermessen geliefert wird, so empfiehlt es sich dringend, statt dieses Verfahrens 
die Lieferung nach Maass einzuführen. Die vom Standpunkte der Gesundheits¬ 
pflege aus gegen die Hebung der Wassermesser zu erhebenden Bedenken wegen 
der hierdurch möglicherweise herbeigeführten Beschränkung des Wasser¬ 
verbrauches können nicht ausschlaggebend sein, lassen sich auch im Wesentlichen 
beseitigen durch die Feststellung eines unter allen Umständen zu bezahlenden 
Mindestverbrauches, der nach einem Erfahrungssatze zu ermitteln und als feste 
Wasserabgabe ohne Rücksicht auf den wirklichen Verbrauch zu erheben sein 
würde. Redner selbst hält allerdings eine derartige Bestimmung für unnöthig, 
gestützt auf seine Erfahrungen in Altona, wo sich die Einführung des Mindest¬ 
verbrauches nicht bewährt hat und daher wieder aufgegeben ist. 

Eine nicht minder wichtige Vorbeugungsmassregel gegen Wasservergeudung 
ist die fortwährende sorgfältige technische Ueberwachung des Wasserleitungs¬ 
netzes mit Rücksicht auf etwaige Undichtigkeiten. Lecke Stellen, mangelhaft 
schliessende Hähne der Zapfstellen bleiben in den Zweigleitungen der Privathäuser 
oft monatelang unentdeckt oder werden nicht rechtzeitig reparirt; bedenkt man 
jedoch, dass ein undichter, fortwährend tröpfelnder Wasserhahn sehr leicht bis 
700 Liter Wasser in 24 Stunden ausfliessen lassen kann, so kann man daraus 
einen Schluss ziehen, welche enorme Wassermengen durch derartige Undichtig¬ 
keiten täglich verloren gehen können. Von jeher ist es daher das Bestreben 
der Techniker gewesen, Apparate zu konstruiren, durch welche die Aufspürung 
von Wasserverlüsten ermöglicht wird. Dahin gehört z. B. der schon in den 
siebziger Jahren von dem Direktor der Wasserwerke in Liverpool Deacon selbst¬ 
tätig registrirender Distriktswassermesser, mit dem recht gute Erfolge erzielt 
sind. Ein bewährtes Mittel zur Entdeckung von Wasserverlusten durch Leck¬ 
stellen ist ferner der 0 e s t e n ’ sehe Verlustanzeiger, der ausserdem den Vortheil 
hat, dass er leicht und bequem zu handhaben ist; der Meldeapparat desselben 
kann z. B. auf dem Schreibtisch des Hausbesitzers angebracht werden. Auch 
der Vortragende hat einen derartigen Apparat „Hydrophon“ 1 ) konstruirt, der 
auf dem Prinzip des Telephons beruht. Setzt man denselben mittelst eines 
Hörstabes auf den Strassenhahn des Grundstückes, nachdem man diesen bis auf 
einen schmalen Spalt geschlossen hat, so kann man besonders in stiller Nacht 
sehr genau jedes Tröpfeln oder Rieseln des Wassers, das durch irgend eine 
Leckstelle bedingt ist, hören. 

In der Diskussion verlangt Reg.- und Med.-Rath Dr. Wernich 
(Berlin) staatliche Kontrole der Wasserwerke, besonders auch mit Rücksicht auf 
die Wasserentnahme, damit den Abnehmern nur vorzügliches Wasser geliefert 
wird. Von verschiedenen anderen Rednern werden die von dem Referenten 
vertretenen Grundsätze anerkannt und gleichzeitig einzelne Mittheilungen über 
den Wasserkonsum aus anderen Städten gemacht. Als ausreichenden Wasser¬ 
verbrauch bezeichnete der Vortragende 40 Liter pro Kopf und Tag in kleinen 
Haushaltungen, 80 Liter in grösseren und wohlhabenden; übersteige der Durch- 
schnittsverbrauch 100 Liter pro Kopf, so sei die Vermuthang einer Vergeudung 
berechtigt. Grosser Wasserverbrauch in der Nacht lasse stets auf Undichtigkeit 
im Wasserleitungsnetz schliessen. 

V. Die Verwendung des wegen seines Aussehens oder in gesundheit¬ 
licher Hinsicht zu beanstandenden Fleisches, einschliesslich der Kadaver 
kranker getödteter oder gefallener Thiere. 

Herr Oberregierungsrath Dr. Ly dt in (Karlsruhe): Die Erhaltung der 
beträchtlichen Menge des minderwerthigen und von kranken Thieren herrühren¬ 
den, aber nicht gesundheitsschädlichen Fleisches ist im nationalökonomischen 
Interesse nothwendig, denn ein vollständiges Ausschliessen derartigen Fleisches 
vom menschlichen Genüsse würde nicht nur eine schwere Vermögensschädigung 
der Fleischproduzenten, sondern auch für weite Schichten der Bevölkerung fast 
eine Fleischentziehung zur Folge haben. Andererseits ist es aber im Interesse 
und zum Schutze aller derjenigen, die nur völlig tadelloses Fleisch geniessen 
wollen oder mit Rücksicht auf ihre Gesundheit geniessen müssen (Kinder, Wöch¬ 
nerinnen, Kranke, Rekonvaleszenten, Schwächlinge n. s. w.), angezeigt, dass 


') Der Apparat wird von dem Mechanikus J. Paris in Altona verfertigt. 



376 


Aus Versammlungen und Vereinen. 


das Feilhalten und der Verkauf des nach Herkunft und Beschaffenheit uu- 
tadelhaften Speisefleisches von dem Feilhalteu und Verkaufe des diese Eigen¬ 
schaft nicht besitzenden, aber zum menschlichen Genüsse noch geeigneten Fleisches 
streng gesondert wird, was nach Ansicht des Redners nur durch Einrichtung 
von sog. „Freibänkc“, erreicht wird, in denen alles nicht bankmässigeFleisch 
unter Bekanntgabe der Herkunft und der Beschaffenheit feilgehalten und ver¬ 
kauft werden muss. Das Feilhalten derartigen Fleisches im rohen Zustande 
darf an der Freibank jedoch nur durch Polizeiorgane oder durch den Eigen¬ 
tümer des Fleisches oder dessen Vertreter unter behördlicher Aufsicht statt¬ 
finden; Metzger, Wurstler, Fleischwaarenlabrikanten oder -Händler, Gastwirthe 
oder Kostgeber dürfen ausserdem derartiges Fleisch nur dann zum Hausgebrauche 
oder zur Abgabe au Andere verwenden, wenn sie dies durch leicht sichtbaren 
Anschlag in den Geschäftsräumen ihren Kunden bekannt geben. Lässt sich in 
grösseren Kommunen eine derartige Ueberwachung des Verkehrs mit solchem 
Fleische nicht durchführen, so empfiehlt Redner, dasselbe unter polizeilicher 
Aufsicht im Schlachthofe abzukochen und nur in abgekochtem Zustande auf der 
Freibank zum Verkauf bringen zu lassen oder in volkreichen Städten kommunale 
Speiseanstalten einzurichten, in denen das Fleisch unmittelbar an die Konsu¬ 
menten als fertig zubereitetes Speisefleisch abgegeben wird. 

Auch das zum menschlichen Genuss an sich ungeeignete Fleisch kann, 
soweit dies nach den gesetzlichen Bestimmungen zulässig ist, zum Theil als 
Speisefleisch gebrauchsfähig gemacht werden, indem ihm durch eine entsprechende 
Zubereitung etwaige Eigenschaften der Gesundheitsschädlichkeit, Verderbniss und 
des Ekelerregens genommen werden. Dies geschieht am zweckmässigsten durch 
Sterilisirung des Fleisches in geeigneten Dampfkocbapparaten, wie solche von 
Rohrbeck und Henneberg konstruirt sind, in denen selbst grosse Fleisch¬ 
stücke auch im Innern bis 90° Celsius erhitzt werden. Bei einer derartigen 
Verwerthung des Fleisches ist gleichfalls die strengste polizeiliche Kontrole noth- 
wendig; das Abkochen des Fleisches sollte nur in Schlachthäusern geschehen, 
der Verkauf darf selbstverständlich nur unter Bekanntgabe der Herkunft und 
der früheren Beschaffenheit auf der Freibank stattfinden. 

Alles andere für den menschlichen Genuss unverwendbare, gesundheits¬ 
schädliche Fleisch ist behördlicherseits als Speisewaare in geeigneter Weise 
(durch Petroleum, Verbrennung, technische Verarbeitung u. s. w.) unbrauchbar 
zu machen und nur die Verwendung von solchen Theilen zu gestatten, die un¬ 
schädlich sind (wie Klauen, Hörner, Häute u. s. w.), oder durch Kochen oder 
auf einem anderen Wege .ansgezogen sind. 

Die Kontrole des aus den gewerbsmässigen Schlachtungen hervorgehenden 
Fleisches beseitigt aber keineswegs sämmtliche Gefahren, die der Genuss des 
Fleisches der mit Infektionskrankheiten behafteten Thiere mit sich bringt; im 
Gegentheil durch diese Kontrole wird nur der kleinere und minder gefährliche 
TheU des zum menschlichen Genüsse weniger oder nicht geeigneten Fleisches getrof¬ 
fen, während der grössere Theil desselben, der namentlich aus dcu nothgeschlach- 
teteu oder umgestandenen Thieren herrührt und in vielen Gegenden 
des Reiches zur freien Verfügung des Besitzers und unkontrolirt bleibt, nach- 
gewiesenermassen für die menschliche Gesundheit viel gefährlicher als jener ist. 
Um so nothwendiger ist daher auch hier ein polizeiliches Eingreifen und zwar 
nach Massgabe der folgenden Grundsätze: Von dem Nothschlachten oder dem 
Umstehen eines Thieres muss die Ortspolizeibehörde sofort benachrichtigt werden 
und in allen Fällen eine thierärztliche Besichtigung anordneu, in denen es die 
rciclis- oder landesseuchengesetzlichen Bestimmungen vorschreiben oder in denen 
das nothgeschlachtete Thier mit einer infektiösen Krankheit behaftet oder der¬ 
selben verdächtig war oder das Fleisch desselben im rohen Zustand in Verkehr 
gebracht oder auch zubereitet als Speisefleisch abgegeben werden soll, soweit 
letzteres überhaupt nach den vorher aufgestellten Grundsätzen statthaft ist. Im 
Uebrigeu sind die Kadaver nothgeschlachteter oder umgestandener Thiere so 
schnell als möglich (innerhalb 24—48 Stunden) nach einem von den menschlichen 
Wohnungen wie von dem Aufenthalt von Thieren möglichst entfernt liegenden 
Orte in unschädlicher Weise fortzuschaffen oder durch ein die Belästigung der 
Hausbewohner und der Nachbarschaft ausschliessendes Verfahren zu verarbeiten. 
Das Liegenlassen von Kadavern auf Strassen, öffentlichen Plätzen, auf dem 
freien Felde oder im Walde, sowie das Einwerfen solcher Gegenstände in Ge¬ 
wässer ist, weil in hohem Grade belästigend und gefährlich, mit Strafe zu be- 



Ans Versammlungen und Vereinen. 


377 


drohen; auch das Einwerfen von Kadarcrtheilen und Blut in öffentliche Gewässer 
zu Fischereizwecken ist nur mit polizeilicher Genehmigung zu gestatten. 

Am besten haben sich zur unschädlichen und nicht belästigenden Beseitigung 
von Thierkadavern oder Kadavertheilen kommunale Abdeckereien unter 
Leitung von öffentlich bestellten Waseumeistern bewährt, denen die Beseitigung 
der Kadaver bezw. ihre Verarbeitung obliegt. Die Einrichtung derartiger 
Anstalten liegt im Interesse sowohl der Thierbesitzer als der Gemeinden; nur 
für kleinere Gemeinden in dünn bevölkerten Landstrichen lässt sich die Ver¬ 
scharrung des gefallenen Viehes in der bisherigen Weise an einem geeig¬ 
neten Feld- oder Waldstücke (Wasenplatze) noch rechtfertigen. Die Anlage 
von Wasenplätzen ist jedoch sanitätspolizeilicher Begutachtung hinsicht¬ 
lich der Lage, der Bodenbeschaffenheit, der Entfernung von menschlichen Woh¬ 
nungen, Stallungen und Weiden, des Vorhandenseins von ober- und unter¬ 
irdischen Wasserläufen, des Abflusses der Meteor- und Ablaufwasser, der Grösse, 
der Einfriedigung, der Verwerthung der Pflanzenpro lukte auf denselben zu 
unterstellen. Auch die Tiefe der Verscharrung (mindestens 1,50 m), die Zeit, 
wann eine Grube wieder aufgedeckt und ihr Inhalt entnommen werden darf 
(mindestens 10 Jahre) ist polizeilich genau festzusetzen. Zweckmässig erscheint 
es ferner, auf dem Wasenplatze eine Einrichtung herzustellen, um Thicre ab- 
häuteu, ausnehmen oder seziren zu können. 

Das Verbrennen ganzer Thierkadaver ist in verseuchten Bezirken aller¬ 
dings dringend erwünscht, verursacht aber sehr erhebliche Kosten und gewährt 
ausserdem keine Ausnutzung des Kadavers. Empfehlenswert sind dagegen zur 
unschädlichen Beseitigung der Kadaver, der Schlachtabfälle und des als Speise- 
waare ungeeigneten Fleisches solche Anstalten, die gewisse werthvolle Stoffe 
aus den Kadavern (z. B. Fett finniger nnd trichinöser Schweine) ausziehen, und 
mit Ausschluss der nicht anderweitig verwendeten Kadavertheile (nämlich Haut, 
Knochen, Klauen, Hörner, Haare, Hufe), oder auch diese mit, wenn es sich um 
Kadaver milzkranker, rauschbrandkranker Thiere handelt, zu unschädlichen, 
landwirtschaftlich oder industriell verwertbaren, als Speisewaare aber nicht 
mehr tauglichen Stoffen, z. B. Dungpulver u. s. w., verarbeiten. Nur auf chemi¬ 
schem oder thermischem Wege unschädlich gemachte und aus dem Fleische 
gewonnene Produkte dürfen von diesen Anstalten, den Besitzern oder Beauf¬ 
tragten in Verkehr gebracht werden. Dieselben müssen mit Apparaten aus 
gestattet sein, welche die zugeführten Thierleichen alsbald zu verarbeiten ver¬ 
mögen, infektiöse Kadaver, nötigenfalls unzerlegt, und Fleischstücke sicher 
sterilisiren, weder übelriechende Gase oder Dämpfe in die Luft, noch übel- 
riccheude oder sonst schädliche Flüssigkeiten in den Boden oder in die Wasser¬ 
läufe entweichen lassen und in möglichst kurzer Zeit bei dem geringst möglichen 
Aufwand von Betriebsmitteln den höchsten Ertrag an verwertbaren Stoffen 
liefern. Als einen sehr zu empfehlenden Apparat bezeichnet Redner den 
Delacroix’schen Desinfektor, in Deutschland unter dem Namen „Kafill-Des¬ 
infektor“ von der Firma Rohrbeck-Henneberg eingeführt. Der Apparat 
entspricht allen Anforderungen nnd die Verwendung bezw. Verwerthung der von 
ihm gelieferten Abfallsprodukte ist meist eine so günstige, dass der Apparat 
keine Unkosten verursacht, sondern im Gegenteil rentirt. Auch auf «lern 
platten Lande lassen sich solche Anstalten mit Vortheil für mehrere Ortschaften 
gemeinschaftlich cinrichten. Wünschenswert ist es, künftighin die Konzession 
für die Errichtung einer Abdeckerei nur daran zu kuüpfen, dass der Betrieb 
vorstehenden Forderungen entspricht; andererseits ist die Zahl der Abdeckereien 
nicht ohne dringende Gründe zu vermehren und den gedachten Anstalten die 
Verarbeitung der Schlachthofabfälle und dos beschlagnahmten Fleisches zu über¬ 
weisen, damit sic ertragsfähig bleiben und von ihreu Besitzern ordnnngsmässig 
geleitet werden. 

Zum Schluss seines Vortrages empfiehlt Redner noch die allgemeine Ver¬ 
sicherung der Hausthierbestände gegen Verluste durch Krankheiten und 
Unglucksfälle, wie sie seit Knrzem in Baden eingeführt ist, da diese Massregel 
die unschädliche Verwendung des minderwertigen, sowie des von kranken 
Thicren herrührenden, für den menschlichen Genuss geeigneten und ungeeigneten 
Fleisches erleichtert. Die Prämie derartiger Viehversicherungen darf nicht zu 
hoch bemessen sein, um thunlichst allen Viehbesitzern den Beitritt zu ermög¬ 
lichen; erforderlichen Falls ist eine staatliche Unterstützung za gewähren, die 
sich durchaus rechtfertigen lässt mit Rücksicht darauf, dass die Versicherung 



378 


Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften. 


wesentlich dazu beiträgt, die der menschliche Gesundheit durch den Genuss schäd¬ 
lichen Fleisches drohenden Gefahren zu verhüten. 

In der Diskussion erklärten Dr. Rohrbeck und Fabrikant Henne- 
berg (Berlin) die von ihnen konstrnirten Apparate an der Hand von Zeich¬ 
nungen und unter Vorlegung von Proben der mit den Apparaten erzielten 
Produkte. Rechtsrath Küntzer (München) sprach sich zu Gunsten des Pode- 
wils’sehen Verfahrens aus, das iu Augsburg und München eingeführt ist und 
sich recht gnt bewährt haben soll. 

Auf Antrag des Oberbürgermeisters Dr. Steidle (Würzbnrg) wurden so¬ 
dann folgende Resolutionen einstimmig an.enommen: 

1. „Es ist wünschenswerth, dass die Errichtung einer Abdeckerei iu Zu¬ 
kunft von der Ausstattung derselben mit Apparaten abhängig gemacht wird, 
welche die bisherigen Benachtheiligungeu, Belästigungen und Gefahren des Ab¬ 
deckereibetriebes thnnlichst verhüten. 

2. Behufs Fernhaltung gesundheitsschädlichen und verderblichen Fleisches 
von dem Speisemarkt und behufs Förderung der unschädlichen Verwerthung 
alles übrigen Fleisches ist die-allgemeine und obligatorische Viehversicherung 
dringend zu empfehlen.“ 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Laboratoriumscholera, beobachtet und mit dem modiflzirten 
Lickfett’schen Verf ihren in 6 Stunden bakteriologisch diagnostizirt. Von 
Oberarzt Kreisphysikus Dr. Freymuth und Dr. Lickfett. Deutsche mediz. 
Wochenschrift Nr. 19. 

Der oben erwähnte Fall von Laboratoriumscholera bietet ein doppeltes 
Interesse, indem er einmal in den vielen Jahren, seitdem allerorten mit den 
Kommabazillen bakteriologisch gearbeitet wird, der zweite innerhalb 6—7 Jahren 
ist, bei welchem Unvorsichtigkeit bei der Arbeit zu einer Erkrankung führte, 
sodann, indem er eine erst« glänzende Probe für den Werth des von Lickfett 
in Nr. 45 Jahrgang 1892 der Deutschen medizinischen Wochenschrift beschriebe¬ 
nen Verfahrens mit den Miniaturplatten in der Praxis ist. 

Der 20jährige, völlig gesunde Laboratoriumsdiener Kutschkowski 
erkrankte am 11. April d. J., nachdem er einige Tage Magenschmerzen und 
Appetitlosigkeit gehabt hatte, mit ziemlich heftiger Diarrhoe. Der Erkrankte 
war bei allen Arbeiten mit Cholerakulturen, beim Reinigen der Platten, 
Reagenzgläser etc. beschäftigt gewesen; die erforderlichen Vorsichtsmassregeln 
waren ihm eingeschärft und wurden von dem intelligenten Menschen stets pünkt¬ 
lich befolgt, nur einmal, am 7. oder 8. April hatte er Dr. Lickfett Platten 
von verschiedenen Nährböden bereiten helfen und scheint hierbei die Vorsichts¬ 
massregeln ausser Acht gelassen zu haben. Um 10 Uhr, während einer Pause, 
war er eilig und hatte sich nicht die Hände gewaschen, strich eine Semmel, ass 
dieselbe und ging dann wieder in’s Laboratorium, um das Fehlende dort fertig 
zu machen, zum Mittagessen hatte er sich die Hände gewaschen. In den 
nächsten Tagen bemerkte er keinerlei Unbehagen; am dritten Tage stellten sich 
eigenartige Schmerzen in der Höhe des Nabels, Appetitlosigkeit, starker Durst 
ein, aber keine Durchfälle. Am 10. April, während der Nachtwache, bekam K. 
von 10 Uhr Abends an Frost, Kollern im Leibe und Aufstossen. Den 11. April, 
gegen 3 Uhr Morgens, traten Leibscbmerzen und anhaltendes Kollern mit Auf¬ 
stossen, Schwäche in den Beinen und Schwindel auf, von Morgens 6—8 Uhr 
vier Mal flüssiger Stuhl. Nach Darreichung von 8 Tropfen Opium leichte Besse¬ 
rung; gegen Abend wieder Verschlimmerung, es machte sich starke Neigung 
zum Erbrechen, Frost und vollständiges Unbehagen geltend, am Abend noch 
zwei Mal flüssiger Stuhl. Am 12. April Vormittags meldete sich K. krank, er 
hatte an diesem Tage noch 5, am 13. Vormittags 2 diarrhöische Stühle; Nach¬ 
mittags erhielt er 0,5 g Calomel und hatte darauf bis zum 14. Nachmittags noch 
acht Mal Durchfall. Am 15. April war der Anfall als beendet zu betrachten, 
der Stuhl wurde dickbreiig und vom 16. Abends an fest. Die Körpertemperatur 
schwankte während der Krankheit zwischen 36,4° und 37,2° C. Erbrechen trat 
nur einmal und zwar am 12. unmittelbar nach einer Dosis von 15 Tropfen 



Kleinere Mittheilungen und Referate aas Zeitschriften. 379 

Opiam auf. Wadenkrämpfe, Harnverhaltung und Albuminurie * wurden nicht 
beobachtet. 

Mit Rücksicht auf die, das Erkranken K. begleitenden Umstände lag es 
nahe, an eine Infektion mit Kommabazillen, an eine Laboratorinmscholera zu 
denken. Von dem Stuhl wurde am 12. Vormittags, nach der Krankmeldnng, 
ein gefärbtes Deckglaspräparat angefertigt: dasselbe enthielt mit Zeiss */,„ 
Okular 2 untersucht, zahlreiche Kommabazillen, 5 Formen in Spirillen von sehr 
verschiedener Dicke, daneben zahlreiche Kokken und gerade Stäbchen. 

Der Stuhl wurde nunmehr nach dem folgenden Verfahren untersucht: 
Einige Reagenzgläser, gefüllt mit einem Nährboden, der hergestellt ist aus 
500 ccm. Koch'scher Bouillon, 12 ccm Glycerinum purissim., 12 g Agar-Agar 
und 30 g Gelatine, kommen zum Schmelzen der starren Masse in Wasser, welches 
zum Kochen erhitzt wird. Nunmehr wird der heisse Inhalt eines dieser Gläser 
vermittelst einer sterilen Pinzette auf einer Anzahl in der Flamme sterilisirter 
Objektträger in der Weise ausgebreitet, dass überall ein ziemlich breiter, freier 
Rand bleibt, während die erstarrende Masse sich durch mehrfaches Ueberschichten 
zu einer Platte von 1—1'/* mm Dicke gestaltet. Diese Nährbodenplatte dient 
zum Beet für die jetzt folgende Aussaat der Fäces. Ein Glas mit verflüssigtem 
Nährboden wird im Wasserbade auf 45—46° C. abgekühlt und dieses sodann 
mit 2 Oesen Fäces innig gemischt. Neben ihm im Wasserbade steht ein zweites 
Glas mit sterilem Wasser, in welches ein steriler Pinsel taucht, hergestellt aus 
dicken Seidenfäden von ca. 1 */* cm Länge, an einem Holzstiele. Diesen Pinsel 
taucht man in die Nährbodenfäcesmischung, streicht an der Wand des Glases 
den Ueberschuss an aufgeuommenen Material ab und überstreicht damit das 
jetzt abgekühlte Objektträgerbeet möglichst zart, um Schrammen zu vermeiden. 
Die Platte ist nun fertig. Mit beliebig verstärkter oder verdünnter Original¬ 
mischung kann man bei Beachtuug der erforderlichen Temperatur von 45° C. 
verschiedene Platten anlegen. Jede Platte kommt einzeln in eine feuchte 
Kammer, wozu eine Petri'sehe Doppelschale dienen kann; die Schale wird der 
Brutwärme 38—39° C. ausgesetzt. Im vorliegenden Fall wurde eine der um 
1 Uhr Mittags in den Brutschrank gestellten Platten um 6 1 /* Uhr Abends 
mikroskopisch untersucht; bei Z e i s s A A, Okular 2 erschienen auf der Platte, 
die makroskopisch wie ganz fein bestäubt aussah, zahlreiche Kolonien von ver¬ 
schiedener Grösse und Färbung. Ihr scheinbarer Durchmesser variirte zwischen 
V* und 2 mm, die Farbe zwischen einem glänzenden hellen Stahlblau und einem 
stumpfen Braun. Aus diesen blauen Kolonien wird mit der modifizirten Unna- 
Ze iss'sehen Baktcrienharpune ein cylinderischer Pfropf losgelöst, herausgefördert 
und zwischen zwei Deckgläschen zerdrückt, wie ein wenig verrieben. Nach dem 
Abheben werden beide Deckgläser lufttrocken gemacht, durch die Flamme ge¬ 
zogen und mit frisch filtrirtem Anilinwasser gentianaviolett gefärbt. Unter der 
Immersion zeigte sich eine Reinkultur von Kommabazillen. Dass ausserdem 
noch Koutrolvcrsuche mit Koch'sehen Gelatineplatten, wie Versuche mit dem 
Stuhlgang Gesunder unternommen wurden, bedarf wohl kaum der Erwähnung 
uud ist das Original dieserhalb einzuschen. 

Bis zum 30. April wurden mit dem Stuhle des K. täglich Platten gefertigt; 
am 1(5. lieferten dieselben zum letzten Male Kommabazillen. Der sanitätspolizei¬ 
liche Werth des oben beschriebenen Verfahrens von Freymuth und Lickfett 
leuchtet sofort ein; in dem vorliegenden Falle wurden bereits 6 Stunden nach 
erfolgter Krankmeldung die erforderlichen Isolirungs- und Desinfektionsmass- 
regcln ergriffen! Dr. Dtttschke-Aurich. 


Zur Desinfektion der Choleraausleerungen. Von Dr. C. Eykmanu 
in Batavia. Deutsche medizinische Wochenschrift; 1893, Nr. 25. 

Der Verfasser wendet sich in dem oben angeführten Artikel gegen die 
Zweckmässigkeit und praktische Verwcrthbarkeit der von Prof. Pfuhl angege¬ 
benen Desinfektion der (Jholeraausleeruugen durch Kalkmilch. Zur Zeit der 
vorjährigen Choleraepidemie in Hamburg erschien in den holländischen Zeitungen 
eine Warnung von Prof. Pekelharing aus Utrecht, wie mitgetheilt wurde, 
dass Dr. Eykmann in Batavia bei seinen Untersuchungen über Cholera die 
Kalkmilch als ein sehr schlechtes Desinfektionsmittel für frische Abgänge von 
Cholerakrankeu erkannt hätte. Nach Dr. Eykmann gelten die Resultate, die 
man in Europa mit Kalkmilch bekommen, nur für künstlich kultivirte Komma- 



880 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


bazillcn, dagegen nicht für die aus dem menschlichen Körper entleerten. Da 
diese Veröffentlichungen in manchen Kreisen Unsicherheit bervorriefen, wurdeu 
von Prof. Pfuhl, um jeden Zweifel endgültig zu beseitigen, neue Versuche 
über die Wirksamkeit der Kalkmilch an wirklich frischem Darminhalt von Cho¬ 
lerakranken angestcllt, der reichlich lebende Cholerabazillen enthielt. Ueber die 
drei Versuche wurde in Nr. 39 der Deutschen mediz. Wochenschrift 1892 be¬ 
richtet und festgestellt, dass es zur wirksamen Desinfektion der Cholerastühle 
genügt, wie dies auch in der vom Prcuss. Kultusministerium ausgearbeiteten 
„Anweisung zur Ausführung der Desinfektion bei Cholera“ angegeben ist, wenn 
die gleiche Menge Kalkmilch') dem Darminhalt zugesetzt, einfach gemischt 
und 1 Stunde stehen gelassen wird. 

Aus dieser erforderlichen einstündigen Einwirkung der Kalkmilch auf die 
Choleraentleerungen zieht Eykmann den Schluss, dass dieses Desinficiens nicht 
schnell und energisch wirkt uud dass in der Praxis nur zu oft gegen diese Vor¬ 
schrift gesündigt werdeu wird. Man solle sich nur den gar nicht seltenen Fall 
denken, dasH ein Cholcrakranker innerhalb einiger Stunden zehn und mehrere 
Male defäcirt. Da müsste mau, strikte genommen, eine stattliche Anzahl von 
Gefässen bereit halten, um jedesmal die frischen Ausleerungen mit Kalkmilch 
tüchtig vermischen zu können und es gehörte die peinlichste Sorgfalt dazu, um 
zu verhüten, dass einmal ein Gefäss zu früh entleert würde. Denn es wäre 
nicht statthaft, die successiven Abgänge in demselben Gefässo aufzufangen und 
nur jedesmal eine neue Portion Kalkmileh nachzutragen. Das würde auf eine 
Verdünnung des Desinficiens hinauslaufen, weil ja die schon während einiger 
Zeit stehengebliebene Mischung kaum noch gelösten Kalk enthält. Nach Eyk- 
manu’s Ansicht sollte eine wirklich praktisch durchführbare Vorschrift dahin 
lauten, dass züvor in das Gcfäss eine genügende Quantität eines Desinfektions¬ 
mittels hineingethan werden soll, worin die successiven Entleerungen des Kranken 
aufgefangen und ohne weitere Vermischung in kürzester Zeit, etwa 10 
bis 15 Minuten, unschädlich gemacht werden können. Hierzu sei Kalkmilch 
ganz und gar ungeeignet, wie Pfuhl’s dritter Versuch (.einfaches Zugiessen 
der Kalkmilch und nicht Vermischen) beweise. Viel günstiger verhalte sich 
in dieser Beziehung Karbolsäure und Kreolin. Dieselben wirken in kür¬ 
zester Zeit und brauchen auch bei der Mischung mit dem Darminhalt keine 
Nachhilfe, weil sie sich in solcher Konzentration anwenden lassen, dass sie 
auch bei stellenweis stärkerer Verdünnung in Folge weniger vollständiger Ver¬ 
mischung noch im Stande sind, die Kommabazillen abzntüdten. Nach Eykmann’s 
Versuchen, wobei der Darminhalt in die Desinfektionsflüssigkeit gelangte, werden 
die Choleramikroben innerhalb 10 Minuten sämmtlich abgetödtet, wenn 4 Vo- 
lumtheile des Darminhalts in 1 Theil einer 5°/ 0 Karbolsäurelösung resp. einer 
2 ' 7 0 wässerigen Kreolinemulsion aufgefangen werden. Ders. 

Ueber die Entstehung und Verbreitung der Cholera-Epidemie in 
Rassisch - Polen. Von 0. Bujwid aus Warschau. Zcitschr. f. Hygiene und 
Infektionskrankheiten. Bd. XIV., H. 1. 

Wenn über die Aetiologie der Cholera noch immer Zweifel bestehen, wenn 
in dem alten Streit zwischen Kontagionisten und Lokalisten das letzte Wort 
auch jetzt noch nicht gesprochen ist, ja, wenn es scheinen will, als ob die, unter 
dem ersten Eindruck der Koch’schen Entdeckungen siegreich zurückgedrängte 
Pettenkofer’sche Schule in diesem Streite neuerdings an Terrain gewonnen 
hat, so hat die Erscheinung, dass es der Wissenschaft trotz 75 Jahre hindurch 
fortgesetzten Studiums noch immer nicht gelungen ist, volle Klarheit über Ent¬ 
stehung und Verbreitung dieser Geissei des Menschengeschlechtes zu gewinnen, 
zunächst etwas sehr Ueberraschendes! Es zeigt sich aber beim Durchgehen der 
Choleraliteratur, dass trotz ihres gewaltigen Umfanges, die Zahl der ganz un¬ 
zweideutigen und wirklich beweisenden epidemiologischen Thatsachen doch eigent¬ 
lich recht gering ist, ja, dass die Mehrzahl der Beobachtungen von der einen 
Seite ebenso wie von der anderen als Beweismittel für ihre Ansicht angeführt 
werden kann. Selbst die Epidemie des Vorjahres liefert den Beweis, wie gross 
die Schwierigkeiten sind; denn obgleich die epidemiologische Forschung in Deutsch¬ 
land mit unvergleichlich reicherem Rüstzeug, wie je zuvor, in das Feld rückte, 

*) 1 Liter zerkleinerten, reinen gebrannten Kalks zu 4 Liter Wasser. 



Kleinere Mittheilnngen und Referate aus Zeitschriften. 


381 


entspricht das Ergebnis der Campagne doch eigentlich nicht den gehegten Er¬ 
wartungen. Ist es doch weder in Hamburg, noch sogar in Nietlebeu geglückt, 
festzustellen, woher denn eigentlich die Cholera dorthin gelangt ist! Und auch 
die Weiterverbreitung, für welche in uns Anhänger der Koch’schen Anschauungen 
wohl überzeugender Weise die Wasserversorgung in erster Linie iu Anspruch 
genommen wird, ist doch nicht in so überzeugender Weise klargelegt worden, 
dass jeder Ein wand der Gegner damit vollständig zurückzuweisen wäre, denn es 
muss zugegeben werden, dass aus der Geschichte früherer Epidemien Beispiele 
von eben so grossen Verschiedenheiten im Befallenseiu einzelner Stadttheile, und 
zwar sicher ohne Einfluss der Wasserversorgung, bekannt sind, wie neuerdings 
zwischen Hamburg einerseits und Altona und Wandsbeek andererseits! 

Um so wichtiger ist daher der Beitrag, den Bujwid (bekanntlich der 
Entdecker der Cholerarothreaktion) in dein vorliegenden, kurzen Artikel liefert 
und der als eine höchst werthvolle Bereicherung unseres Wissens zu begrüssen 
ist. Sehr bemerkenswert!! ist dabei die ganz auffallende Aehnlichkeit der 
Bujwid’schen Beobachtung mit der in der Choleraliteratur so viel erwähnten 
und von Pettenkofer selbst „als seine schwache Seite“ bezeichnten Ein¬ 
schleppung der Cholera in Altenburg im Jahre 1865. Bekanntlich reiste damals 
eine Frau mit ihrem diarrhoe-kranken Kinde von Odessa, wo eine Cholera- 
Epidemie im Entstehen begriffen war, in 9 tägiger Reise direkt nach Altenburg, 
wo sie nach einigen Tagen an Cholera erkrankte und starb. Es starb dann ihr 
Kind und ihre Schwägerin, bei der sie abgestiegen war uud es kam zur Ent¬ 
wickelung einer begrenzten Cholera-Epidemie von 180 Fällen inmitten des voll¬ 
ständig cholerafreien Deutschlands. Auch bei Bujwid handelt es sich um eine 
Frau, die mit einem diarrhoe-kranken Kinde von Rostow am Don, wo sie als cho¬ 
leraverdächtig von der Bevölkerung zur Abreise gezwungen worden war, mit 
der Eisenbahn 1500 km weit nach Biscupice in Russisch - Polen (Gouvernement 
Lubliu) reiste. Drei Tage nach ihrer Ankunft (29. Juli) erkrankte und starb 
in dem Hause, wo sie abgestiegen war, eine Frau, zwei Tage später eine andere 
im Nebenhause und in kurzer Zeit entwickelte sich eine Epidemie, die sich von 
hier aus, nach Bujwid fast überall in ihren Etappen nachweisbar, über ganz 
Russisch - Polen verbreitete. Auch die Einschleppung der Cholera nach Rostow, 
welche durch die Reise zweier Wittwen, welche iu Baku (1000 km) ihre Männer 
an Cholera verloren hatten, verursacht wurde und die in sehr ähnlicher Weise 
erfolgte Uebertragung der Krankheit von Lublin nach MIawa (300 km) konnte 
Bujwid feststellen. 

Auf Grund dieser Beobachtungen, welche allerdings die Verschleppung 
durch zunächst anscheinend gesunde Reisende auf sehr weite Entfernungen er¬ 
geben, legt Bujwid der ärztlichen Ueberwachung des Reisenden-Verkehrs 
ebensowenig Werth bei, wie etwaigen Desinfektionsmassregeln. dafür aber Be¬ 
obachtung derjenigen Personen, die aus verdächtigen Gegenden zureiseu. 

Dr. Langerhan8-Cellc. 


Können lebende Cholerabazillen mit dem Boden- und Keliriclit- 
staub durch die Luft verschleppt werden? Von Professor Dr. J. Uffel- 
inan n. Berliner Klinische Wochenschrift 1893, Nr. 26. 

Nachdem in letzter Zeit mit voller Sicherheit festgestellt worden ist, dass 
Cholerabazillen durch Trocknung keineswegs immer so rasch zu Grunde gehen, 
als auf Grund früherer Versuche angenommen worden ist, drängte sich Uffel- 
mann der Gedanke auf, dass möglicherweise auch durch Verreibeu und Ver¬ 
stäuben lufttrockenen cholerainfizirten Materials lebende Cholerabazillen in die 
Luft gelangen. Von dieser Erwägung ausgehend, versuchte Uffelm&nu ex¬ 
perimentell zu erforschen, wie lange die Cholerabazillen in Bodenmateriai und 
in Kehrichtraassen der Trocknung ausgesetzt am Leben bleiben, und ob von 
völlig lufttrockenen, durch Luftbewegung von der Stärke des Windes, oder 
mechanisch aufgewirbelten Boden- und Kehrichtmassen noch lebende Cholera¬ 
bazillen in die Luft übergehen können. 

Uffelraann brachte in zwei flache Porzellanschalen so viel Gartenerde, 
dass ihre Schicht 2—3 mm hoch war, verrieb, sterilisirte durch trockene Hitze 
und setzte nach völliger Abkühlung so viel einer Aufschwemmung von Cholera¬ 
bazillen aus einer frischen Gelatinekultur in Wasser za, wie die Erdmasse eben 
zu absorbiren vermochte. So erschien sie gleichmässig durchfeuchtet, nirgends 



382 


Kleinere Mittheilungen nnd Referate ans Zeitschriften. 


geradezu nass. Die Schalen wnrden nun unbedeckt in einem Schrank des Ar¬ 
beitszimmers aufbewahrt und waren damit gegen Sonnenlicht geschützt. Die 
Temperatur in dem Schranke schwankte zwischen 15—17 0 R. Nach Ablauf von 
16 1 /* Stunden war die gesammte Bodenmasse in beiden Schalen lufttrocken. 
Alsbald wurden sic mit einem Pistill ohne Mühe zu einer theils feinkörnigen, 
theils stanbartigen Masse verrieben. Aus Schale I wurde vermittelst sterilen 
Metalllöffelchens von vier Partien je eine Füllung des Löft'elchens entnommen, 
zuerst 16 1 /*, dann 23, darauf 48, 72 und 96 Stunden nach der Infektion, und in 
verflüssigte Nährgelatine gebracht, diese ausgerollt und bei 22—23° C. hinge¬ 
stellt. Hierbei entwickelten sich aus der nach 16*/ a Stunde, 23 Stunden und 
48 Stunden entnommenen Masse 30—40, bezw. 3 und 1 Cholerakolonien, aus 
den nach 72 und 96 Stunden entnommenen Massen keine Kolonie. Mit dem In¬ 
halt der Schale II experimentirte Uffelraann, nachdem derselbe lufttrocken 
geworden, verrieben und 8 Stunden stehen geblieben war, indem er die Boden¬ 
masse in der Schale auf eine leicht zu desinfizirende Unterlage in einem sepa¬ 
raten abschliessbarcn Zimmer brachte, etwa 6 cm oberhalb des Schalenrandes 
in etwas schräger Richtung eine mit fast erstarrter Nährgelatine bedeckte 
Platte hielt und ohne jede Kraft mit dem Munde auf die feingepulverte 
Bodenmasse blies. Der Staub blieb auf der Gelatine heften, letztere wurde 
in eine feuchte Glaskammer gebracht und diese bei 22—23° C. gehalten. 
Nach Verlauf von 3 Tagen wurden 6 Kolonien festgestellt, von denen 5 als 
Cholerakolonien nachgewiesen werden konnten. Die Versuche sind zu verschie¬ 
denen Zeiten und mit verschiedenen Proben Gartenerde siebenmal wiederholt 
worden. Jedesmal gelang es, in der lufttrockenen, feingepulverten Masse 16, 
sowie etwa 20 und 24 Stunden nach geschehener Anfeuchtung mit dem infek¬ 
tiösen Material lebende Cholerabazillen aufzufinden. Mehrmals waren sie 36 
Stunden nach geschehener Anfeuchtung, einmal sogar noch 96 Stunden nach der¬ 
selben, wennschon nur sehr vereinzelt, vorhanden. Ebenso konnte Uffelraann 
stets noch 16 resp. 20 Stunden nach der Anfeuchtung durch leichtes Anblasen 
mit dem Munde oder einem kleinen Kautschukballon aus der Schale Staub auf- 
wirbcln, an einer schräg darüber gehaltenen Gelatineplatte fixiren und wenig¬ 
stens einige Cholerakolonien zur Entwicklung kommen sehen. 

Ein ähnliches Resultat ergeben die Versuche, welche mit Strassen- und 
Ziramerkehricht augestellt wurden, wobei letzterer mit stark diarrhöischer Fäkal¬ 
masse infizirt war, welcher nach erfolgter Sterilisiruug die gleiche Menge reich 
mit Cholerabazillen erfüllter Bouillon zugesetzt wurde. Von dieser letzten luft¬ 
trocken gemachten und verriebenen Masse blies Uffelraann mit einem Kaut- 
schnkballon ein wenig über eine mit sterilisirter Milch halb erfüllte Petri’sche 
Unterschale, konstatirte, dass die Oberfläche der Milch au mehreren Stellen mit 
feinem Staub bedeckt war, schüttelte einige Male hin nnd her, bedeckte die 
Schale mit dem zugehörigen Deckel und setzte sic in den Brutschrank bei 23“ C. 
Nach 24 Stundcu wurden vier Rollkulturen aus je 1 Tropfen der Milch angelegt. 
Am dritten Tage hatten sich in dreien dieser Kulturen Cholerakolonien, wenn 
auch nicht in erheblicher Zahl, entwickelt. 

Uffelmann zieht aus seinen Versuchen den Schluss, dass in dünnen 
Schichten von Gartenerde oder Kehricht, Cholerabazillen, welche ihnen mit¬ 
telst Aufschwemmung in Wasser oder mittelst dünner Fäkalmassen cinverleibt 
waren, durch Trocknung an der Luft — bei Ausschluss der Sonnenstrahlen — 
zwar der überwiegenden Mehrzahl nach binnen 24 Stunden zu Grunde gehen, 
dass jedoch ihrer nicht wenige das Stadium des Lufttrockenwerdens jenes Ma¬ 
terials um mehrere Stunden, vereinzelte dasselbe Stadium noch länger, nämlich 
einen vollen Tag, ausnahmsweise drei Tage überdauern. Wenn überhaupt lebende 
Cholerabazillen an lufttrockenem, verstäubungsfähigem Materiale Vorkommen 
können, so müsse auch die Möglichkeit zugegeben werden, dass sie mit dem, 
sei es durch Wind, sei es durch mechanisches Aufrtthren aufwirbelnden Staube 
verschleppt werden und mit diesem in unseren Mund oder auf resp. in 
Nahrungsmittel, selbst in’s Wasser von Bächen, Flüssen u. s. w. gelangen können. 
Diese Art der Uebertragung werde keine häufige sein, weil vou dem Augenblicke 
des Lufttrockenwerdens der Erdmasse oder des Kehrichts die Zahl der Cholera¬ 
bazillen sich stetig und ziemlich rasch vermindere, weil ie Trocknung der 
fäkal - verunreinigten Materialien an sich noch keine Staubbildung zur Folge 
habe und besonders weil in natura der Prozess des Absterbens der Choleraba- 



Kleinere Mittheilangen and Referate aas Zeitschriften. 


383 


zillen vielfach durch das Sonnenlicht wesentlich beschleunigt werde. Aber es 
handele sich hier auch nur um die Entscheidung der Frage, ob 
Oberhaupt lebende Cholerabazillen mit dem Luftstaube ver- 
schleppt werden können; und diese Möglichkeit sei nach dem 
Ergebniss seiner Versuche als bewiesen anzusehen. 

Dr. Dütschke-Aurich. 

1. Untersuchungen über Immunität gegen Cholera asiatica. Von 
C. A. Wassermann, Assistenten am Institut. 

2. Untersuchungen über das Wesen der Choleraimmunität. Von 
R. Pfeiffer, Vorsteher der wissenschaftlichen Abtheilnng und A. Wasser¬ 
mann, Assistenten am Institut. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrank¬ 
heiten. XIV. 1. 

Beide Arbeiten zeichnen sich durch Klarheit der Fragestellung, durch 
erschöpfende Fülle in der Versuchsanordnung und durch Knappheit und Schärfe 
bei der Zusammenfassung der Ergebnisse in derselben Weise aus, wie die 
übrigen Arbeiten, welche bisher aus dem Koch’sehen Institut hervorgegangen 
sind. Der erste Aufsatz zeigt, im Wesentlichen in Wiederholung bereits be¬ 
kannter Veröffentlichungen, aber zur Widerlegung dagegen gerichteter Angriffe 
bestimmt und daher auf ein umfassendes, streng geordnetes Versuchsmaterial 
gestützt, dass es unschwer gelingt, Meerschweinchen gegen nachträgliche peri¬ 
toneale Infektion lebender Cholerakulturen zu schützen und zwar sowohl durch 
vorherige Einspritzung kleiner Mengen lebender, als auch irgendwie abgetödteter 
Cholerakulturen, welche so bemessen sind, dass sie nicht den Tod, sondern nur 
eine vorübergehende Erkrankung bewirken. Freilich zeigte sich ein durchgreifen¬ 
der Unterschied beispielsweise gegenüber der Diphtherie, denn es gelang nicht 
durch wiederholte Vorbehandlung mit allmählich gesteigerten Dosen die Immunität 
höher und höher zu steigern, dieselbe blieb vielmehr ziemlich gering und, 
sobald die zur Infektion verwendete Vibrionen - Menge eine gewisse Grösse 
überstieg, starben die Versuchsthiere ebensogut, wie die nicht vorbehandelteu Kon- 
trolethierc. Sehr interessant sind die Versuche über die Verleihung der passiven 
Immunität durch Uebertragung des Blutserums von Menschen, die durch Ueber- 
stehen der Cholera-Krankheit gegen diese itnmnn geworden sind. Verfasser 
konnten die von Lazarus gemachte Entdeckung, dass winzig kleine Mengen 
solchen Blutserums (*/,„ bis mg), in das Bauchfell eines Meerschweins ein¬ 
gespritzt, dies gegen Cholera immunisiren, durchaus bestätigen. 

Die zweite Arbeit sucht die Ursache der so gewonnenen Immunität zu 
erforschen und stellt zunächst unzweifelhaft fest, dass es sich nicht um 
Giftfestigung handelt, sondern um eine sehr lebhafte Ver¬ 
mehrung der bakterientödtenden Kräfte in der Bauchhöhle, so dass 
das Peritoneum vorbehandelter Meerschweinchen, wenn sie nach Einspritzung zu 
grosser Mengen der Intoxikation erlegen sind, regelmässig steril ist! Mit der Le- 
benstbätigkeit der Vibrionen wird der immunisirte Organismus fertig, aber den gleich¬ 
zeitig eingespritzten Giftstoffen der Vibrionen erliegt er. Auch das Blutserum cho¬ 
leradurchseuchter und in Folge dessen immuner Menschen vermag die bakterietödtendc 
Fähigkeit damit behandelter Thiere in sehr hohem Grade zu steigern, ohne ihnen 
indessen Giftfestigkeit zu verleihen. Im Reagenzglase zoigt übrigens dieses Serum 
weder giftzerstöreude noch bakterientödtende Eigenschaften gegen den Cholera- 
Vibrio. Die Verfasser sehen sich daher veranlasst, den Vorgang der 
Immu nisirung durch Serum-Uebertragung so aufzufassen, dass 
unter dem Einflüsse spezifischer, bisher völlig unbekannter 
Substanzen, eine Umstimmung des Meerschweinkörpers sich 
einstellt, wodurch dieser befähigt wird, sich der eindrin¬ 
genden Vibrionen rascher zu entledigen. 

Die Verfasser warnen zum Schluss schreindringlich vor 
zu weitgehenden Hoffnungen, welche von gewisser Seite für die Vor¬ 
beugung der menschlichen Cholera durch präventive Iminunisirung angefacht 
worden sind. Sie weisen nachdrücklich darauf hin, dass menschlicheCho- 
lera ganz etwas anderes ist, als der aus Injektion und Intoxi¬ 
kation gemischte Prozess, den man beim Meerschweinchen 
durchinterperitoneale Injektion der Cholerabakterienerzielen 



384 


Besprechungen. 


könne. Gegen Infektion vom Magen aus, nach der bekannten 
Koch’scheu Versuchsauordnung erweisen sich die imuiunisirten 
M eersch weinohen nicht geschütz t, gleichviel, auf welche Weise die 
Immunisirnng vorgeuommen worden war. Die gegenteiligen Angabeu anderer 
Forscher siud wohl durch Verwendung alter, unkräftiger Kulturen oder durch 
zu geringe Zahl der Versuche zu erklären. 

Dr. Lange r ha ns-Celle. 


Zur Prophylaxe der venerischen Krankheiten. Deutsche med. 
Wochenschrift Nr. 19/1893. Seite 459. 

In der Sitzung der Berliner medizinischen Gesellschaft vom 15. Juni v. Js. 
ist eine Kommission zur Beratung über Massregeln zur Vorbenguug der Ver¬ 
breitung venerischer Krankheiten in Berlin gewählt worden, deren Vorsitzender 
Geh. Rath Dr Virchow wurde. Die Kommission hat ihre Vorschläge der 
Gesellschaft unterbreitet und hat diese die aufgestcllten Thesen sämmtlich 
augenommen worden. Sie lauten: 

1) Die zur Zeit in Berlin bestehenden sanitären Einrichtungen und Mass¬ 
regeln zur Verhütung und Behandlung der venerischen Krankheiten sind unzu¬ 
reichend : 

A. In Bezug auf die gewerbsmässige Prostitution: 

2) Die nach wie vor gebotene sittenpolizeiliche Untersuchung der gewerbs¬ 
mässig Prostituirten bedarf einer Verbesserung und zwar sowohl hinsichtlich der 
Häufigkeit als der Methode der Untersuchung: 

a) Jede Prostituirte ist mindestens zwei Mai wöchentlich zu untersuchen; 

b) die Zahl der Untersuchungsstationen ist zu vermehren; 

c) es ist anzustreben, dass in zweifelhaften Fällen die mikroskopische 
Untersuchung des Urethral-, Vaginal- und Cervicalsecretes auf Gono¬ 
kokken angeschlossen wird. 

3) Jede geschlechtlich krank befundene gewerbsmässige Prostituirte ist 
einem von der Behörde zu bestimmenden Krankenhause zu überweisen. Für die 
Aufnahme gewerbsmässiger Prostituirter in die genannten Krankenhäuser siud 
besondere Abtheiiungeu einzurichton. In gleicher Weise werden die aufgegriffenen 
und geschlechtlich krank befundenen Frauenzimmer behandelt. 

B. In Bezug auf Geschlechtskranke, welche nicht der 

gewerbsmässigen Prostitution angchören: ) 

4) Für diese ist in grösserem Massstabe als bisher durch Behandlung in 
Hospitälern und Ainbulatorieu Sorge zu tragen: 

a) Die Hospitalbehandlung dieser Kranken ist durch baldigste Errichtung 
von besonderen Stationen für Geschlechtskranke in den öffentlichen 
Krankenhäusern zu ermöglichen; 

b) in Verbindung mit diesen Stationen sind Ambulatorien für Geschlechts¬ 
kranke einzurichten. 

5) Alle gesetzlichen oder statutarischen Bestimmungen wie solche _z. B. 
im KrankcnUassengesetz u. s. w. bestehen, welche Beschränkungen zu Ungunsten 
dieser Kranken eingeftthrt haben sind im Interesse einer baldigen und gründ¬ 
lichen Behandlung derselben zu beseitigen. In diesem Sinne ist speziell auf die 
Vorstände der Krankenkassen einzuwirken. 

6) Die Wiedereinführung von Bordellen in Berlin ist weder vom hygieni¬ 
schen noch vom moralischen Standpunkt zu empfehlen. 

7) Die Einführung einer einheitlichen Statistik in Bezug auf die venerischen 

Krankheiten für Sanitätspolizei, Krankenhäuser, Krankenkassen und Poliklinik 
ist dringend erforderlich. — Dr. Israe 1-Medenau (Ostpr.). 


Besprechungen 

Dr. Ernst Barth, Königl. Preussischer Stabsarzt: Die Cholera 
mit Berücksichtigung der speziellen Pathologie und Therapie 



Besprechungen. 


385 


nebst einem Anhänge, enthaltend die auf die Cholera bezügliche 
Gesetzgebung und sanitätspolizeilichen Vorschriften für Aerzte 
und Beamte. Breslau 1893. Verlag von Preuss & Jünger. 
Gross 8°. 252 S. 

Der Verfasser hat in dem vorliegenden Werk versucht, eine einheitliche 
wissenschaftliche Darstellung der Cholera zu geben, indem er ausser der Epide¬ 
miologie auch durch Berücksichtigung der speziellen Pathologie und Therapie 
dem Bedürfnis» des praktischen Arztes, und durch eine Zusammenstellung der 
entsprechenden Gesetzgebung und sanitätspolizeilichen Verordnungen, dem Be¬ 
dürfnisse des Beamten Rechnung trägt Durch seine Kommandirung zur ärzt¬ 
lichen Hülfeleistung in einem Hamburger Krankenhause während der vorjährigen 
Epidemie hatte der Verfasser den Vorzug, eine grosse schwere Epidemie aus 
eigener Anschauung kennen zu lernen und war dadurch in Stand gesetzt, nach 
dem Massstab der eigenen Erfahrung das in der medizinischen Presse veröffent¬ 
lichte Material auf Hauptsächliches und Nebensächliches hin zu sichten. 

Nach einer geschichtlichen Einleitung Uber die bis jetzt beobachteten 
5 Cholerapandemien und einer kurzen statistischen Schilderung der Cholera- 
Mortalität und Morbidität, vorwiegend den Cnningham’scheu und Hirsch’- 
schen Aufzeichnungen entlehnt, wendet sich Barth der Epidemiologie der 
Cholera zu, um der zeitlichen Disposition, des Einflusses der Temperatur und der 
atmosphärischen Niederschläge, wie der örtlichen Disposition zu gedenken bezüg¬ 
lich des Einflusses des Grundwassers, der Bodenbeschaffeuheit, der Boden¬ 
erhebungen, der Wasserfläche, der Bodenveruureinigung, der Beschaffenheit des 
Wassers und der Luft. Es folgt hierauf das sehr übersichtlich und interessant 
geschriebene Kapitel der Aetiologie der Cholera, in welchem der Schilderung 
des Cholerabacillus ein weiter Raum gewährt wird und die Morphologie, Züch¬ 
tung und Biologie des Commabacillus gebührende Berücksichtigung findet. Der 
Verfasser steht völlig auf dem Koch'sehen Standpunkt und erinnert die ganze 
Eintheilung des Buches lebhaft an die jüngst im Institute für Infektionskrank¬ 
heiten von Koch und seinen Assistenten gehaltenen Vorlesungen in den epide¬ 
miologischen Kursen. Bei dem Kapitel „Prophylaxe“ würde ein detaillirteres 
Eingehen auf die kommuneile und staatliche Prophylaxe den Werth der Ab¬ 
handlung entschieden noch erhöht haben, besonders eine eingehendere Schilderung 
der Filteranlagen bei Kesselbrunuen wäre am Platz gewesen. Bezüglich der 
Desinfektion der Dejcktionen bei Benutzung der Klosets in den Bahnzügen 
befindet sich der Verfasser nicht ganz im Einklang mit den von Koch in den 
oben erwähnten Kursen den Medizinalbcamten ertheilten Rathschlägen; während 
Barth durch das Verspritzen von Choleradejektionen auf dem Bahngeleise das 
Entstehen verhängnisvoller Infektionsherde befürchtet und eine Desinfektion der 
Kübel unter den Bahn wagen verlangt, hält Koch eine Desinfektion bei Be¬ 
nutzung der Klosets in Bahnzügen für praktisch nicht durchführbar und belanglos; 
denn der Bahndamm ist nach ihm ein für die Weiterentwickelung etwaiger auf 
ihm ausgestreuter Cholerakeime ungünstiges Terrain und die Gefahr nicht gross, 
dass sie von dort durch einen Regenguss in öffentliche Wasserläufe gelangen. 
Ausserdem sei bei Anwendung von Kübeln die Gefahr viel grösser, weil dann 
die Dejektionen gesammelt und auf einer Station desinfizirt werden müssen. Zu 
bedauern bleibt, dass die Nietlebener Epidemie mit ihren lehrreichen Konse¬ 
quenzen bezüglich der Wasserversorgung und Verbreitung der Cholera durch 
das Wasser, wie die Altonaer Nachepidemie nicht mehr Berücksichtigung in der 
sonst so lesenswerthen und übersichtlichen Arbeit gefunden haben. 

Hoffentlich bietet eine zweite Auflage dem Verfasser bald Gelegenheit, 
die oben angeführten kleinen Mängel abzustellen. Den Medizinalbeamten sei die 
Anschaffung des Werkes warm empfohlen! 

Dr. D ü t s c h k e - Aurich. 


W. R. Gowers: Syphilis und Nervensystem. Autorisirte 
deutsche Uebersetzung von Dr. med. G. Lehfeld. Berlin; 
1893. S. Karger. 

Der Leser findet in der in Gestalt von 3 Vorlesungen gehaltenen geist¬ 
vollen Abhandlung in kurzen Zügen einen Abriss unserer jetzigen Kenntnisse 



386 


Tagesnachrichten. 


über die Beziehungen der Syphilis za den Erkrankungen des Nervensystems. 
Den Praktiker wird vorwiegend die dritte Vorlesung interessiren über die wesent¬ 
lichsten prognostischen Prinzipien für die syphilitischen Erkrankungen des 
Nervensystems und ihren Einfluss auf die spezielle Prognose der wichtigsten 
Störungen. Wenn es wahr ist, sagt der Verfasser, dass wir die Syphilis nicht 
heilen können, so ist die Ueberlegung sehr wichtig, wie wir sie am besten im 
Zaum halten könnnen. Das ist es, warum die Tbatsache der Unheilbarkeit, 
wenn sie wahr ist, so grosse Bedeutung hat. Ein falscher Glaube au die Heil¬ 
barkeit kann dadurch gefährlich werden, dass er prophylaktische Massnahmen 
verhindert. Wenn keine Behandlung in der Gegenwart eine Entwickelung in 
der Zukunft verhüten kann, so ist es richtig, auf alle Fälle vorzubeugen. Jeder 
Syphilitische sollte mindestens 5 Jahre lang nach den letzten Erscheinungen 
jährlich zweimal eine dreiwöchentliche Kur durchmachen, während deren er 
täglich 1—2 Gramm Jodkalium nimmt. Bei allgemeiner Anwendung dieser 
Massregel sollte man von vorneherein glauben, dass dann schwere Erkrankungen 
weit seltener vorkämen! Ein Mittel bleibt allein, alt wie die Krankheit selbst, 
um sie zu verhüten. Eine Methode, und eine allein, ist möglich, ist sicher, und 
diese eine steht Allen offen! Es ist der sichere Schutz, den die nie verletzte 
Keuschheit gewährt! Ist die Verbreitung dieses Schutzmittels im Zunehmen? — 

Dera. 


Tagesnachrichten. 

Das Reichs - Seuchengesetz wird nach Mittheilungen aus Berliu 
zunächst vollständig umgearbeitet werden, und zwar unter Berücksichtigung der 
inzwischen aus ärztlichen Kreisen hervorgegangenen Bedenken. Ob der Entwurf 
dann den bestehenden ärztlichen Vertretungen unterbreitet wird, ist noch nicht 
entschieden, dagegen wird er voraussichtlich so frühzeitig veröffentlicht, dass 
eine allgemeine Kenntnissnahme und Beurtheilung des so wichtigen Gesetzes 
ermöglicht wird. 


Gelegentlich des XI. internationalen medizinischen Kongresses in 
Rom ist eine medizinisch-hygienische Ausstellung in Aussicht ge¬ 
nommen. Um eine würdige Vertretung der deutschen Medizin auf derselben 
herbeizuführen, hat sich in Berlin ein Comite gebildet, das an alle Aerzte und 
insbesondere an die Vorstände der wissenschaftlichen Institute die Bitte richtet, 
für die Ausstellung geeignete Gegenstände, Zeichnungen, Photographien, Präparate, 
Apparate, nach Rom zu senden. Das Kaiserliche Gesundheitsamt hat sich bereit 
erklärt, die Sammelstelle für die Ausstellungsgegenstände zu bilden, den Hin- 
und Rücktransport, die Verzollung, Versicherung und Aufstellung unter sach¬ 
verständiger Leitung zu übernehmen. Anmeldungen sind dorthin baldmöglichst 
zu richten unter Mittheilung des beanspruchten Platzes (Boden, Wände, Tisch¬ 
fläche oder Raum in zur Verfügung stehenden Schränken) und unter Beifügung 
der für den Ausstellungskatalog bestimmten speziellen Angaben. 

Desgleichen ist ein zweites Comit6 zusammen getreten, um auf dem Kon¬ 
gresse die deutsche medizinische Litteratur in ihrer neueren Entwickelung 
bis zur Gegenwart vollständig in Anschauung zu bringen. Der Geschäftsausschuss 
dieses, fast nur aus Professoren bestehenden Comit6s besteht aus den Herren 
Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Virchow, Geh. San.-Rath Dr. Guttmann, Prof. 
Dr. Guttstadt, Dr. Weyl und Privatdozent Dr. Posner in Berlin. 


Programm der vom 11.—15. September d. J. in Nürnberg statt- 
flndenden 65. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher 
und Aerzte. 

A. Allgemeine Tagesordnung. 

Sonntag, den 10. September, Abends 8 Uhr: Begrüssung in 
den obereu Räumen der „Gesellschaft Museum“ (mit Damen). 



Tagesnachrichtcn. 


387 


Montag, den 11. September, Morgens 9 Uhr: I. Allgemeine 
Sitzung im Saale des Industrie- nnd Kultur-Vereins. 1. Eröffnung der Ver¬ 
sammlung; Begrüssungen und Ansprachen; Mitteilungen zur Geschäftsordnung. 
2. Geheimrath Professor Dr. v. Bergmann (Berlin): Nachruf auf die Herren 
A. W. v. Hof mann und Werner Siemens. 3. Vortrag des Herrn Geh. Rath 
Professor Dr. His (Leipzig): Ueber den Aufbau unseres Nervensystems. 4. Vor¬ 
trag des Herrn Geh.-Rath Prof. Dr. Pfeffer (Leipzig): Ueber die Reizbarkeit 
der Pflanzen. — Nachmittags 3 Uhr: Bildung und Eröffnung der 
Abthoilungen. — Abends 6 Uhr: Gesellige Vereinigung in der 
„Restanratiou des Stadtparkes“ (Einladung der Stadt Nürnberg). 

Dicnstag,den 12. September: Sitzungen derAbtheilungen. 
— Abends 6 Uhr: Festmahl im Gasthof zum Strauss. 

Mittwoch, den 13. September, Morgens 9 Uhr: II. Allgemeine 
Sitzung im Saale des Industrie- und Kultur-Vereins. 1. Vortrag des Herrn 
Professor Dr. Strümpell (Erlangen): Ueber die Alkoholfrnge vom ärztlichen 
Standpunkt aus. 2. Professor Dr. Günther (München): Palaeontologie und 
physische Geographie in ihrer geschichtlichen Wechselwirkung. 3. Geschäfts- 
Sitzung der Gesellschaft. — Abends 6 Uhr: Gesellige Vereinigung im 
Park der Rosenau. 

Donnerstag, den 14. September, Sitzung der Abtheilungen. 
Abends 8 Uhr: Festball im „Gasthof zum Strauss“. 

Freitag, den 15. September, Morgens 9 Uhr: III. Allgemeine 
Sitzung im Saale des Industrie- und Kultur-Vereins. 1. Vortrag des Herrn 
Geh. Rath Professor Dr. Hensen (Kiel): Mittheilung einiger Ergebnisse der 
Plankton-Expedition der Humboldtstiftung. 2. Vortrag des Herrn Professor 
Dr. Hüppe (Prag): Ueber die Ursachen der Gährungen und Infektionskrank¬ 
heiten und deren Beziehungen zur Energetik. 3. Schluss der Versammlung. — 
Nachmittags 2 Uhr: Ausflüge nach Erlangen, Bamberg, nach der Krottenseer 
Höhle oder nach der Hubirg bei Pommelsbrunn. — Abends 8 Uhr Zusammen¬ 
kunft in den oberen Räumen der Gesellschaft Museum. 

Samstag, den 16. September, Morgens: Ausflug nach Rothen¬ 
burg zum „Festspiel“ daselbst. 

Wer an der Versammlung Theil nimmt, entrichtet einen Beitrag von 
12 Mark, wofür er Festkarte, Abzeichen nnd die für die Versammlung bestimm¬ 
ten Drucksachen erhält. Mit der Lösung der Festkarte erhält der Theilnehmer 
Anspruch auf Lösung von Damenkarten, zum Preise von je 6 Mark. 

An den Berathungeu und Beschlussfassungen über Gesellschafts-Ange¬ 
legenheiten können sich nur Gesellschaftsmitglieder betheiligen, welche ausser 
dem Theilnehmerbeitrag noch einen Jahresbeitrag von 5 Mark zu entrichten 
haben. Als Ausweis dient die Mitgliederkarte. Nach Beschluss der Vorstand¬ 
schaft gilt die für das Jahr 1892 bereits gelöste Mitgliederkarte auch für das 
Jahr 1893, so dass diejenigen Herren, welche für 1892 ihre Mitgliederkarte 
schon gelöst haben, heuer von der Beitragsleistung entbunden sind. 

Mitgliedskarten können gegen Einsendung von 5,05 Mark vom Schatz¬ 
meister der Gesellschaft Herrn Dr. C. Lampe-Vischer in Leipzig jederzeit, 
Theilnehmerkartcn gegen Einsendung von 12,25 Mark von dem ersten Geschäfts¬ 
führer der Versammlung in der Zeit vom 24. August bis 7. September bezogen 
werden. 

Die drei allgemeinen Sitzungen werden im Saale des Industrie- und Kultur- 
Vereins (vor dem Walchthor) abgehalten, die Abtheilungs-Sitzungen in den 
Räumen der Industrieschule, des Realgymnasiums, der Kreisrealschule und der 
Baugewerkschulc, sämmtlich im Banhofe (Seitenstrasse der Königsstrasse unweit 
des Frauenthors). 

Die Abtheilungen werden dnreh die einführenden Vorsitzenden eröffnet, 
wählen sich aber alsdann ihre Vorsitzenden selbst. Als Schriftführer fungirt der 
von der Geschäftsleitung aufgestellte Herr und je nach Wunsch der Abtheilung 
der eine oder andere besonders zu ernennende Herr. Eine Ausstellung wissen¬ 
schaftlicher Apparate, Instrumente und Präparate veranstaltet im eigenen Aus- 
stelluugsgebände (Marienthorgraben 8) das Bayerische Gewerbemuseum. 

Ein Damen-Ausschuss wird es sich zur Aufgabe machen, die fremden 
Damen zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt zu führen und für deren Unter- 



388 


Tagesnachrichten. 


haltung während der Abtheilungssitzungen Sorge zu tragen. Die fremden Damen 
werden jetzt schon gebeten, sich rechtzeitig in die auf dem Empfangsbureau 
aufliegende Damenliste einzuzeichnen, wobei ein Prospekt über die beabsichtigten 
Veranstaltungen abgegeben werden wird. 

Das Empfangs-, Auskunfts-, und Wohnungsbureau wird im 
Prüfungssaal der Kreisrealschulc (Bahnhof) geöffnet sein am Samstag, den 
9. September, Nachmittags von 4—8*/* Uhr; am Sonntag, den 10. September, 
von 8 Uhr Morgens bis 12 Uhr Nachts; am Montag, den 11. September, von 
8 Uhr Morgens bis 8 Uhr Abends. 

Voransbestellungeu von Wohnungen in Gasthöfen sowie von 
Privat wohn ungen — ohne oder gegen Bezahlung — nimmt der Vorsitzende des 
Wohnungsausschusses, Herr Kaufmann J. G a 11 i n g e r (Burgstrassc 8), von jetzt 
an entgegen. 

Das Tageblatt, welches jeden Morgen im Empfangsbureau ausgegeben 
wird, wird die Liste der Theilnehmer mit Wohnungsangabe in Nürnberg, die 
geschäftlichen Mittheilungen der Geschäftsführer und des Vorstandes, die Tages¬ 
ordnung der Abtheilungssitzungen etc. etc. enthalten. 

Die Berichte über die gehaltenen Vorträge werden in den Verhand¬ 
lungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Aerzte veröffentlicht. Die 
Herren Vortragenden, sowie die an der Diskussion Betheiligten werden ersucht, 
ihre Manuskripte deutlich mit Tinte und nur auf eine Seite der Blätter zu 
schreiben und dieselben vor Schluss der treffenden Sitzung dem Schriftführer der 
Abtheilung zu übergeben. Berichte, welche dem Redaktionsausschuss nach dem 
15. September zugehen, haben kein Recht auf Veröffentlichung. 

Alle auf die Versammlung oder die allgemeinen Sitzungen bezüglichen 
Briefe (abgesehen von Wohnungsbestellungen) sind an den ersten Geschäftsführer, 
Medizinalrath Dr. Merkel (Nürnberg, Josephsplatz Nr. 3) zu richten; alle auf 
die Abtheilungen bezughabenden Briefe an die einführenden Vorsitzenden der 
einzelnen Abtheilungen. 

B. Tagesordnung der einzelnen Abtheilungen. 

Innere Medizin (Einführender: Krankenhaus - Direktor Medizinal - Rath 
Dr. G. Merkel, Josephsplatz 3; Schriftführer: Hofrath Dr. Stepp, Albrecht 
Dürer platz 6): 1. Professor Dr. Moritz (München): Beiträge zur Kenntniss 
der Magenfunktionen. — 2. Professor Dr. Ritter vonJackseh (Prag): Thema 
Vorbehalten. — 3. Privatdozent Dr. Münzer (Prag): Die Bedeutung der Acet- 
essigsäure für den Diabetes mellitus. — 4. Geheimrath Professor Dr. Ebstein 
(Göttingen): Ueber die Bestimmung der Herzgrösse. — 5. Prof. Dr. Länderer 
(Stuttgart): Ueber die Behandlung der Tuberkulose mit Zimmtsäure. — 6. Prof. 
Dr. Rosenbach (Breslau): Ueber Krisen bei akuten Krankheiten. — 7. Prof. 
Dr. Unverricht (Magdeburg): Thema Vorbehalten. — 8. Privatdozent Dr. 
N i c o 1 a i e r (Göttingen): Thema Vorbehalten. — 9. Geheimrath Prof. Dr. Q u.i n c k e 
(Kiel): Thema Vorbehalten. — 10. Professor Dr. v. Me ring (Halle a. S.): Ueber 
die Funktion des Magens. — 11. Sauitätsrath Dr. Aufrecht (Magdeburg): Die 
Behandlung der akuten parenchymatösen Nephritis. — 12. Professor Dr. S t i n t z i n g 
(Jena): Thema Vorbehalten. — 13. Professor Dr. Strümpell (Erlangen): 
Thema Vorbehalten. — 14. Geheimrath Professor Dr. Senator (Berlin): Ueber 
akute Polymyositis. — 15. Professor Dr. Penzoldt (Erlangen): Thema Vor¬ 
behalten. — 16. Professor Dr. Leichtenstern (Köln): Ueber Kehlkopf¬ 
erkrankungen a) im Diabetes mellitus (Furunculosis laryngis), b) bei der 
Polyarthritis rheumatica. — 17. Geheimrath Professor Dr. v. Ziemssen 

(München): Ueber einige Beziehungen zwischen Lungen- und Nierenerkrankungen. 
— 18. Professor Dr. Bauer (München): Thema Vorbehalten.— 19. Privatdozent 
Dr. Rieder (München): Thema Vorbehalten. — 20. Professor Dr. Müller 
(Marburg): Ein Beitrag zur Kenntniss der Infektionskrankheiten. — 21. Prof. 
Dr. Käst (Breslau): Ueber urämische Hautausschläge. — 22. Dr. Rosiu (kgl. 
Universität«-Poliklinik Berlin): Ueber Epilepsie im Gefolge von Herzkrank¬ 
heiten. — 23. Hofrath Dr. Stepp (Nürnberg): Zur Behandlung des Magen¬ 
geschwüres. — 24. Medizinalrath Dr. G. Merkel (Nürnberg): Die Nürnberger 
Staublungen. — 



Tagesnachrichten. 


389 


Chirurgie (Einführender: Krankenhaus - Oberarzt Dr. Gösch el, Josephs¬ 
platz 6; Schriftführer: Dr. Carl Koch, Lorenzerplatz 17): 1. Privatdozent Dr. 
v. Bttngncr (Marburg): Kastration mit Evnlsion des vas deferens. — 2. Dr. 
Kronacher (München): Wunddreinage und Dauerverband. — 3. Sanitätsrath 
Dr. Heusner (Barmen): Zur Behandlung der Oberarmbrüche. Demonstrationen 
orthopädischer Apparate. — 4. Professor Dr. Heinecke (Erlangen): Ueber die 
Operation des Mastdarmcarcinoms. Demonstration interessanter Fälle in der 
Erlanger Universitätsklinik. — 5. Professor Dr. Länderer (Leipzig): a) Zur 
Chirurgie des Magens, b) Zur chirurgischen Plastik. — 6. Professor Dr. Graser 
(Erlangen): Unfall als Ursache von Entzündungen und Gewächsen. — 7. Dr. 
W. Müller (Aachen): Zur Operation grosser Mesenterialtumoren mit De¬ 
monstration von Präparaten. — 8. Professor Dr. Bruns (Tübingen): Ueber den 
Gehverband bei Frakturen und Operationen an den unteren Extremitäten. — 
9. Professor Dr. Riedinger (Würzburg): Zur Frage der Periostitis albuminosa. 

— 10. Dr. He in lein, prakt. Arzt (Nürnberg): Beiträge zur Nervenchirurgie. — 
11. Professor Dr. Tillmanns (Leipzig): Thema Vorbehalten. — 12. Medizinal¬ 
rath Dr. Lindner (Berlin): Thema Vorbehalten. — 13. Privatdozent Dr. Hoffa 
(Wilrzburg): a) Beiträge zur Lehre und Behandlung des Plattfusses. b) De¬ 
monstration der Operation der angeborenen Hüftgelcnksluxation. (Operation in 
einer hiesigen Klinik.) — 14. Professor Dr. Helfe rieh (Greifswald): Ueber 
Kuochenusur. — 15. Dr. Beely (Berlin): Beitrag zur mechanischen Behandlung 
des Plattfusses. — 16. Professor Dr. Garr6 (Tübingen): Ueber Acthemarkosen. 

— 17. Oberarzt Dr. Göschei (Nürnberg): Thema Vorbehalten. — 18. Dr. Carl 
Koch (Nürnberg): Thema Vorbehalten. — 19. Dr. Dörfler, prakt. Arzt 
(Wcisscnburg a. S.): Zur Frühoperation des Jleus; Kasuistisches aus der 
Landpraxis. — 

Gebnrtshülfe nnd Gynäkologie (Einführender: Dr. W. Merkel, 
Karlsstrasse 3; Schriftführer: Dr. Simon, Spittlerthorgraben 47): 1. Professor 
Dr. Frommei (Erlangen): Thema Vorbehalten —2. Professor Dr. Döderlein 
(Leipzig): Thema Vorbehalten. — 3. Dozent Dr. Dührssen (Berlin): Thema 
Vorbehalten. — 4. Dozent Dr. Hasenfold (Franzensbad): Ueber Bade- und 
Brunnenkuren bei Schwangeren. — 5. Dr. A. Theilhaber (München): Be¬ 
ziehungen gastro-intestinalen Störungen zu den Erkrankungen des weiblichen 
Geuital-Apparates. — 6. Dr. Simon (Nürnberg): Ueber einige seltenere Miss¬ 
bildungen und ihre Behandlung. 

Kinderlieilknnde (Einführender: Hofrath Dr. Cnopf son., Karolinen¬ 
strasse 29; Schriftführer Dr. R. Cnopf, St. Johanuisstrasse 1): I. Ueber Cholera: 
Referent: Dr. Happe (Hamburg); Korreferent Dr. Poza (Hamburg). II. Die 
öffentliche Fürsorge für stotternde und stammelnde Kinder: Referent: Dr. 
II. Gutzmann (Berlin); Korreferent: Dr. R. Kafcmann (Königsberg i. Pr.). 
An einzelnen Vorträgen sind ferner gemeldet: 1. Professor Kassowitz (Wien): 
Ueber den gegenwärtigen Stand der Dentitions-Krankheiten. — 2. Dr. R. Fischei 
(Prag): Ueber die Aetiologie der Gastrointestinalkatarrhe im Prager Findelhaus. 

— 3. Professor Soltmann (Breslau): Thema unbestimmt. — 4. Dr. H. Rehn 

(Frankfurt a. M.): Die Influenza-Epidemie von 1890/91 und 1891/92 im Kindes¬ 
alter. — 5. Dr. Meinert (Dresden): Zur Aetiologie der Chlorose. — 6. Dr. 
De ich ler (Frankfurt a. M): Demonstration der Keuchhusten - Protozoen. — 
7. Oberstabsarzt Dr. E. Reger (Hannover): Demonstration graphischer Dar¬ 
stellungen von Epidemien von Infektionskrankheiten. — 8. Dr. Schmid- 

Monnard (Halle a. S.): Thema noch nicht bestimmt. — 9. Prof. Dr. v. Ranke 
(München): Sammelforschung über Intubation. — 10. Prof. Dr. Wiss (Zürich): 
Ueber die Entstehung angeborener Defekte. 

Neurologie und Psychiatrie (Einführender: Oberarzt Dr. Schuh, 
Obstmarkt 28; Schriftführer: Dr. Stein, Steinbühlerstrasse 10): 1. Privat¬ 
dozent Dr. Sommer (Würzburg): Anatomischer Befund bei einer in allgemeinem 
Spasmus, klonischen Zuckungen und Incoordination sich äussernden Nervenkrank¬ 
heit sui generis. — 2. Professor Dr. Eulenburg (Berlin): Ueber Erythro- 
melalgie. — 3. Professor Dr. Ziehen (Jena): Thema Vorbehalten. — 4. Prof. 
Dr. Strümpell (Erlangen): Ueber hereditäre Systemerkrankungen. — 5. Prof. 
Dr. Mendel (Berlin): Zur Pathologie der Epilepsie. — 6. Prof. Dr. v. Monakow 
(Zürich): Zur Lehre von den sekundären Degenerationen im Gehirn. — 7. Nerven- 



390 


Tagesnachrichten. 


arzt Dr. Szumann (München): a) Thema Vorbehalten, b) Demonstration des 
Universalkommutators in Funktion. — 8. Nervenarzt Dr. 0. Stein (Nürnberg): 
Thema Vorbehalten. — 9. Oberarzt am Sebastianspital Dr. Schuh (Nürnberg): 
Thema Vorbehalten. 

Hygiene and Medizinalpolizei (Einführender: Hofrath Dr. Stich, 
Adlerstrasse 6; Schriftführer: Prakt. Arzt Dr. Goldschmidt, Weiumarkt 12): 
1. Privatdozent Dr. Czaplavski (Tübingen): Ueber Aktinomyces.— 2. Privat¬ 
dozent Dr. Dcgener (Braunschweig): Ueber den gegenwärtigen Stand der 
Abwasserfrage beziigl. der Städte und Industrie. — 3. Landgerichtsarzt Dr. 
Dernuth (Frankenthal): Zur Frage des Eiweissbedarfes bei der Ernährung des 
Menschen. — 4. Geheimrath Professor Dr. Finkelnburg (Bonn): Ueber 
psychiatrische Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege. — 5. Professor 

Dr. Hüppe (Prag): Thema Vorbehalten. — 6. Professor Dr. Koch (Brann- 
schweig): Die Entwickelung des Jugendspieles in Deutschland. — 7. Dr. Th. 
Oppler (Nürnberg): Mittheilungen aus dem Gebiete der Gewerbe-Hygiene mit 
Demonstrationen. — 8. Professor Dr. Rosenthal (Erlangen): Ueber Kalorie 
metrie an Thieren. Mit Demonstrationen und Versuchen. — Demonstrationen an 
Aparaten. (Dieser Vortrag wird in gemeinschaftlicher Sitzung der physiologischen 
und hygienischen Sektion am Freitag im physiologischen Institut zu Erlangen 
gehalten werden.) — 9. Geheimrath Obermedizinalrath Dr. von Kerschen¬ 
ste i n e r (München): Die Hygiene der Treppen und des Treppenhauses. — 
10. Bezirksarzt Dr. Schäfer (Kaisheim): Mittheilungen über die früheren und 
jetzigen Infektions-Krankheiten im Zuchthause Kaisheim. — 11. Geheimer 

Sanitätsrath Dr. Wallichs (Altona): Zu den Todesfällen im Wochenbett. — 
12. Ministorialrath a. D. Dr. Wasserfuhr (Berlin): Zum Reichsseuchengesetzc. 
— 13. Dr. Th. Weil (Berlin): Ueber Müllbeseitigung. — 14. Prof. Dr. Wolff- 
h ü ge 1 (Göttingen): Thema Vorbehalten. — 15. Medizinalrath Dr. Wo 11 n e r 
(Fürth): Ueber die Fürther Industriezweige und deren Schattenseiten; Queck¬ 
silber- und Silberbelege, Bronzefabrikation, Spiegelglasschleiferei mit Facetier- 
werken. — 16. Seminarlehrer Dr. Stimfl (Bamberg): Die Beziehungen der 
Physiologie zur Pädagogik, gemeinsam mit den Abtheilungen 9, 10 und 30 am 
Donnerstag Nachmittag 2'/ 9 Uhr. — 17. Professor Dr. C. Fränkel (Marburg): 
Thema Vorbehalten — 18. Privatdozent Dr. Prausnitz (München): Thema 
Vorbehalten. — 19. Professor Dr. Wolpert (Nürnberg): Ueber Bestimmung 
der Luftfeuchtigkeit mit Hülfe der Waage. — 20. Dr. Gold Schmidt (Nürn¬ 
berg): Ueber Milzbranderkrankungen bei Arbeitern der Pinselindustrie. — 
21. Dr. Sigm. Merkel, Physikatsassistent (Nürnberg): Experimentelle Studien 
über Milzbrand in der Nürnberger Pinselindustrie. — 22. Geh. Medizinal-Rath 
Dr. Krieger (Strassburg i. E.): Theoretische Bemerkungen über die Desinfektion 
durch Wasserdampf. — 23. Dr. Niederstadt (Hamburg): a) Die bakteriologi¬ 
sche Beschaffenheit des Wassers um Hamburg herum; b) Milchversorgung für 
grössere Städte. — 24. Sanitätsrath Dr. Biedert (Hagenau i. E.): Demonstration 
des Pann witz’sehen Desinfektions - Apparates und Verschlüsse. — 

Gerichtliche Medizin (Einführender: Königl. Landgerichtsarzt Dr. Hof¬ 
mann, Fürtherstrasse 53; Schriftführer: Dr. Steinheimer, Gostenhofer 
Hauptstrasse 5): 1. Professor Dr. Seydel (Königsberg): a) Ueber die Er¬ 

scheinungen an nach Suspension und Strangulation Wiedcrbelebter und deren 
Bedeutung für den Gerichtsarzt. — b) Thema Vorbehalten. — 2. Professor 
Dr. R e u b o 1 d (Würzburg): a) Demonstration von Schädelbrücheu. b) Bemerkungen 
zurGeschichte der gerichtlichen Medizin. — 3. Dr L epp mann (Berlin): Das 
Tätowiren in seiner kriminalpsyologischen und krimiualpraktischcn Bedeutung. — 
4. Professor Kratter (Graz): Ueber Gewaltsame Todesveranlassuugen. — Kgl. 
Bezirksarzt Dr. Maurer (Erlangen): Zur Diagnose postmortaler Verletzungen 
an menschlichen Leichen durch Thierc mit Demonstrationen und Abbildungen. — 

Medizinische Geographie, Kli i.atologie, Hygiene der Tropen (Ein¬ 
führender : Dr. B a u ra ü 11 e r, prakt. Arzt, Tuchgasse 1; Schriftführer: Dr. 
Schrenk, prakt. Arzt, Fleischbrücke 1): 1. Dr. Be low (Cönnern): Ueber das 
Gesetz der äquatorialen Selbstregulirung der Organismen hinsichtlich der Akkli¬ 
matisation und Artcnbildung. — 2. W. Krebs (Halle a. S.): Grandwasser und 
Bodenverhältnisse einiger Städte in gesundheitlicher Beziehung. — 3. Stabsarzt 
Dr. Sander: a) Die Viehseuchen in Afrika und Mittel zu ihrer Bekämpfung. 



Tugesnachrichton. 


301 


b) Vorläufige Berichterstattung über die Aussendung der tropenhygienischen 
Fragebogen durch die deutsche Kolonial-Gesellschaft.— 4. Stabsarzt Dr. K o hi¬ 
st ock: Ueber Malariaerkrankungen, ihren Blutbefund und ihre Behandlung. 

Militär - Sanitätswesen (Einfahrende: Oberstabs- und Divisionsarzt 
Dr. Gassner, Arndtstrasse 4; Oberstabsarzt Dr. Miller, Hübnerplatz 5; 
Schriftführer: Assistenzarzt l. Klasse Dr. Webersberger, Praterstrasse 21): 
1. Oberstabsarzt I. Klasse Dr. Hasse (Berlin): Thema Vorbehalten. — 2. Ober¬ 
stabsarzt II. Klasse Dr. Reger (Hannover): a) Der Militärarzt im Dienste der 
Epidemiologie, b) Die Fortpflanzung der durch Eiterkokken bedingten Krank¬ 
heiten. c) Die ewige Krankheit, eine epidemiologische Betrachtung. — 3. Direktor 
Dr. J. L. A. Koch (Zwiefalten): Die Bedeutung der psychopathischen Miuder- 
werthigkeiten für den Militärdienst. — 4. Assistenzarzt I. Klasse Dr. E. Jacoby 
(Würzburg): Demonstration einer selbstkonstruirten (fahrbaren) Tragbahre. — 
5. Hessing, Direktor des orthopädischen Instituts (Göppingen): Demonstration 
neuartiger Kriegsverbände. 


Cholera. Die Nachrichten über das Auftreten der Cholera in Frank¬ 
reich sind nach wie vor sehr ungenau. Bis Mitte Juli sollen in Südfrankreicb 
758 Personen der Seuche erlegen sein, davon in Marseille 278, im Departe¬ 
ment Herault 193. In Nantes sind vom 1.—10. Juli 25 choleraverdächtige 
Erkrankungen mit 13 Todesfälle vorgekommen. 

Aus den Niederlanden wird ein Cholerafall in Hertogenbosch ge¬ 
meldet. 

In Oesterreich bezw. Ungarn sind keine der Cholera verdächtigen 
Erkrankungen in den letzten Wochen zur Anmeldung gelangt; auch in Spanien 
hat die Cholera keine weitere Ausbreitung gefunden und sind speziell in Palu- 
frugell neue Erkrankungen nicht mehr vorgekommen. Dagegen wird aus 
Italien das Auftreten der Cholera inAlessandria (14 Erkrankungen mit 11 
Todesfällen) und Neapel gemeldet. 

In Russland hat die Seuche in den Gouvernements Podolien und 
Orel entschieden zugenommen. Die Zahl der Erkrankungen betrug in der 
Woche vom 9.—15. Juli in Podolien 319 (mit 100 Todesfällen), in Orel 96 (40), 
in Saratow 17 (6), in Moskau 15 (3). 

In Mekka (Arabien) ist mit dem Abzug der Pilger die Zahl der Cholera- 
Todesfälle eine sehr geringe geworden; dagegen erreichte dieselbe in Djeddah 
noch in der zweiten Juliwoche die Ziffer 1532. In der asiatischen Türkei, 
speziell im Villajet Bassora ist die Seuche scheinbar im Erlöschen begriffen. 


Preussischer Medizinalbeamtenverein. 

Protokoll 

der am 28. Juni d. Js. in Berlin abgehaltenen Sitzung des Vorstandes 
des Preussischen Medizinalbeamten-Vereins. 

Am 29. Juli d. Js. fand in Berlin eine Sitzung des Vorstandes des 
Preussischen Medizinalbeamten-Vereins statt, an welcher sämmtliche Mitglieder 
desselben tlieilnahmen. 

1. Den ersten Punkt der Tagesordnung bildete die endgültige Ver¬ 
th eilung der Geschäfte unter die einzelnen Vorstandsmitglieder. 

Zum Vorsitzenden wurde Regierungs- und Medizinalrath Dr. Rapmund, 
zum Schriftführer Kreisphysikus und Sanitätsrath Dr. Philipp gewählt. Die 
Geschäfte des Knsseuführers wurden dem Vorsitzenden mit übertragen. 

2. Ausführung der Beschlüsse der 10. Hauptversammlung, 
a. Zunächst berichtete der Vorsitzende, dass Sonderabdrücke der Ver- 

handlangen des Vereins über das Reichsseuchengesetz 




392 


Tagesnachrichten. 


noch vor der ßerathung desselben im Reichstage sämmtlichen Bundes¬ 
rathsmitgliedern sowie sämmtlichen Mitgliedern des damaligen Reichs¬ 
tages zugestellt und dass noch so viele Sonderabdrücke zurückbehalten 
sind, um wenigstens den demnächstigen Kommissionsmitgliedern des 
neugewählten Reichtags für den Fall, dass dieser in die ßerathung 
über das Reichsseuchengesetz eintreten sollte 1 ), je ein Exemplar der 
Verhandlungen zusenden zu können. 

b. Der Vorsitzende wird beauftragt, dem Herrn Minister die Verhand¬ 
lungen der diesjährigen Hauptversammlung persönlich zu überreichen 
und demselben hierbei gleichzeitig dem von der Versammlung ein¬ 
stimmig angenommenen Beschlüsse gemäss (cfr. Seite 66 der Verhand¬ 
lungen) den Dank des Vereins für die den Medizinalbeamten gezollte 
Anerkennung auszusprechen und die Ansichten und Wünsche des Ver¬ 
eins in Bezug auf die Medizinalreform, insbesondere auf die amtliche 
Stellung der Kreisphysiker vorzutragen 1 ). 

c. Es wird beschlossen, dem Herrn Minister eine Eingabe zu überreichen, 
die im Sinne des Beschlusses des Vereins (cfr. Seite 140 der Verhand¬ 
lungen) die Regelung der Gebührenfrage für Ausstellung von Gut¬ 
achten über den Gesundheitszustand von Beamten bezweckt. 

d. Der weitere Beschluss des Vereins über die den Medizinalbeamten für 
Untersuchung von Personen in ihren eigenen Wohnungen zu gewähren¬ 
den Gebühren wurde durch den Beschluss des Reichsgerichts vom 
6. Februar d. Js. als erledigt angesehen. 

3. Die Frage, ob im Herbst nochmals eine Hauptversammlung abgehalten 
werden soll, wurde einstimmig verneint. Dabei wurde gleichzeitig die Frage in 
Erwägung gezogen, ob es nicht zweckmässiger sei, die Hauptversammlungen 
immer im Frühjahr, im Anschluss an den Chiurgenkongress, statt im Herbst 
abzuhalten. Die Vereinsmitglieder werden gebeten, ihre Ansichten in dieser 
Hinsicht dem Vorstande kund zu geben. 

4. Seitens des Vereins Deutscher Hebammen war dem Vorstände der Ent¬ 
wurf einer Petition an den Herrn Minister um organisatorische Aende- 
rungen des gesammten Hebammenwesens mit der Bitte zugegangen, 
denselben gelegentlich der diesjährigen Hauptversammlung einer Besprechung zu 
unterziehen. Da dies wegen der Fülle des Materials unmöglich gewesen war, 
so soll dieser Gegenstand auf die Tagesordnung der nächsten Hauptversammlung 
gesetzt werden. 

5. Auf Antrag des Vorsitzenden wurde die Uebernahme der Kosten für 
einzelne Prozesse und für eine Umfrage in Taxangelegenheiten auf die Vereins¬ 
kasse genehmigt. 

6. In Bezug auf die von dem Organisations- Komitee für den XI. inter¬ 
nationalen, medizinischen Kongress zu Rom ergangene Einladung zum Kongress 
hielt der Vorstand eine offizielle Vertretung des Preussischen Medizinalbeamten- 
Vereins auf dem Kongresse für dringend erwünscht und da voraussichtlich die 
Vorstandsmitglieder Regierungs- und Medizinal-Rath Dr. Wern ich. Geheimer 
Sanitäts - Rath Dr. Wallichs, Kreisphysikus und Sanitäts - Rath Dr. Philipp 
an dem Kongresse theilnehmen werden, so wurde beschlossen, einen derselben 
mit dieser Vertretung zu beauftragen. 

Berlin, den 27. Juni 1893. 

Dr. Rapmund, Reg.-u. Med.-Rath, Dr. Philipp, Kreisphys. u. San. - Rath, 
Vorsitzender. Schriftführer. 


*) Das Reichsseuchengesetz ist nicht zur Verabschiedung gelangt. 
*) Ist inzwischen geschehen. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W 

J. C. C. Bruns, Bachdruckerei, Minden. 




6. Jahrg. 


Zeitschrift 


1893 


für 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rathu.gerichtl.Staritphysikus in Berlin. Reg.-und Meduinalrath in Minden. 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die darehlaufende Petitzeile 46 Pf. nimmt die Yerlagshandlung und Rud. Moese 

entgegen. 


No. 16. 


Erscheint am 1. und 15. jeden Monats. 
Preis jährlich 10 Mark. 


15. Aug. 


Zur Lehre von der Diffusion der Gifte in menschlichen Leichen. 

Von Dr. Albin Haberda und Dr. Leo Wachholz. 

(Aua dem Institute für gerichtliche Medizin des Herrn Hofrathes 

von Hofmann in Wien.) 

Strassmann sprach im April d. J. in der Versammlung des 
Preussischen Medizinalbeamten-Vereins in Berlin über die Diffusion 
von Giften in menschlichen Leichen, und richtete dabei sein Haupt¬ 
augenmerk auf den Arsenik und die Frage, ob es trotz dieser 
Diffusion möglich sei, aus der Vertheilung des Giftes in den ver¬ 
schiedenen Organen, besonders in jenen, die dem Magen an- oder 
zunächstliegen, mit Sicherheit im einzelnen Falle zu entscheiden, 
ob das Gift in den lebenden Organismus gebracht und resorbirt 
oder der Leiche einverleibt worden und dann diffundirt sei. 

Zum Schluss seines Vortrages meint Strassmann mit 
vollem Rechte, „dass uns die Lehre von der Diffusion an der 
Leiche ein umfangreiches und kaum so leicht zu erschöpfendes 
Arbeitsgebiet eröffnet, in dem jede Theilnahme und Unterstützung 
auch durch gelegentliche Beobachtungen dankbar zu begrüssen 
sein wird.“ Derartige hauptsächlich experimentelle Beobachtungen, 
die wir über Anregung unseres hochverehrten Lehrers, des Herrn 
Hofrathes von Hofmann, in letzter Zeit gemacht haben, wollen 
wir hiermit als kleinen Beitrag zu der vorerwähnten Lehre der 
Öffentlichkeit übergeben. 

Namentlich im Hinweise auf die Literatur hat Strassmann 
nachgewiesen, dass es nicht müssig sei, derartige Untersuchungen 
anzustellen, da die daraus gewonnenen Sätze im gegebenen Falle 
vor grossen Irrthiimern bewahren können. Liman’s 1 ) Ansicht, 


') (Jasper-Liraan: Praktisches Handbuch der gerichtlichen Medizin, 
II. Aull., 2. Bd., S. 405. 








894 


Dr. Haberda. 


dass eine Leichen vergiftung weder zufällig noch aus nichts würdiger 
Bosheit Vorkommen dürfte und dass die Umstände des konkreten 
Falles wohl Licht geben würden, ist durch die von Strass- 
mann citirten Fälle von Reese und Prescot längst widerlegt. 
Die Frage, ob das Gift sicher noch dem lebenden Organismus 
einverleibt worden war, kann eben bei vielen Gelegenheiten auf¬ 
geworfen werden. Eine derselben erwähnt Kobert in seinem 
„Lehrbuch der Intoxikationen“, indem er daselbst S. 83 sagt, dass 
es möglich wäre, dass ein Verbrecher, der sein Opfer erwürgt hat, 
der Leiche Gift einflösst, um den Schein eines Selbstmordes zu 
erwecken. Man kann sich ganz leicht auch noch ähnliche Mög¬ 
lichkeiten konstruiren und wenn man bedenkt, mit welchen Ein- 
würfeu oft der Vertheidiger im Gerichtssaal dem sachverständigen 
Gutachten entgegentritt, so erkennt man erst, wie das scheinbar 
Unwichtigste in unseren Kenntnissen oft eine entscheidende Rolle 
zu spielen Gelegenheit findet. 

Dass die Säuren durch die Magen- und Darmwand post mortem 
diffundiren, ist schon längst sehr wohl bekannt und dürften sich 
in dieser Hinsicht die organischen Säuren wohl den mineralischen 
ziemlich gleich verhalten und der Unterschied nur ein gradueller 
sein, der von der Stärke der Wirkung der Säure auf das Gewebe 
überhaupt abhängt. Ob sich an menschlichen Leichen solche 
Diffusionserscheinungen gewöhnlich nach Oxalsäure Vergiftung vor¬ 
finden, ist uns aus eigener Erfahrung nicht bekannt, da diese Ver¬ 
giftungen als Selbstmord hier nicht Vorkommen. In dem einzigen 
im Wiener gerichtlich - medizinischen Institute secirten Falle einer 
zufälligen tödtlichen Vergiftung mit l / 2 Kaffeelöffel Oxalsäure, die 
statt Bittersalz einem Kranken gereicht worden war, fand sich 
bei der wenige Stunden nach dem Tode gemachten Sektion eine 
schwache, doch deutliche, auf Diffusion beruhende Anätzung der 
Leber und Milz. In dem Sektionsbefunde heisst es: „Die Unter¬ 
fläche des linken Leberlappens oberflächlich weissgrau getrübt, 
die Milz schlaff, von mittlerem Blutgehalt, an der Innenfläche 
leicht getrübt.“ Bei mehreren zu anderen Zwecken mit Oxal¬ 
säure vergifteten Thieren konnte diese Anätzung der Nachbar¬ 
organe ungemein deutlich wahrgenommen werden- So an der 
Leiche eines nur wenige Monate alten Kaninchens, dem mit¬ 
telst Schlundsonde etwa 10 g einer starken Oxalsäurelösung 
beigebracht worden waren und das der Vergiftung nach 5 Minuten 
erlag. Die Sektion wurde 48 Stunden nach dem Tode gemacht 
und zeigte neben dem gewöhnlichen Befund am Magen und an 
der Speiseröhre, dass die dem Magen anliegenden Leberpartien 
sowie die Milz auffallend morsch und kaffeebraun waren; auch das 
hinterste Drittel sämmtlicher Lungenlappen war schmutzigbraun 
und zunderartig morsch. 

Dass die Diffusion auch bei Karbolsäure vorkommt, war uns 
nach eigenen Erfahrungen längst bekannt, während Strass mann, 
wie er in dem citirten Vortrage sagt, erst einmal einen derartigen 
Befund bei Karbolsäure-Vergiftung vorfand und die betreffenden 
Organe deshalb auch bei jenem Vortrage demonstrirte. Im hiesigen 



Zur Lehre von der Diffusion der Gifte in menschlichen Leichen. 395 


Institute kommen Karbolsäure-Vergiftungen sowohl als Selbst¬ 
morde wie auch als zufällige Vergiftungen in jedem Jahre mehrmals 
zur Sektion. Hierbei finden sich nicht selten die Nachbarorgane 
des Magens theilweise angeätzt. Wir greifen zuerst den letzten 
derartigen Fall heraus: Er betrifft ein 21 Monate altes Kind, das 
eine aus Karbolsäure bestehende Wanzentinktur, die unverwahrt 
stehen geblieben war, ausgetrunken hatte. Die gerichtliche Sektion 
der Leiche wurde am 6. Mai d. J., 40 Stunden nach dem Tode 
des Kindes, von Herrn Hofrath von Hofmann vorgenommen, 
ln den Brustfellsäcken fanden sich je 100 g einer bräunlichen 
klaren Flüssigkeit mit Karbolsäuregeruch. Der Unter lappen 
der linken Lunge weissgrau verfärbt, wie gekocht 
und stark nach Karbolsäure riechend; derselbe Befund, jedoch 
geringer, an der rechten Lunge. Die dem Magen anliegende 
Fläche der Leber wie gekocht und grauröthlich verfärbt; 
die Milz an der Innenfläche ebenfalls wie gekocht. 
Die Nieren waren nicht verändert. Im Magen ergab sich der 
typische Befund. — 

Zum Beweise unserer Behauptung führen wir nur noch zwei 
Fälle aus früheren Jahren an: Bei einer 29 Jahre alten geistes¬ 
kranken Baronin, die ihre zur Vaginalausspülung bestimmte Karbol¬ 
säurelösung getrunken und sich überdies aus dem Fenster ge¬ 
stürzt hatte, zeigte die Sektion, dass die dem Magen anliegende 
Fläche der Leber bis auf 1 cm Tiefe wie gekocht und 
blassziegelroth war. In gleicher Weise war auch die 
Innenfläche der Milz verändert. Das Blut in den Milz- 
gefässen erwies sich in eine feste ziegelrothe Masse verwandelt. 
Der weitere Fall betrifft einen 41 Jahre alten Geisteskranken, 
der in der Irrenanstalt eine aus Nachlässigkeit seines Wärters 
unverwahrt gebliebene Flasche mit konzentrirter Karbolsäurelösung 
geleert hatte. Bei der gerichtlichen Obduktion wurde gefunden, 
dass das Bauchfell an der Unterfläche des linken Leberlappens 
und ebenso die darunter gelegene Lebersubstanz auf 3 mm Tiefe 
wie gekocht aussah. Der Ueberzug der Milz an deren Innen¬ 
fläche war bleichgrau getrübt. 

In ähnlicher Weise wie Säuren und Alkalien diffundirt auch 

das Sublimat. In Fällen, die erst nach einigen Tagen tödten, 

findet man auf Diffusion des Giftes basirende Organveränderungen 
nicht, wohl aber bei akuten Vergiftungen, v. Hofmann erwähnt 
dies in seinem Lehrbuche, indem er anführt, dass er diese Imbi¬ 
bition an den Leichen zweier Selbstmörder beobachtet hat. Diese 
Beobachtung stammt aus dem Jahre 1888 und betrifft die Leichen 
einer 58jährigen Frau und ihres Sohnes. Beide haben sich nach 
Genuss einer Sublimatlösung durch Schnitte in den Hals und die 
Beugeseite der Handgelenke getödtet. In Folge des raschen Todes 
fand sich die Giftlösung noch in grosser Menge im Magen vor 

und konnte sich daher leicht imbibiren. Die Sektion beider 

Leichen wurde 2 Tage post mortem gemacht. Bei der Frau fanden 
sich die dem Magen anliegenden Partien der Leber auf 1 mm Tiefe 
weissgrau getrübt, wie gekocht; ebenso der Ueberzug der Milz; 



396 


Dr. Haberda. 


bei ihrem Sohne war die Unterfläche des linken Leberlappens 
oberflächlich weissgrau getrübt, desgleichen die Innenfläche der 
kleinen und schlaffen Milz. Dass es uns auch experimentell gelang, 
die Diffusion von Sublimat zu beobachten, soll später erwähnt werden. 

Unsere Versuche wurden an frischen Kinderleichen in der 
Weise angestellt, dass wir mit einem Längsschnitt in der Mittel¬ 
linie des Halses die Speiseröhre blosslegten und aufschlitzten und 
nun einen dünnen Kautschukschlauch bis in den Magen einführten. 
Nunmehr wurde der Magen mit destillirtem Wasser ausgespült 
und danach von der betreffenden Lösung so viel eingegossen, dass 
sich der gefüllte Magen deutlich im Epigastrium vorwölbte. Dann 
wurde die Sonde langsam herausgezogen, die Speiseröhre sorgfältig 
ligirt und die Hautwunde vernäht. Anfänglich hatten wir die 
Leichen auf Blechtassen im Institut bei Zimmertemperatur liegen, 
später bewahrten wir sie, um die Fäulniss zu verzögern, im Eis¬ 
keller auf und schlugen sie überdies in mit Sublimatlösung be¬ 
feuchtete Tücher ein. Die Leichen lagen theils auf dem Rücken, 
theils suspendirten wir sie am Halse oder an den Füssen, oder 
wir fixirten sie in rechter Seitenlage. 

Die verwendeten Substanzen waren Cuprum sulfuricum, Sub¬ 
limat und KaliuÄ chloricum in starken Lösungen, Nitrobenzol und 
Phosphor. In einer weiteren Versuchsreihe verwendeten wir saure 
Lakmuslösung und wässerige konzentrirte Methylenblaulösung. 

Die Kupfervitriollösung diffundirte ungemein rasch, so 
dass man schon nach 24 Stunden eine deutliche blaugrünliche Ver¬ 
färbung der Bauchdecken in der Nähe des Nabels bei einer auf dem 
Rücken liegenden Leiche beobachten konnte. Diese breitete sich 
immer mehr aus, so dass am dritten Tage die ganze linke Seite 
der Bauchdecken von der 7. Rippe bis zur Symphyse und von der 
Mittellinie bis zur linken vorderen Skapularlinie bläulichgrün ver¬ 
färbt war. Die Sektion wurde am dritten Tage gemacht: Im 
Bauche war eine geringe Menge einer grünlichen Flüssigkeit, in 
welcher sich chemisch Kupfer nachweisen liess. Der Magen ziem¬ 
lich stark ausgedehnt, seine Wand in der ganzen Ausdehnung grün 
und brüchig. Sämmtliche Dünn- und Dickdarmschlingeu mit Aus¬ 
nahme des Coecums und Rectums grünlich gefärbt. Auch ein 1 cm 
langes Stück an der Flexura coli hepatica ungefärbt. Die Leber 
nicht nur in dem dem Magen anliegenden linken Lappen, sondern 
auch rechts an der Unterseite blassgraugrün und morscher; des¬ 
gleichen die Milz fast bis zu ihrer Aussenseite. Auch das Pan¬ 
kreas ist in gleicher Weise verändert. Die ganze linke Hälfte 
des Zwerchfells und durch dieses hindurch der Unterlappen der 
linken Lunge von der Basis bis auf 1 cm Tiefe brüchig und grün¬ 
braun. Das Peritoneum der Rückwand und zwar auf beiden 
Seiten fast gleich stark grün. Die linke Niere bis aut die laterale 
Hälfte der Vorderfläche, die rechte bis auf den unteren 
Pol grün. Im Jejunum grünliche Flüssigkeit, die die Kupfer¬ 
reaktion giebt. Auch die linken untersten Rippen, das Zellgewebe 
hinter dem Oesophagus, die Hiluspartien der Lungen sowie die 
Hinter-Unterwand beider Herzvorhofe grünlich. 



Zu i Lehre von der Diffusion der Gifte in menschlichen Leichen. 397 


Ganz ähnlich war das Sektionsergebniss in einem im Mai d. ,T. 
von dem einen von uns (Wachholz) in Krakau secirten Falle 
von Selbstmord mittelst einer starken Lösung von 
schwefelsaurem Kupfer. Die Frau war bald nach der Ein¬ 
nahme des Giftes an Glottisödem gestorben. Die 24 Stunden nach 
dem Tode gemachte Sektion ergab: Der Magen, die ihm anliegen¬ 
den Darmschlingen und die Innenfläche der Milz grünblau gefärbt; 
ebenso die Unterfläche und ein 1—2 cm breiter Randstreifen von 
der Oberfläche des linken Leberlappens. Die linke Zwerchfellhälfte 
und das Zellgewebe über der Vorderseite der Brustwirbelsäule 
waren in gleicher Weise grünlich gefärbt. Die Magenschleimhaut 
war trocken, wie gekocht und brüchig; ebenso die Schleimhaut 
im Duodenum. Das Blut im Herzen und den Gefässen war flüssig. 

Bei den Versuchen mit Sublimatlösung Hessen wir die 
Leichen längere Zeit liegen, da wir voraussetzten, dass die Fäul- 
niss der mit dem Sublimat in Berührung gekommenen Theile nur 
langsam fortschreiten werde. Eine Leiche verbHeb in horizontaler 
Rückenlage. Schon am Tage nach der Einführung des SubUmats 
trat in Folge Fäulniss eine leichte Grünfärbung der Brust- und 
Bauchhaut auf, doch ein halbhandflächengrosser Fleck über und 
unter dem linken Rippenbogen, der nach links bis zur hinteren 
Axillarlinie, nach rechts nicht ganz bis zur Mittellinie reichte, stach 
durch seine grauweisse Farbe ab. In den folgenden Tagen wird 
diese Stelle durch den Kontrast gegen die zunehmende Grün¬ 
färbung der Umgebung noch deutlicher und bleibt es auch, während 
sich am vierten Tage bereits Fäulnissemphysem in der umgebenden 
Haut zeigt und unter der Leiche stinkendes schmutzigrothes Serum 
sich ansammelt. Am 7. Tage wimmeln Mund, Nase und Augen 
bereits von Fliegenmaden. An diesem Tage wird die Sektion 
gemacht. Sie zeigt, dass die grauweisse Hautpartie durch die 
ganze Dicke hindurch die gleiche Farbe zeigt, während die Haut 
der Umgebung am Durchschnitt faulgrün gefärbt ist. Der Magen 
ist stark gefüllt, seine Wandung überall gleichmässig weissgrau 
und wie gekocht, desgleichen die ganze Unterseite des linken 
Leberlappens, an welchem ein 1 cm breiter Saum entsprechend 
dem seitlichen und vorderen Rande durch die ganze Dicke hindurch 
verätzt erscheint. Auch die linke Zwerchfellhälfte sowie ein 1 cm 
hohes Stück des basalen Antheiles des linken Lungenunterlappens, 
die Spitze des zungenförmigen Lappens und die Unterfläche der 
linken Herzkammer sind in gleicher charakteristischer Weise ver¬ 
ändert. Vom Darm zeigt nur die dem Magen anHegende Wand des 
Quercolon sowie eine kleine anliegende DünndarmschUnge weiss¬ 
graue Verätzung. Die Milz ist vollständig hart, brüchig und 
blaugrau, desgleichen der obere Pol der linken Niere. Die rechte 
Niere und die sonstigen Organe vollständig unverändert, zum 
Theil schon von Fäulnissgasen durchsetzt. 

In einem zweiten Versuche mit Sublimatlösung hängten 
wir die Leiche an den Füssen auf. Auch da bildete sich in der 
Gegend des linken Rippenbogens ein über thalergrosser grauweisser 
Fleck, der sich trotz Fäulniss der Leiche erhielt. Entsprechend 



398 


Dr. Haberda. 


der Lage der Leiche wurden Kopf, Hals und Thorax grauschwarz, 
aus Mund und Nase entleerte sich blutiger Schaum. Schon nach 
einigen Tagen runzelte sich die Epidermis und es traten, zuerst 
am Thorax und Kopf, mit blutiger Flüssigkeit gefüllte Blasen auf. 
Die nach 9 Tagen gemachte Sektion ergab folgende wesentliche 
Befunde: Der Magen fast leer, seine Wand wie gekocht. Der 
linke Leberlappen und die Innenseite der Milz wie gekocht, grau¬ 
gelb, ebenso die linke Zwerchfellhälfte. Der linke obere Nieren- 
pol in ganz geringem Umfange grauweiss. Das Quercolon, wo es 
dem Magen anliegt, weisslich, die anderen Därme faul. Der ganze 
linke Lungenunterlappen auffallend frisch, wenn auch ziemlich 
weich. Der Oesophagus grauweiss. 

In diesem Falle waren demnach die Veränderungen an den 
Brustorganen geringer als im vorigen, wiewohl sie nach der Lage 
der Leiche ausgebreiteter zu erwarten gewesen wären. Da der 
Magen leer befunden wurde, liegt es nahe anzunehmen, dass seine 
Füllung nicht gut gelang, oder die Ligatur des Oesophagus nicht 
ganz gut hielt. 

Minder deutlich waren die Ergebnisse bei Verwendung einer 
Lösung von chlor saurem Kali. In der Gegend des linken 
Rippenbogens zeigte die Haut eine deutliche Braunfärbung, die 
schon nach zwei Tagen gut ausgeprägt war und sich stark von 
der grünen Fäulnissfarbe der Umgebung abhob. Die am fünften 
Tage gemachte Sektion erwies an Magen, Leber, Milz und Zwerch¬ 
fell keine sichtbaren Veränderungen. Das blutige Transsudat im 
Peritorealraum und im Pericardium erschien uns bräunlich und 
zeigte einen schwachen, verschwommenen Methaemoglobinstreifen 
im Spectrum. Dagegen liess sich aus dem linken Lungenunter¬ 
lappen, der vollständig luftleer, dicht und brüchig (also offenbar 
pneumonisch verändert) war und dabei eine grünlich braune Farbe 
zeigte, durch Auslaugen mit destillirtem Wasser eine milchkaffee¬ 
farbige Flüssigkeit gewinnen, die spektroskopisch einen starken 
und deutlichen Methaemoglobinstreifen aufwies. Möglicher Weise 
verdankt derselbe der Einwirkung der diffundirten Lösung des 
chlorsauren Kaliums seine Entstehung; denn die in gleicher Weise 
aus dem linken Oberlappen und dem rechten Unterlappen ge¬ 
wonnenen Flüssigkeiten zeigten eine schmutzigrothe Farbe und 
das Oxyhaemoglobinspectrum. 

Bei Verwendung von Nitrobenzol konnte eine ganz deut¬ 
liche Diffusion wahrgenommen werden. Es wurde eine Pseudo¬ 
emulsion von 8 cm 8 Nitrobenzol in 20 cm 8 Wasser in den Magen 
eingeführt. Am zweiten Tage zeigte sich leichte Grünfärbung 
der Haut. In der Nähe der Leiche ist deutlicher Bittermandel¬ 
geruch wahrnehmbar. Am vierten Tage wird die Sektion gemacht. 
In den Pleurahöhlen sowie im Peritonealraum findet sich etwas 
röthliche Flüssigkeit; letztere zeigt einen deutlichen Methaemoglobin¬ 
streifen. Der Geruch nach bitteren Mandeln ist besonders bei 
Eröffnung des Bauches ungemein deutlich wahrnehmbar. Der 
Magen ist stark gefüllt, die wässrige Flüssigkeit in ihm ist mit 
reichlichen gelben, stark lichtbrechenden Tröpfchen untermengt und 



Zur Lehre von der Diffusion der Gifte in menschlichen Leichen. 399 


lässt sich bis auf 50 cm Tiefe in den Dünndarm herab verfolgen. 
Die Magenschleimhaut wie gequollen und leicht abstreifbar. Die 
dem Magen anlagernden Leberabschnitte stechen durch 
ihre hellereFarbe und leichte Quellung deutlich von dem 
übrigen Leberparenchym ab. Die konkave Seite der Milz 
ist in gleicher Weise verändert. Zwerchfell und Nieren sind 
unversehrt. An den Kadavern mehrerer Kaninchen, die zu anderen 
Zwecken mit Nitrobenzol vergiftet worden waren, konnten wir auch 
jedesmal Diffusion des Giftes beobachten, wenn die Sektion erst 
mehrere Stunden nach dem Tode gemacht worden war. Deutlich 
stachen in solchen Fällen die dem Magen anliegenden Leber- und 
Milzpartien durch ihre gelbgraue Farbe von dem übrigen braun- bis 
violettrothen unveränderten Parenchym ab. In einem Falle, wo 
die Sektion nicht ganz 12 h p. mortem gemacht worden war, war 
auch eine über linsengrosse Stelle am oberen linken Nierenpol 
durch Diffusion graugelbweiss gefärbt. 

Mit Phosphor stellten wir nur einen Versuch an, der negativ 
ausfiel. Wir verwendeten eine Aufschwemmung der Köpfe von ge¬ 
wöhnlichen rothen Phosphorzündhölzchen. Die Leiche faulte ungemein 
rasch, weshalb wir bereits am fünften Tage die Sektion Vornahmen. 
Bei der Eröffnung des Magens entwickelten sich reichliche Phosphor¬ 
dämpfe. Die Organe zeigten nur Fäulnissbefunde. Wir untersuchten 
den linken nnd rechten Leberlappen getrennt auf Phosphor, des¬ 
gleichen jeden Lungenunterlappen, doch war das Resultat negativ. 

Die rothe Lakmuslösung diffundirte langsamer als wir er¬ 
wartet hatten und war besonders eine Färbung der Bauchhaut nicht 
oder spät zu bemerken. Die Sektionen wurden am sechsten Tage ge¬ 
macht. An der Leiche, welche in horizontaler Rückenlage belassen 
worden war, war die Imbibition mit der Lakmuslösung *) besonders 
an der hinteren Magenwand stark, doch auch die innere Fläche 
der Milz und dem Magen anlagernde Theile des Quercolon und 
des oberen Jejunum zeigten sie. Die Unterfläche des linken Le¬ 
berlappens war nur undeutlich roth gefärbt. Eine zweite Leiche 
war an den Füssen aufgehängt. In dieser war der Magen zwar 
überall, doch besonders deutlich an der kleinen Kurvatur mit Lak- 
mus imbibirt. Die Imbibition fand sich auch am Bauchfellüberzug 
der vorderen Bauchwand in der Magengegend, sowie an der Un¬ 
terfläche der linken Zwerchfellhälfte und der Innenseite der Milz. 
Eine dritte Leiche wurde am Halse aufgehängt. An derselben 
erschien am vierten Tage ein schmutzigrother Streifen in der 
Bauchhaut, der vom linken Rippenbogen schräg nach rechts und 
unten gegen den Nabel zog. Bei der Sektion war die Bauchwand 
im ganzen linken Epigastrium schmutzigroth. Der noch senkrecht 
stehende Magen zeigte nur in der unteren Hälfte diese Farbe. Die 
obere Hälfte des Dünndarms war mit Lakmuslösung gefüllt und 
die Darmwand damit imbibirt. Auch ein Theil des linken Leber¬ 
lappens und des lobus quadratus, sowie die untere Hälfte der 


') Zum Nachweise derselben betupften wir die betreffende Stelle mit Am¬ 
moniak, um zu sehen, ob Blaufärbung eintrete. 



400 Dr. Haberda: Zur Lehre von der Diffusion der Gifte in menschlichen Leichen. 


Innenfläche der Milz und das Bauchfell über dem oberen Pol der 
linken Niere zeigten Rothfärbung. 

Ganz analog fielen die Versuche mit Methylenblaulösung 
aus, doch zeigten die Leichen meist schon am zweiten Tage bläu¬ 
liche Flecken an der Bauchhaut unter dem linken Rippenbogen. 
Eine der Leichen blieb auf dem Rücken liegen, eine zweite wurde an 
den Füssen, eine dritte am Halse suspendirt. Die Sektionen 
wurden am dritten, vierten und sechsten Tage gemacht und erga¬ 
ben Befunde, die den bei den Versuchen mit Lakmuslösung eben 
angeführten ganz analog waren. Wir unterlassen daher ihre aus¬ 
führliche Wiedergabe. Eine vierte Leiche, in deren Magen wir 
Methylenblaulösung einfülirten, befestigten wir in rechter Seiten¬ 
lage. An derselben fanden sich die Bauchdecken rechts von der 
Mitte bläulich gefärbt. Der Magen stand, wie die Sektion erwies, 
noch ziemlich senkrecht und war an der kleinen (rechts gelegenen) 
Kurvatur tiefblau, an der grossen dagegen nur schwachbläulich 
gefärbt. Einige an der kleinen Kurvatur angelagerte Dünndarm¬ 
schlingen, sowie eine kleine, rechts von der Mitte gelegene Partie des 
Quercolon war blau gefärbt. An der Unterfläche der Leber fand sich 
auch am rechten Lappen eine deutliche Blaufärbung, desgleichen 
an den Mittelpartien des Zwerchfells und an einem kleinen Theil 
des linken Rippenbogens nahe dem Ansatz an’s Brustbein. Milz 
und Nieren waren ungefärbt. 

An einer fünften Leiche reinigten wir durch Druck auf das 
Abdomen und durch Wasserklysmen den Dickdarm so gut als 
möglich und spritzten nun unter ganz geringem Druck, während 
die Leiche an den auseinandergespreizten Füssen gehalten wurde, 
Methylenblaulösung in das Rectum ein. Die Leiche blieb durch 
3 1 /* Tage an den Füssen aufgehängt. Die nach dieser Zeit ge¬ 
machte Sektion zeigte dunkelblaue Färbung des Rectums, der 
Flexur und des absteigenden und queren Colons. An vielen zer¬ 
streuten kleinen Stellen waren die Dünndarmschlingen blau gefleckt. 
Die Hinterseite des Uterus und seiner Adnexe, das Peritoneum 
der Vorderwand unterhalb des Nabels sowie das über der linken 
Niere und die Vorderfläche dieser selbst waren blau. 

Aus äusseren Gründen war es uns nicht möglich, diese Ver¬ 
suche zeitlich weiter auszudehnen und eine grössere Reihe von 
Substanzen — in Rücksicht auf ihre Fähigkeit zu diffundiren — 
in Untersuchung zu ziehen. 

Die von uns gewonnenen Resultate, die im Wesen eine Be¬ 
stätigung der Angaben Strassmanns bilden, könnten mit diesen 
vereint kurz in folgende Sätze zusammengefasst werden: 

1. Substanzen verschiedenster Art haben das Vermögen, vom 
Magen aus in der Leiche zu diffundiren. So verschiedene ätzende 
Säuren und Alkalien, dann Sublimat (von Hofmann, Reese 
und wir), Ferrocyankalium (Torsellini und Strassmann), 
Arsenik (Torsellini, Reese und Strassmann) Antimon 
(Reese), Gentianaviolett (Strassmann), Lakmuslösung 
und Methylenblau, schliesslich Cuprum sulfuricum, Nitro¬ 
benzol und wahrscheinlich auch Kalium chloricum. Durch 



Dr. Kühn: Seltene Kleinheit der Miln als angeborene Anomalie. 401 


Ausdehnen der Versuche auf längere Zeiträume würden sich wohl 
noch manche andere Substanzen anreihen lassen. 

2. Die Diffusion beginnt zumeist schon in den ersten Tagen 
nach der Einführung der Substanz in den Leichenmagen und oft noch 
vor Beginn der Fäulniss und schreitet ziemlich rasch fort. Die 
Raschheit der Diffusion ist natürlich bei verschiedenen Substanzen 
eine verschiedene. Bei ungelösten oder gar schwer löslichen 
Substanzen (wie Gentianaviolett in Substanz, Arsenik, Phosphor 
u. 8. w.) beansprucht schon ihr Eintritt längere Zeit, noch längere 
natürlich ein merkliches Fortschreiten derselben. 

3. Zuerst werden stets die dem Magen anliegenden Gewebe, 
und zwar die einzelnen je nach der Lage der Leiche in geänderter 
Intensität oder selbst Reihenfolge, und bedeutend später erst die 
entfernteren von der diffundirenden Substanz erreicht. Die Diffu¬ 
sion folgt vielfach den Gesetzen der Schwere und geht stets per 
continuitatem. Dass der Füllungszustand des Magens von Einfluss 
ist, zeigte sich auch bei unseren Versuchen. 

4. Selbst bei noch nicht faulen Leichen beweist der chemische 
Nachweis von Gift in Leber, Nieren u. s. w. noch nicht, dass das 
Gift intra vitam genommen worden sei, wie schon Strassmann 
hervorhebt. Nach diesem kann anfänglich die Differential¬ 
diagnose zwischen vitaler und postmortaler Einfuhr des Giftes 
aus der verschiedenen quantitativen Vertheilung des Giftes in der 
rechten und linken Niere, dem rechten und linken Leberlappen 
gewonnen werden, doch müsste hierbei — nach unseren Versuchen 
— allenfalls auch die Lage der Leiche in Betracht gezogen wer¬ 
den. Später oder gar schon bei weit gediehener Fäulniss kann 
die Differentialdiagnose allein von diesen Gesichtspunkten aus 
oft nicht mehr gemacht werden. 


Seltene Kleinheit der Milz als angeborene Anomalie. 

Von Kreisphysikus Dr. Kühn in Uslar. 

Während Vergrösserungen der Milz aus den verschieden¬ 
artigsten Ursachen zu den alltäglichen Sektionsbefunden gehören, 
ist eine abnorme Verkleinerung dieses Organs, welche wohl im 
hohen Alter, nach Infektionskrankheiten oder als Druck - Atrophie 
vorkommt, schon etwas Seltenes. Ganz vereinzelt indess ist der 
gänzliche Mangel oder eine Kleinheit der Milz, wie sie bei der 
Sektion eines Erhängten im Juli d. J. von mir beobachtet wurde. 
Der kleine Körper imponirte auf den ersten Blick als Nebenmilz. 
Eine sorgfältigere Untersuchung zeigte indess bald, dass wir das 
ganze Organ mit wohl entwickeltem Hilus vor uns hatten. — 

Bei der Leiche eines 64 Jahre alten kräftigen Mannes, welcher, 
abgesehen von dem ergrauten Haar noch keine erheblichen Alters¬ 
veränderungen zeigte, fand sich eine normal geformte Milz, deren 
Länge 3,5, grösste Breite 2 und deren Dicke kaum 1 cm erreichte. 
Die Farbe der Oberfläche dieser Milz war eine grauröthliche, die 
Konsistenz eine mittlere. Die Kapsel war glatt und zeigte keine 




402 


Dr. Reimann. 


Verdickungen, welche etwa auf eine im frühesten Alter durch¬ 
gemachte Perisplenitis hingewiesen hätten. Der Durchschnitt ergrab 
ferner, dass normales Milzgewebe mit Pulpa und Lymphknötchen 
nur gut den dritten Theil des Organs ausmachte; zwei Drittel 
bestanden aus grauröthlichem faserigem Gewebe, also aus einer 
fibrösen Entartung des Trabekelgerüstes, in dem entweder von 
Anfang an kein sezernirendes Gewebe gebildet war, oder das zum 
Untergang der betreffenden Zellkörper geführt hatte. 

Das ungewöhnlich kleine Volumen, das Fehlen bekannter 
Schrnmpfungsresultate atrophischer Milzen und die Feinheit der 
zu- und abführenden Gefässe sprachen in diesem Falle gegen die 
Erklärung des Befundes als eines Endproduktes atrophischer Vor¬ 
gänge bei vorher normalem oder annähernd normalem Volumen 
und begründen die Annahme, dass wir es mit einer angeborenen 
abnormen Kleinheit als Entwickelungsanomalie zu thun hatten. 
Die Nieren waren in dieser Leiche (allerdings Säuferleiche) gross 
(12,6, 3V 2 cm). Die auf der konvexen Fläche mehrere parallele 
Impressionsfurchen zeigende Leber bot Durchschnittsmaasse. 


Zur Stellungsverbesserung der Kreisphysiker. 

Von Kreisphysikus Dr. Reimann in Neumünster. 

Die Frage der Stellungsverbesserung der Preussischen Me¬ 
dizinal-Beamten scheint das ruhige Fahrwasser, in dem sich bis¬ 
her die Erörteruug bewegte, verlassen zu wollen. Ich möchte in 
aller Kürze auf einige Gesichtspunkte aufmerksam machen, welche, 
abgesehen von der Weitschichtigkeit der Materie an sich, die 
Staatsregierung von entschiedenem Vorgehen abhalten dürften. 
Die finanzielle Seite der Sache ist meines Erachtens ganz Neben¬ 
sache; wo ernster Wille war, fand sich in Preussen noch immer 
der Weg auch in der Finanz Verwaltung. 

Zunächst mag wohl die Bedürfnissfrage für akute Fälle 
(Cholera) in den leitenden Kreisen verneint werden angesichts 
eines jeder Zeit in überreichem Masse verfügbaren Stabes von 
Militärmedizinern. Wünscht doch auch Einer der Unseren, Herr 
Medizinal- und Regierungsrath Dr. Wernich in einem sonst recht 
empfehlenswerthen Artikel „über systematische Bekämpfung der 
Cholera“ (Hygienische Rundschau 1893 Nr. 4) die künftig mög¬ 
lichst umfassende Verwendung von Aerzten des Reichsheeres für 
die Mobilmachung gegen die Cholera. Die weitere Vermehrung 
der Militärärzte steht ja in naher Aussicht. 

Was sodann die Bekämpfung der perennirenden Seuchen 
betrifft, so glaube ich, begegnet wohl zu allermeist die Forderung 
eigener Iniative, welche zu diesem Behüte von den Fachgenossen 
erhoben wird, in den leitenden Kreisen gewissen Bedenken. Be¬ 
kanntlich liegen die Wurzeln der Volksseuchen in der Lebens¬ 
führung des Volkes. Mit dem Aufdecken von Mängeln der 
Lebenshaltung werden aber die Seuchen nicht aus dem Felde 
geschlagen, die Beseitigung der gefundenen Mängel ist der 



Zur Stellungsverbesserung der Kreisphysiker. 


403 


weit schwierigere Theil der Arbeit. Während das Auffinden der 
Mängel der Initiative des von den Fesseln der ärztlichen Praxis 
gelösten Gesundheits - Beamten überlassen sein soll, fällt die, wie 
die Verhältnisse einmal liegen, so sehr schwierige Exekutive der 
Verwaltung anheim. Wie zahlreiche Wünsche indiskreter Art in 
Bezug auf Wohnung, Beköstigung, Bekleidung gewisser Bevölke¬ 
rungsklassen könnten verlautbaren; wie aber stände es mit ihrer 
Erfüllung? — Ich will den Gedanken hier nicht austühren. Ein 
reichliches Mass von Takt und Geschicklichkeit würde der neue 
Gesundheitsbeamte für seine Amtsführung benöthigen, namentlich 
auch gegenüber der Oeffentlichkeit. Wie indiskret ist heutzutage 
nicht eine gewisse Presse! 

Ein weiterer Gesichtspunkt ist der: Was würde die nächste 
Folge einer verbesserten Stellung der Zivilgesundheits - Beamten 
sein, worunter ich nicht lediglich die geldliche Besserstellung ver¬ 
stehe, denn diese befriedigt allein uns nicht? Es würde zunächst 
ein starker Abfluss von Militärmedizinern in unsere Aemter ein- 
treten und demnächst ein Zufluss solcher besser veranlagten Kräfte 
zu uns, die jetzt, wie die Dinge bei uns liegen, den militärischen 
Dienst bevorzugen. 

Die besten Elemente aber will man nun einmal in Preussen 
dem Militärwesen Vorbehalten wissen. Diese ganz besondere Be¬ 
vorzugung 1 ) des Militärwesens mag in der geschichtlichen Ent¬ 
wickelung unseres Staates begründet sein, sie wird nur mit diesem 
zu bestehen aufhören. Daher ein Fachmann als Chef für die 
Medizinalabtheilung im Kriegsministerium, während an der Spitze 
des Zivildezernats eine Laie genügt! Daher die opulente Aus¬ 
stattung selbst der kleinsten Militärlazarethe mit Mikroskopen 
und anderem ärztlichen Rüstzeug, während der Kreisphysikus für 
gerichtliche und hygienische Zwecke sich, wenn er Lust hat, selber 
ein Mikroskop kaufen kann, und sich die lediglich im staatsdienst¬ 
lichen Interesse benöthigten Obduktionsinstrumente anschaffen muss, 
um sie dem obduzirenden zweiten Arzt leihen zu können, wofern 
dieser nicht Kreiswundarzt ist und als solcher sie selbst besitzt! 
Daher die Fortbildungskurse für Militärärzte, während der Kreis¬ 
physikus seine pathologische Anatomie und gerichtliche Medizin 
getrost vergessen mag! Es fragt Niemand darum; ist die Todes¬ 
ursache bei der gerichtlichen Leichenuntersuchung nicht gefunden, 
so wird das Verfahren, wenn sonst nichts entgegensteht, eingestellt. 
Bedenken erregen allenfalls die alten Herren mit 50 Berufsjahren 
und darüber, doch ihnen winkt, wenn sie still, wie sie gekommen 
sind, wieder gehen, ein ideeller Lohn. 

Inzwischen sind durch die langjährigen Zusicherungen, welche 
von leitender Stelle hinsichtlich der Umgestaltung der Physikats- 
ämter gemacht worden sind, immer neue junge Aerzte vertrauens- 

*) Die verbesserte Stellung der Militärärzte datirt übrigens erst seit den 
Feldzügen 1866 nnd 1870/71. Die hier offen zu Tage getretene Unzulänglichkeit 
des ganzen Militär - Sanitätswesens hat die Veranlassung zu gründlichen Reformen 
gegeben, deren Durchführung insbesondere der Thatkraft des jetzigen hochver¬ 
dienten Chefs der Medizinalabtheilung des Kriegsministeriums zu verdanken 
ist. Red. 



404 


Kleinere Mittheilungen and Referate aas Zeitschriften. 


selig zur Erlangung der Berechtigung fiir’s Amt durch schwierige 
Prüfungen veranlasst worden. Sie geben erwünschten Nachschub, 
und so fehlt es — worauf ja auch gelegentlich im Landtage von 
hervorragender Stelle hingewiesen worden ist — trotz der schlech¬ 
ten Stellung nie an Bewerbern. Es wird diesen jungen Aerzten 
nicht besser ergehen, wie es Vielen von uns ergangen ist, die 
hoffnungsfroh und vom besten Willen erfüllt, in’s Amt getreten 
sind: sie werden dieselbe bittere Enttäuschung erfahren, wie wir, 
und klug daran thun, frühzeitig Resignation zu üben. 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

A. Gerichtliche Medizin. 

Die Kriminalität Geisteskranker. Von W. S. Iwanowa. Kowa- 
1 ewsky’s Archiv. XIII. Bd., 2. H., S. 95. Referat im Zentralblatt für Nerven¬ 
heilkunde und Psychiatrie. Juni 1892. 

Bei Paranoikern führt I. die Entstehung des Verbrechens darauf zurück, 
dass die Idee der That entweder plötzlich bei ihnen auftaucht (impulsiver Zwang) 
oder sich stufenweise entwickelt als Folge deliranter Verfolgungsideen. Bei 
diesen Kranken sind zum Unterschiede von Epileptikern und Alkoholikern die 
Zwangsimpulse immer bewusst, und man müsste mehr von Zwangs-Ideen als 
von Zwangshandlungen bei ihnen sprechen. Aus 25 Beobachtungen geht hervor, 
dass bei Paranoikern Verbrechen in Folge von Wahnideen häufiger Vorkommen 
(23) als solche in Folge von Zwangsideen (3). Die vorwiegende Art sind 
Majestätsverbrechen, Blasphemie, Staatsvergehen und Queruliren. Meist litten 
die Paranoiker vor Begehung der Tbat an VerfolgUDgsidecn und handelten sie 
unter dem Einflüsse dieser Ideen. Das Verhalten der Verbrecher dem be¬ 
gangenen Verbrechen gegenüber war ein verschiedenes. Diejenigen, welche 
unter dem Einfluss von Zwangsideen gehandelt hatten, bekannten ihre That 
aufrichtig; die, welche ihr Delir dissimnlirten, verleugneten die That; die den 
Schwachsinnigen sich nähernden Paranoiker legen sich keine Rechenschaft über 
das begangene Verbrechen ab; eine 4. Gruppe (16 von 25) hielt ihre That für 
vollständig gerechtfertigt. — Die Epileptiker stehen vielfach im Gegensatz 
zu den Paranoikern. Ihre Verbrechen werden begangen unter dem Einfluss von 
Halluzinationen und Bewusstseinsverlust; sie sind ernster Natur und enden mit 
Erschöpfung und Schlaf, aus dem der Kranke ohne Erinnerung an das Vorgefallene 
erwacht. In der grossen Mehrzahl handelt es sich um Mord, Mordversuche, 
schwere Körperverletzung, Prügelei u. s. w. Die meisten können nicht nur ihre 
That nicht motiviren, sondern es fehlt ihnen sogar die Erinnerung daran. 

Bei den Alkoholikern tiberwiegt keine bestimmte Art von Verbrechen über 
die anderen; meist gehen dem Verbrechen alkoholische Exzesse voraus; die Ver¬ 
brechen werden in Folge einer Verdunkelung des Bewusstseins durch Alkoholvergif¬ 
tung begangen; die Motive werden gar nicht oder nur zufällig bekannt; nach der 
Entnüchterung bekennen die Alkoholiker ihre That aufrichtig. — Bei den Schwach¬ 
sinnigen tritt vorwiegend Brandstiftung, Mord und Mordversuch auf. Die Ver¬ 
brechen werden in der gewöhnlichen ruhigen Stimmung oder in einer aus nich¬ 
tigen Ursachen entstandenen geringen Erregung begangen. Die Motive zur That, 
wenn überhaupt solche bestanden, sind Rachedurst, Nascbsucht, Vergnügungssucht. 
Das Verhalten der begangenen That gegenüber ist ein völlig gleichgültiges oder 
es zeigt sich ein blos formelles Bedauern der That ohne ein Gefühl der Reue oder 
Verschuldung. 

Was die Unterbringung irrer Verbrecher mit den übrigen Geistes¬ 
kranken anbetrifft, so unterscheidet sich nach den Erfahrungen des Verfassers 
das Verhalten irrer Verbrecher in den Kolonien absolut nicht von dem der 
übrigen Geisteskranken; die irren Verbrecher unterwerfen sich ebenso leicht 
der Disziplin wie die anderen. Dr. S. Kali s c h e r - Berlin. 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


405 


Kopfverletzung, anscheinende Heilung, Meningitis nnd Tod nach 
3 Wochen. Ursächlicher Zusammenhang. Von Dr. Müller. Friedreichs 
Blätter, Heft HI. 

Der Bahnarbeiter S. wurde in der Nacht vom 6.—7. November durch 
cineu Wurf mit einer schweren Drainirungsröhre über dem linken Auge und 
an der Nasenwurzel verletzt, so dass er bewustlos zusaramenbrach. Am 7. No¬ 
vember übernahm ein Arzt die Behandlung, welcher an der Stirne zwei Wunden 
fand, von denen die eine von der Stirnmitte zur Nasenwurzel ziehend, klaffend, 
die Weichtheile und die äussere Lamelle des Knochens durehtrennt hatte und 
mit der Nasenhöhle kommnnizirte. Mehrere kleine Knochensplitter wurden aus¬ 
gezogen. Die Heilung der Wunden verlief ohne Störung, am 27. November 
war der Verletzte ‘/t Stunde weit gegangen, um den Arzt aufzusuchen. Die 
Wunden waren völlig geheilt. In der Nacht vom 27.—28. November trat plötz-, 
lieh eine Hirnhautentzündung auf und am 29. starb der Betreffende an derselben 
Durch die Sektion wurde festgestellt, dass der vorher beschriebenen Wunde 
entsprechend von dem linken Stirnbein am oberen Augenhöhlenrand ein 5,5 cm 
langes, 8 cm breites Knochenstück eingedrückt und in mehrere kleine Theile 
zersplittert war. An der Innenseite des Schädels ging die Splitterung bis auf 
die rechte Hälfte des Stirnbeines, von dem 5 Knochensplitter gesprengt waren. 
Unmittelbar nach rechts von der Crista galli des Siebbeines gelangte man 
durch ein Loch in der Lamina cribrosa des Siebbeines in die Siebbeinzellen 
und von da durch die linke Nasenhöhle zum linken Nasenloch heraus. Das 
Loch war mit eitrigen Massen und Gehirnsubstanz erfüllt, in den Siebbeinzellen 
war Eiter. Die tiefässe der weichen H “ haut waren stark injizirt, über die 
ganze Oberfläche des Gehirnes, an den Seitentheilen, am Kleinhirn unter der 
weichen Hirnhaut, lag eine dicke Schicht Eiter, besonders an den beiden Stirn¬ 
lappen des Gehirns, am stärksten an der rechten Seite in der Nähe des be¬ 
schriebenen Loches im Knochen. Die unmittelbare Todesursache war demnach 
die eitrige Meningitis, welche den Tod durch Gehirnlähmung herbeifiikren musste. 
Die eitrige Entzündung war dadurch entstanden, dass Entzündungserreger zuerst 
eitrigen Catarrh der Nasenhöhle und der Siebbeinzellen, dann die Meningitis selbst 
hervorriefen. Die Verletzung hatte den Knochen zertrümmert, namentlich das Loch 
in der Siebbeinplatte bewirkt, durch die eindringenden Knochensplitter waren 
Gehirnhäute und Gehirn verletzt und eine Verbindung zwischen Nasen- und 
Schädclhöhle geschaffen. Durch diese Pforte drangen die Entzündungserreger 
bis zum Gehirn und fanden in dem verletzten Theile den günstigen Nährboden 
für die Entzündung. _Dr. R u m p - Osnabrück. 

B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Festschrift zuPettenkofer's 50 jährigem Doktor-Jubiläum. Der 
17. Band des von Pettenkofor, Hotmann, Förster und Rubner her¬ 
ausgegebenen, wesentlich den Lehren der Pettenkofer’sehen Schule dienenden 
und daher in gewissem Gegensatz zu der von Koch und Flügge redigirten 
„Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten“ stehenden „Archiv für 
Hygiene“ ist als Jubelband dem Altmeister für Hygiene zu seinem 50jährigen 
Doktor-Jubiläum gewidmet. Es ist eine gar stattliche Reihe von Forschern 
und unter ihnen viele Namen von gutem Klang in der hygienischen Wissenschaft, 
die sich hier vereinigt haben, um ihrem Lehrer und Meister eine Huldigung 
darznbringen und, wenn der greise, in seiner Polemik aber so jugendfrische und 
streitbare Münchener Forscher diese Ovation als eine Heerschau über die Schaar 
seiner Anhänger betrachten will, so muss anerkannt werden, dass es eine recht 
stattliche Armee ist, welche mehr oder weniger eifrig zu seinen Fahnen schwört! 
Unter den 28 Originalarbeitcn, welche zu dem Jubelbande vereinigt sind, findet 
sich natürlich manch Mittelgut, das sich nicht über den Werth gewöhnlicher 
Laboratoriumsarbeiten erhebt und bei welchem guter Wille und Fleiss den 
Mangel selbstthätiger Gedankenarbeit ersetzen muss. Andererseits enthält der 
Band aber doch auch eine Reihe wirklich gediegener Arbeiten, welche an dieser 
Stelle demnächst eingehendere Würdigung finden werden. Für heute mag es 
genügen, die Namen Rubner, Oertel, Büchner, Erismann, Renk, 
Lehmann, Emmerich, Förster, Voit, Gruber, Praussnitz anzu¬ 
führen, sonst aber soll diese Besprechung nur der Einleitung des Bandes, der dem 
Jubilar gewidmeten Huldigungsschrift gelten. 



406 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


Es ist in der That ein an rastloser Arbeit und grossartigen Erfolgen 
ungewöhnlich reiches Leben, auf welches der Gefeierte zurückblicken kann und 
mit überraschender Deutlichkeit führt uns ein Rückblick auf die Geschichte dtr 
Hygiene, wie er bei diesem Anlass so nahe liegt, vor Augen, wie viel die 
Wissenschaft der Thätigkeit Pettenkofer’s verdankt. Ist doch die ganze 
experimentelle Hygiene ausschliesslich die Schöpfung dieses einen Mannes, ist er 
es doch gewesen, der auf allen Gebieten dieser umfangreichen Wissenschaft die 
grundlegenden Versuche angestellt und damit der Forschung die Bahnen ge¬ 
wiesen hat! Freilich, wenn in der Huldigungsschrift seiner Schüler die angeb¬ 
liche Erfahrung Pettenkofer’s über die Abhängigkeit des Typhus und der 
Cholera von gewissen Verhältnissen und Vorgängen im Boden, welche dann die 
f sog. Örtliche und zeitliche Disposition bilden sollen und die darauf gegründete 
„iokalistische Theorie“ als ein Ergebniss gefeiert wird, welches Pettenkofer 
einen unvergänglichen Platz in der Geschichte der Medizin sichern soll, so mag 
dieser Triumpfgesang in einem Augenblick, wo Pettenkofer seine Anschau¬ 
ungen doch nur recht mühsam gegen den Ansturm der siegreich vordringenden 
modernen Schule vertheidigen kann und der Zeitpunkt nicht fern zu sein scheint, 
wo der wankende Bau in sich selbst zusammenfällt, wenig zeitgemäss erscheinen. 
Man muss aber die Lebhaftigkeit kennen, mit der Pettenkofer seit vielen 
Jahren für diese seine Lieblingstheorie eintritt, wie er es als seine eigentliche 
Lebensaufgabe ansieht, dieser Anschauung allgemeine Geltung zu verschaffen, 
um es begreiflich zu finden, dass seine Schüler diese Seite seiner Wirksamkeit 
nicht mit Stillschweigen übergehen konnten. Aber auch der Gegner kann dem 
rüstigen Kämpfer, der mit mannhaftem Muth eintritt für das, was er einmal 
für wahr und für segensreich hält, im Kampf gegen Krankheit und Seuche, seine 
Sympathie nicht versagen und nur mit hoher Achtung kann man sein Buch: 
„Der gegenwärtige Stand der Cholerafrage“ aus der Hand legen, in welchem 
die rastlose Arbeit eines Menschenlebens niedergelegt ist und welches eine uner¬ 
schöpfliche Fundgrube epidemiologischen Wissens bildet, wie in der Literatur 
keine zweite enthalten ist. Und wie frisch, wie lebendig liesst sich das Werk 
trotz des enormen Stoffes trockener Thatsachen, der darin aufgeführt ist. Dank 
der unvergleichlichen Darstellungsgabe, der alle Waffen schlagfertiger Polemik 
vom Pathos sittlicher Ueberzeuguug an bis herab zu köstlichster Ironie in 
gleicher Weise zu Geboten stehen! Fürwahr, die warme Begeisterung, mit der 
sich die engeren Schüler am Tage seiner Jubelfeier um ihren Meister schaaren, 
ist sehr begreiflich und sie wird Wiederhall finden weit über die Grenzen des 
Vaterlandes hinaus und allerwärts, wo ein Verständniss obwaltet für die theore¬ 
tischen und praktischen Aufgaben der Hygiene, wird man sich rückhaltlos deu 
warmen und herzlichen Wünschen für eine fernere gesegnete Thätigkeit des 
Altmeisters der Hygiene anschliesscn. Dr. Langerhans-Celle. 

Ueber das Grundwasser von Kiel mit besonderer Berücksichtigung 
seines Eisengehaltes und über Versuche zur Entfernung des Eisens aus 
demselben. Von Professor Dr. Bernhard Fischer, Direktor des hygieni¬ 
schen Instituts in Kiel. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten. 
XIII. Bd., 2. H. 

Mit der Wasserversorgung grosser Stadtgemeinden durch Fluss- oder 
sonstiges Oberflächen-Wasser, welches in der üblichen Weise durch Sand¬ 
filtration gereinigt ist, sind gewisse Missstände in bisher unvermeidlicher Weise 
verknüpft, wozu in erster Linie das Hindurchgehen pathogener Organismen durch 
die Sandfilter gehört, welches durch das bakteriologische Experiment (Fränkel, 
Piefke) als möglich und durch die Erfahrungen bei gewissen Typhusepidemien 
in Berlin und Altona als thatsächlich vorkommend erwiesen ist. Der ersten 
und wichtigsten hygienischen Aufgabe, unter allen Umständen ein von Krank¬ 
heitserregern freies Wasser zu liefern, kann also bei dieser Art der Wasser¬ 
versorgung nicht in dem Masse entsprochen werden, wie bei der Verwendung 
des von der Natur bei seinem Durchgang durch den Boden gereinigten Wassers, 
des Grundwassers. Verfasser sucht nun an der Hand der in Kiel gemachten 
Erfahrungen und der in seinem Institute angestellten Versuche klar zu legen, 
wie weit sich die gegen die Grundwasser-Verwendung gerichteten Bedenken 
entkräften lassen. Es handelt sich hierbei zunächst um die Befürchtung, dass 
die Beschaffung einer für grössere Gemeinwesen ausreichenden Wassermenge 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


407 


auf unüberwindliche Schwierigkeiten stossen und dass der dem Grundwasser 
häufig eigenthümliche Eisengehalt die Verwendung des Wassers unmöglich 
machen könnte. Die Stadt Kiel bezieht ihr Wasser aus zwei getrennten Wasser¬ 
leitungen, dem Gaardener und Schulenser Wasserwerk, welche beide durch 
Kesselbrunnen Grnndwasser schöpfen und der Stadt zuleiten. Die schnelle 
Zunahmo der Einwohnerzahl lässt jetzt eine Erweiterung der Wasserwerke 
nothwendig erscheinen, welche im Verein mit vielfachen Klagen über die Be¬ 
schaffenheit des bisherigen Wassers zu der systematischen und gründlichen 
Untersuchung Veranlassung gegeben hat, deren Ergebnisse Fischer in dieser 
Arbeit vorlegt. Nach den Erhebungen des Kieler Geologen Haas entstammt, 
das Grnndwasser, welches zur Speisung der Kieler Wasserwerke benutzt wird, 
einem System grossartiger Muldenbildungen, welche sich durch den Osten 
Schleswig-Holsteins hiuziehcn und in dem unteren Geschiebemergel durch 
Stauchungen des Inlandeises zur Diluvialzeit entstanden sind. Der Nachlass 
der durch das Gaardener Werk bezogenen Wassermenge beruht darauf, dass 
durch dieses eine kleinere, in sich abgeschlossene Mulde erbohrt worden ist, 
während im Uebrigen durch die gewaltige Ausdehnung und den bedeutenden 
Wasserreichthum der Mulden die andauernde Lieferung einer überreichlichen 
Wassermenge vollständig gesichert erscheint. — 

Es ist hier nicht der Platz, auf die sehr sorgfältigen, durch eine Reihe 
von Jahren fortgesetzten physikalischen, chemischen und bakteriologischen Prü¬ 
fungen der verschiedenen Wasserproben näher einzugehen. Dieselben ergaben 
allerwärts, wo Verunreinigungen von der Oberfläche nicht in Betracht kamen, 
eine typische Beschaffenheit des Grundwassers. Dasselbe besass neben etwas 
Schwefelwasserstolfgeruch einen mehr oder minder ausgeprägten moorigen Geruch, 
einen deutlichen Tintengeschmack, ebenfalls mit leicht moorigem oder fauligem 
Beigeschmack und in allen Fällen alkalische Reaktion. Das Wasser enthielt 
stets Eisen und bei einem verhältnissmässig hohen Gehalt an organischen Sub¬ 
stanzen regelmässig kleine Mengen Ammoniak, während Salpetersäure und 
salpetrige Säure fehlten. Diese eigenartige Zusammensetzung verdankt das 
Wasser den dort sehr verbreiteten, iu die Wasser führenden Schichten einge¬ 
sprengten Moor- und Torflagern. Beim Stehenlassen des ursprünglich klaren 
Wassers erfolgt sehr schnell eine anfangs milch weise, später dunkler, schliesslich 
zur Bildung eines dicken, rostbraunen Bodensatzes von Eisenschlamm führende, 
von lebhafter Wucherung von Orenothrix und (’ladothrix begleitete Trübung, 
ein Vorgang, der natürlich auch innerhalb der Röhren der städtischen Wasser¬ 
leitung vor sich ging und hier (wie ancli an anderen Orten; Ref.) bald nach 
Eröffnung der Wasserleitung zu den lebhaften Klagen der Konsumenten Ver¬ 
anlassung gab. 

Der Zweck der F i s c h e r’sehen Untersuchung war nun, die Leistungs¬ 
fähigkeit der inzwischen aufgefundenen Enteisenungsverfahren speziell 
für das Kieler Leitungswasser festzustellen. Es waren zwei Methoden, welche 
dabei in Betracht kamen, das Verfahren des Oberingenieurs Osten, 
welcher das Wasser durch Herabfallenlassen in Gestalt einer 
regenartigen Brause „lüftet 1 * und dadurch zur Ausscheidung 
des Eisenschlammos veranlasst, der dann durch eine sehr einfache 
Filtervorrichtung zurückgehalten wird, und die Methode des bekannten 
Wassertechnikers Piefke, welcher das zu reinigende Wasser 
über ein Haufwerk faustgrosser Kokes, an denen die Aus¬ 
scheidung des Eisenschlammes vor sich geht, herabrieseln 
lässt und dann ebenfalls filtrirt. Beide Methoden zeigten sich geeignet, den 
Eisengehalt soweit zu vermindern, dass der tintenartige Geschmack verschwand 
und eine nachträgliche Trübung nicht mehr eintrat; auch schien bei beiden die 
Durchführung im Grossen ohne eine zu erhebliche Vertheuerung der Wasser¬ 
lieferung wohl zu ermöglichen zu sein. Im Ganzen zeigte sich die Kokeslüftung 
nach Piefke der einfachen Lüftung bei Weitem überlegen. Zur Filtration 
der „gelüfteten“ Wässer scheinen sich die im Worms eingetührten Kunst-Stein¬ 
filter recht gut zu bewähren. Ders. 


Akute psychische Epidemie in einer Mädchenschule. Von Medizinal¬ 
rath Dr. S. R e m b o 1 d in Stuttgart. Berliner Klinische Wochenschrift 1893; Nr. 28. 

Die Mittheilungen von Palmer und Hirt über psychische Schulepidemien 
(Seite 47 Nr. 2 dieser Zeitschrift) veranlassten den Verfasser, ebenfalls über 



408 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


eine hysterische Epidemie zu berichten, welche er in der Römerschule in Stutt¬ 
gart im Januar v. J. beobachtete und die sich ätiologisch eng an die zuerst 
geschilderten Epidemien anschliesst, sich aber darin wesentlich von denselben 
unterscheidet, dass die hysterische Epidemie hier sich nicht allmählich entwickelt 
hat, sondern ganz akut auf getreten ist. 

Auf die Nachricht hin, dass in der Römerschule ganz plötzlich eine 
grosse Anzahl von Kindern heftig erkrankt seien, begab sich Rem bold dorthin 
und fand ein eigenthümliches Bild, indem sich durch die halbe Länge des 
Korridors aus der Thür des Schulzimraers hinaus und zur Thür des Zeichen- 
saales hinein ein Zug aufgeregter, lebhaft gestikulirender, lärmender Mädchen 
im Alter von 9—12 Jahren bewegte. Sie waren zu zweien oder dreien grup- 
pirt, je eine von einer anderen geführt, oder von zwei anderen geschleppt. Die 
Geschleppten hingen meist völlig erschlafft in den Armen ihrer Gefährtinnen, 
den Kopf auf die Brust gesenkt, die Beine auf dem Fussboden nachschleifend. 
Im Zeichensaal sassen ca. 40 Mädchen auf den Schulbänken herum, die einen 
scheinbar völlig bewustlos, mit geschlossenen Augen und schlaff herabhängenden 
Gliedern, von Mitschülerinnen mit Mühe aufrecht erhalten, andere laut weinend 
und krampfhaft schluchzend, am ganzen Leibe heftig zitternd, der Rest in 
staunendem Schrecken die plötzlich erkrankten Genossinnen anstarrend. Nach¬ 
dem die letzteren in ihre Klasse zurückgeschickt und die aufgeregten Lehrer 
und Schulkinder beschwichtigt waren mit dem Aufträge, den Unterricht 
wieder aufzunehmen, wurden die 25 der heulenden und zitternden Kinder 
unter beruhigendem Zuspruch an die geöffneten Fenster gestellt und zum 
tiefen Einathmen der frischen Luft aufgefordert mit dem Versprechen, dass 
hierdurch in Kürze das Unwohlsein gehoben werden würde. Zehn auf dem 
Fussboden liegenden Kinder boten das Bild tiefsten Schlafes, das Aussehen war 
mächtig blass, die Athmung tief und ruhig, die Muskulatur schlaff, Augen ge¬ 
schlossen, Puls etwas schwach aber von normaler Frequenz. Charakteristisch 
war bei Mehreren die zitternde Bewegung des oberen Lides, wie man sie 
namentlich bei hypnotischen Versuchen häufig sieht. Beim Eröffnen der Lider 
floh das Auge nach oben, bei späterem Einstellen reagirte die Pupille auf Licht. 
Anrufen, Schütteln blieb ohne jeden Eindruck; beim Versuch des Aufhebens 
blieben die meisten schlaff, wie ein Waschlappen im Arme hängen, nur zwei 
wurden dabei steif im Nacken und Rücken. Alle aber blieben scheinbar gleich 
bewusstlos. Der Reihe nach erhielt jedes Kind in’s Gesicht */* Liter Wasser 
gespritzt und den energischen Befehl, sofort aufzustehen und die dummen Ge¬ 
sichter zu unterlassen. Diese Therapie war von augenblicklichem Erfolg; halb 
erstaunt, halb beschämt fuhren die Kinder vom Boden auf und eilten an das 
Fenster, bis auf die zwei oben erwähnten Kinder, welche Steifigkeit gezeigt 
hatten und bei denen eine Reiteration nöthig wurde unter der Androhung, 
dass die Begiessungen nicht eher aufhören würden, als bis die Dummheiten 
beendet wären. 

Die befallenen Kinder gehörten mit einer Ausnahme aller einer Klasse 
von 9—10jährigen, durchweg den unteren Ständen entstammenden und vielfach 
wenig güt genährten Mädchen an. Sie waren Morgens 8 Uhr , / a Stunde in der 
Kirche gewesen und dann in die Schule geführt, welche allen hygienischen An¬ 
forderungen entspricht und nicht überfüllt war. Gleich nach Beginn des Un¬ 
terrichts war dann ein Kind ohne Ursache bewusstlos über die Bank gefallen 
und nun in kürzester Zeit eine ganze Anzahl ebenfalls, im Ganzen etwa ein 
drittel der Klasse. Um nicht noch weitere Veranlassung zum Nachahmen der 
Anfälle zu geben, wurden keine weitere Nachforschungen angestellt und der 
Unterricht mit den Kindern am Nachmittag wieder aufgenommen. 

Verfasser erinnert an die Aehnlichkeit des geschilderten Scenen bei öffent¬ 
lichen Impfterminen, wo beim Anblick eines Impfschnittes oder des Blutes ein 
Kind in Ohnmacht fällt und sofort ein paar andere Kinder gleichfalls hinfallen, 
ein Zustand ; der als „Autosuggestion“ aufzufassen ist. 

Dr. Dütschke-Aurich. 

Die Beschlüsse (1er zur Berathung über die Organisation der 
öffentlichen Idioten - Fürsorge eingesetzten Kommission. Von Dr. Alter, 
Direktor der Provinzial - Irrenanstalt in Leubus. Verein ostdeutscher Irren-und 
Nervenärzte. Sitzung vom 12. März 1892. 

Für die Begriffsbestimmung der Idioten zu praktischen Zwecken wurde 



Besprechungen. 


409 


folgende Fassung angenommen: „Idioten sind alle Geisteskranken, welche von 
Geburt oder früher Jugend an (lauernd schwach oder blödsinnig sind.“ — In 
Schlesien sind 962 Idioten und 503 Epileptiker gezählt worden, die als der An¬ 
staltspflege bedürftig bezeichnet werden und in geeigneten Anstalten noch nicht 
untergebracht sind. Nach den vorhandenen Zählungen rechnet man im Allge¬ 
meinen einen Idioten auf 500 bis 750 Einwohner und nach den Erfahrungen aus 
Hannover und Württemberg ist nur etwa der sechste Theil der vorhandenen 
Idioteu der Anstaltspflege bedürftig. — Betreffs der Organisation der Anstalts¬ 
fürsorge für Idioten und Epileptische war man darin einig, dass diese Fürsorge 
am sachgemässesten und zweckentsprechendsten nur dann ausgeübt werden 
könne, wenn sie in eigenen, von der Provinzialverwaltung selbst eingerichteten 
und verwalteten öffentlichen Anstalten stattfindet. Der Schwerpunkt der Idioten- 
Anstaltsfürsorge muss in der Erziehung liegen. Idioten und Epileptiker sind 
Kranke, deren gesummte Hygiene vom Arzte geregelt werden muss. Die 
Trennung von Idioten und Epileptikern, oder von jugendlichen und erwachsenen 
Idioten und Epileptikern wurde aus praktischen Rücksichten nicht für nothwendig 
erachtet; man gelangte in dieser Beziehung einstimmig zu dem Beschlüsse: 
„Der Vereinigung aller Kategorien idiotischer und epileptischer Kranken in 
grossen, gemeinsamen Anstalten stehen keinerlei Bedenken entgegen, wenn eine 
ärztlich und pädagogisch gut ausgestaltete Erziehungs-Abtheilung für idiotische 
und epileptische Kinder den Mittelpunkt und wesentlichsten Theil der neuen 
Organisation bildet.“ Dr. S. Kali sehe r-Berlin. 


Besprechungen 

R. v. Kr afft- Ebing, Professor in Wien: Psychopathia sexualis 
mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung. 
Stuttgart 1893. Ferdinand Enke. 8. Auflage. 442 Seiten. 

Gewiss bat es schon vor v. Krafft-Ebiug nicht an Versuchen gefehlt, 
in das Verständuiss der psychopathischen Vorgänge auf dem Gebiet des sexuellen 
Fühlens einzudringen. Was sich aber vor dem Erscheinen der vorliegenden 
Monographie in den Handbüchern der Psychiatrie nnd der gerichtlichen Medizin 
in dieser Beziehung vorfindet, das ist theils zusammenhanglos bei Besprechung 
der einzelnen Psychosen und hier oft nur skizzen- und lückenhaft erwähnt, theils 
sind es — Einzelnes ausgenommen, z. B. die Lehre der konträren Empfindung — 
noch veraltete psychiatrische Lehren, auf die sich oft mit mehr oder weniger 
ethischer Entrüstung gewürzte, aber wissenschaftlich blutwenig fördernde Rai- 
sonnements stützen. 

Das vorliegende Werk will nun durch genaues Studium der neuropathi- 
schen und psychischen Eigentümlichkeiten und durch sorgfältige psychopathische 
Anamnese der Asccndenz im Einzelfalle zu leitenden Gesichtspunkten gelangen, 
welche es ermöglichen, alle sexuellen Abnormitäten auf bestimmte psychische 
Anomalien znrückzuführen. 

Ob dem Verfasser dies gelungen ist? Der seltene Erfolg des seit seinem 
ersten Erscheinen heute in 8. Auflage vorliegenden Werkes giebt uns schon eine 
gewisse Anwort auf diese Frage! Das Buch ist von so grundlegender Be¬ 
deutung, dass ich die Facbgenossen wohl nochmals darauf hinweisen darf, obwohl 
dasselbe iu diesen Blättern schon an früherer Stelle von anderer Seite ge¬ 
würdigt ist. 

Dass bei den mannigfachsten, einfachen nnd Degenerationspsychosen die 
verschiedensten Sittlichkeitsdefekte und sexuellen Perversitäten beobachtet werden, 
dass besonders Manische, Epileptische, Paralytische und andere Blödsinnsformen 
zu Vcrstössen gegen die Sittlichkeitsparagraphen neigen, das ist eine alte Er¬ 
fahrung, die auch in einem eigenen Abschnitt des Buches genügend Erwähnung 
findet. Dass es aber eine psychische Anomalie giebt, welche bei sonst intaktem 
Fühlen nnd Denken nnd bei oft hoch entwickelter Intelligenz mit unwidersteh¬ 
licher Gewalt zu sexuellen Scheusslichkeiten führt; das überzeugend nachge¬ 
wiesen nnd psychiatrisch begründet zu haben, ist das Neue, welches uns das 
Werk gebracht hat. 

Rekapituliren wir nochmals kurz den wesentlichsten Theil des Inhalts. 



410 


Besprechungen. 


Nachdem der Verfasser auf manche paradoxe Erscheinungen in der Tita 
sexualis, auf die sexuellen Erregungen im Kindes- und Greisenalter hingewiesen 
und die Anaesthesien, also gewissennassen eine sexuelle Idiotie und ihren 
Gegensatz, die cerebral bedingten Formen der Satyriasis und Nymphomanie, 
gestreift hat, wenden sich die Ausführungen der Paraesthesie, d. h. der Erreg¬ 
barkeit des Sexuallebens durch inadäquate Heize zu. Die Untersuchung dieser 
Anomalie bildet den Haupttheil des Werkes (S. 59—319). Es giebt nun 4 Haupt¬ 
typen dieser Anomalie, die vom Verfasser bekanntlich als Sadismus, Masochis¬ 
mus, Fetischismus und konträre Sexualempfindung auseinander gehalten und yon 
ihren leichtesten Andeutungen bis zu ihren grässlichsten Erscheinungsformen 
verfolgt werden. Vor uns wird die Akte der Sadisten, also Derer, die nur durch 
aktive Grausamkeit und Gewalttätigkeit in wollüstige Erregung geraten 
können, von den weniger gefährlichen „Hendlmännern“, den Beissern und Mäd¬ 
chenstechern an bis zu den sein Opfer zerfleischenden Lustmördern, Anthropo- 
phagen und Leichenschändern aufgerollt. Die Verbindung passiv erduldeter 
Grausamkeit und Gewalttätigkeit mit Wollust, der Masochismus, wird uns von 
seiner ideellen Form an, welche nur im Vorstellungsleben des Kranken bei 
sexuellen Vorgängen abspielt, bis zum Aufsuchen schwerer Misshandlungen und 
Demütigungen zum Zwecke sexueller Befriedigung gezeigt. Wir sehen Sklaven 
des Fetischismus hier für einen Theil des weiblichen Körpers (Hand, Fuss, 
Haar etc.) schwärmen und sich durch ihre Leidenschaft (Zopfabschneiden) in 
kriminelle Untersuchung verwickeln, dort ihre sexuellen Fetische in Stücken 
weiblicher Kleidung finden und zu Dieben der zur sexuellen Aufregung nötigen 
Gegenstände werden, und folgen endlich dem Verfasser (S. 186) zu jener Gruppe 
unseliger Menschen, welche bei tief herabgesetzter oder ganz fehlender Em¬ 
pfindung dem anderen Geschlecht gegenüber nur sexuelle Triebe zum eigenen 
Geschlecht haben. Wir kannten die konträre Sexualempfiudung allerdings schon 
seit WestphaL v. Krafft-Ebing hat unser Wissen über den Gegenstand 
aber erst in meisterhafter Weise vertieft und so geklärt, dass wir in diesen 
Fällen nicht mehr eine vereinzelt stehende Verirrung oder besondere Psycho¬ 
pathie sehen, sondern dass sie uns als eine der verschiedenen Erscheinungsformen 
gilt, unter denen die angeborene oder erworbene sexuelle Perversion sich äussern 
kann. Der Verfasser geht von der passiven und mutuellen Onanie, welche die 
Neuzeit als beischlafähnliche Handlungen schon unter den §. 175 des St.-G. -B. 
stellt, aus und zeigt, wie leicht von diesen Akten der Uebergang in wirkliche 
Verkehrung der Geschlechtsempfindung ist, und wie allmählich auf diese Weise 
eine tiefgehende Wandlung der Gefühle und Neigungen zu Stande kommen kann. 
Dies kann so weit gehen, dass der so gezüchtete Päderast sich schliesslich als eine 
geschlechtlich ganz andere Persönlichkeit fühlt, und dass bei Individuen, welche 
zu Psychosen hochgradig disponirt sind, sich ein vollständig ausgebildeter Wahn 
vollkommener Geschlechtsveränderung entwickelt. Wir sehen diesen allmählichen 
Uebergang an einer Beihe von Fällen, in denen dieselben Handlungen bei den 
ersten noch als durch Nichts zu entschuldigende Verbrechen bezeichnet werden 
müssen, die bei den letzten als Krankheits-Aeusserungen unheilbar Verrückter 
erscheinen. 

Dem gegenüber steht die erworbene konträre Sexualempfindung, welche 
sich als psychische Hermaphrodisie, also als Libido zum anderen und eigenen 
Geschlecht oder als eine ab origine ausschliesslich dem anderen Geschlecht zuge¬ 
wandte Neigung zeigt. Im letzteren Falle haben wir die Homosexualen oder 
sogenannte Urninge. 

Von Seite 319—352 wird dann nach kurzen diagnostischen und prophylak¬ 
tischen Bemerkungen in eine Besprechung der Heilungsmöglichkeit solcher 
Urninge eingetreten und hierbei die wichtige Thatsache betont, dass originäre 
Urninge absolut unheilbar sind, dass aber aus norma 1 fühlenden Menschen 
zu Urningen Umgewandelte der Heilung — durch hypn.Suggestivbehand¬ 
lung I! — zugänglich sind. Es ist das ja leicht verständlich, aber für die 
forensische Beurtheilung der Urninge ein wohl zu merkender Umstand. 

Denn wo auch immer die Zurechnungsfähigkeit eines Urnings für inkri- 
minirte sexuelle Handlungen in Frage gestellt wird, da werden wir — und 
soweit folgen wir noch den Anschauungen des Verfassers, welche derselbe 
in dem letzten Abschnitt „das krankhafte Sexualleben vor dem forum“ 
niederlegt, und die in dem Werke von Moll (siehe nachstehend) eine 
weitere Vertretung gefunden haben —, ich sage, da werden wir immer 



Besprechungen. 


411 


selbst bei scheinbar ganz geistesgesanden und intelligenten Individuen, zuerst 
klar legen müssen, ob wir eine Verdrehung des sexuellen Empfindens ab origine 
konstatiren können. Lässt sich das erweisen, so liegt die Wahrscheinlichkeit 
der Degenerationspsychose in einer Form vor, die sich dem grossen Abschnitt der 
inoral insanity einfügt. Wir werden dann den psychopathischen Stammbaum der 
Familie durchmustern und durch die genaueste Expertise festzustellcu suchen, 
ob nicht gewisse andere Sonderbarkeiten, Excentrizitäten, grosse Ungleichheit der 
verschiedenen geistigen Fähigkeiten, oder ob nicht gar Zwangsvorstellungen, 
Gefühlsidiotismus und andere geistige oder körperliche Degenerationszeichen auf 
die Degenerationspsychose hinweisen, deren wesentlichstes Symptom in solchen 
Fällen eine originäre Anomalie des cerebralen Zentrums für sexuelles Empfinden 
sein kann. Wir haben dann eben einen Menschen vor ans, der für seine per¬ 
versen sexuellen Handlungen eben so wenig verantwortlich gemacht werden 
kann, wie andere moralisch Irre. 

Aber die perverse Handlung allein darf uns — und damit kommen wir 
in Gegensatz zu dem Verfasser und meines Erachtens nach zu dem schwächsten 
Punkt der schönen Arbeit — noch lange nicht unsere anthropologisch klinische 
Untersuchungen gleich mit dem Vorurtheil beginnen lassen, dass es sich wahr¬ 
scheinlich um einen krankhaft veranlagten Menschen handele, der für seine 
Handlungen wenig oder wohl gar nicht zurechnungsfähig sei. Ist das Laster 
bei einem vorher normal fühlenden Menschen erworben, so sehen wir ja aus den 
oben angeführten Erfolgen der Suggestion, die dem Menschen in der Hypnose 
doch nur die passende Gegnervorstellung imputirt, dass der Betreffende noch 
durch starke Gegenvorstellungen seine perversen Neigungen zurückdrängen kann. 
Wir haben also eine durch schlechte psychische Eindrücke erworbene Perversität 
vor uns, deren gesetzverletzende Aeusserungen nur dann straffrei sein können, 
wenn sich diese Perversität bei einem auch im übrigen Fühlen und Denken 
geisteskrank erscheinenden Individuum zeigt. 

Au dieser Auffassung ändert meines Erachtens der Umstand sehr wenig, 
dass wohl bei fast allen diesen Menschen eine angeborene oder erworbene neu- 
ropathische Konstitution oder psychische Anomalie besteht, welche sie gegenüber 
dem, auch perversen, Sexualtrieb weniger widerstandsfähig macht, als geistig 
ganz normale Menschen. Es mag ja dem Sachverständigen überlassen bleiben, 
je nach dem Grad der vorhandenen psychoneurotischen Schwäche im Einzelfalle 
mehr oder weniger stark diese Milderungsgründe zu betonen; aber die sexuelle 
Perversität ohne Weiteres in milderes Licht zu rücken, oder gar „wegen 
Schwierigkeit der Feststellung der Schuldfrage, Vorscüubleistung der Erpressung 
oder Chan tage etc.“ den Vorschlag zu machen, mannmännliche Liebe ganz aus 
dem Strafgesetzbuch zu streichen (S. 418), dazu reicht selbst die geistreiche Be¬ 
handlung des Gegenstandes durch v. Krafft-Ebing nicht aus! Denn wäre 
dann nicht die gezüchtete Päderastie, sofern sie nur Kinder unter 14 Jahren 
verschonte, auch straflos? Und würde man nicht mit demselben Hecht für die 
Straflosigkeit aller sexuellen Bestialitäten plädiren können? 

Mit dieser Zurückweisung soll der Werth des Werkes aber nicht ver¬ 
kleinert werden. Es bleibt ihm neben dem wissenschaftlichen Werth auch der prak¬ 
tische Nutzen, dass es den Richter daran mahnt, bei allen sexuellen Delikten 
an Geisteskrankheit zu denken, und dass es dem Sachverständigen in gegebenen 
Fällen eine Fundgrube von analogen Fällen bietet. Derselbe wird dann beim 
genaueren Studium der Krankengeschichten auch die beruhigende Entdeckung 
machen, dass bei den schweren Fällen — und andere kommen wohl sehr selten 
zur kriminellen Untersuchung — die psychische Alienation fast immer sehr aus¬ 
geprägt ist, und das 3 wir viele der in dem Buche als Paraesthesien angeführte 
Fälle ohne Weiteres als Verrücktheit, impulsives oder periodisches Irresein, und 
besonders als psychische Aequivalente für epileptische Anfälle ansehen und damit 
in bekanntere Formen einreihen können. Dr. Kühn-Uslar. 


Dr. Albert Moll: Die konträre Sexualempfindung. Zweite 
Auflage. Berlin 1893. Fischer’s medizinische Buchhandlung 
(H. Kornfeld). Gross 8°; 394 Seiten. 

Das mit einem Vorwort von v. Krafft-Ebing versehene Werk Moll’s 
ist schon bei seinem ersten Erscheinen in diesen Blättern — Nr. 24 des Jahr- 



412 


Besprechungen. 


gangs 1891 — von Sanitätsrath Dr. Mittenzweig besprochen. Heute liegt 
dasselbe in einer um fast 100 Seiten vermehrten neuen Auflage vor. Wird diese 
Umfangsvergrösserung hauptsächlich wohl durch Aufnahme von mehr und aus¬ 
führlicherer Kasuistik bedingt, so haben doch auch die Ausführungen einzelner 
Abschnitte nicht unerhebliche Erweiterungen erfahren. 

Moll’s Arbeit, welche sich also nur auf die eine, in dem Titel angegebene 
Art des perversen sexuellen Fühlens beschränkt, ruht ganz auf den v. Krafft- 
Ebing in dem betreffenden Kapitel seiner Psychopathia sexualis entwickelten 
wissenschaftlichen Grundanschauungen und ist im Grossen und Ganzen ein aus¬ 
führlicher Kommentar zu jenem Werke. Man könnte deshalb bei Beurtheilung 
dieses weiteren Beitrages zur psychosexueilen Forschung nur auf das vorher 
Uber die Psychopathia sexualis Gesagte verweisen. Moll’s Werk geht 
aber in seinen Konsequenzen noch über sein Vorbild hinaus. Homosexuelle 
Liebe gilt dem Verfasser ohne Weiteres für etwas Krankhaftes; und als Solches 
will er diese Perversität überall beurtheilt wissen. Aber damit noch nicht genug. 
Er versucht auch die Päderastie und andere Gemeinheiten des mannmännlichen, 
die Tribadie und Lesbische Liebe des weibweiblichen Verkehrs als individuelle 
Eigenthümlichkeiten hinzustellen, welche von der Gesellschaft geduldet und 
deren Berechtigung durch Beseitigung der betreffenden Sittlichkeitsparagraphen 
sanktionirt werden müssten! 

Mittenzweig hat bei der ersten Erwähnung der Arbeit auf die Ge¬ 
fahren hingewiesen, welche Versuche, aus wissenschaftlichen Theorien einzelner 
Forscher solche praktische Folgerungen zu ziehen, in sich bergen; und ich habe 
bei der Besprechung der Psychopathia sexualis die in dieselbe Richtung aber 
noch nicht soweit gehenden Ausführungen v. Kr afft -Ebing’s zurückzu weisen 
gesucht. Eine derartige Beweisführung, wie sie Moll zur Begründung seiner 
Vorschläge zur Beseitigung des §. 175 beliebt, die könnte man auch zur Be¬ 
gründung von Beseitigungsvorschlägen noch mancher anderer Paragraphen des 
St.-G. -B. gebrauchen. Darnach müssten wir ja z. B. die Diebstahlsparagrapben 
streichen, weil es viele Diebe giebt, die in Folge psychoneuropathischer Dis¬ 
position oder weil aus psychisch degenerirenden Familien stammend, sich von 
dem durch schlechtes Beispiel und Gewöhnung erworbenen Hang zum Diebstahl 
nicht wieder frei machen können! 

Doch genug davon. Nur eine allgemeine Bemerkung kann ich bei dieser 
Gelegenheit nicht unterdrücken. Es ist ein Fehler, der in der Neuzeit — nicht 
zur Förderung der Werthschätzung psychiatrischen Wissens — manchmal ge¬ 
macht wird, dass wohl unter dem Einfluss der Forschungen Morel’s, Legrand 
du Saulle’s, v. Krafft-Ebing’s und u. A. dem Nachweis erblicher Be¬ 
lastung und dem Vorhandensein dieser oder jener Degenerationszeichen eiue zu 
grosse Bedeutung bei der Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit zugeschrieben 
wird. Der im Einzelfalle geführte Nachweis, dass eine Entartungsanomalie vor¬ 
liegt, beweist doch für die Zu- oder Unzurechnungsfähigkeit noch gar nichts. 
Alles kommt in konkretem Falle auf den Beweis von dem Vorhandensein eines 
für die inkriminirte Handlung oder Unterlassung entscheidenden psychischen 
Defekts oder einer die That erklärenden Irreseinsform an. 

Kehre ich nun zu dem Moll’sehen Buche zurück, so will ich gern zu¬ 
geben, dass dasselbe unsere Kenntniss des Uranismus ganz wesentlich gefördert 
hat. In einer ausserordentlich fleissigen Sammlung geschichtlicher Thatsachen 
führt der Verfasser den Nachweis, dass die Päderastie und andere sexuellen 
Perversitäten sich von dem grauesten Alterthum durch die Geschichte hindurch 
bis zu unserer Zeit verfolgen lassen; und seine Zahlenangaben über die muth- 
massliche Verbreitung des modernen Uranismus in grossen Städten erhärten 
leider die traurige Thatsache, dass diese Perversität jetzt bei einem kleinen 
Prozentsatz aller Bevölkerungsschichten sich vorfindet. Moll schildert uns das 
Leben und Treiben dieser Leute, wie er es in Berlin mit Unterstützung des 
dortigen Polizeipräsidiums beobachten und bis in seine geheimsten Schlupfwinkel 
verfolgen konnte. Wir treten an der Hemd des Verfassers in Kreise, in denen 
moralisch Verkommene, verführte psychische Schwächlinge und wirkliche Geistes¬ 
kranke — und aus diesen Elementen rekrutiren sich die Anhänger des Uranis¬ 
mus — sich zur Befriedigung ihres perversen Geschlechtstriebes zusammenfinden. 
Wir sehen, dass konträr Sexuale in derselben Liebe zu einander oder zu be¬ 
sonders schönen sexuell gesunden Exemplaren des eigenen Geschlechts ent¬ 
brennen, wie wir sie sonst nur zwischen Mann und Weib kennen, und dass 



Besprechungen. 


413 


homosexuelles Fühlen mit Fetischismus, Masochismus und Sadismus komplizirt 
sein kann. Ausführliche und durch Beispiele erläuterte Darstellungen rllhrcn 
uns weiter die bekannte Thatsache vor, dass das konträre sexuelle Empfinden 
nicht selten das ganze Auftreten, die Bewegungen und Kleidung, dass es das 
ganze psychische Sein im Charakter des anderen Geschlechts beeinflussen und 
ändern kann, dass bei dem Urning sowohl wie bei der Urningin die ganze 
Körperbeschaffenheit nicht selten den Typus des anderen Geschlechtes (auch 
Kehlkopfbildung?) annehmen kann; aber wir erfahren auch, dass derartige Er¬ 
kennungszeichen sich durchaus nicht oft oder regelmässig bei den Homosexuellen 
finden, und dass wir aus dem Fehlen derselben noch nicht auf das Nichtvor¬ 
handensein perversen sexuellen Fohlens schliessen dürfen. Endlich werden wir 
wieder an die in den neueren Handbüchern der gerichtlichen Medizin ja schon 
genügend gewürdigte Thatsache erinnert, dass wir bei den passiven Päderasten 
keine dütenförmige Anusbildnng, bei den aktiven keine spitze Glans, und dass 
wir bei den Tribaden keine vergrösserte Clitoris zu suchen haben. Wir ge¬ 
winnen also bei in Frage stehender Päderastie nur selten aus dem Aussehen 
und dem körperlichen Befund sichere Anhaltspunkte und sind auf Zufälligkeiten 
(Nachweis von Sperma an verdächtigen Partien der Wäsche, etwaige syphilitische 
Ansteckung oder dergleichen) angewiesen. 

Bücher, wie das vorliegende, müssen einen grossen buchhändlerischen 
Erfolg haben. Die Sachverständigen, die sich mit diesen Materien befassen 
müssen, und spezialistische Aerzte sind nnr ein verhältnissmässig kleiner Theil 
der Leser. Das Hanptabsatzgebiet haben derartige Schriften in den Kreisen 
jener Welt, für die der Verfasser eine Lanze eingelegt hat, und die Welt des 
Uranismus scheint nach Moll’s Darstellungen ja nicht klein zu sein. 

Dcrs. 


Dr. Eugen Rehfisch: Der Selbstmord, eine kritische Studie. 
Berlin 1893. Fischer’s mediz. Buchhandlung (H. Kornfeld). 

Eine Statistik der Verbrechen, der Geisteskrankheiten und des Selbst¬ 
mordes kann man als einen Gradmesser der geistigen Degeneration eines Kultur¬ 
volkes ansehen. Englische und nach Esquirol auch viele französische Psychiater 
halten alle Selbstmörder für geisteskrank. Den täglichen Erfahrungen gegenüber 
erscheinen solche Anschauungen als einseitige und nicht den Thatsachen ent¬ 
sprechende. Denn nur etwa 30 Prozent aller Selbstmörder gehören zu den aus¬ 
gesprochen geisteskranken Meuschen. Aber immerhin kann man den abschliessen¬ 
den Gewaltakt der scheinbar geistesgesunden Selbstmörder als Folge eines 
krankhaften Seelenzustandes gelten lassen, einer chronischen oder auch ganz 
akut auftretenden Verminderung der psychischen Widerstandsfähigkeit; mag 
diese nun durch Alkohol, Leidenschaften oder erschütternde Katastrophen des 
Einzeldaseins, mag sie durch die Misere des Lebens oder Schuld und Furcht vor 
deren Folgen heraufbeschworen sein. 

Nun wird der geistig normale Mensch durch das eben Angeführte nicht 
leicht so weit aus seinem psychischen Gleichgewicht kommen, dass er die Selbst¬ 
vernichtung als einzige Rettung wählt; wohl aber werden psychisch minder- 
werthige, erblich belastete Individuen, die zu psychisch degenerirenden Familien 
gehören, in des Lebens Missgeschick leicht die Besonnenheit verlieren und, wie 
der Geisteskranke, im Angstparoxysmus des Lebens Ende herbeiführen. That- 
sächlich gehören denn auch die Selbstmörder mit wenigen Ausnahmen zu den 
psychisch Degenerirten. Sie haben also denselben psychischen Boden, aus dem 
in anderen Fällen Geisteskrankheit oder das Verbrechen herauswächst. 

Selbstmord ist demnach nur eine Erscheinungsform der psychischen 
Degenerationsanomalien, und seine soziale Bedeutung kann nur richtig gewürdigt 
werden, wenn man seine Statistik in Parallele mit der der Geisteskrankheiten 
und der Verbrechen bringt. 

Der Verfasser beschränkt sich auf eine grössere, also gewissermassen 
internationale Statistik des Selbstmordes. Letztere war (Morselli) bis 1878 



414 Besprechungen. 

bekannt. In dem vorliegenden Scbriffcchen wird dieselbe für 17 europäische 
Staaten 10 Jahre weiter geführt. 

Werden durch diese Zusammenstellung — es ist aus amtlichem Material 
die respektable Summe von etwa 300 000 Fällen zusammengetragen — auch 
wenig neue Gesichtspunkte gewonnen, so hat der ganze Gegenstand für den 
Gerichtsarzt doch ein so grosses Interesse, dass ein etwas ausführlicheres Ein¬ 
gehen auf den thatsäehliehen Inhalt solcher monographischen Arbeiten immerhin 
gerechtfertigt erscheinen dürfte. 

Aus den einleitenden Worten dieses Referats wird es begreiflich sein, 
dass für das Vorkommen und die Verbreitung des Selbstmordes die direkte Erb¬ 
lichkeit der Selbstmordneigung und die Nachahmung, also eine gewisse psychische 
Infektion, eine grosse Rolle spielen müssen. Das böse Beispiel steckt an, d. h. 
reizt Personen, deren psychisches Gleichgewicht ein sehr labiles ist, leicht zur 
gleichen That. Die Selbstmordmanie der Jungfrauen von Milet, welche uns 
Plutarch erzählt, und das Herabstürzen vom Apollotempel einer kanadischen 
Insel, „der Verliebtensprung“, von dem Plinius berichtet, sind Beispiele solcher 
Selbstmordepidemien aus dem Alterthum; die Wertherzeit ein klassischer Beleg 
aus einer uns näher liegenden Zeitperiode. 

Die Selbstmordziffer, welche sich in den Jahren 1820—1878 vervierfacht 
hatte, steigt von da bis zur Mitte der 80 er Jahre zwar noch weiter an, zeigt 
aber seit jener Zeit, wenigstens in den deutschen Staaten eine deutliche Ab¬ 
nahme. Interessant ist die Bemerkung des Verfassers, dass in besonders be¬ 
wegten Zeiten — so in den Jahren 1849, 65, 66, 67, 70 und 71 — die an¬ 
steigende Kurve der Fälle eine deutliche Einsenkung erkennen lässt. 

Folgen wir dem Verfasser zu den speziellen Punkten seiner Studie, so 
erfahren wir, dass bei 253 000 Fällen im Allgemeinen auf 4 männliche ein weib¬ 
licher Selbstmörder kommt. Nur grosse Verkehrszentren, wie Berlin (hier 2,8:1) 
liefern ein anderes Verhältnis. Wir sehen ferner die Thatsache weiter erhärtet, 
dass die Selbstmordziffer — selbst das Kindesalter (1 Proz. der Fälle) ist nicht 
ganz verschont — von der Pubertät bis zum dreißigsten Jahre rasch ansteigt, 
sich in den Zeiten der grössten Leistungsfähigkeit, von 30—60 Jahren, auf 
grösster Höhe hält, dann allmählich sinkt, aber bis zu den äussersten Lebens¬ 
grenzen verfolgt werden kann. 

Ordnet man die Selbstmörder aus dem Zivilstandc nach dem Berufe, so 
zeichnet sich nur die dienende Klasse durch Massenhaftigkeit des Vorkommens 
aus. Während sich aus anderen Ständen nur etwa von 2—15000 Menschen 
einer das Leben nimmt, kommt bei Menschen, die zu persönlicher Dienstleistung 
verpflichtet sind, schon auf 223 Personen ein Selbstmord. 

Ein eigenes Kapitel wird dem Vorkommen des Selbstmordes beim Militär 
gewidmet. Kommen doch hier im Grossen und Ganzen drei Mal so viel Selbst¬ 
morde vor, als bei der gleichen Altersklasse des Zivilstandes. Aus leicht be¬ 
greiflichen Gründen prävalirt hier das Erschienen, während im Zivilstande die 
bevorzugte Art des Selbstmordes das Erhängen ist, (66,1 Proz. der männlichen 
und 44,3 Proz. der weiblichen Selbstmörder in Preussen). Nach dem Erhängen 
folgt hier erst das Ertränken und an dritter Stelle steht erst das Erschiessen 

Was nun den Einfluss der Jahreszeiten anlangt, so werden wir auch durch 
die vorliegende Statistik wieder daran erinnert, dass die Mehrzahl der Selbst¬ 
morde nicht in die trüben Winterzeiten, sondern in das Sommerhalbjahr fallen. 
Und gerade die schönsten Monate, Mai, Juni und Juli, nehmen die meisten Fälle 
(31,6 Proz.) für sich in Anspruch. Wenn irgend Etwas, so weist uns gerade 
dieser Umstand wieder auf den innigen Zusammenhang des Selbstmordes mit den 
Geisteskrankheiten hin. Wie der Verfasser sacbgeuiäss andeutet, fällt in die 
heisse Jahreszeit der Ansbruch der bei Weitem grösseren Zahl frischer psychi¬ 
scher Störungen, und gerade dann werden, wie ich hinzufügen will, die meisten 
interkurrenten Verschlimmerungen bei chronisch Geisteskranken beobachtet. 

Eine gleiche Verschlimmerung erfährt in der heissen Jahreszeit auch leicht 
das psychische Siechthum vieler erblich belasteter Individuen, und da geschieht 
es denn leicht, dass solche Paroxysmen die geistig Minderwertigen zu dem 
Gewaltakt der Selbstvernichtung treiben. 

Der Verfasser schliesst seine Arbeit mit sozial - philosophischen Betrach¬ 
tungen, welche er in ein Kapitel, „Die Therapie des Selbstmordes“, zusammen- 



Besprechungen. 


415 


fasst. Er hofft zur Abstellung des sozialen Elends auf weitere und umfassendere 
Massnahmen, als sie die derzeitigen sozialen Gesetze (Krankenkassen, Unfall¬ 
gesetze, Altersversorgung) ergreifen. Positive Vorschläge indessen, wie wir die 
erhoffte weitere Weltverbesserung erreichen könnten, hat er leider nicht, und so 
schliesst die kleine, übrigens ausserordentlich angenehm zu lesende Arbeit mit 
frommen Wünschen, die in glänzendem rednerischen Gewände vorgetragen 
werden. Derg. 


Dr. Roth, Rep. - und Med.-Rath in Köslin: Sechster General¬ 
bericht über das Sanitäts- und Medizinalwesen im 
Regierungsbezirk Köslin, umfassend die Jahre 1889, 
18 90, 1891. Kolberg. 1893. 177 S. 

Aus dem sehr reichhaltigen Inhalt heben wir Folgendes hervor: Die Ge¬ 
burtenzifferwar 1889: 37,1, 1891): 37,03, 1891: 37.5, bis 1890 hatte sie, wie 
im Gesammtstaat, fortschreitend aligenommen. Noch grösser war die Abnahme 
der S ter bl ich k eit s Ziffer, die von 27,4 im Jahre 1886 allmählich auf 
20,7 im Jahre 1891 sauk, nur das Influenzajahr 1890 brachte ein kleines An¬ 
steigen auf 21,5. 

Trotz des Geburtenüberschusses von 41253 Personen für 1886—1890 
ergab die Volkszählung vom 1. Dezember 1890 eine Abnahme von 9794 Per¬ 
sonen, eine Folge der steten Auswanderung, ebenso wie das Ueberwiegen der 
weiblichen Bevölkerung. Als „Sachsengänger“ verliessen 1890 den Bezirk vor¬ 
übergehend 2432 Personen, darunter nur 70 unter Bruch des Arbeiterkontrakts. 
Der Prozentsatz der Todtgeborenen war 1889/91 3,53, der der unehe¬ 
lichen Geburten 9,6—9,9. Die Influenza vom Januar 1890 machte sich auch 
in der auffallend geringen Gebnrtenfrequeuz im Oktober und November 1890 
bemerkbar. Die Zahl der Eheschliessungen ging von 7,2 für 1000 Ein¬ 
wohner (1886/88) auf 7,0 zurück. Die Sterblichkeit der ländlichen 
Bevölkerung war 1889 und 1890 um mehr als 3, 189^ um 5 auf 1000 
günstiger als in den Städten, und beim weiblichen Geschlecht erheblich niedriger 
als beim männlichen, besonders in den Städten. Die Sterblichkeit der Kinder 
im ersten Lebensjahre war in den Städten grösser als auf dem Lande, 
besonders unter den unehelich geborenen; der Prozentsatz der Todesfälle im 
ersten Lebensjahre auf 100 lebend geborene Kinder schwankte zwischen 18,6 im 
Kreise Kolberg und 13,7 im Kreise Dramburg. — Unter den Infektions¬ 
krankheiten ist hervorzuheben: a) Pocken: 1891 zeigten sich einige leichte 
Fälle in 3 Ortschaften des Kreises Bütow, wahrscheinlich aus Westpreussen eiu- 
geschleppt. b) Typhus: Auf 1000 Einwohner betrug die Mortalität 0,21, bei 
einer Epidemie in Belgard liess sich nachweisen, dass sie durch einen kleinen 
Milchhandel ausgebreitet war; die Milch stand in dem einzigen Wohnraum der 
Familie, in der der erste Fall vorgekommen war, alle später Erkrankten hatten 
dftvon getrunken, c) Diphtherie: Die Mortalität war 2,0 auf 1000 (1886/88 
4,24 auf 1000), auf dem Lande war sie doppelt so hoch wie in den Städten. In 
der Regel werden die Aerzte gar nicht oder zu spät zugezogen, und da deshalb 
keine Anzeige erfolgt, haben auch die Medizinalbeamten keine Handhabe zu 
rechtzeitigem Einschreiten. Desinfektionsmassregeln können hier nur empfohlen 
werden, es fehlt an einem Personal zur Ausführung und an jeder Kontrole. 
d) Scharlach: Die Mortalität betrag nur 0,09 auf 1000, eine kleiue Epidemie 
war in Beziehung zu infizirten Lumpen zu bringen, e) Tuberkulose: Mor¬ 
talität 1,73 auf 1000, und zwar 2,18 in den Städten und 1,56 auf dem Lande, 
f) Puerperalfieber: Als im Kindbett gestorben wurden 373 Franen ge¬ 
meldet, davon bei 113 von den Physikern Puerperalfieber festgestellt, die An- 
zcigepflicht seitens der Hebammen wurde im Ganzen gut befolgt. 

Auch die folgenden Kapitel, die in der bekannten Anordnung der Sauitäts- 
beriehte alles hygienisch Wichtige im Bezirk behandeln, enthalten sehr viele 
interessante Einzelheiten, doch eignet sieh das reichhaltige Material nicht zu 
einer auszngsweisen Wiedergabe. 

Dr. Woltemas-Diepholz. 



416 


Tagesnachrichten. 


Tagesnachrichten. 

T ® er .P' international© medizinische Kongress in Rom sowie der 
ii, i “ te ™f: t j 0 “ ale Samtäts- Kongress, der vom 8.-10. September d. J. in 

SÄtoveÄ«! m “ Mct8ict l “ f die Ciol.mgof.ta bta zum 

e if m d . es Ministers des Innern vom 19. Juli d. J. werden 

p r ümversitätefenen an den hygienischen Instituten der Universitäten 

fflr vllwouf, a ?’ Kö t n,gsberg < , Kiel nnd Marburg 14tägige hygienische Kurse 
2Ll e I7n UDg8beam ^ e abgebalten . werden, um den Theilnehmern durch Vor- 
rp. f., j ^^o^strationen einen Einblick in die ihren Wirkungskreis berührenden 

stände umfassen 1 - 606 M verschaffen. Die Vorträge werden nachstehende Gegen- 

«rüHatil* vlt a ^ g . e “ einen , Aufgaben der Hygiene; Mortalitäts- und MorbiditÄts- 
Statistik, Krankheitsursachen; die krankheitserregenden Parasiten. 

Bnm.oLf.ge“ hLS "“ 1 WM,e " emr *“”* im Filterbetrieb; 

v»nH-iatL« W °n“ ng8hy8 i ie , ne , : «wondheitsschädliche Bestandteile der Luft, 
Ventilation; Heizung, lokale und centrale Heizanlagen. Spezielle Wohnungs- 

Gtefltagnissechulbaüten, KrankenhÄuser, Isolirbaracken, Arbeiterwohnungen, 

anlagen * Abfuhrsyste^ der Abfallstoff e; Kanalisation, Rieselwirthsohaft, Klär- 

#ui 5 ' Volksernährung, Kost “ öffentlichen Anstalten; Alkoholismus; Ver¬ 
fälschung der Nahrungsmittel, Fleischschau, Marktpolizei. 

6. Die wichtigsten Theile der Gewerbehyiriene. 

7. Begräbnisswesen. 

8. Die Verhütung der übertragbaren Krankheiten, Desinfektionswesen. 

T)_ tt ® en einzelnen Kursen können 15 bis 20 Theilnehmer zngelassen werden. 
Das Honorar ist auf 30 Mark und 6 Mark Institutsgebühren festgesetzt 

. Nachrichten über den Stand der Cholera lassen keinen Zweifel, 

Jahre ist Sltuatl0n eme ebenso ernste ala zn derselben Zeit im vergangenen 

Frankreich herrscht die Seuche nicht blos im südlichen Theile der 
Republik (in Marseille betrug die Zahl der Erkrankungen vom 10.—24. Juli 
Jl 8 o nd ®™ ist auch im westlichen Theile z. B. in Nantes aufgetreten, wo 
vom 13.—27. Juli 44 Erkrankungen mit 30 Todesfällen angemeldet sind. 

• ,. ^ ebe .T d * e Au8bre | tang der Cholera in Italien liegen zuverlässige Nach¬ 
richten nicht vor, doch scheint die Krankheit besonders in Piemont eine 
grössere Ausbreitung genommen zu haben und auch in Neapel ist eher eine 
Zunahme als eine Abnahme zu bemerken (vom 29. Juli bis 7. August 119 Er¬ 
krankungen mit 68 Todesfällen). ^ 

• . In.Russland hat sich die Seuche weiter nach Westen ansgebreitet und 
ist auch in Polen (Bialystock) ausgebrochen. Bis znm 30. Juli waren daselbst 
d Erkrankungen amtlich festgestellt. Die grösste Ausbreitung hat die Cholera 

L n ll P ® d . ol * en / vom , 15 - Jttli bi» 6- August 1632 Erkrankungen mit 604 
iodesfällen), m Orel nnd Bessarabien. In Moskau betrug die Zahl der 
Erkrankungen vom 30. Juni bis 6. August 272 mit 87 Todesfällen; inNischni- 

Nowgorod vom 11. 24. Juli 252 bezw. 102. Augenblicklich sind 16 Gouver¬ 
nements infizirt. 

Bedenklich ist ferner das Auftreten der Krankheit in Rumänien und 
zwar in den Orten Braila (vom 5.—11. August 46 Erkrankungen mit 17 Todes¬ 
fällen) und Sulina (vom 6.—8. August 37 Erkrankungen mit 21 Todesfällen). 
Auch ans Ungarn und Galizien werden vereinzelte Cholerafälle gemeldet. 

Dagegen hat die Zahl der Cholera - Todesfälle in Mekka und Djeddah 
we f™ abgenommen und ist von 1076 bezw. 1521 in der Zeit vom 4—13. Juli 
auf 98 bezw. 84 in der Zeit vom 14.—19. Juli gesunken. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden LW. 

J. 0. 0. Brun«, Bnehdruckerei, Minden. 


6. Jahrg. 


Zeitschrift 


1898; 


für 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rathu.gerichtl.Staatphysikus inBerlin. Reg.- und Medi/.inalrath in Minden. 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitseile 45 Pf. nimmt die Yerlagshandlung und Rud. Moese 

entgegen. 


No. 17. 


Eracheint am 1. and 15. jeden Monat«. 
Preis Jährlich 10 Mark. 


1 . 


Septbr. 


Ueber Alter und Ursprung der Menschenblattern. 

Von Geh. San.-Rath Dr. Hagemann, Kreisphysikus in Dortmund. 

Ueber Alter iyid Ursprung der Blattern gegenwärtig etwas 
beibringen zu wollen, nachdem so hervorragende Kräfte wie 
Werlhof, LittrG, Moore, Krause, Häser, Hirsch und 
Bohn, gestützt auf gründlichstes Quellen-Studium, diesen Gegen¬ 
stand bereits in ergiebigster Weise bearbeitet haben, dürfte leicht 
als Anmassung erscheinen. Von einer solchen aber weiss ich mich 
frei und es möge diesem meinem kleinen Versuche nur zur Ent¬ 
schuldigung dienen, dass die hohe Wichtigkeit des Gegenstandes 
und ein besonderes Interesse, welches ich demselben seit längeren 
Jahren schon entgegenbringe, mich veranlasst hat, zu versuchen, 
auch meinerseits mein bescheidenes Scherflein zu seiner Klar¬ 
stellung beizutragen. 

Betreffs des Ursprungs und Alters der Blattern lesen wir 
— wohl auf die Autorität Krause’s und Moore’s gestützt — 
weitaus in den meisten bedeutenderen Hand- und Lehrbüchern der 
klinischen Medizin, speziell in denen der Hautkrankheiten und in 
medizinisch-historischen Werken, dass die Blattern schon in der 
„urältesten“ Vorzeit in Ostafrika, namentlich in dem jetzigen 
Abyssinien bis in den Sudan hinein, sowie in China und Ostindien 
geherrscht hätten. 

Hecker beispielsweise führt an, dass sie schon etwa 2000 
Jahre vor ihrem ersten Erscheinen in Arabien, in Ostindien und 
China bekannt gewesen seien und die Hindus eine besondere 
Pockengottheit „Mariatale“, „Patragali“ oder „Guti-ka- Takurani“ 
verehrt hätten. 

Lessing 1 ) behauptet, dass die Krankheit etwa 1500 Jahre 


') Lessing: Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. I, S. 161. 








418 


Dr. Hagemann. 


v. Chr. in China und Ostindien ebenso bekannt wie gefürchtet ge¬ 
wesen sei, und führt als Beweis ein noch vorhandenes ärztliches 
chinesisches Werk: „Herzenstraktat von den Pocken“ an, dem 
ein Ursprung aus dem Jahre 1120 v. Chr. zugeschrieben wird. 

Nach Hecker 1 ) ist das Variolations-Verfahren der Brammen 
von „nicht zu berechnendem“ Alter und der Dienst der Pocken¬ 
göttin im Attharva Veda (dessen Inhalt nach dem Urtheil eng¬ 
lischer Sanskritforscher bereits aus dem Jahre 2300 herstammt, das 
aber nach der Behauptung der Braminen sogar vor dem Jahre 
3300 v. Chr. verfasst sein soll) vorgeschrieben, woraus hervorg-ehen 
würde, dass in Ostindien die Pocken schon vor nunmehr länger 
als 5000 Jahren aufgetreten sein müssten, da sie ja um diese 
Zeit bereits eine eigene Schutzgöttin zugewiesen erhielten. 

Krause zweifelt nicht, dass Moses bereits die Blattern 
gekannt habe und dass eine der von ihm für die Aegypter herauf¬ 
beschworenen Plagen eben diese Krankheit gewesen sei; er zweifelt 
auch nicht daran, dass die Seuche in Athen zur Zeit des Thucydides, 
die Lagerseuche in Sizilien im Lager der Karthager, welche 
Diodor schildert, Blattern gewesen sei, und dass Hippocrates 
dieselben gekannt und beschrieben habe. 

Es wird nun darauf ankommen, hier kurz nachzuschauen, 
worauf diese Behauptungen von dem fast unendlichen Alter des 
Blattern-Vorkommens sich stützen. . 

Die beiden Stellen aus der Attharva Veda die nach Häsers *) 
Forschungen möglicherweise auf Pocken bezogen werden können, 
sprechen (in der lateinischen Uebersetzung) von „tumores febriles 
a sanguine bileque orti, alicubi aut ubique in corpore commemorati, 
qui pustulae sunt“ und von „maculae aestu et febre efiectae et 
pustulae in membris et ore“; das Leiden wird das eine Mal 
„Visphotaka“, das andere Mal „Masurika“ genannt. 

Häser selbst bemerkt, dass diese Worte auch nicht einmal 
mit annähernder Sicherheit auf Pocken bezogen werden könnten 
und die Verschiedenheit der Namen auch auf verschiedene Krank¬ 
heiten hindeute. Die Pockengöttin aber mit ihren verschiedenen 
Namen bedeutet eine Seuchen-, oder Beulen-, oder Fieber-Abwen¬ 
dende, sie gehört zu den Fabelwesen des Trimurtis - Kultus 
und ihre Verehrung ist rein mythischer Natur! 

Ausserdem ist doch auch hinsichtlich des Alters der Veden 
nicht zu vergessen, dass zwar ihre durch Priester - Kastentradition 
fortgepflanzten Lehren sicher bis in ein sehr hohes Alterthum 
zurückreichen, sie aber in ihrer jetzigen Fassung (nach Kennern 
wie Oppert) nicht vor dem 1. bis 2. Jahrhundert unserer 
Zeitrechnung entstanden sind. 

Die Behauptung Moore’s vom Auftreten der Blattern in 
China schon wenigstens 1500 Jahre v. Chr. und dem schon im 
Jahre 1122 erschienenen „Herzenstraktat von den Pocken“ 
(T6ou tchin fu) steht direkt der des genauen Kenners des Chinesi- 


J ) Hecker: Geschichte der neueren Heilkunde. Berlin 1839, S. 131. 

*) Häser: Geschichte der epidemischen Krankheiten. Jena 1859, S. 26. 



Ueber Alter and Ursprang der Menschenblattern. 


419 


sehen, Pearson, gegenüber, dass in den sonstigen bekannteren 
chinesischen medizinischen Schriften erwähnt sei, die Pocken wären 
im 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung von Westen her kommend 
zuerst in China erschienen. 

Wenn man nun noch dazu nimmt, dass in diesem „Herzens¬ 
traktat“ bereits Andeutungen von Variolation stehen 1 ), die in 
China keinesfalls weiter hinaufreicht als in das 11. Jahrhundert 
post Christum, so kann der Gedanke ja gar nicht von der Hand 
gewiesen worden, dass jenes Buch erst nach dieser Zeit ent¬ 
standen ist. 

Wir kommen nun zu der Hahn-Krause’sehen Behauptung, 
dass Moses die Blattern bereits gekannt hat. Diese stützt sich 
auf die Stelle im 2. Buch Kap. 7 des Pentateuch in der von 
2Axtj cpAuxxtSes die Rede ist, die von Luther allerdings mit „böser 
schwarzer Blatter“ übersetzt wird. Dass diese Stelle von ihm, 
der genügend Gelegenheit hatte, zu seiner Zeit jene gefürchtete 
Krankheit kennen zu leimen, in dieser Weise übersetzt wurde, ist 
sehr erklärlich; es liegt aber thatsächlich für uns nicht der min¬ 
deste Grund vor, die „blasigen Schwären“ als Blattern aufzufassen, 
da diese Bezeichnung eine bei den griechischen medizinischen 
Autoren häufig vorkommende und ganz allgemeine ist. 

Weiter soll die von Thucydides in vorzüglicherWeise ge¬ 
schilderte Seuche in Athen im Beginne des Peloponnesischen Krieges 
eine Blatternepidemie gewesen sein. 

Thucydides 2 ) erzählt, dass im Jahre des ersten Einfalls 
des Königs Archidamus in Attika (also im Jahre 430 v. Chr.) 
unter dem zwischen den schützenden Mauern Athens zusammen- 
gedrängten Stadt- und Landbewohnern eine ansteckende und tödtliche 
Seuche ausgebrochen sei, die gegen Anfang des nächsten Jahres 
aufgehört, aber im 3. (also 428) mit noch grösserer Heftigkeit 
wieder begonnen habe und gegen welche ärztliche Hülfe machtlos 
gewesen sei. 

Er erwähnt, dass sie ihren Ausgang aus Aethiopien 3 ) ge¬ 
nommen, viele Länder überzogen, zunächst die Bewohner der 
Hafenstadt Athens ergriffen habe und durch diese auch nach der 
Stadt selbst gebracht sei. Als die ersten Symptome bezeichnet er 
heftigen Kopfschmerz, dunkele Röthung der Rachenhöhle und übel¬ 
riechenden Athem 4 ), ferner nennt er als Krankheitserscheinungen 


*) Vielleicht ergebt es auch diesem Werke wie einem anderen chinesischen 
Werke „Die Pulslehre 14 , das bis in die Jahre 2700 vor Christo datirt wird und 
zum Verfasser den sagenhaften, um jene Zeit genannten Begründer dos chinesi¬ 
schen Reiches, den Kaiser Hoang-ti und den Arzt Lipe haben soll, bei deren 
Altersrechuung aber der kleine Irrthum vorgekommen ist, dass nmn Hoang-ti 
als Mitarbeiter angesehen hat, während ihn Lipe nur als göttlichen Schützer 
seiner Arbeit anruft und erwähnt. 

*) Thucydides: De bello Peloponnesico: Lib. II, Kap. 47 bis 54 und 
Lib. m, Kap. 87. 

3 ) Lib. II, Kap. 40: f,p;axo 5s xö plv npwxov sj ’A’.lho-Ja^ xrj; Ü 7 t£p 
’AiYÖ7ixov. 

4 ) Ibidem: ^ ts cpapir^ xai -f) yXwaaa ioD-ög a f .pax cb 5r) Yjv xal TtvsSjia . . . 
5ooü)5t]s yjqpisi. 



420 


Dr. Hagemann. 


eine bläuliche Farbe der Hautdecken, auf denen sich kleine Bläschen 
und Schwären befunden hätten 1 ), einen so grossen Durst der Er¬ 
krankten, dass sie in Raserei verfielen und sich selbst in Cisternen 
stürzten, ein Fortschreiten der Krankheit auf die Finger and 
Zehen, die bei Vielen brandig wurden und sich abstiessen, worauf 
diese zu genesen pflegten 2 3 ); er hebt auch die hohe Ansteckungs- 
fahigkeit hervor, in Folge deren massenhaft Aerzte und Kranken¬ 
pfleger gestorben seien. 

Der Autor spricht dagegen nirgendwo von Schwindel, von 
Kreuzschmerzen, von Schüttelfiost, also von Symptomen, die einem 
so sorgfältigen Beobachter gar nicht hätten entgehen können, falls 
sie vorhanden gewesen wären; er spricht selbst die Meinung aus, 
dass die Krankheit mit Sumpf-Ausdünstungen zusammenhinge. 
Erwägt man alles dies und berücksichtigt insbesondere das 
Symptom der Raserei, welches die Kranken bewog, sich in’s Wasser 
zu stürzen, die Neigung zu brandiger Zerstörung der Finger und 
Zehen, sowie den Übeln Geruch des Athems, so deutet die Gesammt- 
reihe der Erscheinungen, wie schon Häser und Littr6 bemerkt 
haben, denn doch wohl zweifellos mehr auf eine Flecktyphus- 
Epidemie als auf Blattern hin. 

Der gelehrte Hecker 8 ) will in der Atheniensischen Epidemie 
einen Seuchenzug jener Krankheit sehen, die er die „alterthümliche 
Pest“ nennt und die — nach seiner Annahme — nach jahrtausend¬ 
langem Bestehen zu Justinians Zeit in die spätere Bubonen- 
Pest übergegangen sein soll, die aber auch nach seiner Ansicht 
einen typhösen Charakter gehabt hat. 

Wie steht es dann mit der von Diodor 4 ) allerdings nicht 
so genau, als dies für Athen von Thucydides geschehen, be¬ 
schriebenen Seuche im Lager der Karthager, die gegen Ende des 
4. Jahrhunderts v. Chr. Syrakus umschlossen hielten, ausge¬ 
brochen war? 

Diodor erzählt, auch diese Seuche sei aus Afrika ge¬ 
kommen und sehr ansteckend gewesen, so dass meistens die Kranken 
hülflos gestorben seien; er nimmt an, dass aus den Sümpfen auf¬ 
steigende Dünste zunächst die Athmungsorgane in Entzündung ver¬ 
setzt hätten, neben welcher sich eine eigenthümliche wasser¬ 
süchtige Halsanschwellung 5 ) gebildet hätte, Fieber und Schmerz¬ 
haftigkeit in den Sehnen und Schwere in den Gliedern 6 7 ), ruhrartige 
Durchfalle und ein Blasenausschlag über den ganzen Körper p ein¬ 
getreten seien, viele der Befallenen in Raserei verfallen, die Be¬ 
mühungen der Aerzte nutzlos gewesen und die Kranken schon 
am 5. bis 6. Tage meistens gestorben wären. 

Wenn man sich hier nicht lediglich auf die Schmerzen steift, 


l ) Ibidem: cpXoxTa£vat6 juxpa»g xal SXxsotv. 

s ) Lib. II, Kap. 51: iloXXoi cTSptaxdjisvot todtcbv Öiicf’JYOv. 

3 ) Ueber die Volkskrankheiten. Rede. Berlin 1832, S. 4. 

4 ) Diodor. Lib. XIV., Kap. 69-70. 

5 ) Ibidem, Kap. 70: 4<pö*m 0 di ötSrjpaxa rcspl xov ßpoyX ov - 

6 ) Ibidem: ttjvol ev vsäpotg.xat ßapu&Tjxeg. 

7 ) Ibidem: Soasvxsptat.xat cf Xuxxatvat jitxpat nipi oXovxö cöjia. 





Ueber Alter und Ursprung der Menschenblattern. 


421 


dürfte es doch wirklich recht schwierig sein, aus diesem Krank¬ 
heitsbilde Blattern herauszukonstruiren. Die Behauptung K r a u s e ’ s, 
dass Hi pp o crate 8 die Blattern gekannt und beschrieben habe, 
stützt sich auf jene Stelle im 3. Buche von den Landseuchen, an 
der vom Ausbruch der <£v3-paxes*) die Rede ist, die auf dem ganzen 
Körper erscheinen. 

Es werden aber — wie der Inhalt des Kapitels ergiebt — 
hier im Allgemeinen fieberhafte, mit Ausschlägen verbundene 
Krankheiten geschildert, die zur Annahme von Blattern gar keinen 
weiteren Anhalt geben, wobei auch noch besonders zu bemerken 
ist, dass <2v8paxes hier wohl nur die Pluralform ist und nur das 
Vorkommen von äv5pa£ bei Mehreren bedeuten soll. 

Im Uebrigen findet sich bei Hippocrates — nach 
Sydenham — keine einzige Stelle, die mit annähernder Wahr¬ 
scheinlichkeit und ohne Zwang 8 ) auf Blattern bezogen werden 
könnte und eben dies giebt dem grossen medizinischen Autor des 
17. Jahrhunderts Anlass zu der vorzüglichen Bemerkung, dass, 
wenn jene Krankheit damals schon vorgekommen wäre, sie gewiss 
von dem sorgfältigsten aller ärztlichen Beobachter jener Zeit ihrer 
Wichtigkeit wegen vollständig deutlich und unverkennbar 3 ) be¬ 
schrieben sein würde. In ganz ähnlicher Weise äussert sich ein 
Jahrhundert später der bekannte P. Frank, wenn er sagt 4 ), es 
es müsse Verwunderung erregen, wie Sachverständige aus den 
Schriften der Alten behaupten könnten, „dass die Pocken älter 
seien als es die treuen Beobachtungen jener alten grossen Aerzte 
(wie z. B. Hippocrates) schilderten, die doch sonst die Volks¬ 
krankheiten so treu beschrieben haben und nun gerade die so 
wichtigen Blattern so oberflächlich beschrieben haben sollten, dass 
man jetzt nicht mehr im Klaren sei, welche Krankheit sie eigentlich 
hätten damit bezeichnen wollen.“ 

Es ist wirklich nicht leicht, so treffenden Bemerkungen die 
Zustimmung zu versagen! Wenn aber die Vertheidiger des ur¬ 
alten Vorkommens der Blattern von den späteren vor Chr. lebenden 
Schriftstellern selbst nicht behaupten, dass jene dieselben deutlich 
beschrieben hätten und auch bei den vorher Angeführten keine 
irgendwie mit Sicherheit oder auch nur mit Wahrscheinlichkeit 
und ohne Zwang auf das Vorkommen von Blattern zu deutenden 
Beweisstellen aufzufinden sind, möge es mir gestattet sein, für 
meine Person zu bezweifeln, dass die Krankheit vor Christi Geburt 
bereits in so prägnanter Form sich gezeigt hat, dass man direkt 
eine so frühe Existenz der Menschenpocken behaupten dürfe. 
Anders freilich stellen sich die Verhältnisse bald nach dem Beginn 
unserer Zeitrechnung. 


’) Magni Hippocr&tis Co'i Epidamarum Liber tertius (xaxccaxaai;; 
Xs'jpwSrjjs ÄvO-paxsg ftoXXal Yiyvovxai xai <2XXa & OYjcp xaX4exou, gxdtfpaxa p.i-fa.AZ, 

gfjt7)X££ fiEYäXai. 

*) T. Sydenham: Opera omnia, Sigd. Batavor, 1759, S. 240; nisi quis 
forte locus difficilima ratiocinatione torqueatur. 

3 ) Ibidem: sagacissimam Hippocratem opinor, is nunquam latuisset. 

*) P. F r a n k: Behandlung der Krankheiten d. Menschen; übers, v. Sobern- 
heim, Theil HI, S. 94. 



422 


Dr. Hagemann. 


Es sclieiiit die Blattern zunächst aus eigener Anschauung der 
Israelit Philo 1 ) gekannt zu haben, wenn er in seiner Lebens¬ 
beschreibung des Moses von plötzlich auftretenden Exanthenen 
spricht xaxa oopcc? öc-iziarfa utzo 7:0005 tyovza cpXuxxodvas, so dass 
schliesslich der ganze Körper als ein einziges Geschwür vom Kopf 
bis zu den Füssen erschien und die Kranken von Fieber und Durst 
gequält zu Grunde gingen. Es liegt recht nahe, hierbei an Variola 
confluens zu denken. 

Aehnlich verhält es sich mit der Stelle des Pneumatikers 
Herodot*) zur Zeit Kaiser Trajan’s, die Aelius von Amida 
in seinem 5. Buche zitirt und in der von rothen, auf dem ganzen 
Körper mit pestartigem Fieber erscheinenden erkennbaren Flecken die 
Bede ist (pcoXcoTre? Tiepl 8 Xov tö owjxa, od iXxwSrj ylyvovtat Iv T 0 I 5 
XogiwSsat Tiope-ratg), die zu Schwären werden, von denen die gefähr¬ 
lichsten die sind, die im Gesichte erscheinen, die unter Zunahme des 
Fiebers und unter Eiterung tödten, aus epidemischer Ursache ent¬ 
stehen und von Volk zu Volk wandern. Auch hier sind mit grosser 
Wahrscheinlichkeit die Blattern beschrieben und es muss auffallen, 
dass Celsus 3 ), der etwa um die nämliche Zeit sein Werk verfasst 
hat, ihrer in dem Kapitel über die febres pestilentes aber gar nicht 
erwähnt. Bei einer späteren, etwa um das Jahr 125 aufgetretenen 
Pest, die Orosius beschreibt und die in Vorderasien, Griechen¬ 
land und Italien herrschte, bleibt es zweifelhaft, ob dabei die 
Pocken gemeint sind, da zwar heftiges Fieber, Kopfschmerzen und 
Hautausschläge über den ganzen Körper aufgeführt, die letzteren 
aber gar nicht weiter beschrieben werden. 

Mit annähernder Sicherheit lässt sich indessen behaupten, 
dass der gelehrteste Arzt des Alterthums, Galenus, die Menschen- 
Blattern kannte. 

Seine Beschreibung von exanthematischen Symptomen jener 
grossen Pandemie, die fast 15 Jahre lang (von 165—180 nach Chr.) 
dauerte und den Kamen der A 11 ton in’sehen Pest in der Ge¬ 
schichte führt, lässt kaum einen Zweifel übrig, dass iu den letzten 
.Jahren die Seuche in variolöser Form aufgetreten ist. 

Nach Ammianus Marcellinus erstreckte sich das da¬ 
malige Pestgebiet von den Grenzen des Perserreichs bis nach 
Gallien, die Ansteckung war eine eminente, die Tödtlichkeit eine 
ausserordentliche. Ausgebrochen scheint die Seuche nach der Ein¬ 
nahme von Seleucia zu sein und die Legionen des siegreichen 
A vidi us Gassi us mögen sie auf ihren Märschen nach Westen 
hin verschleppt haben. Ihr erlag in seinem Zelte am Donaustrand 
im Jahre 180 einer der mächtigsten römischen Kaiser, der ruhm¬ 
reiche Mark -Aurel, nachdem er selbst seinen Sohn, um ihn vor 
Ansteckung zu bewahren, fortgeschickt hatte. 

Von Symptomen derselben beschreibt Galen insbesondere 
eine Entzündung des Pharynx, der dunkel geröthet erschien, und 
einen übelriechenden Atheni; die Haut war nicht heiss anzufülilen, 


*) Käser, a. a. 0., S. 24. 

*) Ibidem, S. 27. 

8 ) A. C. Celsi de mediciua; Lib. III., Kap. 7. 



Ueber Alter und Ursprung der Menschenblattem. 


423 


dabei aber quälte die Kranken heftigste innere Hitze und Durst; 
am 7. oder 9. Tage trat Durchfall auf, der röthliche oder schwärz¬ 
liche Massen entleerte. In den letzten Jahren der Epidemie trat 
bei den Meisten am 9. Tage der Krankheit ein Exanthem auf. 
Dasselbe stand auf dem ganzen Körper 1 ) dicht bei einander, 
war von dunkeier Farbe und pustelförmig, nicht nässend. Später 
füllten sich die Pusteln mit Eiter; es bildeten sich oben auf ihnen 
Schorfe, die sich später abstiessen *), wonach die Pusteln abtrock¬ 
neten. Lange Zeit hindurch wurde dieser Ausschlag brandig 3 ) 
und es starben sehr viele daran. 

Liest man diese Schilderung, so ist es doch sehr wahr¬ 
scheinlich, dass die mit dem Exanthem einhergehenden Erkran¬ 
kungen Menschenblattern gewesen sind und wenn auch Hecker 
diese ganze Epidemie wieder seiner „alterthümlichen“ Pest zu¬ 
rechnen will, so wird man eher Krause zustimmen, der darin die 
Blattern sieht. 

Ob in der Pest des Cyprian 4 ), die auch etwa 15 Jahre 
andauerte (251 bis 266), aus Aethiopien über Aegypten und das 
Mittelmeer nach Europa fortschritt und namentlich Südeuropa 
heimsuchte, Beulenpest oder Blattern zu suchen sind, lässt sich 
nach H ä s e r nicht mit annähernder Sicherheit feststellen, da unter 
den Hauptsymptomen Entzündung der Mund- und Rachenhöhle, 
Entzündung der Augen mit öfters zurückbleibender Erblindung, 
grosse Ansteckung und Tödtlichkeit genannt, aber weder ein 
Exanthem, noch Bubonen beschrieben werden. 

Dagegen findet sich in der von Eusebius 5 ) beschriebenen 
Pest die zur Zeit des Kaisers Maximinus (also etwa 310 bis 311) 
auftrat und insbesondere Griechenland und Italien verheerte, eine 
von dem bekannten Xoi|x£>s abweichende Krankheitsform, bei der 
<Jv9-paxes pcxpol mit eiterigem Inhalt gefüllte Pusteln über den 
ganzen Körper ausbrachen, die gewöhnlich im Gesicht begannen, 
die Augen mitbefielen und Blindheit zuriickliessen. Diese kann 
man ohne Zwang wieder auf Blattern deuten. 

Im 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung findet sich bei den 
Autoren nichts auf Pocken bezügliches. 

Während nun in der vorchristlichen Zeit mir kein genügender 
Beweis für das Vorkommen der Blattern erbracht zu sein scheint, 
in den ersten 5 Jahrhunderten unserer Zeitrechnung die Krankheit 
epidemisch sehr wahrscheinlich jeweilig geherrscht hat, tritt sie 
plötzlich mit zweifelloser Sicherheit im 6. Jahrhundert in die 
Geschichte ein. Es geschah dies während jener furchtbarsten 
Pest-Epidemie der ersten Jahrhunderte nach Christi - Geburt, in 
der zweiten Hälfte des 6. Saeculums zur Zeit des Kaisers 


*) CI. Galeni methodns medendi; Lib. V, Kap. 82: egaviWjpaxa piXava 
5iä 7tavxög xoö ocopaxoj äupticog äcpalvexo toij uXefaxoi^ pev sXxo>5?j, xccai Se £r ( pa. 
*) Ibidem: xd SmTtoXvJs äv£mnxev diug ovopä^ouaiv i^eXLZai. 

8 ) CI. Galeni de bonis pravisque elementorum succis, Lib. II, Kap. 1 
ctv9-paxcb5y) xal cfaye^cx'.v'.xx. 

4 ) Haeser a. a. 0., S. 38ff. 

®) C. H. Fachs: Die krankhaften Veränderungen der Haut. 1841, 
S. 1113 p. p. 



424 


Dr. H&gemann. 


Justinian,die recht eigentlich die erste Epidemie der orientalischen 
Pest mit ihren Brandbeulen und Drüsengeschwülsten gewesen ist. 

Was aber schon in der von Eusebius geschilderten Pest 
sich anbahnte, gab sich in dieser deutlich kund, nämlich das Selbst¬ 
ständigwerden einer Krankheitsform ohne Bubonen, dagegen mit 
pustulösen Hautausschlägen, bei der dieselben theils in einzelnen 
Pusteln nahe bei einander standen, theils zusammenflossen, mit 
späterer Bildung von Eiterkrusten, wie dies das Eigentümliche 
bei Variola ist. 

Nach Procops Schilderung brach jene grosse Pest 541 in 
Pelusium aus und breitete sich sowohl ostwärts über das Mittel¬ 
meer nach Kleinasien, Syrien, Arabien und Persien, als westwärts 
über Griechenland, Thrazien, lllyrien, Ungarn und Gallien aus, 
während sie zunächst Italien 543 nur flüchtig streifte und nach 
Spanien erst im Jahre 584 gelangte. 

Dass Südgallien und besonders das Gebiet von Alles vorzugs¬ 
weise von ihr heimgesucht wurde, finden wir bei einem ihrer gründ¬ 
lichsten Chronisten, dem gelehrten Bischof Gregor vonTours 1 ), 
der uns auch die ausführlichste Schilderung von der später an ihre 
Stelle tretenden oder mit ihr abwechselnden Pustularpest (unserer 
Variola) hinterlassen hat. 

Procop erzählt, dass sie schon im Jahre 542 Konstantinopel 
so stark heimgesucht habe, dass auf der Höhe der Epidemie 4000 
bis 5000 Menschen täglich daran gestorben seien, dann aber bei 
ihren Seuchenzügen, die fast bis gegen das Ende des Jahrhunderts 
gedauert zu haben scheinen, dieselbe Stadt nochmals im Jahre 583 
ganz besonders befallen und dermassen dort gewüthet habe, dass 
es an Händen zur Bestattung der Todten fehlte, man die Sykaei- 
schen Doppelmauern abdeckte und ungezählte Leichen zwischen 
denselben anhäufte, was dann der Weiterverbreitung wohl erst 
recht Nahrung gegeben hat. 

Auch an räumlicher Ausdehnung ist sie die bedeutendste 
aller früheren Seuchen gewesen; sie hat dem römischen Weltreiche 
und den ihm benachbarten Völkern fast J /s sämmtlicher Einwohner 
geraubt, blühende Städte in Einöden verwandelt und wesentlich 
dazu beigetragen, dass fortan die römische Macht dem Andrängen 
urwüchsiger Barbarenschwärme nicht mehr Stand zu halten 
vermochte. 

So wichtig ein näheres Eingehen auf diese Pest auch sein 
mag, darf ich dies nach dem Plane dieser kleinen Arbeit mir doch 
nicht gestatten, sondern ich werde mich direkt zu denjenigen 
Eigenthümlichkeiten derselben wenden, die für uns hier in Betracht 
kommen. 

Jene Krankheit mit den geschilderten Hautsymptomen und 
ohne die Erscheinung der Bubonen hat wohl als der Erste Marius, 
Bischof von Avenches 2 ), mit dem Namen Pusulae, Pustulae, Morbus 


*) Gregorii Turonensis: Historia Francorum Lib. IV, Kap. ö: quum per 
diversas regiones (lesaeviret et maxime tune Arelatinam provinciam depopu- 
laretur. 

r ) Fuchs a. a. 0. S. 1115. 



Ueber Alter und Ursprung der Menschenblattern. 


425 


dysentericus cum pusulis oder Lues cum vesicis benannt und von 
ihr gesagt, dass sie zuerst 570 in Südfrankreich erschienen sei. 

Ihr genauester Schilderer, Gregor von Tours, giebt als 
die wichtigsten Erscheinungen an: *) „ein heftiges Fieber als Beginn, 
oftmals Erbrechen, Schmerzen im Kopf und in der Kreuzgegend. *) 
Alsdann brechen kleine harte brennende Pusteln (fere innumerabilis 
copiae) hervor. Diese reifen, platzen und lassen Eiter herab- 
fliessen, so dass in schmerzhafter Weise die Bedeckungen an dem 
Körper ankleben. Die Pusteln entstehen zunächst im Gesicht, die 
Augen werden davon befallen und entzündet, so dass sie oftmals 
erblinden. Aerztliche Hülfe wirkte nicht und es starben sehr viele 
während der Schorfbildung 3 ) (incrassante veneno).“ Gregor glaubte, 
dass durch starkes Hervortreiben des Ausschlages die Krankheit 
gemildert werden könnte, indem so das Gift herausgetrieben würde 
durch Hautreize verschiedener Art (muscae in scapulis, sive ci uribus 
ventosae). 

Er führt auch den Volksnamen der Krankheit „Corales“ 4 ) 
in diesem Sinne an und empfiehlt an einer Stelle Ableitung durch 
Kanthariden - Umschläge. 

Er erzählt, dass im Jahre 580 die Gemahlin Guntrams 
von Burgund, Austrigild, an der Lues cum vesicis gestorben 
sei und in ihrem rachsüchtigen Sinne sterbend ihrem Gemahl das 
Versprechen abgenommen habe, ihre beiden Aerzte hinrichten zu 
lassen, da sie diese vernachlässigt hätten. 

Die Aerzte seien auch wirklich getödtet worden, was von 
dem Autor als ein „detestabile crimen“ erklärt wird. 6 ) 

Er bemerkt ausdrücklich, dass so gefährlich diese Lues für 
Jedermann war, sie doch am verderblichsten und tödtlichsten für 
kleine Kinder gewesen sei, die fast alle, sobald sie von ihr ergriffen 
worden, zu Grunde gegangen wären. 

Diese Schilderung ist deutlich genug, um Niemand daran 
zweifeln zu lassen, dass Gregor die Blattern beschrieben hat; 
er selbst unterscheidet ausserdem ganz ausdrücklich diese Lues 
von einem Morbus inguinarius der im Narbonensischen Gallien 0 ) 
herrschte. 

Höchst eigenthümlich ist es, dass ungefähr um die nämliche 
Zeit, vielleicht 7 Jahre früher, an einem gar weit von Gallien 
entfernt liegenden Lande, nämlich an der Westküste Arabiens 
zum ersten Mal die Blattern aufgetreten sind, die nach R e i s k e *) 
zunächst in poetischer Form von dem im 10. Jahrhundert lebenden 
Dichter El. Hamisy und nach diesem von den Historikern 


*) Gregorii Turoneusis a. a. 0. Lib. VI, Kap. 14 pp. 

*) So glaube ich seinen Ausdruck, Lib. V. Kap. 32, „renum niinius dolor“ 
deuten zu müssen. 

*) a. a. 0. Lib. V, Kap. 32. 

4 ) Nach der Bedeutung des altdeutschen Wortes „Koren“: „auswählen 
oder absondern“, so dass es pustulae secernentes bedeuten würde. 
s ) a. a. 0. Lib. V, Kap. 36. 

8 ) a. a. 0. Lib. VI, Kap. 14. 

7 ) Reiske: Miscellanen medica ex monumentis Arabum. Tom. I, S. 8—15. 



426 Dr. Hagemann. 

Massudi und EbnDoreid deutlich und unzweifelhaft beschrieben 
wurden. 

Der letztere schildert ausführlich die bekannten Symptome 
derselben und zwar als die keiner neuen, sondern in Afrika 
längst bekannten Krankheit, die nur damals nach Arabien zum 
ersten Mal eingeschleppt sei, während für Gregor von Tours 
die Eirankheit eine überhaupt neue, noch niemals früher dage¬ 
wesene ist. 

El. Hamisy erzählt, wie in dem sogenannten Elefanten¬ 
kriege (570 bis 572) der Abessynier-König Abreha mit seinem 
tapferen Heer und seinen Kriegselefanten die Araber in blutigen 
Schlachten besiegt und nun die in Mekka Eingeschlossenen mit 
schwerer Belagerung bedrängt habe, bis unter den Belagerern selbst 
eine mörderische Pockenepidemie ausgebrochen sei, die das Heer 
aufgerieben und als den letzten den König selbst hingeraflt habe. 
Dies Auftreten der Blattern beschreibt er in poetischerWeise so, 
dass ein Zug schrecklicher und noch niemals gesehener Vögel mit 
grünem Gefieder und gelben Schnäbeln vom Meere her über das 
abessynische Lager hingeflogen sei, von diesen Vögeln, „Ababil“ *) 
genannt, habe jeder im Schnabel und Klauen kleine Steine in 
Erbsengrösse getiagen, die er auf die Belagerer habe herabfallen 
lassen; die Steine durchbohrten die stärksten Rüstungen, tödteten 
das ganze Heer und zuletzt den übermüthigen König, der es ge¬ 
wagt hatte, die altheilige Kaaba zu bedrängen. 

Eine gleiche Deutung, in dem Sinne, dass jene Seuche die 
Strafe Allah’s für den Frevel an dem arabischen Nationalheilig¬ 
thum gewesen sei, giebt ihr auch der Koran. 2 ) 

Ausser den Pocken (Dschedry) werden von Massudi noch 
andere Krankheiten genannt, die damals in Arabien aufgetreten 
sein sollen, z. B. Ilasbah und Nawasel, die von den bisherigen 
Forschern als Masern und Scharlach gedeutet sind, denen neuer¬ 
dings noch Wernher beigepflichtet, während Hirsch die Hasbah 
eher als Scharlach angesehen wissen will und die Deutung des 
Nawasel unentschieden lässt. 

Wenn nun überhaupt niemals bestritten ist, dass die letzt¬ 
genannten Epidemien echte Blatternepidemien gewesen sind, aber 
von Einzelnen die Vermuthung geäussert ist, es möchte die in 
Südfrankreich herrschende Krankheit eine eigentliche Pest mit 
pustulösen Ausschlägen, also eine dem alten Xoipds analoge 
Krankheit gewesen sein, da 581 in Frankreich in der That die 
Pest grassirte, und wenn weiter die Betreffenden behaupten, dass 
erfahruugsgemäss grosse Seuchen verschiedener Art neben 
einander zu herrschen pflegten, so ist die Schilderung Gregor’s 
doch zu prägnant, um solchem Zweifel Raum geben zu können 
und ausserdem findet sich auch nirgends eine Angabe, dass 580 
in Frankreich die Bubonenpest geherrscht hätte. Es ist aber 
eine bekannte Erfahrung, dass kurz hintereinander verschieden- 


l ) Nach Rciske der älteste persische Name der Blattern. 

*) Seite 105. „Weisst Du nicht, was der Herr Dein Gott an dem Führer 
der Elefanten gethan hat.“ u. s. w. 



Ueber Alter und Ursprung der Menscheublattem. 


427 


artige grosse Epidemien auftreten können, wie dies die Beobach¬ 
tungen Volmer’8 bestätigen, dass nämlich im Nil-Delta die 
Blattern der Bubonenpest mehrfach unmitteli ar vorausgegangen sind. 

So haben wir denn zweifellos in der Lues cum vesicis oder 
den Corales im Jahre 580 die Blattern zu sehen, die sich hiermit 
in Europa eingeführt haben. 

Während übrigens in Europa derselben von den Chronisten 
des 7. und 8. Jahrhunderts keine deutliche Erwähnung geschieht, 
scheint im Orient die Krankheit seit ihrem Auftreten in Arabien 
gar nicht wieder erloschen zu sein und es ist nicht unwahrschein¬ 
lich, dass die Eroberungszüge der kriegerischen Araberschaaren 
die Infektion auf die benachbarten Länder übertragen haben, die 
sie mit ihren siegreichen Waffen überflutheten. 

Wir finden auch bei ihren Historikein die genauesten Schil¬ 
derungen der Blattern jener Tage; von denselben seien hier nur 
Ahrun, 1 ) Mesue der Aeltere, vor Allem aber der berühmte Arzt 
Muhamed Abu Behr aus Rhaj (daher Rhazes gewöhnlich ge¬ 
nannt), Hali Ab bas und Abu Dschafar, von den abend¬ 
ländischen Arabisten Gaddesden 2 ) und Gentilis de Fuligno 
aufgeführt. 

In den Pandekten des Nestorianers Ahrun, die er im Jahre 
der Hejra (nach Fuchs 3 ) im Jahre 660) verfasst haben soll und 
die sich nur bruchstückweise vorlinden, ist von den Symptomen 
und der Heilung der Blattern die Rede, die Ahrun aus ent¬ 
zündetem Blut und Aufwallen der gelben Galle entstehen lässt. 

Mesue, ebenfalls Nestorianer der in der zweiten Hälfte des 
8. Jahrhunderts lebte, leitete die Pocken von einer bei allen 
Menschen nothwendigen Gährung des Blutes her, hiermit ihr 
allgemeines Vorkommen andeutend und erklärend. 

Die weitaus wichtigste Schrift über die Pocken aus jenen 
früheren Zeiten ist aber unbestritten die von Rhazes gegen das 
Ende des 9. Jahrhunderts verfasste, die sich noch vollständig 
erhalten hat, sowohl arabisch als in lateinischer Uebersetzung: 
„Tractatus de variolis et morbillis“. In ihr ist, offenbar auf 
eigene Erfahrungen gestützt, eine vorzügliche Beschreibung 
der Krankheit und mancher noch jetzt beherzigenswerther Wink 
über die Behandlung gegeben; leider wurden des grossen 
Arztes Mahnungen von späteren Aerzten Jahrhunderte lang 
vernachlässigt, bis endlich die klare Einsicht eines Sydenham 
sie wieder autfrischte. 

Nach Rhazes liegt schon der Keim der Krankheit im Blute 
des Embryo, weshalb sie durchschnittlich alle Menschen und ins¬ 
besondere die Kinder befällt und als Reinigung des Blutes anzu¬ 
sehen ist. 

Als Behandlung empfiehlt er durchweg ein kühles Verhalten 
und kühles Getränk, sowie Anfangs kühlende Arzneimittel; später 


■) C. Sprengel: Versuch einer pragmatischen Geschichte der Heilkunde; 
Bil. II, S. 3z8 II. 

2 ) Mor'tz: Geschichte der Medizin; Bd. II, S. 115. 

3 ) a. a. 0., S. 0^2. 



428 


Dt. Hagem&nn. 


behufs schnellerer Reifung der Pusteln feuchte Wärme; die grösse¬ 
ren Pusteln sollen mit einer feinen Nadel rechtzeitig geöffnet 
werden, um ein Brandigwerden zu verhüten; von allen eingreifen¬ 
den und reizenden Mitteln soll abgesehen werden. 

Noch lebensgefährlicher als die Blattern erscheinen ihm 
übrigens die Masern. 

Der nicht lange nach Rhazes zu Bagdad lebende Hali 
Abbas Magus hält sich betreffs der Therapie der Blattern im 
Ganzen an seines Vorgängers Lehren; empfiehlt aber zu Anfang 
der Krankheit einen Aderlass und Schröpfköpfe zwischen den 
Schultern. 

In seinem „Reisehandbuch“ spricht sich Abu Dschafar 
Ahmed über Blattern und Masern und den Unterschied in der 
Behandlung beider aus. Dies Werk ist von dem bekannten Lehrer 
zu Salerno, Constantinus Afer zu Ende des 11. Jahrhunderts 
in’s Lateinische übersetzt; dort wird die Krankheit von ihm zuerst 
„Variola“ genannt, während der zu Kaiser Manuel’s Zeit lebende 
Symesius, dieselbe als oder als <fXuxxatvoöo9] Xeupix^j, die 

Masern dagegen als X&rn) xal tojxvtj Xeupix^ bezeichnet. 

Von den abendländischen Arabisten spricht der stark dem 
Mystizismus zugeneigte Gaddesden in seiner wahrscheinlich im 
Jahre 1327 erschienenen „Rosa anglica“ ziemlich ausführlich von 
den Blattern und ihrer Behandlung; er erwähnt bei ihnen auch 
des Vorkommens von punctilli magni, empfiehlt anhaltende An¬ 
wendung von Wärme und räth Einnähen des ganzen Körpers in 
rothen Wollstoff (scarletum rubrum vel pannum alium rubrum). 

Ferner bespricht die Blattern näher der Bologneser Professor 
Gentilis de Fuligno im Jahre 1348, der die Eröffnung der 
reifenden Pusteln mittelst einer goldenen Nadel anräth. 

Seit ihrem historischen Eintritt in Europa haben die Blattern 
nun nicht aufgehört, in immer wiederkehrenden Seuchenzügen 
diesen Erdtheil heimzusuchen. 

Im 8. Jahrhundert wurden sie, wenn auch nur auf beschränk¬ 
tem Areale, durch die Eroberungskriege der Ommajadischen Kha- 
lifen nach Südspanien übertragen. Sie haben sich übrigens damals 
nicht nachweislich weit über andere europäische Länder verbreitet. 

Als aber der zunächst von Osten her nach Westen fluthenden 
mohamedaniscken Völkerwoge die christliche Gegenwoge in Form 
der Kreuzzüge gegen Ende des 11. Jahrhunderts gefolgt war, fiel 
die Schranke, die bisher den Seuchenkeim des Ostens vom Westen 
entfernt gehalten hatte. Schnell verbreiteten sich die Blattern 
über das Abendland und schon im 12. Jahrhundert lesen wir bei 
den Geschichtsschreibern von Pockenerkrankungen, von Blattern¬ 
narbigen, von durch Pocken Erblindeten. 

Sie wurden seitdem die gefurchteste Volkskrankheit Europas 
und neben der orientalischen Pest der gefährlichste Feind des 
Menschengeschlechts, deren Verheerungen in dem Masse Zunahmen, 
als die Bevölkerung wuchs und der Verkehr zwischen den Völkern 
sich mehrte. 

Der neuen Welt waren sie vor ihrer Berührung mit den 



Ueber Alter and Ursprung der Menschenblattern. 


429 


Europäern unbedingt fremd; sie sollte sie dann aber auch gleich 
in ihrer ganzen Schrecklichkeit kennen lernen, da sie mit der 
schrankenlosen Wuth, die sie jedesmal entfalten, wenn sie in noch 
nicht von ihnen heimgesuchte Gegenden kommen, in Mexiko (durch 
die spanischen Eroberer eingeschleppt) in wenigen Monaten etwa 
3 1 /* Millionen Menschen 1 ), in St. Domingo fast sämmtliche Ein¬ 
wohner, in Grönland von 2000 Erkrankten 1993 tödteten. 

Während andere Seuchen der gefährlichsten Art, ja selbst 
der schwarze Tod des 14. Jahrhunderts nach Verlauf von Jahren 
verschwanden, während die orientalische Pest überhaupt schon im 
16. und 17. Jahrhundert vor den Verbesserungen der Civilisation 
und (mit ihr) der Sanitätsmassregeln aus dem Abendlande zurück¬ 
wich und in den Ländern Europas keine Stätte mehr finden konnte, 
haben sich die Blattern nicht daran gekehrt. Alle diese Fort¬ 
schritte sind spurlos an ihnen vorübergegangen. Schrecken, Tod 
und Verderben so in die Paläste wie in die Hütten tragend galt 
und gilt vor ihnen kein Ansehen der Person; in feindseliger Wuth 
ergreifen sie allein den Menschen als solchen, gleichviel welcher 
Eace oder gesellschaftlichen Gruppe er angehört, und haben ihre 
Verheerungen, an Heftigkeit eher noch zunehmend, als die furcht¬ 
barste aller Krankheiten fortgesetzt, bis ihnen gegen das Ende 
des vorigen Jahrhunderts des grossen Jenner’s Entdeckung das 
mächtige Halt gebot und ihnen noch überall dort gebietet, wo 
man der segensreichen Entdeckung die Pforten geöffnet hat. Dass 
sie selbst aber trotz gegenteilig lautender Phrasen noch immer 
genau der alte böse Feind geblieben sind, das lehrt uns noch 
jeden Tag ihr Auftreten bei nicht vaccinirten Bevölkerungen, das 
lehrt der vor wenigen Jahren erfolgte Tod des ersten und be¬ 
deutendsten Mahdi, der ihnen auf einem Kriegszuge unweit Om- 
durrnan erlag, wie ihnen vor Jahrhunderten der grosse Mark- 
Aurel in seinem Lagerzelte an der Donau, der König Abreha 
vor Mecca, der mächtige Begründer der Abassiden-Dynastie Khalif 
Abul Abbas el Sa ff ah im ragenden Palast zu Damascus, König 
Ludwig XV. im Louvre zu Paris erlegen ist. 

So viel über das Alter der Blattern. 

Ueber ihre eigentliche Heimath lässt sich meines bescheide¬ 
nen Erachtens etwas Bestimmtes nicht sagen; nur das darf 
behauptet werden, dass ihr Ursprung kein europäischer ist, son¬ 
dern dass sie einem der beiden anderen alten Erdtheile entstammt 
sind. Welchem von beiden aber, ist nicht so leicht zu beant¬ 
worten, zumal die ältesten genaueren Besclireiber der Krankheit, 
die arabischen Schriftsteller, selbst entweder nicht wussten, oder 
doch nicht angaben, woher sie im 6. Jahrhundert nach Mecca 
gekommen sind und Gregor von Tours nichts Besonderes 
darüber hinterlassen hat. 

Wenn die Behauptung eines Arztes, sie seien schon so alt 
als das Menschengeschlecht, ihre Richtigkeit hat, müssten sie frei- 


*) Hirsch: Handbuch der historisch - geographischen Pathologie 1889, 
Band. I, Seite 218. 



430 


Apotheken - Revisionen alter Zeit. 


lieh schon im biblischen Paradiese g-eherrscht haben und hätten 
dann allerdings am ehesten Gelegenheit gehabt, nach China oder 
Indien auszuwandem. Da man aber derlei Behauptungen wohl 
nicht ernst nehmen wird und das behauptete Vorkommen der 
Blattern in Indien und China schon in der „grauesten Vorzeit“ 
nirgends erwiesen, vielmehr so grau ist. wie alle Theorie, wird 
man wohl zugeben können, dass die Krankheit in Asien schon 
recht alten Datums ist, aber doch das Faktum festhalten müssen, 
dass die ältesten wahrscheinlichen Nachrichten auf Aethiopien als 
das Land, in welchem sie erweislich zuerst aufgetreten und wahr¬ 
genommen sind, hinweisen. 


Apotheken-Revisionen in alter Zeit. 1 ) 

(Aus dem Stadt-Protokoll der Stadt Landsberg a. W. vom 1. Dezember 1G87.) 

Es haben Se. Churf. Durchl. zu Brandenburg, Unser gnädigster Herr der 
Chur. Landen, zum Besten ein Collegium medicum gnädigst geordnet, welches in 
den Städten unter anderen Verrichtungen auch auf die Apotheken fleissige acht 
haben und seihte visitiren sol, ob nottürftige und zu den arzneyen tüchtige 
spezies undt materialien darinnen vorhanden, wodurch die Patienten recht curiret 
werden mögen, gestalt daun desfals am 12. Nov. anno 1685 ein Churfürstl. Edikt 
publiciret worden, welches in unterschiedlichen puncten disponirt, wie und 
welcher gestalt es in solchen und anderen Dingen gehalten werden solle. 

Als nun diesem zufolge die zu dun Newmarkischen undt am Oderstrohm 
belegenen Stedten verordnete Visifatores als die hochedlen Grossachtbare undt 
Hocbgelahrte Herren H. Irenons Vehre Churf. Brand. Raht und Leib-Medicus 
undt H. N. Albinns medicinae doctures undt der medizinischen Facultät zu 
Frankfurt an der Oder berühmte Professores publici allhier angelanget sind, des 
Vorhabens, mit Zuziehung des Magistrats und des Herrn Stadt-Physici allhier 
die Visitation in der hiesigen Apotheken des Herrn Benedicti Salzwedels vor die 
Haudt zu nehmen. So ist hierzu im nahmen Gottes der 5. Dezember dieses 
jahres hora 8 matut. der anfang gemachet in praesentia ubbemelter beyder 
Herren Professoren und von wegen des Rahts alliier Bürgerin. Christoff Kragen, 
Herren Bürgerm. Daniel Scheden und des Syndici Johann Conrad Schedens, wie 
auch des hiesigen Herrn Medici und Stadtphysici Doct. Johann Joachim Liuckens. 
Die beyden Herrn Professores als ad haue actum Duputati haben ihre Per- 
sohnen mit einem Churf. gnädigsten Reskript, so an die medizinische Facultät zu 
Frankfurt ergangen, legitimiret. Dur Herr Apotheker hat hierauf alle und 
jede zu den arzneyen gehörige species, wie dieselben in den Apotheken nach 
dem exhibirten Cathalogo vorhanden sindt, produciret, welche die Herrn Yisi- 
tatores wohl besichtiget, durch den geruch und gesehmaek probiret und alles 
gut und tüchtig befunden. Sie haben mit dieser Visitation vier Tage zugebracht, 
wobey dan auch die anderen Herren Collcgen des Rahts zum öfteren gewesen. 
Mitler Zeit seimlt Sie gebührlich bewirthet mit guten Speisen undt wein tractiret 
und bei endigung dieses Aktus hart E. E. Raht nebst dem Herrn Apotheker 
20 Thlr. wegen ihrer Bemühung und 6 Thlr an fuhrlohn und reisekosteu ihnen 
offeriret. Und weil sie versprochen, über die Beschutfenhcit der Apotheken ein 

*) Das vorstehende Protokoll ist dem 1. Heft der Schriften des Vereins 
für die Geschichte der Neumark aus einem Aufsatze von Eckert-Berlin: „Die 
Landsberger Stadtsehreiber-Chronik“ entnommen und uns von dem Herrn 
Kollegen Bezirksphysikus Dr. Nesemann in Breslau eingesandt, dem wir 
hierfür unsern verbindlichsten Dank ausspreehen. Der Inhalt des Protokolls 
giebt nach verschiedenen Richtungen hin in origineller Weise Aufschluss, wie 
es zu damaliger Zeit, kurz nach Erlass des bekannten churfürstlichen Medizinal¬ 
edikts vorn 12. November 1685, bei einer Apotheken-Revision zu gegangen ist, 
und dürfte sein Inhalt daher auch das Interesse der Medizinal - Beamten 
erregen. Red. 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


481 


Attestatum unter der Fakultät Siegel auszuandtwordten, so wird ihnen hievor 
auch die gebührnis gereicht worden müssen. Die allliier aufgewandte Zehrungs¬ 
kosten haben auf 35 Thlr. 1 gr. 6 Pfg. sich betragen, davon die helffte das 
Rathhaus und die andere helffte der Apotheker über sich nehmen müssen. 
Endtlich haben die Herren Professores auch die Balbierer und Bader vor sich 
fordern lassen und denjenigen, was das Churf. Edikt von Sie fordert, nachzu¬ 
lesen ihnen angedeutet, absonderlich, dass Sie keine Patienten zu curiren noch 
ihnen arzneyen beyzuhringen, sich unternehmen, sondern ihre Privilegie produ- 
ciren sollen, damit aus deren inhalt eigentlich erfahren könne, wie und welcher 
gestalt ein jeder bey seyner profession sich zu verhalten habe. Womit die Herren 
Professores den Actum visitationis beschlossen undt seindt den 9. des Monaths 
Decembr. nach eingenommenem Thectrauck und darauf erfolgtem frühstück umb 
11 uhr Mittags von hier nachcr Frankfurt wieder abgereiset. 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

A. Gerichtliche Medizin. 

La teratofobia. Contributo allo Studio della paranoia rudimentale. 
II manicomio moderno 1891. Von Venanzio. Referat im Zentralblatt für 
Nervenheilkunde und Psychiatrie. Februar 1893. 

V. widerspricht der Auffassung Meynerts, dass man alle einzelnen 
Phobien unterdrücken soll, um sie als Panphobie zusammenzufassen, da der 
Kranke alles fürchten könne und das Angstobjekt von keiner Wichtigkeit sei. 
Er beschreibt als Teratophobie den Schrecken vor den Monstren. Es giebt 
Individuen beiderlei Geschlechts, mit oder ohne Degenerationszeichen, welche auf 
Grund von verschiedenen, das Gehirn schwächenden Ursachen plötzlich von einer 
Zwangsvorstellung befallen werden, die sich ihrem Bewusstsein unüberwindlich 
aufdrängt; es ist ein erschreckender Abscheu vor allen missgestalteten Menschen, 
mögen dieselben lebend oder in Zeichnungen (Witzblättern), Skulpturen (Faunen) 
nachgebildet sein. Dieser Abscheu bewegt die Kranken lange nicht aus dem 
Hause zu gehen, keine Zeitung zur Hand zu nehmen, um an nichts derartiges 
erinuert zu werden Sehen sie einen missgestalteten Menschen, so sind sie ganz 
verstört und können sich zu gefährlichen aggressiven Handlungen gegen den¬ 
selben hinreissen lassen. Die Krankheit ist bei nicht degencrirten Personen 
heilbar; sie sei als eine Form der rudimentären Paranoia aufzufassen. 

Dr. S. Kali sch er-Berlin. 

Cocainismus. Von J. B. Mattisen. The Med. Record. 1892. 

Nach gewohnheitsmässigem Cocain-Gebrauch macht sich zunächst eine 
stete Abnahme des Appetits bemerkbar. Die Kranken verlieren mehr und mehr 
das Nahrungsbedürfniss und magern ab. Diese Abmagerung wird noch dadurch 
vermehrt, dass die Thätigkeit der verschiedenen Drüsen durch den Cocainismus 
erheblich gesteigert wird. Der anfänglich sich einstellenden Ueberreizuug des 
Nervensystems folgt bald die Schwäche; eine eigentümliche Unruhe, hartnäckige 
Schlaflosigkeit, Sinnestäuschungen, Verfolgungswahn machen sich bemerkbar; 
endlich wird das Fassnngs- und Denkvermögen sowie der Charakter in schlechtem 
Sinn verändert. Die Prognose des Cocainismus ist schlechter als die des Mor¬ 
phinismus. Zur Heilung empfiehlt sich in frischen Fällen die plötzliche Ent¬ 
ziehung ; doch muss der dann entstehenden Reflexreizung durch Phenacetin 
Paraldehyd, Codein, Hyoscin oder sonst ein sicheres Schlafmittel entgegengetreten 
werden. In schweren chronischen Fällen ist die plötzliche Entziehung gleichfalls 
am Platze, doch ist nach derselben oft eine häufige viele Monate andauernde Nach¬ 
kur nöthig, bei der es sich hauptsächlich um passende Hygiene, zweckmässige 
Behandlung der etwa bestehenden Nervenkrankheit und um entsprechende Auf¬ 
sicht handelt. — Ders. 


B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 
Untersuchungen über die Giftigkeit der Exspiratiosluft. Von 
Julius Beu, approb. Arzt. (Aus dem hygienischen Institut zu Rostock.) Zeit¬ 
schrift für Hygiene und Infektionskrankheiten; XIV. 1. 



432 


Kleinere Mittheilnngen and Referate ans Zeitschriften. 


Die bekannte Thatsache, dass dnrch das Zusammensein vieler Menschen 
in geschlossenem Räume eine Verschlechterung der Luftbeschaffenheit entsteht, 
welche Unbehagen, Beklemmung, ja unter Umständen Ohnmächten erzeugt, 
harrt noch immer der wissenschaftlichen Erklärung; wenigstens gehen die An¬ 
sichten darüber, ob es vorwiegend die Zunahme der Temperatur, des Wasser¬ 
gehaltes oder der Kohlensäure, die Verhinderung der Wärmeausstrahlung ist, 
welche für die gesundheitsschädigende Wirkung in Anspruch genommen werden 
soll, oder ob in den flüchtigen Ausscheidungen der Lungen, wie Brown-Sdquard 
gefunden haben will, organische Bestandtheile von überaus giftiger Beschaffenheit 
vorhanden sind, noch sehr weit auseinander und auch die sorgfältigen Unter¬ 
suchungen Merkel’s (Referat in dieser Zeitschrift Bd. 5 S. 643) haben eine 
endgültige Lösung dieser Frage nicht herbeiführen können. Merkel war zu 
dem Resultat gekommen, dass die Exspirationsluft gesunder Menschen und 
Thiere, wenn auch in äusserst geringer Menge eine, bisher rein nicht darzu¬ 
stellende, organische Substanz enthält, welche in flüssigem Zustande giftig ist. 
B e u ’ s Versuche ergaben ebenfalls das Vorhandensein organischer Substanz und 
führten zur Bestätigung der bei der Brown-S6qnard’sehen Versucbsanordnung 
auch von Merkel gefundenen Resultate. Wenn man nämlich eine Anzahl 
weisser Mäuse in einer Reihe durch Glasröhren luftdicht mit einander ver¬ 
bundener Glaskäfige unterbringt und nun durch sämmtliche Käfige einen Luft¬ 
strom aspirirt, so dass die erste Maus in ihrem Käfig reine Aussenluft einathmet, 
während jede folgende, durch die Ausathmungen ihrer sämmtlichen Vorgänger 
successive in immer höherem Grade verschlechterte Luft bekommt, so bleibt die 
erste Maus ganz munter, während alle anderen nach und nach sterben und zwar 
um so schneller, je verdorbenere Luft ihnen zugeführt wurde! Die anscheinend 
sehr nahe liegende Erklärung dieses auffallenden Verhaltens, nämlich die An¬ 
nahme einer Giftwirkung der Exspirationsluft will Ben indessen nicht gelten 
lassen. Er betont namentlich die grosse Empfindlichkeit weisser Mäuse gegen 
nasskalte Luft, die gerade in den letzten, schon nach kurze Zeit von Kondens- 
wasser triefenden Glaskäfigen am meisten zur Geltung kommen muss. Die bereits 
von Brown-Söquard aufgefundene und in seinem Sinne verwerthete That¬ 
sache, dass es gelingt, durch Einschaltung eines mit Säure gefüllten Gefässes in die 
Luft znführende Röhre die in dem betreffenden Käfig enthaltene Maus am 
Leben zu erhalten, würde dann nicht durch Bindung der als. Base gedachten 
organischen Giftsubstanz, sondern einfach durch Austrocknung der Luft bei 
ihrem Hindurchstreichen durch die Säure ihre Erklärung finden. 

Auf Grund dieser Anschauung hält Verfasser die Erklärung der in über¬ 
füllten Theatern, Konzertsälen und dergl. vorkommenden Ohnmachtsanfälle durch 
die Annahme einer akuten Vergiftung für unzulässig, zumal doch immer nur 
Einzelne in dieser Art befallen werden. Er glaubt daher, ausser den übrigen, 
im Eingänge erwähnten Schädlichkeiten vor Allem eine individuelle Widerstands¬ 
schwäche gegen die in solcher Luft enthaltenen Ekelstoffe als die eigentliche 
Ursache ansehen zu sollen. Dr. Langerhans-Celle. 


Zur Erforschung der Typhusätiologie. Von Stabsarzt Professor 
Dr. Pfuhl. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten; XIV. Bd., H. 1. 

Eine in sich abgeschlossene Typhusepidemie, welche in vier, um einen 
recht defekten Kesselbrunnen gruppirten Arbeiterhäusern (in Landsberg a. W.) 
mehr als 30 Erkrankungen verursachte, gab dem Institut für Infektionskrank¬ 
heiten die Veranlassung zu ätiologischen Nachforschungen, welche von Pfuhl 
ausgeführt wurden und in vorliegendem Aufsatz kurz berichtet werden. Die 
bekannten Schwierigkeiten, des Typhus - Bacillus in der freien Natur oder in der 
Umgebung des Kranken habhaft zu werden, machten sich auch in diesem Falle 
geltend; es gelang nicht, den Typhus - Bacillus aus dem Trinkwasser oder aus 
dem nachweislich verunreinigten Boden nachzuweisen. Dagegen lies die chemische 
Untersuchung des Trinkwassers im Vergleich zu dem Wasser eines auf Pfuhl’s 
Veranlassung neu angelegten Röhrenbrunnens und der Nachweis des Bacterium 
coli commune in dem ersteren keinen Zweifel darüber zu, dass thatsächlich 
Fäkalien in den Brunnen hineingelangt waren. 

Pfühl glaubt nun, namentlich auf Grund der zeitlichen and örtlichen 
Gruppirung der Erkrankungsfälle, verschiedene Arten der Uebertragung annehmen 
zu müssen, nämlich Verstaubung der mit Typhusdejektionen verunreinigten ober- 



Kleinere Mittheilungen und Referate au* Zeitschriften. 


433 


flächlichen Bodentheile and deren Verbreitung durch den Wind, ferner Ver¬ 
unreinigung des Trinkwassers, welche allein geeignet ist, das explosionsartige 
Auftreten von 27 Fällen innerhalb eines kurzen Zeitraums zu erklären, schliess¬ 
lich die direkte Ansteckung durch erkrankte Familienmitglieder. 

Durch Desinfektion der verunreinigten Bodeutheile mittelst Kalkmilch, 
durch Einrichtung eiues Tonnensystems zur Aufnahme der vorher desinfizirten 
Fäkalien, durch die Anlage des erwähnten Röhrenbrunnens und Schliessung des 
verunreinigten Kesselbrunnens gelang es, die Quelle für die beiden ersterwähnten 
Uebertragungsarten zu verstopfen, während vereinzelte Erkrankungen durch 
direkte Ansteckung noch längere Zeit vorkamen. Ders. 


Die Einwirkung niedriger T emperatur auf die Virulenz der 
Choleraspirillen. Von Dr. Alf. Montefusco in Neapel. Giornale di rnedi- 
cina pubblica. XXIV. 6 Mai 1893. 

Beitrag zur Biologie des Typlinsbacillus. Von Dr. Alf. Monte¬ 
fusco in Neapel. Giornale di medicina pubblica. XXIV. 6. Juni 1893. 

Bekanntlich vertragen die Cholerabazillen Gefriertemperaturen, ohne ihre 
Entwickelungsfähigkeit einzubüssen (nach Untersuchungen von Uffelmann, 
Berliner klin. Wochenschr. 1893, Nr. 7 hatten Kältegrade bis —24,8 ? C. in vier 
Tagen die Cholerabazillen noch nicht sämmtlich geiödtet, Ref.), dagegen wird 
nach M. ihre Virulenz durch die Kälte abgeschwächt resp. vernichtet. Kul¬ 
turen, die auch nur */» Stunde bei —10° bis 15° gehalten waren, hatten keine 
Wirkung mehr auf Meerschweinchen, während eine zweistündige Einwirkung 
von —5° nur eine Abschwächung der Virulenz zur Folge hatte. Wurden die 
Kulturen nach dem Gefrieren 24 Stunden bei Bruttemperatur gehalten, so er¬ 
langten sie ihre Virulenz wieder (von grösserem praktischen Interesse wäre die 
Feststellung der Mindesttemparatur gewesen, bei der sich die Virulenz wieder 
herstellt, da Abwechselungen von Gefrier- und Bruttemperatur ausserhalb der 
Laboratoriums kaum Vorkommen, Ref.). Auf das Choleratoxin hatte die Kälte 
keinen Einfluss. Meerschweinchen, die Kulturen bekommen hatten, deren Virulenz 
durch das Gefrieren verloren gegangen war, zeigten sich noch 70 Tage nachher 
immun gegen wirksame Kulturen (wie lange sich die Immunität erhält, ist nicht 
untersucht. Ref.). 

Anders waren die Verhältnisse beim Typhusbacillus: eben so gut, wie 
seine Entwicklungsfähigkeit, bewahrte er seine Virulenz selbst nach sechsstündiger 
Einwirkung einer Temperatur von —15 °, und auch bei Abwechselung von Gefrier- 
und Bruttemperaturen. Die Versuche werden dadurch erschwert, das3 für Meer¬ 
schweinchen virulente Typhuskulturen sich nur schwer erhalten lassen, doch 
benutzte M. solche von konstanter Wirksamkeit, und dass es sich dabei um eine 
wahre Infektion handelte, wurde dadurch bewiesen, dass Impfungen mit der 
gleichen oder etwas grösseren Menge sterilisirter Kulturen, in denen die Toxine 
ja noch vorhanden waren, unwirksam blieben. Dr. Woltemas-Diepholz. 


Wasserfiltration und Cholera. Von Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Koch. 
(Aus dem Institut fürj Infektionskrankheiten.) Zeitschrift für Hygiene und 
Infektionskrankheiten; XIV. 3. 

Es ist eine mit lebhafter Freude zu begrüssende Arbeit, welche in 
glänzendster Weise all’ die Vorzüge Koch’ scher JForschungs- und Darstellungs¬ 
weise zeigt, wie sie uns aus der Zeit vor der unglücklichen Tuberkulin - Aera 
geläufig sind. Namentlich die unnachahmliche Klarheit des Gedankenganges, 
die bei umfassendster Beherrschung der entlegensten Einzelheiten stets auf das 
Ganze gerichtete, nach allen Seiten hin Licht verbreitende Disposition, vor Allem 
aber die vornehm sachliche Auseinandersetzung mit wissenschaftlich ebenbürtigen 
Gegnern erinnern lebhaft an das Verhalten Koch’s, beispielsweise in der von 
Pasteur vom Zaune gebrochenen Milzbrand-Kontroverse, und stechen in erfreu¬ 
licher Weise ab von der nervösen Gereiztheit, welche den Auslassungen des 
grossen Forschers in jüngster Zeit leider eigen war, welche peinlichstes Auf¬ 
sehen und Austoss selbst bei K o c h ’ s wärmsten Verehrern erregen musste und 



434 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


ihn schliesslich in eine, vor Allem im Interesse deutscher Forschung beklagens- 
werthe Isolirtheit der Stellung hineingedrängt hat! 

Koch protestirt dagegen, dass man ihn einen Wasser¬ 
fanatiker genannt hat und präzisirt seinen Standpunkt dahin, 
„dassnachden bisherigen Erfahrungen dieunmittelbareüeber- 
tragung der Cholera von Mensch zu Mensch möglich sei, aber 
allem Anschein nach nicht sehr häufig vorkomme, dass dagegen 
den indirekten Ucbertragungen durch mancherlei Träger des 
Cholerakeimes bei den eigentlichen Epidemien und Massen- 
ausbrilchen der Cholera die Haupt rolle zufalle und dass das 
Wasser unter diesen Trägern wieder einer der wichtigsten sei. tt 

„In der letzten Epidemie, fährt Koch fort, hat allerdings das Wasser, 
wie wohl Niemaud bestreiten wird, eine recht bedeutende Rolle gespielt. Trotz¬ 
dem können wir auch jetzt noch nicht wissen, ob das in Zukunft eben so sein 
.wird und es ist gewiss richtiger, mit einem definitiven ürtheil über die Be¬ 
deutung des Wassers so lange zurück zu halten, bis noch weitere ausreichende 
Erfahrungen gesammelt sind.“ 

Koch erörtert dann das verschiedene Auftreten der Cholera in Hamburg 
einerseits und Altona und Wandsbeck andererseits, welche bekanntlich eigentlich 
nur eine einzige Stadt bilden und sich hygienisch in Nichts unterscheiden, als 
in der Art der Wasserversorgung. Die etwas geschraubten Wendungen, mit 
denen die Münchener Schule an die Erklärung dieses Verhaltens herangeht und 
welche wenig mehr enthalten als den bekannten, schon so oft als Nothhelfer 
benutzten Hinweis auf die „Launenhaftigkeit der Cholera 4 *, beweisen die Unhait- 
barkeit ihrer Stellung und wenn Fetten kof er die massenhafte Einführung: 
des uufiltrirten Elbwassers nach Hamburg als einen hygienischen Naehtheil gegen¬ 
über der mit filtrirtem Wasser versorgten Schwesterstadt zwar anerkennt, aber 
die eigentliche Schädigung in der Durchseuchung des Bodens durch das einge¬ 
führte Wasser sucht, so hat Koch allerdings keinen sehr schwierigen Stand¬ 
punkt, wenn er auf das Gekünstelte dieser Anschauungsweise hinweist. Denn 
die Menge der im ungünstigsten Falle durch unfiltrirtes Brauchwasser im Boden 
abgelagerten Schmutzstoffe ist eine verschwindend geringe gegenüber den grossen 
Mengen, welche der menschliche Haushalt tagtäglich den Wohnungen zuführfc 
und welche von Menschen und Thieren fortwährend auf Strassen und Höfen 
abgelagert werden. — 

Auf jeden Fall hat die Epidemie den Beweis geliefert, dass der Schutz, 
wie ihn Altona durch seine Wasserfiltration besitzt, ein für die Praxis aus¬ 
reichender ist. aber auch nur unter der Voraussetzung, dass die Filtration auch 
wirklich so angelegt ist und so beaufsichtigt wird, wie dies in Altona der Fall 
war. Freilich einen absoluten Schutz gegen vereinzelte Fälle vindizirt 
Koch auch einem solchen Wasserwerk nicht, er lässt vielmehr die Möglichkeit 
offen, dass von den etwa 100 Fällen, welche seiner Meinung in Altona selbst, 
ohne nachweisbare Einschleppung von Hamburg her entstanden sein mögen, 
einige ihren Ursprung solchen vereinzelten, durch das Filter hindurchgeschlüpften 
Keimen verdanken mögen. Es sei aber technisch nicht ausführbar, eine noch 
langsamere Filtration durchzuführen, womit allerdings ein vollständiger Erfolg 
verrnuthlich werde erzielt werden können. Für die Praxis sei indessen der bis¬ 
her erreichte Schutz ausreichend. — 

Leider ist ein solcher Schutz nicht von jedem Filtrationswerk zu erwarten, 
vielmehr ist dazu eine in jeder Beziehung vollkommene Konstruktion, sachver¬ 
ständige Leitung und fortlaufende bakteriologische Kontroie erforderlich. Ohne 
diese Bedingungen ist der Schutz vollkommen illusorisch, wie die Cholera in 
Nietleben und die kleine Winter-Choleraepidemie in Altona bewiesen haben. 
Die Auseinandersetzungen über die Fehler in Anlage und Betrieb des Wasser¬ 
werkes in Nietleben schliessen mit dem Ausspruch, dass schliesslich nur eine 
Filtration dem Namen nach ausgeübt wurde, welche das Wasser so gut, wie 
ungereinigt durch die Filter hindurchjagte, ja, dass das Wasserwerk bei 
den örtlichen Verhältnissen und bei der fehlerhaften Art des 
Betriebes schliesslich geradezu zu einem Fangapparat für In¬ 
fektionsstoffe werden musste. — Auch in Altona hatten bereits frühere 
Beobachtungen über die Häufigkeit der Typhusfälle im Winter, auf die Mög¬ 
lichkeit einer Insuffizienz des Filterwerkes während eines kalten Winters ge¬ 
ht; namentlich war es Wallichs, dem das mehrmalige Anschliessen einer 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


435 


Typhusepidemie an eine längere Frostperiode aufgefalien war. Die seit dein 
Sommer 1890 regelmässig wöchentlich einmal ausgefiihrte bakteriologische Unter¬ 
suchung hatte in Uebereinstiminung hiermit das Ergebniss geliefert, dass die 
Bakterienzahl im filtrirten Wasser, die sonst regelmässig unter 100 blieb, in 
solchen Zeiten ganz erheblich — über 1000, ja bis auf 2615 im ccm — anstieg. 
Damit war ein Fingerzeig gegeben, dass irgend eine Betriebsstörung bei der 
Filtration vorliegen musste und Wallichs wies schon damals auf die Möglich¬ 
keit hin, dass eine bei der Reinigung der Filter eintretende Vereisung der bios¬ 
gelegten Sandoberfiäche den Gang der Filtration stören könne. Ein solcher 
Fehler wird natürlich nur jedesmal einen kleinen Theil der filtrirunden Ober¬ 
fläche betreffen und kann daher durch die günstigen Resultate der übrigen, gut 
funktionirenden Filter mehr oder weniger verschleiert werden. Demgemäss 
weist Koch an der Hand der später für jedes einzelne der 10 Filter getrennt 
bestimmten Bakterienzahlen nach, dass die von Zeit zu Zeit einmal vorge- 
noimnene Bakterienzählung des Mischwassers werthlos ist, dass nur die getrennte 
Untersuchung des von jedem einzelnen Filter gelieferten Wassers einen Anhalt 
für die Zuverlässigkeit der Filtration geben kann. Als die Ursache der 
mangelhaften Filtration erwies sich thatsächlich die Ver¬ 
eisung der Sandoberfläche in den offenen, nicht überwölbten 
Filtern. Aber auch die Eisbildung auf der Oberfläche des Wassers 
kann die rechtzeitige Reinigung der betroffenen Filter unmöglich machen, so dass 
unter Umständen den wenigen, als Aushülfe vorhandenen verdeckten Filtern 
(wie beim Rummelsburger Wasserwerk) eine tibergrosse Arbeit zugemuthet 
werden muss, bei der Unregelmässigkeiten im Betrieb nicht zu umgehen sind. 
Uebrigens kommen auch im Sommer Perioden vor, wo bei der Filtration ein 
geordneter Betrieb auf grosse Schwierigkeiten stösst. Es ist dies die als 
„Wasserblüthe“ bekannte Zeit lebhaften Wachsthums mikroskopischer Wasser¬ 
pflanzen, welche bei ihrer Massenhaftigkeit und schleimigen Beschaffenheit 
schnelle Verschlammung der Filter verursachen. Da diese „ Wasserblüthe“ mit 
der Jahreszeit des lebhaftesten Wasserverbrauchs zusammenzufallen pflegt, 
können empfindliche Betriebsstörungen entstehen, die sich durch plötzliche Zu¬ 
nahme der Bakterienzahl im Filtrat zu erkennen geben. 

Derartige Insuffizienzen der Filteranlagen brauchen sich natürlich, zumal, 
wo sie nur vorübergehender Natur sind, nicht in jedem Falle durch Gesundheits- 
Schädigungen des Wasser kousumirenden Publikums kenntlich zu machen, sie 
können aber, wenn sie zeitlich zusammenfallen mit dem Vorhandensein reichlicher 
Krankheitskeime im Rohwasser die verhäugnissvollsten Folgen haben, wie in 
Nietleben und bei der Wintercholera, die sich in Altona an ein paar in Hamburg 
nachschleppende Fälle allschloss! 

Wenn also die Koch 7 sehe Arbeit das blinde Vertrauen, welches man 
bis vor Kurzem auf die Sandfiltration setzte, ganz erheblich wankend machen 
muss, so hat sie andererseits das nicht genug zu schätzende Verdienst in klaren, 
kurzen Sätzen die Bedingungen festzustellen, unter denen ein solcher Schutz 
thatsächlich stattfindet. Diese Schlusssätze lauten: 

I. Die Filtrationsgeschwindigkeit von 100 mm in der 
Stunde darf nicht überschritten werden. Um dies durchführen 
zu können, muss jedes einzelne Filter mit einer Einrichtung 
versehen sein, vermittelst welcher die Wasserbewegung im 
Filter auf eine gewissse Geschwindigkeit eingestellt und 
fortlaufend auf das Einhalten dieser Geschwindigkeit kon- 
trolirt werden kann. 

II. Jedes einzelne Filterbassin muss, so langeesinThätig- 
keit ist, täglich einmal bakteriologisch untersucht werden. 
Es soll daher eine Vorrichtung haben, welche es gestattet, 
dass Wasserproben unmittelbar nach dem Austritt aus dem 
Filter entnommen werden können. 

III. Filtrirtes Wasser, welches mehr als 100 entwicklungs¬ 
fähige Keime im Kubikmeter enthält, darf nicht in das Rein¬ 
wasserreservoir geleitet werden. Das Filter muss daher so 
konstruirt sein, dass ungenügend gereinigtes Wasser ent¬ 
fernt werden kann, ohne dass es sich mit dem gut filtri r teu 
Wasser mischt. 



436 


Besprechungen. 


Diese Leitsätze erfahren allerdings schliesslich noch eine gewisse, durch 
die Rücksichten auf die thatsächlichen Verhältnisse, namentlich bei kleinerem 
Betrieb, mit Nothwendigkeit diktirte Einschränkung. Die bakteriologische Unter¬ 
suchung soll, wenn an der Band derselben Erfahrungen über die Leistung der 
Eilteraulage gesammelt sind, nicht mehr täglich stattfinden, vielmehr nur 
wöchentlich zweimal und zwar nicht in Bezug auf jedes einzelne Filter, sondern 
nur auf das Gesammtwasser. Nur in Zeiten besonderer Gefahr, also bei stärkeren 
Frostperioden, bei ungewöhnlich in Folge übergrossen Verbrauchs gesteigertem 
Betrieb, schliesslich zu Epidemiezeiten hätte die strengere bakteriologische 
Untersuchung in Kraft zu treten. Unter dieser Einschränkung würde die Durch¬ 
führbarkeit ausreichender bakteriologischer Kontrole der Wasserversorgungen, 
auch abgesehen von den über technisch durchgebildeten Wassertechniker ver¬ 
fügenden Grossstädten, gesichert erscheinen, da sie an die Zeit des Medizinal- 
Beamteu, dem in den meisten Fällen doch wohl diese Arbeit zufallen würde, 
keine übertriebenen Ansprüche stellt. — 

Den Schluss der Arbeit bildet eine sehr lebhafte Empfehlung' 
der ausgedehnteren Verwendung des Grund was sers, welcher 
die Gefahren einer Seuchen Verbreitung naturgemäss nicht 
anhaften und welcher, nachdem die Technik die Aufgabe, den 
störenden Eisengehalt zu beseitigen, durch die verschiedenen 
Lüftungsverfahren gelöst hat, in der That eine grosse Be¬ 
deutung für die Wasserversorgung gesichert zu sein scheint. 

Dr. L anger ha ns-Celle. 


Besprechungen 

Dr. C. Richter, Kreisphysikus in Gross-Wartenberg (jetzt in Marien¬ 
burg): Grundriss der Schul-Gesundheitspflege für 
Lehrer, Schulleiter, Schulaufsichtsbeamte und an¬ 
gehende Schulärzte. Mit besonderer Berücksichtigung der 
Verhältnisse ländlicher Volksschulen. Berlin 1893. Fischer’s 
medizinische Buchhandlung (H. Kornfeld). 

Die steigende Werthschätzung der Schulhygiene, die Ueberzeugung, dass 
es für die Gesundheit der heranwachsenden Jugend durchaus kein gleichgültiger 
Eingriff ist, wenn man dieselbe gerade in denjenigen Jahren, wo der Drang 
nach Bewegung am lebhaftesten entwickelt ist, einen grossen Theil des Tages, 
ja während der Wintermonate fast während der ganzen Dauer derjenigen 
Tageszeit, welche ein Herumtummeln ira Freien gestatten würde, an die Schul- 
bauk fesselt, hat das Erscheinen einer nicht unbedeutenden Anzahl von Werken 
über Sehulgesundheitspflege zur Folge gehabt, vom dickleibigen, streng wissen¬ 
schaftlich gehaltenen Lehrbuch an, bis herab zum schmalen Heftchen, welches in 
Katechismus-Art nur die wichtigsten und unbestrittensten Lehren der Schul¬ 
gesundheitspflege den Betheiligten zur Anschauung bringen will. Trotzdem 
muss Verfasser unbedingt zugestimmt werden, wenn er in der Vorrede Klage 
führt, dass an kurz gefassten und leicht verständlichen, auch einfachere Verhält¬ 
nisse berücksichtigenden, systematischen Abrissen der Schulgesundheitspflege bis¬ 
her kein Ueberttuss ist. Der Lehrerkreis, auf den solche Kompendien zuge¬ 
schnitten sind und der in der Ueberschrift des Rieh ter’sehen Buches annähernd 
vollständig gekennzeichnet ist, setzt sich eben aus mannichfaltigen Elementen 
zusammen, welche ihrerseits eine ganz verschiedenartige Vorbildung für das 
Studium derartiger Werke mitbringen. Der Standpunkt, von welchem aus diese 
einzelnen Elemente den weitschichtigen Stoff betrachten, das Interesse, welches 
sie bald dieser, bald jener Seite desselben entgegenbriugen, das Alles ist aber 
so verschiedenartig, dass es nach Ansicht des Referenten überhaupt unmöglich 
ist, innerhalb des Rahmens eines Kompendiums gleichzeitig all’ diesen Ansprüchen 
Genüge zu leisten. Ein Kompendium, welches für den Schularzt bestimmt ist, 
kann der Lehrer nicht brauchen und umgekehrt! An dieser Klippe hat auch 
■■•'s Richter’sehe Werkchen Schiftbruch gelitten —, d. h. insoweit es beab- 



Besprechungen. 


437 


sichtigte, auch für angehende Schulärzte etwas Brauchbares zu schaffen. Es 
würde thats&chlich ein trauriger „angehender Schularzt" sein, welcher glauben 
sollte, aus den 87 Seiten dieses Kompendiums eine genügende Vorbereitung für 
seinen verantwortungsvollen Beruf schöpfen zu können. Verfasser scheint dies 
auch selbst gefühlt zu haben; denn in einem, mit vieler Wärme geschriebenen 
Schlusswort, wendet er sich ausschliesslich an die Lehrer und zwar an die Lehrer 
„auf dem flachen Lande, in ärmlicher Gegend und unter einer rohen und unge¬ 
bildeten Bevölkerung". 

Unter dieser Einschränkung, nämlich, dass es ausschliesslich dazu be¬ 
stimmt ist. dem Lehrer zumal der älteren Generation, welche von den Gesund¬ 
heitsschädigungen durch den Schulbesuch keine rechte Vorstellung hatte, einen 
Ueberblick über die Errungenschaften und Forderungen der Schulhygiene zu 
verschaffen, kann man sich das Werkchen wohl gefallen lassen und wird dem¬ 
selben gewisse Vorzüge vor ähnlichen Schriften gern zugestehen können. Einigen 
Mängeln, welche dem Ganzen entschieden Abbruch thun, könnte bei einer 
etwaigen zweiten Auflage unschwer abgeholfen werden. 

Zunächst die etwas wunderliche Disposition! Verfasser theilt den Stoff 
in drei Abschnitte, von denen der erste „Licht, Luft und Wärme" überschrieben 
ist und den genannten Gegenständen je ein kurzes Kapitel widmet. Wenn dieser 
Abschnitt eine Art hygienischer Einleitung bilden sollte, so ist nicht recht ver¬ 
ständlich, warum beispielsweise Boden und Wasser keine Erwähnung gefunden 
haben. Es will dem Beferenten aber scheinen, als ob Verfasser ein lebhafteres 
Bild geliefert haben würde, wenn er von diesen propädeutischen Vorbemerkungen 
überhaupt Abstand genommen hätte und sofort in medias res gegangen wäre, 
wenn er mit der Auswahl des Bauplatzes und der Aufstellung des Bauplanes 
begonnen und die Wärme bei der Beheizung, das Licht bei der Fensteranord¬ 
nung, die Luft bei der Baumbemessung in Zusammenhang mit der Ventilation, 
besprochen hätte. Wiederholungen, deren Vermeidung bei so knapp bemessenem 
Raum von besonderer Wichtigkeit ist und Anseinanderziehung sachlich zusammen¬ 
gehörender Dinge wäre dann leichter zu vermeiden gewesen. 

Der zweite Abschnitt bespricht die „Schulkinderkrankheitcn" und zwar 
in je einem Kapitel die nicht ansteckenden und die ansteckenden, während der 
dritte Abschnitt „Die Bekämpfung der Schulkinderkrankheiten“ ttberschrieben 
ist, aber auch noch Vieles Andere enthält. Die einzelnen Kapitel dieses Ab¬ 
schnittes lauten: „Bau des Schulhauses, Einrichtung des Schulhauses, Betrieb der 
Schulen, besondere Waffen im Kampf mit den Schulkinderkrankheiten, die Des¬ 
infektion in den Schulen.“ Alle wichtigen Forderungen der Schulhygiene haben 
in diesen Kapiteln, dem Zweck des Ganzen entsprechend in apodiktischer Form 
ohne eingehendere Begründung gebührende Würdigung gefunden und wenn 
Referent über Einzelheiten auch hin und wieder anderer Meinung ist, so mag 
dies an lokalen Eigenthümlichkeiten oder auch an Verschiedenheit der subjektiven 
Erfahrungen liegen; über viele Fragen ist ja auch das letzte Wort noch nicht 
gesprochen! Dagegen erscheint es als ein entschiedener Mangel, dass die ge¬ 
setzlichen Bestimmungen, wie sie zur Zeit in Kraft sind, so wenig berücksich¬ 
tigt sind. Das Ganze würde sich viel lebensvoller gestaltet haben, wenn bei¬ 
spielsweise die „Anweisung zur Verhütung der Uebertragung ansteckender 
Krankheiten durch die Schule“ oder auch die „Erläuterungen“ zu den 5 bekann¬ 
ten Musterentwürten als solche Erwähnung gefunden und wenigstens auszugs¬ 
weise zum Abdruck gekommen wären. Auch etwas reichlicher bemessene Ab¬ 
bildungen, namentlich ein paar Grundrisse würden bei einer neuen Auflage 
entschieden zu wünschen sein. 

Diesen vom Referenten angeführten Mängeln stehen indessen mindestens 
eben so viele unbestreitbare und hoch anzuerkenuende Vorzüge gegenüber, zu 
welchen in erster Linie des Verfassers offenbare Vorliebe für die Förderung der 
Schulhygiene und die dadurch bedingte Wärme, mit der er seine Forderungen 
geltend macht, zu rechnen ist. Als ein sehr glücklicher Griff ist es ferner zu 
bezeichnen, wenn Verfasser dem Betrieb der Schulen und der Desinfektion je 
ein Kapitel widmet. Es ist ihm vollständig Recht zu geben, dass der Betrieb 
der Schule und ihrer Einrichtungen, die unausgesetzte, zielbewusste, von hygie¬ 
nischem Verständniss getragene, die Möglichkeit von Gesundheitsstörungen stets 
im Auge haltende und dieselben womöglich verhütende Thätigkeit der Lehrer, 
zumal unter den einfachen ländlichen Verhältnissen häufig von grösserer Wich¬ 
tigkeit ist, als die beste bauliche Einrichtung. Auch die Wirksamkeit einer 



438 


Tageenachrichten. 


etwa nothwendig werdenden Desinfektion wird bei den genugsam bekannten 
Schwierigkeiten der Desinfektion auf dem Lande vorläufig im Wesentlichen von 
dem guten Willen und dem Verständnis« des Lehrers abhängen und es ist daher 
sehr richtig, dass er diesem eine kurze Anleitung an die Hand giebt. 

Dr. Langerhan s-Celle. 


Tagesnachrichten. 

Zur Medizinalreform. Nach dem Vernehmen der Berliner „Post“ 
werden für die nächste Session des Landtags zwei Vorlagen vorbereitet, die 
Entwürfe eines Medizinalgesetzes und eines Gesetzes zur Regelung des 
Apothekenwesens. Die Bearbeitung der Gesetze ist den Geheimräthen 
Dr. Scrzeczka und Dr. Pistor übertragen, während die juristische Seite 
der Materie durch Geheimrath Löwenberg wahrgenommen wird. 

Nach den bisherigen Erfahrungen wird es sich empfehlen, derartigen Mit¬ 
theilungen gegenüber etwas skeptisch zu sein; die Medizinalbeamten insbesondere 
sind schon so oft in ihren Hoffnungen getäuscht worden, dass man es ihnen nicht 
verdenken wird, wenn sie nicht eher wieder solchen Botschaften Glauben 
schenken werden, als bis der lang versprochene Gesetzentwurf thatsächlich dem 
Landtage vorgelegt ist. 


In den politischen Zeitungen sind in jüngster Zeit verschiedentlich Mit¬ 
theilungen über die bevorstehende gesetzliche Regelung des Giftverkehrs 
gebracht. Aus denselben scheint so viel mit Bestimmtheit hervorzugeheu, dass 
man an massgebender Stelle davon Abstand genommen hat, diese Regelung durch 
ein für das ganze Deutsche Reich zu erlassendes Gesetz oder durch eine Kaiser¬ 
liche Verordnung zu bewirken; sondern man beabsichtigt denselben Weg einzu¬ 
schlagen, wie beim Erlass der Vorschriften über die Abgabe scharf wirkender 
Arzneien. Bekanntlich haben die Bestimmungen über den Giftverkehr vor 
längerer Zeit einer im Kaiserlichen Gesundheitsamte zusammeugetretenen 
Sachverständigen-Kommission zur Berathung Vorgelegen; nunmehr sind sie 
dem Bundesrathe zur Beschlussfassung unterbreitet und werden, nachdem sie die 
Genehmigung desselben gefunden haben, demnächst den einzelnen Bundesstaaten 
zur gleiehmässigen Durchführung empfohlen werden. Ob sich dieser Weg hier 
ebenso bewähren wird, wie bei den Vorschriften betreffend die Abgabe scharf 
wirkender Arzneien in den Apotheken, dürfte übrigens etwas zweifelhaft sein; 
denn in verschiedenen Bundesstaaten ist der Giftverkehr durch Gesetz geregelt 
und müssen diese Gesetze erst aufgehoben werden, ehe die neuen Vorschriften 
in Kraft treten können, während dies bei Erlass eines Reichsgesetzes nicht 
nothwendig gewesen wäre. Zweckmässig wäre es übrigens gewesen, wenn der 
Entwurf in extenso vor seiner Genehmigung durch den Bundesrath veröffentlicht 
wäre, als dass jetzt in den politischen Blättern der Inhalt, desselben auszugsweise 
gebracht wird und es sieh nicht beurtheilen lässt, ob diese Auszüge auch that¬ 
sächlich dem Inhalte entsprechen oder nicht Eine Geheimhaltung derartiger 
Gesetzentwürfe hat sich bisher stets als verfehlt erwiesen. 


Politischen Blätt ern zu Folge soll der §. f>98 der Zivil - Prozess - Orrdnung 
das Verfahren der Entmündigung betreffend abgeändert werden und zwar 
nach der Richtung, dass künftighin in jedem Falle eine Vernehmung des an¬ 
geblichen Geisteskranken vor dessen Entmündigung zu erfolgen habe, damit sich 
der Richter unter der Beihülfe gerichtlicher Sachverständigen auch auf Grund 
eigener Wahrnehmungen ein Unheil bilden könne. Von ärztlicher Seite wird 
hierzu in Nr. 397 der Vossischen Zeitung geschrieben: „Der wesentliche Unter¬ 
schied des jetzigen Zustandes von dem neu angestrebten würde darin bestehen, 
dass die Vernehmung des Kranken jetzt gewissermassen fakultativ ist, während 
sie in Zukunft obligatorisch sein würde. Gegen diese Neuerung ist kanm etwas 


i 



Tagesnachrichten. 


439 


einzuwenden. Jedoch muss vor Allem daran festgehalten werden, dass an letzter 
Stelle nicht das Unheil, das der Richter sich bildet, entscheidend sein darf. 
Die Erscheinungen, durch die eine geistige Erkrankung kenntlich wird, sind 
nicht immer handgreiflich: Einem s'dir geübten Irrenärzte fällt es wohl gemein¬ 
hin nicht schwer, auch in schwierigen Fällen bei einer Exploration in Gegenwart 
des Richters das Vorhandensein einer Geisteskrankheit unzweideutig vorzuführen. 
Aber nicht immer sind geübte Irrenärzte zur Hand, die als Sachverständige hin¬ 
zugezogen werden können. Ein weniger geübter wird oft mit Bestimmtheit bei 
sieh entscheiden können, dass eine Geisteskrankheit vorliegt; er wird aber ausser 
Stande sein, den Kranken bei der Vernehmung zu so markanten Aeusserungcu 
zu veranlassen, dass auch einem Laien in psychiatrischen Dingen, wie es doch 
der Richter ist, die gestörte geistige Funktion deutlich erkennbar wird. Weiter¬ 
hin wäre es gut, wenn von vornherein gesetzlich bestimmt würde, dass die Ver¬ 
nehmung des zu Entmündigenden unter allen Umständen in seiner Behausung 
oder in der Heilanstalt, in der er sich gerade befindet, und nicht an der Ge- 
riehtsstelle vorzunehmen ist. Es ist eine alte Erfahrung der Irrenärzte, dass die 
Untersuchung eines Kranken in seiner gewöhnlichen Umgebung am vorteil¬ 
haftesten ist. Im Uebrigen sei daran erinnert, dass die obligatorische Ver¬ 
nehmung des zu Entmündigenden in Preussen bereits früher in Brauch war. 
Nach der ,, Allgemeinen Gerichtsordnung“ hatte eine persönliche Vernehmung des 
zu Entmündigenden vor einem Geriehtsdeputirten unter Zuziehung von mindestens 
zwei promovirten Aerzten zu erfolgen. Mit Einführung der Reichs -Zivilprozess¬ 
ordnung nahm das Entmündigungsverfahren seine jetzige minder strenge Form 
an. Diese hat bereits vor Jahren in Preussen zu Bedenken Anlass gegeben. 
Oeffeutlich ausgesprochen wurden diese Bedenken in einem Ministerialerlass des 
Justiz-Ministeriums vom Mai 1887. Es wurde darin der früheren Einrichtung 
Lob gespendet. Sodann wurden noch einige Regeln zur Sicherung des Ent¬ 
mündigungsverfahrens festgesetzt, wie die vollständige Aufnahme des ärztlichen 
Gutachtens zu den Akten, die Heranziehung von Psychiatern von Ruf zur Be¬ 
gutachtung der zu Entmündigen, so weit angäugig, und wenn die persönliche 
Vernehmung des zu Entmündigenden unterbleibt, die Angabe des Grandes dafür. 
Die beste Sicherung des Entmündigungsverfahrens liegt ohne Zweifel in einer 
guten psychiatrischen Durchbildung der Aerzte. Nöthig wäre 
eine Ergänzung der Bestimmungen für die Physikatsprüfungen, wonach 
ein jeder Pkysikatskandidat eine irrenärztliche Beschäftigung von bestimmter 
Dauer nachzuweisen hätte. Vorschläge, wie man mehr als jetzt, die Aerzte 
mit dem irrenärztliehen Dienste vertraut machen könnte, sind von Professor 
Pelmann in Bonn gemacht worden.“ 


Am 27. v. M. ist der älteste, noch im Amte befindliche preussische 
Ereisphysi kus, Geh. Sanitätsrath Dr. Beck haus in Bielefeld, gestorben 
Im nächsten Jahre wäre es ihm vergönnt gewesen, sein 50 jähriges Dienstjubiläum 
als Kreisphysikus und gleichzeitig sein 00 jähriges Doktor - Jubiläum zu feiern, 
zwei Jubiläen, deren Feier wohl selten Jemand heschieden sein dürfte. Bis in 
sein hohes Alter hatte er sich eine seltene körperliche Rüstigkeit und geistige 
Frische bewahrt und konnte nicht nur als Arzt, sondern vor allein auch als Phy- 
sikus in Bezug auf Pflichttreue, Thatkraft und wissenschaftliches Streben jedem 
jüngeren Kollegen als uaehahmuugswerthes Beispiel gelten. Ehre seinem 
Andenken! 


Die Cholera hat in den letzten Wochen ihren Einzug in Deutschland 
gehalten; glücklicher Weise sind die Erkrankungen aber bisher nur vereinzelt 
geblieben. In der zweiten Augustwoche kamen unter der polnischen Arbeiter¬ 
schaft im Osten von Berlin mehrere Fälle von Brechdurchfall vor, von denen 
sich drei als Cholera erwiesen. Nach den Angestellten Ermittelungen scheint die 
Ursache auf Einschleppung durch Esswaaren aus verseuchten Gegend« n von 
Russisch - Polen zurückzuführen zu sein. Von den Erkrankten sind zwei ge¬ 
storben. Am 23. August wurden wieder zwei im Zusammenhang stehende Cholera¬ 
fälle in Berlin festgestellt. Ferner sind auf drei im Erttkanal bei Neuss 
liegenden Schiffen 4- Personen an Cholera erkrankt, und drei davon gestorben; 
desgleichen ist ein in Duisburg am Ruhrorthafen beschäftigter Baggermeister 



440 


Tagesnachrichten. 


der Seuche zum Opfer gefallen. Auch aus Homberg (Kreis Mörs) und Em¬ 
merich wird je ein Cholera - Todesfall gemeldet; desgleichen aus Donau- 
eschingen; hier handelte es sich um einen Gymnasiasten, der aus Marseille 
zurückgekehrt war und sich dort jedenfalls infizirt hatte. 

In Oesterreich hat die Cholera im östlichen Theile von Galizien 
eine grössere Ausdehnung genommen. Bis zum 23. August waren in 8 Bezirken 
(Brezesko, Horodenka, Kolomea, Limanosa, Nadworna, Bawaruska, Suratyn und 
Sokal) 22 Gemeinden infizirt und 130 Personen erkrankt. Von den Erkrankten 
sind 33 gestorben. Am meisten heimgesucht ist der Bezirk Nadworna und die 
in diesem liegenden Ortschaften Delatyn (34 Erkrankungen mit 23 Todesfällen), 
Mikuliczyn (28 Erkrankungen mit 17 Todesfällen) und Dobrotow (22 Erkrankungen 
mit 15 Todesfällen). Ausserdem sind noch zwei vereinzelte Cholerafälle in der 
Buckowina und zwar in Horecza, der Vorstadt von der Landeshauptstadt 
Czernowitz, vorgekommen. 

Eine noch grössere Ausbreitung hat die Seuche in dem nordöstlichen 
Theile von Ungarn genommen. Die von den ungarischen Behörden gebrachten 
Nachrichten lassen allerdings an Zuverlässigkeit zu wünschen übrig, jedoch wird 
jetzt die Verbreitung der Cholera in acht Komitaten (darunter Marmaros, Bereg, 
Szolnock, Szabolcs, Szatmar, Ugocsa) und 67 Gemeinden zugegeben. Im Komitat 
Szolnock sind bis zum 23. August unter 102 Erkrankungen 79 tödtlich verlaufen, 
im Komitat Marmaros von 42 Erkrankten 11 gestorben. Auch aus Klausenburg 
(Siebenbürgen) wurden Cholerafälle gemeldet. 

Etwas günstiger scheinen sich die Verhältnisse in Rumänien zu gestalten, 
wenigstens hat die Zahl der Erkrankungen in den infizirten Orten Braila, Galatz, 
Czernawoda, Sulina, Festeti, Tulesa, Kalarasi während der letzten Woche eher 
eine Abnahme, als eine Zunahme erfahren. 

Aus Frankreich wird eine grössere Ausdehnung der Cholera in Nantes 
gemeldet (täglich 25 Erkrankungen), auch in Holland (Rotterdam, Leerdatn 
und Delft) scheint dieselbe festen Fuss setzen zu wollen. In Italien ist eine 
Abnahme der Seuche in Piemont festgestellt; in Neapel hält sich dieselbe in 
mässigen Grenzen (vom 8.—24. August 148 Erkrankungen mit 79 Todesfällen), 
ist aber von hier aus in die umliegenden Provinzen, insbesondere nach der 
Provinz Campobasso verschleppt. Auch aus Palermo werden Cholera-Er¬ 
krankungen gemeldet. 

In Russland macht sich ein Fortschreiten der Seuche nach Westen zu 
immer mehr bemerkbar. Für Deutschland bedenklich ist besonders der Ausbruch 
der Cholera im Gouvernement Kalisch und in den an der Warthe belegenen 
Orten Kolo und Konin, sowie in dem unmittelbar an der Grenze belegenen Orte 
Staw. In der Zeit vom 13.—19. August sind in diesem Gouverment 111 Per¬ 
sonen erkrankt und 40 gestorben. Auch in dem Gouvernement Lomza ist die 
Zahl der Erkrankungen während der Zeit vom 13.—16. August auf 52 mit 22 
Todesfällen gestiegen, in Bialystock vom 31. Juli bis 4. August auf 114 mit 30 
Todesfällen und im ganzen Gouvernement Grodno vom 30. Juli bis 12. August auf 
197 mit 49 Todesfällen. Am meisten herrscht die Krankheit noch immer in den 
Gouvernements Orel (vom 30. Juli bis 19. August: 2494 Erk. und 948 Todesf.), 
Podolien (vom 30. Juli bis 12. Aug.: 1178 Erk. und 423 Todesf.), Kiew (vom 
30. Juli bis 19. Aug.: 1968 Erk. und 818 Todesf.), Dongebiet (während derselben 
Zeit: 1169 Erk. und 504 Todesf.), Tula (vom 13.—19. Aug.: 653 Erk. und 139 
Todesf.). In der Stadt Moskau sind vom 30. Juli bis 22. Aug. 583 Erkrankungen 
mit 247 Todesfällen gemeldet. 

Die grössere Ausbreitung der Cholera in Russisch - Polen hat den Re¬ 
gierungspräsidenten der Reg.-Bez. Posen, Bromberg und Oppeln Veranlassung 
gegeben, den Greuzverkehr mit Russland zu sperren und den Uebergang über 
die Grenzen nur an bestimmten Orten nach zuvoriger ärztlicher Untersuchung 
zu gestatten. Desgleichen sind für das Stromgebiet der Weichsel und 
Warthe, der Elbe (speziell der Spree und Havel) und des Rheins wieder 
Reichskommissare in Thätigkeit getreten und ärztliche Untersuchungssta¬ 
tionen behufs Ueberwachungdes Schiffsverkehrs eingerichtet. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W. 

J. C. C. Bnu, Buchdrucker ei, Minden. 




6. Jahrg. 


Zeitschrift 

für 


1893. 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rath u. gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medi/inalrath in Alindt n. 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserat«, die durchlaufende Petitseile 45 Pf. nimmt die Yerlagahandlung und Rud. Mosas 

entgegen. 


No. 18 . 


Erscheint am 1. und 15. Jeden Monats. 
Preis jährlich 10 Mark. 


15. Septbr. 


Welche hygienischen Massregeln sind bei Choieragefahr im 
Eisenbahnverkehr zu treffen. 1 ) 

Vortrag gehalten am 7. August in der Versammlung des Vereins der Bahnärzte 
der Ostbahn zu Stettin von Kreisphys. Dr. Matthes - Obornick. 

Mit der Zunahme des Weltverkehrs durch die Eisenbahn ist 
die Gefahr der Verschleppung der Seuchen eine grössere geworden. 

Während früher 100 Meilen eine gute Beruhigung abgaben 
für die von einem Seuchenherd fern wohnende Bevölkerung, ist 
heute ein weit entferntes Land nicht sicher, dass es in den 
nächsten Tagen infizirt ist, ja das nächstgelegene wird verschont 
und das weiter gelegene betroffen. 

Ebenso ist die Schnelligkeit der Ausdehnung von einem 
Seuchenherd nach allen Himmelsrichtungen in wenig Tagen nicht 
ohne Grund dem Eisenbahnverkehr zugeschrieben worden. 

Die Eisenbahnstationen aber sind bei der heutigen Zeit die 
Einfallsthore einer Seuche im Laudverkehr für den Ort, den Kreis, 
den Staat; jeder andere Verkehrsweg kommt bei den heutigen 
Verhältnissen viel weniger in Betracht, daher sind hier auch die 
Massregeln vorzusehen, von denen man sich Schutz verspricht. 

Es unterliegt keiner Frage, dass eine absolute Aufhebung 
des Verkehrs zwischen der verseuchten und der zu schützenden 
Gegend das aller sicherste Mittel wäre, der Verbreitung einer 
Seuche vorzubeugen, wenn diese Aufhebung des Verkehrs gleich- 
mässig auf Personen wie Sachen Anwendung findet. 

Eine solche Aufhebung des Verkehrs hebt alle Beziehungen 
auf und muss, wenn sie wirksam sein soll, so lange aufrecht er¬ 
halten werden, bis die Seuche an allen Punkten, von denen aus 


*) Das Thema war von der Königl. Direktion der Ostbahn zu Bromberg 
zum Beferat gestellt worden. 






442 


Dr. Matthes. 


überhaupt die Gefahr der Einschleppung droht, vollständig er¬ 
loschen ist. 

Die Ausführung einer solchen Massregel ist aber nur denk¬ 
bar, wenn der abgesperrte, der zu schützende Distrikt, von der 
Nachbargegend so unabhängig ist, dass die Bevölkerung ohne er¬ 
hebliche Schädigung ihrer Existenz die Verkehrsaufhebung für die 
Dauer der Gefahr ertragen kann. 

Manche abgelegene Insel kann vielleicht diesen Vorbe¬ 
dingungen entsprechen, im Allgemeinen aber ist dies von vorne- 
herein unmöglich, man hat daher in früheren Jahren den Verkehr 
auf gewisse Punkte zu vereinigen gesucht, sogenannte Quarantäne¬ 
stationen errichtet, auf denen allein der Eintritt aus einem 
verseuchten Gebiet gestattet war, nachdem eine mehrtägige 
Beobachtung die Ungefährlichkeit des Reisenden resp. der Waaren 
bestätigt hatte. 

Es sind kaum 10 Jahre her, als man diesen Massregeln zu 
Cholerazeiten grossen prophylaktischen Werth beilegte, wenn es 
auch schon damals Stimmen gab, die nicht daran glauben wollten. 

Die erheblichen Schwierigkeiten, namentlich in der prakti¬ 
schen Durchführung, der Umstand, dass mit allen erdenklichen 
Mitteln es doch nicht verhindert werden konnte, dass der engste 
Kordon durchbrochen wurde, und die enorme Schädigung der 
materiellen Volksinteressen, die sich nicht vermeiden liess, schliess¬ 
lich aber auch der Umstand, dass eine Anhäufung von Menschen¬ 
massen an einzelnen Punkten zu Seuchenzeiten an sich eine Gefahr 
mit sich bringt, führte dazu, dass man die Grenzsperren zu 
Lande als werthlos bezeichnete und als hygienische Massregel 
verwarf, während man sich auch heute noch einen Nutzen ver¬ 
spricht, und dies wohl mit Recht, durch eine Kordonirung der Küste 
mit Anlage von Quarantänen in den Hafenstädten. 

Gleichwohl war bisher durch diese Massregeln den Epide¬ 
mien wenig Einhalt gethan und jeder suchte sich, war die Seuche 
einmal im Lande, so gut wie möglich zu helfen. Die rigorosesten 
Massregeln wurden noch im vorigen Jahre angewandt, jedem aus 
Hamburg Kommenden der Eintritt verwehrt, Himmel und Erde 
desinfizirt, rücksichtslos das Gepäck der Reisenden zerstört, der 
Waarenverkelir zum grossen materiellen Nachtheil des Landes ver¬ 
boten und beschränkt. 

Dank der eingehenden Studien über die Biologie des Cholera¬ 
erregers sind wir in der Erkenntniss der Wege, welche die Seuche 
zu ihrer Verbreitung wählt, nicht mehr im Unklaren, wie in 
früheren Jahren. 

Es handelt sich nicht um eine miasmatische Krankheit — 
auch kann von einer Ubiquität des Krankheitserregers keine Rede 
sein, ebenso wenig wie er sich über ein Land, dem Staube gleich, 
durch Luft und Wind verbreitet. 

Die Verbreitungsweise der Cholera ist auch eine durchaus 
verschiedene von der der exanthematischen Krankheiten; nicht 
ein flüchtiges, dauerhaftes, überall eindringendes Gift ist es, son- 



Welche hygienischen Hassregeln sind bei Choleragefahr etc. 


443 


dem ein, in seiner Lebensfähigkeit, sehr abhängiger Krankheits¬ 
erreger, der nur durch direkte Berührung Gefahr bringt. 

In diesem Sinne können wir heute gar nicht mehr davon 
sprechen, dass die Cholera eine ansteckende Krankheit wäre, vor 
der man sich nicht schützen könnte. 

Hierfür sprechen nicht nur die seltenen Erkrankungsfälle 
unter Aerzten und dem Pflegepersonal während der Hamburger 
Epidemie, sondern auch die sehr seltenen Infektionen bei der 
grossen Anzahl derer, die mit Reinkulturen arbeiten, wo es doch 
nichts Seltenes ist, dass ein Glas zerbricht oder sonst ein Aus¬ 
schütten von Kulturen sich ereignet und es wird wohl Manchem, 
der sich damit beschäftigt, so gehen, dass er aus Mangel eines 
anderen Raumes sein Sprechzimmer verwenden muss. 

Alle Schutzmassregeln werden sich anschliessen müssen an die 
Biologie des Choleraerregers und werden nur wirksam sein, wenn sie 
der eigenthümlichen Lebensweise Rechnung tragen. Mit Recht aber 
kann man verlangen, dass alle anderen Massregeln, die nur Schein- 
massregeln sind und zu Seuchenzeiten nur zur Belästigung und 
Beunruhigung der an und für sich aufgeregten Bevölkerung dienen, 
weggelassen werden. 

Zielbewusst und frei von unnöthigem Beiwerk sind die Mass¬ 
nahmen, welche das preussische Ministerium in vorigem Jahre 
getroffen hat, die auf der Dresdener internationalen Konferenz im 
Wesentlichen anerkannt und die durch das Rundschreiben des 
Reichskanzlers vom 27. Juni d. J. erweitert und verbessert sind. 

Wir befinden uns noch in einem Uebergangsstadium, erst die 
weiteren Erfahrungen bei künftigen Epidemien werden zu ent¬ 
scheiden haben, wie weit die wissenschaftlichen Erfahrungen sich 
decken mit den Vorkommnissen im grossen Verkehr. 

So viel aber können wir heute Voraussagen, dass es ein 
vergebliches Bemühen ist, durch Verkehrssperren Cholera - Epide¬ 
mien zu bekämpfen, dass es vielmehr darauf ankommt, bei den 
heutigen grossen Verkehrsmitteln auch den allgemeinen sanitären 
Verhältnissen in den Kulturstaaten mehr Rechnung zu tragen, als 
dies bisher der Fall gewesen ist. Wie gewaltig ist der Um¬ 
schwung in allen Verkehrsverhältnissen, wie gewaltige Dimensionen 
hat er im Verhältniss vor 40—50 Jahren angenommen, und die 
Fortschritte in der Hygiene haben sich auch weiter entwickelt, 
aber eigentlich nur theoretisch, wir haben bedeutende Lehrer, wir 
haben grosse Institute für Hygiene, aber für das Gros der Be¬ 
völkerung sind diese Errungenschaften so gut wie nicht vorhanden. 
Wir können kaum davon sprechen, dass wir eine Gesundheits¬ 
polizei besitzen, die in seuchenfreier Zeit praktisch etwas leistet, 
dazu fehlen uns in Preussen noch die Organe mit der nöthigen 
Initiative. 

Durch keine Massregel wird sich im Landverkehr eine 
absolute Sicherheit eines Landes einem verseuchten gegenüber 
hersteilen lassen, die nicht von ungeheueren wirtschaftlichen 
Schädigungen begleitet und in sanitärer Beziehung einen unsiche¬ 
ren Nutzen gewährt. 



444 


Dr. Matthe«. 


Es kommt auch gar nicht darauf an, ein Land gewisser- 
massen pilzdicht machen zu wollen, und es erscheint von vorne- 
herein ausgeschlossen, dass es sich erreichen liesse, jeden Cholera¬ 
fall abzuwehren, gerade so wenig wie wir es unternehmen, 
Scharlach und Diphtherie auszurotten; es handelt sich vielmehr 
allein darum, dem epidemischen Auftreten entgegen zu treten 
und die Ausbreitung zu hindern. 

Anzuwenden werden aber nur diejenigen Massregeln sein, 
die einen direkten Nutzen versprechen; es wird zu erwägen sein, 
wie dieselben ohne grosse materielle Schädigung durchzuführen 
sind, welche Massregeln unterlassen werden können, weil ent¬ 
weder die Wahrscheinlichkeit einer allgemeinen Schädigung sehr 
gering, oder der zu erwartende Nutzen problematisch ist. 

Der Hauptfaktor für die Uebertragung der Cholera ist der 
Mensch, die Verbreitung der Seuche im Eisenbahnverkehr ist fast 
ausschliesslich im Personenverkehr zu suchen, im Vergleich zu dem 
der Warenverkehr als Mittelglied für die Seuche fast kaum in 
Betracht kommt. Dieser Erfährungssatz ist ausgesprochen auf 
Grund der Erfahrungen und Beobachtungen, die seit der Ent¬ 
deckung Koch’8 vielfach gemacht worden sind. 

Es ist Ihnen bekannt, dass durch ein krankes Kind die Cholera 
vom schwarzen Meer nach Sachsen gebracht wurde, während in 
Deutschland kein Fall von Cholera bekannt war, und hier eine 
Epidemie veranlasste; es ist Ihnen bekannt, wie im vorigen Jahre 
in wenig Tagen die ganze Umgebung von Hamburg kleinere 
Seuchenherde hatte. Der erkrankte Mensch ist sowohl im Nah- wie 
im Fernverkehr gleich gefährlich, auf ihn werden sich alle Mass¬ 
regeln konzentriren, um der Weiterverbreitung Einhalt zu thun. 
Den Reisenden, welche in grossen Massen zu reisen pflegen, den 
Auswanderer- und Arbeiterzügen, die Personen aus infizirten 
Gegenden befördern oder aus Gegenden, die schon erfahrungs- 
gemäss, wie für uns Russland, die Seuche zu uns bringen, solchen 
Reisenden wird man ein erhöhtes Interesse zuwenden müssen. 

Wenn der erkrankte Mensch allein die Gefahr der Weiter¬ 
verbreitung in sich birgt, so kommt es darauf an, diesen möglichst 
früh zu isoliren, dem allgemeinen Verkehr zu entziehen. 

Um ihn im Eisenbahnverkehr schnell aufzufinden, wird es 
nothwendig sein, dass zu solchen Zeiten der Verkehr auf den 
Bahnhöfen möglichst übersichtlich ist, dass nur den Reisenden 
selbst Zutritt gewährt wird und alle überflüssigen Menschenan¬ 
sammlungen unterbleiben. 

Es ist dies eine Massregel, mehr geeignet, den allgemeinen 
Verkehr zu fördern, als einzuschränken und ich glaube nicht fehl 
zu gehen, wenn dieselbe in diesem Sinne auch für die seuchenfreie 
Zeit allgemeine Ausdehnung finden soll. 

Eine strenge ärztliche Ueberwachung der Reisenden hat man 
im Allgemeinen für unnöthig gehalten, abgesehen von einigen 
Grenzstationen; es soll vielmehr der Arzt erst dann eingreifen, 
wenn seine Hülfe von dem erkrankten Reisenden beansprucht 



Welche hygienischen Massregeln sind bei Cholcragefahr etc. 


445 


wird, oder wenn ihm eine Mittheilung über einen Erkrankungsfall 
oder Krankheitsverdacht zugeht. 

Es muss zugegeben werden, dass die ärztliche Revision von 
Reisenden, die mit einem Zuge ankommen, von nicht zu grossem 
Werthe ist, insofern als die schwer Erkrankten auch dem Zug¬ 
personal und den Mitreisenden auffallen, die leichter Erkrankten aber 
auch dem Auge des Sachverständigen entgehen können. Indessen 
weiden gerade die ersten eingeführten Cholerafalle von dem Per¬ 
sonal nicht als solche erkannt und der leichte Fall, der der 
ersten ärztlichen Revision entgangen ist, fällt in wenig Stunden 
der nächsten anheim. 

Gar nicht zu entbehren sind diese ärztlichen Revisionen auf 
den Grenzstationen, wo das Fahrpersonal wechselt, in Massen¬ 
arbeiterzügen, die von vorneherein verdächtig zu behandeln sind, 
und deshalb mit besonderer Gründlichkeit beobachtet werden 
müssen. Da diese ärztliche Besichtigung auf grossen Eisenbahn¬ 
zentren ohne besondere Verkehrsstörung ausgeführt werden kann 
und das Fahrpersonal kaum als Kontrole dienen kann, ohne seinen 
Dienst zu vernachlässigen, so würde ich es für empfehlenswerth 
halten und nicht ohne Nutzen, wenn auf denjenigen Strassen, auf 
denen die Verseuchung zu erwarten ist, eine ärztliche Revision 
beim Ankommen der Züge im Koupee vor sich geht. 

Zu derartigen schnellen Revisionen, wo es fast auf einen 
Blick der Sachverständigen ankommt, zu erkennen, gehören aber 
auch geschulte Aerzte. Ich kann nicht umhin, es hier auszu¬ 
sprechen, und ich glaube, dass Sie mir beistimmen werden, wie 
wenig es geeignet ist, zu diesem wichtigen Posten, gerade die 
jüngsten Kräfte heranzuziehen, die eben durch das Staatsexamen 
gelaufen sind. 

l $£^|Ohne dem guten Willen dieser Herren Abbruch zu thun, 
kann man sich doch nicht verhehlen, dass die Ursache dafür ledig¬ 
lich darin zu suchen ist, dass dem Staate geeignete Personen 
nicht zur Verfügung stehen. 

So recht offen zu Tage sind auch hier mal wieder die 
Schäden getreten, die schon längst einer Reform bedürfen, die sich 
wie eine Seeschlange schon Jahrzehnte hinschleppen. 

Im Grenzverkehr kann diese ärztliche Besichtigung, wie dies 
auch in der Denkschrift der Dresdener internationalen Versamm¬ 
lung vorgesehen ist, sehr wohl mit der Zollrevision vereinigt werden. 

Im engen Zusammenhänge mit der Absonderung der Kranken 
und Verdächtigen stehen die Massregeln, die für die Beförderung 
und Unterbringung derselben auf den Krankenübergabestationen 
und Untersuchungsstationen zu treffen sind. 

Hier ist Sorge zu tragen, für besondere Räume zur Unter¬ 
suchung, für Krankenträger, Wagen und Bahren und alle Mittel, 
die für die erste Hülfe in solchen Fällen dem Arzte zur Hand 
sein müssen. Es sind Baracken in der Nähe der Bahnhöfe zu 
etabliren, wo es an geeigneten Krankenanstalten fehlt, in denen 
besondere Vorkehrungen getroffen werden müssen, um nicht Ver¬ 
dächtige ohne Weiteres mit Kranken zusammenzusperren. 



446 


Dr. Matthes. 


Während der Fahrt ist es Sache des Zugpersonals für die 
Kranken zu sorgen, Kranke und Verdächtige nur an den Kranken¬ 
übergabestationen aussteigen zu lassen und ihnen bis dahin nach 
Möglichkeit zu helfen. x ) 

Dass das Reisegepäck von Cholerakranken der Desinfektion 
unterworfen wird und dass diese Desinfektion möglichst ohne Ver¬ 
zug vor sich gehe, ist eine nur berechtigte Forderung. Es wird 
auch hier genügen, besonders Kleider und Wäsche zu desinfiziren, 
jedenfalls aber nicht in der Weise zu verfahren, dass ohne Rück¬ 
sicht auf den Inhalt die Desinfektion einer Zerstörung gleich¬ 
kommt. Zur Desinfektion sind geeignete Dampfapparate auf 
grösseren Verkehrszentren aufzustellen. 

Welche Massregeln aber sind auf diejenigen Reisenden anzu¬ 
wenden, welche aus verseuchter Gegend stammend, keinen 
Krankheitsverdacht erregen? Zugegeben werden muss, dass eine 
Uebertragung durch den Anzug im Nahverkehr denkbar wäre, 
gross ist die Wahrscheinlichkeit hierfür nicht. Sehr gering aber 
erscheint der Nutzen, den Anzug zu desinfiziren, wenn der Körper 
vielleicht in sich den Keim enthält, wenn er auch vorläufig noch 
keine Erscheinungen macht. Die einzige Massregel, die von 
Nutzen sein kann, ist diejenige, dass über die Personen, die aus 
verseuchten Gegenden kommen, in der Weise eine Kontrole aus¬ 
geübt wird, dass sie 5 Tage beobachtet werden. Zu diesem 
Zwecke muss von den Verwaltungsbehörden den Eisenbahnbeamten 
jeder Reisende bezeichnet und von diesen beim Abgänge von der 
Bahn den Verwaltungsbehörden dieselben weiter gemeldet werden, 
auch ist den Reisenden selbst die Meldepflicht aufzuerlegen. 

Was das Reisegepäck anbetrifft, so soll nach der Denkschrift 
der internationalen Sanitäts - Konferenz zu Dresden (vergl. Rund¬ 
schreiben des Reichskanzlers) in allen Fällen der Desinfektion 
unterworfen werden: schmutzige Wäsche, alte und getragene 
Kleidungsstücke und sonstige Gegenstände, welche zum Gepäck 
eines Reisenden oder zum Mobiliar eines Umziehenden als Um¬ 
zugsgut gehören, wenn sie aus einem verseuchten Bezirk stammen, 
sofern dieselben nach der Ansicht der lokalen Gesundheitsbehörde 
als mit Choleraentleerungen beschmutzt zu erachten sind. 

Wer wird an einem grossen Verkehrspunkte noch Zeit finden 
zur Untersuchung, was mit Choleraentleerungen beschmutzt zu 
erachten ist und was nicht, und wie soll man sich überhaupt vor¬ 
stellen, dass eine solche Entscheidung getroffen werden soll? Es 
ist dann wohl richtiger zu sagen, dass getragene Wäsche und 
Kleider eines jeden Reisenden am Endpunkte der Desinfektion 
unterliegen sollen. 

Züge mit russischen Auswanderern oder von der galizischen 


! ) Das Rundschreiben des Reichskanzlers vom 27. Juli d. J. sagt jedoch: 
Anlage III b. Will der Erkrankte den Zug vor der nächsten Uebergabestation 
verlassen, so ist er hieran nicht zu hindern, doch ist er als erkrankt der 
nächsten Ihdizeibehürde zur Beobachtung mitzuthcilcn. Das Rundschreiben ver¬ 
bietet auch die Abgabe von Opiumtropfen an Cholerakranke als schädlich, mit 
denen bisher das Fahrpersoual ausgerüstet war. 



Welche hygienischen Massrcgeln sind bei Choleragefahr etc. 


447 


Grenze, die für uns besonders in Betracht kommen, werden nach 
strenger Grenzkontrole so schnell wie möglich durch das Land zu 
befördern sein, ohne dass ihnen viel Gelegenheit geboten wird 
zum Verkehr auf der Reise; oder sollte es überhaupt einen 
materiellen Schaden für unser Land bedeuten, wenn derartigen 
Massentransporten der Durchgang für die Zeit der Seuche ver¬ 
wehrt würde und ihnen andere Wege durch das eigene Land ge¬ 
wiesen würden P 

Arbeiterzüge im Inlande wird man strengen Kontrolen unter¬ 
werfen, sie aber nicht gut aufheben können. 

Die Personenwagen, in denen Cholerakranke ermittelt sind, 
sind so bald wie möglich aus dem Verkehr zu bringen, auf der 
Fahrt sind die Gesunden aus den Abtheilungen zu trennen und 
die Wagen der Desinfektion zu unterwerfen. 

Es sind Ihnen allen die Vorschriften bekannt, die in der 
Dienstanweisung vom 7. September 1892 enthalten sind und sich 
im Rundschreiben des Reichskanzlers wiederholen; sie sind zweck¬ 
entsprechend und den heutigen wissenschaftlichen Erfahrungen 
Rechnung tragend. Die Dienstanweisung schreibt auch zweck¬ 
mässig vor, dass bei Massentransporten die Desinfektion der 
Wagen vor sich geht, ohne dass eine Erkrankung festgestellt 
ist. Auch sollen regelmässig die Klosets und Trinkbecher desin- 
fizirt und gereinigt werden. — Besondere Vorschriften sind er¬ 
lassen für die Desinfektion der Schlafwagen, wie Ihnen bekannt ist. 

Zu wünschen bleibt nur übrig, dass zu diesen Arbeiten die 
richtige Auswahl und Unterweisung der Leute getroffen wird, 
damit die Desinfektion sachgemäss, ohne Vergeudung der Des¬ 
infektionsmittel vor sich geht. — Der besonderen Reinlichkeit in 
den Personenwagen, wie sie in dem vorigen Jahre zur Seuchenzeit 
durchgeftihrt wurde, kann man nur einen dauernden Bestand 
wünschen. 

Es ist in der Literatur (Deutsche Med. Wochenschr Nr. 37 
1892) darauf hingewiesen, dass die Kloseteinrichtungen auf der 
Fahrt durch die Benutzung von Cholerakranken Veranlassung 
werden könnten zu Uebertragung und zur Weiterverbreitung der 
Seuche, wenn Choleraentleerungen auf die Strecke gelangen, und 
man hat vorgeschlagen, Kübel anzuhängen, damit diese die Ent¬ 
leerungen auffangen und so die Keime in ihnen vernichtet werden 
könnten. Abgesehen davon, dass es sich wohl kaum vermeiden 
lassen würde, dass bei dem Schwanken der Wagen nicht doch 
Entleerungen nebenbei auf den Erdboden gelangen und das Ab¬ 
hängen dieser Kübel, die auch von aussen beschmutzt, die Arbeiter 
in direkte Gefahr bringen, halte ich es für sehr unwahrscheinlich, 
dass auf jene Weise eine Weiter Verbreitung stattfindet. Dass 
sie möglich ist, beweisen wohl die letzten Versuche Uffelmann’s 
(Berl. klin. Wochenschr. Nr. 26); meist aber werden die Keime 
unter dem Einfluss der Sonne sehr bald absterben. 

Auf den Bahnhöfen ist ja die Benutzung der Wagenklosets 
untersagt, gleichwohl wird es sich empfehlen, dort, wo Personen¬ 
züge ankommen, den Boden zwischen den Geleisen mit Ka lkmil ch 



448 


Dr. Matthes. 


zu besessen, was auch im Rundschreiben des Reichskanzlers 
Aul. III, Nr. 11 angeordnet wird. 

Besondere Sauberkeit ist auf den Aborten der Bahnhofssta¬ 
tionen nothwendig, dagegen soll die Desinfektion nur auf den¬ 
jenigen Stationen erfolgen, wo die Cholera ausgebrochen und auf 
solchen Stationen, wo dies ausdrücklich angeordnet wird. Dies 
wird geschehen müssen auf Stationen, an denen die Auswanderre- 
züge halten. 

Es ist nun aber auch Aufgabe der Verwaltung den Nah¬ 
rungsmittelverkehr auf den Bahnhöfen zu überwachen. Dafür zu 
sorgen, dass zu Seuchenzeiten auf den Stationen den Reisenden 
die Nahrungsmittel in gutem, unverdächtigen Zustande gereicht 
werden. 

Hierzu gehört zunächst eine Ueberwachung der Brunnen. 

Wenn es sich schon empfiehlt zu seuchenfreien Zeiten jähr¬ 
lich 1 bis 2 Mal Wasseruntersuchungen der Stationsbrunnen zu 
machen, so wird dies erst Recht zu Cholerazeiten nothwendig sein. 
In verseuchten Gegenden und auf Strecken, die besonders von 
Massentransporten befahren werden, wird es auch zweckmässig 
sein, die an den Brunnen befindlichen Trinkbecher zu entfernen 
und Jeden zu zwingen, sein eigenes Trinkgefäss zu benutzen. 

Milch ist nur sterilisirt zuzulassen. Alle anderen Getränke, Bier, 
Wein, Kognak, Kaffee, Thee sind für eine Uebertragung kaum in 
Betracht zu ziehen, doch wird es sich empfehlen, dieselben nicht 
zu kalt zu reichen, um den Reisenden keine Indispositionen ihrer 
Verdauungswege zu verursachen. 

Dass die Bahnwirthschaften ihre Lebensmittel nicht aus 
Cholerahäusern beziehen sollen, ist eine durchaus gerechtfertigte, 
aber schwer zu überwachende Massregel; man wird aber nicht 
umhin können, in dieser Beziehung der Gewissenhaftigkeit des 
Wirthes und dem Selbstschutz des Reisenden alles Uebrige 
anheim zu stellen. Ohne Weiteres liesse sich dagegen auf Sta¬ 
tionen verseuchter Ortschaften der Verkauf frischen Obstes ver¬ 
bieten. So gering auch die Möglichkeit der Uebertragung hier¬ 
durch erscheint, so muss andererseits doch in Betracht gezogen 
werden, dass das frische Obst eine ganze Reihe von Händen passirt, 
die nicht immer die saubersten sind, ehe es an den Mann kommt; 
schliesslich lässt es sich als Genussmittel auf der Reise sehr 
gut entbehren und das Verbot enthebt manchen Reisenden einer 
Darmstörung und einer Disposition für die Seuche. 

Leicht durchführbar aber auch wäre es, auf Stationen in 
Seuchengegenden den Gebrauch leinener Servietten, die in feuch¬ 
tem Zustande mehreren Personen nach einander gegeben zu werden 
pflegen, zu verbieten und allgemein Papierservietten einzuführen. 

Nicht minder wichtig für die Hygiene ist die Frage, wieweit 
durch den Waarenverkehr auf dem Landwege speziell durch Eisen¬ 
bahntransporte eine Weiterverbreitung der Cholera möglich ist. 

Es liegt in der Natur der Sache, dass exakte Beobachtungen 
dieser Art sehr schwierig sind, da Nebenumstände nicht immer 
einen anderen Weg der Uebertragung ausschliessen lassen werden. 



Welche hygienischen Massregeln sind bei Choleragefahr etc. 449 

Es ist Ihnen bekannt, dass man in dieser Beziehung aus 
Furcht so weit gegangen ist, jeden Brief aus der Choleragegend 
als verdächtig anzusehen und zu desinflziren. Andererseits hören 
wir einen Hygieniker der Neuzeit es aussprechen, dass Beispiele 
einer Verschleppung der Cholera durch Briefe und Waaren von 
Land zu Land, so lange wir die Seuche kennen, noch nicht be¬ 
kannt geworden sind. 

Dass durch leblose Dinge Keime Weiterverbreitung finden 
können, dafür Beispiele anzuführen, wie sie Hirsch in seinem 
Bericht über die Choleraepidemie vom Jahre 1873 beibringt, dürfte 
heute überflüssig erscheinen, wo es uns bekannt ist, dass der 
Cholerabacillus unter bestimmten Bedingungen sich eine Zeit lang 
konservirt. Auch dafür, dass durch Lebensrnittel, die von 
gesunden Menschen in seuchenfreie Gegenden gebracht wurden, 
Weiterverschleppungen der Cholera stattgefunden haben, finden 
wir in der vorjährigen Literatur Beispiele angeführt (Mediz. 
Wochenschr. Nr. 45 und 47 1892), wo speziell durch Butterbrode, 
aus Seuchengegenden mitgebracht, Personen erkrankten, während 
zur Zeit kein Fall von Cholera am Orte herrschte und die Per¬ 
sonen gesund blieben, die diese Lebensmittel mitgebracht oder 
nicht genossen hatten. Bei dem heutigen gültigen Standpunkte 
wird es vielmehr darauf ankommen, zu erwägen, unter welchen 
Bedingungen eine Weiterverbreitung der Cholera durch Waaren 
stattfindet und welche Faktoren die Uebertragung begünstigen. 
Von vorneherein werden wir in dieser Beziehung berücksichtigen 
müssen, das ein Unterschied zu machen ist zwischen dem Waaren- 
transport im Nah- und im Fernverkehr. 

Jeder, der sich mit Cholerauntersuchungen eingehender be¬ 
schäftigt hat, weiss, wie die Cholerakeime von Feuchtigkeit und 
ungehindertem Luftzutritt, Sonne und Trockenheit beeinflusst werden, 
und wie die Dauer der Einwirkung dieser Faktoren die Lebens¬ 
fähigkeit und die Möglichkeit der Uebertragung verändert. Anderer¬ 
seits, dass die hermetische Verpackung in Blechkästen und die 
feste Zusammenpressung der Kollis eine Verschleppung von Keimen 
verhindert oder sehr unwahrscheinlich macht. 

Es ist auch in Betracht zu ziehen, wieweit den zu versen¬ 
denden Waaren überhaupt Gelegenheit geboten war, Keime auf¬ 
zunehmen und welchen Kulturboden sie abgeben für die Vegetation 
der zu übertragenden Keime. In ersterer Beziehung werden Fabrik¬ 
produkte, Kornsendungen niemals Beanstandung finden und in 
letzter Beziehung haben die Untersuchungen des Reichsgesund¬ 
heitsamtes festgestellt, dass die meisten Waaren und Lebensmittel 
einen weit ungünstigeren Nährboden abgegeben, als man früher 
angenommen hat und dass sie im Fernverkehr kaum in Betracht 
kommen können als Vermittler der Seuche. Ich verweise Sie in 
dieser Beziehung auf die Untersuchungen des Reichsgesundheits- 
Amtes vom vorigen Jahre, die auch Petri in seinem Cholerakurs 
kurz zusammen gestellt hat und auf denen die Beschlüsse der 
internationalen Sanitäts-Konferenz zu Dresden, sowie das Rund¬ 
schreiben des Reichskanzlers vom 27. Juni d. J. basiren. 



450 Dr. Matthea: Welche hygienischen Massregeln sind bei Choleragefahr etc. 

Als unzweifelhaft auszuschliessen vom Verkehr dürften da¬ 
gegen sein alte Wäsche und Kleidungsstücke die in direkte Be¬ 
rührung mit Cholerakranken gekommen sind. Nicht ohne Weiteres 
im Verkehr zuzulassen sind getragene Kleider, die als Gepäck¬ 
stücke aus verseuchten Gegenden kommen oder als Handelsob¬ 
jekte die Grenze passiren. 

Ich weiss nicht, welche Erkennungsmittel Petri an ge¬ 
tragenen Kleidungsstoffen, deren Transport er mit Ausnahme der¬ 
jenigen, die unmittelbar vom Leibe Cholerakranker kommen, für 
harmlos hält, dafür hat, dass dieselben nicht von Kranken direkt 
herrühren, oder dass sie genügend lange dem Gebrauche entzogen, 
eine Garantie dafür abgeben, dass die Keime nicht mehr lebens¬ 
fähig sind. 

Wir wissen doch ganz genau, dass gerade alte Sachen im 
Osten einen ziemlich grossen Handelsartikel bilden und dass der 
Vortheil der Händler zu Seuchenzeiten in dem billigen Einkäufe 
diese Geschäftsbranche besonders zur Blüthe bringt. 

Auch die Harmlosigkeit der Lumpen, wie sie befürwortet 
wird und auch die Denkschrift über die Cholera in Preussen vom 
Jahre 1892 anzuerkennen scheint, indem sie den Verkehr mit 
Lumpen vorzugsweise nur in der Absicht einer Beruhigung des 
Publikums nachgebend, verboten hat, kann ich nicht befürworten. 
Dass Hadern und Lumpen als Abfälle der Industrie unverdächtig 
sind, ist ohne Weiteres anzuerkennen. Die Lumpentransporte aber, 
die im Osten Preussens nicht unerheblich sind, nehmen ihr Material 
nicht aus diesen Quellen, sondern sind Abfälle der Wäsche und 
Kleidung und auch hiermit ist der Handel zu Zeiten einer Epidemie 
in ländlichen Kreisen eher ein grösserer als sonst. 

Nun mag es ja richtig sein, dass wenn diese Lumpen längere 
Zeit gelagert haben, sie gewiss an Gefährlichkeit einbüssen, in¬ 
dessen wer will die Garantie übernehmen dafür, dass der letzte 
Frachtwagen nicht erst vor wenig Tagen aus Cholerahäusern auf¬ 
gekauft ist? Es liegt auch kein Grund dafür vor, dass man diesen 
Handelsartikel auch zu solchen Zeiten ungehindert passiren lässt, 
so gross ist der materielle Schaden nicht, auch ist eine feste, ge¬ 
presste Verpackung ohne grosse Kosten auszuführen und dann 
dürfte allerdings die Möglichkeit der Uebertragung sehr gering 
sein Die Denkschrift der Dresdener internationalen Konferenz 
bezeichnet als einzige Gegenstände oder Waaren, welche Träger 
des Ansteckungsstoffes sein können, Leibwäsche, alte und getragene 
Kleidungsstücke, ferner Hadern und Lumpen; während sie für die 
ersteren Gegenstände jedoch ein unbeschränktes Verbot zulässt 
für die Ein- und Durchfuhr, darf die Einfuhr von Hadern und 
Lumpen nicht verboten werden, wenn sie hydraulisch zusammen¬ 
gepresst in eisenbeschlagenen Ballen im Grosshandel versendet 
werden und mit Ursprungsmarken, die ihre Unverdächtigkeit 
kennzeichnen, versehen sind, ferner wenn sie aus Abfällen be¬ 
stehen, welche direkt aus Spinnereien, Webereien, sowie aus Kon¬ 
fektions- und Bleichanstalten kommen, oder wenn sie aus Kunst- 
wolle und neuen Papierschnitzeln bestehen. 



Ans Versammlungen und Vereinen. 


451 


Im Nahverkehr kommt noch in Betracht die Versendung von 
Milch, die als guter Kulturboden der Cholerakeime aus verseuchten 
Ortschaften verboten werden sollte und Butter, auf der anscheinend 
wie auf frischem Käse sich der Krankheitserreger der Cholera 
lange lebensfähig erhält. 

Wir sehen hieraus, dass im Waarenverkehr kaum wesentliche 
Beschränkungen nothwendig sind. 


Aus Versammlungen und Vereinen. 

111, Versammlung d« r Nedizinalbeamten des Regierungs- 
Bezirks Stade am 16« August in Harburg. 

Anwesend waren die Herren Kreisphysiker Dr. H e r y a - Otterndorf, 
Dr. Noeller -Buxtehude, Dr. Vogel-Freiburg, Dr. Ritter-Bremervörde, 
Dr. Andr6e-Neuhaus, Dr. Rusak-Stade, Dr. Engel mann-Achim, Dr. 
R o e h r s - Rotenburg, Dr. Westrum-Geestemünde. 

In Abwesenheit des Herrn Vorsitzenden Reg.- und Med.-Rath Dr. Bohde 
wurde die Sitzung vom Unterzeichneten eröffnet und nahm die Versammlung 
nach Erledigung der regelmässigen geschäftlichen Angelegenheiten zunächst die 
Neuwahl eines Vorstandes vor. Durch Akklamation wurde der alte Vorstand 
wiedergewählt und hierauf zum ersten Punkt der Tagesordnung geschritten: 

Die Stellung der preussi9chen Kreisphysiker. Der Referent, Kreis- 
Physikus Dr. Rusak sprach im Eingang seiner Darlegungen aus, dass er 
nicht nur überzeugt sei, mit der Anregung zu einer Besprechung über die 
Stellung der preussischen Kreisphysiker ein Thema zu berühren, welches für die 
Anwesenden das grösste Interesse habe, sondern dass er auch hoffe, dass die 
Anwesenden mit ihm darin übereinstirnmeu würden, dass zur endlichen Aenderung 
der Stellung der Physiker von jedem derselben mehr gethan werden müsse, als 
bisher geschehen sei. 

Referent besprach dann kurz, aus welchen Gründen die Kreisphysiker 
eine Aenderung ihrer amtlichen Stellung und Befugnisse sowie eine Erhöhung 
ihres Einkommens erstrebten. Wohl keiner sei Sanitätsheamter geworden, weil 
ihn die Stellung oder das Einkommen der jetzigen Kreisphysiker verlockte, 
sondern weil er der Ueberzeugung war, dass die seinen Vorgängern schon lange 
versprochene Medizinalreform nun endlich kommen müsse und die Physiker als 
wirkliche und auskömmlich besoldete Sanitärsbeamte eine befriedigende Wirk¬ 
samkeit in dem weiten Gebiet des öffentlichen Gesundheitswesens finden würden. 
Statt dessen sehen die Physiker sich immer noch von den Schranken umgrenzt, 
welche schon ihre Vorgänger an einer ersprießlichen amtlichen Thätigkeit ge¬ 
hindert haben; noch immer ist es ihnen immöglich gemacht, die Fortschritte 
ihrer Wissenschaft in einer für den einzelnen wie für den Staat nützlichen 
Weise in der Prophylaxe zu verwerthen. Dabei sind sie nach wie vor in erster 
Linie praktische Aerzte, für ihren Lebensunterhalt auf den Erwerb durch die 
Praxis hingewiesen. Zu welchen Konflikten dieses Verhältnis führt, braucht 
auch nicht weiter erörtert zu werden, da jeder dieselben genügend aus seiner 
eigenen Thätigkeit kennt. 

Dass unter solchen Verhältnissen die Kreisphysiker besonders nach (len 
Ereignissen des vorigen Sommers mit Spannung die Bekanutgebung der Höhe 
der Forderungen für den Medizinaletat erwarteten, ist begreiflich, ebenso be¬ 
greiflich aber auch die grosse Enttäuschung derselben, als auch dieses Mal wieder 
nichts für die Medizinalreform übrig geblieben war und als sie aus dem Munde 
des Herrn Ministers hören mussten, dass noch mancher Tropfen Wasser den 
Berg hinunterlaufen müsse, ehe ein so tiet eingreifendes und kostspieliges Projekt, 
wie das der Medizinalreform, in das Leben gerufen würde, ferner dass die Vor¬ 
bedingung der ganzen Medizinalreform die umfassendere Vorbildung der künfti¬ 
gen Medizinalbeamten sei. 

Aus diesen Worten des Herrn Ministers ist nur das mit Sicherheit zu 
entnehmen, dass mau die Medizinalreform auf unbestimmte Zeit zurückgestellt 



452 


Aus Versammlungen und Vereinen. 


hat. Ist das der Fall, so haben die jetzt angestellten Physiker wenig Aussicht, 
die Reform noch zu erleben, wenn sie sich nicht ermannen und endlich anfangen, 
ihre Interessen kräftig und nachdrücklich in jeder für einen Beamten zu¬ 
lässigen Weise zu vertreten. 

Die Kreisphysiker haben bislang geschwiegen, wenn ihre Angelegenheiten 
in der Presse oder im Abgeordnetenhause verhandelt wurden. Wenn sie aber 
die politischen Vorgänge der letzten 10 Jahre im Reiche und in Preussen ver¬ 
folgen, so werden sie erkennen, dass dieses resignirte Schweigen das verkehrte 
Verhalten war. Denn nur diejenigen Erwerbsklassen, ferner nur diejenigen 
Beamtenkategorien haben in den letzten Jahren eine Berücksichtigung ihrer 
Interessen erfahren, welche diese Interessen und Wünsche gehörig laut äusserten 
und sie vor allen Dingen in der Presse und in den Parlamenten mit allen 
Gründen wieder und wieder zur Sprache brachten. Damit ist den Kreisphysikern 
der Weg gezeigt, den auch sie gehen müssen, denn unter den jetzigen Verhält¬ 
nissen haben sie gar keine Aussicht, ihre berechtigten Wünsche erfüllt zu sehen, 
wenn sie nicht mit der alten üblen Tradition brechen und für das, was sie nicht 
nur als recht und billig, sondern auch für das Allgemeinwohl als 
förderlich und nöthig erkannt haben, öffentlich und entschieden eintreten. 

Nun fragt es sich: 

I. Was haben die Kreisphysiker zu thun, um die Medizinalreform zu 
fördern? und 

II. welche Forderungen sollen sie in Bezug auf ihre künftige Stellung 
aufstellen ? 

Referent legte bezüglich dieser Fragen der Versammlung die folgenden 
Thesen vor. Er begründete die einzelnen Thesen und bat dann, dieselben zu 
diskutiren und event. ihnen beizutreten. 

Thesen ad L 

1. Es ist nöthig, dass die Physiker in der medizinischen wie in der politi¬ 
schen Presse für die Einführung der Medizinalreform einzutreten sich ent- 
schliessen. In der medizinischen Presse, einmal um die massgebenden 
Behörden von der absoluten Nothwendigkeit der Reform zu überzeugen, ferner 
um durch die kundgegebenen Vorschläge den Behörden Kenntniss von den An¬ 
sichten und Wünschen der beamteten Aerzte in Bezug auf diese Reform zu 
verschaffen. In der politischen Presse, um weitere Kreise deä Volkes 
mit der Lage der Kreis-Medizinalbeamten bekannt zu machen und sie für deren 
Bestrebungen, welche ja zugleich auf die Förderung des Allgemeinwohls gerichtet 
sind, zu interessiren. 

2. In zweiter Linie scheint es geboten, dass die Medizinalbeamten mehr 
als bisher mit den Abgeordneten Fühlung zu erlangen suchen und sie zum Ein¬ 
treten für die Bestrebungen zur Einführung der Medizinalreform gewinnen. 

3. Es ist dahin zu wirken, dass die den Aerztekammern als Mitglieder 
angehörenden Medizinalbeamten die Kammern zu entschiedenerem Eintreten für 
die Medizinalreform bewegen. 

These ad n. 

Als Thesen, welche die hauptsächlichsten Forderungen der Kreisphysiker 
bezüglich der Aenlerung ihrer Stellung enthalten, stellte Referent die bereits in 
dem Artikel der Nr. 15 der Zeitschrift für Med.-Beamten vom 1. August d. J. 
veröffentlichten auf (s. S. 371 d. Zeitschr.). 

In der sich anschliessenden lebhaften Debatte erklärten sich fast sämmt- 
liehe Anwesenden mit den Ausführungen des Referenten vollständig einverstanden 
und gaben verschiedene Theilnehmer der Versammlung frei und offen ihrer Un¬ 
zufriedenheit über die gegenwärtige Lage der Medizinalbeamten entsprechenden 
Ausdruck. Die unselbstständige und unbestimmte Stellung, die äusserst mangel¬ 
hafte Besoldung, die vielen Täuschungen nach fast jeder Richtung, welche den 
Medizinalbeamten in den letzten Jahren geworden sind, die Thatsache, dass diese 
Täuschungen unschwer hätten vermieden werden können, wenn die Staats¬ 
regierung ernsten Willen gehabt hätte — alle diese trüben Bilder wurden im 
Laufe der Debatte nochmals vorgeführt. Auch gaben verschiedene Herren ihren 
Unwillen darüber kund dass trotz der Gewissenhaftigkeit und der fast allgemein 
anerkannten dienstlichen Arbeitsfreudigkeit, wie sie gerade von einem Medizinal¬ 
beamten gefordert werden müssen, und trotz dvr Opfer, welche von diesen 
Beamten unter Hintansetzung aller sonstigen Interessen, sogar Gesundheit und 



Aus Versammlungen und Vereinen. 


453 


Leben so oft und violfach gebracht werden, dennoch für alle diese Leistungen 
die Staatsregierung keinerlei Aequivalent biete, obwohl schon seit Jahren von 
verschiedenen Seiten im hohen Hause der Abgeordneten hierzu offen die Hand 
geboten wurde und auch sogar bereits ein bezüglicher Antrag in Aussicht ge¬ 
stellt worden ist. Die vom Eeferenten vorgeschlagenen Thesen wurden ein¬ 
stimmig angenommen. 

lieber den zweiten Punkt der Tagesordnung „Desinfektoren und Des¬ 
infektionen auf dem platten Lande“ referirte kurz Herr Kreisphysikus 
Sanitätsrath Dr Rohrs (Rotenburg) und führte hierbei aus, was unter heutigen 
Verhältnissen thatsächlich nach dieser Richtung geschehen sei und was wohl 
hätte geschehen können. Man wurde bezüglich dieses Punktes darüber einig, 
dass die Gemeinden für sanitäre Zwecke eben so wenig die erforderlichen Geld¬ 
mittel bereit stellen, wie dies seitens des Staates geschehe; würde nach dieser 
Richtung hin Abhülfe geschaffen und mit entsprechender Energie vorgegangen, 
dann sei nach den bislang gemachten Erfahrungen eine Desinfektion auf dem 
platten Lande ebenso durchführbar wie in den Städten. Dass dieselbe durchaus 
nothwendig sei, wurde allseitig anerkannt. 

Nachdem für das nächste Jahr Bremen zum Versammlungsort ausgewählt 
war, wurde die Versammlung geschlossen und vereinigten sich sämmtliche Thcil- 
nehmer zu einem gemeinsamen Mittagessen. 

Dr. Westrum -Geestemünde. 


Im Anschluss an den vorstehenden Bericht bringen wir nachstehend einige 
Bemerkungen eines Theilnehmers der obigen Versammlung, des Kreisphysikus 
San.-Rath Dr. Ritter in Bremervörde, die dieser der Redaktion zur Veröffent¬ 
lichung zugeschickt hat. Dieselben lauten wie folgt: 

„Die Arbeit des Physikus lässt sich nach der faktisch geleisteten nicht 
beurtheilen, sie ist eine viel grössere. Seit ich mein Physikat verwalte, habe 
ich trotz geringer Amtsgeschäfte die medizinischen Studien fast ganz an die 
Seite schieben müssen. Die Studien über Hygiene und gerichtliche Medizin haben 
sie ganz verdrängt. Das herbe Urtheil, welches in dem Kursus in Berlin über 
die Physiker gefällt ist und welches ein pietätsvoll gehegtes Bild zu Grabe 
trägt, kann un9 nicht wankend machen in den Aufgaben, welche uns gestellt 
sind. Auch wenn uns die Choleradiagnose genommen ist, müssen wir doch im 
Stande sein, sie zu machen. Dazu gehört aber stetige Arbeit, in welcher wir 
um so weniger erlahmen dürfen, da unsere Forderungen eine bis dahin nicht 
ausgesprochene Höhe annehmen. Die Studien für das Physikat verdrängen die 
medizinischen; wer ein Physikat verwaltet, muss die medizinischen Studien auf¬ 
geben, er bleibt in ihnen zurück und ist für die Praxis nicht mehr tauglich. 
Wer Physikus werden will, muss auf die Praxis verzichten. 

Die dringende Nothwendigkeit einer Medizinalreform erkenne ich ebenso 
wie jeder Kreisphysikus an, gegen die Form der vom Kollegen Ru sack auf¬ 
gestellten Thesen habe ich aber doch einige Bedenken. 

Die Medizinalreform kann meines Erachtens nicht übereilt gelöst werden; 
es muss vielmehr eine vorläufige Lösung gesucht werden. Die Rede des Herrn 
Ministers, welche unsere so nahe scheinenden Hoffnungen völlig auf die Seite 
schob, ist sachlich leider, vollauf begründet. Wie kann eine Reform geschehen, 
wo man überall in Versuchen steckt? Vor 18 Jahren sind in Hannover Kreis¬ 
wundärzte in grossen Physikaten eingerichtet, nach 10 Jahren wurden die Kreis¬ 
wundärzte abgeschafft und kleine Physikate gebildet. In anderen Provinzen 
sind die Kreiswundärzte und die grossen Physikate geblieben. Diese Frage 
wäre zuerst zu entscheiden und zu dieser Entscheidung findet sich bis jetzt 
keine Spur des Anfanges. 

Ferner ist zu entscheiden, ob zu Physikern Aerzte in jüngerem oder 
höherem Alter auszusuchen sind. Diese Entscheidung muss fallen, ehe die Reform 
eintritt. Für den beanspruchten Gehalt sind junge völlig ausgebildete Aerzte 
nicht zu haben, schlechtere würden nicht genügen. Ich verzichte darauf diesen 
Gedanken weiter auszuführen, da es zu weitläufig wäre; spreche aber meine 
Meinung dahin aus, dass ein reiferes Alter die richtige Verwaltung des Amtes 
gewährleistet. 

Nach meiner Meinung steht also die Medizinalreform noch in weitem 
Felde, aber einzelne Forderungen lassen sich schon vorher lösen. Zunächst die 



454 


Kleinere Mitteilungen und Referate aus Zeitschriften. 


Abhängigkeit vom Landrathe, welche bei dem häufigen Wechsel dieser meist 
jungen Beamten das Amt völlig lähmt. Den Beweis werden mir die Leser 
dieser Zeitschrift erlassen. Vor Allem ist aber die Feststellung der Staatsdiener¬ 
stellung und eine Erhöhung des jetzigen kümmerlichen Gehalts notwendig, von 
dem ausserdem, sehr mässig geschätzt, ein Drittel für die sachlichen Ausgaben 
des Physikatcs: Bücher, Instrumente etc., verlustig geht. Durch Gewährung 
eines entsprechenden Gehaltes muss von Seiten des Staates aber ausgedröckt 
werden, dass das Amt eines Physikus den ganzen Mann, nicht den sechsten Theil 
desselben verlangt. 

Nach den jüngsten Mittheilungen in den politischen Blättern scheinen 
manche erwartete Reformen, zu denen der preussische Etat die Mittel bieten 
sollte, mit Rücksicht auf die Finanzlage im nächsten Etatsjahre nicht zur Aas¬ 
führung zu kommen. Dass die Medizinalreform zu diesen gehören wird, steht 
nach den bisherigen Erfahrungen leider zu befürchten.“ 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

A. Gerichtliche Medizin. 

Atypische Lage der Einschussöffnung beim Selbstmord durch 
Schuss in den Kopf. Von Dr. Albin Hab erd a, Assistenten am Institut für 
gerichtliche Medizin des Herrn Hofrathes Prof. E. von Hoffmann in Wien. 
Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin, 3. Folge, V. 2. 

Bei der gerichtsärztlichen Beurtheilung von Schüssen in den Kopf ist 
man gewöhnt, neben der Berücksichtigung der ermittelten Umstände besonders 
die Eingangsöffnung zu beachten und an Selbstmord zu denkeu, wenn die Ein- 
gangsöffnung sich an bestimmten, typischen Stellen befindet und es sich gleich¬ 
zeitig um einen Naheschuss handelt. Die typischen Stellen sind: Schläfe, Stirn, 
Mund und Kinn. Dass aber auch Abweichungen der sonderbarsten Art Vor¬ 
kommen, beweisen die vom Verfasser zusammengestellten Fälle von ungewöhn¬ 
lichem Sitze der Verletzung bei Selbstmord, von denen nachstehende hervorgehoben 
werden sollen: 

1. Einschussöffnung im linken Scheitelbein nahe dem Winkel zwischen 
dem hinteren Ende der Pfeilnaht und der Spitze des Hinterhauptbeines. 

2. Dem Einschuss entsprach eine Knochensplitterung im linken Scheitel¬ 
beine entsprechend der Pfeilnaht und 15 mm über der Spitze der Lambdanaht. 
Dieser Schuss wirkte nicht tödtlich, der Tod wurde durch einen zweiten in die 
linke Brust abgegebenen Schuss herbeigeführt. 

3. Am Hinterkopfe unter dem Haarwirbel eine rundliche, für die Fingerkuppe 
passirbare Oeffnung; hierbei war der Sektionsbefund folgender: Am Vereinigungs¬ 
punkt der Pfeil- und Lambdanaht eine unregelmässig rundliche,aussen scharfrandige 
und nach innen abgeschrägte, bis 12 mm weite stark geschwärzte Oeffnung. Schädel¬ 
dach fast vollständig abgesprengt und zwar entsprechend jener Circumferenz, in 
der man es bei Sektionen aufzusägen pflegt. 

4. Einschussöffnung im vorderen oberen Winkel des rechten Scheitelbeines, 

1 cm nach aussen von der Pfeilnabt und 3 mm hinter der rechten Kranz¬ 
nahthälfte. 

5. Einschussöffnung am rechten Tuber parietale. 

6. 7—8 mm weite nach innen abgeschrägte Schusswunde gerade hinter 
der Basis des rechten Warzenfortsatzes. 

Diese Fälle beweisen zur Genüge, dass es eigentlich keine Stelle am 
Kopfe giebt, an welcher der Selbstmörder nicht, allerdings mit koraplizirten 
Handgriffen, die Waffe mit Erfolg abfeuern könnte. Die Kenntniss dieser That- 
sachen ist aber für den Gerichtsarzt wichtig, weil man bei sonstigem Fehlen 
von Nebenumständen sich sehr hüten wird, die Schuld eines Dritten anzunehmen, 
den Selbstmord also auszuschliessen, so bald sich etwa die Einschussöffnung nicht 
an den oben bezeichneten typischen Stellen befindet. 

Dr. Israel-Medenau (Ostpr.). 


Selbsterdrosselnng eines Alkoholikers. Von demselben. Ebendaselbst. 
Ein 34 Jahre alter Alkoholiker hatte auf der psychiatrischen Klinik des 
allgemeinen Krankenhauses in Wien sich selbst erdrosselt, indem er dazu einen 



Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften. 


455 


aus dem Rückentheil seines durch Urin ganz durchnässten Spitalhemdes gerisse¬ 
nen breiten Streifen benutzte, der nicht geknüpft, sondern mittelst einfacher 
Schlinge zugezogen vorgefunden wurde. Der gleich darauf hinzugerufene Arzt 
fand neben Ecchymosen an den Bindehäuten, Blut vor Nase und Mund, am Halse 
eine deutliche, ganz frische, offenbar von einem breiten Umschnürungsmittel 
herrührende Strangfurche. Bei der Sektion war die Haut am Vorderhalse 
zwischen den Kopfnickern unterhalb der halben Halshöhe in’s Grauviolette ver¬ 
färbt; rechts rückwärts über dem M. cucullaris ein fingerbreiter, nicht ver¬ 
tiefter blasser Streifen. Unter der Halshaut und zwar unter dem rechten Unter¬ 
kieferwinkel eine kreuzergrosse Unterlaufung mit geronnenem Blute. Eine 
weniger intensive Blutung ferner unter der Scheide des rechten M. sternothyreoi- 
deus und in beiden Mm. cricothyreoideis. Auf beiden Seiten des Ringknorpels 
unter dem Perichondrium ein flacher, über linsengrosser Blutaustritt, unter dem 
sich beiderseits je ein 1 cm langer, zackiger von aussen oben nach innen unten 
schräg verlaufender Sprung im Ringknorpel vorfand. Rechts im Zellgewebe 
über der Vorderseite der Halswirbelsäule ein kleiner flacher Blutaustritt. Im 
Gesicht ausgesprochene Zeichen des Erstickungstodes, der in diesem Falle 
zweifellos durch Selbsterdrosselung erfolgt ist. Auch hier fanden sich also, wie 
dies beim Erdrosseln ja häufig vorkommt, Verletzungen der Halsorgane. Ders. 


Ein Fall von Salpetersäure Vergiftung. Von Dr. Carl Ipsen, 
Assistenten am Institut für gerichtliche Medizin in Graz. (Mit 2 Tafeln.) Viertel¬ 
jahrsschrift für gerichtliche Medizin 1893, Band VI, 3. Heft. 

Einen willkommenen Beitrag zur Lehre von der Salpetersäurevergiftung 
liefert Ipsen durch die Beschreibung eines von ihm obduzirten Falles, an den 
sich eingehende Untersuchungen über die Blutbeschaffenheit anschlossen. Ausser 
den hierbei gewonnenen Beobachtungen über die Vertheilung der Säure im 
Organismus und die durch sie bewirkten Veränderungen der Alkalinität des 
Blutes, ist der Fall noch dadurch bemerkenswerth, dass die mikroskopische 
Untersuchung der Organe neue Anschauungen über die Wirkung der Mineral¬ 
säuren auf die Nieren zu Tage förderte. 

Eine 65 jährige, hereditär schwer belastete Person, hatte 4 Stunden nach 
dem Frühstück, das aus einer kleinen Tasse Milch mit einem Stückchen Semmel 
bestanden, also auf vollkommen leeren Magen, 125 ccm rauchende kon- 
zentrirte Salpetersäure in selbstmörderischer Absicht geleert. Drei 
Stunden nach Einverleibung des Giftes erfolgte der Tod; bei dem ausgesproche¬ 
nen Kollaps, der starken Dyspnoe und Cyanose war von der Einwirkung von 
Magnesia usta und Magenausspülung abgesehen worden. 19 Stunden p. m. wurde 
die Sektion vorgenommen. Indem bezüglich der Einzelheiten des Obduktions¬ 
resultates und der weiter angestellten Untersuchungen auf das Original ver¬ 
wiesen wird, mag hier nur noch hervorgehoben werden, dass Ipsen zu folgenden 
Schlüssen gelangt: 

1. Das anatomische Bild der Salpetersäurevergiftung wird durch post¬ 
mortale Vorgänge wesentlich beeinflusst. Wichtig ist insbesondere die durch 
Diffusion der Säure auch bei unverletzter Magen wand erfolgende Anätzung der 
Nachbarorgane und Erstarrung des Blutes im Herzen und in den grossen Gelassen. 

2. Uebereinstimmend mit den Resultaten der Thierexperimente findet sich 
auch beim Menschen selbst nach grosser Säurezufuhr die Alkalinität des Blutes 
erhalten, wenngleich die Verarmung des Blutes an Alkalien eine sehr be¬ 
deutende ist. 

3. Der Tod erfolgt bei den rasch verlaufenden Fällen der Säurevergiftung 
noch vor dem Umschlagen der alkalischen in die sauere Reaktion in Folge der 
grossen Alkalientziehung aus den plasmatischen Körperflüssigkeiten, die von 
Störungen der Athmung und Cirkulation begleitet ist. 

4. Nächst den lokal affizirten Stellen des Digestionsrohres zeigen die 
Nieren sehr schwere Veränderungen im Bereiche der Epithelzellen, die das 
Bild weitgediehener Koagulationsnekrose darbieten. Dr. Dütschke-Aurich. 


B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Die Cholera. Von Prof. Dr. Gaffky. Referat auf dem diesjährigen 
zwölften Kongress für innere Medizin. 

Es ist natürlich nicht möglich, dass im Rahmen eines derartigen Referates 



456 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


alle Seiten der weitschichtigen Cholerafrage in gleicher Weise zu ihrem Recht 
kommen; und in der That nimmt Gaffky auch nur einigen dieser engeren 
Fragen gegenüber Stellung, während andere nur obenhin gestreift werden, andere 
gar keine Erwähnung finden. Im Uebrigen wird dem Bericht sowohl durch die 
Versammlung, der derselbe erstattet wurde, als auch durch die Person des Be¬ 
richterstatters ein hoher Werth gesichert, welcher ihm auch thatsächlich eigen 
ist. Gaffky nimmt vielfach Bezug auf Griesinger, den er häufig wörtlich 
anführt — mit vollem Recht! Denn auch heute noch ist das Griesing er’sche 
Werk über Infektionskrankheiten, welches in 1. Auflage bereits 1857 als Theil 
des Virchow’sehen Sammelwerkes erschien, immer noch das Beste und Ge¬ 
diegenste, was die deutsche Literatur auf diesem Gebiete besitzt! Es ist in 
hohem Grade interessant und eine sehr wesentliche Stütze der mit Unrecht von 
Pettenkofer konsequent als die „kontagionistische“ bezeichneten Schule, dass 
scharfe Beobachter, wie Griesinger dem von ihnen nicht gekannten, aber mit 
Bestimmtheit vorausgesetzten „Cholerakeim“ lediglich auf Grund klinischer und 
epidemiologischer Forschung genau diejenigen Lebenseigenschaften zusprechen 
konnten, welche ein Menschenalter später die Bakteriologie an dem Cholera- 
Bacillus thatsächlich entdeckte. Beispielsweise ist sich Griesinger der grossen 
Bedeutung sehr wohl bewusst, welche gerade den leichten und leichtesten 
Cholerafällen für die Verschleppung der Seuche zukommt und es ist ihm eine 
ausgemachte Thatsache, dass Personen, die anscheinend ganz gesund sind, den 
spezifischen Keim mit ihren Ausleerungen gerade so verbreiten können, wie die 
schwersten Fälle asphyktischer Cholera. Die bakteriologische Forschung hat für 
diese, aus Beobachtungen epidemiologischer Thatsachen logisch gefolgerten 
Schlüsse des scharfsinnigen Klinikers, den exakten, naturwissenschaftlichen Beweis 
geliefert. Der Nachweis, dass ganz gesund erscheinende Personen in ihrem 
Darmkanal den Cholerabacillus beherbergen und demgemäss auch Verschleppen 
können — so viel mir bekannt, zuerst von Flatten erbracht — ist ein recht 
werthvolles Ergebniss vorjähriger Choleraforschung! Gaffky liefert dazu ein 
paar sehr lehrreiche Beispiele aus der Hamburger Epidemie. Von dem spani¬ 
schen Dampfer Murciano, auf welchem im Januar 1893 im Hamburger Hafen 
zwei Matrosen an Cholera erkrankten, wurde die übrige, 24 Köpfe starke 
Mannschaft zur Beobachtung ihres Gesundheitszustandes isolirt und wurden ihre 
Ausleerungen bakteriologisch untersucht. Bei drei Leuten, welche täglich einmal 
dünnen Stuhlgang hatten und im festen Stuhlgang eines vierten fanden sich 
reichliche Cholerabakterien, während die Leute sich andauernd vollständig wohl 
befanden. Dasselbe Resultat ergab sich bei der farbigen Mannschaft des zu 
gleicher Zeit und zweifellos vom Murciano aus infizirten Dampfers „Gret- 
chen Bohlen“. Auch hier erkrankten zwei Mann an Cholera, während in dein 
Stuhlgang von vier, sonst gar nicht erkrankten Leuten das Kulturverfahren 
Cholera - Bazillen nachwies. 

Diese Thatsache, deren Konsequenzen in praktischer Beziehung von weit- 
tragendster Bedeutung sind, erklärt in voll ausreichender Weise den angeblich 
negativen, sehr mit Unrecht so aufgebauschten Ausfall der bekannten P e 11 e n- 
kofer - Ein m erich’schen Selbstexperimente und weist beiden Er¬ 
krankungsfällen ihre Stelle unter der sepezifiseken Cholera-Diarrhoe an. Von 
demselben Standpunkt aus sind auch die von Hasterlik in Wien an vier 
Versuchspersonen angestellten, übrigens nach Gaffky zum Theil nicht einwand¬ 
freien Selbstinfektionsversuche, sowie die bekannten beiden Fälle von unbeab¬ 
sichtigter „Laboratoriumscholera“ zu betrachten. 

Die zunächst recht blendend erscheinende Hypothese Hüppe’s, wonach 
der Cholera-Bacillus im Darm in Folge der ihm dort aufgezwungenen Anaerobiose 
geschwächt und zu unmittelbarer Infektion nicht tauglich sein, aber durch 
saprophytisches Wachsthum in der freien Natur in kurzer Zeit die nüthige 
Lebenskraft zur Ueberwinduug der natürlichen Widerstandskraft des mensch¬ 
lichen Organismus erlangen soll, hält Gaffky durch die schwere, bei strengster 
Winterkälte durch infizirtes Wasser verursachte Nietlebener Epidemie für voll¬ 
ständig widerlegt. Allerdings glaubt auch Gaffky, dass es unter besonders 
günstigen äusseren Umständen auch ausserhalb des Körpers, besonders im Wasser 
und auf Nahrungsmitteln gelegentlich zu einer saprophytischen Vermehrung 
kommt; nothweudig aber — und darauf komme es an — sei ein solches sapro¬ 
phytisches Wachsthum für das Entstehen einer Choleraepidemie nicht. „Nicht 
die saprophytische, sondern die parasitische Vermehrung der 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


457 


Cholera-Vibrionen ist, wenigstens für unsere Breiten, zweifel¬ 
los die Regel!“ 

Sehr interessant und treffend sind die Bemerkungen über die Wasserfrage 
und es ist sehr bedauerlich, dass Gaffky bei diesem so wichtigen Thema nicht 
länger verweilen konnte. Mit Recht hebt er hervor, dass, im Wasser aufge¬ 
schwemmt, die Cholera-Vibrionen besonders leicht den Magen ungefährdet 
passiren können, danach den Ewald ’ sehen Versuchen in den nüchternen Magen 
eingeführtes Wasser, ohne saure Reaktion angenommen zu haben, in den Dünn¬ 
darm übertreten kann. „Ein Krankenwärter, der seine mit Cholera- 
dejektionen beschmutzten Hände zum Munde führt und dabei 
Cholera-Vibrionen verschluckt, ist offenbar ausserordentlich 
viel weniger gefährdet, als ein Schiffer, welcher dieselbe 
Menge von Infektionskeimen mit einem reichlichen Trunk 
infizirten Flusswassers in seinen leeren Magen hineinbringt.“ 

Diese bisher noch lange nicht genug gewürdigten Verhältnisse seien 
auch heranzuziehen zur Erklärung des zeitlichen Verhaltens der 
Cholera in unseren Breiten; denn es sei naturgemäss, dass die Infektion 
durch die Aufnahme relativ grosser Wassermengen in den nüchternen Magen 
gerade in derjenigen Jahreszeit, wo das Bedürfniss nach ausgiebigem Wasser¬ 
genuss sich am Meisten geltend mache, also im Spätsommer und im Frühherbst, 
am häufigsten zu epidemischer Ausbreitung führen müsse. Erst indirekt und 
zwar in anderer Weise, als Pettenkofer annahm, könne auch eine relativ 
geringe Menge atmosphärischer Niederschläge der Verbreitung der Krankheit 
Vorschub leisten. Dr. Langerhans-Celle. 

Die Cholera asiatica, eine durch Cholerahazillen verursachte Ni¬ 
tritvergiftung. Von Prof. Dr. Rud. Emmerich und Prof. Dr. Tsuboi. 
Münchener medizinische Wochenschrift 1893; Nr. 24, 26 u. 32. 

Die bisherigen Arbeiten über die Giftsubstanzen der Kommabazillen sind 
nach Ansicht der vorgenannten Forscher für die Pathogenese der Cholera asiatica 
beim Menschen nicht verwerthbar; denn im Choleradarm handelt es sich nicht 
um ein Absterben der Kommabazillen, sondern um eine üppige Weiterent¬ 
wicklung und Vermehrung derselben. Alle in Kulturen u. 8. w. nachweisbaren, 
aus der Zellensubstanz abgestorbener Kommabazillen stammenden giftigen Ei¬ 
weissstoffe können somit als Ursache der charakteristischen Vergiftungserschei¬ 
nungen bei Cholera nicht in Betracht kommen, und um so näher lag daher die 
Frage, ob jene Erscheinungen nicht etwa aus der Wirkung anderer, schon be¬ 
kannter Produkte der Lebensthätigkeit der Cholerabazillen erklärt werden 
könnten. 

Es ist bekannt, dass Kommabazillen in künstlichen Kulturen ansehnliche 
Mengen Nitrit produziren und dass ihnen dieses Vermögen, aus Nitraten sal¬ 
petrige Säure zu bilden, mehr als anderen Bakterien zukommt. Es ist weiter 
durch die Versuche von Oskar Löw erwiesen, dass jede Substanz, die bei grosser 
Verdünnung entweder in Aldehyd- oder in Ainidogruppen einzugreifen vermag, auch 
ein Gift für alles Lebende sein muss und dass sich diese Folgerung auch mit 
Bezug auf die salpetrige Säure als zutreffend bestätigt hat. Es galt demnach 
zunächst festzustellen, in welchen Mengen die salpetrige Säure bezw. Nitrite 
giftig wirken und ob und inwiefern die Vergiftungssymptoine mit den bei der 
Cholera beobachteten übereinstimmen. Die von Emmerich und Tsuboi bei 
Meerschweinchen, Kaninchen und Hunden Angestellten zahlreichen Versuche haben 
nun eine vollständige Ueber einst i in m un g des Krankheitsbildes der 
Nitritvergiftung mit denjenigen der Cholera in allen seinen Ein¬ 
zelheiten (auch pathologisch - anatomisch) ergeben. Ueber Nitritvergiltungen 
beim Menschen liegen allerdings bis jetzt nur wenige Beobachtungen vor, aber 
auch diese lassen bis auf wenige unbedeutende und leicht erklärliche Ab¬ 
weichungen eine auffallende IJebereiustimmung der Iutoxikationserscheinungen 
mit deu Ivrankheitserscheinungen der Cholera erkennen, besonders in Bezug auf 
diu ilauptsyiuptome: Schwindel, Erbrechen, Diarrhoe, subnormale Temperatur- 
Cyanose des Gesichts, der Lippen und Hände, Kälte der Extremitäten, Vermin¬ 
derung der Harnabsonderung u. s. w. Nur die Reiswasser ähnlichen Stühle 
fehlen zuweilen bei der akuten Nitritvergiftung; das erklärt sich zum Theil aus 
dem raschen Verlauf, grösstentheils aber daraus, dass die grösste oder die ge¬ 
summte Menge des Nitrits schon im Magen resorbirt wird, während bei der 



458 


Kleinere Mittheilnngen und Referate aus Zeitschriften. 


Cholera die salpetrige Säure nicht ira Magen, sondern ganz allmählig im Darm 
gebildet wird, hier das Darinepithel abtödtet, und dadurch den Flüssigkeitserguss 
in’s Darmlumen, die Reiswasserstühle, hervorruft. 

Beweisend für die Annahme einer Nitritvergiftung bei Cholera halten die 
Verfasser ferner das übereinstimmende Auftretenvon Methämoglobin im 
Blute. Dasselbe lässt sich spektroskopisch nach weisen (namentlich durch den 
charakteristischen Absorptionsstreifen ira Roth zwischen C und D) und dieser 
Streifen fehlt weder bei der Nitritvergiftung, noch im Blute der an Cholera ver¬ 
endeten Meerschweinchen. Allerdings giebt es ausser der salpetrigen Säure noch 
eine Reihe anderer chemischer Substanzen, die zur Bildung von Methämoglobin im 
Blute führen, alle diese Stoffe kommen aber für die vorliegende Frage nicht in 
Betracht, da ihre Intoxikationserscheinungen wesentlich von denen der Cholera 
abweichen. Desgleichen reduziren alle anderen nitritbildenden Bakterien nicht 
allein die Nitrate viel langsamer und in viel geringerer Menge, sondern es man¬ 
gelt ihnen auch sämmtlich das Vermögen, im menschlichen Darm zu vegetiren 
oder sich wenigstens hier in dem Masse wie die Cholerabazillen zu vermehren. 
Ausserdem vermögen die Cholerabazillen neben Nitrit zugleich auch Säure (Milch¬ 
säure) aus Kohlenhydraten zu produziren, eine Fähigkeit, die, soweit bekannt, 
anderen Nitrit bildenden Bakterien nicht zukommt und die andererseits für das 
Zustandekommen der Sapetersäure-Vergiftung nothwendig ist. 

Als weiteren Beweis für ihre Theorie führen die Verfasser das Vorkommen 
von reichlichen Nitratmengen im Trinkwasser und in den vegetabilischen Nahrungs¬ 
mitteln des Menschen an, wodurch die Produktion von für die Vergiftung aus¬ 
reichenden Mengen von Nitrit im Darm ermöglicht wird. Daraus erklärt sich, 
dass die hauptsächlich auf vegetabilische, nitratreiche Nahrungsmittel angewie¬ 
sene ärmere Bevölkerung von der Cholera weit mehr als die besser situirten 
Klassen heimgesucht wird. Andererseits sei daraus der Schluss gerechtfertigt, 
in Cholerazeiten vor den Genuss von derartigen Nahrungsmitteln wie Salat, Ge¬ 
müse u. s. w. zu warnen und auch den Genuss von Kohlenhydraten, wie Kar¬ 
toffeln, Reis u. s. w. thunlichst einzuschränken, da diese der Bildung von Milch¬ 
säure Vorschub leisten. Auch beim Meerschweinchen wird durch nitratreiche 
Nahrung (Rübenfütterung) die Cholerainfektion begünstigt und deren Verlauf 
beschleunigt. 

Es wird ferner darauf hingewiesen, dass Cholerabazillen die vorhandenen 
Nitratmengen sehr schnell zu Nitrit reduziren und dadurch in wenigen Stunden 
eine höchst akute Vergiftung herbeiführen können, und zwar beim Menschen 
um so mehr, als dieser merkwürdiger Weise empfindlicher gegen Nitrite 
sei als alle lebenden Wesen, insbesondere auch als alle anderen Säuge- 
thiere; denn die Menge Nitrit (0,2 gr), welche nüthig sei, um ein Kaninchen 
von 2 Kilo Gewicht zu tödten, genüge schon, um bei einem 70 Kilo schweren 
Menschen die schwersten Vergiftungserscheinungen hervorzurufen. Endlich spräche 
auch die Beobachtung für die in Rede stehende Theorie, dass Cholerabazillen, 
die ein grösseres Reduktionsvermögeu besitzen, eine intensivere Infektion beim 
Meerschweinchen bewirken, als solche mit geringerem Nitritbildungsvennögen. 

Wie nicht anders zu erwarten war, ist die von Emmerich und Tsuboi 
aufgestellte Hypothese, dass die Cholera als eine Nitritvergiftung zu betrachten 
sei, von anderer Seite als irrthümlich angegriffen worden. Insbesondere hat 
Klemperer in Nr. 31 der Berl. Klin. Wochenschrift versucht, dieselbe zu 
widerlegen. Er betont zunächst, dass die Uebereinstimmung der Krankheits¬ 
symptome und die pathologisch • anatomischen Veränderungen bei Cholera asiatica 
und Nitritvergiftung keineswegs ausreiche, um die Thatsache zu beweisen, das die 
salpetrige Säure das Gift der Cholerabazillen sei; denn auch bei anderen Krank¬ 
heiten werden, obwohl sie durch verschiedene Gifte hervorgerufen sind, klinisch und 
anatomisch dieselben Symptome beobachtet. Um die salpetrige Säure als Cholera¬ 
gift annehmen zu können, müsse erst bewiesen werden, dass die Virulenz der Cholera¬ 
bazillen thatsäehlich mit ihrer nitritbildenden Kraft parallel gehe; das sei aber 
nach seinen Versuchen keineswegs der Fall, denn die typischen Erscheinungen 
der Choleravergiftung werden ebenso gut von Cholerabazillen ausgelöst, denen 
durch Erwärmung die nitritbildende Fähigkeit genommen ist, und umgekehrt 
kann die Giftigkeit der Cholerabazillen abgeschwächt sein, ohne dass gleich¬ 
zeitig ihre Fähigkeit, Nitrite zu bilden, eine Abnahme erfahren hat. Ausserdem 
habe ein Bakteriengift die spezifische Eigenschaft, durch Einimpfen gewisser 
Mengen den thierischen Organismus gegen dieses Gift zu immunisiren; diese 



Kleinere Mittheilungen und Referate atu» Zeitschriften. 


459 


Eigenschaft fehle aber der salpetrigen Säure und deren Salzen, da mit Ni¬ 
triten geimpfte Meerschweinchen nach einer tödtlichen Gabe von Kaliumnitrat 
schutzlos zu Grunde gehen. Auch die Uebereinstimmung in Bezug auf die Bil¬ 
dung von Methämoglobin bei Cholera- und Nitritvergiftung sei ohne Werth; denn 
einmal werde der Methämoglobinstreifen nach Choleravergiftungen keineswegs 
immer regelmässig gefunden, andererseits komme er auch bei anderen schwereren 
Intoxikationen und Infektionskrankheiten als Folge der Giftwirkung auf die 
rothen Blutkörperchen vor und könne somit auch bei Cholera die Möglichkeit 
seiner Bildung ohne Hilfe salpetrigsaurer Salze nicht bestritten werden. 

Demgegegentiber halten Emmerich und Tsuboi an ihrer Hypothese 
fest und weisen darauf hin, dass die von ihnen hervorgehobene Uebereinstim- 
mung von Cholera- und Nitritvergiftung in Bezug anf die Krankheitserschei¬ 
nungen und die Methämoglobinbildung doch nur ein nothwendiges Glied in der 
Kette ihrer Beweise bilde, die sich noch auf eine grosse Anzahl anderer Beob¬ 
achtungen und Erfahrungen stützen Am wesentlichsten falle dabei in’s Ge¬ 
wicht, dass Cholerabazillen viel rascher und in viel grösseren Mengen Nitrit 
bilden, als alle anderen nitritbildenden Bakterien. Auch der von Klemperer 
gemachte Einwand, dass erhitzte Cholerakulturen, bei denen von Nitritbildung 
und Nitritvergiftung nicht die Rede sein könne, trotzdem interperitoneal iujizirt, 
einen tödtlichen Ausgang bewirken, sei völlig belanglos; denn dies lasse sich 
auch mit abgetödteten oder sehr alten Kulturen des Vibrio Me tsc hniko w oder 
Finkler Prior’ sehen Kommabazillen erzielen. Der Tod der Meerschweinchen 
erfolge aber hier, wie dies schon längst von Pfeiffer gezeigt sei, hauptsäch¬ 
lich durch die Resorption des in der Zellsubstanz der Bakterien enthaltenen 
eiweissartigen Giftstoffes, bei der Cholera des Menschen handele es sich jedoch 
nicht um einen Zerfall von Kommabazillen, sondern um eine üppige Vermehrung 
derselben. Die menschliche Cholera werde eben durch Gifte verursacht, die von 
den Cholerabazillen aus dem Substrat (Darminhalt) gebildet werden. 

Zur Entscheidung der Frage, ob der Tod bei menschlicher Cholera durch 
Nitritvergiftung erfolgt, komme es lediglich darauf an, 1) ob die Cholerabazillen 
auch innerhalb des menschlichen und thierischen Darmes in kurzer Zeit solche 
Mengen von Nitrit bilden, dass hierdurch Vergiftung erfolgen muss, und 2) ob mit 
der Nahrung des Menschen thatsächlich hierfür ausreichende Nitratmengen in den 
Darm eingeführt werden ? Für die Bejahung der ersten Frage sprechen die von 
Emmerich und Tsuboi an Hunden gemachten Versuche, die den Beweis 
erbracht haben, dass bei Einführung von Cholerabazillen in den Magen nach 
vorausgegangener Neutralisirung des Magensaftes die gleichzeitig eingeführten 
Nitrate innerhalb weniger Stunden in so grosser Menge zu Nitrit reduzirt werden, 
dass selbst bei grossen, kräftigen und gut genährten Hunden hochgradige 
Cyanose, Beschleunigung der Respiration uud massenhafte Bildung von Methämo¬ 
globin im Blute zu Stande kommen. Diese Versuche haben ausserdem den Be¬ 
weis geliefert, dass die Vermuthung Klemperer’s, die Methämoglobinbildung 
bei Cholera könne durch noch unbekannte chemische Substanzen bedingt sein, 
unrichtig sei. Betreffs der zweiten Frage, ob mit der täglichen Nahrung des 
Menschen regelmässig oder meistens grosse Mengen von Nitraten in den Darm 
gelangen, wird darauf hingewiesen, dass das Brunnenwasser der Städte selten 
unter 0,1 gr Salpetersäure, also 0,2 gr Kaliumnitrat im Liter enthalte. Mit 
einem Liter derartigen Wassers werden aber schon so grosse Mengen von Ni¬ 
traten eingeführt, dass in Folge der Reduktion derselben durch Cholerabazillen 
schwere Vergiftungserscheinungen durch salpetrige Säure entstehen müssen. 
Dazu komme, dass durch andere Nahrungsmittel (Suppe, Bier, Kaffee, Salat, 
Gemüse, Pökelfleisch, Schinken u. s. w. nicht zu unterschätzende Nitratmengen 
aufgenommen werden. Rpd. 


Ein neuer Kommabacillus, Vibrio Berolinensis, ist von Prof. Dr. 
Rubner nach einer Mittheilung in Nr. 16 der hygienischen Rundschau bei den 
während dieses Sommersemesters vorgenommenen Untersuchungen des vorzugs¬ 
weise aus den Stralauer Wasserwerken gelieferten Leitungswassers des Berliner 
hygienischen Institutes entdeckt worden, der eine so weit gehende Aehnliehkeit 
mit dem Bazill der Cholera asiatica hat, dass seine Dift’erenziruug nicht uner¬ 
hebliche Schwierigkeiten bietet, im Gegensatz zu den übrigen in jüngster Zeit 
aus Wasser oder diarrhöischeu Stühlen von Günther, Weibel, Bujwid, 



460 


Besprechungen. 


Löffler, Fischer, Vogler u. s. w. gezüchteten, mit den Cholerabaziilen 
gleichfalls eine gewisse Aehnlichkeit besitzenden Vibrionen. Der von Rubner 
entdeckte Vibrio unterscheidet sich morphologisch garnicht von demjenigen 
der Cholera asiatica; er zeigt wohl ausgebildete Kommaformen, Spirillen fanden 
sich neben lnvolutionsformen nur auf älteren Agarkulturen. Er besitzt eine 
polare Geissei und entfärbt sich nach Gram. 

In der Gelatinestichkultur bleibt der V. Berolineusis gegenüber 
demjenigen der Cholera asiatica etwas zurück; auf Agar und Glycerinagar ist 
kein Unterschied zwischen beiden bemerkbar. Ebenso bildet er auf alkalischer 
Bouillon, Pankreasbouillon, Peptonkochsalzwasser Häutchen, wenn auch etwas 
schneller als der echte Choleravibrio. Vor allem zeichnet er sich aber durch 
eine prächtige Nitrosoindolreaktion aus, die sich in keiner Weise von der¬ 
jenigen dos Cholerabazills unterscheidet. Auch für Meerschweinchen ist er hoch¬ 
gradig pathogen. Dagegen lässt er sich durch die Gelatineplattenkultur 
recht gut von dem Vibrio der echten Cholera unterscheiden. Hier bildet er 
nach 24 Stunden kleine kreisrunde, farblose, feingranulirte Kolonien, die nach 
48 Stunden makroskopisch nocli nicht zu sehen sind uud auch an den nächsten 
Tagen nicht erheblich an Grösse zunehmen. Ihre Unterscheidung von den 
charakterischen Cholerakolonien bietet keine Schwierigkeiten. Rpd. 


Besprechungen 

Dr. Petri, Regierungsrath und Mitglied des kaiserlichen Gesundheits¬ 
amtes in Berlin: Der Cholerakurs im kaiserlichen Ge¬ 
sundheitsamte. Vorträge und bakteriologisches Praktikum. 
Mit zwei in den Text gedruckten Abbildungen und vier Mikro¬ 
photogrammen. Berlin 1893. Verlag von Richard Schoetz. 
Broch. 8°, 259 S. 

Wir stehen in diesem Jahre unter dem Zeichen der Cholera und da ist 
es nicht zu verwundern, wenn die Literatur über diese Volksseuche von Tag zu 
Tag wächst und auf dem Gebiete der Bakteriologie und Hygiene in gleicher 
Weise in den Vordergrund tritt, wie die unzähligen Choleraverfügungen auf 
demjenigen der Sanitätspolizei und Medizinalgesetzgebung. Für den Medizinal¬ 
beamten kann es unter diesen Umständen nur angenehm sein, wenn ihm in dem 
vorliegenden Werke alles dasjenige zusammengefasst geboten wird, was die 
jüngsten Forschungen in Bezug auf die Aetiologie und Epidemiologie der Cholera, 
sowie in Bezug auf ihre Feststellung und auf die zu ihrer Bekämpfung erforder¬ 
lichen Massnahmen festgestellt haben. Wir müssen daher dem Autor dankbar 
sein, dass er dem Wunsche der Theilnehmer der von ihm im kaiserlichen Ge¬ 
sundheitsamte abgehaltenen Cholerakurse Rechnung getragen und den Inhalt 
seiner in diesen Kursen gehaltenen Vorträge durch deren Veröffentlichung auch 
weiteren Kreisen zugänglich gemacht hat. 

Dass Petri vollständig auf dem Standpunkt der Koch’schen Schule 
steht, braucht den Lesern dieser Zeitschrift gegenüber wohl kaum erst besonders 
erwähnt zu werden; seine Anschauungen betreffs der Aetiologie, Verbreitung, 
Diagnose u. s. w. der Cholera stimmen mit denjenigen K o c h ’s völlig überein, 
sie werden nur nicht mit der Schärfe vorgetragen, wie dies in jüngster Zeit von 
Koch und auch zum Theil von seinen Schülern leider geschieht. Petri ver¬ 
meidet thunlichst eine prononcirt polemische Haltung, wohl auch mit Rücksicht 
auf seine amtliche Stellung; sein Buch hat aber dadurch speziell für den prak¬ 
tischen Gebrauch nur an Werth gewonnen. Es zerfällt in zwei Theile, einen 
bakteriologischen und epidemiologischen. In dem ersten, in 12 Tagewerken 
abgetheilfeu Abschnitt werden in systematischer und ausführlicher Weise die 
erforderlichen Anweisungen zur bakteriologischen Diagnose der Cholera gegeben, 
unter Beiseitelassen alles nicht für diesen Zweck unbedingt Nothwendigen; 
während der zweite Abschnitt des Buches in 8 Vorträgen eine umfassende Dar¬ 
stellung der Aetiologie und Epidemiologie der Cholera (die Aetiologie des ein¬ 
zelnen Choleralälles, Naturgeschichte uud Biologie des Cholerabacillus, Verbreitungs¬ 
weise der Cholera und ihre pandemischen Züge, Bedeutung der verschiedenen 
Verkehrswege und sonstigen Momente für die Verbreitung der Seuche u. s. w.) 



Besprechungen. 


461 


bringt unter Anschluss einer eingehenden Besprechung der zu ihrer Bekämpfung 
nothwendigen hygienischen und sanitätspolizeilichen Massregeln. Als Anhang 
sind die diesbezüglichen amtlichen Verfügungen u. s w. aufgenommen. 

Ein näheres Eingehen auf den reichen und interessanten Inhalt deB 
Werkes würde den Rahmen eines kurzen Referates überschreiten. Aus dem 
zweiten Theile werden besonders diejenigen Erfahrungen interessiren, die bei 
der vorjährigen Choleraepidemie gesammelt und die von dem Verfasser ge¬ 
bührend berücksichtigt sind. Derjenige Medizinalbeamte aber, der, trotzdem er 
jetzt mit der bakteriologischen Choleradiagnose amtlich nichts mehr zu thun hat, 
dem Petri’schen Rathe folgen und sich auch ferner an diese angeblich 
so „schwierige“ Aufgabe heran „wagen“ will, wird in dem bakteriolo¬ 
gischen Theile des Buches einen absolut zuverlässigen und unentbehrlichen 
Rathgeber finden. 

Die Anschaffung des vorzüglich ausgestatteten Buches sei allen Medizinal¬ 
beamten aufs Wärmste empfohlen! Rpd. 


Dr. Hermann Lenhartz, Professor in Leipzig: Mikroskopie und 
Chemie am Krankenbett. Leitfaden bei der klinischen 
Untersuchung. Für Aerzte und Studirende. Mit zahlreichen, 
in den Text gedruckten Abbildungen und drei lithographischen 
Tafeln. Berlin 1893. Verlag von Jul. Springer. Gr. 8°, 292 S. 

Verfasser hat in dem vorliegenden Buche diejenigen klinischen Unter¬ 
suchungsmethoden behandelt, die leider nicht selten von den Aerzten während 
der Studienzeit etwas vernachlässigt werden. Nach einer kurzen Einleitung über 
die Einrichtung, Auswahl und Handhabung des Mikroskopes und die bei dem 
Gebrauche desselben erforderlichen Reagentien, Farbstoffe und Hülfsgeräthe 
werden im ersten Theile des Leitfadens zunächst die pflanzlichen und thierischen 
pathogenen Parasiten erörtert. Dass hierbei die „Bakterien“ nicht so eingehend 
besprochen sind, um dem Arzte wie dem Studirenden ein besonderes Lehrbuch 
über Bakteriologie zu ersetzen nnd ihn zum selbstständigen Arbeiten auf diesem 
Gebiete zu befähigen, ist bei dem Umfang des Werkes nicht zu verwundern. 
Recht ausführlich und völlig erschöpfend sind dagegen die übrigen Abschnitte 
über die Untersuchung des Blutes bei Kranken und Gesunden (llj, des Aus¬ 
wurfs (DI), des Mundhöhlensekrets, der Magen- und Darmentleerungen (HI), 
des Harns (IV) und der Punktionsflüssigkeiten (V). Hier hat es der Verfasser 
trotz des überaus reichen Stoffes verstanden, in knapper und ungemein klarer 
Darstellungsweise sowie an der Hand seiner eigenen reichen Erfahrungen als 
Arzt und Lehrer alles Wissenswerthe auf diesem Gebiete zusammenzufassen 
nnd alle wichtigeren für den Arzt, auch für den Gerichtsarzt, nothwendigen 
Untersuchungsmethoden zu berücksichtigen. 

Verfasser hat das Bestreben gehabt, den Aerzten und Studirenden ein 
Leitfaden zu bieten, um diese sowohl Uber die klinisch - mikroskopischen und 
chemischen Untersuchungsmethoden, als über deren diagnostische Verwerthung 
in der Praxis zu unterrichten. Diesen Zweck hat er im vollsten Masse erreicht 
und ist dabei durch die Verlagsbuchhandlung in anerkennenswerther Weise 
unterstützt worden. Das Buch zeichnet sich durch eine vorzügliche Ausstattung 
aus, insonderheit lässt die Ausführung der zahlreichen, vorwiegend nach Origi¬ 
nalien gezeichneten, höchst instruktiven Abbildungen nichts zu wünschen übrig. 
Dasselbe gilt betreffs der beigefügten drei lithographischen Tafeln, mit ihren 
vortrefflichen farbigen Darstellungen der hauptsächlichsten pathogenen Bakterien, 
der linealen Leukämie u. s. w. Ders. 


Dr. Fritz Elsner: Die Praxis des Chemikers bei Unter¬ 
suchung von Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegen¬ 
ständen, Handelsprodukten, Luft, Boden und Wasser 
bei bakteriologischen Untersuchungen sowie in der 
gerichtlichen und Harn-Analyse. Ein Hülfsbuch fü.i 
Chemiker, Apotheker und Gesundheitsbeamte. Fünfte, umge¬ 
arbeitete und vermehrte Auflage. Mit zahlreichen Abbildungen 



462 


Tagesnachrichten. 


im Text. Hamburg und Leipzig 1893. Verlag von Leopold 
V o 8 s. 6.-8. Lieferung. 

Das Werk liegt jetzt vollständig vor und hat im Vergleich zu der vor¬ 
hergehenden Auflage eine Vermehrung von nicht weniger als sieben Bogen 
erfahren, obwohl der Verfasser bemüht gewesen ist, alles Ueberflüssige zu 
streichen und den Inhalt auf den nothwendigsten Raum zusammenzudrängen. 
In den letzten Lieferungen (6—8) tritt diese Vermehrung hauptsächlich in dem 
Abschnitt „hygienische Untersuchungen“ (Bakteriologisches, Luft und Wasser) 
zu Tage, weniger in den Abschnitten über gerichtliche Chemie und Harnunter¬ 
suchungen, die allerdings ebenfalls eine den Fortschritten der Wissenschaft 
entsprechende Umarbeitung erfahren haben. 

Ebenso wie in den ersten Lieferungen des Werkes (besprochen in Nr. 11 
dieser Zeitschrift, 8. 274) hat es Verfasser auch in den Schlusslieferungen ver¬ 
standen, den Inhalt der einzelnen Abschnitte mit dem jetzigen Stande der 
Wissenschaft in Einklang zu bringen und dem neuesten Forschungs - Ergebnissen 
auf dem Gebiete der Nahrungsmittelchemie, der hygienischen und gerichtlich¬ 
chemischen Untersuchungsmethoden Rechnung zu tragen. Wenn auch in erster 
Linie für Chemiker geschrieben, so kann das Werk doch auch dem Medizinal¬ 
beamten mit Rücksicht auf seine sanitätspolizeiliche und gerichtsärztliche Thätig- 
keit als zuverlässiger und praktischer Rathgeber dienen. Es sei daher nochmals 
warm empfohlen! Ders. 


Brockhaus: Konversations-Lexikon; 14. vollständig neu 
bearbeitete Auflage. 16 Bände von je 64 Bogen. Gr. Lexic. 8° 
mit gegen 9000 Abbildungen und Karten. Leipzig 1893, Bd. 4 
bis 7, H. 44 bis 112. 

Den in Nr. 15 des vorjährigen Jahrganges besprochenen ersten drei 
Bänden der neuesten Auflage des Brock haus’sehen Konversations-Lexikons 
sind seitdem in ziemlich rascher Folge vier weitere ebenso vorzüglich ausge¬ 
stattete Bände (bis zum Buchstaben G) gefolgt, die an wissenschaftlichem Werth, 
an Gediegenheit, Mannigfaltigkeit und Reichhaltigkeit ihres Inhalts den vorher¬ 
gehenden Bänden nicht nachstehen. Den Arzt, speziell den Medizinalbeamten 
werden hauptsächlich die zahlreichen Artikel aus dem Gebiete der Medizin, 
Hygiene, Pharmakologie, Botanik, Chemie, Physik u. s. w., wie Cholera, Des¬ 
infektion, Diphtherie, Gifte, Giftpflanzen, Geheimmittel, Dampf, Elektrizität u.s. w. 
interessiren, deren gediegene Abfassung säramtlich die sachkundige Hand er¬ 
kennen lassen. Ders. 


Tagesnachrichten. 

Die neueste Nummer der Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesnudheits- 
amtes (Nr. 36 vom 6. September) bringt den Wortlaut des dem Bundesrathe 
unter dem 31. Juli d. J. vorgelegten Eutwurfs von Vorschriften, betreifend 
den Verkehr mit Giften. Es war nicht mehr möglich, denselben in der 
heutigen Beilage zum Abdruck zu bringen; cs wird in der Beilage der nächsten 
Nummer geschehen und dann gleichzeitig der Entwurf einer Besprechung unter¬ 
zogen werden. 


Der Vorstand Deutscher evangelisc 1 er Irrenseelsorger hat jüngst 
in Halle a. S. getagt und bei dieser Gelegenheit die seiner Zeit von dem Verein 
Deutscher Irrenärzte angenommenen Thesen zu der Frage „Psychiatrie und 
Seelsorge“ (Nr. 12 der Zeitschrift Seite 302) durch nachfolgende Thesen 
beantwortet: 

„1. Die Konferenz Deutscher evangelischer Irrenseelsorger hat sich 
keine andere Aufgabe gestellt als die, das Gebiet der Irrenseelsorge theoretisch 
zu bearbeiten und für die praktische Ausübung derselben nützliche Anregungen 
zu geben. 

2. Auch die Konferenz sieht die Irren als Kranke an, welche wie andere 
Kranke ärztlich zu behandeln sind. Zugleich betont sie aber, dass die Geistes¬ 
kranken auch den Anspruch auf volle seelsorgerische Pflege haben. Die Konfe- 



Tagesnachrichten. 


468 


renz erkennt dankbar an, was ärztlicherseits znr Einführung der Seelsorge an 
Irrenanstalten geschehen und gestattet ist. Sie erstrebt, dass, was noch nicht 
der Fall ist, den berufenen Anstaltsgeistlichen das Recht freier Ausübung der 
Seelsorge an den Kranken gewährleistet werde. Insbesondere erstrebt die 
Konferenz: 

a) dass, so weit irgend thunlich, an grösseren Irrenanstalten ein eigener 
Hausgeistlicher angestellt werde; 

b) dass, wo dieses nicht möglich ist, doch für regelmässigen Gottesdienst 
sowie seelsorgerische Pflege der einzelnen Sorge getragen werde; 

c) dass dem Geistlichen grundsätzlich der Zutritt zu allen Kranken frei¬ 
stehe und eine Einschränkung nur da eintrete, wo es die Rücksicht 
auf den Zustand des Kranken gebietet. 

3. Für die von einzelnen Mitgliedern in den Versammlungen der Konferenz 
vorgetragenen theologischen, psychologischen und psychiatrischen Anschauungen 
ist die Konferenz als solche keineswegs verantwortlich. Sie hat über solche 
Anschauungen auch nie Beschlüsse gefasst. Sie überlässt es den in den Thesen 
der deutschen Irrenärzte angegriffenen Personen, Anstalten und Korporationen, 
ihre Anschauungen zu vertreten. 

4. Der Konferenz ist es einzig und allein um das Wohl der Kranken zu 
thun. Sie bedauert den entstandenen Streit und erstrebt ein einträchtliches 
Zusammenwirken mit den Irrenärzten und rechnet bei Erfüllung ihrer Aufgaben 
ebenso auf deren Unterstützung, wie sie ihrerseits jede nur mögliche Unter¬ 
stützung des ärztlichen Wirkens zur Pflicht macht.“ 

Die Herren scheinen doch eingesehen zu haben, dass sie bei ihren Be¬ 
strebungen auf dem Gebiete der Irrenseelsorge über das Ziel hinausgegangen 
sind; jedenfalls lassen die Thesen ein Einlenken in vernünftigen Bahnen er¬ 
warten, was im Interesse der Sache selbst nur dringend zu wünschen ist. 


In Tilsit ist eine grössere Ruhr - Epidemie zum Ausbruch gekommen. 
Bis zum 12. September waren 164 Erkrankungsfälle gemeldet. Von den Er¬ 
krankten sind 104 genesen; 16 gestorben und 44 noch in ärztlicher Behandlung. 


Nach einer Bekanntmachung des fürstlich Reussischen Ministeriums im 
Reichsanzeiger sind in Gera die Pocken aus Böhmen eingeschleppt. Bis zum 
25. v. M. waren 14 Personen (7 Erwachsene und 7 Kinder) in sechs verschiede¬ 
nen Häusern erkrankt und zwar wesentlich Personen mit fehlendem oder 
mangelhaftem Impfschutze. 


Die Cholera ist in Deutschland bisher nur noch auf vereinzelte Fälle 
beschränkt geblieben. Die Gesammtzahl derselben betrug in der Zeit vom 15. 
bis 81. August 17, darunter 12 Todesfälle; in der Zeit vom 1.—12. September 
31 mit 13 Todesfällen. 13 Fälle sind in Berlin zur Anmeldung gelangt, je ein 
Fall in Schulitz und Kurzebrack (Weichselgebiet), in Donaueschingen und Hamburg 
(unter der Mannschaft eines von Rotterdam eingelaufenen englischen Schiffes), und 
die übrigen im Gebiet des Rheines: Neuss (4), Emmerich (1), Meiderich (1), Neuwied 
(2), Duisburg (2), St. Goarshausen (1), Köln (2), Audemach (3), Ruhrort (1), Pa¬ 
piermühle bei Solingen (11), Kohlfurt und Sud borg (je eine in der Solinger Papier¬ 
mühle beschäftigte Arbeiterin), Mannheim (1) aufgetreten. Der Ueberwachungs- 
dicnst des Schiffsverkehrs im Stromgebiet der Spree und Havel, Weichsel und Rhein¬ 
gebiet ist bereits vollständig geregelt und sind Untersuchungsstationen in Berlin, 
Potsdam, Eberswalde und Finsterwalde (für Spree und Havel), in Kulm, Grsu- 
denz, Kurzebrack, Pieckei, Dirschau, Kaesemark, Plehnendorf und Danzig 
(Weichsel), sowie in Emmerich, Wesel, Ruhrort, Duisburg, Düsseldorf, Köln, 
Koblenz, St. Goar und Mainz (Rhein) errichtet, die selbstverständlich, ebenso wie 
im Vorjahre, fast ausnahmslos mit Militärärzten besetzt sind. Es scheint jedoch, 
als ob die znr Verfügung stehenden militärärztlichen Kräfte bei einer epidemischen 
Ausbreitung der Cholera nicht ausreichen dürften, um alle an den Binnenschiff- 
fahrtsstrasseu zur gesundheitspolizeilichen Ueberwachung der Schiffsbevölkerung 
und zur Desinfektion der Fahrzeuge eiuzurichtenden Stationen zu besetzen, we¬ 
nigstens werden durch Bekanntmachung des Kultusministeriums vom 4. d. M. 
rüstige Aerzte aufgefordert, sich für derartige Stellen bei dem Regierungsprä- 



464 


Tagesnachrichten. 


sidenten ihres Wohnbezirks zu melden. Als Vergütung für die Dienstleistung 
sind 20 Mark pro Tag festgesetzt. 

In Galizien hat die Seuche sich über 15 politische Bezirke und 32 Ge¬ 
meinden ausgebreitet; die Zahl der Erkrankungen betrug in der Zeit vom 22. 
bis 28. August 115 mit 72 Todesfällen, vom 29. August bis 5. September 141 
mit 62 Todesfällen; seit dem ersten Auftreten 386 mit 230 Todesfällen. Am 
meisten infizirt ist noch immer der Bezirk Nadworna (vom 22. August bis 
5. September: 123 Erkrankungen und 57 Todesfälle), auch in dem Bezirk Kolomea 
ist während desselben Zeitraumes die Zahl der Erkrankungen auf 52 mit 22 
Todesfällen gewachsen. Sonst sind in Oesterreich nur noch 2 vereinzelte 
eingeschleppte Cholerafälle in Wien und 1 Fall in Czernowitz zur Beobachtung 
gekommen. 

Erheblich ungünstiger als in Galizien liegen die Verhältnisse in Bezug auf 
die Ausbreitung der Cholera iu Ungarn. Bis zum 22. August waren dort 450 
Erkrankungen mit 240 Todesfällen aus 8 Komitaten und 67 Gemeinden gemeldet, 
seitdem hat sich die Zahl der Erkrankungen in der Zeit vom 23.—29. August 
auf 824 mit 440 Todesfällen und vom 30. August bis 3. September auf 502 mit 
284 Todesfällen und diejenige der verseuchten Komitate und Gemeinden auf 28 
bezw. 216 gesteigert. Am meisten von der Cholera heimgesucht sind die Ko¬ 
mitate Szabolsk, Szathmar, Kun - Szolnock, Bereg, Marmaros, Zemplin und Szol- 
nock - Dobocka, sämmtlich im nordöstlichen Theilc Ungarns (Theiss- und Szamos- 
Gebiet) gelegen. 

In Rumänien betrug die Zahl der Erkrankungen in den infizirten 
Orten Galatz, Sulina, Czernawoda, Calarasi, Tulesa vom 21. August bis 1. Sep¬ 
tember 343 mit 217 Todesfällen; es ist somit eine weitere geringe Abnahme der 
Seuche bemerkbar. 

Aus der Türkei wird der Ausbruch der Cholera im Irrenhause zu Sku- 
tari bei Konstantinopel gemeldet. Die Zahl der Erkrankungen beläuft sich bis 
jetzt auf 97, die der Todesfälle auf 53. 

Die Nachrichten über die Ausbreitung der Cholera in Frankreich sind 
nach wie vor unzuverlässig; in Nantes und Umgegend sollen bis Ende 
Juli 302 Erkrankungen und 196 Todesfälle, vom 10.—22. August 109 Erkran¬ 
kungen und 58 Todesfälle vorgekommen sein; über den weiteren Verlauf fehlen 
amtliche Mittheilungen. 

In Belgien (Antwerpen) hat die Seuche bis jetzt keine weitere Aus¬ 
breitung. genommen; auch in Holland ist es immer noch bei vereinzelten 
Erkrankungen geblieben (in Rotterdam vom 21. August bis 10. September 
28 Erkrankungen und 17 Todesfälle, in Leerdam 35 Erkrankungen und 16 Todes¬ 
fälle, ausserdem einzelne Fälle in Haus wert, Deveuter, Utrecht, Eiden u. s. w. 

Aus England wird das Auftreten der Cholera in Grymsby (bis 5. Sep¬ 
tember: 29 Erkrankungen), Hüll (3 Erkrankungen) und London (die Scheuer¬ 
frau im Parlamentsgebäude und deren Tochter) gemeldet. 

In Italien herrscht die Cholera noch immer in Neapel, in Palermo, 
wenn auch in massigem Umfange. Die Zahl der täglichen Erkrankungen schwankt 
zwischen 8—18, diejenige der Todesfälle zwischen 5-11. Auch aus Livorno und 
Rom werden vereinzelte Erkrankungen gemeldet. 

Aus Russland wird eine Abnahme der Cholera in Russisch - Polen ge¬ 
meldet ; während in den übrigen Gouvernements eine solche nicht zu Tage tritt. 
In der Stadt Petersburg sind vom 24.—31. August 40 Personen erkrankt und 
15 gestorben, vom 1.—10. Septbr. 120 bezw. 52; in Moskau vom 24.—31. Aug. 
210 bezw. 115, vom 1.—8. September 157 bezw. 73. Am meisten herrscht die 
Seuche noch in den Gouvernements Podoüen (vom 13. Aug. bis 2. Sept.: 2687 Er¬ 
krankungen und 908 Todesfälle), Kursk vom 13.—26. Aug.: 1271 Erkrankungen 
und 491 Todesfälle), Kasan (während derselben Zeit: 707 Erkr. und 250 Todes¬ 
fälle), Kiew (vom 20. Aug. bis 2. Sept.: 1569 Erkr. und 578 Todesfälle), Orel 
vom 20.—26. Aug.: 689 Erkr. u. 243 Todesfälle), Nischni-Nowgorod (vom 23. Aug. 
bis 9. Sept.: 1465 Erkr. und 728 Todesfälle) und im Dongebiet (vom 20. August 
bis 2. Septbr.: 858 Erkr. und 423 Todesfälle). In dem Gouvernement Kalisch 
sind vom 20. bis 26. August 114 Erkr. und 61 Todesfälle amtlich gemeldet, in 
dem Gouvernement Grodno vom 20. Aug. bis 2. Sept.: 434 bezw. 129. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- xl Med.-Rath L Minden L W. 

J. 0. 0. Brune, Buohdruckurut, Hindun. 



6. Jahrs. 


Zeitschrift 

für 


1893. 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rath u. gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Mediiinalrath in Minden 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die darehlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Yerlagshandlung und Rud. llosse 

entgegen. 


No. 19. 


Krscheint am 1. und iS. Jeden Sonate. 
Preis jährlich 10 Mark. 


1. Oktbr. 


Der Entwurf von Vorschriften betr. den Verkehr mit Giften 
und die Revisionen der Gift- und Farbenhandlungen. 1 ) 

Von Kreispbysikns Dr. Jacobson - Salzwedel. 

Dass der Verkehr mit Giften einer anderen, als der bisher 
üblichen, was so viel sagen will als gar keiner, Kontrole bedarf, 
kam durch den Bunderlass des Herrn Ministers der Medizinal¬ 
angelegenheiten vom 7. Juni d. J. und durch die darauf gegründe¬ 
ten Verfügungen der Herren Regierungs - Präsidenten nicht uner¬ 
wartet zur Kenntniss. Für diejenigen aber, welche sich mit dieser 
Kontrole doch zu befassen Veranlassung gehabt haben, ist es 
nicht weniger klar, dass die jetzt gültigen, den Giftverkehr be¬ 
treffenden und die Kontrole bedingenden Bestimmungen den Sach¬ 
verständigen häufig im Stich lassen. Von diesen wird der Ent¬ 
wurf von Vorschriften betr. den Verkehr mit Giften, welcher 
unterm 31. Juli d. J. seitens des Reichskanzlers dem Bundesrath 
vorgelegt worden ist, besonders freudig begrüsst werden. Da es 
kaum zweifelhaft ist, dass der Entwurf am 1. April 1894 gesetzliche 
Vorschrift werden wird, so dürfte es nicht unangemessen erschei¬ 
nen, auf die Bestimmungen desselben etwas näher einzugehen. 

Der Entwurf bildet gewissermassen eine Ergänzung zu der 
Allerhöchsten Kabinets - Ordre vom 27. Januar 1890, betr. den 
Verkehr mit Arzneimitteln. Während diese bestimmt, welche Gilte 
und in welcher Form dieselben dem allgemeinen Kleinhandel über¬ 
lassen, und welche dem Verkehr in den Apotheken Vorbehalten werden 
sollen, trifft jener darüber Anordnung, wie die Gifte in den Gift¬ 
handlungen bezeichnet, aufbewahrt und abgegeben werden sollen. 

Der Entwurf bezeichnet als „Gifte“ die in der Anlage I an¬ 
geführten Substanzen, welche ungefähr dem entsprechen, was wir als 
„Venena und Separanda“ zu bezeichnen gewohnt sind. Abweichend 
von den einschlägigen Polizei-Verordnungen — es liegen mir als 


*) Abgedruckt in der Beilage der heutigen Nummer. 







466 


Dr. Jacobson. 


Paradigmen diejenigen für den Regierungsbezirk Magdeburg" vom 
20. März 1879 und für die Provinz Pommern vom 14. Mai 1879 vor — 
theilt der Entwurf die Gifte nicht in zwei, sondern in drei Abteilungen. 

Abtheilung 1 umfasst ungefähr dieselben Substanzen wie die 
erste Gruppe der Polizei-Verordnungen, nämlich die heftiger 
wirkenden Alkaloide, die Arsenikalien, Mercurialien, Blausäure¬ 
präparate und Phosphor. Hinzugefügt sind Nitroglycerinlösungen, 
Pikrotoxin und lösliche Uransalze. Wie der ganze Entwurf, so 
bringen auch die Bestimmungen, betreffend Abtheilung 1, hinsicht¬ 
lich der Aufbewahrung, der Bezeichnung und der Abgabe dieser 
Gifte für den Geschäftsinhaber viel mehr Erleichterungen als Er¬ 
schwernisse. Bezüglich der Gifte dieser Gruppe, welche nur 
gegen Giftschein abgegeben werden dürfen, bestimmen: 

die Polizeiverordnungen: 

1. Bezeichnung der dicht verschlossenen 
Gefässe mit einer dem Inhalteent¬ 
sprechenden, in Oelfarbe ausge¬ 
führten oder eingebrannten Signatur 
(auch lackirte Papierschilder können 
hierzu benutzt werden — P.-V. für 
Pommern), die von den übrigen 
Signaturen verschieden, un¬ 
ter sich aber gleich sein muss. 

2. Aufbewahrung in der Giftkammer, 
in der sich andere Waaren nicht 
befinden dürfen. 


3. Aufbewahrung jeder Gruppe in 
einem besonderen Giftschrank. 

Für jede Gruppe besondere 
Waagen, Mörser, Löffel u. dgl. Be¬ 
zeichnung der letzteren mit Namen 
der Gruppe in den Farben der Ab¬ 
theilung. 

Abtheilung 2 und 3 des Entwurfs enthalten ungefähr die¬ 
jenigen Gifte, welche durch die Polizei- Verordnungen als indirekte 
bezeichnet und in Gruppe II derselben angegeben sind. Zwischen 
den beiden Abtheilungen wird ein Unterschied derart gemacht, 
dass die zu 2 gehörenden Gifte in dichten, festen Gefassen, welche 
mit festen, und gut seiiliessenden Deckeln oder Stöpseln versehen 
sind, aufbewahrt werden müssen und nur gegen Giftschein verab- 
fulgt werden dürfen, während die zu Abtheilung 3 gehörenden 
festen Steife (sowie alle Farben jeder Abtheilung) auch in Schieb¬ 
laden aufbewahrt werden können, sofern diese mit Deckeln ver¬ 
sehen, von festen Füllungen umgeben und so beschaffen sind, dass 
ein Verschütten oder Verstäuben des Inhaltes ausgeschlossen ist, 
und dass sie ohne Giftschein abgegeben werden. 

Was das unterscheidende Merkmal dafür gewesen ist, dass 
ein Gift zu der zweiten oder dritten Abtheilung gezählt ist, bin 
ich ausser Staude festzustellen; denn mir will es scheinen, als 
wenn z. B. mit Schwefelsäure eben so viel Unheil angerichtet 
werden kann wie mit Aetznatron oder Aetzkali, mit Oxalsäure 
oder Pikrinsäure nicht weniger als mit Bleizucker oder Brech¬ 
weinstein. Wenn also, wie mir scheint, mit dieser doppelten Ein- 


der Entwurf: 

1. Bezeichnung der mit gut schließen¬ 
den Deckeln oder Stöpseln versehe¬ 
nen Gefässe in deutlicher and dauer¬ 
hafter weisser Schrift auf 
schwarzem Grunde unter aus¬ 
schliesslicher Anwendung 
der in der Anlage enthalte¬ 
nen Namen und dem Zusatz „Gift*. 

2. Aufbewahrung in der Giftkammer, in 
der sich nur Gifte (also auch die 
der übrigen Abtheilongen) befinden 
dürfen. Die Giftkammer muss durch 
Tageslicht genügend erhellt sein. 

3. Aufbewahrung in einem Gift- 
schrauk, der einen Tisch oder Tisch¬ 
platte haben muss. Waagen, Mör¬ 
ser, Löffel n. dergl. für die ganze 
Abtheilung. Bezeichnung derselben 
mit „Gift“ in weiss auf schwarz. 



Der Entwurf Ton Vorschriften, betr. den Verkehr mit Giften etc. 467 


theilung sowohl dem Geschäftsinhaber, als auch dem revidirenden 
Sachverständigen die Nothwendigkeit aufgedrängt wird, wenigstens 
für längere Zeit mit dem Zettel in der Hand seine Geschäfte zu 
besorgen, so ist doch nicht zu übersehen, dass der Entwurf manche 
Erleichterung auch hier schafft. 

Es bestimmen fttr die Gruppe 2 für die Abteilungen 2 u. 3 

die Polizeiverordnungen: der Entwurf: 

1. Die q. Gifte müssen sowohl in den 1. Müssen übersichtlich geordnet, von 

Lager-, als in den Verkausrüumen anderen Waaren getrennt, und dür- 
wohl geordnet, von den übrigen fen weder über, noch unmittelbar 

Warenbeständen durchaus getrennt neben Nahrungs- oder Genussmitteln 

in besonderen verschlösse- auf bewahrt werden. 

nen Schränkchen oder Ver¬ 
schlügen (in besonderen Behält¬ 
nissen oder auf besonderen Reposi- 
torien P.-V. f. Pommern), in f e s t e n 
Gefässen aufbewahrt werden. 

2. Die Gefässe müssen mit einer 2. Die Gefässe müssen mit Aufschrift 

in Oelfarbe ausgeführten oder „Gift“ und die Angabe des Inhaltes 
eingebrannten(auchgutlackirte unter ausschliesslicher An- 

Papierschilder können hierzu benutzt wendungderiuAnlagel e n t - 
werden — P.-V. fttr Pommern)Sig- haltenen Namen in rother, 

natur, welche fttr alle Waaren dieser deutlicher und dauerhafter 

Gruppe gleich, abervon allen Schrift auf weissem Grunde 

anderen verschieden sein muss, versehen sein. 

VPrflphpTl HAITI 

3. — 3. Für die Gifte der Abteilungen 2 

und 3 muss ein Satz Gewichte, Waa¬ 
gen etc. vorhanden sein, der die 
Aufschrift „Gift 44 in rother Schrift 
auf weissem Grunde enthält. 

4. Unverdünnte Schwefelsäure, Salpeter- 4. Die Gifte der Abteilung 2 dürfen 

säure, Salzsäure u.konzentrirte Aetz- nur gegen Giftschein verabfolgt 

lauge dürfen in kleinen Quantitäten werden. 

nur geg. Giftschein verabfolgt werden. 

Wesentlich von den jetzigen Polizei - Verordnungen ab¬ 
weichende, aber den Verhältnissen durchaus entsprechende Be¬ 
stimmungen enthält der Entwurf bezüglich der Bedingungen, unter 
welchen Gifte gegen und ohne Giftschein abgegeben werden sollen. 
Auch die Vorschriften über die Gefässe und die Verpackung, in 
denen die Gifte nur verabfolgt werden dürfen, scheinen mir ganz 
angemessen. Dagegen will es mir Vorkommen, als wenn es zu 
viel oder zu wenig verlangt ist, dass die Gefässe, resp. Um¬ 
hüllungen, in welchen das verkaufte Gift dispensirt ist, ausser mit 
dem Namen des abgebenden Geschäftes auch mit dem in A n 1 a g e I 
des Entwurfs angegebenen Namen des Giftes versehen 
sein sollen. Man denke sich das Erstaunen, ja die Verlegenheit 
des Landmanns, der zur Weizensaatzeit für 10 Pfennig Galitzen- 
stein vom Materialisten holt — und fast jeder Materialwaaren- 
händler in einer kleineren Stadt ist genöthigt zur Saatzeit einen 
Gifthandel mit 2—3 Kilo Galitzenstein zu treiben — man denke 
sich, sage ich, seine Verlegenheit, wenn er zu Hause sein Päckchen 
besieht und findet den Inhalt als „schwefelsaures Kupferoxyd“ be¬ 
zeichnet. Oder man erwäge die Verlegenheit eines sparsamen Haus¬ 
vaters, welcher irgend eine Tüncherarbeit selbst verrichten will, 
und der, nachdem er „Silberglätte“ gefordert hat, ein Päckchen mit 
„Bleioxyd“ erhält. Ich meine, dass es zweckentsprechender wäre, die 



468 


Dr. Jacobson. 


Verpackung mit dem ortsüblichen Namen (event. neben dem in der An¬ 
lage I des Entwurfs angegebenen) des Giftes und dem Vermerk „Gift“ 
zu versehen. Da die Angabe der ortsüblichen Bezeichnung auf der 
Verpackung nicht verboten ist, so wird der findige Geschäftsmann sich 
wohl auch sehr bald damit helfen, dass er beide Namen anbringt. 

Anders und schwieriger stellt sich aber die Sachlage bei 
der Signatur der Gefasse im Geschäfte. Für diese ist die aus¬ 
schliessliche Anwendung der in der Anlage I angege¬ 
benen Namen vorgeschrieben. Besonders sind es die Farben, bei 
denen in Folge dieser Vorschrift manche unangenehme und uner¬ 
wartete Verwechselung Vorkommen dürfte. Wie viele Geschäfts¬ 
leute wissen denn, dass Auripigment ein Arsentrisulfid, Scheel’- 
sches Grün, arsenigsaures Kupfer oder dass Arnaud’s Grün phos¬ 
phorsaures Chrom ist? Noch viel weniger dürfte es als auch 
in Geschäftskreisen allgemein bekannt vorausgesetzt werden, dass 
z. B. mangansaures Baryt dasjenige ist, was als Rosenstiehl’s 
Grün verkauft zu werden pflegt. Und in wie vielen Fällen ist 
der Kaufmann gar nicht in der Lage den Bestimmungen des Ent¬ 
wurfs nachzukommen, weil die Zusammensetzung der Farbe Ge- 
schäftsgeheimniss des Fabrikanten ist! Es würde, so meine ich, 
nicht nur zweckentsprechend, sondern auch genügend sein, wenn 
bei Farben nur verlangt würde, dass die Signatur der Gefässe den 
ortsüblichen resp. den Handelsnamen enthält mit dem Zusatz 
„arsenhaltig“, „kupferhaltig“ u. s. w. Die Farbenfabrikanten aber 
sollten durch einen Zusatz in dem Entwurf verpflichtet werden, ihre 
Produkte nur mit der Deklaration in den Handel zu bringen, dass die¬ 
selben „frei sind von Giften der Anlage I des Entwurfs resp. der Ver¬ 
ordnung vom ...“, oder dass dieselben enthalten z. B. „Arsen, Gift, Ab¬ 
theilung 1, Anlage I des Entwurfs resp. der Verordnung vom ...“ 

Was den Begriff der giftigen Farben angeht, so hat der 
Entwurf sich genau den im §. 2 des Gesetzes vom 5. Juli 1887 
(betreffend die Verwendung gesundheitsschädlicher Farben bei der 
Herstellung von Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauchs¬ 
gegenständen) gegebenen angeeignet, nur Korallin (Rosolsäure) ist 
ausgelassen. Danach gehören sämmtliche giftige Farben, mit Aus¬ 
nahme der Arsen-, Quecksilber- und Uranfarben, welche der Ab¬ 
theilung 1 angehören, zur Abtheilung 3. 

Im Grossen und Ganzen ist der Entwurf ein bedeutender 
Fortschritt. Er ist präcise in seinen Ausdrücken und Anordnungen 
und lässt Nichts zweifelhaft, und das ist viel werth für den Ge¬ 
schäftsmann sowohl, als auch für den revidirenden Sachverständigen. 
Vielleicht nimmt der hohe Bundesrath auch noch Veranlassung, 
die von mir bemängelte Härte abzuändern. Ob so oder so, jeden¬ 
falls wird dem Sachverständigen die Rubrizirung der Farben die 
grösste Schwierigkeit bereiten, theils weil dieselben Stoffe mehrere, 
oft recht viele Handelsnamen führen, theils weil mit demselben 
Handelsnamen verschiedene Stoffe bezeichnet werden. Dieser Sach¬ 
lage wegen habe ich mir schon vor Jahren eine Liste der gangbarsten 
Farben angelegt, die, den Bestimmungen des Entwurfs angepasst, 
unvollständig wie sie auch ist, den Kollegen vielleicht doch gelegent¬ 
lich angenehm sein möchte, und die ich deshalb hie veröffentliche: 



Der Entwurf von Vorschriften, betr. den Verkehr mit Giften etc. 469 





Gehört zu 



Namen der 
Farbe. 

Synonyme. 

Bestandtheile. 

Anlage I, 

Ab¬ 

teilung 

& 

’S® 

ja 

« 

Be¬ 

merkungen. 




ü 

1 3 

a 


Aldehydgrün 


cfr. Anilinfarben 

. 

_ 

ja 

Kann Arsen und 

Alexandergrün 


cfr. Kupfergrün 

— 

ja 


Quecksilber enth. 

Alkaliblau 


cfr. Anilinfarben 

— 


ja 

ja 

Kann Asu.Hg 

Amaranth 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

Desgl. enth. 



u. Lackfarben 



Amerikan. Gelb 


cfr. Chromgelb 

— 

ja 

— 


Amerikanergrün 


cfr. Chromgrün 

— 

evt.ja 

ja 


Anilinfarben 


Derivate d. Stein- 

— 

— 

ja 

Können As u. 



kohlentheers 



Hg enthalten 

Antimongelb 

Neapelgelb, Wismuth 

Antimons. PI. u. 

— 

ja 

— 


gelb 

Bi. 




Antimonorange 


Desgl. 

— 

ja 

— 


Antimonzinnober 


oxydirtes Schwe- 

— 

ja 

— 




felantimon 




Apollogrün 


cfr. Kupfergrün 

— 

ja 

— 


Arnaud’s Grün 

Mittlers-, Panne- 

Phosphors. Chrom 

— 

ja 

— 



tier’s-, Plessy’s-, 
Schnitzers-, Sma¬ 
ragdgrün 








Arsenglas, gelbes 


cfr. Auripigment 

ja 

— 

— 


Arsenglas, rothes 


cfr. Realgar 

ja 

— 

— 


Arsenikrubin 

• 

Desgl. 

ja 

— 

— 


Aschengrün 


cfr. Scheel’sches 

ja 

— 

— 




Grün 




Asphaltbraun 

Mumienbraun 

Erdfarbe 

— 

— 

ja 


Auripigment 

Arsenglas gelbes, Kö¬ 

Arsentrisulfid 

ja 

— 




nigsgelb, Opper- 
ment, Persisch-, 

Spanisch-Gelb 







Azulin 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Kann As u. Hg 

Azurblau 


cfr. Kobaltglas u. 

— 

— 

ja 

enthalten 



Ultramarin 




Barytgelb 

Ultramaringelb 

chroms. Ba. 

— 

ja 

— 


Barytweiss 

Lithopon-, Mineral-, 

Schwefels. Ba. 

— 


ja 



Neu-, Permanent-, 
Schneeweiss 






Bergblau 


cfr. Kupferblau 

— 

ja 

— 


Berggrün 


cfr. Kupfergrün 

— 

ja 

— 


Berlinerblau 

Erlanger-, Louisen-, 
Mineral-, Neu-, Oel-, 
Pariser-, Preuss.-, 
Raymund-, Sachs.-, 
Wasch-, Wasserblau 

Ferrocyaneisen 



ja 




Berlinerbraun 

cfr. Eisenbraun 

— 

— 

ja 

ja 


Berlinergrün 


Ferrocyankobalt 

— 

— 


Berlinerroth 


cfr. Oxydroth 

— 

— 

ja 


Berliuerweiss 


cfr. Bleiweiss 

— 

ja 



Bismarkbraun 


cfr. Anilinfarben 

— 


ja 

ja 

Kann As u. Hg 

Bisterbraun 


cfr. Manganbraun 

— 

— 

[enthalten 

Blaufarbenglas 


cfr. Kobaltglas 

— 

— 

ja 

Bleibraun 

Flohbraun 

Bleisuperoxyd 

— 

ja 



Bleigelb 


cfr. Chromgelb 

— 

ja 

— 


Bleiglätte 

Glätte, Goldglätte, 

Bleioxyd 

— 

ja 

— 



Massikot, Silber¬ 
glätte 






Bleiroth 

Mennige, Pariserroth 

Bleioxyd u. Blei¬ 

— 

ja 

— 




superoxyd 





470 


Dr. Jacobson. 


Namen der 
Farbe. 


Bleischwarz 

Bleiweiss 


Büttger’s Grün 
Bologtiesererde 
Borgrün 

Braun 

Braunschweiger- 

grün 

Braunsteinbraun 

Braunsteinweiss 

Breinerblau 

Breslauerbraun 

Brillantgrün 

Cadmiumgelb 

Cappabraun 

Caputmortuum 

Carminblau 

Carminlack 

Carminroth 

Carthamin 

Cerise 

Chemischbraun 

Chinesergelb 

Chinesischroth 

Chrombronce 

Chromgelb 


Chromgrün 


Cbromocker 

Chromorauge 

Chromroth 

Citroncugelb 

Cochenillelack 


Cochenilleroth 


Synonyme. 

Bestandteile. 

Oe 

Ae 

th 

1 

hört zu 
ilage I, 

Ab¬ 

teilung 

3 

Nicht giftig 

Be¬ 

merkungen. 

Pottloh, Wasserblei 

Schwefelblei 

_ 

ja 

_ 


Berliner-,Deck-,Ham¬ 

kohlens. Blei mit 

— 

ja 

— 


burger-,Holländer-, 

Bleioxydhydrat. 





Kemnitzer-, Krem¬ 






ser-,Perl-, Schiefer- 






Schnee-, Silber-, Ve- 






netianerweiss 







cfr. Maugangrün 

— 

ja 

— 



cfr. Kreide 

— 

— 

ja 


giftfreies Kupfer¬ 

bors. Kupfer 

— 

ja 



grün, Kupfergrün 







cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Kann As u Hg 


cfr. Seheel’sches 

ja 

— 


enthalten 


Grün 






cfr. Manganbraun 

— 

— 

ja 



cfr. Manganweiss 

— 

— 

ja 



cfr. Kupferblau 

— 

ja 

— 



cfr. Kupferbraun 

— 

ja 

— 



cfr. Anilinfarben 

— 


ja 

Kann As u. Hg 


Schwefelcadmium 

— 

— 

ja 

enthalten 


cfr. Umbra 

— 

— 

ja 



cfr. Oxydroth 

— 

— 

ja 



cfr. Indigo 

— 

— 

ja 



cfr.Cochenillelack 

— 

— 

ja 

Kann As enth. 


Desgl. 

— 

— 

ja 

Desgl. 

Saflorcarmin, Saflor-, 

Pflanzenfarbstoff 

— 

— 

ja 


Tassen-, Tellerroth 







cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Kann As u. Hg 


cfr. Kupferbraun 

— 

ja 


enthalten 


cfr. Ocker 

— 

— 

ja 



cfr. Zinnober 

— 

— 

ja 


Permanent-, Tape- 

Chromchlorid 

— 

ja 



tenbronce 






Amerikanisch-, Blei-, 

chroms. Blei 

— 

ja 

— 


Citronen-, Haut-, 






Kölner-, Koenigs-, 






Leipziger-, Pari¬ 






ser-, Ultramarin-, 






Zwickauergelb 






Amerikaner-, Deck-, 

Chromoxyd mit 


evt.ja 

ja 

Dieselben Na¬ 

Gothaer-, Laub-, 

Chromoxydhy¬ 




men werden 

Myrrtlien-, Natur-, 

drat 




einer Misch- 

Neapel-, Perma¬ 





nug von Ber¬ 

nent-, Seiden-, Sma¬ 





linerblau mit 

ragd-, Türkisch¬ 





Chromgelb 

grün, giiner Zinn¬ 





beigelegt. 

ober 







cfr. Ocker 

— 

evt.ja 

ja 

Oft in. Chrom¬ 


cfr. Chromroth 

— 

ja 


gelb gemischt. 

Chromorange 

halbcbroms. Pb. 

— 

ja 

— 



cfr. Chromgelb 

— 

ja 

— 


Carinin-, Florenti¬ 

cfr. Lackfarben 

— 

— 

ja 

Kann As ent¬ 

ner-, Münchener-, 





halten. 

Pariser-, Wiener¬ 






lack, Carmin-, Co¬ 






chenilleroth 







cfr.Cochenillelack 

— 

— 

ja 

Kann As enth. 



Der Entwurf von Vorschriften, betr. den Verkehr mit Giften etc. 471 


Namen der 
Farbe. 

Synonyme. 

Bestandtheile. 

Ge 

Ad 

th 

1 

hört zu 
ilage I, 

Ab- 

eilung 

8 

ix 

d 

Cr 

J3 

O 

z 

Be¬ 

merkungen. 

Coeruleum 


cfr. Kobaltblau 

_ 

_ 

ja 


Corallin 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Kann As ent¬ 

Colaothar 


cfr. Oxydroth 

— 

— 

ja 

halten 

Cudbear 


Pflanzenfarbstoff 

— 

— 

ja 


Dahlia 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Kann As u. Hg 

Deckgrün 


cfr. Chromgrün 

- 

evt.ja 

ja 

enthalten 

Deckweiss 


cfr. Bleiweiss 

— 

ja 

— 


Deutschroth 


cfr. Oxydroth 

— 


ja 


Echtbraun 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Kanu As u.Hg 

Echtgelb 


Desgleichen 

- 

— 

ja 

Desgl. enth. 

Eisenbraun 

Berliner-, Ocker-, Si- 

Eisenoxyd hydrat 

— 

— 

ja 



enna-, Vandykbrauu 






Eisenmennige 


cfr. Oxydroth 

— 

— 

ja 


Eisensafrau 


Desgleichen 

— 

— 

ja 


Elsner’s Grün 


cfr. Kuhlmann’s 

— 

ja 

— 




Grün 





Emailweiss 


cfr. Zinnweiss 

— 

— 

ja 


Engelrüth 


cfr. Oxydroth 

— 

— 

ja 


Euglischblau 


cfr. Indigolack 

— 

— 

ja 

Kann As ent¬ 

Englischgelb 


cfr. Kasselergelb 

— 

ja 


halten. 

Englischgrüu 


cfr. Schweinfur- 

ja 


— 




tergrün 





Englischrotb 


cfr. Oxydroth 

— 

— 

ja 


Eosin 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Kann As u.Hg 

Erde, gelbe 


cfr. Ocker 

— 

— 

ja 

enthalten 

Erdgrün 


cfr. Scheel’sches 

ja 

— 





Grün 





Erlangerblau 


cfr. Berlinerblau 

— 

— 

ja 


Esche! 


cfr. Kobaltglas 

— 

— 

ja 


Euchron 


cfr. Umbra 

— 

— 

ja 


Ewigweiss 


cfr. Zinkweiss 

— 


ja 


Fayenceblau 


cfr. Indigolack 

— 

— 

ja 

Kann As enth. 

Feruambukholz- 


cfr. Rothholzlack 

— 

— 

ja 

Desgleichen 

lack 







Flohbraun 


cfr. Bleibraun 

— 

ja 

— 


Florentinerlack 


cfr.Cochenillelack 

— 


ja 

Desgleichen 



u. Rothholzlack 





Fuchsin 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Desgleichen 

Garaneinkarmin 


cfr Krappkarmin 

— 

— 

ja 

Desgleichen 

Gentöle’s Grün 


cfr. Zinngrün 

— 

ja 

— 


Giftfreies Grün 


cfr. Kuhlmann’s 

— 

ja 

— 




Grün 





Giftfreies Kupfer¬ 


cfr. Borgrün 

— 

ja 

— 


grün 







Glätte 


cfr. Bleiglätte 

— 

ja 

— 


Glanzgrün 


cfr. Kupfergrün 

— 

ja 

— 


Goldglätte 


cfr. Bleiglätte 

— 

ja 

— 


Gothaergrün 


cfr. Ohromgrün 

— 

evt.ja 

ja 


Grenade 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Kann As u. Hg 

Grüner Zinnober 


cfr. Chromgrün 

— 

evt.ja 

ja 

enthalten 

Grünspan 


essigs. Kupfer 

— 

ja 

— 


Gummigutti 


Pflanzenextrakt 

— 

ja 

— 


Hamburgerblau 


cfr. Kupferblau 

— 

ja 

— 


Hamburgerweiss 


cfr. Bleiweiss 

— 

ja 

— 


Hatchettsbraun 


cfr. Kupferbraun 

— 

ja 

— 


Hautgelb 


cfr. Chromgelb 

— 

ja 

—| 


Holländerblau 

cfr. Indigolack 

— 

— 

ja 

Kanu As enih. 













472 


Dr. Jacobson. 


Namen der 
Farbe. 

Synonyme. 

Bestandtbeile. 

Gehört zu 
Anlage I, 

Ab¬ 

theilung 

£ 

’S© 

3 

Be¬ 

merkungen. 




H 3 

£ 



Holländerweiss 
Jaune Indien 
Jodgelb 
Jodgrün 
Jodin roth 
Jodmethylgrün 
Jodviolett 
Indigo 

Indigoblau 

Indigokarmin 

Iudigolack 


Indischroth 

Indisin 

Kaiserblau 

Kaiserroth 

Kalkblau 

Kasselerblau 

Kassclererde 

Kasselergelb 


Kastanienbraun 

Kobaltblau 


Kobaltgelb 

Kobaltglas 


Kobaltgrün 


Scharlachroth 


Indigoblau, Indigo- 
karmin 


Engl isch-, Fayence-, 
Holländer-, Neu-, 
Waschblau-, Tafel¬ 
indigo 


Kobaltrosa 

Kobaltultramarin 

Königsblau 

Königsgelb 


Königsroth 
Kölnergelb 
Kölnische Erde 

Krappkarinin 

Krapplack 


Englisch-, Mineral-, 
Montpellier’s-, Pa¬ 
tent-,Veronesergelb 

Coeruleum, Kobaltul¬ 
tramarin, Königs-, 
Leithner-, Leyde¬ 
ner-, Thenard’s-, 
Wienerblau 


Azur-, Kaiser-, Kö¬ 
nigs-, Sächsisch-, 
Streublau, Blaufar¬ 
benglas, Eschel, 
Sraalte 

Rinnmanns-, Zink¬ 
grün, permanenter 
grüner Zinnober 


cfr. Bleiweiss 
cfr. Pur£e 
cfr. Jodblei 
cfr. Anilinfarben — 
Quecksilberjodid ja 
cfr. Anilinfarben — 
Desgleichen — 
Pflanzenfarbstoff — 

cfr. Indigo 

Desgleichen 

cfr. Lackfarben — 


cfr. Oxydroth 
cfr. Anilinfarben 
cfr. Kobaltglas 
cfr. Oxydroth 
cfr. Kupferblau 
Desgleichen 
Erdfarbe 
Bleioxychlorid 


cfr. Manganbraun 
Kobaltoxydul mit 
Thonerde 


— ja Kann As u. Hg 

— — [enthai 

_ j a K. Pikrins. enth. 

— ja Kann As ent- 

— ja [halten 

— ja 

— ja 

— ja Desgleichen 


ja Kann As u. Hg 
ja [enthalten 
ja 


— ja 

— ja 


«alpet rips. Kobalt 
kali 

Kobaltkalisilikat 


- - J» 


Garancinkarmin 
Laek-Dye,Lack-Lack 
Wienerlack, Ofen- 
heimerroth 


Kobaltoxydul- — 
Zinkoxyd 

phosphors. u. ar- ja 
sensKobaltoxydul 
cfr. Kobaltblau — 

Dcsgl. u. Kobalt- 

glas 

cfr. Auripigment, ja 
Chromgelb und 
Mercurgelb 
cfr. Oxydroth — 
cfr. Chromgelb — 
cfr. Kreide und — 
Umbra 

cfr. Lackfarben — 
Desgl. — 


- J a 


— ja 

— ja 

evt.ja — 


— ja 
ja - 

— ja 


— ja, Kann As enth. 

— ja Desgleichen 


Der Entwarf von Vorschriften, betr. den Verkehr mit Giften etc. 473 


Namen der 
Farbe. 

Synonyme. 

Bestandtheile. 

Ge: 

An 

th 

1 

hört zu 
läge I, 

Ab¬ 

eilang 

1 3 

nicht giftig 

i 

Be¬ 

merkungen. 

Krappviolett 

Kreide 

Bologneser-, Kölni- 

Pflanzenfarbstoff 
kohlensaur. Kalk 

— 

— 

ja 

ja 


Kemnitzerweise 

Kremserweiss 

Kugellack 

sehe Erde, Rouener 
Weiss 

(Mischung von 
Kalkerdehydr. 
u. gepulvertem 
Marmor) 

«fr. Bleiweiss 
Desgl. 

cfr. Rothholzlack 

— 

ja 

ja 

Kann As ent- 

Knhlmann’s Grün 

EUner’s-, giftfreies 

Kupferoxychlo- 

— 

ja 


halten 

Kupferblau 

Grün 

Berg-, Bremer-,Ham- 

rid 

kohlens. Cu und 

_ 

ja 

_ 


Kupferbraun 

burger-, Kasseler-, 
Kalk-, Mineral-, 
Neu-, Neuwieder-, 
Oel-, Steinblau 
Breslauer-, Chem.-, 

Kupferoxydhy¬ 

drat 

Ferrocyanknpfer- 


ja 



Kupferbraunroth 

Hatchettbraun, 

Kupferbraunroth 

Kupferbraun 

kali, cfr. auch 
Kupferbraunroth 
Kupferoxyd, Ei- 


ja 



Kupfergrün 

Alexander-. Apollo-, 

senoxyd u. Thon¬ 
erde, cfr. auch 
Kupferbraun 
Kohlens. Kupfer 


ja 



Kupferschwarz 

Lackbraun 

Lack-Dye 

Berg-, Glanz-, Ma¬ 
lachit-, Mineral-, 
Oel-, Schiefer-, 

Staub-, Tyroler-, 
Ungarisch-, Was¬ 
ser-, Wiesengrün 

cfr. auch Borgrün 

Schwefelkupfer 
Braunkohle 
cfr. Krapplack 

— 

l 

ja 

ja 

ja 

Kann As enth. 

Lackfarben 


Verbindung meist 

— 

— 

ja 

Können As 

Lack, gelber ital. 
Lack - Lack 


pflanzlich. Farb¬ 
stoffe mit Thon¬ 
erde, Zinnoxyd 
u. s. w. 
cfr. Ocker 
cfr. Krapplack 



ja 

ja 

enthalten 

Kann As ent¬ 

Laubgrün 


cfr. Chromgrün 

— 

evt.ja 

ja 

halten 

Lazurblau 

Leipzigergelb 

Leipzigerlack 


cfr. Ultramarin 
cfr. Chromgelb 
cfr. Rothholzlack 

— 

ja 

ja 

ja 

Desgleichen 

Leithnerblau 

Leydenerblau 

Lichtgrün 


cfr. Kobaltblau 
Desgleichen 
cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

ja 

ja 

Kann As u.Hg 

Lithoponweiss 


cfr. Barytweiss 

— 

— 

ja 

enthalten 

Lo-Kao 

Louisenblau 

Malachitgrün 

Manganbraun 

Bister-, Braunstein-, 

Chines. Farbstoff 
cfr. Berlinerblau 
cfr. Kupfergrün 
Manganoxyd 

— 

ja 

ja 

ja 

ja 


Mangangrün 

Mineral-, Kasta¬ 
nienbraun 

Böttger’s-, Rosen- 
stiehl’s Grün 
Nümbergerviolett 

u. Mangansuper- 
oxyd 

Mangans. Baryt 


ja 



Mangan violett 

Phosphors. Mang. 

— 


ja 












474 


Dr. Jacobson. 


Namen der 
Farbe. 

Synonyme. 

Bestandtheile. 

Gehört zu 
Anlage I, 
Ab¬ 
theilung 

1| 3 

Nicht giftig 

Be- 

markuDgen. 

Manganweiss 

Braunsteinweiss 

Manganoxydul 

— 

— 

ja 


Marineblau 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Kann As u. Hg 

Marron 


Desgl. 

— 

— 

ja 

Desgl. entli. 

Marsroth 


cfr. Oxydroth 

— 

— 

ja 


Massikot 


cfr. Bleiglütte 

— 

ja 



Mennige 


cfr. Bleiroth 

— 

ja 

— 


Mercurgelb 

Künigsgelb, mine- 

basisch Schwefels. 

ja 

— 

— 



ralischer Turpeth 

Hg 





Methylblau 


cfr. Anilinfarben 

— 

- l 

ja 

Desgleichen 

Methylgrün 


Desgl. 

— 

— 

ja 

Desgleichen 

Methylviolett 


Desgl. 

— 

— 

ja 

Desgleichen 

Mineralblau 


ctr. Berlinerblau 

— 

evt.ja 

ja 




u. Kupferblau 





Mineralbraun 


cfr. Mauganbraun 

— 

— 

ja 


Mineralgelb 


cfr. Kasselergelb 

— 

ja 

— 


Mineralgrün 


cfr. Kupfergrün u. 

ev 






Scheel’sches Grün 

ja 

J a 



Mineralweiss 


cfr. Barytweiss 


— 

ja 


Mitisgrün 


cfr. Schweinfur- 

ja 

— 





ter Grün 





Mittler’« Grün 


cfr. Arnaud’s 


ja 

— 




Grün 





Montpellier’sgelb 


cfr. Kasselergelb 

— 

ja 

— 


Münchenerlack 


cfr.Cochenillelack 

— 


ja 

Kann Asenth. 



u. Rothliolzlack 





Mumienbraun 


cfr. Asphaltbraun 

— 

— 

ja 


Mussivgold 


Zweifach Schwe¬ 

— 

— 

ja 




felzinn 





Myrrthengrün 


cfr. Chromgrün 

— 

evt.ja 

ja 


Nachtgrün 


Erdfarbe 

— 

evt. ja 

ja 

A. a. Anilinfarben 

Nankingelb 

Rostgelb 

Eisenoxydhydrat 

— 

— 

ja 

u.Pikring.hergeßt. 

Naphthalin 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Kann Asu.Hg 

Naturgrün 


cfr. Chromgrün 

— 

evt.ja 

ja 

enthalten 

Neapelgelb 


cfr. Antimongelb 

— 

ja 

— 


Neapelgrün 


cfr. Chromgrün 

— 

evt.ja 

ja 


Neapelroth 


cfr. Oxydroth 

— 

— 

ja 


Neu blau 


cfr. Berlinerblau, 

— 

evt.ja 

ja 




Indigolack und 







Kupferblau 





Neugrün 


cfr. Schweinfur- 

ja 

— 

— 




tergrün 





Neuviolett 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Kann As u. Hg 

Neuweiss 


cfr. Barytweiss 

— 

— 

ja 

enthalten 

Neuwiederblau 


cfr. Kupferblau 

— 

ja 



Neuwiedergrün 


cfr. Scheersches 

ja 


— 




Grün 





Nigrosin 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Desgleichen 

Nosein 


Desgl. 

— 

— 

ja 

Desgleichen 

Nürnberg. Violett 


cfr.Manganviolett 

— 

— 

ja 


Ocker 

Chiuesergelb, gelbe 

Erdfarbe 

— 

— 

ja 



Erde, gelber ita¬ 







lienischer Lack 






Ockerbrauu 


cfr. Eisenbraun 

— 

— 

ja 


Oelblau 


cfr. Berlinerblau 

— 

evt.ja 

ja 




u. Kupferblau 





Oelgrün 


cfr. Kupfergrün 

— 

ja 

— 


Ofenheimerroth 


cfr. Krapplack 

— 


ja 

Kanu Asenth. 


Der Entwarf von Vorschriften, betr. den Verkehr mit Giften etc. 475 


Namen der 
Farbe. 

Synonyme. 

Bestandtheile. 

Ge 

Ad 

th 

hört za 
lftge I, 
Ab- 
eilung 

3 

nicht giftig 

. Be¬ 
merkungen. 

Olivgrün 


Erdfarbe 

_ 

_ 

ja 

Häufig m. Chrom¬ 

Opperment 


cfr. Auripigment 

ja 

— 


grün gemischt 

Orange 


cfr. Anilinfarben 


— 

ja 

Kann As n. Hg 

Orseille 


PflanzenfarbstofF 

— 

— 

ja 

enthalten 

Oxydroth 

Caputmortuum, Co- 

Eisenoxyd in ver¬ 

— 

— 

ja 



laothar-, Eisenmen¬ 

schiedenen For¬ 






nige, Eisensafran, 

men u. mit ver¬ 






Berliner-, Deutsch-, 

schiedenen er- 






Engel-, Englisch-, 

dischen u. me¬ 






Indisch-, Kaiser-, 

tallischen Bei¬ 






Königs-, Mars-, Ne¬ 

mischungen 






apel-, Persisch-, Po- 







lir-, Pompejanisch-, 







Schleif-, Spiegel-, 







Todtenkopf-, Vene- 







tianerroth 






Pannetier’s Grün 


cfr. Arnaud’s 

— 

ja 

— 




Grün 





Papageigrttn 


cfr. Schweinfur- 

ja 

— 

— 



• 

tergrün 





Pariserblau 


cfr. Berlinerblau 

_ 

— 

ja 


Parisergelb 


cfr. Chromgelb 

— 

ja 



Parisergrün 


cfr. Schweinfur¬ 

ja 


— 




ter Grün 





Pariserlack 


cfr.Cochenillelack 

_ 

— 

ja 

Kann As ent* 

Pariserroth 


cfr. Bleiroth 

— 

ja 


halten 

Parma 


cfr. Anilinfarben 

— 


ja 

Kann As u. Hg 

Patentgelb 


cfr. Kasselergelb 

— 

ja 


enthalten 

Patentgrün 


cfr. Schweinfur¬ 

ja 


— 




ter Grün 





Patentroth 


cfr. Zinnober 

— 

— 

ja 


Patentweiss,engl. 


cfr. Pattisonweiss 

—- 

ja 



Pattisonweiss 

Patentweiss, engl. 

bas. Bleioxy- 

— 

ja 

— 




chlorid 





Perlweiss 


cfr. Bleiweiss u. 

— 

evt.ja 

ja 




Wismuthweiss 





Permanentbronce 


cfr. Chrombronce 

— 

ja 

— 


Permanentgrün 


cfr. Chromgrün 

— 

evt.ja 

ja 


Permanenter grü¬ 


cfr. Kobaltgrün 

— 

— 

ja 


ner Zinnober 







Permanentweiss 


cfr. Barytweiss 

— 

— 

ja 


Persio 


Pflanzenfarbstofif 

— 

— 

ja 


Persischgelb 


cfr. Auripigment 

ja 

— 



Persischroth 


cfr. Oxydrüth 


— 

ja 


Phosphin 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Kann Asu.Hg 

Pikrinsäure 

Welter’sches Bitter 

Organische Säure 

— 

ja 


enthalten 

Plessy’s Grün 


cfr.Arnaud’s Grün 

— 

ja 

— 


Polirroth 


cfr. Oxydroth 

— 


ja 


Pompejanischroth 


Desgl. 

— 

— 

ja 


Ponceau 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Desgleichen 

Pottloh 


cfr. Bleischwarz 

— 

ja 



Pourpre francais 


jPflanzenfarbstolT 

— 


ja 


Preussischblau 


jcfr. Berlinerblau 

—- 

— 

ja 


Püree 

Jaune Indien 

cfr. Lackfarben 

— 

— 

ja Kann As enth. 

Purpurin 


cfr. Anilinfarben 1 — 

— 

ja 

Desgleichen 

Rauschgelb 


cfr. Realgar 

ja 

— 



Raymundblau 


cfr. Berlinerblau 


I 

i 

j a 






476 


Dr. Jacobson. 


Namen 4er 
Farbe. 

Synonyme. 

Bestandtheile. 

Gehört zu 
Anli^e I, 

Ab¬ 

theilung 

1| 3 

u 

E 

u 

«• 

ja 

o 

c 

Be- 

merkungen. 

Realgar 

Arsenglas rothes, Ar¬ 

Arsendisulfid 

ja 

— 

— 



senikrubin, Rausch¬ 







gelb, Rubinschw'efel 






Resedagrün 


cfr. Schweinfur¬ 

ja 

— 

— 




ter Grün 





Rinnmanusgrün 


cfr. Kobaltgrün 

— 

— 

ja 


Rosanilin 


cfr. Anilinfarben 

! — i 

— 

ja 

Kann As u. Hg 

RosenstiehlsGrün 


cfr. Mangangrün 

— 

ja 


enthalten 

Rostgelb 


cfr.Nangkinggelb 

— 


ja 


Rother Indigo 


Pflanzenfarbstoff 

— 


ja 


Rothholzlack 

Fernambukholz-,Flo¬ 

cfr. Lackfarben 

— 


ja 

Kann As ent¬ 


rentiner-, Kugel-, 





halten 


Leipziger-, Mün¬ 







chener-, Wienerlack 






Rouenerweiss 


cfr. Kreide 

i 

— 

ja 


Rubin 


cfr, Anilinfarben 


— 

ja 

Kann Asu. Hg 

Rubinschwefel 


cfr. Realgar 

ja 

— 

— 

enthalten 

Sächsischblau 


cfr. Berlinerblau 

_| 

— 

ja 




u. Kobaltglas 





Säuregriin 


cfr. Anilinfarben 

' — 

— 

ja 

Desgleichen 

Saflorkarinin 


cfr. Carthamin 

— 

— 

ja 


Saflorroth 


Desgl. 

— 

— 

ja 

1 

Safranin 


cfr. Anilinfarben 

_ 

— 

ja 

Desgleichen 

Saftgrün 


Pflanzenfarbstoff 

— 

— 

ja 


Scharlach 


cfr. Anilinfarben 

i 

— 

ja 

Desgleichen 

Scharlachrot!] 


cfr. Jodinroth 

ja 

— 



Scheel’sches Grün 

Aschen-, Braunschw.-, 

arsenigs. Kupfer 

ja 


— 



Erd-, Mineral-,Neu- 







wieder-,Schwedisch 







grün 






Schiefergrün 


cfr. Kupfergrün 

— 

ja 

— 


Schieferweiss 


cfr. Bleiweiss 

— 

ja 

— 


Schleifroth 


cfr. Oxjdroth 

— 


ja 


Scbminkweiss 


cfr Wismuthweiss 

— 

— 

ja 


Schneeweiss 


cfr. Barytweiss, 


evt.ja 

ja 




Bleiweiss und 







Zinkweiss 





Schnitzer’s Grün 


cfr. Arnaud’s Grün 


ja 



Schüngelb 


cfr. Ocker 

— 


ja 

Kann As ent- 

Schüttelgelb 


cfr. Lackfarben 

— 

— 

ja 

IV U11 li XV»7 vil V 

Vi n 1 ten 

Schwarzer Zinn¬ 


schwarzes Schwe¬ 

— 

— 

ja 

11(11 icu 

ober 


felquecksilber 





Schwedisches 


cfr. Scheelschcs 

ja 

— 

— 


Grün 


Grün 





Schweinfurter 

Englisch-, Mitis-, 

Essig - arsenigs. 

> 

— 



Grün 

Neu-, Papagei-, Pa¬ 

Kupfer 






riser-, Patent-, Re¬ 







seda-, Wiesengrün 






Seidengrün 


cfr. Chromgrüu 

,— 

evt.ja 

ja 


Siennabraun 


cfr. Eisenbraun 

— 

— 

ja 


Silberglätte 


cfr. Bleiglätte 

— 

ja 



Silbergrau 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Kann Asu.Hg 

Silberweiss 


cfc. Bleiweiss 

— 

ja 


enthalten 

Smaragdgrün 


cfr. Arnaud’s u. 


io 

ev 




Chromgrün 


ja 

ja 


Spanischgelb 


cfr. Auripigment 

ja 

— 

i 


Spanischweiss 


cfr. Wismuthweiss; 

— 

— 

ja 







Der Entwurf von Vorschriften, betr. den Verkehr mit Giften etc. 477 


Namen der 
Farbe. 

Synonyme. 

Bestandtheile. 

Gehört zu 
Anlage I, 
Ab¬ 
teilung 

1| 3 j 

bp 

3 

'S' 

■** 

O 

*C 

Be¬ 

merkungen. 

Spiegelroth 


cfr. Oxydroth 

_ 

_ 

ja 


Staubgrün 


cfr. Kupfergrün 

— 

ja 



Steinblau 


cfr. Kupferblau 

— 

ja 

-- 


Streublau 


cfr. Kobaltglas 

— 


ja 


Tafelblau 


cfr. Indigolack 

— 

— 

ja 


Tapetenbronce 


cfr. Chrombronce 

— 

ja 



Tassenroth 


cfr. Carthamin 

— 


ja 


Tellerroth 


Desgl. 

— 

— 

ja 


Thenard’sblau 


cfr. Kobaltblau 

— 

— 

ja 


Todtenkopfroth 


ctr. Oxydroth 

— 

— 

ja 


Türkisgrün 


cfr. Chromgrün 

— 

evt.ja 

ja 


Turpeth, mine- 


cfr. Merkurgelb 

ja 

— 

— 


ralischer 







Turnbull’sblau 


Ferridcyaneisen 

— 

— 

ja 


Tyrolergrün 


cfr. Kupfergrün 

— 

ja 

— 


Ultramarin 

Azurblau, Lazurblau 

ausThonerde, Kie¬ 

— 


ja 




selsäure, Natron, 







Schwefel u. Kalk 







hergestellter 







Farbstoff 





Ultramaringelb 


chroms. Ba., cfr. 

— 

ja 

— 




auch Chromgelb 





Umbra 

Cappabraun, Euchron 

Erdfarbe 

— 

— 

ja 



Kölnische Erde 






Ungarischgrün 


cfr. Kupfergrün 

— 

ja 

— 


Uranin 


cfr. Anilinfarben 

— 

i — 

ja 

Kann As u. Hg 

Vandykbraun 


cfr. Eisenbraun 

— 

— 

ja 

enthalten 

Yenetianerroth 


cfr. Oxydroth 

— 

— 

ja 


Yenetianerweiss 


cfr. Bleiweiss 

— 

ja 



Yermillon 


cfr. Zinnober 

— 


ja 


Yeronesergelb 


cfr. Kasselergelb 

— 

ja 



Vesuvin 


cfr. Anilinfarben 

— 

— 

ja 

Desgleichen 

Victoria 


Desgl. 

— 

— 

ja 

Desgleichen 

Victoriagrün 


Desgl. 

— 

— 

ja 

Desgleichen 

Violet 


Desgl. 

— 

— 

ja 

Desgleichen 

Violetter Lack 


chroms. Zink 

— 

ja 

— 


Yitriolbleiweiss 


Schwefels. Blei 

— 

ja 

— 


Waschblau 


cfr. Berlinerblau 

— 


ja 




u. Indigolack 





Wasserblau 


cfr. Berlinerblau 

— 

— 

ja 


Wasserblei 


cfr. Bleischwarz 

— 

ja 



Wassergrün 


cfr. Kupfergrün 

— 

ja 

— 


Waulack 


cfn Lackfarben 

— 

— 

ja 

Kann As ent¬ 

Weisses Nichts 


cfr. Zinkweiss 

— 

— 

ja 

halten 

Welter'sches 


cfr. Pikrinsäure 

— 

ja 



Bitter 







Wienerblau 


cfr. Kobaltblau 

— 

— 

ja 

Desgleichen 

Wienerlack 


cfr.Cochenillelack 







Krapplack und, 







Kothholzlack 

ja 

evt.ja 

— 


Wiesengrün 


cfr. Kupfergrün 







u. Schweinf.Grün 





Wismuthgelb 


chroms. Wismuth, 

— 

ja 

— 



, 

; 

cfr. auch Anti¬ 






1 

mongelb 





Wismuthweiss 

.Perl-,Schmink-, Spa- 

bas. Salpeters. 

— 

— 

ja 



1 nischweiss 

Wismuth 





























478 Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf, betr. den Verkehr mit Giften. 


i 


Namen der 
Farbe. 

Synonyme. 

Bestandtheile. 

Ge 

Ai 

tb 

ihort zu 
ilmgel, 
Ab¬ 
teilung 

3 

U 

5 

*s> 

4 » 

| 

d 

Be¬ 

merkungen. 

Wnnderblau 

Zinkblau 

Wunderblau 

cfr. Zinkblau 
Berlinerblau und 

— 

— 

ja 

ja 


Zinkblumen 

Zinkgelb 

Zinkgrün 

Zinkweiss 

Ewigweiss, Schnee- 

Zinkoxyd 
cfr. Zinkweiss 
chroms. Zink 
cfr. Kobaltgrün 
Zinkoxyd 

— 

ja 

ja 

ja 

ja 


Zinngrün 

weies, weiss. Nichts, 
Zinkblumen 
Gentfele’s Grün 

Zinns Kupfer 


ja 



Zinnober 

Chinesisch-, Patent- 

Quecksilbersulfid 

— 


ja 


Zinnweisa 

roth, Vermillon 
Emailweiss 

Zinnoxyd 

_ 


ja 


Zwickauerblan 

Zwickauergelb 


cfr. Berlinerblau 
cfr. Chromgelb 

— 

ja 

ja 



Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf betreffehd den 

Verkehr mit Giften. 

Der Ansicht des Kollegen Jacobson, dass der dem Bundes- 
rathe vorgelegte Entwurf betrettend den Verkehr mit Giften als 
ein grosser Fortschritt zu begrüssen sei, kann sich die Redaktion 
nicht anschliessen. Eine einheitliche Regelung des Giftverkehrs 
ist allerdings dringend erwünscht, aber dabei soll doch gleichzeitig 
eine Verbesserung der bisherigen Verhältnisse erzielt werden und 
diese dürfte kaum zu erwarten stehen, wenn der Entwurf in seiner 
jetzigen Fassung zur Durchführung gelangen sollte. 

Zunächst kann es nicht als zweckmässig erachtet werden, 
dass die Vorschriften des Entwurfs, wenigstens zum Theil, auch 
auf die Apotheken gelten sollen. Der Entwurf hat in Folge dessen 
eine Anzahl Ausnahmebestimmungen erhalten, die seine Ueber- 
sichtlichkeit und spätere praktische Handhabung um so mehr be¬ 
einträchtigen, als seine Fassung keineswegs so klar ist, um sofort 
erkennen zu lassen, welche Vorschriften auch auf die Apotheken 
Anwendung finden sollen oder nicht. Dazu kommt, dass die Auf¬ 
bewahrung und Abgabe der Gifte in den Apotheken — abgesehen 
von denjenigen im Handverkauf — bereits durch das deutsche 
Arzneibuch bezw. durch die Einführungsverordnungen desselben, 
ferner durch die Vorschriften über die Abgabe starkwirkender 
Arzneimittel einheitlich geregelt ist und dass sich der Entwurf 
mit diesen Vorschriften zum Theil in Widerspruch setzt. So 
würden z. B. nach Anlage I des Entwurfes (Abth. 2 und 3) Herba 
Lobeliae, Bulbus und Tinctura Scillae, Secale cornutum, Extr. 
Secal. cornut., Kalium chloratum, Acid. carbol. crudum unter den 
Separanden aufbewahrt werden müssen, während sie nach dem 
Deutschen Arzneibuch zu den indifferenten Stoffen gehören; anderer- 










Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf, betr. den Verkehr mit Giften. 479 

seits fehlen unter den in Anlage I aufgeführten Giften einzelne 
Arzneimittel, wie Coffein, spanische Fliegen, Gutti und Phenacetin, 
die nach dem Arzneibuche den Giften zugerechnet werden 
müssen. Es würde ferner in den Apotheken nach §. 3 Abs. 1 
verboten sein, Gifte der Abtheilung 1 und 2 in Schiebladen mit 
vollen Füllungen aufzubewahren, obwohl solche jetzt noch vielfach, 
besonders für die narkotischen Kräuter gebräuchlich sind und kein 
Grund vorliegt, in dieser Hinsicht eine Aenderung eintreten zu 
lassen. Auch die Bestimmungen des Entwurfs über den Gift¬ 
schrank (§. 6) stimmen nicht mit denen der meisten Einführungs¬ 
verordnung des Deutschen Arzneibuches überein; hier wird eine 
Trennung der einzelnen Giftarten der Tab. B. in besonderen ver- 
schliessbaren Abtheilungen des Giftschrankes, also ein doppelter 
Verschluss, verlangt, während im Entwürfe nur ein einfacher Ver¬ 
schluss, ohne Trennung der Giftarten vorgesehen ist, übrigens eine 
Vorschrift, die, wie hier gleich bemerkt sein möge, als eine Ver¬ 
besserung bezeichnet werden muss, ebenso wie die im §. 8 des 
Entwurfs getroffene Bestimmung, dass nicht für jede Giftart, wie 
bisher, sondern für die verschiedenen Giftarten der Abtheilung 1 
zusammen besondere Dispensirgeräthe vorhanden zu sein brauchen. 
Dass dagegen künftighin in den Apotheken auch für die Separanden 
(Abth. 2 und 3) besondere Waagen, Mörser u. s. w. verwandt 
werden sollen, erscheint keineswegs nöthig; denn die Apotheken 
können in dieser Beziehung doch nicht auf dieselbe Stufe mit den 
Drogenhandlungen gestellt werden, in denen meistens die ver¬ 
schiedenartigsten Waaren geführt werden. Für diese Geschäfte 
ist allerdings jene Bestimmung dringend geboten, damit die zum 
Abwiegen u. 8. w. von Nahrungs- oder Genussmitteln dienenden 
Geräthe nicht auch beim Verabfolgen von Giften benutzt werden. 

Unseres Erachtens wird es daher dem Entwürfe nur zum 
Vortheile gereichen, wenn in demselben der Verkehr mit Giften 
in den Apotheken unberücksichtigt und es den Landesregierungen 
überlassen bleibt, durch entsprechende Ergänzungsverfügungen zu 
den einzelnen Apothekerordnungen u. s. w. die für die Apotheken 
bisher gültigen Vorschriften in Bezug auf die Abgabe von Giften 
im Handverkauf — denn nur diese kommt hierbei in Frage — 
mit denen des Entwurfes in Einklang zu bringen. 

Weiterhin halten wir es für nothwendig, dass der Klein¬ 
handel mit Giften ausserhalb der Apotheken lediglich 
auf die zu gewerblichen und wirtschaftlichen 
Zwecken dienenden Gifte beschränkt wird; und dass 
diese Gifte in der Anlage des Entwurfes (etwa durch 
einen Stern) bestimmt bezeichnet werden. Im Kleinhandel 
(ausserhalb der Apotheken) auch die Abgabe von Giften zu wissen¬ 
schaftlichen Zwecken (s. §.11 des Entwurfs) zu gestatten, geht viel 
zu weit; eine derartige Bestimmung würde ausserdem nur eine 
Möglichkeit mehr schaffen, um sich bei Uebertretungen der Vor¬ 
schriften über den Verkehr mit Arzneimitteln straffrei zu halten. 
Die Zahl der giftigen Stoffe, die zu wirtschaftlichen und gewerb¬ 
lichen bezw. künstlerischen Zwecken gebraucht werden, ist, wenn 



4S0 Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf, bctr. den Verkehr mit Giften. 


man von den giftigen Farben absieht, eine verhältnissmässi? 
geringe; von den in der Anlage I, besonders in den Abtheilungen 
1 und 2, aufgefiihrten Giften dürfte kaum der zehnte Theil dahin 
gerechnet werden können und eine Bezeichnung derselben auch 
keine nennenswerthen Schwierigkeiten machen. Jedenfalls würde 
aber durch eine solche Beschränkung gleich von vornelierein 
etwaigem Unfuge in dem Kleinverkehr mit Giften ein wirksamer 
Riegel vorgeschoben und vor Allem die Kontrole des Gifthandels 
wesentlich erleichtert und vereinfacht werden. In denjenigen 
Bundesstaaten, in denen durch Landesgesetzgebung der Handel 
mit Giften an die Ertheilung einer besonderen Konzession gebunden 
ist, könnte dieser allerdings in der Konzession ausdrücklich auf be¬ 
stimmte Gifte beschränkt werden, wenn aber einmal die wünschens- 
werthe einheitliche Regelung des Giftverkehrs angestrebt werden 
soll, dann erscheint es zweckmässiger, in den neu zu erlassenden 
Vorschriften auch nach dieser Richtung hin eine generelle Be¬ 
stimmung autzunehmen und zwar um so mehr, als gewerbliche 
Interessen dadurch keineswegs geschädigt werden, da das Ver¬ 
zeichniss der im Kleinhandel zulässigen Gifte jederzeit dem Be- 
diirfniss entsprechend abgeändert werden kann und auch in der 
Zwischenzeit es den betreifenden Gewerbetreibenden u. s. w. nicht 
schwer fallen wird, ihren Bedarf an einem bis dahin noch nicht 
im Kleinhandel freigegebenen giftigen Stoffe im Grosshandel zu 
beziehen. 

In Bezug auf die einzelnen Bestimmungen des Entwurfes ist 
noch Folgendes zu erwähnen: 

Aufbewahrung der Gifte: Im §. 1 heisst es: als Gifte 
u. s. w. gelten die in Anlage I aufgeführten „Drogen“ und „Zu¬ 
bereitungen“. Diese Fassung ist mit Rücksicht auf die weder zu 
den Drogen noch zu den Zubereitungen gehörenden Gifte (Chemi¬ 
kalien u. s. w.) inkorrekt und bedarf daher einer Abänderung 
(„aufgeführten Drogen, chemischen Präparate. Zubereitungen u.s.w.“), 
wenn man es nicht vorzieht, den Abs. 2 ganz fallen zu lassen und 
zu sagen: „Der gewerbsmässige Handel mit den in der AnlageI 
aufgeführten Giften unterliegt u. s. w.“ 

Nach §. 2 sind Schiebladen, die in vollen Füllungen laufen, 
zur Aufbewahrung von Giften der Abth. 1 und 2 nicht zulässig 
und für die Farben und übrigen Gifte nur dann, wenn sie ausser¬ 
dem mit Deckeln versehen sind. Diese Vorschrift ist, wie schon 
vorher erwähnt ist, viel zu weitgehend und ausserdem, was die 
Forderung der Deckel anbetrifft, unpraktisch, denn wer Farbe- 
waaren- und Drogenhandlungen revidirt hat, der wird sich oft 
genug überzeugt haben, dass die Deckel auf den Schiebladen nicht 
nur für den Geschäftsbetrieb hinderlich sind, sondern auch das 
Verschütten des Inhalts der Kästen eher begünstigen als verhüten, 
besonders wenn sie, wie dies meist der Fall ist, lose aufliegen. 
Unseres Erachtens genügen dichte, gut schliessende und in vollen 
Füllungen laufende Schiebladen durchaus zur Aufbewahrung von 
Giften und sollten daher uneingeschränkt oder wenigstens für die 
giftigen Farben und vegetabilischen Stoffe zugelassen werden und 



Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf, betr. den Verkehr mit Giften. 481 

zwar ohne dass sie noch mit besonderen Deckeln zu versehen sein 
brauchen. 

Der Absatz 3 im §. 3 ist überflüssig; dass sich kein Gift 
ausserhalb der Vorrathsgefässe befinden darf, geht aus der Vor¬ 
schrift in Abs. 1 bestimmt hervor. 

Im §. 4 fehlt eine Frist, bis zu welcher die Signaturen der 
Vorrathsgefässe der hier gegebenen Vorschrift gem&ss abgeändert 
sein müssen; da zur Zeit nur in wenigen Handlungen die Auf¬ 
schriften der Gefässe den in der Anlage I aufgeführten Bezeich¬ 
nungen entsprechen dürften, darf diese Frist nicht zu kurz be¬ 
messen werden. Die vom Kollegen Jacobson vorher geäusser- 
ten Bedenken über die Unzweckmässigkeit der ausschliess¬ 
lichen Anwendung der in der Anlage I angegebenen Namen 
erscheinen gerechtfertigt. 

Die Vorschriften der §§. 5—8 über die Einrichtung der 
Giftkammer und des Giftschrankes sind, wie schon vorher 
hervorgehoben ist, durchaus zweckmässig und gegen die bisherigen 
Bestimmungen eine wesentliche Verbesserung. Im Absatz 2 des 
§. 8 würde es sich nur empfehlen, auch für den Fall besondere 
Dispensirgeräthe nicht zu verlangen, wenn die im Kleinhandel 
vorräthig gehaltenen Gifte gleich abgefasst vom Grosshändler be¬ 
zogen und nur in dieser Form abgegeben werden, wie dies viel¬ 
fach bei manchen Ungeziefermitteln, z. B. Phosphorpillen und bei 
Farben u. s. w. gebräuchlich ist. 

Abgabe der Gifte: Die Führung eines Giftbuches (§. 10) 
und die Ausstellung von Giftscheinen (§. 12) auch für die Verab¬ 
folgung der in Abth. 2 aufgeführten Gifte ist eine grosse Be¬ 
lästigung für die Kaufleute wie für das Publikum und sollte daher 
nur wie bisher für die Abgabe der direkten Gifte (Abth. 1) 
verlangt werden. Es ist auch schwer verständlich, warum z. B. 
Bleizucker, Aetzkali, Chloroform u. s. w. nur gegen Giftschein 
abgegeben werden sollen, während bei Abgabe von Kleesalz, 
Kali- oder Natronlauge, Karbolsäure u. s. w. ein solcher nicht 
erforderlich ist. Die betreffende Vorschrift hat sich schon 
jetzt, wo sie sich nur auf die Gifte der Abth. 1 erstreckte, als 
schwer durchführbar erwiesen; wird sie noch mehr ausgedehnt, 
so bleibt sie erst recht unbeachtet und man sollte sich hüten, 
Bestimmungen zu treffen, von denen man sich gleich im Voraus 
sagen muss, dass sie doch nur auf dem Papiere stehen bleiben. 

Dass auf den Gefassen, in denen Gifte abgegeben werden, 
ausser der Bezeichnung „Gift“ auch der Name des betreffenden 
Giftes verzeichnet und die Bezeichnung in vorschriftsmässiger 
Farbe ausgeführt sein muss (§. 13 des Entwurfes) ist durchaus 
zweckentsprechend, nicht so pracktisch dagegen die Vorschrift, 
dass der Name des Giftes dem in der Anlage I angegebenen ent¬ 
sprechen muss, wie dies vorher schon in zutreffender Weise vom 
Kollegen Jacobson hervorgehoben ist. Auch die in §.13 Abs. 3 
vorgesehene Ausnahmebestimmung erscheint nicht gerechtfertigt; 
denn sowohl für die Wiederverkäufer wie für technische Gewerbe¬ 
treibende, Untersuchungs- und Lehranstalten ist es, um unan- 



482 Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf, betr. den Verkehr mit Giften. 

genehme Verwechselungen zu vermeiden, erwünscht, dass auch 
sie die vom Grosshändler gekauften Gifte vorschriftsmässig bezeich¬ 
net erhalten. Dass übrigens Arsen-, Quecksilber- und Uranhaltigen 
Farben, sowie die verschiedenen Drogen der Abth. 2 in dichten, 
fest und gut verschlossenen Gefässen abgegeben werden müssen 
(§. 13, Abs. 1), geht unseres Erachtens zu weit; für die Abgabe 
dieser Gifte sind dauerhafte, ein Verschütten oder Verstäuben des 
Inhalts ausschliessende Umhüllungen ebenso ausreichend wie für die 
festen Gifte der Abth. 3. 

Recht zweckmässig ist die im §. 14 getroffene Bestimmung, 
dass Gifte in Trink- oder Kochgefassen nicht verabfolgt werden 
dürfen; man hätte nur noch einen Schritt weiter gehen und zur 
Abgabe von Giften in f lüssiger Form zumäuss eren Gebrauch, 
zu wirtschaftlichen u. s. w. Zwecken die Verwendung sechs¬ 
eckiger Gläser vorschreiben sollen, dann wäre die jetzt bestehende 
Ungleichheit, dass jene Gläser nur für äussere Arzneien in der 
Rezeptur Verwendung finden, im Handverkauf der Apotheken und 
im Kleinhandel der Drogenhandlungen dagegen nicht, wenigstens 
für die Abgabe der flüssigen scharfwirkenden und giftigen Stoffe 
beseitigt, die leider nur zu oft zu Vergiftungen in Folge ver- 
hängnissvoller Verwechselung Veranlassung geben; es möge in 
dieser Hinsicht nur an die nicht selten vorkommenden Vergif¬ 
tungen durch irrtümliches Trinken von Salzsäure, Schwefelsäure, 
Karbolsäure u. s. w. erinnert werden. — 

Ungeziefermittel: In §. 27 Abth. 2 wird das Feilhalten 
und die Abgabe von arsenhaltigem Fliegenpapier verboten; ein 
Grund dafür ist nicht ersichtlich, wenn man andere viel gefähr¬ 
lichere arsenhaltige Ungeziefermittel freigiebt. 

In §. 18 des Entwurfs ist man bemüht gewesen, eine Defi¬ 
nition von „Kammerjäger“ zu geben, die keineswegs glücklich 
genannt werden kann. Was unter einem „Kammerjäger“ zu ver¬ 
stehen ist, darüber dürfte wohl nirgends ein Zweifel herrschen; 
ein solcher kann nur durch eine derartige verunglückte Definition 
entstehen und daher ist es besser, wenn diese ganz wegfallt. 

Was endlich das Verzeiclmiss der Gifte in Anlage I anbetrifft, 
so empfiehlt es sich, dieses thunlichst in Uebereinstimmung mit 
der Tab. B. und C. des deutschen Arzneibuches zu bringen 
und dementsprechend die dort nicht unter den Separanden aulge¬ 
führten Drogen, Chemikalien u. s. w. als Herba Lobeliae, Bulbus 
Scillae, Acid. carbol. crudum, Secale cornutum u. s. w. zu streichen; 
dagegen Coffeinum, spanische Fliegen, Phenacet in, Gutti u. s. w. aufzu¬ 
nehmen. Ausserdem ist eine Trennung der indirekten Gifte (Abth. 2 
und 3) völlig unnöthig und unpraktisch; diese giftigen Stoffe werden 
zweckmässiger ebenso wie bisher unter einer Abtheilung aufgeführt 
und den gleichen Bestimmungen in Bezug auf Aufbewahrung und 
Abgabe unterworfen, wie dies schon vorher betont ist. 

Die jetzt erfolgte Veröffentlichung des Gesetzentwurfes 
berechtigt zu der Hoffnung, dass eine Abänderung desselben vor 
seiner Genehmigung durch den Bundesrath nicht ausgeschlossen 
ist. Hoffentlich finden dann auch noch die vorstehenden Aus- 



Aus Versammlungen und Vereinen. 


483 


führungen Berücksichtigung. Jedenfalls hat der Entwurf neben 
manchen Vorzügen auch erhebliche Mängel, die sich bei seiner 
Durchführung sehr bald geltend machen und die NothWendigkeit 
einer Abänderung ebenso zu Tage treten lassen werden, wie bei 
den Vorschriften über die Abgabe stark wirkender Arzneimittel, 
von denen allerdings in der Begründung des Entwurfs behauptet 
wird, dass sie sich eingelebt und bewährt hätten, eine Ansicht, 
die in den betheiligten Kreisen wohl kaum als zutreffend anerkannt 
werden dürfte. Epd. 


Aus Versammlungen und Vereinen. 

Bericht über die vom 11. bis 16. September d. J. In Nürn¬ 
berg stattgehabte 65. Versammlung Deutscher Natur¬ 
forscher und Aerzte. 

(Berichterstatter Dr. Leppmann, Berlin - Moabit). 

Die Versammlung war im Allgemeinen nur mittelstark besucht und na¬ 
mentlich war die Betheiligung der Medizinalbeamten, wie dies bei dem Wieder¬ 
auftreten der Cholera nicht anders zu erwarten war, eine geringe. Es war dies 
im Interesse der Ferngebliebencn zu bedauern, denn Nürnberg kam seinen 
Gästen mit aufopfernder Gastfreundschaft entgegen, alle Veranstaltungen waren 
gut vorbereitet und gingen wohlgeordnet von Statten. Sehenswerthes bot sich 
in überreicher Fülle und besonders lehrreich war der Einblick in die eigenartige 
Nürnberg -Fürther Industrie, bei welchem Med.-Rath und Bez.-Arzt Dr. W o 11 ne r- 
Fürth und Dr. Goldschmidt-Nürnberg in liebenswürdiger Weise das Führer¬ 
amt übernommen hatten. 

Die gerichtsärztliche Sektion war demgemäss klein, zumal das In¬ 
teresse für die Hygiene ihr auch Abbruch that. Sie erledigte unter dem Vor¬ 
sitze des Landgerichtsarztes Dr. Hoff mann- Nürnberg mit Eifer ihre Aufgaben. 

Bei den Wahlen zum wissenschaftlichen Ausschuss entsandte 
sie zunächst 3 Wahlmänner (Hoffmann, Leppmann, Seydel) zu dem 
gemeinsamen Koraitö. Diese bildeten mit der hygienischen, militärärztlichen, 
medizinisch-geographischen und veterinärärztlichen Sektion eine Gruppe zur 
Wahl von 4 Ausschussmitgliedern. Nach gemeinsamer Vereinbarung unter dem 
Vorsitze des Herrn Geh. Rath Spiuola wurde der gerichtlichen Sektion in der 
Person des Herrn Prof. Seydel-Königsberg ein Mitglied zugestanden. 

Vielleicht wird dieser engere Verband deutscher Naturforscher und Aerzte 
es ermöglichen, dass die gerichtsärztliche Sektion 1894 in Wien durch Referate 
und Diskussion über langzeitig vorbereitete umfangreichere Themata ihre Le¬ 
bensfähigkeit aufs Neue beweist. 

Herr Prof. Seydel wird gewiss gern bereit sein, etwa ihm zugehende 
Vorschläge an geeigneter Stolle zu vertreten. 

Ans den Hauptversammlungen. 

Prof. Dr. Strümpell (Erlangen): Ueber die Alkoholfrage vom ärzt¬ 
lichen Standpunkt ans. Nicht mit Unrecht sehen viele eine gedeihliche Zu¬ 
kunft der Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in einer grösseren 
Ausdehnung und stärkeren Betonung der allgemeinen Vorträge. In die Haupt¬ 
versammlungen solle der Schwerpunkt gegenüber den Fachkongressen gelegt 
werden. Dort sollen die wichtigsten Tagesfragen aus den Spezialwissenschaften 
in einer für jeden naturwissenschaftlich Gebildeten, ja wenn möglich auch für 
den allgemein gebildeten Laien verständlichen Form von den beratendsten 
Kräften erörtert werden. 

In dieser Beziehung war oben bezeichneter Vortrag mustergültig. Er 
war inhaltsreich und dabei von klarer Einfachheit, er regte an bald zum Wider¬ 
spruch, bald zur Zustimmung und auch die mit der viel erörterten Materie 
Vertrauten fanden neue Gesichtspunkte. 

Vortragender ging in seinen Ausführungen von den Verhältnissen seiner 
engeren Heimath aus und betonte, dass die Alkoholfrage mit dem Ersatz kon- 
zentrirter und fuselreicher spirituöser Getränke durch leichtere nicht gelöst sei, 
wenn Landessitte, Mangel an Belehrung und Indolenz die Menge des täglich ein- 



484 


Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften. 


geführten Genussmittels so gross werden lassen wie in Bayern, wo das mittlere 
Tagesquantum für den Arbeiter 3 Liter beträgt, viele aber, ans allen St&nden, 
theiis ans süsser Gewohnheit oder in Folge ihrer Beschäftigung über dieses Maas 
hinausgehen, ohne eine Ahnung davon zu haben, dass sie Trunkenbolden gleich* 
werthig sind. 

Die Schädlichkeit dieser übermässigen Einfuhr besteht: 

1. ln der toxischen Wirkung der an und für sich geringen Alkohol- 
mengen, welche sich dadurch summirt, dass die einzelnen Körpergewebe auch 
nach Eliminirung des Stoffes den durch ihn gesetzten Reiz mit einer Art „Ge¬ 
dächtnis der Materie“ festhalten. 

2. In der Ueberernährung. In 3 Litern Bier nimmt der Trinker, der 
nebenbei ein normaler oder sogar starker Esser ist, 240 g Kohlehydrate und 
230 g Eiweiss zu sich. 

3. In der Ueberanstrengung des HerzenB und des Gefässsystems durch 
die Ueberlastung mit Flüssigkeit. 

Die schädlichen Erscheinungen am Nervensystem (Delirium, Neuritis) treten 
(dies gilt wohl auch nur für biertrinkende Gegenden? Ref.) in den Hintergrund 
gegenüber der nachtheiligen Wirkung auf Herz, Nieren und Gefässsystem. Es 
entsteht Erschlaffung des Herzens mit muskulärer Erkrankung und, allerdings 
oft durch andere Ursachen komplizirt, Gefässentartung. Von Nierenleiden finden 
sich durch Sekretionsüberbürdung und toxisch bewirkten Zellentod zwei Formen 
von Erkrankung 1. die bekanntere auf allmählicher Epithelentartung beruhende 
Schrumpfniere, 2. die akute alkoholische Nephritis, die zwar seltener, aber vom 
Vortragenden reichlich oft beobachtet ist. 

Eine zweite Reihe von Krankheiten, die der übermässige Biergenuss 
erzeugt, beruhen auf Herabsetzung der chemischen Leistungsfähigkeit der Organ¬ 
zellen. Bekannt sind in dieser Beziehung die Störungen des Eiweissumsatzes, 
welche zur Gicht and die des Fettumsatzes, die zur Fettleibigkeit nicht blos 
durch die Ueberernährung, sondern auch durch die langsame Verbrennung führen. 
Weniger bekannt dürfte der Diabetes sein, welcher durch Beeinträchtigung des 
Stoffwechsels der Kohlenhydrate beim Alkoholisten entsteht und den Vort. im 
Verein mit Polyneuritis, Nephritis, Arthritis und Fettleibigkeit sah. 

Ein Abwehrmittel ist in erster Reihe die Belehrung, zu welcher vor Allem 
der Arzt berufen ist. Deshalb müsse gerade diese Aetiologie der Herz- und 
Nierenkrankheiten mehr in das Bewusstsein der Mediziner übergehen. Besonders 
sei der Verabreichung geistiger Getränke im Kindesalter Einhalt zu thun. 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

A. Gerichtliche Medizin. 

Ueber die Ursachen des Flüssigbleibens des Blutes bei der Er¬ 
stickung und anderen Todesarten. Von Dr. Gabriel Cor in aus Lüttich. 
Vierteljahrsschrift für gerichtl. Medizin 1893, V. Band, 2. Heft. 

Der Autor ist im Institut für Staatsarzneikunde in Berlin bestrebt ge¬ 
wesen, die Frage über die Ursachen des Flüssigbleibens des Blutes bei der 
Erstickung und anderen Todesarten an der Hand eines reichen Leichenmaterials 
experimentell zu klären und gelangt hierbei zu den nachfolgenden Resultaten. 
Bei der Leiche tritt im Blute nur insofern Gerinnung ein, als in demselben 
schon während des Lebens Ferment vorhanden war; die Ausdehnung der bei 
der Obduktion gefundenen Gerinnsel ist direkt von der Menge des vitalen Fer¬ 
mentgehaltes abhängig. Eine weitere Erzeugung dieses Fermentes nach dem 
Tode findet nicht mehr statt, wenn auch im Blute die unwirksame Vorstufe 
desselben besteht. Die Gegenwart dieser Vorstufe ist aber die Ursache einer 
weiteren Gerinnung, wenn das Blut früh aus den Gefässen gelassen wird, und 
zwar in Folge der abspaltenden Wirkung, welche gewisse Blutbestandtheile auf 
diese Vorstufe austiben. Später aber entsteht im Blute — und offenbar nicht 
aus dem Blute, sondern aus den Gefässwänden — ein Körper, welcher die Eigen¬ 
schaft hat, die Gerinnung zu hemmen resp. die Thätigkeit der fermentabspalten¬ 
den Substanzen zu unterdrücken. Dieser Körper ist höchstwahrscheinlich identisch 
mit dem von A. Schmidt beschriebenen Cytoglobin und besonders mit dem in 
der Leber gefundenen Cytoglobin. Die Gefässwände spielen daher bei der Leiche 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften« 


485 


eine doppelte Rolle dem Blute gegenüber: im Anfänge nämlich halten sie das 
Blut flüssig, d. b. verhindern sie eine Fermentproduktion, indem sie keine Er¬ 
regung auf die Leukozyten, die Erzeuger dieses Fermentes, austiben. Später 
aber verhindern sie die Gerinnung auch durch eine Absonderung gerinnungs¬ 
hemmender Substanz. Zwischen dem Blute des Erstickten resp. des plötzlich 
Gestorbenen und demjenigen des langsam Gestorbenen giebt es nur einen rela¬ 
tiven Unterschied, weicher durch den verschiedenen Fermentgehalt zu erklären 
ist. In keinem Falle entsteht nach dem Tode in den Gefässhöhlen eine voll¬ 
kommene Gerinnung, wie es in dem aus dem lebenden Körper gelassenen Blut 
geschieht. Immer bleibt neben dem Fibrin ein mehr oder weniger beträchtlicher 
Ueberschuss gelösten Fibrinogens. Dieses Fibrinogen ist während der ersten 
Zeiten nach dem Tode noch gerinnungsfähig, wird aber später ungerinnbar, weil 
die Fermenterzeugung unmöglich wird. 

Für den Gerichtsarzt ergiebt sich aus den Cor in’sehen Versuchen ein 
zweifaches Ergebniss: einmal kann er der flüssigen Beschaffenheit des Blutes 
eine Bedeutung für die Diagnose des akuten Erstickungstodes 
gegenüber anderen akuten Todesarten gesunder Personen nicht einräumen; 
sodann sprechen die Versuche dafür, dass entsprechend der alten Lehre, der 
geronnenen Beschaffenheit des Blutes in Extravasaten eine gewisse Bedeutung 
für die vitale Natur der betreffenden Verletzungen zukommt, insofern bei Ver¬ 
letzungen, die erst einige Zeit nach dem Tode erzeugt werden, eine Ge¬ 
rinnung des ausgetretenen Blutes nicht mehr stattfindet. 

Dr. Dütschke-Aurich. 

Die Verletzungen des Mastdarmes vom gerichtsärztlichen Stand¬ 
punkt. Von Dr. Adolf Mantzel in Elberfeld. Ebendaselbst. 

Verletzungen des Mastdarmes kommen nicht gerade häufig zur Beurtheilung 
durch den Gerichtsarzt. Als solche sind anzusehen: Wunden, Zcrreissungen, 
Verbrennungen, Verätzungen, sowie unter gewissen Umständen auch Lähmung 
des Schliessmuskels und Vorfall. 

Die Untersuchung am Lebenden geschieht nach den Regeln chirurgischer 
Diagnostik, für genauere Untersuchungen ist die Steinschnittlage oder die Seiten¬ 
lage anzuwenden. An der Leiche wird der Mastdarm nach der im §. 13 und 21 
des preussischen Regulativs für das Verfahren der Gerichtsärzte vorgeschriebenen 
Weise untersucht, wobei man beachten sollte, dass blosses Offenstehen des Afters 
und Ausfliessen von Koth ein alltäglicher Befund bei Leichen ist, also für die 
Diagnose einer Mastdarmverletzung auch nicht den geringsten Werth besitzt. 

Der Mastdarm ist Verletzungen ausgesetzt: 

1. Bei sexuellen Akten, sei es, dass der Penis den Weg in den 
Anus nimmt und das Hymen erhalten bleibt, sei es, dass das Septum recto- 
vaginale durchbohrt wird. Dagegen kommen bei der habituellen Paederastie 
Verletzungen des Mastdarms ziemlich selten vor, während die Erschlaffung des 
Sphincter ani, mehr oder weniger vollständige Lähmung des Schliessmuskels, 
verbunden mit Kothinkontinenz und Prolapsus ani öfter beobachtet wird. 
Häufiger entstehen Mastdarmverletzungen beim zum ersten Male ausgeübten 
päderastischen Akte, wenn Gewalt angewendet wird, oder wenn, bei widernatür¬ 
licher Nothzucht an Kindern, ein Missverhältnis zwischen den beschädigten 
Theilen und dem Penis besteht. Auch bei päderastischer Onanie und unzüchtigen 
Fingermanipulationen werden Laesionen beobachtet. 

2. Durch Fremdkörper; dieselben können von oben, von unten oder 
von der Seite her in den Mastdarm dringen. Diese Fälle bieten verhältnissmässig 
selten ein unmittelbares forensisches Interesse dar. 

3. Verwundungen schwerster Art kommen dann zu Stande, wenn 
Menschen auf spitze Gegenstände fallen und diese in den Mastdarm eindringen. 

4. Wirkliche Stich - und Schnittwunden kommen selten zur Kog¬ 
nition des Gerichtsarztes. 

5. Ebenso selten unterliegen Schusswunden des Mastdarmes der ge rieh ts- 
ärztlichen Beurtheilung. Die Gefahr liegt bei den Schussverletzungen haupt¬ 
sächlich in den Nebenverletzungen, insbesondere ruft die Eröffnung des Bauch¬ 
fellsackes fast immer tödtliche Peritonitis hervor. Am Mastdarm selbst werden 
als Folgezustäude beobachtet: Zurückbleiben von Geschossen, Kothinfiltrationen, 
Abszesse und Verjauchungen des Zellgewebes, langwierige Fistelzustände, wieder- 



486 


Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften. 


holte Blutungen aus den Häraorrhoidalvenen, Lähmungen der Sphincteren und 
narbige Strikturen. 

6. Verbrennungen, meist bei Anwendung des Glüheisens oder Ther¬ 
mokauters zu therapeutischen Zwecken hervorgerufen, ferner durch ätzende 
Flüssigkeiten, die Klystieren zugesetzt worden waren. 

7. Laesionen durch kunstwidriges Heilverfahren: a) durch 
fehlerhafte Applikation von Klystieren, b) durch unvorsichtige Einführung von 
Bongies bei der Strikturenbehandlung, c) bei der Exploration des Rectum nach 
Simon, also bei Einführung der ganzen Hand, d) durch ein gewaltsam und 
fehlerhaft applizirtes Scheidenpessar, endlich e) Dammrisse bei der Geburt. 

Der Gerichtsarzt muss aber auch daran denken, dass schon gewaltsames 
Hervordrängen harter Kothmassen aus dem After genügt, um mehr oder minder 
beträchtliche Zerreissungen 'des Mastdarms zu bewirken. Auf diese Weise hat 
man nicht nur Einrisse in den After gesehen, sondern auch bedeutende trans¬ 
versale Einrisse in das Rectum oberhalb des Sphincter internus. 

Die Folgen der Verletzungen des Mastdarms für Leben und 
Gesundheit des Beschädigten beschäftigen den Gerichtsarzt mehr als die Diagnose 
der Verletzung selbst. Als Folgen können auftreten: Tod, längeres Kranken¬ 
lager, Verfall in Siechthum. Der letale Ausgang kann eintreten durch 
Shock, Verblutung, Thrombose und Entzündung der Mastdarmvenen, Pyämie und 
Septicämie, hauptsächlich durch die periproctale Phlegmone und nachfolgender 
Peritonitis. Der Fall des „Verfall in Siechthum“ liegt vor, sobald nach 
Perforationen und ausgedehnten Zerreissungen narbige Verengerungen Zurück¬ 
bleiben, die schliesslich durch Kothverhaltung und Marasmus zu Tode führen 
können. Um Siechthum handelt es sich aber auch, wenn in Folge Zerreissung 
des Sphincter ani Koth und Darmgase unfreiwillig abgehen; dagegen stellt der 
Mastdarm Vorfall nur dann einen siechen Zustand dar, wenn der Vorfall nach 
jeder Reposition sogleich wieder zum Vorschein kommt oder überhaupt nicht 
mehr zurückzubringen ist, so dass dauernde Kothinkontinenz ein tritt. Auch eine 
Mastdarm - Scheidenfistel bedingt Siechthum nur dann, wenn selbst fester Koth 
durch die Scheide abgeht. Gewöhnliche Mastdarmfisteln werden wohl nie als 
„Verfall in Siechthum“ angesehen werden können. 

Dr. Israel-Medenau (Ostpr.). 


B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Die Cholera in Deutschland während des Winters 1892 bis 1893. 
Von Prof. Dr. Rob. Koch. Aus dem Institut f. Infektionskrankheiten. Zeitschr. 
für Hygiene und Infektionskrankheiten. XV. 1. 

Koch’sehe Arbeiten in ein kurzes Referat zusammen zu fassen, ist eine 
undankbare Aufgabe! Der Gedankenreichthum und die knappe, klare Dar- 
stellungsweiso schliessen die Möglichkeit einer Kürzung eigentlich vollständig 
aus uud so wird auch dieser Auszug nur ein recht dürftiges Bild der schönen 
Arbeit geben können, welche hoffentlich in Gestalt einer Sonderausgabe weiteren 
Kreisen zugänglich gemacht werden wird. — 

Koch’s Besprechung streift nur ganz kurz die verhängnisvolle Sommer- 
epidemie in Hamburg, sie beschränkt sich im Uebrigen auf die Winterepidemie 
in Altona, auf den heftigen Ausbruch in der Irrenanstalt in Nietleben und auf 
die Nachepidemie in Hamburg, welche am 6. Dezember beganu uud 64 Er¬ 
krankungen mit 18 Todesfällen verursachte. Unter Hinweis auf die gleichzeitige, 
explosionsartig auftretende Epidemie in Nietleben will Koch klimatische Ein¬ 
flüsse als Erklärung dafür nicht zulassen, dass die Krankheit jetzt in Hamburg 
nur so geringe Ausdehnung gewann. Er zeigt, dass die Cholera die Eigentüm¬ 
lichkeit hat, in zwei ganz verschiedenen Typen aufzutreten, deren einer gekenn¬ 
zeichnet ist durch explosionsartigen Ausbruch und graphisch darstellbar ist in 
Gestalt einer Kurve mit steil ansteigendem, hoch hinauf ragendem ersten 
Schenkel uud fast ebenso steil abfallendem zweiten Schenkel. Im Gegensatz 
dazu erscheint der zweite Typus wie eine, sich nur wenig über die Grundlinie 
erhebende Kurve. Die Sommerepidemie in Hamburg und die Nietlebener Winter¬ 
epidemie gehören dem ersten Typus an, während die Winterepidemie in Hamburg 
dem zweiten Typus folgt. 

Doch ist es nicht nur das Bild der Kurve, durch welche sich der zweite 
Typus von dem ersten unterscheidet, sondern auch andere Eigentümlichkeiten, 



Kleinere Mittheilnngen und Referate aus Zeitschriften. 


487 


namentlich die dem zweiten Typus eigenthttmliche Herdbildung. An einem 
solchen Herde entstehen nicht plötzlich viele Fälle, sondern sie folgen einander, 
sie bilden gewisserraassen Ketten und es lässt sich sehr oft ein unmittelbarer 
Zusammenhang zwischen den einzelnen Fällen ermitteln. Von einem solchen 
Herde aus können durch Verschleppung neue Herde in anderen Stadttheilen, in 
benachbarten Orten ausgeheu, in denen dann wieder kettenförmig aneinander 
gereihte Fälle eine mehr oder weniger ausgebreitete Gruppenerkrankung aus¬ 
machen. 

Beide Typen bleiben häufig nicht rein, sondern kombiniren sich in mannich- 
facher Weise, namentlich wird der erste Typus vielfach zu Herdbildung führen 
und schliesslich ganz in den zweiten Typus übergehen, aber auch bei diesem 
kann jeder Zeit, so bald der Infektionsstoff seinen Weg in das Wasser findet, 
ein explosionsartiger Ausbruch erfolgen, dessen Umfang sich nach der Art der 
Wasserversorgung richten wird. 

Die Hamburger Winterepidemie gehört fast ausschliesslich dem zweiten 
Typus au; sie betrifft nur Angehörige der untersten und alleruntersten Volks¬ 
klassen, arbeits- und obdachlose Menschen, Alkoholiker, welche in Bettlerherbergen 
und Brauntweinsckänken hausten uud umherziehende Händler, die in solchen 
Lokalen ihr Gewerbe betrieben. Fast in allen Fällen gelang es den sorgsamen 
Nachforschungen der Sanitätspoiizei den Zusammenhang der einzelnen Fälle 
unter einander aufzuhellen. Uebrigens kam es gelegentlich auch bei dieser 
Epidemie zu einer Mitbetheiligung des Wassers und zwar auf den beiden 
Dampfern „Murciano“ und „Gretchen Bohlen“. Bekanntlich hat die Untersuchung 
der unter Quarantäne gestellten Maunschaft der beiden Schiffe zu dem Ergebniss 
geführt, dass unter den klinisch Unverdächtigen, aber ätiologisch Verdächtigen 
eine ganze Anzahl Cholera-Infizirter war. Koch ertheilte daher den Rath, die 
Evakuirung und bakteriologische Untersuchung nicht nur auf die offenbar Er¬ 
krankten zu beschränken, sondern derselben Alle diejenigen zu unterwerfen, 
welche sich vermuthlich in gleicher Weise, wie diese infizirt haben konnten. 
Wie der Chirurg, wenn er eine bösartige Geschwulst sicher entfernen wolle, im 
Gesunden schneiden müsse, so müsse auch die Exstirpation des Cholerakeimes 
gewissermassen im Gesunden geschehen. 

Einen ganz anderen Charakter zeigt die etwa gleichzeitig auftretende 
Winterepidemie in Altona. Die Fälle waren durch die ganze Stadt gleichmässig 
zerstreut und kamen in allen Bevölkerungsklassen, bei Personen, die weder mit 
Cholera - Kranken, noch unter einander in Berührung gekommen waren, gleich¬ 
mässig vor. Es musste also eine gemeinsame Infektionsquelle vorliegen, als 
welche sich denn auch die Wasserleitung herausstellte, wie Koch in dem 
früheren Aufsatz „Wasserfütratiou und Cholera“ bewiesen hat (Referat in Nr. 17 
dieser Zeitschrift). Sehr interessant ist die Schilderung einiger sekundärer Herd¬ 
bildungen, namentlich in dem sog. „langen Jammer“, einer von Proletariat 
bewohnten, nicht an die Wasserleitung angeschlossenen, sondern auf einen 
Brunnen angewiesenen Häusergruppe. Die Schmutzwasserleitung, welche im 
Sommer wohl genügt haben dürfte, um den Brunnen vor Infektion zu schützen, 
versagte, da die Gullies eingefroren waren und der metertief gefrorene Boden 
leitete die Schmutzwässer auf seiner Oberfläche direkt nach dem an der tiefsten 
Stelle liegenden, mangelhaft abgedeckten Brunnen, in dessen Wasser der Cholera- 
Bacillus nachgewiesen wurde. 

Der grösste Theil der Koch’sehen Arbeit beschäftigt sich mit der 
Epidemie in Niet leben, welche als ein Ausläufer der Hamburger Winter- 
Epidemie angesehen werden muss. Die Einschleppung ist vermuthlich durch 
neu angestelltes Wartepersonal verursacht worden. Die durch Karten und 
Profile erläuterte Beschreibung der Anstalt lässt die bemerkenswerthe Thatsache 
erkennen, dass hier von dem durchläsigen Boden, den die Pettenkofer’sche 
Theorie verlangt, gar nicht die Rede sein kann; die Anstalt liegt auf einer aus 
Porphyr bestehenden Hügelkuppe und sämmtliehe Gebäude sind direkt auf dem 
Felsen fundamentirt. Die übrigen Verhältnisse, namentlich die Wasserleitung, 
welche das Wasser der „wilden Saale“ unmittelbar unterhalb der Einmündung 
des „Saugrabens“, welcher die Abwässer der Rieselfelder mit sich führt, entnahm 
und in ganz ungenügender Weise filtrirte, sind bekannt. Die Anstalt ist bereits 
zwei Mal und zwar vor Einführung zentraler Wasserversorgung von der Cholera 
heimgesucht worden, welche aber beide Mal dem zweiten Typus folgte, an 
einer bestimmten Stelle, einem Saal oder einem Korridor sich einnistete und von 



488 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


da aus weiter kroch. Die Krankenliste der Anstalt weist zwar im Oktober, 
also '/< Jahr vor Ausbruch der Epidemie viel Diarrhöen auf, dagegen kurz vor¬ 
her durchaus keine Häufung der Durchfallskrankheiten, wie denn Koch über¬ 
haupt nicht daran glaubt, dass vor einer Cholera-Epidemie eine derartige 
Aeusserung des Genius epidemicus sich zn erkennen gäbe. Am 14. Januar kam 
der erste Cholerafall in der Anstalt vor. Ihm folgten am nächsten Tage 6 Fälle, 
dann 11, dann 15, 8, 7, 16, 9, 12, 8, 13, 5, 3, 2, 1, 1, 1, 1, 1, 1, — Summa 
122 Fälle, von denen 62 tödtlich verlaufen sind! Es erkrankten 63 Männer, 
davon 3 Aerzte, und 59 Frauen, davon 7 Wärterinnen und 3 Beamtenfrauen. 

Ganz ira Gegensatz zu den Epidemien von 1850 und 1866, wo die Cholera 
an einem bestimmten Punkt eingesetzt hatte und erst allmählich auf benachbarte 
Räume und Abtheilungen fortgekrochen war, erschien diesmal die Seuche sofort 
an den verschiedensten Stellen, sowohl auf der Männer- wie der Frauen - Seite. 
Die 18 Fälle der ersten drei Tage vertheilen sich auf 11 verschiedene Ab¬ 
theilungen in 10 verschiedenen Gebäuden! Die gleichmässige Vertheilung zwingt 
zu dem Schluss, dass die ursächlichen Momente nur solche sein konnten, welche 
nicht einzelne Gebäude oder einzelne Gruppen unter den Bewohnern der Anstalt, 
sondern die Anstalt im Ganzen getroffen batten. Solchen gemeinschaftlichen 
Einfluss konnten nur Boden oder Wasser oder Nahrungsmittel geäussert haben. 

Der Boden kann nach dem oben Gesagten von vorneherein ausgeschlossen 
werden. Uebrigens verdient Erwähnung, dass das einzige Haus, welches nicht 
auf Porphyr, sondern auf lockerem Alluvium stand, die Gärtnerwohnung, keinen 
einzigen Cholerafall hatte. Auch die Nahrungsmittel können nicht beschuldigt 
werden, da dieselben Lieferanten auch die Hallenser Kliniken, welche vollständig 
verschont blieben, versorgten. 

Es blieb nur das Wasser übrig, aber es schienen gegen diese Annahme 
gewichtige Gründe zu sprechen, wurde doch das Schmutzwasser, dem die In¬ 
fektionsstoffe augenscheinlich entstammen sollten, durch eine Rieselanlage und 
das Trinkwasser durch Sandflltration, den Forderungen der Hygiene entsprechend, 
gereinigt! Aber ebenso gewichtige Fehler, wie Koch beim Betrieb der Wasaer- 
filtration nachweisen konnte, traten auch bei der Rieselwirthschaft zu Tage. 
Nach Koch’s Ansicht wäre selbst in dem strengen Winter 1892/93 bei sach¬ 
kundiger Leitung, namentlich bei genügender Ausnutzung der an Stelle von 
Staubassins fungirenden umwallten Felder, richtige Funktionirung der Anlage zn 
ermöglichen gewesen. Es verstand aber von den betheiligten Personen Niemand 
die richtige Behandlung einer Rieselwirthschaft — genau wie bei der Filter- 
anlagn! Th&tsächlich floss das Schmutzwasser, welches mit 400000 Keimen 
beladen die Anstalt verliess aus dem Hauptdrainrohr der Rieselfelder mit 
470000 Keimen durch den Saugraben in die wilde Saale zu der Schöpfstelle für 
die Wasserleitung. So konnte der Infektionsstoff mit dem Flüssig¬ 
keitsstrom ungehindert seinen verhängnissvollen Kreislauf 
durch die Anstalt vollenden! Dafür, dass dies geschehen, 
lieferte die bakteriologische Untersuchung den unumstöss- 
lichen Beweis, denn die Cholera-Bakterien wurden gefunden 
im Schmutzwasser bei seinem Eintritt in das Rieselterrain, 
auf den Rieselfeldern selbst und in dem Wasser des Haupt¬ 
drains beim Austritt aus dem Rieselterrain. Sie wurden ferner 
gefunden im Wasser der wilden Saale, im filtrirten Wasser 
des einen Filters und in dem Wasser, welches einem Leitungs¬ 
hahn innerhalb der Anstalt entnommen war. 

Auch in dieser Epidemie blieb es nicht bei der Wasserinfektion; es kamen 
vielmehr häufig sekundäre Infektionen, namentlich in den Pflegeabtheilungen 
mit ihren unreinlichen Kranken vor. 

Natürlich war sofortige Schliessung der Wasserleitung erforderlich, aber 
nicht so leicht dnrehzuführen. Namentlich stiess der Versuch, als Trinkwasser 
das von der Stadt Halle in Tonnen herbeigefahrene Leitungswasser zu verwenden, 
für die gewaltige Menge des erforderlichen Brauchwassers aber das eigene 
Leitungswasser weiter zu verwenden, auf unüberwindliche Schwierigkeiten, die 
theils durch sich selbst, theils durch den Charakter der Anstalt bedingt sind. 
Wurden doch wiederholt Kranke betroffen, die das Spülwasser der Klosets mit 
den Händen schöpften und tranken! Erst die Verlöthung sämmtlicher Auslässe 
konnte diesen Missständen dauernd abhelfen. 

Bekanntlich traten im Anschluss an die Nietlebener Epidemie vereinzelte 



Besprechungen. 


489 


Choleraherde in der Nähe and «war in Trotha and einigen anderen, fluasabwärta 
gelegenen Ortschaften auf. Die Schilderang dieser kleinen sekundären Seuchen¬ 
herde bietet gerade wegen der Uebcrsichtlichkeit des Zusammenhanges sehr viel 
Interessantes and viele schlagende Beweise für die Infektion durch den Wasser- 
gennss, so dass Koch mit B«cht sagen-kann: Wer hier noch leugnen 
will, dass das Wasser der Träger des Cholera-Infektions- 
stoffe« sein kann, der ist für die Logik der Thatsachen über¬ 
haupt nicht zugängig! 

An diesen Ausspruch schliesst sich die aus den politischen Zeitungen 
genügsam bekannte Auseinandersetzung mit Pettenkofer und die in viel 
lebhafterem Ton gehaltene scharfe und schlagende Abfertigung Liebreich’s. 

Dr. Langerhans-Celle. 


Besprechungen 

Dr. Pactet: Aliönös möconnus et condamnös par les tri- 
bunaux. Paris. G. Steinkeil. 1893. 8°. 72 S. 1 

Der Verfasser stellt eine Reihe von Krankengeschichten verurtheilter 
Geisteskranker, welche er als Irrenarzt in den Asiles de la Seine und als Ge- 
fängnissarzt an dem Depot der Pariser Polizeipräfektur beobachten konnte, zu¬ 
sammen. Es sind 23 Paralytiker, welche durch einfaches Forttragen von Gegen¬ 
ständen, Vagabondage oder läppische Fälschungen und Betrügereien mit dem 
Gesetz in Konflikt gerathen waren, 4 Verrückte, die im Verfolgungswahn die 
inkriminirten Handlungen begingen, und 3 Fälle, welche zu den sexuellen 
Psychosen gehören, Beispiele für den Taschentuch-, Schürzen- und Haarfetischismus. 

Das ist eine kleine Zahl aus der grossen Masse von Geisteskranken, welche 
in den Kulturstaaten tagtäglich wegen Gesetzesübertretungen statt in den Irren¬ 
anstalten in die Gefängnisse geschickt werden; und ich würde bei der mehr¬ 
fachen Bearbeitung, welche der Zusammenhang der Geisteskrankheiten mit den 
Gesetzesübertretungen und die darauf zurückzuführenden thatsächlichen Uebel- 
stände bei uns im letzten Jahrzehnt gefunden haben, die kleine französische 
Arbeit auch kaum erwähnt haben. 

Aber immerhin ist es nicht ohne Interesse, dass der Verfasser im Kapitel 
IV, S. 60 ff. ganz zu denselben Anschauungen und Vorschlägen zur Abhülfe 
gelangt, wie sie von mir kurze Zeit vorher am Schluss einer Bearbeitung der 
Geisteskrankheiten der Korrigenden — Archiv für Psychiatrie und Nervenkrank¬ 
heiten, Bd. XXU, Heft 2 und 3 — veröffentlicht waren. 

Weshalb werden denn so viele Geisteskranke wegen strafbarer Hand¬ 
lungen verunheilt? Doch wohl nur deshalb, weil unser heutiges Strafverfahren 
die Zurechnungsfähigkeit jedes nicht vorher als geisteskrank erklärten Gesetzes¬ 
übertreters präsumirt, und es dem Zufall überlässt, ob Zweifel an der Zurech¬ 
nungsfähigkeit bei dem Richter entstehen oder von der Vertheidigung erhoben 
werden. Ist das nicht der Fall, und hält sich der Inhaftirte oder Vorgeführte 
ruhig, beantwortet die vorgelegten Fragen und benimmt sich nicht ganz auffällig, 
so erfolgt der Urtheilsspruch. Nun giebt es eine Unzahl Verrückter, leicht De¬ 
menter und viele fnnktionell Gestörte, welche diesen Voraussetzungen ebenso 
entsprechen werden, wie Paralytiker im Anfang der Krankheit, psychisch Epilep¬ 
tische in ruhigen Zeiten und andere. Dass sich deshalb unter den Verurtheilten 
ein verhältnissmässig grosser Prozentsatz dieser Leute finden muss, ist selbst¬ 
verständlich. 

Wie ist dem aber abzuhelfen? 

Ich meinte a. a. 0. „Man führe einfach eine psychiatrische Kontrole aller 
Inhaftirten durch psychiatrisch gebildete Gefäugnissärzte ein und lasse das 
Resultat jedes Mal zu den entsprechenden Akten geben. Das kann bei in Frage 
stehenden Uehertretuugen oder Vergehen eine summarische Notiz sein, bei Unter- 
suchungsgefangencn müsste ein kurz motivirtes Gutachten obligatorisch sein. 

Diese Feststellung der Zurechnungsfähigkeit müsste ein integrirender 
Theil des Vorverfahrens in jeder Strafsache werden. 44 

Pactet schreibt etwa ein halbes Jahr später (S. 65 und 66): „Le seul 
moyen, veritablement eflieace, d’eviter tous les inconvSnients graves de l’6tat de 



490 


Tagesnachrichten. 


cboses actuel, serait de sonmettre le prövenn, apräs son arrestation, & la visite 
d’nn mMecin; en d’autres termes, 1’ ezamen mldical devrait etre la premiere 
6tape de l’instraction de tonte affaire d (51ictueu.se an criminelle. Cette opinion, 
qui aujourd’hui peut paraitre, une ntopie sera sans doute la banalit6 de demain.* 

Kühn- Uslar. 


Tagesnachrichten. 

Zum ersten Male ist von einer politischen Partei die Reform des staat¬ 
lichen Medizinalwesens in ihr Wahlprogramm aufgenommen worden. In dem 
Wahlaufruf der nationaliiberalen Partei vom 24. September d. J. heisst 
es: „Bei Beobachtung weiser Sparsamkeit in allen Dienstzweigen der staatlichen 
Verwaltung müssen auch ohne neue Steuerbelastung die Mittel gefunden werden, 

um unerlässliche Aufgaben zu erfüllen, wie wir sie.in der Reform 

des staatlichen Medizinalwesens erblicken.“ Möge es dem thatkräftigen Vor¬ 
gehen der nationalliberalen Landtagsmitglieder gelingen, die Reform endlich zur 
Durchführung zu bringen! 


Auf der diesjährigen am 6. und 7. September in Frankfurt a. M. abge¬ 
haltenen 29. Hauptversammlung des Deutschen Apothekervereins 
stand auch die Konzessionsfrage der Apotheken auf der Tagesordnung und 
hat sich die Versammlung dem Anträge ihrer Kommission gemäss, wie nicht 
anders zu erwarten war, fast einstimmig für die Realkonzession entschieden. 
Der betreffende Antrag lautet wie folgt: 

„Es entspricht den Interessen der allgemeinen Volkswohlfahrt sowie 
der gedeihlichen Entwickelung der Pharmazie und des Apotheken¬ 
betriebes in Bezug auf die Versorgung des arzneibedürftigen Publikums 
am besten, wenn die frei gewerbliche und veräusserliche Betriebs¬ 
berechtigung für die Apotheken auch für die Zukunft zur Grundlage 
gesetzlicher Massnahmen genommen wird. 

Jedes System, welches sich auf anderen Prinzipien aufbaut, würde 
eine Erschütterung und Entwerthung der soliden bewährten Grund¬ 
lagen unseres Standes und unfehlbar eine Schädigung des Allgemein¬ 
wohls herbeiftihren.“ 

Ausserdem wurde auf der Versammlung die Wichtigkeit und Nothwendig- 
keit einer Standesvertretung anerkannt und die Bestrebungen des Vorstandes 
nach dieser Richtung hin gut geheissen. 


Dem Bundesrath ist ein Gesetzentwurf zugegangen, wodurch der §. 33 
der Gewerbeordnung dahin geändert werden soll, dass der Handel mit Drogen 
und chemischen Präparaten untersagt werden kann, wenn Thatsachen vor¬ 
liegen, welche die Unzuverlässigkeit der Gewerbetreibenden auf diesem Gewerbe¬ 
betrieb darthun; und dass eine Wiederaufnahme dieses Gewerbebetriebes nur 
gestattet werden darf, wenn seit der Untersagung mindestens 5 Jahre verflossen 
sind. In der Begründung zu diesem Entwurf heisst es: 

„Bei Durchführung der Kaiserlichen Verordnungen vom Januar 1875 und 
27. Januar 1890 über den Verkehr mit Arzneimitteln haben sich schwere Uebel- 
stände ergeben. Die auf Grund eingehender Beaufsichtigung gewonnenen Er¬ 
fahrungen haben gelehrt, dass bei vielen Inhabern von Drogeuhandlungen eine 
starke Neigung besteht, den Vorschriften, welche den Vertrieb von Arzneimitteln 
von dem Geschäftsverkehr der Drogisteu ausschliessen, beharrlich zuwiderhandeln. 
Diese Uebertretungen beschränken sich in einer sehr grossen Zahl von Fällen 
nicht auf die Abgabe der für den täglichen Verkehr bereitstehenden Arzneimittel 
und Zubereitungen, sondern erstrecken sich auch auf die Anfertigung jedweder 
Arzneiverordnung (Rezept), und zwar ohue Rücksicht darauf, ob diese direkte 
oder indirekte Gifte enthält oder nicht, so dass der Volksmund thatsächlich nicht 
im Unrecht ist, wenn er die Drogenhandlungen mit dem Namen „wilde 
Apotheken“ belegt. 

Die Gefährlichkeit, welche dieses gesetzwidrige Treiben schon an sich 




Tagesnachrichten. 


491 


für die gesundheitlichen Interessen des grossen Publikums im Gefolge hat, 
erhöht sich wesentlich dadurch, dass, wie vielfach angestellte Ermittelungen 
ergeben haben, das in den Drogenhandlungen beschäftigte Personal, welches mit 
der Zubereitung der Medikamente befasst ist, zum weitaus grössten Theile 
jeglicher sachverständigen Schulung entbehrt und vielfach sogar der lateinischen 
Sprache, in welcher die Rezepte abgefasst sind, nicht mächtig ist. 

Es kommt überdies hinzu, dass die Zubereitung der Arzneimittel in den 
Drogenhandlungen ans naheliegenden Gründen in der Regel im Geheimen vor¬ 
genommen wird und zu diesem Behufe in möglichst abgelegenen Privaträumen, 
Schlafzimmern, Alkoven und sonstigen den beaufsichtigenden Beamten nicht 
zugängigen Gelassen erfolgt, in denen die zur Rezeptur erforderlichen Mittel 
und Sondergeräthe in durchaus unzulänglicher Weise, oft im wilden Durchein¬ 
ander (Gifte, wie Sublimat, Morphium, Quecksilberjodid, Opiumtinktur neben 
Ammonium choleratum pulverat., Goldschwefel, Rhabarbertinktur u. s. w.) auf¬ 
bewahrt werden. 

Der im weitesten Umfange gemachte Versuch, durch Ausübung einer 
scharfen Kontrole und Herbeiführung der Bestrafung der den bestehenden 
Vorschriften Zuwiderhandelnden diesem Unwesen zn steuern, ist ergehnisslos 
geblieben. 

Die Ursache dieses Misserfolges liegt in der Unzulänglichkeit der den 
Behörden nach der geltenden Gesetzgebung zustehenden Befugnisse und nament¬ 
lich darin, dass die dreistesten Uebertretungen auch bei mehrfachen Wieder¬ 
holungen nur mit einer verhältnissmässig geringen Geldstrafe oder kurzen Haft¬ 
strafe geahndet werden, erstere aber durch die Einnahmen aus den begangenen 
Uebertretungen bereits gedeckt ist oder doch bald durch neue Uebertretungen 
gedeckt werden kann und letztere erfahrungsgemäss auch noch des genügenden 
Nachdrucks entbehren, um abschreckend zu wirken. 

Es erübrigt daher nur, die Rechtsnachtheile, welche gegenwärtig an die 
Uebertrctung der fraglichen Bestimmungen geknüpft sind, erheblich zu ver¬ 
schärfen und einschneidender zu gestalten; zu diesem Behufe erscheint es am 
zweckmässigsten, diejenigen Personen, welche den Handel mit Drogen und 
chemischen Präparaten betreiben, in die Zahl solcher Gewerbetreibender aufzu¬ 
nehmen, welche den Bestimmungen des §. 35 der Gewerbeordnung gemäss bei 
Eröffnung ihres Geschäftsbetriebes der zuständigen Behörde hiervon eine be¬ 
sondere Anzeige zu machen haben und denen von dieser die Fortsetzung des 
Gewerbebetriebes untersagt werden kann.“ 


Cholera. Aus Deutschland ist leider der Wiederausbruch der Cholera 
in Hamburg zu melden. Die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle hat sich 
allerdings bisher in massigen Grenzen gehalten und betrug vom 15.—18. Sep¬ 
tember; 9 (5), am 19. Sept.: 6 (2), am 20. Sjpt.: 10 (3), am 21. Scpt: 12 (2), 
am 22. Sept.: 17 (3), am 23. Sept.: 14 (4), am 24. Sept.: 7 (9), am 25. Sept.: 8 (4), 
am 26. Sept.: 5 (1), am 27. Sept.: 6 (0), zusammen: 94 Erkrankungen und 
33 Todesfälle. Als Ursache wird eine Verschlechterung des Leitungswassers 
bezeichnet, hervorgerufen durch Zufluss von unflltrirtem Elbwasser in Folge einer 
unvermuthet eingetretenen Bodensenkung im alten Schöpfkanal. 

Auch in Altona sind in der Zeit vom 15.—27. September 11 Cholera- 
Erkrankungen mit 5 Todesfällen vorgekommen; ausserdem in Itzehoe: 2 (—), 
in Kiel: 1 (—), in Berlin: 3 (1), in Emmerich: 1 (1), in Wauhein bei Duis¬ 
burg : 1 (1), in Heerdt (Kreis Neuss): 1 (—), in Ruhrort: 1 (—), in Bodenwerder 
bei Hameln: 2 (1), in Lauterbach (Eisass): 2 (1), auf einem Oderschiffe zwischen 
Siettin und Schwedt: 1 (1), in Stettin selbst: 1 (1), zusammen 27 Erkrankungen 
und 14 Todesfälle. 

Die gesundheitspolizeiliche Ueberwachnngen im Stromgebiet der Elbe ist 
durch Einrichtung von Schiflfskontrolstationen in Altona, Hamburg, Lauenburg 
und Hitzacker erweitert. 

In Oesterreich ist eine geringere Ausbreitung der Seuche in Galizien 
noch nicht ersichtlich; vom 6.—12. September sind aus 26 Gemeinden 
107 Erkrankungen und 77 Todesfälle, vom 13.—19. September 149 bezw. 84 



492 


Tagesnachrichten. 


gemeldet, zusammen 256 Erkrankungen und 161 Todesfälle gegen 256 bezw. 
134 in dem vorhergehenden vierzehntägigen Zeitraum. Auch in Lemberg sind 
in neuester Zeit Choleraf&lle (33 Erk. und 11 Todesf.) vorgekommen. Am 
meisten infizirt ist noch immer der Bezirk Nadworna (vom 6.—19. Sept.: 104 ErL 
und 43 Todesf.), ausserdem noch der Bezirk Sanock (57 Erk. und 16 Todes!.). 
Die Gesammtzahl der Erkrankungen stellt sich seit dem ersten Auftreten der 
Krankheit in Galizien auf 649 mit 400 Todesfällen in 78 Gemeinden, davon in 
den Bezirken Nadworna 318 (192), Kolomea 95 (51), Sanock 55 (28). 

Eine wesentliche Abnahme hat dagegen die Ausbreitung der Cholera in 
Ungarn erfahren, denn die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle ist von 633 bezw. 
429 in der Woche vom 30. Aug. bis 8. Sept. auf 235 bezw. 160 in der Woche 
vom 6.—12. Sept. gefallen, und die Zahl der infizirten Komitate von 29 auf 
20, diejenigen der infizirten Gemeinden von 216 auf 107. Am meisten herrscht 
die Cholera noch immer in den Komitaten Marmaros (vom 30. Aug. bis 11. Sept.: 
242 Erk. und 111 Todesf.), Scalbolsk, Szathmar, Kun-Szolnock und Bereg. 

In Rumänien betrug die Zahl der Cholera - Erkrankungen vom 1. bis 
7. Sept. 182 mit 118 Todesfällen, davon 59 (42) in Braila, 21 (5) in Galatz, 
19 (15) in Sulina, 4 in Buckarest u. s w.; vom 8. bis 17. Septbr.: 150 (91), 
davon 42 (31) in Braila, 10 (5) in Galatz, 5 (3) in Sulina u. s. w. ; es hat somit 
eine geringe Abnahme der Seuche stattgefunden. 

Die in der Irrenheilanstalt zu Skutari (Türkei) ausgebrochene Cholera- 
Epidemie ist im Erlöschen begriffen; in den letzten Wochen sind nur noch 
wenige Erkrankungen vorgekommen. Dagegen ist die Seuche in der Stadt 
selbst aufgetreten, bisher allerdings nur in massigem Grade (21 Erk. u. 5 Todesf.). 
Etwas stärker scheint sie in Smyrna verbreitet zu sein; vom 6.—14. Sept.: 
55 Erk. und 45 Todesfälle. 

Aus Frankreich wird der Ausbruch der Cholera in Brest und Umgegend 
(vom 16.—22. Sept.: 126 Todesf.) und Charleroi gemeldet; in Nantes belief sich 
die Zahl der Erkrankungen vom 33. Aug. bis 13. Sept. auf 228 mit 150 Todes¬ 
fällen. Von Frankreich aus scheint die Seuche nach Spanien verschleppt zu 
sein und zwar nach Bilbao und Umgegend; die Zahl der Erkrankungen bis 
zum 18. Sept. betrug 17 mit 4 Todesfällen. 

In Belgien sind seit dem Auftreten der Seuche bis zum 9. September 
zusammen 132 Erkrankungen und 98 Todesfälle in 46 Ortschaften vorgekommen; 
die meisten davon in Antwerpen (78 bezw. 51). 

In Holland sind in den letzten Wochen nur vereinzelte Erkrankungs¬ 
und Todesfälle aus 25 verschiedenen Gemeinden angemeldet; darunter aus Rot¬ 
terdam 5 (3), aus Amsterdam 1 Todesfall. 

In England sind zwar an verschiedenen Orten (Leicester, Ashbourne, 
New-Castle, Grimsby, Hüll, Leeds u. s. w.) einzelne Cholera-Erkrankungen be¬ 
obachtet, zu einer epidemischen Ausbreitung der Krankheit ist es aber nirgends 
gekommen. 

In Italien hat die Cholera in Neapel nachgelassen, in Livorno und 
Palermo dagegen zugenommeu. Vom 14.—26. September sind in Livorno 
104 Erkrankungen mit 39 Todesfällen, in Palermo vom 17.—26. Sept.: 148 Er¬ 
krankungen mit 83 Todesfällen gemeldet (seit Ausbruch der Seuche 339 Erk. 
mit 183 Todesfällen). 

In Russland tritt im Allgemeinen eine Abnahme der Seuche zu Tage, 
besonders in den Gouvernements Moskau, Orel, Tula, Grodno, Lomsha, Kursk 
u. s. w. Dagegen macht sich eine solche in Petersburg nicht bemerkbar; auch 
in Wilna und Umgegend ist die Seuche aufgetreten. Die Zahl der Erkrankungen 
bezw. Todesfälle betrug in der Zeit vom 11.—26. Sept. in Petersburg: 756(320), 
in Moskau: 82 (50), in der Zeit vom 27. Aug. bis 16. Sept. in den Gouverne¬ 
ments Lomsha: 295 (168), Orel: 1259 (452), Tula: 1014 (360), Minsk: 262 (104) 
Grodno: 436 (184), vom 27. Aug. bis 9. Sept. in Podolien: 2362 (777), Kursk: 
1045 (376), vom 3.—16. September im Gouvernement Moskau 516 (236), Woro- 
nesh: 858 (461). 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden L W. 

J. 0. C. Brnni, Baehdrackeret, Minden. 


==* Zeitschrift — 

für 

MEDIZINALBEAMTE 


Herausgegeben von 


Dr. H. MITTENZWEIG 

San.-Rath u.gerichtl.Staatphysikus in Berlin. 


Dr. OTTO RAPMUND 

Reg.- und Meduinalrath in Mindrn 


und 

Dr. WILH. SANDER 

Medi/inalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer's mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlung und Rad. Mosse 

entgegen. 


No. 20. 


Erncheint am 1« and 15. Jeden Monats. 
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15. Oktbr. 


Ueber Aggravation bei Augenverletzungen. 

(Amblyopia vera et spuria.) 

Von Dr. Ohlemann in Minden, früher Kreiswundarzt des Kreises Osterholz. 

In den klinischen Monatsblättern ttir Augenheilkunde von 
Zehender, 31. Jahrgang, Aprilheft, pag. 134, schreibt Sanitäts¬ 
rath Dr. Wicherkiewicz: „Die zur Hebung der sozialen Lage 
unserer Arbeiter in dem letzten Decennium promulgirten Gesetze 
haben in einer fast ungeahnten Weise dazu beigetragen, dass die 
Zahl der Simulanten, welche das Gesetz zu ihrem Vortheil miss¬ 
brauchen möchten, sehr stark zunimmt.“ — Aehnliche Aeusse- 
rungen finden sich auch in den politischen Tagesblättern. So 
berichtet ein Referent in den Berliner Neuesten Nachrichten zu 
Anfang dieses Jahres, dass die Zahl der Simulanten durch die 
Unfall - Versicherungs-Gesetzgebung einen ungemein hohen Grad 
erreicht habe, und dass es leider der medizinischen Wissenschaft 
noch nicht geglückt sei, die Entlarvung derselben so herbeizu¬ 
führen, dass die richterlichen Entscheidungen zu ihren Ungunsten 
ausfielen, fast immer gelinge es ihnen in den höheren Instanzen 
ihre Ansprüche durchzusetzen. Solche Erfahrungen lassen es noth- 
wendig erscheinen, die Kasuistik derartiger Fälle mehr als bis 
jetzt zu berücksichtigen, damit der attestirende Arzt in seinen 
geriehtlicherseits erforderten motivirten Gutachten in der Literatur 
ein Unterstützungsmittel für seine Begutachtungen findet. 

Von Interesse dürften deshalb besonders solche Fälle sein, 
die einmal, was die Augenverletzungen anlangen, die Grenzgebiete 
der Amblyopie und Asthenopie betreffen, und in denen kein oder 
nur geringer ophthalmoskopischer Befund vorhanden ist, anderer¬ 
seits eine Modifikation der bekannten Entdeckungsmittel von Simu¬ 
lation und Aggravation nöthig machen. Denn gleichzeitig mit der 
Zahl der Simulanten hat auch deren Spitzfindigkeit und Ver- 

*) Sch in i dt-Rim p ler: Augenheilkunde, 1887, S. 159. 






494 


Dr. Ohlemann. 


schlagenheit zugenommen, und mit den Methoden der Handbücher 
reicht der praktische Arzt nicht immer aus; häufig genug muss er 
zur List greifen, um der Verschlagenheit Herr zu werden. Schwer 
genug wird es ihm wahrlich, bringt doch sein Beruf es mit sich, 
in einem ihn Konsultirenden zunächst und nur einen Hülfesuchen- 
den zu erblicken; es kommt ihm nicht in den Sinn, daran zu 
denken, dass seine Hülfe gemissbraucht werden könne, dass dem 
Hülfesuchenden es gar nicht um Rath und Hülfe zu thun ist, dass 
dieser nur nach einem Atteste angelt. Bona ftde glaubt er einem 
ihm wildfremden Menschen, der ihm erzählt, wie er bei der Arbeit 
eine Contusio bulbi erlitten habe, wie er nicht mehr sehen könne 
und bescheinigt ihm nachher eine Verletzung, die entweder gar 
nicht stattgefunden hat oder aufs massloseste übertrieben ist oder 
sich in anderer Weise zutrug. Wo es sich also um derartige 
Attestirungen von Verletzungen handelt, ist der Arzt wohl be¬ 
rechtigt, seinen Patienten auch auf seine allgemeine Glaubwürdig¬ 
keit hin zu prüfen und sich dazu Methoden zu bedienen, deren 
Zweck dem Konsultirenden verborgen ist. 

Die meisten Schwierigkeiten machen hierbei dem Praktiker die 
Fälle von simulirter Amblyopie oder Asthenopie oder eine Aggra¬ 
vation derselben und wird es ihm mitunter schwer fallen, im gegebe¬ 
nen Momente die Diagnose richtig zu stellen und den Fall in die 
richtige Kategorie zu bringen. Es dürfte daher nicht überflüssig 
erscheinen, die einzelnen Arten der Schwachsichtigkeit zusammen- 
zustelleu, an die der Arzt denken muss, wenn ein angeblich Ver¬ 
letzter ihn konsultirt mit der Klage, er könne nicht mehr ordent¬ 
lich sehen. Es sei hier abgesehen von Trübungen der brechenden 
Medien, von Refraktionsanomalien; denn solche machen ebensowenig 
Schwierigkeiten, wie Erkrankungen mit deutlichen Veränderungen 
am Augenhintergrunde, sondern es interessiren nur die zweifelhaften 
Fälle mit geringem oder ohne Befund. Es kommt z. B. ein Arbeiter 
mit der Klage, seine Verletzung sei wieder geheilt, aber er könne 
noch nicht ordentlich sehen, nach wenigen Minuten der Arbeit 
fange sein Auge an zu thränen, es werde ihm dunkel vor den 
Augen, er müsse die Arbeit niederlegen. Man denkt da zunächst 
an Asthenopie. Die muskuläre Form derselben sowie die accomo- 
dative wären, je nach der Art der Arbeit meist, wenn auch nicht 
immer, auszuschliessen. Die erstere Art, besser charakterisirt als 
Insufiicienz der recti interni, kommt wohl vorwiegend nur beim 
Lesen und Schreiben vor und lässt sich bei der Prismauntersuchung 
durch gekreuzte Doppelbilder nachweisen. Ist z. B. der Muse, 
rectus int. sin. insufficient, so ist Folgendes der Beweis: Man 
hält vor das linke Auge ein Prisma von etwa 10—15°, Basis nach 
unten, und lässt mit beiden Augen einen Punkt auf 30 cm Ent¬ 
fernung fixiren. Bei normalen rectis internis sieht man dann zwei 
Punkte, die gerade übereinander stehen, bei der Insufficienz des 
internus rückt der Punkt, der dem linken Auge angehört, nach 
rechts herüber, es ist der höher stehende. Die letztere, die acco- 
modative Asthenopie, ist meist Begleiterin von Hypermetropie und 
Myopie und so durch das Refraktionsophthalmoskop nachzuweisen. 


Ueber Aggravation bei Angenverletzongen. 


495 


Schwieriger dürfte es sein, asthenopische Beschwerden bei Acco- 
modationskrampf und abnormer Accomodationsspannung ohne Re¬ 
fraktionsanomalien zu erkennen, wenn Jemand behauptete, es 
rührten seine Beschwerden von einer Verletzung her. Schmidt- 
Rim pl er (pag. 118) führt Fälle von v. Graefe aus Berlin an, 
wo kleinere Verletzungen die Ursache abgegeben hatten, besonders 
Kontusionen des Bulbus. Allein hier findet sich meist Myosis, die 
Prognose ist günstig und betrifft wohl meist nur jugendliche Personen. 

Es käme dann in Betracht die nervöse Asthenopie, oder 
Asthenopia retinae. Dieser Zustand veranlasst in der That Be¬ 
schwerden bei anhaltendem Arbeiten mit Verschwimmen der Gegen¬ 
stände und Dunkelwerden vor den Augen. Selbst Stirnschmerzen 
können bestehen und starke Empfindlichkeit gegen Licht. Nicht 
unähnlich sind diese Beschwerden denen von Anaesthesia und 
Hyperaesthesia retinae, Formen, welche von der Asthenopie 
hinüberleiten in das Grenzgebiet der Amblyopie. Bei der Anae¬ 
sthesia retinae findet sich neben der Schwachsichtigkeit eine 
konzentrische Gesichtsfeld - Einengung, bei der Hyperaesthesie 
neben den nervösen Klagen eine auffällige Besserung der Seh¬ 
schärfe bei herabgesetzter Beleuchtung. Wie soll man da einem 
derartig Klagenden nachweisen, wo die Grenze seiner Beschwerden 
liegt, wo die Aggravation anfängt? Nun da müssen wir an die 
Aetiologie denken. Sämmtliche Formen dieser Art, wenn auch 
Traumen die Ursache sein können, kommen doch meist bei Frauen 
und Kindern vor, meist handelt es sich dabei um neurasthenische 
oder anämische Personen bei Genitalerkrankungen oder konstitutio¬ 
nellen Anomalien. 

Ferner findet sich schon im Handbuche für Augenkrankheiten 
vou Schweigger aus dem Jahre 1871 p. 521 ein ganz vorzüg¬ 
liches diagnostisches Erkennungsmittel. Bei den Sehprüfungen 
nämlich ermüden die wirklich Kranken binnen wenigen Minuten 
derart, dass die Untersuchung abgebrochen werden muss. Jn der 
neuesten Auflage von Schweigger’s Ophthalmologie von diesem 
Jahre p. 494 heisst es, dass, während das Gesichtsfeld beinahe 
auf den Fixirpunkt beschränkt angegeben wird, die freie Orien- 
tirung beim Gehen auf der Strasse durchaus nicht beschränkt oder 
beeinträchtigt sei. Die Entwickelung dieses Zustandes der Seh¬ 
störung geht ziemlich rasch unter gleichzeitigem Auftreten der 
bereits erwähnten asthenopischen Beschwerden. Es tritt rasche 
Ermüdung beim Arbeiten ein, gefolgt von Schwachsichtigkeit und 
dieser Gesichtsfeldverengerung. 

Bei den einseitigen, durch Trauma entstandenen Formen ist 
die Sehschärfe nur mässig herabgesetzt, selten geringer als l j 4 der 
normalen. Aber auch hier besteht keine Regel, denn auch erheb¬ 
lichere Ausfälle kommen vor. Die Schwierigkeit der Diagnose 
wird vermehrt dadurch, dass sich die einzelnen Angaben des 
Patienten widersprechen können, ohne dass man an Simulation zu 
glauben braucht. Da kommt es denn auf die ganze Anamnese an 
und auf die übrigen Proben hinsichtlich der Glaubwürdigkeit, 
um sich ein richtiges Urtheil zu bilden. Schliesslich ist auch der 



496 


Dr. Ohlem&nn. 


Verlauf von Wichtigkeit für die Auffassung. Die Prognose ist 
eine günstige, eine Heilung in einigen Wochen bis Monaten 
meist zu erreichen. 

Besonders in Erwägung zu ziehen ist die reflektorische 
und traumatische Amblyopie. Es sind nicht die Fälle gemeint, 
welche als Folgezustände eines vorher am anderen Auge Ver¬ 
letzten Vorkommen und als sympathische Neurose beschrieben sind, 
sondern es sind die Fälle gemeint, wo Schwachsichtigkeit, ja Er¬ 
blindung in Folge von Kontusionen des Auges und selbst seiner 
Umgebung eintrat, wie Stoss gegen den Unterkiefer. Trifft eine 
Kontusion den Bulbus selbst, ohne äusserlich eine Spur zu hinter¬ 
lassen, so kann doch intraokular eine Einwirkung vorhanden sein — 
ich betone immer wieder, dass die Fälle, in denen Veränderung 
wahrnehmbar sind, wie z. B. Netzhautablösung, Netzhauttrübung, 
meist als wohl charakterisirbar hier ausgeschlossen sind, — es 
kann eine Trübung des Glaskörpers eintreten mit Herabsetzung 
der Sehschärfe, ja es kann selbst Erblindung erfolgen. Allein wie 
ist der Verlauf solcher Fälle? Die Prognose ist günstig, wenn 
nicht Netzhautablösung vorliegt, selbst Amaurose kann wieder 
zurückgehen, die Trübung der Retina verliert sich bereits nach 
einigen Tagen; aufgetretene periphere Gesichtsfelddefekte gehen 
bald zurück. An eine Aggravation kann man dann wohl denken, 
wenn ein Arbeiter nach leichter Kontusion permanent bei seinen 
Klagen bleibt, ohne dass man ophthalmoskopisch irgend einen Be¬ 
fund hat. Wenn wohl Grund vorhanden ist, an Simulation zu 
denken, so bliebe zu prüfen, so bald über Schwachsichtigkeit nach 
Verletzungen geklagt wird, ob die Schwachsichtigkeit eine zentrale 
oder periphere ist, oder ob keine Beschränkung des Gesichtsfeldes 
ohne Skotom besteht, also eine einfache Herabsetzung der Seh¬ 
schärfe. Gar manche als Folge von Contusio bulbi angesehene 
Amblyopie kann beruhen in den diätetischen Verhältnissen und 
der Lebensweise des Kranken. Schweigger nennt Verdauungs¬ 
beschwerden, Unregelmässigkeiten der Blutzirkulation, besonders 
anhaltende Kälte der Unterextremitäten, unregelmässigen Schlaf, 
übermässige Anstrengung der Augen, übermässiges Rauchen und 
— by no means least — abusus spirituosorum. Hieraus erklärt sich, 
dass diese Form der Amblyopie, kurzhin Intoxikationsamblyopie 
genannt, vorzugsweise bei den Männern vorkommt. Allein bei 
diesen Formen der wahren Amblyopie findet man zentrale Skotome 
mit Herabsetzung des Fabensinnes innerhalb derselben, so zwar, 
dass Roth undeutlich, dunkel wird, Grün grau erscheint, Gelb 
bräunlich. Die Erkennung von Blau bleibt meist erhalten. 

Die noch übrigen Amblyopien, wie kongenitale, die A. ex 
Anopsia, Hemianopsie, Hemeralopie, Nyktalopie, das Flimmerskotom, 
sind klinisch zu wohl charakterisirt, als dass sie Schwierigkeiten 
bei der Beurtheilung von Verletzungen oder angeblichen Ver¬ 
letzungen bildeten. Dasselbe gilt von einigen besonderen patholo¬ 
gischen Fällen: Amblyopien bei Uraemie, Intoxikationen bei Blei- 
und Chininpräparaten, nach grösseren Dosen von Salicylsäure, Kar¬ 
bolvergiftung, nach Haemorrhagien irgend welcher Art. Auch bei 



Lieber Aggravation bei Augcnverletzungcn. t J97 

Arbeitern in Guttaperchafabriken soll durch Einwirkung' des 
»Schwefelkohlenstoffes eine Amblyopie beobachtet sein. 

Was für Hülfsmittel besitzt nun der Arzt, um die Frage der 
Simulation oder Aggravation zu entscheiden? Da giebt es ein¬ 
fache, aber auch komplizirte Fälle, je nachdem absolut das Sehen 
simulirt. d. h. absolute Amaurose angegeben oder nur Schwach¬ 
sichtigkeit vorgeschützt wird, dann wieder, je nachdem das zweite 
Auge als ganz gesund mit normaler Sehschärfe vorhanden oder 
dieses ohne irgend eine Verletzung durch eine andere Ursache 
bereits amblyopisch ist. Solche letztere Fälle sind die schwie¬ 
rigsten und sind in der Kasuistik auch am wenigsten vertreten. 

Da wo S = 0 sein soll auf einem Auge sind die Prisma¬ 
prüfungen die besten Mittel, bald führt die Welz’sehe Probe, 
bald die von Alfred Graefe zum Ziel. In neuerer Zeit hat 
Burchardt eine Methode mittels Stereoskopen angegeben; eine 
eben solche, kombinirt mit Prismen, findet sich im Flöes’sehen 
Apparat, wobei bald farbige Gläser, bald die Stilling’sehen 
Farbentafeln benutzt werden, deren Prinzip darin beruht, dass der 
zu Untersuchende mittelst der Prismen nicht weiss, welches Bild 
dem gesunden und welches dem angeblich blinden gehört. 1 ) 

Schwieriger ist der Nachweis einseitiger übertriebener 
Schwachsichtigkeit. Hat man nach genauer Untersuchung keine 
anatomische Ursache der behaupteten Schwachsichtigkeit gefunden, 
hat man nichts übersehen, auch auf Astigmatismus, Ablenkung der 
Augenaxen geachtet, ebenso auf die Klarheit der brechenden 
Medien, hat man sich aller der verschiedenen Formen von Am¬ 
blyopie, die im Vorstehenden kurz skizzirt sind, erinnert, so geht 
man kaltblütig zunächst an die Sehprüfung, deren Resultat man 
sich notirt. Man bedient sich dabei am Besten der Sehproben für 
die Nähe und Ferne von Schweigger und achtet auch darauf, 
ob ein erhebliches Missverhältniss zwischen beiden Prüfungen vor¬ 
handen ist. Häufig sind jedoch Simulanten so schlau, dass man 
dabei keine genügenden Anhaltspunkte findet, dann benutzt man 
die gewonnenen Resultate zu späteren Vergleichungen. Dies ist 
auch deshalb um so wichtiger, als die Unfalls-Versicherungs- 
Behörde den genauen Prozentsatz des Verlustes zu wissen wünscht. 
Ist ferner eine gewisse Zeit vergangen nach dieser Untersuchung 
und prüft man dann wieder, so kann man nicht unerhebliche 
Schwankungen in den Angaben erhalten, die dann natürlich ver¬ 
schärfte Aufmerksamkeit wachrufen. Alsdann prüft man auf andere 
Weise die Glaubwürdigkeit des zu Untersuchenden. Dazu giebt 
es mehrere Wege. Schmidt-Rimpler empfiehlt die Prüfung des 
Gesichtsfeldes in verschiedenen Entfernungen. Das Gesichtsfeld 
ist in geringeren Entfernungen, z. B. 1 Fuss kleiner als in 1 m. 
Giebt Jemand, den man auch aus anderen Gründen kein rechtes 
Vertrauen auf seine Aussagen schenken kann, das Gesichts¬ 
feld für verschiedene Distanzen gleichmässig an, so ist damit 
eine absichtliche Unwahrheit nachgewiesen. Sollte man mit dieser 

‘) Schmidt-Rimpler: Augenheilkunde; pag. 154—159. 



498 . 


Dr. Ohlemann. 


Methode nicht auskommen können, weil eine Unbestimmtheit in 
den Angaben oder in der Deutung liegen kann, da es ja auch 
schon eines gewissen guten Willens seitens des zu Untersuchenden 
bedarf, um das Gesichtsfeld richtig prüfen zu können, wobei auch 
unbeabsichtigte Irrthümer bei der zentralen Fixation und der peri¬ 
pheren Bewegung der Hand mit unterlaufen können, so ist das Ver¬ 
fahren empfehlenswerth, welches gleichfalls schon von Schmidt- 
Rimpler erwähnt (pag. 158) von Wicherkiewicz neuerdings 
wieder mehr empfohlen wird. Die Methode besteht in dem Vor¬ 
setzen eines starken Konvexglases, etwa 20 D, vor das gesunde 
Auge, mit dem man sich allein zu beschäftigen den Anschein giebt. 
Vor das angeblich amblyopische Auge setzt man dagegen ein ganz 
schwaches Konvexglas, etwa 1 D (Nr. 40), und lässt dann in 5 bis 
6 Meter nach den Schweigger’sehen Tafeln sehen. Nach den 
Erfahrungen, die W. damit gemacht hat, ist es ihm gelungen, 
Simulanten auf diese Weise zu entlarven. Allein Schmidt- 
Rim p ler bemerkt schon, dass einigermassen unterrichtete Simu¬ 
lanten sich hierdurch nicht fangen lassen, auch W. giebt dies zu, 
und hat sein „aber“ bei der Sache: „man dürfte dem zu Unter¬ 
suchenden keine Zeit lassen und müsse ihn ansporen, die Probe¬ 
buchstaben rasch zu nennen.“ 

Wicherkiewicz erwähnt auch noch ein Verfahren bei 
Simulation völliger Amaurose, bei dem es sich aber nur um den 
Nachweis von Lichtschein handelt und das vielleicht nur verwendbar 
ist bei noch vorhandener Pupillarreaktion. Der Arzt drückt gelbst 
die Lidspalten beider Augen zu, während er mit dem Augenspiegel 
das Licht bald auf das eine, bald auf das andere geschlossene 
Auge im raschen Wechsel fallen lässt und nun nach hell und dunkel 
fragt. Sehr bald soll der Simulant das Aufleuchten vor dem an¬ 
geblich gänzlich blinden Auge verrathen. 

Ohne den Anspruch zu erheben, eine neue Methode gefunden zu 
haben, hat mir folgendes Verfahren zu einem raschen Eingeständniss 
des Simulanten geführt. Und darauf möchte ich den Hauptwerth 
legen, dass der zu Untersuchende auch zugiebt. worauf es an¬ 
kommt, man möchte beinahe sagen in höchst naiver Weise, wobei man 
keineswegs rasch zu arbeiten braucht, aber doch sich so verhalten 
muss, als ob man keinen Zweitel in die Angaben des zu Untersuchen¬ 
den setzt. Es ist ein Prismaversuch. Ich schicke zur Orientirung 
voraus, dass, wenn man irgend ein Prisma etwa 10 0 vor ein Auge 
mit der Basis nach unten hält, ein in einigen Metern Entfernung 
aufgestelltes Licht bekanntlich doppelt gesehen wird, ein oberes 
und ein unteres, wenn man nun vor das zweite Auge ein eben 
solches und ebenso Basis nach unten hält, dann sieht man wieder 
nur ein Licht. Durch eine leichte, irgend beliebige Drehung 
eines Prisma’s nur ist man im Stande, sofort wieder Doppelbilder 
hervorzurufen. Ich operirte nun folgendermassen: Ich hielt dem 
zu Untersuchenden, dessen Angaben über seine angeblich noch 
nicht wiedererlangte Arbeitsfähigkeit in Zweifel kamen, ein Prisma 
von 10° in der eben angedeuten Weise vor ein Auge, stellte ein 
Licht in 4 Meter auf und fragte, wie viel Lichter er sehe. Er 



lieber Aggravation bei Augenverletzungen. 


499 


antwortete ganz richtig: ich sehe zwei. Nun nahm ich das Prisma 
weg und hielt es vor das andere Auge, fragend, und wieviel nun ? 
wiederum Antwort richtig: 2; darauf, indem ich wie beiläufig be¬ 
merkte, das macht zusammen 4, hielt ich nun vor jedes Auge ein 
Prisma von IO 0 , Basis unten und fragte dann, wieviel sehen Sie 
nun? Da kam die überraschende Antwort: 4, alsdann gab ich 
dem einen Prisma eine kleine Drehung und fragte wieder, wieviel 
jetzt? Wiederum Antwort: 4; ich drehte beide Prismen beliebig, 
jedesmal kam dieselbe Antwort: 4 Lichter. Nach Schluss des 
Versuches erst sprach ich mein Bedenken aus über die Richtigkeit 
der Angaben, darauf sagte der Mann: „Sie haben mir ja aber 
auch vor jedes Auge ein Glas gehalten! Dabei blieb er auch, als 
ich einige Wochen später ihn selbst in Gegenwart von Zeugen 
auf diese Aussage aufmerksam machte. Selbstredend wurde er 
nicht aufgeklärt, wohl aber das zuständige Königl. Amtsgericht. 
Dass ihm seitens des Untersuchers eine falsche Angabe gewisser- 
massen suggestionirt wäre, wird man wohl kaum annehmen können, 
besonders wenn man die Ueberlegung des Mannes bedenkt, die er 
bei seinem Einwande dokumentirte. Der Mann kalkulirte offenbar, 
er müsse 4 Bilder sehen oder er verrathe sich, daher auch die 
wiederholte naive Ausrede, er habe ja vor jedem Auge ein Glas 
gehabt. Auch das langsame Prüfen unterstützt die Sache, veran¬ 
lasst man den Simulanten zu raschem Antworten, so merkt er eher, 
dass man ihm eine Falle stellen will, und er wird leichter kopfscheu. 

In überraschender Weise wurde das Sehvermögen eines 
Mannes auf andere, eigentlich nicht erwartete Weise rasch ge¬ 
bessert : Auf Treu und Glauben wurde bei einem Streckenarbeiter 
angenommen, dass er trotz Drahtschutzbrille durch Steintrümmer 
beim Steinklopfeu eine Contusio bulbi davongetragen habe mit 
S= l /s 6 —V 24 ) so weit ich erinnere. Ophthalmoskopisch fand sich 
leichte Trübung des Augenhintergrundes, doch sehr an der Grenze 
des normalen. Da die Chorioidea stark pigmentirt war, hätte man 
den Befund, wenn keine Verletzung angegeben wäre, wohl normal 
halten können. So hatte es den Anschein, als ob die Verletzung 
zu jenen Formen der Folgen einer Kontusion gehört, die als 
Commotio retinae beschrieben, sich als eigenthümliche ödematöse 
Trübung der N etzhaut charakterisirt (Schmidt-Rimpler pag. 273). 
Eben so gut hätte man aber auch das ophthalmoskopische Bild 
für leichte Glaskörpertrübung ansehen können. Eine Netzhaut¬ 
ablösung war nicht erkennbar. Das nicht verletzte Auge hatte 
S = ti / 24 . Die betreffende Behörde sandte den Mann in das Kranken¬ 
haus. Die Behandlung sollte eingeleitet werden mit Heurteloup, 
Diaphorese und Jodkalium. Schon beim Heurteloup aber fing der 
Mann an renitent zu werden, „det will ik nich hebben“ rief er 
energisch, und schüttelte mit dem Kopfe den Heurteloup ab. Am 
6 . Tage kam er unter irgend einem Vorwände, er müsse nach 
Hause, er wolle untersucht werden. Der Gefalle wurde ihm ge- 
than, er gab mit dem verletzten Auge S = 6 / 1R an, mit dem nicht 
verletzten wie früher 6 / 24 . Ein zentrales Skotom war nicht nach¬ 
weisbar. 



500 Dr. Ohlemann: Ueber Aggravation bei Augenverletzungen. 

In einem anderen Falle, betreffend einen eingezogenen Re¬ 
kruten aus dem Eisass, welcher mir durch einen der Herren 
Stabsärzte überwiesen war, und der hochgradige Amblyopie beider 
Augen angab, fand sich ophthalmoskopisch */» D* Myopie, brechende 
Medien klar, kein Astigmatismus, kein Strabismus, kein intraoku¬ 
lares Leiden. Der Mann wurde in’s Lazareth geschickt, und ge¬ 
lang es ohne weitere Behandlung ihn dort zum Sehen zu bringen, 
die Lazarethkost allein hatte ihn mürbe gemacht, jedoch dauerte es 
6 Wochen. 

Solche Fälle lassen die Frage aufwerfen, ob es gerechtfertigt 
ist, da, wo man Amblyopie glaubt simulirt zu finden, sie ebenso 
zu behandeln wie wahre, beispielsweise Intoxikation - Amblyopie, 
d. h. mit Blutentziehungen, Schwitz- und anderen Mitteln, vor 
Allem in einer Anstalt, wo möglich mit Injektionen von Pilokarpin. 

Handelt es sich um eine Amblyopia vera, dann ist die Be¬ 
handlung einwandfrei, ist sie aber eine Amblyopia spuria, so würde 
eine solche Behandlung sicher zur Klärung der Diagnose beitragen, 
sie würde ganz besonders gerechtfertigt sein, wenn man zu Gunsten 
des zu Untersuchenden eine genuine Schwachsichtigkeit annehme. 

Wie vorsichtig man im Glauben an die dem Arzte gemachten 
Angaben sein muss, lehrt auch noch folgender Fall: Zu mir kam 
ein Mann vom Lande mit einer frischen Augenverletzung. Die 
Diagnose ergab Linsenluxation. Er wünschte ein Attest darüber 
und gab an, dass die Verletzung durch ein Stück Holz bei der 
Arbeit erfolgt sei. Er bekam dasselbe anstandlos, es wurde ihm 
geglaubt. Einige Zeit nachher erhielt ich ein Schreiben der 
Königl. Staatsanwalt aus Verden, worin ich aufgefordert wurde, 
mich gutachtlich zu äussern, ob die Verletzung dieses Mannes 
durch einen Schneeball hervorgerufen sein könnte. Da der Mann 
die Verletzung als Unfall bei der Arbeit angemeldet hatte, wurde 
von der betr. Behörde recherchirt und in Erfahrung gebracht, dass 
dem Manne an einem Sonntag Nachmittage' durch einen Jungen 
ein Schneeball in’s Auge geworfen worden war. Da solche Fälle 
bereits vorgekommen sind, dass ein Schneeballwurf gegen das 
Auge Linsenluxation hervorbrachte, so musste in dem Sinne die 
Antwort natürlich ausfallen. Irrthümer in der Auffassung sind 
daher nicht ausgeschlossen, sie können ferner entstehen durch die 
verschiedenen Aussagen des zu Untersuchenden bei derselben 
Untersuchung oder späteren Nachprüfungen, bei dem gleichzeitigen 
Vorhandensein pathologischer Veränderungen, wie beispielsweise 
von Netzhauttrübungen bis zu Netzhautablösungen bei vorge¬ 
kommenen oder angeblichen Kontusionen, sie können da sein bei 
Untersuchungen zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen 
Beobachtern. Dasselbe gilt bei der Untersuchung Militärpflichtiger, 
bei denen man ophthalmoskopisch geringere oder höhere Grade von 
Refraktionsanomalien findet, die für die Nähe feinste Schrift lesen, 
aber mit dem korrigirenden Glase noch nicht einmal S = 6 / 36 haben 
wollen. Gewiss kann man sich die Sache leicht machen, man hat 
nur nöthig dem zu Untersuchenden Glauben zu schenken und sich 
damit jeden Konflikt zu sparen, der zu Schreibereien und Unbe- 



t)r. Nauck: Was hindert das Zustandekommen der Medizinaireform ? 501 


quemlichkeiten mancherlei Art, auch zu gerichtlichen Terminen, 
führt. Allein sind verdächtige Umstände vorhanden, welche zu 
Zweifeln Anlass geben, stimmen dieselben mit Beobachtungen 
überein, die anderweitig, etwa behördlicherseits ermittelt, die Zweifel 
mehren, und kann man dieselben begründen, so sollte man doch 
unter allen Umständen seiner Ueberzeugung Ausdruck geben. Er¬ 
leichtert würde die Klarstellung solcher zweifelhafter Fälle, wenn 
die Untersuchung von 2 von der Behörde ernannten Aerzten zu 
einer Zeit gemacht würde, nicht wie bis jetzt, wo heute der eine, 
in 6 Wochen etwa ein anderer allein den Fall sieht. Was fiir 
Umstände können da nicht eintreten, und welche Verhältnisse 
nicht vorliegen, dass beide Experten zu verschiedenen Resultaten 
gelangen, die für die Behörden dann keineswegs angenehm sind. 

Noch ein anderer Punkt würde dafür sprechen. Solche, 
denen es auf Uebertreibungen ankommt, lernen immer etwas bei 
wiederholten Untersuchungen, sie können sich leicht merken, 
worauf es ankommt und danach ihre Antworten einrichten. Merken 
sie z. B., dass es dem Arzte darauf ankommt, zu konstatiren, dass 
im gegebenen Falle die Sehschärfe 6 I IS ist, so geben sie bei einer 
späteren Untersuchung vielleicht nur 6 / 3r , oder noch weniger an. 
Von grossem moralischen Eindrücke würde es auch sein, wenn 
man in Gegenwart eines Zeugen unrichtige Angaben nach- 
weisen könnte. Endlich müssten die medizinischen Experten, wo 
es geht, behördlicherseits in den Recherchen über die angegebenen 
Unfälle unterstützt werden, damit sie nicht auf die subjektiven 
Angaben des Verletzten allein angewiesen sind, die fast immer 
darauf ausgehen, sich zu einem Vortheile zu verhelfen. 1 ) 


Was hindert das Zustandekommen der Medizinalreform? 

Von Kreispbysikns Dr. Nauck zu Bredstedt. 

Es scheint mir nicht unzweckmässig der von R ei mann in 
Nr. 16 der Zeitschrift für Medizinalbeamte dieses Jahrganges ge¬ 
gebenen Anregung einer Erforschung der Gründe, die die Staats¬ 
regierung von entschiedenem Vorgehen in der Medizinalreform 
abhalten, Folge zu geben. Es dürfte sich aber auch verlohnen 
auf einige im Parlament und in der Presse sich bemerkbar 
machende Anschauungen aufmerksam zu machen, weil dieselben 
vielleicht nicht ohne Einfluss auf die Entschliessungen der Staats¬ 
regierung sind, und weil neuerdings vonRusak in der Versamm¬ 
lung der Medizinalbeamten des Regierungsbezirks Stade (siehe 
Zeitschr. f. Med.-B. Nr. 18 d. J.) eine Einwirkung auf die Presse 
und auf die Abgeordneten empfohlen wird. Ich kann die öffent¬ 
liche Meinung nicht durchweg einer Medizinalreform günstig ge¬ 
stimmt erachten! Den Ausführungen Reimann’s vermag ich 
nicht in allen Punkten beizutreten, wie aus dem Folgenden her- 

*) Erst narb dem Drucke dieser Arbeit wurde mir durch die Zehend er 1 - 
srlit* Monatsschrift (.Juliheft) die Arbeit Nieden’s über Simulation bei Augenvor- 
letznntfeu bekannt. Dieselbe konnte daher leider nicht mehr benutzt werden. 



502 


Dr. Nauck. 


vorgehen dürfte, möchte aber zunächst nur hervorheben, dass auch 
mir, wie dem Redakteur t vergl. die Anmerkung in Nr. 16) die 
Ueberflügelung des Zivilmedizinalwesens durch das Militärmedizinal¬ 
wesen erst neueren Datums zu sein scheint, nämlich seitdem es 
einer Reihe von Militärärzten vergönnt gewesen war mit Robert 
Koch gleichzeitig im Reichsgesundheitsamt zu arbeiten und seit¬ 
dem der jetzige Chef des Militärmedizinalwesens in richtiger 
Würdigung der Bedeutung der Bakteriologie der Ausübung der¬ 
selben innerhalb des Sanitätsoffizierkorps die weiteste Verbreitung 
verschafft hat. Indessen hat ja der Herr Kultusminister in seiner 
Beantwortung der Interpellation des Grafen Douglas vom 4. Juli 
des Jahres (s. Z. f. M. Nr. 14) das Versprechen gegeben: Wir 
werden darauf Bedacht zu nehmen haben, dass unsere Medizinal¬ 
beamten mindestens gleichwertig auch nach dieser Richtung (d. i. 
in Bezug auf die von militärischer Seite gewährte Hülfe) ausge¬ 
bildet sind und auch ausgerüstet werden, wie es jetzt beim Mili¬ 
tär der Fall ist.“ 

Bei Besprechung der einzelnen der Medizinalreform entgegen¬ 
stehenden Hindernisse glaube ich am besten der Disposition des 
Herrn Ministers in seiner eben gedachten Rede vom 4. Juli folgen 
zu sollen. Sie liegen hiernach kurz gefasst in der Vorbildung der 
Medizinalbeamten, ihrer Kompetenzerweiterung und ihrer Gehalts¬ 
regelung. 

1. Die ungenügende Vorbildung der Medizinalbeamten: 

Der Herr Minister hat in seiner Rede vom 4. Juli als Vor¬ 
bedingung der ganzen Medizinalreform die bessere Vorbildung der 
künftigen Medizinalbeamten, namentlich hinsichtlich der neuerdings 
gewonnenen wissenschaftlichen Ergebnisse auf den Gebieten der 
öffentlichen Gesundheitspflege: Hygiene, Bakteriologie, Epidemio¬ 
logie, Assanirung der Wohnungen, Wasserfrage u. s. w. bezeichnet. 
Gemäss dieser an massgebender Stelle herrschenden Ansicht (ver- 
muthlich auf Koch’s Anregung, s. den Artikel in Nr. 15 der 
Z. f. M.) sind die Physiker der amtlichen Verpflichtung zur bak¬ 
teriologischen Feststellung der Choleradiagnose enthoben worden. 1 ) 
Es ist ferner sowohl im Reichstag wie im Abgeordnetenhaus von 
mehreren Abgeordneten der Ueberzeugung einer ungenügenden 
Ausbildung der Physiker namentlich in bakteriologischer Hinsicht 
Ausdruck gegeben worden. Das Gleiche ist in der Presse ge¬ 
schehen (Vossische Zeitung). Den Lesern dieser Zeitschrift sind 
die gegen diese Anschauungen gerichteten Ausführungen des 
Redakteurs in Nr. 12 und 14 des Jahrganges bekannt. Ich kann 
auf dieselben hiermit verweisen, zumal da ich nichts hinzuzufügen 


') Es ist unter deu Medizinalbcamteu noch vielfach die Ansicht verbreitet, 
dass die Anordnung betreffs Vornahme der bakteriologischen Untersuchungen 
durch dii! Uuiversitäts-Institute u. s. w. nur in Prcussen getroffen sei. Dem¬ 
gegenüber möge hier betont werden, dass diese Anordnung auf Veranlassung 
eines Rundsehreibens des Reichsamts des Innern und eines diesem Schreiben 
boigi fügten Berichts des Direktors des Reichsgesundheitsamtes erfolgt ist und 
zwar nicht nur in Prcussen, sondern in allen anderen deutschen Bundes¬ 
staaten. Rpd. 



Was hindert das Zustandekommen der Medizinalreform ? 


503 


habe, ausser vielleicht, dass mittlerweile an den übrigens bisher 
nicht obligatorischen Fortbildungskursen, durch die die gewünschte 
bessere Ausbildung erzielt werden soll, schätzungsweise schon über 
die Hälfte der Physiker Theil genommen hat, dass die bakteriolo¬ 
gische Choleradiagnose auch nicht von den Militärärzten, soweit 
sie nicht zu den Sanitätsämtern kommandirt sind, verlangt wird, 
und dass das jetzige ultimum refugium schwieriger Fälle der 
Dia guosenstel lung, der Thierversuch sich ohne Beihülfe eines Sub¬ 
stituts, das dem „bakteriologisch ausgebildeten Lazarethgehülfen“ 
der militärisch besetzten SehitFskontrolstationen (siehe Dienstan¬ 
weisung für die Vorstände der ärztlichen Schiffskontrolstationen 
Z. f. M. 1892, Seite 145 und 136) kaum ausführen lassen dürfte. 

Wie ist nun dieses erste von massgebender Seite besonders 
hervorgehobene Hinderniss der Medizinalreform, nämlich die unge¬ 
nügende Vorbildung der Medizinalbeamten, zu heben? 

Nach den Erklärungen des Herrn Ministers (siehe oben) ist 
anzunehmen, dass unsere Ausbildung den beim Militär bestehenden 
Einrichtungen gemäss in weiteren Fortbildungskursen gefördert 
werden soll, obgleich die dauernde Einrichtung dieser Kurse ur¬ 
sprünglich nicht beabsichtigt war (Erlass des Ministers vom 
11. Nov. 1891), sondern jedem Medizinalbeamten nur einmal Ge¬ 
legenheit gegeben werden sollte, einen solchen Kursus mitzu¬ 
machen. Es wäre diese fernere Förderung, wie überhaupt jede 
Gelegenheit zum Lernen mit Freuden zu begrüssen und nur zu 
wünschen, dass die Kurse, abgesehen von der Aufhebung der 
Kursusgelder, nicht mit Geldopfern für uns verbunden sind, so dass 
sie obligatorisch für jeden von uns, auch für die „älteren Herren“ 
gemacht werden können. 

Zu unserer weiteren Ausbildung würde es aber vor allen 
Dingen dienen, dass uns schon jetzt Gelegenheit gegeben werde, 
uns in den sonstigen Untersuchungsmethoden, in denen wir in den 
Kursen unterwiesen worden sind, zu üben. Das bakteriologische 
Verfahren zur Feststellung der Choleradiagnose ist bekanntlich 
nachträglich von Koch modifizirt worden. Die übrigen hygieni¬ 
schen Untersuchungsmethoden gelten aber heute noch zu Recht, 
und es kann doch nicht angenommen werden, dass wir gar nichts 
in den Kursen gelernt haben sollten, dass der preussische Staat 
jährlich 20 000 Mark vergeudet haben sollte! Mir will es scheinen, 
dass wir immerhin im Stande sind, Trinkwasser auf seine Brauch¬ 
barkeit, die Luft der Schulräume auf ihre Schädlichkeit, die Milch 
auf ihren Fettgehalt u. s. w. mit einer für praktische Zwecke 
genügenden Genauigkeit zu prüfen, und uns daher für diese 
Untersuchungen zur Verfügung stellen können. Es unterliegt 
keinem Zweifel, dass unter Anderm eine chemisch-bakteriologische 
Untersuchung der Brunnenwässer in weit umfassenderem Mass- 
stabe geschehen müsste, als dies mit Hülfe der wenigen Unter¬ 
suchungsämter bezw. hygienischen Institute möglich ist, und der 
örtliche Gesundheitsbeamte dürfte in erster Linie hierzu geeignet 
sein. Ja ich glaube sogar, ohne dies Verfahren zur Norm erhoben 
wissen zu wollen, dass einer blos qualitativ-chemischen und einer 



504 


Dr. Nauck. 


sich auf die Anfertigung einiger Es mar ch’scher Rollrühichen 
beschränkenden bakteriologischen Untersuchung eines Brunnen¬ 
wassers durch den örtlichen Gesundheitsbeamten schliesslich ein 
höherer Werth beizulegen ist, als der gründlichsten und exaktesten 
quantitativ - chemischen und die einzelnen Spezies berücksichtigen¬ 
den bakteriologischen Untersuchung durch ein hygienisches Institut, 
weil der örtliche Medizinalbeamte zugleich in der Lage ist, die 
sehr wichtige Lokal - Inspektion des Brunnens vorzunehmen. Der 
von Koch in seiner Beschreibung der Cholera - Nachepidemie von 
Altona geschilderte Brunnen des „langen Jammers“ (Zeitschr. für 
Hygiene, 1. Heft, XV. Band, S. 116) hätte nach Koch’s eigener 
Ansicht noch kurz vor dem Ausbruch der Epidemie möglicher 
Weise ein chemisch - bakteriologisch günstiges Wasser gegeben, 
während auf Grund der lokalen Inspektion gegen die Zulässigkeit 
des Brunnens schwere Bedenken hätten erhoben werden müssen. 
Die hygienischen Institute scheinen mir auch gar nicht in der 
Lage zu sein, die für die einzelnen Landstriche verschiedenen, zur 
Beurtheilung der Brauchbarkeit eines Trinkwassers jetzt erfordert 
lieh geltenden Durchschnittswerthe der chemischen Beschaffenliei- 
zu gewinnen. Beim Militär wird Trinkwasser und Milch auch 
in den Garnisonlazarethen, nicht blos in den Korps - Sanitätsämtern 
untersucht. 

Ich komme also zu dem Schlüsse, dass, wie durch den Kultus¬ 
minister im vorigen Herbste die Behörden auf unsere Fähigkeit, 
Choleradejektionen untersuchen zu können, aufmerksam gemacht 
worden sind, dies auch hinsichtlich unserer Verwendbarkeit zu 
den gedachten hygienischen Untersuchungen jetzt noch geschehen 
sollte. In meinem Regierungsbezirke sind die Gesundheits¬ 
kommissionen angehalten, die Brunnenuntersuchungen durch Sach¬ 
verständige (die nicht näher bezeichnet sind) „mit Energie“ zu 
fördern. Ich würde es für zweckmässig erachten, wenn wir als 
solche Sachverständigen bezeichnet würden. Wir würden dann 
auch eher in der Lage sein, einzugreifen, wo die Energie der 
Gesundheitskommissionen erlahmen sollte. 

Es dürfte aber auch nothwendig sein, dass wir für derartige 
Untersuchungen mit den nüthigen Apparaten ausgerüstet und, auch 
wenn sie im allgemeinen staatlichen Interesse vorgenommen werdeu, 
besonders entschädigt werden, so lange unser Gehalt nicht genügend 
aufgebessert ist. Der §. 1 des Gebührengesetzes vom 9. März 
1872 war durch den Ministerialerlass vom 17. Oktober v. Jahres 
wenigstens für die Cholerauntersuchungen aufgehoben mit der Be¬ 
gründung, dass diese nicht für medizinal- oder sanitätspolizeiliche 
Verrichtungen im Sinne des §. 1, sondern als wissenschaftliche, 
zur Begründung solcher Verrichtungen erforderliche Vorarbeiten 
anzusehen seien. Nun, ich glaube, als solche können auch die oben 
gedachten Untersuchungen aufgefasst werden. 1 ) 

*) Auf dieser meiner Ansicht der Nothwendigkeit der Brunnen-, Sehnl- 
luft-, Milch- und ähnlicher Untersuchungen durch den Kreismedizinalbeamten 
M«mIic ich beharren, auch nach nachträglicher Kenntnisnahme des Erlasses der 
Mijusicr des Innern und der Medizinal-Angelegenheiten vom 26. Juli d. J. betr. 



Was hindert das Zustandekommen der Medizinalreform P 


505 


2. Die Kompetenz der zukünftigen Kreisärzte: 

Der Herr Minister weist in seiner Rede vom 4. Juli darauf 
hin, dass zur Medizinalreform auch gehöre „eine Regelung der 
gesammten Stellung der Medizinalbeamten im Rahmen der Ver¬ 
waltung, ihrer Stellung zu den Regiminalbehörden, ihrer Initiative 
u. s. w.“ und dass dieser Punkt, sowie man ihm näher trete, eine 
ganze Reihe organisatorischer (und finanzieller) Fragen ergäbe, 
deren Lösung die allergrössesten Schwierigkeiten biete. Ein Theil 
dieser Fragen dürfte allerdings verwaltungstechnischer Natur und 
nicht von unserm Standpunst allein zu lösen sein. Es sei aber 
gestattet in Erörterung zu treten über die sachlich wichtigste 
unter diesen Fragen, nämlich über das Mass der Initiative bezw. 
eventuellen Exekutive, das uns dereinst zu Gebote stehen soll. 
Unsere Wünsche haben in dieser Beziehung ihren noch heute 
gültigen Ausdruck gefunden in der These III, die die 4. Haupt- 
Versammlung des Preussischen Medizinal-Beamten-Vereins am 
17. September 1886 angenommen hat. Eine Exekutive wünschen 
wir danach nur in dringenden Fällen unter dem Beding, dass so¬ 
fort eine nachträgliche Genehmigung eingeholt wird. Wir glauben 
uns in dieser Beziehung auch in Uebereinstimmung mit den Staats¬ 
behörden zu finden; denn der später allerdings unter dem Drucke 
entgegenstehender Strömungen abgeschwächte Entwurf zur Be¬ 
kämpfung gemeingefährlicher Krankheiten hatte im Allgemeinen 
unserer Auffassung entsprochen (vergleiche Verhandlungen der 
diesjährigen Hauptversammlung). 

Die Aufnahme, die dieser Entwurf, der nach Finckelnburg 
(siehe Deutsche med. Wochenschr. 1893, Nr. X) einmal alles zu¬ 
sammenfasste, was dem Arzt zur Bekämpfung ansteckender Krank¬ 
heiten wichtig erscheint, in der öffentlichen Meinung gefunden hat, 
ist für unsere Frage nach den Hindernissen, die sich einer Kom¬ 
petenzerweiterung der Medizinalbeamten entgegenstellen, lehrreich. 
Es ist bekannt, dass der Entwurf schon im Bundesrath auf die 
exotischen Krankheiten beschränkt wurde, dass er nach endloser 
Verschleppung nicht zur Verabschiedung gelangt ist, und vorläufig 
ersetzt ist durch das Rundschreiben des Reichskanzlers vom 
27. Juni 1893, in welchem der beamtete Arzt nur Erwähnung 
findet, einmal die Ueberführung cholerakranker Personen in ein 
Krankenhaus unter Umständen gegen ihren Willen zu veranlassen, 
ein andermal in dem Zusammenhänge, dass bereits vor Eintreffen 
des beamteten Arztes Choleradejektionen vom behandelnden Arzte 
fortgeschickt werden dürfen. Auf Grund der Verhandlungen im 


Einrichtung öffentlicher Untersuchuugsanstalten zur Durchführung des Nahrungs¬ 
mittelgesetzes. Die genannten Untersuchungen werden eben nach meinem Da¬ 
fürhalten bei weitem am zweckmäßigsten durch den örtlichen Gesundheitsbe¬ 
amten vorgenommen und es ist andererseits keine Aussicht vorhanden, dass 
jemals in jedem Kreise ein Untersuchungsamt zu Stande kommt. Dieselben 
in zu grosser Anzahl würden sich selbst ihre Existenzfähigkeit untergraben. 
Ich vermisse aber auch in diesem Erlasse, dass wenigstens für die kleineren 
Anstalten der Kreiskommunal verbände nicht der Medizinalbeamten als zu den 
Untersuchungen geeigneter Personen Erwähnung geschieht, zumal diese sich 
doch in der gewünschten amtlichen Stellung befinden. 



606 


Dr. Nauck. 


Reichstage gelegentlich der ersten Lesung des Entwurfes (siehe 
Zeitschr. für Medizinalbeamte, Nr. IX, 1893) müssen wir doch 
sagen, dass seitens der Staatsregierung die Kompetenzerweiterung 
der beamteten Aerzte durchaus vertheidigt ist. Im Gegensatz zu 
Reimann (a. a. 0.) glaube ich nicht, dass die Staatsregierung 
irgend welche Ursache hätte, unsere Kompetenzerweiterung zu 
fürchten. Es bleiben ihr noch genügend Mittel und Wege übrig, 
um zu weit gehenden oder unbequemen Anträgen der Physiker 
mit Nachdruck entgegen treten zu können. Und auch die Ge¬ 
meinden waren gegen solche durch den §. 34 des Entwurfes und 
namentlich seine Begründung hinreichend gedeckt. Diejenigen, die 
vom Gesetz eine Beeinträchtigung zu erwarten hatten, waren 
einerseits die praktischen Aerzte, andererseits die Privatpersonen 
in ihrer Gesammtheit. Die Wünsche der Aerzte werden bekannt¬ 
lich für gewöhnlich von den gesetzgebenden Körperschaften eben 
so wenig berücksichtigt, wie die unsrigen. Viel schwerer wiegend 
ist der Widerstand des grossen Publikums gegen die mit dem 
Gesetz verbundenen Eingriffe in das Privatleben. Namentlich 
äusserten die Abgeordneten Bedenken gegen den Krankenhaus- 
Zwang. Dasselbe Publikum, das im Vorjahre der Absperrungs- 
massregeln gegen die Hamburger nicht genug haben konnte 
(wollte ein Ostpreusse doch einen Kordon um Hamburg ziehen 
lassen, und die Hamburger in ihrem eigenen Fette schmoren lassen 
[Tägliche Runschau]), will, nachdem es die Belästigungen im Ver¬ 
kehr durch übereifrige Unter-Behörden an sich selbst kennen 
gelernt hat, von einem neuen, die Freiheit der Bewegung beengen¬ 
den Polizei - Gesetz nichts wissen. Und zwar gehen wir nicht 
fehl, anzunehmen, dass ein grosser Theil des Publikums in uns, 
den Medizinalbeamten, jetzt die Träger jenes sanitätspolizeilichen 
Furor sieht, an dem wir zumeist am allerwenigsten Schuld waren. 
Wurden doch auch die Meinungsverschiedenheiten der Koch’schen 
und Pettenkofer’sehen Schule benutzt, um in öffentlichen 
Volksversammlungen die wissenschaftliche Schulmedizin überhaupt 
nicht für reif zur Entscheidung der grundlegenden Fragen zu er¬ 
klären. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, dass, wenn der¬ 
einst die Medizinalreform dem Abgeordnetenhause wirklich vorge¬ 
legt wird, die gegentheiligen Anschauungen huldigenden Abgeord¬ 
neten, die bisher, so lange die Medizinalreform noch in nebelhafter 
Ferne schwebt, geschwiegen haben, ihren Ansichten in weit 
grösserem Umfange Ausdruck verleihen werden, als es in der 
Sitzung vom 25. Februar d. J. durch den Abgeordneten Branden¬ 
burg in massvoller Weise geschehen ist. 

Dieser in weiten Volkskreisen verbreiteten Stimmung gegen¬ 
über, bleibt uns nichts anderes übrig, als in der Presse nachzu¬ 
weisen, dass sie unbegründet ist, dass unsere Befugnisse stets 
eng umgrenzt sein werden, dass namentlich hinsichtlich des Kranken¬ 
hauszwanges ernstlich nichts zu besorgen ist. Denn welcher 
Physikus kann nach der Fassung des betreffenden Passus in den 
Massnahmen gegen die Cholera vom 27. Juni d. J. einen Cholera¬ 
kranken, ausser vielleicht einen obdachlosen Vagabunden, gegen 



Was hindert das Zustandekommen der Medizinalreform. 


607 


seinen Willen einem Krankenhaus überweisen, zumal da durch die 
Verhandlungen des ärztlichen Vereins zu Hamburg vom 20. Novb. 
1892 (Deutsche med. Wochenschr. 1893, Nr. 35) die Schädlichkeit 
des Transportes für Cholerakranke erwiesen zu sein scheint? 

Zugleich sei es gestattet, auf eine andere nicht zu unter¬ 
schätzende, uns entgegenstehende Bewegung aufmerksam zu machen, 
die nur zum Theil auf sanitätspolizeilichem Gebiete, der Haupt¬ 
sache nach auf gerichtsärztlichem liegt, ich meine die Richtung, 
die eine Aenderung des Irrenrechtes und namentlich der Begut¬ 
achtung der Irren durch „Sachverständige“ (in den meisten Fällen 
Physiker) wünscht und ihren Ausdruck in dem bekannten Kreuz¬ 
zeitungsartikel und in den Reden des Abgeordneten Stöcker im 
Abgeordnetenhause gefunden hat. Ich kann diese Richtung für 
unser Ziel, die Medizinalreform, nicht für ganz ungefährlich halten, 
weil sie geeignet ist in weiten Schichten des Volkes Hass gegen 
uns zu säen. Auch hier bleibt nichts anderes übrig als aufklärend 
zu wirken und zu begründen, dass das jetzige Aufhahmeverfahren, 
die geplante Ueberwachung (durch Kommissionen) der Irrenan¬ 
stalten, das Verfahren der Entmündigung immer noch als das 
schonendste für die Betheiligten selbst anzusehen ist. 

Wir müssen aber auch, wie ich glaube, etwa noch bestehende 
Härten nach Möglichkeit zu beseitigen suchen. Als eine solche 
Härte erscheint mir das in Berlin und vielleicht auch anderswo 
beliebte Verfahren (vergl. den von Lähr in Nr. 37 der Deutsehen 
med. Wochenschr. d. J. mitgetheilten Fall eines Juristen und 
Zeitungsnachrichten über den Fall Paasch) eine auf ihren 
geistigen Gesundheitszustand zu untersuchende Person zunächst 
polizeilich „abzuführen“ und dann erst auf dem Polizeibureau durch 
den Bezirksphysikus untersuchen zu lassen. Nach meinem Dafür¬ 
halten ist schon mit der „Abführung“ durch drei kräftige Männer 
in Uniform in den Augen des Publikums die betreffende Person 
gebrandmarkt. Der nachträglich erscheinende Sachverständige ist 
dem Publikum nur noch das willfährige Werkzeug, das dem Ge¬ 
waltakt den Mantel des Rechts umhängt. Die leidenschaftlichen 
Angriffe des Publikums richten sich in Folge dessen auch haupt¬ 
sächlich gegen den Sachverständigen. Man kann den Unterschied 
nicht für gross halten, ich glaube aber, dass es auf den geistigen 
Zustand des zu Untersuchenden nachtheiliger einwirkt, wenn er 
erst inhaftirt und dann untersucht wird, als wenn er erst unter¬ 
sucht und möglicher Weise gar nicht inhaftirt wird. 

3. Die Gehaltsregelung: 

Der Herr Minister erklärte am 4. Juli: „Die Medizinalreform 
ist, ich will nicht sagen in der Hauptsache, aber zu einem wesent¬ 
lichen Theil eine Finanzfrage.“ Ueber die Regelung dieser Frage 
hat er keine weiteren Angaben gemacht. Er hat aber darauf 
hingewiesen, dass es wünschenswert erscheint, die Physiker nicht 
aus der ärztlichen Praxis herauszunehmen und hat bekanntlich 
Ermittelungen herbeigeführt über die jetzigen Bezüge der Physiker 
aus Nebenämtern (leider aber nicht über die Verluste, die sie durch 
gewissenhafte Ausübung ihrer Amtspflichten erleiden). Wenn man 



508 Erwiderung auf die Bemerkungen des San.-Raths Kr.-Phys. Dr. Ritter etc. 

sich nun ferner erinnert, dass der frühere Kultusminister Dr. von 
Gossler im Jahre 1889 (Zeitschr. für Medizinalbeamte S. 118), 
dem doch auch schon der im Kultusministerium wohl verwahrte, 
wenn auch jetzt für unbrauchbar erklärte Reformplan Vorgelegen 
hat, erklärt hat, dass sein Ehrgeiz im Maximum nur auf ein Ein¬ 
kommen von 1800 Mark gerichtet sei, so glaube ich, darf man die 
Hoffnungen auf eine wesentliche Gehaltsaufbesserung nicht hoch 
spannen. Wahrscheinlich wird der Physikus, wenn auch in etwas 
geringerem Grade, nach wie vor auf die Privatpraxis und auf 
„Nebeneinnahmen“ angewiesen bleiben. Es ist aber zu betonen, 
dass die Mehrkosten der Reform keinenfalls 1 bis l 1 /* Mill. Mark 
übersteigen werden und sich gleich bleiben, ob nun den künftigen 
Kreisärzten grosse Bezirke (etwa 2 bis 3 jetzige landräthliche 
Kreise) mit einem Gehalt von 4000 bis 5000 Mark oder kleine 
Bezirke, etwa den jetzigen Kreisen entsprechend, mit einem Ge¬ 
halt von ca. 1800 Mark zugewiesen werden. Das erstere wünschen 
wir wohl in unserer Mehrzahl — das letztere dürfte mehr Aus¬ 
sichten auf Verwirklichung haben. 


Erwiderung auf die Bemerkungen des Sanitätsraths 
Krei8physikus Dr. Bitter zur Medizinalreform 

Auf die „Bemerkungen“ des Kollegen Sauitätsrath Dr. Ritter-Bremer¬ 
vörde in der Nr. 18 der Zeitschrift S. 454, erlaube ich mir folgende Gegen¬ 
bemerkungen. 

Kollege Ritter erkennt die dringende Nothwendigkeit der Medizinal¬ 
reform an, warnt aber vor übereilter Einführung derselben uni stellt ferner 
die Forderung auf, dass vorher entschieden werden müsse, ob zu Physikern 
Aerzte in jüngerem oder höherem Alter auszusuchen sind. 

Was das erste Bedenken betrifft, so kann wohl von Uebereilung bei einer 
Reform keine Rede mehr sein, welche sich seit 20 und mehr Jahren im Stadium 
der Vorbereitung befindet, für welche nach den Worten des Herrn Ministers 
Material in Hülle und Fülle vorhanden ist und für welche vor Jahren schon ein 
fertig ausgearbeiteter Plan der wissenschaftlichen Deputation zur Prüfung Vor¬ 
gelegen hat. Die Frage, ob die Kreis Wundärzte beizubehalten oder abzuschaffen 
sind, ist doch nicht so schwer zu lösen, dass dadurch die Reform auch nur um 
einen Tag am gehalten zu werden brauchte Voraussichtlich wird man in räum¬ 
lich weit ausgedehnten Kreisen die Kreis Wundärzte zunächst beibehalten und die 
Stellen event. später nicht wieder besetzen, wenn die Erfahrung gezeigt hat, 
dass die Thätigkeit des Kreis Wundarztes bei Obduktionen ohne wesentlich höhere 
Kosten für die Gerichtskassen von einem der benachbarten Physiker geleistet 
werden kann. Die Frage der Beibehaltung der Kreiswundärzte ist durchaus 
nur eine Geldfrage, da ihre amtliche Thätigkeit eine so beschränkte ist, dass 
dieselbe weder den Kreisphysikus irgendwie entlastet, noch dem pro physikatu 
geprüften Arzt Gelegenheit giebt, sich auf die Verwaltung eines Pliysikats 
vorzubereiten. 

Was ferner die Frage nach dem Lebensalter des anzustellenden Kreis¬ 
physikus anbetrilVt, so ist doch von vornherein nicht zu entscheiden, ob ein 
jüngerer oder ein älterer Kreisphysikus der bessere Sanitätsbeamte sein wird. 
Im Allgemeinen kann imni anuclimen, und das würden die Regierungs-Medizinal- 
räihe als die kompetentesten ßeurtheiier bestätigen können, dass unter den 
jüngeren wie unter den älteren Physikern besonders tüchtige SanitäLsbeamte 
gefunden werden, und dass von vornherein nur ein Alter, weiches die 
körperliche und geistige Rüstigkeit aufhebt, den Betreffenden zur Wahr¬ 
nehmung der anstrengenden Geschäfte eines Physikus untüchtig macht. 
Für das in den Thesen geforderte Gehalt würden häufig nicht nur Junge“, 



Ans Versammlungen ün»l Vereinen. 509 

sondern auch ältere „ausgebildete Aerzte“ nicht zu haben sein, wenn man 
den Physikern die AusUbung der Praxis untersagen wollte; denn nur 
ein kleiner Prozentsatz der Aerzte besitzt ein so grosses Vermögen, dass die 
Zinsen desselben mit den geforderten Gehaltsätzen zur standesgemässen Unter¬ 
haltung einer Familie ausreichen würden. 

Schon diese Thatsache berechtigt zu der Behauptung, dass die Ansicht 
des Kollegen Ritter, der Physikus müsse auf die Praxis verzichten, von der 
überwiegenden Mehrzahl der Kreisphysiker nicht getheilt wird. Wenn auch an¬ 
zunehmen ist, dass nach der endlichen Durchführung der lang ersehnten Medi¬ 
zinalreform die Amtsgeschäfte der Kreisphysiker weit mehr als bisher ihre Zeit 
und Arbeitskraft in Anspruch nehmen und ihnen die Ausübung der Praxis in 
dem bisherigen Umfang unmöglich machen werden, so würde es auch noch aus 
einem anderen Grunde nicht richtig sein, ihnen die Ausübung der Praxis gänz¬ 
lich zu untersagen, nämlich weil dadurch der gar nicht hoch genug zu schätzende 
Zusammenhang und Verkehr des Physikus mit den verschiedenen Klassen der 
Bevölkerung seines Kreises erheblich eingeschränkt, wenn nicht aufgehoben 
würde. Ich bin überzeugt, im Sinne der grossen Mehrzahl der Kreisphysiker 
zu sprechen, wenn ich behaupte, dass derjenige Physikus auch als Sanitätsbeamter 
nicht völlig auf der Höhe ist, welcher mit den medizinischen Studien auch die 
Praxis aufgegeben hat, und dass vielmehr die Kreisphysiker das Beste leisten 
werden, welche die Fortschritte unserer Wissenschaft auch auf rein medizinischem 
Gebiet verfolgen und durch die Praxis im steten Zusammenhänge mit den Be¬ 
wohnern ihres Kreises und in Kenntniss der Lebensgewohnheiteu derselben bleiben. 
Dass sich die medizinischen Studien mit den Fachstudien für das Physikat und mit 
der pflichtgetreuen Verwaltung des letzteren vereinigen lassen, beweist die That¬ 
sache, dass sehr viele Kreisphysiker, welche unzweifelhaft tüchtige, mit allen 
Zweigen ihrer Fachwissenschaft durchaus vertraute Sanitätsbeamte sind, dabei 
doch noch die Zeit fiuden, auch als praktische Aerzte Hervorragendes zu leisten. 

Die Forderungen, welche Kollege Ritter am Schluss seiner Bemerkungen 
aufstellt, sind in meinen Thesen enthalten und nur mit anderen Worten ausge¬ 
sprochen. Will Kollege Ritter ein höheres als das in den Thesen geforderte 
Gehalt festgestellt haben, so ist dem entgegen zu halten, dass ein solcher 
Wunsch aus bekannten Gründen wenig Aussicht auf Erfüllung hat und dass es 
sich für uns empfiehlt, zunächst nur das Erreichbare und absolut Nüthige zu 
fordern. Dr. Rusak-Stade. 


Aus Versammlungen und Vereinen. 

Kei-icht Aber die vom 11. bis 16. September d. J. in Nürn¬ 
berg stattgehabte 65. Versammlung Deutscher Natur¬ 
forscher und Aerzte. 

(Berichterstatter Dr. Leppmann, Berlin - Moabit). 

Sektion für gerichtliche Medizin. 

I. Prof. Dr. Reubold (Würzburg) demonstrirt eine Reihe von 
Schädelbrüchen und Verletzungen, wozu die veranlassende Gewalt bekannt, 
bei vielen auch das wirklich gebrauchte Instrument beigelegt war. Es wurden Bei¬ 
spiele für alle Formen der Schädelverletzung vom einfachen Stich in den Knochen 
bis zur weitgehendsten Zertrümmerung, ausserdem Vernarbungen mit und ohne 
Depression vorgezeigt. Vortragender bestätigt den Palt auf* sehen Satz, dass 
Werkzeuge mit mehr als 4 qcm auftreffender Oberfläche den Schädel nicht durch¬ 
brechen, sondern sprengen, hauptsächlich für das Schädeldach. Er wirft ferner 
die Frage auf,' ob am Schädel Neugeborener und junger Kinder überhaupt rein 
lokale Durchbrüche Vorkommen. Er hat dergleichen nie gesehen. Das vorge¬ 
zeigte Scheitelbein eines ; */ 4 jährigen Kindes zeigt eine rundliche Durchlochung 
in welcher ein bröcklicher Knochen liegt. Es handelt sich um eine Ausgrabung 
nach 8 Jahren und es kommt wohl Verwesungswirkung auf eine bereits kranke 
Knochcnstelle in Betracht. 

II. Derselbe: Bemerkungen znr Geschichte der gerichtlichen 
Sektion. Die gerichtliche medizinische Iicichenuutersnchung wurde ursprüng¬ 
lich nicht durch die Fälle veranlasst, wo nach einer, in der Regel umfangreichen 



510 


Aus Versammlungen und Vereinen. 


und deutliche Spuren an der Leiche hinterlassenden Körperbeschädigung der 
Tod unmittelbar eintrat, Bondern durch die, wo sich au die Verletzung erst eine 
kürzere oder längere, tüdtlich endende Krankheit ausckloss. Bei der ersten 
Kategorie genügte das Vorhandensein einer Leiche, welche zu Gericht gebracht 
wurde, ja es genügten schon Stücke derselben oder ihrer Bekleidung, welche 
vorgelegt wurden. Vortragender legt als interessantes Beispiel eines solchen 
Leibzeichens einen Finger und ein Zehenglied eines im 30jährigen Kriege Er¬ 
stochenen nebst einem Messer, wahrscheinlich dem Mordinstrument und den 
bezüglichen Notizen der obrigkeitlichen Person vor. Bei der zweiten Kategorie 
wurden schon in früheren Zeiten Aerzte beauftragt, den Leichnam anzusehen 
(päpstl. Dekretale vom Jahre 1209). Pie Carolina vom Jahre 1532 macht die 
Leichenschau bei „zweifeligen“ Fällen für weitere Kreise obligatorisch und zwar 
um die Lethalität der Verletzung, welche bis in die neuere Gesetzgebung hinein 
ihre Rolle spielt, festzustellen. 

Die Ausbildung der Inspektion zur Sektion geschah durch Zuziehung der 
medizinischen Fakultäten zu Obergutachten. Zuerst gebrauchte man die Sonde, 
das „Instrumentuni“, wie es in den Protokollen genannt wird, daun erweiterte 
man die Wunden durch Einschnitte, es geschah eine „Sectio vulnerum“, endlich 
öffnete man die verletzte Korperhöhle. ln einem Kriminalfalle aus dem Jahre 
1630 wird schon vom Defensor gerügt, dass dies in einem Falle von Brust- 
verletzung nicht geschehen sei. Die Sonde wurde 1660 von Welsch, Prof, in 
Leipzig, für unzweckmässig erklärt; 1700 verlangte Bohn, ebenfalls Professor 
in Leipzig, die Eröffnung aller 3 Höhlen. 

Die erste behördliche Verordnung, welche eine Eröffnung des ganzen todten 
Körpers fordert, ist, soweit Vortragender weiss, eine württembergische vom Jahre 
1086 und 1687. Von 1720—1769 wird sie in verschiedenen Gesetzbüchern Vor¬ 
schrift. Instruktionen zu ihrer Ausfiihruug waren bis zu Anfang des Jahr¬ 
hunderts nur wissenschaftliche, nicht behördliche. Letztere bestehen gegenwärtig 
in fast allen deutschen Staaten. 

HI. Prof. Dr. Seydel (Königsberg i. Pr.): Ueber die Erscheinungen 
an nach Suspension Wiederbelebten und deren Bedeutung für den 
Gerichtsarzt. Vortragender hatte Gelegenheit, eine schwer asphyktische Person, 
die etwa 5 Minuten nach der Suspension abgeschnitten war, zu beobachten. Die 
Reihenfolge der Erscheinungen stimmt vollständig mit den von Wagner-Graz 
in der Münch, med. Wochenschrift 1892 Nr. 52 beschriebenen überein. Auch 
hier liess sich eine ausgesprochene Amnesie retroactive beobachten. Der Streit 
zwischen Wagner und Möbius über den Charakter dieser Erscheinungen wird 
kurz berührt und die Ansicht von M., dass es sich hier um hysterische Konvul¬ 
sionen etc. handle, zurückgewiesen. Die grösste Analogie dieser Erscheinungen 
findet Vortragender in der nach Commotio cerebri beobachteten, führt einige 
einschlägige Fälle seiner Beobachtungen an und glaubt, dass sowohl bei Sus¬ 
pension, als bei Commotio sich Veränderungen, namentlich in den kleinen Ge¬ 
lassen der Hirnsubstanz bilden, die die vielfach beobachteten Erscheinungen 
hervorrufen, auch den Fall von Möbius glaubt Vortragender durch Hirn¬ 
erschütterung vollständig erklären zu können. 

Für den Gerichtsarzt erwächst aus den angeführten Thatsachen die Auf¬ 
gabe, in folgenden Fällen die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit der Amnesie 
retroactive festzustellen: 

1. Wenn es sich um Angeschuldigte handelt, die nach Verübung eines 
Verbrechens, oder nachdem vielleicht durch ihre Fahrlässigkeit grösseres Unheil 
entstanden, sich durch Suspension das Leben nehmen wollen, aus der schon 
eingetretenen Asphyxie aber wiederbelebt und unter Anklage gestellt werden. 

2. Wenn es sich um die Zeugenaussage von durch Suspension, Strangu¬ 
lation oder Erwürgungsversuche Asphyktischer und Wiederbelebter über That¬ 
sachen handelt, die dem Attentate kurz vorher gingen. 

Einschlägige Beispiele aus der Literatur wurden angeführt. 

IV. Derselbe: Ueber tödtliche Kopftraumen ohne makroskopische 
Veränderungen. Die verschiedenen Arten der tödtliehen Kopfverletzungen 
werden unter Vorlegung einiger Schädeldachverletzungen mit interessantem Ver¬ 
laufe kurz besprochen. Dann führt Vortragender 2 Fälle an, in denen sich 
nach anscheinend unbedeutenden, aber wiederholten Kopftraumen, die sehr gering- 



Aus Versammlungen und Vereinen. 


511 


fügige äussere Spuren zurückgelassen hatten, nicht unmittelbar an ein dem 
Trauma sich anschliesseudes Coma, sondern nach Zeit und nach Eintritt anderer 
Erscheinungen z. B. Unruhe und Konvulsionen bei einem 3 / 4 Jahre alten Kinde 
der Tod eingetreten war. Der Sektionsbefund in beiden, allerdings durch deren 
Fäulniss schon etwas veränderten Fällen war negativ. Vortragender glaubt, 
dass das vorläufig geltende von Moritz in seiner Arbeit über Kopfverletzungen 
ausgesprochene Dogma, „Tod durch Himerschütterung müsse angenommen werdeu, 
wenn die begleitenden Umstäude dafür, der Sektionsbefund nicht dagegen 
spreche“, eigentlich ein Armuthszeugniss sei, dass bei genauer Untersuchung der 
Hirnsubstanz, namentlich der Rinde und der feineren Gefässgebiete, wo sich 
leicht kleine Zertrümmerungsherde fänden, eingeschränkt werden müsse und 
dass, wenn nicht Fäulniss daran hindere, in der Mehrzahl derartiger Fälle 
makroskopische Veränderungen in der Hirnsubstanz sich werden nach weisen lassen. 

V. Dr. Leppmann (Berlin-Moabit): Die kriminalpsychologische und 
kriminalpraktische Bedeutung des Tätowirens der Verbrecher. Vor¬ 
tragender hat auf Grund systematischer Aufzeichnungen des körperlichen und 
seelischen Befundes von ca. 1000 Strafgefangenen, die bis in die jüngste Zeit 
von den Vorkämpfern Lombroso’scher Lehren mit voller Schärfe festgehaltene 
Behauptung geprüft: Art und Umfang der Tätowirungen seien ein Beweis für 
die Eigenart der meisten Verbrecher als einer besonderen Menschengattung. 
Ferner versucht er aus diesem Material die Fragen zu beantworten, ob und 
welche psychologische Schlüsse, sowie ob und welche praktischen Folgerungen 
sich aus den Tätowirungen ziehen lassen. 

Er gelangt zu folgenden Anschauungen: 

I. Das Tätowiren ist kein Beweis für eine angeborene Minderempfindlich¬ 
keit, denn die Mehrzahl auch der unbescholtenen Tätowirten bekundet, dass die 
Prozedur nicht besonders wehe thut; bisweilen beobachtete Ohnraachtsanfälle 
sind Shokerscheinungen wie sie bei sehr robusten Leuten nicht selten mit kleinen 
Operationen, wie z. B. dem Impfen, einhergehen. Sehr zahlreiche Tätowirungen 
und solche an schmerzhafteren Hautstellen findet man besonders bei Personen 
mit einer durch die Art der Lebensführung abgehärteten Haut (Vagabonden). 

II. Die Häufigkeit des Tätowirens ist bei Unbescholtenen wie bei Be¬ 
straften nach der Mode und der Nationalität verschieden. Die Hauptursache 
des häufigen Vorkommens bei Gefangenen ist das gezwungene längere Bei¬ 
sammensein jugendlicher Individuen ohne genügende Aufsicht, Beschäftigung 
und Zerstreuung. 

III. Eine „anthropologische Einheit* im Inhalt und Umfang der Täto¬ 
wirungen besteht bei Verbrechern nicht. Dieselben beschränken sich bei den 
Beobachteten fast nur auf Oberkörper und Arme. Erotische und unanständige 
Bilder sind sehr selten; eine Kennzeichnung gewisser Verbrecherkategorien wie 
der Päderasten durch charakteristische Bemalung des Unterkörpers fehlt ganz. 
Eine Symbolik ist nur andeutungsweise vorhanden und unterscheidet sich keines¬ 
wegs von den symbolischen Darstellungen, wie sie in niederen Volksschichten 
im Allgemeinen sich finden. 

IV. Nur in wenigen Ausnahmefälleu lassen die Tätowirungen Rückschlüsse 
auf Seelenleben des Individuums. Dann handelt es sich nicht um das gewöhn¬ 
liche Einstechen von Nadeln und Einreiben mit Farbe, sondern um schmerzhaftere 
Prozeduren, Einschnitte oder Stiche mit glühenden Nadeln ohne Färbung. Hier 
hing die Hautverletzung entweder mit bereits geformten Wahnideen zusammen 
oder deutete auf eine Betäubung hochgradiger seelischer Unruhe durch körper¬ 
lichen Schmerz hin, so dass in der Strafanstalt sich dergleichen Individuen der 
besonderen Aufmerksamkeit des Anstaltsarztes empfehlen. 

Abgesehen davon ist das Bestehen von Tätowirungen praktisch wichtig: 

1. Zum Identitätsnachweis, wobei die Gleichförmigkeit vieler Embleme 
und der Umstand stört, dass unter Umständen (z. B. Ausschwemmen der Tusche- 
tätowirungen mit Spiritus) die Zeichen narbenlos entfernt werden können. 

2. Zu Anhaltspunkten über das Vorleben (Soldaten- und Seeleben, Auf¬ 
enthalt in bestimmten Gefängnissen, liandw T erkszeicheu etc.). 

(Fortsetzung folgt.) 



512 


Kleinere Mittheilungen and Referate aus Zeitschriften. 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

A. Gerichtliche Medizin. 

Die Beurtheilung der perversen Sexnaivergehen in foro. Von 
Dr. C. Seydel, ausserordentl. Professor und Pol. Stadtphysikus in Königs¬ 
berg i. Pr. Vierteljahrsschrift für gerichtl. Medizin, Band V, 1893, Heft 2. 

Das interessante Buch von Moll über die konträre Sexualempfmdung, 
wie Krafft-Ebing’s Psychopathie sexualis (in Nr. 16 dieser Zeitschrift ein¬ 
gehend besprochen), lassen eine geradezu erschreckende Ausbreitung der per¬ 
versen Sexualempfindung und - Vergehen in dieser Richtung unter den heutigen 
Kulturvölkern erkennen, von denen sich Uneingeweihte bis dahin eine Vor¬ 
stellung wohl kaum gemacht haben. Die schweren Psychosen, die zu unsitt¬ 
lichen Ausschreitungen führen, pflegen sich der Oeffentlichkeit gewöhnlich nicht 
lange zu entziehen. Sie wenden sich relativ häufig gegen Kinder, werden auf 
offener Strasse mit einer unglaublichen Schamlosigkeit ausgeführt und kommen 
daher gewöhnlich bald zu strafrechtlicher Verfolgung. Anders steht die Sache 
bei päderastischen Attentaten, die oft Jahre lang mit einer Schlauheit und 
ängstlichen Vermeidung von Entdeckung betrieben werden, das« nur gewisse 
Kreise darum wissen. 

Seydel theilt die perversen Sexual vergehen in zwei Gruppen, je nachdem 
sie in Abweichungen und Verirrungen des normalen Geschlechtstriebes dem 
weiblichen Geschlecht gegenüber, oder in päderastischen oder gar sodomitischen 
Exzessen bestehen. Die Verirrungen der ersten Gruppe beschäftigen den Straf¬ 
richter sehr selten. Sie spielen sich, abgesehen von wirklich Geisteskranken, in 
der Sphäre der Prostitution ab und werden von bestimmten Individuen dieser 
Klasse bereitwillig unterstützt. In foro werden päderastische Perversitäten 
sehr viel leichter Objekte richterlicher Aburtheilung als Perversitäten gegen 
das weibliche Geschlecht, da nach §. 175 des St.-G.-B. hierbei nur accidentelle 
Vergehen strafbar sind. 

Der Verfasser präcisirt nun den Standpunkt, den der Gerichtsarzt den 
Aeusserungen der sexuellen Perversität gegenüber einzunehmeu hat und stellt 
es ausser Zweifel, dass solche Aeusserungen im Interesse der öffentlichen Sitt¬ 
lichkeit durch Strafe verfolgt und zurückgedrängt werden müssen. Es ist nur 
die Frage, wann wir wirkliche geistige Verirrung, wann geistige Erkrankung 
und die sexuelle Perversität gewissermassen als Symptom derselben anzu¬ 
sehen haben. 

Stellt sich bei einem jugendlichen, im Uebrigen im Nervensystem nicht 
abnormen Individuum, bei dem hereditäre Belastung nachweisbar, sexuelle Per¬ 
versität ein, so ist dagegen, so lange keine Kollision mit dem Strafgesetz 
erfolgt, Nichts zu thun; es wäre falsch, alle diese nervös überreizten Menschen 
als geisteskrank anzusehen. Kommen durch derartige Individuen Ueberschreitungen 
des Strafgesetzes vor, so wird man denselben Massstab wie an geistig Gesunde 
anlegen und nur die erfahrungsmässig schwache Resistenz solcher Individuen 
gegen alle körperlichen und geistigen Austreibungen und Reize, namentlich die 
schwache Toleranz gegen Alkohol berücksichtigen. Üb hierdurch verminderte 
Zurechnungsfähigkeit angenommen werden kann, muss dem Urtheil des Sach¬ 
verständigen anheim gegeben werden. Anders stellt sich die Sache bei hereditär 
schwer belasteten, für gewöhnlich normal empfindenden und handelnden Indivi¬ 
duen, bei denen periodisch unbegreifliche, schamlose Exzesse beobachtet werden. 
Die einzelnen Exzesse charakterisiren sich nicht selten als epileptische Aequi- 
valente, namentlich durch die deutlich angegebenen Vorboten, Aura, die Kopflosig¬ 
keit des Handelns und die nicht als Simulation aufzufassende Amnesie. Die¬ 
selben sind als Geisteskranke anzusehen. Eine dritte Gruppe wird direkt Geistes¬ 
kranke umfassen, die sexuelle Exzesse im Anfangsstadium einer sich ent¬ 
wickelnden Geisteskrankheit zeigen. Bei diesen wird neben sexuellen Exzessen, 
die bis dabin nicht vorgekommen sind, sehr bald eine durchgreifende Verände¬ 
rung der Psyche gefunden werden können. Alkoholische und überhaupt toxische 
Psychopathien scheinen besonders leicht zu sexuellen Perversitäten in ihrem 
Anfangsstadium Anlass zu geben. Grosse Vorsicht und unter Umständen Be¬ 
obachtung in einer Irrenanstalt ist hier zu empfehlen. Dass übereilte und allzu 
sehr auf Simulation gerichtete Urtheile in dieser Beziehung viel Unheil anrichten 
können, beweist die alljährliche Praxis der Irrenanstalten. Und wenn das Straf- 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


513 


verfahren den humanen Grundsatz in dubiis pro reo in freier Praxis aufrecht 
erhält, so haben die ärztlichen Sachverständigen als Organe der Rechtspflege 
dieselbe Pflicht. Dr. Dü tschke-Aurich. 


Der Geisteszustand der Gebärenden. Von Dr. Dörfler. Fried- 
reich’s Blätter, Heft IV, 1893. 

I. Der physiologische Geisteszustand der Gebärenden. 

Aus dem mächtigen Einfluss der Schwangerschaft auf das Gehirn 
entspringen in der Schwangerschaft die mannigfachen Veränderungen der 
Psyche (Erbrechen, sonderbare Gelüste Schwangerer, Aenderungen der Ge- 
müthsstimmung, Schwindelanfälle etc.). Der Geisteszustand Gebärender, aufs 
ungünstigste durch die vorausgegangene Schwangerschaft beeinflusst, ist während 
des Geburtsaktes den stärksten Schwankungen und Erschütterungen ausgesetzt. 
Gemüthsaufregungen durch Angst und Furcht beim Beginn der Wehen, das 
Gefühl der Hülflosigkeit beim Fortgang der Geburt, welches bis zur Verzweiflung 
gehen kann, die Zunahme der GemUthsaufregung durch Steigerung des Blut¬ 
druckes im Gehirn während des Mitarbeitens in der Austreibungsperiode, die 
Freude bei sichtbarem Fortschritte und bei Beendigung der Geburt, die nicht 
seltenen Ohnmachtsanwandlungen in diesen letzten schmerzhaften Momenten 
machen das psychische Gleichgewicht zu einem sehr labilen, können eine Gleich¬ 
gewichtsstörung im psychischen Verhalten erzeugen und dies in physiologischer 
Breite ohne pathologischer Bedeutung. Die Zurechnungsfähigkeit ist in den 
meisten Fällen erhalten, doch können begünstigende Momente, wie neuropathische 
Belastung, abnorm schmerzhafte Wehen, abnorme Widerstände, heimliche Geburt, 
vorausgegangene Gemüthsdepressionen, besonders bei unehelich Gebärenden das 
Gleichgewicht aufbeben. 

Die pathologischen Geisteszustände der Gebärenden können in Er- 
schöpfungs- und Erregungszustände eiugetheilt werden. 

Die Erschöpfungszustände sind zu trennen in zwei Unterabthei¬ 
lungen : 

a) Grosse, geistige und körperliche Ermattung, Schwäche unmittelbar nach 
der Geburt. 

b) Schwinden der Sinne, sich äussernd in Form von Ohnmacht, in Form 
von Scheintod, in Form von Schlafsucht. 

Während erstere Zustände bei vielen Geburten beobachtet werden, sind 
Ohnmächten bei den normalen ehelichen Geburten seltener, relativ häufig bei 
der heimlichen Geburt. Fälle von Schlafsucht und Scheintod sind wohl in das 
Gebiet der Hysterie zu verweisen. 

Die Erregungszustände sind einzuthcilen in: 

1. Heftige und in das pathologische Gebiet hintiberrcichende Affekte, 
Affekte der Verzweiflung bis zur vollen Sinnesverwirrung. 

2. Wuthzornartigc Erregungszustände. 

3. Mania transitoria. 

4. Raptus melancholicus. 

5. Transitorische Neurosen auf epileptischer und hysterischer Grundlage. 

8. Die eklamptische Bewusstseinsstörung. 

7. Delirienartige Zustände im Fieber. 

Dr. Ru mp-Osnabrück. 


Blutspuren von zerdrückten Wanzen herrührend. Von Dr. Joh. 
Schuf er, Wiener klinische Wochenschrift, 1893, Nr. 35. 

In einem Mord - Prozesse hatte der Angeklagte behauptet, blutverdächtige 
Flecke, welche an seiner Unterhose gefunden waren, seien durch Zerdrücken 
einer Wanze entstanden. 

Ihre Untersuchung auf Haemin ergab ein positives Resultat. Auch 
stimmte die Grösse der in ihnen enthaltenen rothen Blutkörperchen mit der¬ 
jenigen beim Menschen überein. 

Nachdem Versuche ergeben hatten, dass nach dem Zerdrücken von Wanzen 
auf Geweben und Wegwischen des Wanzenbalges stets Theile der Athmungs- 
organe in Form oft verzweigter Tracheen und borstenähnliche braun gefärbte 
Gebilde der Körperoberfläche der Thiere Zurückbleiben, untersuchte Verfasser 
grössere Bröckelchen der qu. Blutflecke und fand in ihnen sowohl mehrere 



514 


Kleinere Mittheilungen nnd Referate ans Zeitschriften. 


Tracheen, als auch ganze und abgebrochene Borsten. Aehnlichc Borsten kommen 
bei anderen blutsaugenden Insekten nicht vor. 

Das Gutachten wurde deshalb dahin abgegeben, dass die fraglichen Flecke 
wahrscheinlich von Menscheublut, sicher aber von Säugethierblut herrührten, 
und die Aunabme, es seien dieselben durch Zerdrücken einer mit Blut angesoge¬ 
nen Wanze entstanden, begründet erscheine. 

Der erwähnte Fall gab Anlass, Flecke zu untersuchen, welche sich auf 
dem Hemd eines hochgradig mit Läusen versehenen Menschen fanden. Auch 
hier gelang die Darstellung von Haeiuiukrystallen. Die Flecke enthielten ferner 
Harnsäurekrystalle — von den Exkrementen herrührend — und einfache, spitz¬ 
zulaufende Borsten sowie Theile der Oberkiefer. 

Dr. Flatten-Wilhelmshaven. 


B. Hygiene und öffentliches Sani täts wesen: 

Scharlach und Impfung. Von Dr. Woltemas, Kreisphysikus in 
Diepholz. 

Vor acht Wochen hatte ich Gelegenheit, den gewiss seltenen Fall zu beob¬ 
achten, dass ein Arzt mit floridem Scharlach impfte, und da er für die Frage 
der Ansteckungsgefahr nicht ohne Interesse ist, theile ich ihn hier mit. 

Herr Kollege F. hatte am Morgen des 12. Juli einen Impftermin abge¬ 
halten, Nachmittags hatte er Angina und eine Temperatur von 38.5. Am Morgen 
des 13. betrug die Temperatur 40,0, die Angina war stärker und das charakte¬ 
ristische Exanthem trat auf. Trotz seines schlechten Befindens impfte der 
Kollege, der an keinen Scharlach dachte, am 13. an seinem Wohnorte und am 
14. in einer Nachbargemeinde. Am 15. sah ich ihn zuerst; das Exanthem war 
auf seiner Höhe, die Diagnose „Scharlach“ ganz unzweifelhaft. 

Ich habe nun die Nachrevisionen abgehalten, mich aus begreiflichem 
Interesse an der Sache seither mehrfach um das Schicksal der geimpften Kinder 
bekümmert und kann mit Bestimmtheit versichern, dass Erkrankungen an Schar¬ 
lach bei ihnen nicht vorgekommeu sind. Dabei hatte wenigstens von den Erst¬ 
impflingen noch keiner Scharlach gehabt. Der Kollege hatte vier Wochen vor 
seiner Erkrankung einen Scharlachfall in Behandlung bekommen, und sich im 
Verlaufe derselben wahrscheinlich infizirt, weitere Fälle wie diese beiden sind 
in der ganzen Gegend nicht vorgekoramen. 

Uebrigens findet sich auch bei Guttstadt (Das Impfwesen in Preussen. 
Nach amtlichen Quellen bearbeitet. Berlin 1890) kein Fall davon berichtet, 
dass die Verbreitung von Scharlach durch die Impfung begünstigt würde. 


Ueber die Beschaffenheit des Berliner LeitungsWassers in der 
Zeit vom April 1890 bis Oktober 1891, nebst einem Beitrag znr Frage 
der Bleiauftiahme durch Quellwasser. Von B. Proskauer. Zeitschrift 
für Hygiene und Infektionskrankheiten; Bd. XIV, H. 2. 

Der Aufsatz besteht eigentlich aus zwei vollständig getrennten Arbeiten, 
von denen die erstere sich mit den Resultaten der chemischen und bakteriologi¬ 
schen Untersuchung des Wassers beschäftigt, wie es die (damaligen) beiden 
Berliner Leitungen zu der angegebenen Zeit lieferten. Derartige Untersuchungen 
können jetzt neue, bahnbrechende Gesichtspunkte kaum mehr ergeben, sie dienen 
vielmehr wesentlich zr Bestätigung früher bereits gewonnener Resultate. Auch 
die vorliegende Arbeit liefert wenig Neues, bietet aber doch Manches, was ein 
über lokale Verhältnisse hinausgeheudes Interesse beansprucht. Die Vergleichung 
des Wassers der Stralauer Werke, welche sehr verunreinigtes Spreewasser zu ver¬ 
arbeiten haben, mit dem Tegler Seewasser, welches den grösseren Theil der Stadt 
versorgt, beweist die Nothwendigkeit, von vornherein ein möglichst reines „Roh¬ 
wasser“ zur Filtration zu verwenden und für Berlin die, nach Fertigstellung 
des neuen Müggelsee-Wasserwerkes voraussichtlich zu erreichende Nothwendig¬ 
keit, die veralteten Stralauer Werke gänzlich ausser Betrieb zu setzen. Im 
Uebrigen wird auch in dieser Arbeit die Nothwendigkeit täglich vorzunehmender 
bakteriologischer Kontrole betont. — 

Der zweite Theil behandelt die Verhältnisse der kleinen Stadt Kal au 
(Niederlausitz), welche ein in der Nähe der Stadt entspringendes, reines Quell - 
wasser durch eiserne, asphaltirte Strassenröhren und durch, zum Theil sehr 



Kleinere Mittheilnngen und Referate atu* Zeitschriften. 


515 


emre, bleierne Hausanschlüsse den Konsumenten zuführt. Bereits acht Wochen 
nach Fertigstellung dieser Leitung wurden durch den Kreisphysikus Dr. S i e h e 
in Kalftu zwei schwere Erkrankungsfälle als chronische Bleivergiftung richtig 
diagnostizirt und wurde Blei im Trinkwasser nachgewiesen. Die von Proskauer 
angestellte Untersuchung ergab, dass das Wasser, wenn es über Nacht in den 
bleiernen Röhren gestanden hatte, einen gewissen, übrigens nicht direkt von der 
Länge der Rohrleitung abhängenden Bleigehalt besass. Als Ursache der Blei- 
aufnahme ergab sich, ebenso wie in Dessau und Wilhelmshaven, der 
reichliche Gehalt des Wassers an freier und halbgebundener Kohlensäure neben 
einer geringen Menge überhaupt vorhandener Karbonate, bezw. einer geringen 
Härte. Zur Verhütung weiteren Unheils dient zunächst die Anempfehlung des 
einfachen Verfahrens, Morgens etwa 10 Liter unbenutzt laufen zu lassen, dann 
das Verbot der Neuanlage längerer bleierner Rohrleitungen, schliesslich der 
geplante, nach nnd nach vorzunehtnende Ersatz der bleiernen Rohre durch 
eiserne. Dr. L ang er h ans-Celle. 


Die Krankheiten der Arbeiter in Theer- und Paraffinfabriken in 

medizinisch-polizeilicher Hinsicht. Von Dr. Hoffmann, Kreiswundarzt in 
Halle a. S. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitäts¬ 
wesen 1893, V. Band, Heft 2 und 3. 

Der Umstand, dass der Hauptsitz der Theer- und Paraffinindustrie in 
nächster Nähe des amtlichen Wirkungskreises des Verfassers, nämlich der näheren 
und weiteren Umgebung von Halle und Weissenfels sich befindet, wodurch ihm 
Gelegenheit geboten wurde, die verschiedensten Schweelereien und Mineralöl¬ 
fabriken selbst eingehend zu besichtigen, setzte ihn auch in den Stand, sowohl 
den Betrieb der genannten Fabriken, als auch die spezifischen Krankheiten jener 
Arbeiter näher zu studiren und die gesundheitlichen Schädigungen, welche aus 
dem Betriebe resultiren, kennen zu lernen. 

Die spezifischen Krankheiten in Theer- und Paraffinfabriken sind nach 
dem Autor viel seltener geworden und treten fast nur in milderen Formen auf. 
Einen grossen Einfluss auf die häufigeren oder selteneren Erkrankungen hat 
imm^r die Beschaffenheit des zu verarbeitenden Materials (Kohle, Theer). In 
der Theerschweelerei und Paraffinfabrikation kommen Augenentzündungen 
und Theer- bezw. Paraffinkrätze vor, ausserdem ist Magenkatarrh 
beobachtet worden. Die Augenentzündungen werden hauptsächlich durch ge¬ 
schwefelte Kohlenwasserstoffe bedingt, und zwar sowohl in der Schweelerei wie 
auch in der Paraffinfabrik. Eine gewisse individuelle Disposition macht sich bei 
allen Augenentzündungen bemerkbar. Zur Verhütung der Augenentzündungen 
ist für gute Ableitung der sich bildenden schädlichen Gase, genügende Ventilation 
des ganzen Gebäudes und vorschriftsmässiges festes Schliessen der Mischgefässe 
Sorge zu tragen. Als Prophylaxe und Therapie für Theer- und Paraffinkrätze 
steht Reinlichkeit oben an. Paraffinkrätze wird durch die sogenannten 
„Dunkelöle“ und wahrscheinlich durch das in denselben enthaltene Kreosot 
erzeugt und befällt fast nur Arbeiter an der Presse und im Krystallisationsraum. 
Zur Verhütung der Th^erkrätze muss jede Theer- und Paraffinfabrik eine Bade¬ 
anstalt besitzen, wo jeder Arbeiter mindestens ein Vollbad in der Woche zur 
Arbeitszeit erhält, unter gleichzeitiger Verabreichung einer bestimmten Portion 
Seife. In den Arbeitskleidern darf kein Arbeiter die Fabrik verlassen. In lang¬ 
wierigen Krankheitsfällen ist Wechsel der Arbeit geboten Wirken die Reizungen, 
durch welche die Paraffiukrätze entsteht, andauernd weiter, so kann bei fehlen¬ 
der Hautkultur und gewisser individueller Disposition aus der Paraffinkrätze 
Paraffinkrebs entstehen. Der Fussboden der Fabrik ist der leichteren 
Reinigung halber aus Asphalt oder Eisenplatten herzustellen, das Tragen von 
„Holzpantoffeln“ ist zu verbieten. Ders. 


Morbidität und Mortalität der Bergarbeiter, insbesondere im 
rheinischen Gebiet, und die zur Veränderung derselben erforderlichen 
Massregeln. Von Dr. Körfer in Aachen. Vierteljahrschrift für gerichtliche 
Medizin und öffentl. Sanitätswesen. V. Band, 1 Heft, 1893. 

Der Verfasser schildert in seiuer verdienstvollen Arbeit zunächst im All¬ 
gemeinen die durch den Beruf bedingten, die Gesundheit schädigenden Einflüsse 
beim Bergarbeiter und wendet sich sodann, gestützt auf die in der „Zeitschrift 



516 


Kleinere Mittheilnngen und Referate ans Zeitschriften. 


für Bergbau-, Hütten- und Salinenkunde“ veröffentlichten Knappschaftsbericht« 
de9 Oberberganitsbezirk Bonn, den Morbiditäts- und Mortalitätsverhältnissen der 
rheinischen Bergarbeiter zu.. Auf Grund seiner Untersuchungen gelangt er 
zu dem Schluss, dass die Morbidität im Allgemeinen bei den Steinkohleuberg- 
arbeitern die günstigsten Verhältnisse aufweist, dass dann die Erzbergarbeiter 
und an dritter Stelle die Braunkohlenbergarbeiter folgen, während in der Mor¬ 
talität die Steinkohlenbergarbeiter am ungünstigsten gestellt sind. Es beruht 
dieser scheinbare Widerspruch darauf, dass bei den Steinkoblenbergarbeitern die 
tödtlichen Verletzungen nicht unbedeutend häufiger sind. Die Morbidität wird 
wesentlich durch das Alter beeinflusst. Unter den rheinischen Bergarbeitern ist 
die Morbidität wie Mortalität eine grössere als unter sämmtlichen preussischen 
Bergarbeitern zusammen, obwohl die Todesfälle durch Verletzungen unter den 
rheinischen Bergarbeitern seltener sind, als unter sämmtlichen preussischen Berg¬ 
arbeitern zusammen. Während sich in der Mortalität von 1869—1888 ein stetiger 
Fortschritt zur Besserung konstatiren lässt, ist die Zahl der tödtlichen Ver¬ 
letzungen im preussischen Bergbau von 1850—1880 stetig im Steigen begriffen, 
auch erscheint die Sterblichkeit unter den Bergarbeitern in Preusscu zwischen 
dem 16. und 55. Lebensjahre geringer, als unter der gleichaltrigen mäunlichen 
Bevölkerung Preussens. Der Bergarbeiterberuf ist demnach, was Schädigung 
von Gesundheit und Leben anlangt, der hygienisch günstiger gestellten Hälfte 
von Berufsarten zuzuzählen, obwohl die Gefahren, welche Gesundheit und Leben 
des Bergarbeiters bedrohen, nicht zu unterschätzen sind. 

Um den Bergarbeiter vor Gesundheitsschädigungen durch schlechte Luft 
zu schützen, ist vor Allem einer guten Ventilation die weitgehendste Auf¬ 
merksamkeit zu schenken. Es sind besondere Wetterschächte oder, wo die Ver¬ 
hältnisse es gestatten, Wetterstollen anzulegen, durch welche die verbrauchten 
Wetter ihren Abzug finden und zwar, indem die verbrauchten Wetter durch auf 
mechanischem Wege in die einzelnen Stollen hineingepresste, unverdorbene Luft 
heraus gedrückt werden, oder durch in oder über dem Wetterschacht angebrachte 
Ventilation, sogen. Wetterräder angesogen werden (Succionsprinzip). Zur Ver¬ 
hütung von Gesundheitsschädigungen durch häufigenTemperaturwechsel 
empfiehlt Körfer das Anlegen leichter leinener Arbeitshemden vor 
Ort, und beim Verlassen der Arbeitsstätte das Bekleiden mit einem wolleneu 
Hemd, in dem der Weg zum Schacht und die Ausfahrt zu machen sind. Als 
ein weiteres Erforderniss wird das Vorhandensein einer hinreichenden Anzahl 
von Warmwasserbransen in den Wasch- und Ankleideräumen zur Reini¬ 
gung des ganzen Körpers und das Aufstellen von mit Wasser gefüllten Spuck- 
näpfen in jenen Räumen angesehen für die nach dem Waschen meist reich¬ 
lichere Exspiration. Um eine überflüssige Anstrengung der Körperkräfte zu 
vermeiden, sollte den Arbeitern Gelegenheit gegeben werden, sich zur An- und 
Ausfährt der Seilfahrt zu bedienen, die Benutzung von Fahrten und Fahr¬ 
künsten ist zn verbieten. Von grosser hygienischer Wichtigkeit für den Berg¬ 
arbeiter ist die Sorge sodann für gute Wohnung und einwandsfreies Wasser, 
am besten Wasserleitung. Dr. Dütschke-Aurich. 


Die Kohlenoxydgasvergiftnng and die zu deren Verhütung ge¬ 
eigneten sanitätspolizeilichen Massregeln. Von Dr. Ernst Becker, ehem- 
Assistenzarzt an der medizinischen Universitätsklinik des Professors E bst ein- 
Göttingen. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitäts¬ 
wesen 1893, V. Band, Heft 1 und 2. 

Von sämmtlichen Vergiftungen ist, wie man statistisch nachweisen kann, 
diejenige durch Kohlenoxyd die bei Weitem häufigste und berechnet der Ver¬ 
fasser einen Prozentsatz von 36 bezw. 42 °/ 0 der durch Kohlenoxyd zu Stande 
kommenden Vergiftungen im Verhältniss zu den übrigen Vergiftungen. Der 
Gerichtsarzt wie der Gesundheitsbeamte wird es daher dem Verfasser Dank 
wissen, eine so häufig vorkommende Vergiftung zum speziellen Gegenstand der 
Behandlung gewählt zu haben, findet er doch in der fesselnd geschriebenen 
Abhandlung Alles ihn nur Interessirende übersichtlich zusaromengestellt. 

Nach einer kurzen Einleitung über die Eigenschaften des Kohlenoxydes 
und die Theorien der Wirkung, wendet sich Beek er der Aetiologie der Kohlen¬ 
oxydvergiftungen zu und schildert die in Frage kommenden Gasmengen, den 
Kohlendunst, das Leuchtgas, das Wassergas und verwandte Produkte, wie die 



Besprechungen. 


517 


Minengasc in physikalischer und chemischer Beziehung; bei dem Kapitel „Kohlen¬ 
dunst“ finden die verschiedenen Heizvorrichtungen, die berüchtigte Ofenklappe, 
die Füllöfen, der Carbon - Natron - Ofen wie das offene Kohlenbecken gebührende 
Würdigung. In dem Abschnitt über „Leuchtgas“ hebt der Verfasser hervor, 
dass Vergiftungen in Folge von Rohrbrüchen besonders deshalb so gefährlich 
sind, weil das Leuchtgas erstens seinen charakteristischen Geruch einbüsst, wenn 
es lange Strecken Erdboden durchströmt, und zweitens der Gehalt von Kohlen¬ 
oxyd dadurch, dass die schweren Kohlenwasserstoffe und das Sumpfgas vom 
Boden absorbirt werden, relativ zunimmt; ein derartiger Fall, welchen Verfasser 
während seiner Assisteutenzeit in der Göttinger medizinischen Klinik beobachtete, 
wird im Anschluss hieran geschildert. Zur Symptomatologie der Kohlenoxyd- 
vergiftuugen sodann übergehend, theilt Becker die Vergiftungen in akute 
Vergiftungen ein, die je nach der Menge des eingeathmeten Gases entweder in 
Genesung oder Tod übergehen können, zweitens in chronische Vergiftungen, 
wie man solche gelegentlich bei Fabrikarbeitern beobachtet, die längere Zeit 
hindurch geringe Mengen Kohlendunst oder Leuchtgas einzuathmen gezwungen 
sind und drittens in ein Heer von Nachkrankheiten, welche sich an eine 
akute, glücklich überstandene Kohlenoxydvergiftung anschliessen können. Eine 
übersichtliche und eingehende Behandlung hat auch die pathologische Anatomie, 
gestützt auf die Arbeiten Lesser’s, Casper-Liman’s und Falk’8, wie 
die Untersuchung des Kohlenoxydblutes erfahren; Diagnose, Prognose und 
Therapie bilden den Schluss des ersten Theiles der Arbeit. 

Bezüglich der sanitätspolizeilichen M assreg ein zur Ver¬ 
hütung der Kohlenoxyd Vergiftungen hält Verfasser in erster Linie 
eine Belehrung des Publikums über die Giftigkeit des Gases und die 
Gefahren, welche mit seiner Verwendung verknüpft sind, durch Wort und 
Schrift für durchaus erforderlich und verlangt in industriellen, mechanischen 
und technischen Schulen eine gründliche Ausbildung tüchtiger Techniker, welche 
Arbeitgebern wie Arbeitnehmern belehrend und aufklärend im Fabrikbetriebe 
zur Seite stehen. Ebenso erwartet er von dem mit der staatlichen Beaufsich¬ 
tigung der Fabriken betrauten Institut der Gewerbeinspektoren eine wesentliche 
Verminderung der Gefahren. Zu den Massregeln im Besonderen, welche 
die Kohlendunstvergiftungen zu bekämpfen vermögen, sind zu rechnen, das 
Verbot der Ofenklappen, die Reinhaltung aller Heizapparate, Oefen 
sowohl wie Centralheizungen, Entfernung von Russablageruugen in den Zügen, 
Rauchrohren und Schornsteinen wie der Niederschläge von Staub und Schmutz 
auf den Heizflächen, weil durch das Erhitzen derselben ein brenzlicher Geruch 
im Zimmer entsteht. Es ist weiter auf die Gefährlichkeit der Carbon - Natron- 
Ocfen aufmerksam zu machen, wie bereits von einzelnen Verwaltungsbehörden 
geschehen, offene Kohlenbecken in geschlossenen Räumen sind nicht zu ver¬ 
wenden, verborgene Balkenbrände müssen durch geeignete baupolizeiliche 
Massnahmen verhütet werden. Die in den verschiedensten industriellen Betrieben, 
vor Allem beim Hochofenprozesse entstehenden kohlenoxydhaltigen Gas¬ 
gemische werden zweckmässig unter geeigneten Sicherheitsmassregeln in 
besonderen Ableitungsrohren unter den Rost der Feuerung geleitet, wo sie als 
Brennmaterial passende Verwendung finden. Gegen schlagende Wetter ist 
das einzig wirksame Mittel nur eine gute Ventilation, durch welche die 
aus den Spalten der Kohle sich entwickelnden Gase von dem Luftstrom beständig 
fortgeffihrt werden. Die wichtigste Massregel zur Verhütung einer Vergiftung 
durch Leuchtgas muss, da der Technik eine Verringerung des Kohlenoxyd¬ 
gehaltes z. Z. noch nicht gelungen ist, die Prophylaxe des Rohrbruches 
bilden; hierhin gehört auch der von Baurath C. Schmidt in Breslau konstruirte 
Undichtigkeitsprüfer für Strassengasleitungen in Verbindung mit End¬ 
ventilation, worüber das Original einzusehen ist. Zur Verhütung der Minen¬ 
krankheit schliesslich sind vielfach kohleärmere Pulver beim Sprengen 
empfohlen, das sicherste Mittel bleibt indessen immer eine schleunige Entfernung 
der Gase aus den Minen durch grosse, mittelst Wasser- oder Dampfkraft ge¬ 
triebene Ventilatoren. Ders. 



518 


Besprechungen. 


Besprechungen 

Stabsarzt Prof. Dr. Behring: Die Geschichte der Diphtherie. 
Mit besonderer Berücksichtigung der Immunitäts¬ 
lehre. Verlag von Georg T hie me. Leipzig 1893. 

Es ist nicht leicht, Geschichte zu schreiben. Als besonders schwer aber 
muss es gelten, die Geschickte einer Krankheit zu schreiben, wie die Diphtherie 
es ist, über deren Wesen der Streit der Meinungen noch in den letzten Jahren 
hin und her gewogt hat und über deren Behandlung trotz aller der neuen MitteL, 
welche alljährlich auftauchen und die gegen die Krankheit empfohlen werden, 
irgend eine Uebereinstimmung nicht hat erzielt werden, wenigstens sichere 
Erfolge und stichhaltige Proben nicht haben berichtet werden können. 

Behring hat diese Aufgabe in eigener Weise, aber zielbewusst gelöst. 
Er gräbt aus dem Pompeji Bretonncau’scher Schriften klassische Fragmente 
aus und fügt die alten Steine zu einem festen Neubau zusammen. — Es sind 
fast 40 Jahre her, dass Bretonnean die Ansicht verfocht, dass die Diphtherie 
eine direkt kontagiöse Krankheit sei. Der sichere Beweis hierfür ist Oertel 
durch seine Thierexperimente nur zum Theil geglückt, er ist erst durch Löffler 
erbracht worden, welcher den Diphtheriebacillus entdeckte und rein züchtete. 
Auf dieser Basis ruht der jetzt als zweifellos richtig anerkannte Satz: „Die 
Diphtherie ist eine vermeidbare Krankheit“. Auf ihr ruht ferner die Schutz¬ 
methode gegen die Diphtherie und die Heilmethode Behring’s. 

Es ist eine bekannte Thatsache, dass Krankheiten von selber heilen; atn 
auffälligsten ist dieses bei den typisch verlaufenden Krankheiten. An ihnen sehen 
wir, dass ein Körper, welcher in der Acme aufs schwerste zu leiden hat, in 
der Krisis plötzlich ohne jede Einwirkung von aussen seine Gesammtthätigkeit 
ändert und der Kranke gesund wird. Wir müssen annehmen, dass in dem 
Körper selber irgend welche Veränderungen vor sich gehen, welche diesen Um¬ 
schlag bewirken. Früher suchte man den Heilfaktor in der Lebenskraft, in 
neuester Zeit in der Thätigkeit der Blutzellen, denen man gleichsam ein selbst¬ 
ständiges Leben und damit die Fähigkeit zuschrieb, Krankheitstoffe, speziell 
organische Krankheitskeime zu zerstören (Phagocyt.cn- Theorie). Behring hat 
nachgewiesen, dass diese Ansicht eine falsche ist; dass nicht die geformten Be¬ 
standteile des Blutes, die Blutzellen, einen Einfluss auf den Verlauf der Krank¬ 
heit auszuüben vermögen, sondern dass die Blutflüssigkeit, das Blutserum, die 
Heilfaktoren in sich birgt. Er hat nachgewiesen, dass bei Thieren, welche eine 
Infektion mit Diphtheriebazillen glücklich überstanden haben, das Serum im 
Stande ist, andere Thiere, denen es in die Blutbahn gebracht wird, gegen 
Diphtherie zu schützen, sie zu immunisireu. Eben dasselbe Blut, nachdem es 
von allen körperlichen Elementen befreit ist, besitzt noch die Fähigkeit, Indi¬ 
viduen nach der Infektion mit den in Frage kommenden Infektionsstoffen 
zu heilen. 

Was Behring zunächst an kleinen Thieren, an Mäusen, auszuführen 
geglückt ist, das hat er durch ununterbrochene sorgfältigste Arbeit schliesslich 
für grosse Thiere (Schafe, Pferde) erreicht und bewiesen. Dadurch hat er grössere 
Mengen von Blutserum gewonnen, und nun steht ihm eine hinreichende Menge 
davon zur Verfügung, um auch Menschen gegen Diphtherie zu schützen, ja sogar 
sie zu heilen. Die vorbereitenden Versuche werden bereits in der Kinderab¬ 
theilung der Königlichen Charite angestellt. 

So sehen wir denn zum ersten Male gegenüber den bisherigen symptomati¬ 
schen Mitteln ein eigentliches Diphtherie - Heilmittel, und da Behring in gleicher 
Weise gegen den Tetanus vorgegangen ist, da sich auch bei den Streptokokken¬ 
krankheiten ähnliche Erfolge erwarten lassen, so eröffnet sich ein weiter Aus¬ 
blick auf neue Heilmittel zur Behandlung innerer Krankheiten. Jahrtausende 
hat die Medizin gebraucht, um schliesslich aus dem ganzen Schatze ihrer Mittel 
einige wenige als wirkliche Heilmittel aufstellen zu können. Mit Jod, Queck¬ 
silber, Chinin und Eisen dürfte deren Zahl wohl erschöpft sein. Sollte wirklich 
nach weiteren mehreren Jahrtausenden, in welchen gleicherweise empirisch vor¬ 
gegangen wird, die Wissenschaft wieder nur um 4 wirkliche Heilmittel be¬ 
reichert sein? Die Behring’sehen Arbeiten lassen uns Anderes erhoffen. 

Wer erwartet, in Behring’s „Geschichte der Diphtherie“ eine Reihe 



Besprechungen. 


619 


von Heilmethoden, wie sie zeitweise über dem Spiegel der ärztlichen Praxis 
aufgetaucht sind, nm bald wieder zu verschwinden, historisch aufgeführt zu 
linden, der wird enttäuscht sein. Behring schildert gleichsam nur die grossen 
Schlachten, welche im Kampfe gegen die Diphtherie unter der Fahne kontagio- 
nistischer Anschauungen geschlagen worden sind. In den Vordergrund stellt er 
Bretonneau mit seinen epidemiologischen, klinischen und immerhin nicht zu 
unterschätzenden pathologisch-anatomischen Beobachtungen Uber Diphtherie. 
Dann folgen die Versuche über Impfdiphtherie der Thiere von Cbaussier, 
Trendelenburg und namentlich Oertel. Eine fernere wichtige Etappe 
bildet Koch’s Lehre von der Spezitizität und Artverschiedenbeit der differenten 
Krankheitserreger. Ihm schliesst sich Löffler’s Entdeckung und ('harakteri- 
sirung der Diphtheriebazillen an und fioux’ und Yersin’s Studien über die 
Bakteriengifte, speziell das Diphtheriegift. Diesen lässt Behring eine histori¬ 
sche Uebersicht der Versuche zur Verhütung und Heilung der Diphtherie folgen. 
Schliesslich bespricht er in knapper, übersichtlicher Form die Blutserumtherapie 
und zwar die wissenschaftlichen Voraussetzungen derselben, die Methoden der 
Immunisirung und die Eigenschaften des Heilserums. Daneben findet sich 
manches interessante Wort über ärztliche Statistik, über Krisen, über die 
Tracheotomie, über Gifte der Eiweisskörper und Anderes. — 

Wer im Kampfe steht, der schlägt Wunden, oft auch solche, die er viel¬ 
leicht selbst nicht beabsichtigt hat. Wenn Behring einen hochgeschätzten 
Kliniker scharf angreift, weil dieser vor 30 Jahren die Diphtherie nicht im 
Sinne unserer heutigen Auffassung besprochen hat, so ist dieses wohl nur durch 
eine Verstimmung darüber zu erklären, dass er die erste Unterstützung und 
Förderung seiner Arbeiten nicht von Seiten der Kliniker, nicht einmal von Seiten 
des Mcdiziual - Ministeriums erhalten hat, sondern durch das — landwirtschaft¬ 
liche Ministerium gelegentlich seiner Arbeiten über das Tetanus-Heilserum. 

Wer im Kampfe steht, der muss sich auch Angriffe gefallen lassen; aber 
nicht im Kingkampfe einen Angriff' mit einem Ziegenhainer. Im Juni d. J. hat 
ein Professor vor einer angesehenen Berliner Aerzte- Versammlung in wenig 
liebreicher Weise sich folgendermasseu geäussert: „Von Herrn Behring, zur 
Erforschung und Bekämpfung einer Epidemie entsandt, kann man Folgendes 
erwarten: Er würde telegraphiren: Hungertyphus. Bazillen gefunden. Gehen 
durch Wasser zu Grunde. Besser durch Salzsäure und Methylenblau. Habe 
möglichst Alles unter Wasser gesetzt. Sendet sofort Salzsäure und Methylenblau 1“ 
Derartige Angriffe richten sich selber. Ob die, welche dem Herrn Pro¬ 
fessor Beifall spendeten, wohl die Behring’schen Veröffentlichungen studirt 
haben? Ich glaube es kaum. Und doch gilt meiner Ansicht nach auch für 
die medizinische Wissenschaft noch immer das, was Lessing für seine Werke 
in Anspruch nimmt: 

Wir wollen weniger erhoben 
Und fieissiger gelesen sein. — 

Es fleissig zu lesen — das bleibt die beste Empfehlung für jedes gute 
Buch, auch für Behring’s „Geschichte der Diphtherie“. 

Dr. Caspar-Greifenberg i. P. 


Tagesnachrichten. 

Berufung. Der Direktor der städtischen Irrenanstalt zu Herzberge bei 
Berlin, Prof. Dr. Moeli, ist als HiilfsVertreter in das Kultusmini¬ 
sterium berufen, um dort in der Medizinalabtheilung des Ministeriums die 
Bearbeitung des Irrenwesens zu überneh i.en. Es ist das ein Erfolg der berech¬ 
tigten Bestrebungen der Irrenärzte, der übrigens nicht zum kleinsten Theil auf 
Konto der in der Presse lautgewordenen Stimmen über allerhand angebliche 
Misstände in unserer Irrengesetzgebung zu setzen sein dürfte. 

Cholera. In Hamburg ist die Cholera wieder im Erlöschen begriffen; 
vom 28. Septeml>er bis 10. Oktober sind noch 25 Erkrankungen und 15 Todes¬ 
fälle vorgekommen, ein Theil davon betraf zugereiste Seeleute, die auf ihren 
Schiffen erkrankt waren. Altona ist seit dem 80. September völlig cholera- 
frei ; am 28. und 29. September sind die letzten Erkrankungen (4) und Todes¬ 
fälle (1) gemeldet. Eine grössere Anzahl von Choleraerkraukungen sind in den 
letzten Tagen (7. bis 10. Oktober) in Stettin aufgetreten: 12 mit 2 Todesfällen; 



520 


Tagesnachrichten. 


im Uebrigen sind in Deutschland vom 28. September bis 10. Oktober noch 23 
vereinzelte Erkrankungen und 13 Todestalle vorgekommen, in Kirchborgum (Kreis 
Weener) 1 (1), Bodenwerder 1 (—), Geestemünde 1 (—), in Cuxhaven 3 r o t, 
Itzehoe 1 (1), Rössen (Kreis Pinneberg) 1 (—), Neuenfelde (Reg.-Bez. Stade) 
1 (—), Neuland (Reg.-Bez. Stade) 2 (1), Kiel 3 (1), Alt-Doemitz 2 (2), Sy- 
dowsaue (Kreis Greifenhagen) 1 (1), Niederkränig a. d. 0. 2 (--), Hohenkränig 
1 (—), Altdamm 1 (1), Grabow a. d. öd. 1 (1), Kratzwieck bei Stettin 1 (1). 

In Oesterreich hat sich in Galizien die Zahl der Cholera - Erkran¬ 
kungen und Todesfälle wie der verseuchten Gemeinden ungefähr auf die Höhe 
der Vorwochen gehalten. Sie betrug in der Woche vom 14. bis 26. September 
134 (60) in 32 Gemeinden, und in der Woche uom 27. September bis 3. Oktober 
129 (64) in 29 Gemeinden, zusammen 263 (124), also seit Beginn der Seuche 
912 (524). Am meisten verseucht sind noch immer die Bezirke Nadworna (84 
bezw. 37), Kolomea(29 bezw. 16), Sanock (58 bezw. 19) und Stanislau (41 bezw. 20). 

In Ungarn haben die Erkrankungen an Cholera eine weitere Abnahme 
erfahren; ihre Ziffer stellte sich in der Woche vom 13.—19. September auf 136 
mit 93 Todesfällen in 56 Gemeinden, in der Woche vom 20.—26. September 
auf 139 mit 69 Todesfällen in 53 Gemeinden. Die Zahl der infizirten Komitate 
beträgt nur noch 22; am meisten verseucht sind noch die Komitate Marmaros 
(54 bezw. 30) und Bacs-Bodrogh (63 bezw. 89). In Pest sind während des 
obengenannten Zeitraums 29 Erkrankungen mit 11 Todesfällen, in Klausen- 
burg 11 bezw. 8 vorgekommen. 

In Rumänien ist die Cholera im Erlöschen (vom 18.—24. September 
sind nur noch 32 Erkrankungen mit 27 Todesfällen vorgekommen); dasselbe gilt 
von dem Ausbruch der Seuche in Skutari (Türkei) und Smyrna. 

In Italien hat die Krankheit dagegen besonders in Palermo eine 
grosse Ausbreitung genommen; die Zahl der Erkrankungen schwankte hier in 
der Zeit vom 27. Sept. bis 10. Oktober täglich zwischen 20—30 Erkrankungen 
und 13—15 Todesfällen, während in Livorno und Patti sich eine Abnahme 
der Erkrankungen bemerkbar machte. Erwähnt zu werden verdient noch der Aus¬ 
bruch der Cholera auf dem aus Brasilien zurückgekehrten italienischen Packet- 
Darapfer „Carlo“; von den Passagieren und der Mannschaft sollen nicht weniger 
als 201 Personen der Seuche erlegen sein. 

Im nördlichen Spanien hat die Cholera eine grössere Ausbreitung ge¬ 
nommen, besonders in der Provinz Biscaya, in der vom 26. September bis 
1. Oktober 266 Erkrankungen mit 93 Todesfällen gemeldet sind, darunter in 
Bilbao 50 (22). Auch in Madrid soll die Seuche aufgetreten sein. 

Aus Frankreich sind die Nachrichten über die Verbreitung der Cholera 
nach wie vor ungenau und unzuverlässig. In Nantes sollen vom 14.- 27. Sept. 
69 Erkrankungen und 31 Todesfälle vorgekommen sein. Aus Brest wird eine 
Abnahme der Seuche gemeldet. In Belgien betrug die Zahl der Erkrankungen 
vom 10.—30. September 130 mit 97 Todesfällen, davon 61 bezw. 28 in Antwerpen. 
In Holland sind während der Zeit vom 19. Sept. bis 3. Okt. im westlichen 
Seehafengebiet 85 Erkrankungen mit 54 Todesfällen vorgekommen, davon in 
Rotterdam 48 bezw. 28, in den mittleren Landestheilen 20 bezw. 11, in den 
östlichen Landestheilen 12 bezw. 5. 

In Schweden sind vereinzelte Choleraerkrankungen in Helsingförs und 
Umea aufgetreten. 

In Russland zeigt sich eine weitere Abnahme der Cholera fast überall 
besonders in den Gouvernements Kursk, Monsk, Podolien, Woronesh, 
Moskau, Orel, Tula und in der Stadt Moskau, während eine solche in den 
Gouvernements Wolhynien, Lomsha und Jekaterinoslaw sowie in Stadt und 
Gouvernement Petersburg nicht in dem Masse zu Tage tritt. Die Zahl der Er¬ 
krankungen bzw. Todesfälle betrug in der Zeit vom 10.—30. September in den 
Gouvernements Wolhynien: 1631 (615), in Kiew: 1347 (461), Kursk: 526 (237), 
Mohilew: 503 (179), Podolien: 1877 (826), in der Zeit vom 17.—30. September 
in den Gouvernements Woronesh: 476 (266), Moskau: 90 (73), Orel: 265 (113), 
Tula: 402 (116), Jekaterinoslaw: 713 (312), Lomsha: 445 (211), sowie in der 
Zeit vom 27. September bis 9. October in Stadt und Gouvernement Peters¬ 
burg: 754 (381), dagegen in der Stadt Moskau nur 56 (23). 

Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- n. Med.-Rath i. Minden i. W. 

J. C. C. Brun«, Buo.hdruckerci, Minden. 




1891 


- Jahr k Zeitschrift 

für 

MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

S:in.-R;ithu.gerichtl.Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in Minden. 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW.0. 

Inserat«, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlung and Rad. Moste 

entgegen. 


No. 21. 


Erseheint am 1. und 15. Jeden Monats. 
Preis JEhrlich 10 Mark. 


1 . 


Novbr. 


Die Choleraepidemie in Stettin und dem Kreise Randow 

im Herbst 1893. 

Kurze vorläufige Mittheilung von Kreisphysikus Dr. B. Schulze und Kreisphysikus 

Dr. M. Freyer zu Stettin. 

I. Stadt Stettin (Schulze-Stettin). 

Nachdem wir im vorigen Jahre eine kleine Choleraepidemie 
hier gehabt, welche von Anfang September bis Mitte Oktober 
dauerte und bei nur 28 Erkrankungen und 17 Todesfällen sich 
fast ausschliesslich auf den Hafen und seine nächste Umgebung 
beschränkte, war vom August d. J. an hier Alles auf den Empfang 
des bösen Gastes gefasst, zumal derselbe sich in Europa so vielfach 
zeigte. Aber erst am 23.—24. September kam der erste, sogleich 
tödtlich endende Fall vor, dem am 24.—25. September alsbald der 
zweite mit tödtlichem Ausgang folgte. 

23. September 1 Erkrankung. 11. Oktober 3 Erkrankungen. 


24. 

Ti 

1 

V 

12. 

Ti 

5 

Ti 

4. 

Oktober 

2 

n 

13. 

Ti 

9 

Ti 

5. 

n 

1 

Ti 

14. 

Ti 

8 

Ti 

6. 

Ti 

6 

Ti 

15. 

Ti 

5 

Ti 

7. 

n 

2 

Ti 

16. 

Ti 

5 

Ti 

8. 

j) 

5 

Ti 

17. 

Ti 

2 

Ti 

9. 

n 

5 

Ti 

18. 

Ti 

6 

Ti 

10. 

Ti 

6 

Ti 

19. 

Ti 

3 

Ti 


Insgesammt 76 Erkrankungen 
mit 37 Todesfällen = 47,36 °/o (bis jetzt!). 

Da die drei letzten Fälle (19. Oktober) Hausinfektionen be¬ 
trafen, d. h. durch Infizierung seitens erkrankter Familienmit¬ 
glieder entstanden waren, so sind demnach seit dem 18. Oktober 
excl. bis jetzt (24. Oktbr. incl.) keine neuen Erkrankungen selbst- 








522 


I)r. B. Schulze und Dr. Freyer. 


ständig vorgekommen. Ob damit die Cholera uns so plötzlich ver¬ 
lassen hat, wie sie gekommen ist, oder ob nur eine Pause einge¬ 
treten ist, müssen wir abwarten 1 ). 

Was die Herkunft der Erkrankungen anlangt, so betrafen 
sie zuerst Kohlen- und Schiffsarbeiter, deren Beschäftigungsstelle 
genau da lag, wo auch im vorigen Jahre die Cholera begann, 
am Dunzig, einem Nebenarm der Oder, und zwar dort, wo der 
Oder - Dunzig - Kanal, der in ziemlich nördlicher Richtung die beiden 
divergirenden Flussarme mit einander wieder verbindet, vom Dunzig 
abgeht. Ich habe schon im vorigen Jahre darauf hingewiesen, 
dass bei dem überaus geringen Gefall unserer Flussläufe in diesem 
Kanal das Wasser fast stagnirt, und dass hier bei grosser Hitze 
im Sommer und den geringeren Dimensionen des Kanals, bei der 
Lage unmittelbar unterhalb der grossen Stadt, die den grössten 
Theil der Kloset- und Abwässer in den Fluss entleert, der denk¬ 
bar günstigste Nährboden für Infektionskeime (Cholera - Keime) 
gegeben ist, mit welchen nach der vorjährigen „Vermuthung“ unser 
Flusswasser verseucht ist. Letztere Vermuthung ist nun zur Ge¬ 
wissheit geworden, nachdem jetzt im Institut für Infektionskrank¬ 
heiten mittelst des neuen Peptonverfahrens im ganzen Hafengebiet 
Cholera-Bazillen thatsächlich nachgewiesen sind. 

Nur 5 Fälle betrafen Kahnschiffer und deren Familien, 1 
einen Matrosen eines Seglers, und auf den Fluss konnten im 
Uebrigen bei Schiffs-, Kohlen- und Hafenarbeitern, am Wasser 
Wohnenden resp. Beschäftigten noch etwa 15 Fälle (= 27,63 °/ 0 
aller Erkrankten), bezogen werden, 

Es gehören aber zu diesen ausserdem 7 Hausinfektionen, 
sowie durch Infektion entstandene Erkrankungen in 2 Familien 
(Schiffsarbeiter etc.), wo die Väter einige Tage vorher an Durch¬ 
fall gelitten hatten, ohne dass sie ihre Beschäftigung aufzugeben 
brauchten. Diese hatten, als sog. Cholera - Träger, die Familie 
infizirt, ein Vorgang, auf den Koch schon im Vorjahre hingewiesen 
hat, und der bezüglich der Aetiologie von der grössten Wichtig¬ 
keit ist. 

In das obige Verzeichniss der an Cholera Erkrankten sind 
diese beiden „Cholera-Träger“ ebensowenig aufgenommen, wie die, 
welche aus der Zahl der evakuirten „gesunden“ Familienange¬ 
hörigen nur bakteriologisch festgestellt wurden, d. h. in ihren 
Stühlen Cholerabazillen hatten, ohne klinische Krankheitssymptome 
darzubieten. 

Bei weitestgehender Zurechnung entfielen demnach von 
den 76 Erkrankungen 32 = 42,11 °/ 0 auf den Fluss. 

Es verbleiben 44 Erkrankungen, bei denen weder eine Ueber- 
tragung (abgesehen von Hausinfektion) noch eine Beziehung irgend 
welcher Art zum Hafen sich ermitteln liess = 57,99 °/ 0 . Abzu¬ 
ziehen sind hiervon in zwei Gruppen 5 und 8 Hausinfektionen, 
zusammen 13, so dass 31 selbstständige Erkrankungen an Cholera 
asiatica übrig bleiben = 40,79 °/ 0 aller Erkrankungen, für welche 


*) Inzwischen ist am 25. Okt. wieder eine Erkrankung konstatirt. 



Die Choleraepidomie in Stettin und dem Kreise Randow im Herbst 1893. 523 

jede Erklärung bezüglich ihres Zustandekommens fehlt — wenn 
man nicht nach Koch’s Vorgang das Leitungswasser als Träger 
der Cholerabazillen, d. h. des Ansteckungsstoffes nehmen will. 
Hierfür spricht aber eigentlich Alles. 

Nachdem das Institut für Infektionskrankheiten, welchem 
seitens des Referenten die Dejektionen und Darmschlingen aus¬ 
schliesslich zugesandt wurden, auf die sich häufenden Fälle auf¬ 
merksam geworden war, wurden 3 Mitglieder desselben, Herr 
Prof. Dr. Pfuhl, Privatdozent Dr. Pfeiffer und Dr. Kolle von 
dem Herrn Minister hierher gesandt, einmal, um die aetiologischen 
Momente möglichst genau festzustellen und dann, um die bak- 
teriolgischen Untersuchungen der grösseren Schnelligkeit halber 
hier an Ort und Stelle vorzunehmen. Die Ermittelungen in ersterer 
Beziehung hat Herr Dr. Pfeiffer in unserer Medizinalbeamten- 
Versammlung vom 25. d. M. mitgetheilt, und verweise ich auf den in 
dieser Nummer abgedruckten Bericht. Hier mag nur hervorgehoben 
werden, dass in dem „Rohwasser“ einiger Filter die bakteriologische 
Untersuchung, welche in dem Berliner Institut ausgeführt wurde, 
das Vorhandensein von Cholerabazillen ergab. Herr Geh. Rath 
Koch, welcher am 17. und 18. d. M. hier weilte, stellte eine zu 
grosse Filtrirgeschwindigkeit, die ein gelegentliches Zerreissen 
der „Schlammschicht“ wahrscheinlich machte, sowie einen zu grossen 
Keimgehalt des filtrirten Wassers fest. Endlich waren am 7. Okt. 
die Erkrankungen in den verschiedensten hoch und tief gelegenen 
Stadttheilen, ja schliesslich auffallend zahlreich in den hygienisch 
besten, in Bezug auf Untergrund und Bauart untadelhaften Häu¬ 
sern aufgetreten, ohne dass je eine Uebertragung von einem zum 
anderen selbstständigen Erkrankungsfall nachzuweisen gewesen 
wäre; auch erkrankten, im Gegensätze zum vorigen Jahre, Per¬ 
sonen besserer Stände. 

Kann man nun auch die Erkrankungsziffern bei einer Gesammt- 
bevölkerung von ca. 125 000 Seelen nur immerhin gering nennen, so 
ist damit nicht gesagt, dass nicht eine viel grössere Menge Menschen 
thatsächlich Cholerabazillen mit dem Leitungswasser, das sonst 
unbeanstandet getrunken wird, in sich aufgenommen haben; eine 
Menge leichter Diarrhöen sind (wie aus dem oben Gesagten hervor¬ 
geht) gewiss unbeachtet vorübergegangen, und dann ist es mir 
aufgefallen, dass in sehr vielen Erkrankungsfällen es sich um her¬ 
untergekommene Personen, Säufer, Vagabonden, sowie Leute mit 
chronisch kranken und schwachen Magen handelte. Man muss 
daher den Eindruck gewinnen, dass bei diesen Personen die de¬ 
letäre Wirkung der Cholerabazillen nicht durch Magensaft nor¬ 
maler Beschaffenheit paralysirt wurde. Hierhin gehören auch 
mehrere von mir festgestellte Erkrankungen nach Diätfehlem 
gröbster Art. 

Denn dass das gewöhnliche Publikum, trotz aller Warnungen 
das Leitungswasser ungekocht genossen hat und geniesst, unter¬ 
liegt keinem Zweifel, wie ich vielfach selbst beobachtet habe. 
Indolenz, aber auch Armuth sind Schuld daran; es ist nicht so 
billig, fast alles Wasser für den Haushalt abzukochen. Sehr 



Dt. B. Stiüizc sii Dt. Frejit. 


wichtig’ für die Annahme einer Infektion dnrt-li die Leitung ie: 
z. B. die Erkrankung einer Wöchnerin, welche noch gar ni:h: aus 
dern Zimmer gekommen war: ebenso schwerwiegend sind die Fälle 
von Cholera-Erkrankung ganz kleiner Kini~r v-;-n 6 Wochen. 11 
Monaten, V t und 3 Jahren, bei denen man doch auch schwerlich 
freie Bewegung ausser dem Hause wird behaupten kennen. In 
allen 4 Fallen aber sind diese kleinen Kinder die zuerst Er¬ 
krankten in der Familie gewe-en und f.dgten Ihnen 4. 1. 1 uni 2 
Hausinfektionen erst nach. In drei Fallen ist Cholera asiatica 
nachträglich bakteriologisch nachgewiesen. 

Auch bei diesen kleinen Kindern wird man annehmen können, 
«lass ihre Verdauungswerkzeuge ebenfalls weniger geeignet sind. 
Cholerakeime abzutödten, als die älterer Personen. 

Biese Erkrankungen bieten auch insofern etwas Neues, we¬ 
nigstens nicht allgemein Bekanntes, als man bisher geglaubt hat 
— in Hamburg hat man im vorigen Jahre auch schon die gegen¬ 
teilige Erfahrung gemacht —, dass Kinder unter 2 Jahren nicht 
rxler doch nur ausnahmsweise von Cholera asiatica befallen würden. 
Dieser Standpunkt spiegelt sich noch in den bis jetzt gültigen 
Ministerial-Erlassen wieder, wonach Brechdurchfälle u. s. w. bei 
Kindern unter 2 Jahren der Anzeigepflicht nicht unterliegen. 

Wenn nun in unseren 4 Fällen (denn auch den vierten Todes¬ 
fall, bei dem die Leiche schon begraben und die bakteriologische 
Diagnose daher zu stellen nicht mehr möglich war) sich die Sache 
jedesmal so abspielte, dass das betreffende Kind, entsprechend der 
bisherigen Tradition laut ärztlichen Todtenscheines an „Durchfall“, 
„Darmkatarrh, „Krämpfen“ etc. etc. gestorben war, und wenn dies 
in den nächsten Tagen bei der aetiologischen Erforschung der 
Cholera - Erkrankung eines weiteren Familienmitgliedes zufällig 
festgestellt werden konnte — sc. jedesmal zuerst die Mutter, 
welche mit dem Kind und seinen beschmutzten Windeln hantirt 
hatte —, so liegt doch die grosse sanitäts - polizeiliche Tragweite 
dieser Thatsaclie des Vorkommens der Cholera asiatica bei so 
jungen Kindern auf der Hand! Eine Abänderung der betr. Vor¬ 
schriften wird daher geboten sein. 

Von den beiden oben aufgeführten Infektionsgruppen, die zum 
Leitungswasser gehören, folgte also die eine mit 8 Infektionen 
(nämlich 4, 1, 1, 2) diesen Cholera - Erkrankungen kleinster Kinder, 
die andere mit 5 Infektionen folgte 4 (der 31) selbstständigen Er¬ 
krankungen. Dass auch bei den 4 qu. Erkrankungen der kleinen 
Kinder das Leitungswasser nicht die unwahrscheinlichste Ursache 
bildete, dafür spricht der Umstand, dass mir auf Befragen jedes¬ 
mal zugegeben wurde, dass der „Gummikorken“ der Flasche in 
ungekochtem Leitungswasser ausgewässert war. 

Verfolgt man die ganze Kette: Oderwasser, Rohwasser der 
Filter bis zu den Erkrankungen, so muss man beachten, dass im 
Oder- und sogar im Rohwasser der Filter Cholerabazillen nachge¬ 
wiesen sind; freilich fehlt der Nachweis derselben im Leitungs¬ 
wasser, ein solcher war aber der sicherlich geringen Zahl der 
Cholera - Keime wegen, von vornherein als unmöglich anzusehen. 



Die Choleraepidemie in Stettin und dem Kreise Randow im Herbst 1893. 525 

Man wird die Lücke mit Recht ausfüllen dürfen, einerseits durch 
den schwerwiegenden zu hohen Keimgehalt des filtrirten Wassers 
(z. B. am 12. Oktober 930 Kolonien pro 1 ccm im Filter F. und 771 
im Reinwasser), durch die konstatirte zu grosse Filtrirgeschwin- 
digkeit, und andererseits durch die sonst unerklärliche, verstreute 
Ausbreitung der Epidemie in der Stadt und gerade in den gesun¬ 
desten Stadttheilen, beim Fehlen jeder Beziehung zum Hafen. 
Wir dürfen eben nicht vergessen, Stettin erhält mittelst seiner 
Wasserleitung (gut oder schlecht filtrirtes) „Oderwasser“. 

Was schliesslich das Auftreten der Cholerabazillen im Fluss¬ 
wasser anlangt, so ist es nach Koch das Wahrscheinlichste, dass 
dieselben jetzt hier nicht neu importirt sind, sondern von der vor¬ 
jährigen Epidemie herrührend, überwintert und in Folge der som¬ 
merlichen Hitze gerade hier unter günstigeren Bedin¬ 
gungen sich derart im September entwickelt haben, um wieder 
infektiös wirken zu können. 

Auffällig erscheint es jedenfalls, dass eine Reihe weiterer aus¬ 
wärts konstatirter Fälle bei Oder-Kahnschiffern berg- und thal- 
wärts auf Stettin zurückgeführt werden müssen. 


II. Kreis Randow (Freyer-Stettin). 

Nachdem in der Stadt Stettin eine Reihe von Erkrankungen 
vorgekommen waren, die fast ausschliesslich auf den Genuss rohen 
Oderwassers zurückzuführen waren und zwar hauptsächlich an 
denjenigen Stellen der Oderufer, an denen im Vorjahre die Er¬ 
krankungen ihren Anfang genommen — am Oder - Dunzig - Kanal —, 
wurde mir am 6. Oktober die erste Erkrankung aus der zu meinem 
Kreise gehörigen, eine Meile entfernten Nachbarstadt Altdamm 
gemeldet. Die Feststellungen ergaben, dass es sich um einen 
Arbeiter handelte, der auf einem, am Eingänge des Oder-Dunzig- 
Kanals arbeitenden Bagger beschäftigt war und nur in Altdamm 
seinen Wohnsitz hatte. Also auch hier war wieder die Erkrankung 
auf den Genuss von direkt aus der Oder bezw. dem genannten 
Kanal entnommenen Wasser zurückzuführen. Der Erkrankte erlag 
in 5 Tagen der Krankheit, die schon klinisch als Cholera asiatica 
unzweifelhaft war und bakteriologisch bestätigt wurde. 

Es folgte nun die Erkrankung eines Fabrikbeamten in der 
Nachbarstadt Grabow a. 0. Bei diesem war die Erkrankung auf 
den Genuss von Leitungswasser, das der Stettiner, aus der Oder 
her stammenden, Wasserleitung angehört, zurückzuführen, nach¬ 
dem der Erkrankte sich eine erhebliche Indigestion hatte zu 
Schulden kommen lassen. Auch er starb innerhalb 7 Tagen. 

Der nächste Erkrankte war ein Brunnenmacher, der in dem 
1 Meile Oder abwärts gelegenen Dorfe Kratzwiek mit Brunnen¬ 
bohren beschäftigt war. Er hatte sich an 2 Tagen vorher Ge¬ 
schäfte halber in Stettin aufgehalten und scheint sich hier infizirt 
zu haben. Er starb innerhalb 24 Stunden. 

Demnächst erkrankte und starb innerhalb zweier Tage ein 
8 Monate altes Kind in Bollinchen, etwa 6 km Oder abwärts ge- 



526 


Dr. B. Schulze und Dr. Freyer. 


legen. Der Ursprung der Erkrankung war hier auf Beimischung 
von Oderwasser zur Milch zurückzuführen. 

Die nächstfolgenden Erkrankungen betrafen zwei Kahn¬ 
schifier, die gegenüber dem Oder-Dunzig-Kanal mit ihrem Kahne 
lagen und direkt Oderwasser getrunken hatten. Sie starben beide 
innerhalb 24 bis 48 Stunden. 

Dasselbe war mit einem Matrosen eines kleinen Schlepp¬ 
dampfers der Fall, der auf der Oder hin- und herfuhr, um Schiffe 
einzuschleppen. Auch dieser Erkrankte hatte direkt Oderwasser 
getrunken und starb innerhalb 48 Stunden. 

Mit diesen Erkrankungsfällen sind eigentlich für die nun 
folgenden die verschiedenen Ursprungsarten der Infektion gegeben: 
bald war der direkte Genuss von Oderwasser als Quelle der In¬ 
fektion nachzuweisen, bald war es allgemein der Aufenthalt an 
dem Bollwerk zu Stettin. 

Allein auch die Kontaktinfektion sollte nicht fehlen; und so 
wurde ich am 15. Oktober mit der Meldung mehrerer Er¬ 
krankungen in Warsow, einem 6 km von der Stadt entfernten, 
landeinwärts gelegenen Dorfe, überrascht. Die eigene Feststellung 
ergab folgendes, noch mehr überraschende Büd: Ein in Stettin 
am Bollwerk als Kornträger beschäftigter, als Potator geschilderter 
Arbeiter war bereits am 7. Oktober nach Warsow krank heim¬ 
gekehrt. Am 10. Oktober erkrankte der mit ihm zusammen¬ 
wohnende, seit Jahren bettlägerig kranke Bruder, am 11. Oktober 
ein zu einer anderen in demselben Hause wohnenden Arbeiter¬ 
familie gehöriger 11 jähriger Knabe, am 13. Oktober dessen 7 jähr. 
Schwester, am 14. Oktober der Vater, am 16. Oktober ein 18 jähr. 
Bruder, der ausserhalb arbeitete, zur Nacht aber immer bei den 
Eltern wohnte, endlich am 16. gleichzeitig die alte, mit dem Erst¬ 
erkrankten zusammen wohnende Mutter. Alle diese Personen, mit 
Ausnahme des erwähnten 18 jährigen Sohnes, sind zwischen dem 
15. und 19. Oktober verstorben. Die Ueberlebenden, die Wittwe 
mit 2 Kindern des Ersterkrankten, sowie die Wittwe mit 4 Kindern 
der anderen Familie, wurden in’s Krankenhaus zur Beobachtung 
genommen. Von diesen Kindern erkrankten nachträglich noch drei 
mit leichter Choleraform, während die anderen Personen gesund 
blieben, trotzdem auch in ihren Dejektionen — mit Aus¬ 
nahme derjenigen der erstgenannten Wittwe — Cholerabak¬ 
terien bakteriologisch nachgewiesen wurden. Sie 
blieben somit nur Choleraträger, wie Koch sie benennt, ohne 
anscheinend, d. h. klinisch, zu erkranken. 

In demselben Dorfe entstanden bald hinterher noch mehrere 
Einzelherde, deren Ursprung indessen mit dem ersteren nicht in 
Beziehung zu bringen waren, sondern wiederum von aussen her 
als eingeschleppt angesehen werden mussten. In dem einen dieser 
Herde hatte der Mann sich beim Heuernten auf den Oderwiesen 
durch nachgewiesenen Genuss von Oderwasser, alsdann zu Hause 
seine Ehefrau und beide Kinder infizirt. Die beiden Eltern starben. 

Erwähnenswerth mit Bezug auf die Quelle der Infektion 
erscheint noch die Erkrankung einer 78 jährigen Frau, die innerhalb 



Die Choleraepidemie in Stettin und dem Kreise Randow im Herbst 1893. 62? 

24 Stunden erkrankte und starb, nachdem sie zuvor aus der öder 
herstammende Fische um Kochen zubereitet hatte. Da jedoch in 
dem Nachbarhause kurz vorher ein Mann an Cholera erkrankt war, 
ist es nicht ausgeschlossen, dass Beziehungen zu dem Verstorbe¬ 
nen, vielleicht durch die gemeinschaftliche Waschküche, oder sonst 
wie, bestanden haben. 

Im Ganzen sind bisher in meinem Bezirke 32 Personen 
choleraverdächtig erkrankt und von ihnen 22 verstorben, ein ge¬ 
waltig hoher Prozentsatz! Bei 24 hat die bakteriologische Unter¬ 
suchung stattgefunden, die nur bei zwei Personen durch ihren 
negativen Ausfall den Choleraverdacht als nicht gerechtfertigt 
erscheinen liess, während sie in einem, klinisch unter den charak¬ 
teristischen Erscheinungen der Cholera und tödtlich verlaufenen 
Falle ebenfalls negativ, in allen übrigen jedoch positiv ausge¬ 
fallen ist. 

Die Berechtigung, das Oderwasser als die Quelle der Infektion 
anzusprechen, konnte mangels anderer nachweisbarer oder auch 
nur zu vermuthender Quellen in der Thatsache gefunden werden, 
dass einige zu Beginn der Epidemie aus dem mehrfach erwähnten 
Oder-Dunzig-Kanal und anderen Stellen der Oder entnommene 
Wasserproben bei der Untersuchung im Institut für Infektions- 
Krankheiten zu Berlin das Vorhandensein von Cholerabakterien 
ergeben haben. 

Wir haben also auch diese Epidemie wieder, wie im Vorjahre, 
auf eine Verseuchung der Oder zurückzuführen. Die That¬ 
sache, dass die ersten Erkrankungen genau an den Stellen der 
ersten vorjährigen Erkrankungen aufgetreten sind, an Wasser¬ 
stellen, die wenig Gefälle haben und fast stagniren, bietet eine 
grosse Wahrscheinlichkeit, wenn nicht Gewissheit, für die An¬ 
nahme, dass die vorjährigen Cholerabakterien an den genannten 
Wasserstellen überwintert und nun, unter für ihr Gedeihen günsti¬ 
gen Bedingungen, sich zu grösserer Ausbreitung vermehrt haben. 

Ob dieses Naturspiel sich im künftigen Jahre wiederholen 
wird, bleibt abzuwarten, ist jedenfalls nicht unwahrscheinlich, so 
dass der an den Oderufern stromabwärts gelegene Theil meines 
Kreises der Cholerainvasion stets ausgesetzt bleiben wird, so oft 
das Oderwasser infizirt sein wird. Denn sichere Massnahmen 
gegen eine Invasion dieser Art dürfte es für eine an solchen Fluss¬ 
ufern wohnende und in indolenter Weise allen Mahnungen ver¬ 
schlossene Bevölkerung kaum geben. Vielmehr wird prophylak¬ 
tisch nur auf Vermehrung und Neuanlegung von Röhren¬ 
brunnen, und im gegebenen Falle auf schleunige Unschäd¬ 
lichmachung der entstehenden Einzelherde durch strenge Des¬ 
infektion der Räume und Isolirung der Betroffenen 
Bedacht zu nehmen sein. Dass hiermit trotz vieler Mängel doch 
noch Erkleckliches geleistet werden kann, hat auch diese Epidemie 
wieder ergeben. 



528 


Aas Versammlungen and Vereinen. 


Aus Versammlungen und Vereinen. 

Bericht über die 5. Veraammlaiig des Vereins der 
Medizinal* Beamten des Regierungsbezirks Stettin mm 
£3« Oktober 1893 zu Stettin. 

Anwesend waren 14 Mitglieder und eben so viele Gäste, unter den letz¬ 
teren mehrere höhere Regierungsbeamte und Militärärzte. 

Nach einigen kurzen geschäftlichen Mittkeiluugcn des Vorsitzenden, R^g.- 
und Med.-Rath Dr. Kater bau, wird in die Tagesordnung eingetreten. 

1. Vortrag des als Gast anwesenden Abtheilungsvorstehers im Institut 
für Infektionskrankheiten Herrn Stabsarzt Dr. Pfeiffer aus Berlin über 

die Cholera in ihren Beziehungen zum Wasser, mit besonderer 
Berücksichtigung der Cholera zur Zeit in Stettin. 

Ausgehend von der Pette nko fe r’sehen Theorie, die aufgestellt worden 
ist, als die Cholerabakterien noch nicht bekannt waren, lag es der Bakteriologie 
ob, zunächst das Verhalten der Bakterien ira Boden zu prüfen; sie stellte 
fest, dass in der Tiefe des Rodens überhaupt keine Bakterien, weder schädliche, 
noch unschädliche, sich aufhalten, dass vielmehr der Boden als vorzügliche» 
keimdichtes Filter funktionirt. Auch Luftströmungen vermögen, wie das 
die Pettcnkofe r'sche Theorie will, nicht Bakterien aus den Bodentiefen in 
die Höhe zu reisseu. Dagegen ist das Wasser dasjenige Vehikel, das den 
Choleravibrio, der sich als eine richtige Wasserpflanze erwiesen hat, überall 
hinführt. Dass Flüsse die Verschlepper der Cholera sind, ist lange bekannt, 
daher die Flussbewohner stets am meisten gefährdet waren. In Stettin hat 
man nun dieselbe Erfahrung gemacht. Nachdem schon die vorjährige Epidemie 
auf eine Verseuchung des Oderwassers zurückgeführt werden musste, ist es 
Dank den verbesserten Methoden für bakteriologische Wasseruntersuchungen 
gelungen, kürzlich auch im Oderwasser den Choleravibrio aufzutinden, ähnlich 
wie dies bei der Nietlebener Epidemie geschehen ist. Desgleichen ist aber der 
Vibrio auch aut den Filtern der Wasserleitung, die ihr Wasser der 
Oder entnimmt, bakteriologisch nachgewiesen worden, nachdem zuvor ein bei 
der Filtrirung beschäftigter Arbeiter an Cholera erkrankt und gestorben war. 
Es steht somit fest, dass der Choleravibrio an verschiedenen Stellen der Oder, 
insbesondere im Oder-Dunzig-Kanal, zur dauernden Ansiedelung gelangt, ferner, 
dass die Entnahmestelle der Wasserleitung mit Cholerabakterien verunreinigt 
worden ist, hier wahrscheinlich durch die umherliegenden Kähne, auf denen 
Cholerakranke sich befunden haben. Nachdem aus der Nähe der Entnahmestelle 
\ sämmtliche Kähne dauernd entfernt gehalten wurden und die Filtrations¬ 
geschwindigkeit auf das richtige Mass herabgesetzt worden ist, ist ein Nach¬ 
lassen bezw. ein Aufhören der Erkrankungen in der von der Leitung versorgten 
i Stadt eingetreten. 

i II. Vortrag des ebenfalls als Gast anwesenden Assistenten im Institut 

für Infektionskrankheiten Herrn Dr. Ko Ile aus Berlin über 

die neueren Methoden der bakteriologischen Choleradiagnose, 
mit gleichzeitiger Demonstration bakteriologischer Cholera¬ 
präparate. 

Die Methoden der bakteriologischen Choleradiagnose haben sich sehr vervoll¬ 
kommnet, so dass man jetzt in der Lage ist, eine schnellere Diagnose zu 
stellen und dem Ausbruch einer Katastrophe gewissermassen zuvorzukommen. 
Ein Hauptverdienst hieran hat wiederum Koch mit der Angabe der Pepton- 
Methode. Ausgehend von der Erwägung, dass die Entwickelung derCholera- 
bakterien im Darm durch die Anwesenheit des Peptons sehr begünstigt wird, 
bringt Koch die zu untersuchende Materie zuerst in ein Röhrchen mit 2°/ 0 
Peptonlösung. Wegen ihres starken Sauerstoftbedürfnisses streben die Cholera¬ 
bakterien nach der Oberfläche des Wasserspiegels, so dass sie sich hier sammeln 
und man schon nach 6 Stunden im Stande ist, sie, selbst wenn sie nur in geringer 
Anzahl vorhanden waren, von hier nachzuweisen. Die weiteren Methoden des 
Nachweises würden dann etwa sein: 

2. Das Ausstrichpräparat, in der üblichen Weise angefertigt, nur 
dass zur Färbung nicht, wie bisher, die übliche Zieh 1’sehe Lösung, sondern, 
nach Angabe von R. Pfeiffer, eine stärkere Verdünnung derselben, etwa 1:20 
und noch dünner benutzt werden soll. 



Kleinere Mittheilimgen and Referate ans Zeitschriften. 


529 


3. Das Gelatineplatten-Verfahren, wie bisher, mit Anfertigung 
eines Klatschpräparates nach 24 Stunden. 

4. Das Agarplatten-Verfahren, indem man die zu untersuchende 
Substanz oder eine von der Oberfläche des Peptonröhrchens entnommene Oeso 
auf der in einer Petri’schen Schale aasgegossenen, trockenen Agarplatte aus¬ 
streicht Es lassen sich hier für den Geübten ebenfalls schon nach wenigen 
Stunden die mehr weisslichen Kulturen des Bac. coli comm. von den blassbläu- 
liehen Cholera - Kolonien makroskopisch unterscheiden, während das Färbungs¬ 
präparat alsbald Gewissheit schafft. 

5. Die Cholera-Roth-Reaktion, mit reiner Schwefelsäure aus- 
geftthrt, ist für Reinkulturen, die aus Stuhl genommen, als pathognomon zu 7 
bezeichnen, da diese Reaktion bisher noch nie bei anderen aus Stuhl 1 
gewonnenen Reinkulturen eingetreten ist. 

6. Der Thierversuch, nunmehr auch vereinfacht durch die von 
R. Pfeiffer angegebene Methode der intraperitonealen Einführung von 
Reinkulturen beim Meerschweinchen. Die Thiere gehen dabei unter stark 
choleraähnlichen Erscheinungen zu Grunde. 

Endlich führt Redner aus, dass es mit diesen Methoden, insbesondere aber 
durch Vermittelung der Pepton - Methode nunmehr auch leichter gelingt, aus 
grossen Wassermengen den Choleravibrio herauszubekommen. Die zu unter¬ 
suchende Wassermengc wird auf eine Anzahl Erlenmeyer’scher Kölbchen 
vertheilt, diese mit Peptonlösung versetzt, auf 12 Stunden in den Brutschrank 
gesetzt und von ihrer Oberfläche abgeimpft. Es gelingt so, auch vereinzelte 
Choleravibrionen abzufangen und zum Nachweis zu bringen. 

Nach kurzer Diskussion und Schluss der Sitzung vereinigte man sich noch 
zum gemeinsamen Mittagsmahl. Dr. Frey er-Stettin. v 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

A. Gerichtliche Medizin. 

Leben ohne Athmen. Von Dr. Ignaz Mair. Friedreich's Blätter. 
Heft IV, 1893. 

Der Befund luftleerer Lungen lässt nicht immer schliessen, dass das 
Kind todt zur Welt gekommen sei, und besonders dann finden sich luftleere 
Lungen bei lebend zur Welt gekommenen Kindern: 

1. Wenn bei einem obgleich lebend geborenen Kinde die Respirations- 
bewegnngen ausgeblieben sind. 

2. Wenn trotz normal erfolgter Athembcwegungen die Aspiration der 
Luft behindert gewesen sein kann. 

3. Wenn durch Athmung lufthaltig gewordene Lungen nachträglich wieder 
luftleer werden. 

Ad 1. Vor der 28.—30. Woche geborene Früchte mit ungenügender 
Entwickelung der Rcspirationsmuskeln und der automatischen Athmungsccntren. 
Bei lebenskräftigen Kindern kann ein kurzes apnoisches Stadium eintreten, 
wenn die Placenta nach erfolgter Entbindung mit dem Uterus in Verbindung 
bleibt und eine Wehenpanse erfolgt, so dass die Athmung durch die Placenta 
fortdanert. Wird in diesem Stadium nicht dem Leben des Kindes ein Ende 
gemacht, so entwickelt sich die Respiration allmählich. Asphyktische Kinder 
sind von vornherein nicht als todtgeboren zu betrachten, werden häufig wieder 
zum Leben gebracht. Hirndrnck und Lähmung der Athmungsccntren durch 
intrameningeale Extravasate können Respirationsbewegungen verhindern. 

Ad 2. Unverletzte Eihäute, während der Geburt aspirirte Stoffe, patho¬ 
logische Prozesse in den Lungen, nach der Geburt in die Lungen gelangter 
fremder Inhalt, oder absichtlicher Verschluss der Geburtswege können die Ur¬ 
sache sein, dass die Aspiration von Luft gehindert wird. Das Herz kann noch 
längere Zeit weiter schlagen. 

Ad ö. Bei Wasserleichen kann in Folge von Wunden Wasser in die 
Pleurahöhle eintreten und die Luft verdrängen. Auch durch Kochen oder 
Flammenhitze können lufthaltige Lungen luftleer werden. Für das Fötalleben 
sprechen die Art der organischen Reaktion bei Verletzungen, irgend eine be= 



530 


Kleinere Hittheilnngen und Referate "aus Zeitschriften. 


trächtliche Blutergiessung zumal geronnenen Blutes, und Bewegungen des Kindes. 
Dabei müssen einerseits die Zeichen des innerhalb des Uterus stattg*ehabten 
Absterbens fehlen, andererseits die Verletzungen derart sein, dass sie ihrer Be¬ 
schaffenheit zufolge nach der Geburt des Kindes zugefügt sein müssen, z. B. 
Zertrümmerung des Schädels, oder wenigstens für das Ableben des Kindes durch 
Verletzungen in der Geburt sich weder in dem Leichenbefunde, noch in dem Ent- 
bindungsgeschäfte eine Beurkundung finden. Dass das Kind lebend geboren sei, 
ergiebt sich trotz negativen Ausfallens der Lungenprobe, wenn extrauterin reich¬ 
lich fremde Stoffe aspirirt sind, wenn bei einem noch nicht faulen Kinde Luft 
im Magen oder in diesem und den obersten Darmschlingen ist. 

Dr. R u m p - Osnabrück. 


Ueber die Wunden des Herzens. Bearbeitet von Dr. A. Elten, 
prakt. Arzt in Tostedt. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffent¬ 
liches Sanitätswesen. Dritte Folge, V. Band, 1. Heft, Jahrgang 1893. 

Auf der Grundlage einer reichhaltigen Literatur giebt der Verfasser zu¬ 
nächst einen interessanten Ueberblick über die Fortschritte, welche gegenüber 
der Auffassung älterer Gelehrten bis heute über die Wunden des Herzens ge¬ 
macht worden sind und knüpft hier besonders an die Arbeit von Georg Fischer 
an „die Wunden des Herzens und des Herzbeutels“. In dem Herzen sah man 
vorwiegend nicht das nach bestimmten Naturgesetzen arbeitende Organ, dessen 
Wunden also auch, wie die Wunden anderer Organe, den Gesetzen der Heilung 
unterworfen sein konnten, sondern man liess sich die nüchterne, wissenschaftliche 
Beobachtung und physiologische Auffassung des kranken und gesunden Herzens 
vielfach trüben, ja direkt durch die verschwommene Vorstellung verwirren, dass 
das Herz zugleich der Sitz aller denkbaren Lebenskräfte, ja der Seele selber sei 
und dass die geringste Verletzung dieses so einzig dastehenden, herrlichen 
Organes gleichbedeutend sei mit der Vernichtung des ganzen Organismus! 

Den vorliegenden umfangreichen Stoff theilt der Verfasser so ein, dass er 
zunächst die Aetiologie der verschiedenen Herzwunden (Verwundungen des 
Herzens durch Nadeln, Stich - Schnittwunden des Herzens, Schusswunden des¬ 
selben, Quetschwunden und Rupturen), wie die zutreffenden pathologisch - anato¬ 
mischen Verhältnisse bespricht, sich sodann den Symptomen der betreffenden 
Verletzungen der Diagnose und Prognose zuwendet und schliesslich auch die 
Therapie mit in den Kreis seiner Betrachtungen zieht. Die Hauptergebnisse 
der interessant und anschaulich geschriebenen Arbeit fasst Elten in folgenden 
Thesen zusammen: 

1. Entgegengesetzt der alten Auffassung von der unbedingten Tödtlichkeit 
aller Herzwunden bestätigen auch die neuesten Forschungen die von Fischer 
1868 aufgestellte Lehre, dass viele Herzwunden heilen können. 

2. Die einzelnen Herzwunden liefern charakteristische pathologisch-anato¬ 
mische Befunde; namentlich gilt das von dem Aussehen der Thoraxwunde und 
der Herzwunde. 

3. Bei den verschiedenen Herzwunden beobachten wir gewisse, mit ziem¬ 
licher Regelmässigkeit auftretende Allgemeinsymptome. Unter diesen nehmen 
die Folgen der Blutung, die Ohnmacht und nervöse Symptome die erste Stelle ein. 

4. Diagnose und Difterentialdiagnose der Herzwunden ist auch heute noch 
eine äusserst schwierige. 

5. Ein pathognostisches Symptom für die Verwundung des Herzens existirt 
nicht. Erst eine Summe von Symptomen ermöglicht die Diagnose. 

6. Die Prognose der Herzwunden ist verschieden. Die beste Prognose 
liefern die Nadelst ichverletzungen, dann kommen die Stich-Schnitt und Schuss¬ 
wunden, die schlechteste ist bei den Quetschwunden und Rupturen. 

7. In der Praxis ist es rathsam, unter allen Umständen eine ernste Pro¬ 
gnose zu stellen bei jeder Herzwunde. 

8. Verlauf und Ausgang der Wunde ist sehr verschieden. Im Allgemeinen 
richtet sich derselbe nach dem Grade der Blutung, nach der Frage, ob pene- 
trirend oder nicht penetrirend, nach der Lokalisation der Wunde am Herzen 
und nach der Schwere der etwaigen Komplikationen. 

9. Die Haupterfordernisse einer guten Therapie sind Stillung der Blutung, 
antiseptischer Verschluss und Verband der Thoraxwunde, Regelung der äusseren 



Kleinere Mittheilungen und Referate an« Zeitschriften. 


531 


Verhältnisse des Kranken, operatives Einschreiten gegen eine Anzahl gefähr¬ 
licher Komplikationen. 

10. Jeder Patient mit einer Wände in der Herzgegend ist als Herzver¬ 
letzter za betrachten and za behandeln. Dr. Dtttschke-Aurich. 


Veber Arsenik Vergiftung in gerichtsärztlicher Beziehung. Von 
Stabsarzt Dr. Schambarg. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin 1893, 
V. Band, Heft 2 and 3. 

Das am häufigsten zn Vergiftungen Anlass gebende Arsenpräparat ist der 
weisse Arsenik, die arsenige Säure und ihre leicht löslichen Salze, besonders das 
Kaliam arsenicosam, im Wasser gelöst als Solatio ersenicalis Fowleri. Bei den 
Arsenvergiftungen ist für den Gerichtsarzt die erste Frage die nach den Ge¬ 
legenheitsursachen und kommt hier der Giftmord, der Selbstmord, die 
Vergiftung durch Verwechselung von Genussmitteln, Unachtsamkeit, Fahrlässig¬ 
keit nnd Unkenntniss, wie die Vergiftung bei Ausübung eines Gewerbes, die 
Vergiftung durch Verfälschung von Lebensbedürfnissen und die durch unvor¬ 
sichtigen und übermässigen Gebrauch von Arzneien in Betracht Alle diese 
gelegentlichen Ursachen der Arsenvergiftung muss der Gerichtsarzt gegenwärtig 
haben, um auf die unter Umständen recht versteckte Ursache einer Arsenver¬ 
giftung aufmerksam zu werden. Die Möglichkeit einer Intoxikation durch 
Arsen zur unumstösslichen Gewissheit zu erheben, ist die vornehmste Aufgabe 
des Gerichtsarztes. Die Hülfsmittel, welche der jetzige Stand der medizinischen 
Wissenschaft bietet, um die Diagnose einer stattgehabten Arsenvergiftung sicher 
zu stellen, sind nach dem Verfasser die Krankheitserscheinungen im 
Leben, der Sektionsbefund, der physikalische und chemische 
Nachweis und die besonderen Indizien des Falles. 

Da der Zweck des Referates nur der sein soll, die betheiligten Kreise 
auf die oben erwähnte, sich auf eine überreiche Literatur stützende interessant 
und erschöpfend abgefasste Monographie aufmerksam zu machen, wird es erklär¬ 
lich erscheinen, wenn nur kurz noch ein besonderes Kapitel zur Besprechung 
herausgegrififen wird, welches unter den für die Arsenvergiftung zu erbringenden 
Beweisen die erste Rolle einnimmt, nämlich der chemische Nachweis des Arsens. 
Wenngleich der chemische Experte den Beweis zu erbringen hat, dass in der 
Leiche des Verstorbenen Arsen vorhanden ist, so muss doch der Gerichtsarzt 
im Stande sein, die Bedeutung der chemischen Untersuchung und den jedes¬ 
maligen Werth derselben zu bcurtheilen, er muss auch mit den einfachsten, an 
der Leiche ohne grosse Hülfsmittel leicht ausführbaren Reaktionen vertraut 
sein und wissen, dass das Arsen sich in bestimmten Organen ablagert und die 
Ansscheidungsverhältnisse gerade beim Arsen eigenartige sind. Von besonderer 
forensischer Wichtigkeit ist ferner die genaue Kenntniss der Resorptions- und 
Ansscheidungsverhältnisse des Arsens. Arsen in seinen Verbindungen wird von 
der erkrankten oder zerfallenen Haut wie von den Schleimhäuten der Ver- 
dauungs- und Respirationstraktus resorbirt; die grössere Löslichkeit der einzelnen 
Präparate bedingt auch die schnellere Resorption. Ausser von dieser ist die 
Resorption abhängig von dem Inhalt des Magens, der das Arsen einhüllen oder 
seine Löslichkeit erschweren kann. Das Arsen scheint direkt in’s Blut aufge¬ 
nommen zu werden, nicht auf dem Wege der Lymphbahnen; denn in der Lymphe 
hat man es noch nie gefunden, im Blute selbst aber in den Blutkörperchen, wie 
im Serum. Sobald es in das Blut eingetreten ist, lässt es sich fast überall im 
Körper nachweisen, hauptsächlich aber in den Organen der Bauchhöhle. In den 
Knochen, besonders den Lendenwirbeln und BeckenkDochen exhumirter Arsen¬ 
leichen lässt sich stets Arsen nachweisen, wohl deshalb besonders reichlich, weil 
sich der Inhalt der Intestina bei der Fäulniss derselben auf die genannten 
Knochen ergiesst und sie imbibirt. Erfolgt der Tod des Vergifteten nicht bald 
nach der Ablagerung in den Organen, so wird der Gehalt derselben an Arsen 
wieder geringer, denn die Ausscheidung aus den Organen ist eine ziemlich rasche; 
sie erfolgt hauptsächlich durch den Urin, in weniger erheblicher Menge durch 
die Galle und den Schweiss. 

Die Frage, ob das im Leben eingeführte Arsen nicht nach dem 
Tode im Grabe aus der Leiche verschwinden könne, hält der Ver¬ 
fasser mit Recht für die Praxis ohne Belang; denn angenommen, es wäre dies 
der Fall, so könnten die gasförmigen oder gelösten Arsenverbindungen doch 



532 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


immer nur in die Unterlagen der Leiche, die Sargbretter und höchstens das dem 
Sarge nfichste Erdreich gelangen. Es brauchen deshalb nur die Kleider der 
Leiche, die Sargbrettcr, Erde aus der Nähe des Sarges und zur Vergleichung 
Kircbhoferde weiter von dem betreffenden Grabe entfernt, zur Untersuchung auf 
Arsen dem chemischen Experten übergeben werden. Die Möglichkeit umgekehrt, 
dass Arsen aus arsenhaltigem Boden, Kränzen oder Kleidern 
in die Leiche gelangen kann, ist vorläufig nach Hofmann nicht gauz 
von der Hand zu weisen. 

Die in neuerer Zeit festgestellte überraschende Thatsache, dass in den 
meisten Brunnen Arsen vorhanden, wie der Hinweis auf die Arsenesser, lässt 
die Frage berechtigt erscheinen, ob nicht der Körper das Arsen als 
normalen Bestandtheil in Folge früheren medizinellen Ge¬ 
brauchs oder durch Brunnenwasser oder durch Nahrungs-, 
Genuss-oder Schönheitsmittel, bei der Beschäftigung aufge - 
nommen, enthalten könne? Indess sind die in Nahrungs- und Genussmitteln 
wie als Medizin aufgenommenen Giftmengeu, wenn sie keine Intoxikations¬ 
erscheinungen erzeugen, einmal sehr gering, und dann werden sie bald wieder 
ausgeschieden. — Die lesenswerthe Arbeit mag dem Gerichtsarzt empfohlen 
sein! Ders. 

Recherche» sur le diagnostic du sang en medecine legale. Par le 
Dr. G. Co rin. Li£ge 1893. 

Es ist bekaunt, wie schwer die Entscheidung ist, ob eine Blutspur von 
Menschen oder von Säugcthieren herrührt, da die Maassunterschiede der rothen 
Blutkörperchen, falls letztere geschrumpft sind, keinen sicheren Anhaltspunkt 
mehr bieten. Cor in schlägt nun vor, zur Differcntialdiagnose nicht die rothen, 
sondern die weissen Blutkörperchen zu benutzen. Wie Ehrlich (Farbenanalyti¬ 
sche Untersuchungen zur Klinik und Hystologie des Blutes, Berlin 1891) gefunden 
hat, besitzt die Körnung derselben eine verschiedenartige Affinität zu Anilin¬ 
farbstoffen, in den einen färbt sie sich nur mit sauren, in anderen nur mit 
basischen, in noch anderen mit neutralen Farben. Die Leukocyten mit neu¬ 
trophiler Körnung bilden beim Menschen 65—70 °/ 0 aller Leukocyten, und, was 
noch wichtiger ist, sie sollen bis jetzt nur beim Menschen gefunden sein. Ehr¬ 
lich giebt das an, und Cor in hat das Blut vom Hund, Kaninchen, Katze, 
Schweine, Rind, Pferd und Hammel vergeblich auf das Vorkommen von Leu¬ 
kocyten mit neutrophiler Körnung untersucht 

Die gerichtlichtliche Medizin könnte in der That für diese Bereicherung 
der Methoden ausserordentlich dankbar sein, indess ist, wie C. selbst sagt, eine 
Bestätigung seiner Untersuchungen abzuwarten, ausserdem ist ihre praktische 
Verwendbarkeit sehr vom Alter der Blutspur abhängig. Die Färbung hält sich 
auch nach dreimonatlichem Eintrocknen, man muss aber, um sie zu erzeugen, 
ein Deckglaspräparat machen, und hier liegt die Schwierigkeit. Die meisten 
und grade die besten Lösungsmittel lassen sich nicht anwenden, da sie die 
Färbung verhindern; die besten Resultate erhielt C. noch mit dcstillirtem Wasser, 
indess versagte die Methode oft bei älteren Blutspuren. 

Dr. Woltemas-Dicpholz. 

Welchen Werth hat die mikroskopische Gonokokkenuntersuchnng? 
Von Professor A. Neisser in Breslau. Deutsche medizinische Wochenschrift 
1893, Nr. 29 und 30. 

Die vorliegende, sehr ausführlich geschilderte Abhandlung Neisser’s 
tritt dem von Broese jüngst in der Gesellschaft für Geburtshülfe und Gynä¬ 
kologie in Berlin geäusserten Standpunkt entgegen, dass nämlich .die Methode 
des mikroskopischen Gonokokkennachweises eigentlich von positivem Werth nur 
in den Fällen sei, in denen sie neben anderen Methoden überflüssig ist, und in 
den anderen sei sie so wenig zuverlässig, dass man lieber ganz auf sie verzichte“. 

Indem wir bezüglich der Einzelheiten der interessanten Arbeit N e i s s e r’s 
auf das Original verweisen, führen wir hier nur die vom Autor am Schluss 
seiner Abhandlung aufgestellten Thesen an, denen er folgende Fassung giebt. 

I. Es ist nicht daran zu zweifeln, dass die Gonokokken die Ursadie der 
Gonorrhoe sind. 

ILjDie Diagnose der (männlichen wie der weiblichen) Gonorrhoe kann in 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 533 

sehr vielen Fällen auch ohne jede Znhttlfenahme der Gonokokkenuntersuchung, 
nur durch die Beobachtung der klinischen Symptome gestellt werden. 

UI. Aber in sehr zahlreichen, besonders in Allen chronisch verlaufenden von 
geringen subjektiven und objektiven Symptomen begleiteten Fällen kann nur der 
Gonokokkennachweis zur Diagnose führen. 

IV. Ebenso ist in allen Fällen — höchstens ganz akute frische Stadien ausge¬ 
nommen — für die Frage, ob eine „gonorrhoische Erkrankung“ noch gonorrhoisch¬ 
infektiös ist, oder ob nur die restirenden Krankheitsprodukte einer früheren 
Infektion vorliegen, die Gonokokkenuntersnchung unentbehrlich. 

V. Da in jedem Stadium das therapeutische Vorgehen auf das Vorhanden¬ 
sein der Gonokokken Rücksicht zu nehmen hat, so ist die Gonokokkenunter¬ 
suchung nicht nur vor Beginn, sondern während des ganzen Verlaufes der 
Therapie unentbehrlich. 

VI. Diese Gonokokkenuntersuchung wird in erster Reihe eine mikroskopische 
sein. Das Kulturverfahren wird wegen der jetzt noch mit ihm verbundenen 
Schwierigkeiten nur in bestimmten Fällen die mikroskopische Durchsuchung er¬ 
setzen oder ergänzen müssen. 

VII. Ueberall, wo positive Befunde erhoben werden, kann über die Nütz¬ 
lichkeit und Nothwendigkeit der gesicherten Diagnose kein Zweifel bestehen. 
Negative Befunde werden natürlich vorsichtig zu deuten sein, da wir wissen, 
dass Gonokokken in der Tiefe der Gewebe oder in Lacunen und Einstülznngen so 
verborgen und so spärlich sitzen können, dass die oberflächlichen Schleimhaut¬ 
sekrete, die wir untersuchen, gonokokkenfrei sind. Die Sicherheit der Deutung 
wird dann durch grössere Häufigkeit der Untersuchung und durch den Versuch 
einer künstlichen Vermehruug und Hervorlockung der möglicherweise vorhandenen 
Gonokokken gesteigert werden müssen. Stets werden die klinischen Symptome 
dabei zu berücksichtigen und mit den mikroskopischen in Einklang zu bringen sein. 

VIII. Handelt es sich um Gonorrhoe bei Verheirateten, so wird naturgemäss 
die Beobachtung und event. die Behandlung beide Ehehälften betreffen müssen. 

Dr. Dtitschke-Aurich. 


B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Vorschläge, betreffend die Anzeigepflicht bei Diphtherie. Von 
Dr. Joseph Schrank, k. k. Polizeibezirksarzt in Wien. Allgemeine Wiener 
mediz. Zeitung, 1803, Nr. 34. 

Verfasser schildert die seit Jahresfrist in New-York getroffenen Ein¬ 
richtungen, welche sich angeblich in hohem Grade bewährt haben. Das Gesund¬ 
heitsdepartement stellt daselbst in sehr origineller Weise die bakteriologische 
Differentialdiagnose in den Dienst der praktischen Aerzte. Es soll dort thun- 
lichst in jedem diphtherieverdächtigen Fall die Züchtung des Diphtherie-Bacillus 
stattfinden. Zu diesem Zweck erhält jeder Arzt, der einen Diphtherie - Fall 
meldet, auf Wunsch kostenfrei aus der Apotheke zwei Reagensgläser, von denen 
das eiue mit Löffler’s Blutserum gefüllt ist, während das andere ein an 
Draht befestigtes Stückchen sterilisirter Watte enthält. Der Arzt soll nun die 
Impfung ausführen, indem er mit der Watte auf eine mit Beleg versehene Hals¬ 
partie hintupft und dann die Watte über die Oberfläche des in dem anderen 
Glase befindlichen Nährbodens ausstreicht. Die geimpften Glässcr kommen in 
die Apotheke, von wo sie das Gcsnndheitsdepartement jeden Abend einsammcln 
lässt Nach zwölfstündigem Aufenthalt im Brutschrank kann dann die Diagnose 
gestellt und spätestens bis zum Mittag dem Arzt durch Postkarte mitgctheilt 
werden. — Will dieser die Impfung nicht selbst vornehmen, so geschieht dies 
durch einen Inspektor des Gesundheitsdepartements. 

Nach Schrank liegt der Hauptvortheil der Einrichtung darin, dass die 
Desinfektion in den vielen Fällen falscher Diphtherie unterbleiben kann und dass 
die Angehörigen rechtzeitig von Angst und Furcht befreit werden. Er empfiehlt 
daher ähnliche Einrichtungen auch für Wien. (Ref. will die Art der Impfung, 
namentlich die Verwendung nur eines Reagensglases etwas primitiv erscheinen 
uud wenig geeignet, um darauf verantwortungsvolle Massregeln zu begründen.) 

Dr. La ngerhans-Celle. 


Einige Ergänzungen zur Praxis der Desinfektion. Von Dr. med. 
Richard Traugott, prakt. Arzt in Breslau. (Aus dem hygienischen Institut 



534 


Kleinere Mittheilongen and Referate ans Zeitschriften. 


der Universität Breslau.) Zeitschrift für Hygiene und Infektions - Krankheiten. 
Bd. XlV, H. 3. 

Gegenüber dem Anftauchen immer neuer desinfizirendcr Mittel, deren 
Alles bisher dagewesene in den Schatten stellende Vorzüge von strebsamen 
Fabrikanten genugsam angepriesen zu werden pflegen, ist die vom Verfasser 
aufgeworfene Frage, ob wir nicht besser thun, uns an den bisher bewährten, 
den Desinfektoren und dem Publikum in ihrer Anwendung geläufigen Mitteln — 
dem heissen Wasserdampf, der Sublimat-Kochsalzlösung 1:2000, der Karbol¬ 
säurelösung 3 und 5:100 und der 20 pr. Kalkmilch — genügen zu lassen, 
gewiss sehr angebracht. Freilich fehlt es eben so wenig an sachverständigen 
Bedenken gegen die Zweckmässigkeit dieser Mittel, wie an Beschwerden von 
Seiten des Publikums über Beschädigungen der mit denselben behandelten Gegen¬ 
stände. Es ist besonders die Giftigkeit der chemisch wirkenden Desinfektions¬ 
mittel, ferner der ihnen zum Theil anhängende widerwärtige Geruch, schliesslich 
aber die Schädigung der Gegenstände durch die Thätigkeit der Dampfdesin¬ 
fektionsanstalten, welche in den Augen der ärmeren Bevölkerung den Nutzen 
dieser Anstalten als etwas Zweifelhaftes erscheinen lassen. Namentlich sind 
Blut-, Koth- und Eiterflecken, wie sie der zu desinfizirenden Wäsche gerade der 
ärmeren Bevölkerungsklassen so oft massenhaft anhaften, nach der Dampfdes¬ 
infektion förmlich eingebrannt und durch keinerlei Massnahmen wieder zu 
entfernen! 

Die Versuche Traugott’s beschäftigen sich demnächst zunächst mit der 
Möglichkeit des Ersatzes von Sublimat und Karbol durch weniger giftige Körper. 
Verfasser hat an der Hand zuverlässiger und sorgfältig angeweudeter Methoden 
das Wasserstoffsuperoxyd in ‘/t bis lproz. Lösung und das Jodtrichlorid auf 
ihre desinfizirende Kraft und ihre praktische Verwendbarkeit eingehend geprüft 
und glaubt, das erstere in allen denjenigen Fällen, wo eine länger dauernde 
Einwirkung des Mittels möglich ist, empfehlen zu können, während es zu schneller 
Desinfektion, beispielsweise der Hände oder der Kleider von Wärtern oder Aerzten 
vor Verlassen des Krankenzimmers, nicht zu verwenden sei. Auch das Jod¬ 
trichlorid zeigte schon in 1 pro mille Lösung beachtenswcrthe desinfizirende 
Kraft, aber auch hier war die Wirkung etwas langsam und erst bei Ver¬ 
wendung 1 proz. Lösung gelang die sichere Sterilisirung der Hände in etwa 
einer Minute. Gegen die Verwendung einer so starken Lösung dürfte aber doch 
der hohe Preis (und der üble Geruch! Ref.) geltend zu machen sein. Inter¬ 
essant sind die beiläufig gebrachten Bemerkungen über Soda-Lösung, welche in 
heissem Zustande zur Abkochung der Instrumente so zweckmässige Verwendung 
findet. Das Wirksame ist nicht die Soda, sondern die Hitze und die erstere 
wirkt in kaltem Zustande erst in so starker Konzentration sicher sterilisirend, 
dass die meisten Gegenstände argen Zerstörungen ausgesetzt sein würden. — 

Zur Desinfektion beschmutzter Wäsche verwirft Traugott den Dampf¬ 
desinfektionsapparat vollstäudig und will ihn durch Einlegen der in Säcke ge¬ 
füllten Wäsche in grosse mit Sublimat-Kochsalz-Lösung gefüllte Bottiche in 
der Desinfektionsanstalt ersetzen. Ders. 

Die im Odergebiet 1891 beobachteteSchlamtnkrankhoit. Superar¬ 
bitrium der K. Wissenschaft 1. Deputation für das Medizinal¬ 
wesen. Vierteljahrsschrift für gerichtl. Medizin. Band V, 1893, Heft 2. 

Die Referenten Gerhardt und Rubner geben ein übersichtliches Bild 
der von Juni 1891 bis Ende desselben Jahres längs der Oder in den Orten und 
der Umgegend von Ratibor, Kosel, Oppeln, Ohlau und Glogau, längs der Neisse 
in Ottmachau, Neisse und Grottkau, zwischen Neisse uud Oder in Neustadt, 
Oberglogau, Falkenberg und Proskau verbreitet gewesene Krankheit, welche 
bekanntlich eine erhebliche Ausdehnung gewann. 

Der Beginn der Erkrankung erfolgte in allen Fällen plötzlich, zumeist 
mit Schüttelfrost oder wiederholten Frösteln, die Körperwärme stieg sehr rasch 
mit dem Krankheitsbeginn auf 39 biB 40 bis 41, gleichzeitig bestanden heftige 
Kopf- und namentlich Hinterhaupt-, Kreuz- und Gliederschmerzen, allgemeines 
Krankheitsgefühl, so dass die meisten sofort bettlägerig wurden. Die Entfiebe¬ 
rung war im Mittel am 8. Tage beendet, liess aber auch bis zum 13. Tage auf 
sich warten und erfolgte mitunter unter reichlichem Schweissausbruch. Am 2. 
bis 6. Tage kam ein Hautausscblag zum Vorschein, der in der Schlüssel- 



Besprechungen. 


535 


beingegend begann nnd sich auf den übrigen Körper mit Ausnahme des Gesichts 
verbreitete; er bestand in rothen masernähnlichen, oft leicht erhobenen, nnd mit 
Schwellung des Follikels einhergehender Flecken. In vielen Fällen fehlte der 
Ansschlag gänzlich. Zumeist wurde noch starke Conjunktivitis, Pharyngitis nnd 
Laryngitis beobachtet. Die Athmungsschleimhaut ging mit verschwindend seltenen 
Ausnahmen frei aus; der Unterleib war bald mässig, bald stärker gewölbt, die 
Blinddarmgegend zeigte öfter Gurren, ohne schmerzhaft zu sein, der Stuhl war 
bald angehalten, bald diarrhoeisch. Sehr vereinzelt sind kurze Rückfälle beob¬ 
achtet. Die Sterblichkeit war so gut wie Null, die Krankheit meist in zwei 
Wochen gänzlich vorüber. 

Verbreitungsweise nnd Ursachen der geschilderten Volkskrankheit sind 
dunkel. Die geographische Verbreitung, wie die allgemeine Meinung in den 
Seuchengebieten spricht dafür, dass Flusswaser, Sumpfwasser und Ueber- 
schwemmnngsgebiet wesentlich bei der Krankheit mitwirkcn. Es scheint, dass 
schlechte Wohnung und Nahrung wie Ueberanstrengung für die Seuche empfäng¬ 
lich machen. Die vorliegende Krankheit hat einige Aehnlichkeit mit der im 
Oriente vorkommenden, auch in Südeuropa beobachteten, „Dengue“ genannten 
Volksseuche, ebenso mit den von Oberstabsarzt Dr. Gl obig in der Militär- 
ärztlichen Zeitschrift 1891 veröffentlichten Beobachtungen aus Anlass der Er¬ 
krankung von 85 Matrosenartilleristen in Lehe. Indessen ist eine Gleichartigkeit 
der letzteren Erkrankungen mit den im Odergebiet vorgekommenen nicht anzu¬ 
nehmen, da sich manche Unterschiede zwischen beiden auffinden lassen. 

Von den beiden Referenten wird für den Fall, dass die Krankheit in 
Schlesien nochmals zum Vorschein kommt, vorgeschlagen, Anzcigepflicht und Be¬ 
richterstattung von den behandelnden Aerzten zu verlangen, bei etwaigen Todes¬ 
fällen, vollständige Obduktion mit mikroskopischer Untersuchung der wichtigeren 
Organe vorzunehmen und einen mit der Bakteriologie vollständig vertrauten Arzt 
für Erforschung des Thatbestandes in die betreffende Gegend zu entsenden. 
Weiter ist vor dem Trinken von Fluss-, Graben- und Schlammwasser, vor dem 
Essen mit von Schlamm beschmutzten Fingern und dem Arbeiten im Wasser zu 
warnen. Wohn- und Schlafstuben sind nach Kräften reinlich zu halten, auf gute 
Ernährung ist Bedacht zu nehmen bei den Arbeitern, und Ueberanstrengung der¬ 
selben zu vermeiden. Dr. Dtitschke-Aurich. 


Besprechungen. 

Reg. - und Med. - Rath Dr. Wernich und Med. - Assessor Dr. Wehmer: 
Sechster Gesammtbericht über das Sanitäts- und 
Medizinalwesen in der Stadt Berlin während der 
Jahre 1889, 1890 und 1891. Mit einem Anhang be¬ 
treffend die Stadt Charlottenburg, Mit 11 Anlagen. 
Berlin 1893. Verlag von Richard Schoetz. 328 Seiten. 

Bei der Fülle des anregenden nnd lehrreichen Stoffes, der sich in dem 
vorliegenden Generalberichte dem Medizinalbearaten zum Studium darbietet, ist 
es natürlich nicht möglich, alle diejenigen hygienischen Fortschritte und zweck¬ 
mässigen sanitären Anlagen anzuführen, deren sich unsere Reichshauptstadt mit 
Recht rühmen kann. Das nachfolgende Referat möge daher nur als eine Ueber- 
sicht gelten, als eine Wiedergabe der wichtigsten Punkte. Es interessirt da zuerst 
die Verwaltung»-Organisation: Der Magistrat hat sich an das Ministerium 
des Innern mit dem Anträge gewandt, die Gesundheits-Polizei der Stadtgemeinde 
zur eigenen Verwaltung zu übergeben; der Antrag hat Aussicht auf Annahme, 
der Uebergang dürfte schon in nächster Zeit erfolgen. Die Kosten der Ver¬ 
waltung der Sanitätspolizei werden zum Theil vom Staate getragen, dem die 
persönlichen Kosten (Gehälter der Beamten) zufallen, zum Theil von der 
Stadt, die sämmtliche sächliche Kosten aufzubringen hat. Abtheilung I des 
Polizei-Präsidiums hat die Leitung des Medizinal- und Sanitätswesens, während 
Sache der Abtheiluug II die Ausführung der betreffenden polizeilichen Anord¬ 
nungen ist. Zu den Geschäften der Medizinal - Polizei gehören: a) Aufsicht 
über das Medizinal - Personal, b) Aufsicht über Apotheken, c) Entgegennahme 



586 


Besprechungen. 


von Beschwerden des Publikums Aber das gesammte Medizinalpersonal, d) Ueber- 
wachung des unbefugten Handels mit Heilmitteln, e) Aufsicht über öffentliche 
und private Krankenanstalten (Privat - Irrenanstalten werden alljährlich zwei 
Mal revidirt). Zu den Geschäften der Sanitäts - Polizei gehören: a) Ausarbeitung 
der allgemeinen Bekanntmachungen und Verordnungen, b) Kontrole des Verkehrs 
mit Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegcnst&nden, c) Anordnungen, 
betreffend die Reinhaltung des Erdbodens, der Wasserläufe, Luft und des Trink¬ 
wassers. Hierzu kommen die Bau-Abth. (III), die Sittenpolizei und das Leichen¬ 
kommissariat (IV die Kriminal-Abtheilung), die Veterinär-Polizei und die Ge¬ 
werbe - Inspektion. — Die medizinisch - technischen Organe der II. (ausführenden) 
Abtheilung sind die zehn polizeilichen Bezirksphysiker, die lediglich sanitäts¬ 
polizeiliche Funktionen haben, ein polizeilicher Stadt-Physikus, der die Register- 
Blätter über die Medizinal - Personen führt und 4 (3) gerichtliche Physiker. — 
Die Marktpolizei überwacht die öffentlichen Märkte im Allgemeinen, den Verkehr 
mit Lebensmitteln auf den Märkten, hält verdorbene Nahrungsmittel an, besorgt 
die Kontrole des Milchhandels mittelst des Laktometers, die Probeentnahme 
u. s. w. — Die Hauptsanitätskommission besteht im Ganzen aus 28 Personen 
(Verwaltungsbeamten, Vertretern der Stadt, des Garnison - Kommandos, medizi¬ 
nischen Sachverständigen), kommt zwar im Plenum nur in Epidemiefällen zu¬ 
sammen, ihr seit 1883 verstärktes Bureau besteht aber fortdauernd. Mitte 1890 
und 1891 hat diese Kommission über die Anstellung von sogenannten „Gesund¬ 
heits-Aufsehern“ und eine zweckmässige Organisation der Revier-Sanitäts¬ 
kommissionen berathen. Zu den dauernden Geschäften der Sanitätskommission 
gehören: 1. Konstatirung der Krankheiten. Hierzu dienen a) Todtenscheine, da 
ohne Ausstellung eines solchen in Berlin seit dem Jahre 1835 keine Leiche 
beerdigt werden darf, b) Meldekarten bei ansteckenden Krankheiten. Diese 
Daten werden dann zur weiteren Bearbeitung an das „statistische Büreau 
der Stadt Berlin“ weitergegeben. 2. Sanitätspolizeiliche Massregeln bei dem 
Auftreten ansteckender Krankheiten. — Endlich giebt cs 90 Revier-Sanitäts- 
Kommissionen, welche alle diejenige sanitären Missstände in’s Auge zu fassen 
haben, welche zur Entstehung und Verbreitung ansteckender Krankheiten 
führen könnten. 

Bei dem Kapitel „Witterungsverhältnisse“ wird auf die Missstände auf¬ 
merksam gemacht, welche für Berlin durch andauernde oder sehr heftige Regen¬ 
güsse entstehen können. Das Röhrensystem der Kanalisation, in welches sämmt- 
liche Meteorwässer, sowie sämmtliches aus der Hauswirthschaft und Klosetspttlung 
stammenden Abwässer fliessen, sind nicht geräumig genug, um die enormen 
Wassermassen bei Wolkenbrüchen oder tagelang anhaltenden Regenfällen fassen 
zu können. Dieser Umstand ist erst in der letzten Zeit hervorgetreten, seit dem 
Berlin undurchlässige Strassenpfiaster in einer Ausdehnung von 2 l / s Mi 11. 
qm aufzuweisen hat. Für diese Fälle sind nun Nothauslässe in die Spree vor¬ 
gesehen, deren schädliche Einwirkung durch eine etwaige Rückstaunng und 
Ueberschwemmung auf der Hand liegt. Auf der andren Seite ist eine sehr 
rasche Ueberfüllung des Spree- und Kanal - Inhalts mit fäulnissfähigen Stoffen 
ein Umstand von nicht untergeordneter Bedeutung. 

Die Bevölkerung vermehrte sich in den Berichtsjahren um 3,70; 3,29; 
2,99 ®/ 0 . Nachdem die Verminderung der Bevölkerungsziffer durch Todesfälle 
im Jahre 1883 : 28,58 auf das Tausend betragen hatte, war eine Verkleinerung 
der Sterbeziffer eingetreten und betrug in den Berichtsjahren 22,56 — 21,21 — 
20,85 °/ 00 . Das Maximum und Minimum ist ziemlich feststehend an gewisse 
Monate gebunden; nach elfjährigen Erfahrungen fiel das Maximum stets auf 
Sommermonate (meist Juli), das Minimum überwiegend auf September. Bei dem 
Maximum der Sterblichkeit wirkt wesentlich die der unterjährigen Kinder mit, 
die in der wärmeren Jahreszeit ein mehrfaches der übrigen Jahresmonate beträgt. 

Folgende vorherrschende Krankheiten lieferten in Summa 41,88 °/ 0 der 
Gesammtsterblichkeit ;■ 1. Lungenschwindsucht im Durchschnitt 13,41 °/ 0 ; 2. Brech¬ 
durchfall 8,38 •/„; 3. Katarrh des Darmes und Magens 7,71 ®/ 0 ; 4. Lungen- und 
Brustfell - Entzündung 7,63 % ; 5. Kehlkopf - Trachea - und Bronchien-Entzündung 
2,34 °/ 0 ; 6. Chronische Katarrhe dieser Organe 2,41 °/ 0 . Nachdem für die Lungen¬ 
schwindsucht sanitätspolizeiliche Abwehrmassregeln bereits in Anwendung ge¬ 
kommen sind, solche für den Brechdurchfall der Kinder und die Lungenent¬ 
zündung in Aussicht stehen, ist begründete Hoffnung vorhanden, den Prozentsatz 
der Sterblichkeit an diesen Krankheiten stetig abnehmen zu sehen. 



Besprechungen. 


537 


Von den einzelnen Infektionskrankheiten, die während der dreijährigen 
Berichtszeit vorkamen, ist Folgendes zu melden: a) Pocken: Im Ganzen 60 Er¬ 
krankungen mit 12 Todesfällen, im Durchschnitt also 20 bezw. 4; im 10jährigen 
Zeiträume von 1881—1890 betrugen die Zahlen 62,2 bezw. 8,5. b) Typhus- 
Gruppe: Flecktyphus ist überhaupt nicht, Rückfalltyphus nur in einem ver¬ 
einzelten Falle vorgekommen, der ohne Folgen geblieben ist. Darmtyphus: 
Die Zahl der Sterbefälle betrug im Jahre 1881: 337 (10,8 °/ 0# ), im Jahre 1882: 
347 (11,4 °/ 00 ); — im Jahre 1889 : 281 (8,1 °/ 00 ), im Jahre 1890: 133 (4,0 °/ #0 ), 
im Jahre 1891: 138 (4,0°/ 00 ). Ueber die Ursache und die Art der Verbreitung 
haben die Beobachtungen iu Berlin auch in diesem dreijährigen Zeiträume ge¬ 
nügenden Aufschluss nicht gegeben; „weder der in früheren Jahren immer 
wieder hervorgehobene Wechsel des Grundwasserstandes, noch die Schwankungen 
in der Bodenwärme bis zu 3 Meter Tiefe, noch der Wechsel in der Witterung, 
noch auch eine etwa weniger günstige Lage der vom Typhus befallenen Häuser 
können nach den bisherigen Erfahrungen einzeln oder insgesammt mit Sicherheit 
als die fördernden Ursachen für die Entstehung und Verbreitung des T. angesehen 
werden. Auch die Beobachtungen Uber die Lage der Wohnungen in der Nähe 
von Kirchhöfen, von Abladestellen für Kehricht, thierische und pflanzliche Ab¬ 
fälle und an allen Wasserläufen haben nichts ergeben.“ 

c) Ruhr: Im Ganzen sind 46 Sterbefälle gemeldet, von denen 33 °/o der 
Fälle der Altersklasse von 0—1 Jahr, viele von den übrigen weiteren kindlichen 
Altersklassen angehören. Die Dysenterie ist also in Berlin zu gewöhnlichen 
Zeiten äusserst selten. 

d) Diphtherie: Die Sterblichkeit betrug für die Durchschnitte der 
Jahre 1881—1886: 6,50 */ 00 der Gesammtsterbezahl, für die Jahre 1887—1891: 
3,60 # / 00 , für die Durchschuittsziffer der Berichtszeit: 3,40 °/ 00 . Trotzdem seit 
dem 1. April 1884 für Diphtherie die Meldepflicht besteht, so sind, was man 
aus den nachträglich durch den Todtenschein bekannt gewordenen Sterbefällen 
schliessen kann, doch nicht alle gemeldet worden; es betrugen die Todesfälle in 
toto: 1252, — 1549, — 1057, von diesen waren nicht gemeldet 17,2 °/ 0 , — 
15,8 °/ 0 , — 13,4 °/„ der Fälle. (In den Vorjahren betrugen diese letzteren 
Zahlen: 27,1, — 28,2, — 21,9 °/ 0 ; ein Fortschritt des Mcldewesens ist also nicht 
zu verkennen). Nachforschungen wegen unterlassener Diphtherie - Meldungen 
wurden bei 30 Aerzten angestellt und führten theilweise zu Strafmaudaten. — 

e) Ein besonders umfangreiches oder bösartiges Auftreten von Scharlach, 
Masern und Keuchhusten ist nicht beobachtet, genaue Zahlen lassen sich 
wegen der nicht dauernden Anmeldepflicht nicht angeben.— f) Lungenent¬ 
zündung: Der Durchschnitt der Sterbeziffern betrug für die Jahre 1886 bis 
1888 : 2005; für die Jahre 1889—1891: 2398. Nach den bisher gemachten Be¬ 
obachtungen erhöht sich die Sterbeziffer von Jahr zu Jahr, die Steigerung gegen¬ 
über den Sterbeziffern von 1879—1884 beträgt 1,50 # / 0 . Um geeignete prophy¬ 
laktische Massregeln dagegen in Anwendung zu bringen, wird zuerst der Antheil 
ermittelt, welchen an der Pneumonie-Sterblichkeit Masern und Keuchhusten 
haben, um so die eigentliche (infektöse) Pneumonie ausscheiden zu können, 
g) Tuberkulose: Die Sterblichkeit an T. beträgt seit vielen Jahren in Berlin 
etwa 13 °/ 0 (’/g) der Gesammtsterblichkeit; in den Berichtsjahren: 13,68, — 
13,16, — 13,17 °/ 0 ; über Prophylaxe soll weiter unten die Rede sein, h) Kind¬ 
bettfieber: Im Ganzen 725 Erkrankungen mit 370 ■= 51 °/ 0 Todesfällen, 
i) Kontagiöse Augenentzündung: vakat. k) Meningitis-cerebro- 
s p i n a 1 i s ist epidemisch nicht vorgekommen. l)Zoonosen: 9 Fälle von Aktinomy- 
cosis,3von Milzbrand, m) Influenza: rund 55000Erkrankungen; imUebrigen 
wird auf das Original und die erschienenen Spezialabhandlungcn verwiesen. 

Allgemeine Vorbeugungsmassregeln: Vor und nach Ablauf der 
übertragbaren Krankheiten ist eine zweck- und zeitgemässe Desinfektion ein¬ 
geführt, die Anweisung zum Desinfektionsverfahren bei Volkskrankheiten ist 
durch die Polizei Verordnung vom 7. Februar 1887 bestimmt. Verbindlich wurde 
die Desinfektion gemacht für Erkrankungen an Cholera, Pocken, Fleck- und 
Rückfall - Typhus, Diphtherie und nach dem Ermessen des Polizei-Präsidiums 
nachträglich auch bei Darmtyphus, ferner nach bösartigem Scharlachfieber und 
bösartiger Ruhr. Auf besondere amtliche Anordung soll ferner Desinfektion 
stattfinden bei den zuletzt genannten 3 Krankheiten unter gewöhnlichen Verhält¬ 
nissen, sowie bei Masern, Keuchhusten und Lungenschwindsucht. Die Desinfektion 
der transportablen Ausstattungs- und Gebrauchsgegenstände muss mittelst 



538 


Besprechungeti. 


strömenden and erhitzten Wasserdampfes innerhalb der von der Stadt errichteten 
besonderen Desinfektionsanstalten stattfinden, während die Desinfektion der 
Krankenräume durch ausgebildete städtische Desinfektoren geschieht, welche 
mit ihrer Ausrüstung und besonderem Aufträge in die Häuser entsandt werden. 
Für die Verpackung und Versendung von Gebrauchsgegenständen von Ort¬ 
schaften ausserhalb Berlins an die Desinfektionsanstalten ist eine besondere Ver¬ 
ordnung erlassen worden. — Ausser der zum Krankenhause Moabit gehörigen 
Anstalt hat der Magistrat zur Anwendung von erhitztem Wasserdampf für das 
Publikum die „Erste öffentliche Desinfektionsanstalt - in der 
Reichenbergerstrasse 66 errichtet. Die Stadt hat über 60 Desinfektoren und 
Gehilfen angestellt, die gesammte Desinfektion nach ansteckenden Krankheiten 
ist in die Hand der Stadt übergegangen. Auf die Desinfektion mit Chemikalien 
sind 1889/90 491 3 / 4 Stunden Arbeitszeit aufgewendet worden (der Hauptantheil 
an diesem Zeitaufwands fiel der Desinfektionen von Krankentransportwagen zu; 
die Zahl der Desinfektionen betrug im Berichtsjahre 561 gegen 549 im Vorjahre). 
Auf Grund polizeilicher Requisition wurden 629, auf Veranlassung von Armen¬ 
organen 117 Desinfektionen vollzogen. — Die zweite städtische Desinfektions¬ 
anstalt, ebenso eingerichtet wie die erste, hat 8 grosse Dampfkessel, welche 
auch zur Heizung der Barackengebäude des städtischen Obdaches und zur Er¬ 
wärmung des Badewassers derselben Anstalt dienen, und den zur Desinfektion 
nöthigen Dampf liefern. Vier Desinfektionsapparate mit Anwendung von direk¬ 
tem und indirektem Dampf bis zu 120 0 R. sind in Thätigkeit; Ledersachen und 
Möbel, welche die Einwirkung der Desinfektionshitze nicht vertragen, werden mit 
Karbolsäure desinfizirt. 

Besondere Vorbeugungsmassregeln: I. Pocken-Prophy- 
laxe. In der Königl. Anstalt zur Gewinnung thierischen Impfstoffes waren 
eingestellt 1889: 132, 1890: 131, 1891: 106 Kälber; Betriebskosten schwankten 
zwischen 12020,35 und 13019,26 Mark. Die abgewonnene Lymphe wurde durch 
die vom Bezirksphysikus Dr. Doering erfundene Lymphmühle gebrauchsfähig 
gemacht, die Verarbeitung des von einem Kalbe gewonnenen Impfstoffes wird 
in 20—35 Minuten ermöglicht. Die Ausbeute auf das Kalb schwankte zwischen 
0 und 24 Gramm. Die Lymphe zeigte sich in einzelnen Fällen bis nach */ 4 Jahren 
haltbar. — Der Erfolg bei Erstimpfungen betrug 95,79—96,9 %, bei Wieder¬ 
impfungen 87,86—91,97 %. 

II. Darmtyphus-Prophylaxe: So oft die Sanitätskommission von 
zwei oder mehreren Fällen von Typhuserkrankungen in kurzer Folge aus einem 
Hause Kenntniss erlangt, wird die örtliche Untersuchung des Typhusherdes 
durch den zuständigen Bezirksphysikus angeordnet; solche Untersuchungen wurden 
bewirkt im Jahre 1889 : 22, — 1890: 5, — 1891: 4. Den Rückgang der Darm¬ 
typhus - Sterblichkeit verdankt Berlin in erster Reihe einer geordneten Wasser- 
wirthschaft und die Durchführung der Kanalisation, wodurch der Wohngrund 
immer mehr gereinigt worden ist. Im Jahre 1889 z. B. kamen von 259 Typhus- 
todten auf kanalisirte Häuser: 209, auf nicht kanalisirte Häuser: 50; das ist 
auf 5000 Häuser jeder Kategorie berechnet: auf kanalisirte Häuser: 1,11 °/oo, 
auf nicht kanalisirte Häuser: 2,54°/ 00 . 

III. Schwindsuchts - Prophylaxe: Der erhebliche Zuzug an 
Schwindsuchtskranken bei Gelegenheit der Tuberkulin - Kuren gab Anlass zu 
einer Polizei-Verordnung, betreffend die Desinfektion bei Tuberkulose, vom 
8. Dezember 1890. Für die Privat-Krankenanstalten, welche schwindsüchtige 
Kranke aufnehmen, wurden Vorschriften erlassen, welche in der Hauptsache 
forderten: Reinlichkeit der Treppen und Eingänge, Freibleiben der Kranken¬ 
räume von schwer zu desinfizirenden (Polster-) Möbeln und Ausrüstungsgegen¬ 
ständen, Verhinderung des Ausklopfens und Ausstäubens, Desinfektion der 
benutzten Krankenräume nach Austritt des Kranken, sorgsame Benutzung der 
mit Wasser gefüllten Spucknäpfe. In Schulen und Gefängnissen wurde für die 
Befolgung der nöthigen Vorsichtsmassregcln Sorge getragen. 

IV. Syphilis-Prophylaxe: In der Berichtszeit hat sich die Zahl 
der untersuchenden Aerzte auf 8, der zur Desinfektion und Reinigung bei den 
Untersuchungen nöthigen Bedienungsfrauen auf 4 erhöht; es schweben Unter¬ 
handlungen, welche darauf hinzielen, mikroskopische Untersuchungen verdächtiger 
Genital - Sekrete nach bakteriologischen Methoden anstellen zu lassen. Es wurden 
293088 regelmässige ärztliche Untersuchungen an durchschnittlich 4000 der 
dauernden Kontrole unterstehenden erwerbsmässig prostituirten Frauenzimmern 



Besprechungen. 


539 


und 9468 gelegentliche ärztliche Untersuchungen an solchen Frauen vorgenommen, 
welche poüzeilicherseits aufgegriffen worden waren. Von den Sistirten wurden 
dem Charite - Krankenhause überwiesen: 1901, — 2249, — 2164; an den unter 
dauernder Kontrole stehenden Personen (3713—4364) wurden venerische Krank* 
beiten vorgefunden 1227 — 1467 — 1485 Mal. Unter den krank befundenen 
Personen litten im Ganzen an Tripper: 433 — 483 — 319; an einfachem Ge¬ 
schwür: 769 — 1056 — 1118; an Syphilis: 590 — 684 — 637; an Hautleiden: 
54 — 76 — 90. — Bei einem durchschnittlichen Garnisonbestande von 19380 
aquirirten durchschnittlich im Jahr 688 Mann = 3,49 °/ 0 Geschlechtserkrankungen; 
unter den Gewerkskassenmitgliedern mit einer Mitgliederzahl (Ende 1891) von 
217 894 erkrankten pro anno 9210 Personen = 4,23 °/„. — Die von der Berliner 
medizinischen Gesellschaft zur Verhütung und Behandlung der venerischen Krank¬ 
heiten in Berlin vorgeschlagenen Massregeln sind bereits mit den formulirten 
Sätzen in dieser Zeitschrift abgedruckt worden. 

V. Vorkehrungen gegen eine abnorm hohe Kindersterb¬ 
lichkeit: Der Antheil, welchen in Berlin das Alter von 0 bis 1 Jahr an der 
Gesammtsterblichkeit beansprucht, hat in den Jahren von 1881—1890 zwischen 
38—40 °/ 0 geschwankt, unter 87 # / 0 ist sie nur einmal im Jahre 1885 gewesen. 
Der Grund in der hohen Sterblichkeit ist in dem Zieh- und Haltekinderwesen 
zu suchen, welches ja polizeilich überwacht wird, aber noch einer gründlichen 
Besserung wartet. Hier eröffnet sich der Privatwohlthätigkeit ein weites Feld; 
von 3342 ein- bis vierjährigen Haltekindem wurden wenig über 200 unterjährige 
durch private Wohlthätigkeit überwacht, dagegen 1227 im ersten Lebensjahre 
stehende durch kontrolirende Schutzleute. Hervorzuheben ist der Neubau des 
Kaiser und Kaiserin Friedrich Krankenhauses im Norden der Stadt, das in allen 
seinen Theilen die denkbar besten hygienischen Einrichtungen aufzuweisen hat; 
in der Säuglingsabtheilung sind 12 Mütter mit ihren Säuglingen unterzubringen. 

Wohnstätten. Die neue Baupolizei - Ordnung vom 15. Januar 1887 hat 
folgende sanitäre Vorzüge zur Folge gehabt: Freilassung grosser, heller Höfe; 
Verminderung der Kellerwohnungen und Mansarden; Versorgung der häuslichen 
Bedürfnissanstalten mit Ventilation und Beleuchtung von aussen her; Anlage 
breiter geradeauf führender heller Treppen. Die nach dem Inkrafttreten der 
neuen Bauordnung bemerkte Abnahme der Baulust war keine dauernde. — 
Untersuchungen von Wohnungen durch die Bezirksphysiker werden aus folgenden 
Veranlassungen in’s Werk gesetzt: 1. Wenn mehrere Fälle von ansteckenden 
Krankheiten (2 Typhus-, 3 Diphtherie-Fälle etc.) gleichzeitig in einer Wohnung 
Vorkommen. 2. Bei Denunciationen wegen sanitätswidriger Zustände. 3. Um 
festzustellen, ob Abweichungen von der Bauordnung mehr oder weniger schwer¬ 
wiegenden Bedenken unterliegen. — Schlafstellen waren polizeilich ange¬ 
meldet 36896—36900, während bei der Volkszählung nahezu drei Mal so viel 
Schlafleute gezählt wurden; es ist daher anzunehmen, dass viele der Schlaf¬ 
stellen sich der polizeilichen Kontrole entziehen. — Im alten und neuen 
Städtischen Obdach wurden im Jahre 1891 aufgenommen: a) Obdachlose 
Familien 22709 mit 111022 Individuen, wobei die Frauen mit Kindern bei 
Weitem die Mehrzahl bilden, b) Einzelne Obdachlose: 301766 Männer, 16083 
Frauen; die Männer also stark überwiegend. In demselbe Jahre hat der Berliner 
Asylverein für Obdachlose 109092 Männern und 17991 Weibern Aufnahme ge¬ 
währt; die Männer machen 86—88 vom Hundert aus. Seit seiner Eröffnung 
schaffte der Berliner Asylverein 2336797 Obdachlosen ein Nachtlager; was an 
Beköstigung verabreicht wird, stellte sich während der Berichtszeit auf 8'/« Pfg. 
pro Kopf und Tag. Im Männerasyl beginnt Raummangel einzutreten. — Von 
den am Ende 1891 bewohnten 22343 Grundstücken waren 19 951 (89,3 °/ 0 ) an 
die Kanalisation angeschlossen. — Das Pflaster in Berlin bestand neben 
2320780 qm der sechs billigen Steinpflasterklassen, die sich fortschreitend ver¬ 
kleinern, aus 1 774 300 qm der theueren Steinpflasterklassen (auf Unterbettungen), 
aus 771093 qm Asphalt- und 70678 qm Holzpflaster. — 

Wasserversorgung. Das Wasserbedürfniss der Berliner Bevölkerung 
für den Tag und den Kopf kann auf 62 bis 65 Liter angenommen werden. Im 
Jahre 1891/92 war der Durchschnitt 62,27 Liter, der Maximalverbrauch für den 
Tag und Kopf erreichte 105 Liter nicht. Das Wasserwerk am Tegeler See und 
das voraussichtlich zum Herbst 1893 in Thätigkeit tretende Wasserwerk am 
Müggelsee werden zusammen in je 24 Stunden 260000 cbm Wasser der Stadt 
liefern können; damit wird also der Bedarf von 2'/» Millionen Einwohnern ge- 



540 


Besprechungen. 


deckt werden können. Ca 90 °/ 0 des ganzen Wasserquantums wird innerhalb 
der Häuser verbraucht, 3,3 °/ 0 für die Kanalisation; 2,3 °/ 0 für die Strassen- 
sprengung; 0,77 °/ 0 zur Speisung von 12 öffentlichen Springbrunnen; 0,63 °/ 0 zur 
Besprengung 81 öffentlicher Garten- nnd Parkanlagen der Stadt, 0,34 °/ 0 zur 
Bespülung der Rinnsteine; 0,844 °/ 0 für den Betrieb selbst n. s. w. An die 
Wasserleitung waren am 31. März 1891 21598 Grundstücke angeschlossen, die 
Zunahme von 1890 auf 1891 betrug 2,7 °/ 0 . 

Nahrangs- and Genassmittel. Es bestehen jetzt 13 Markthallen, eine 
vierzehnte ist projektirt und in Angriff genommen. Die Ueberwachung des 
Nahrangsinittelverkehrs erfolgte einschliesslich der Untersuchungen auf Privat¬ 
anträge im Jahre 1891 ziffernmässig wie folgt: 4544 untersuchte Proben, davon 
870 beanstandet; 256 Mal wurden Strafanträge gestellt, 189 Bestrafungen 
erfolgten. — Die Untersuchung auf Trichinen wurde auch für Schwarzwild an¬ 
geordnet. Auf dem Zentral - Schlachthofe sowie in den städtischen Unter¬ 
suchungsstationen wurden auf Trichinen nnd Finnen untersucht: 570926 — 
543578 — 626605 Schweine (darunter 280 Wildschweine); trichinös waren 
6,15 — 2,61 — 5,23 °/ 000 ; finnig waren 30,28 — 23,72 — 21,02 °/ ?00 . Im Ver¬ 
gleich mit früheren Jahren ist die Zahl der finnigen Schweine in steter Ab¬ 
nahme begriffen. Trichinosis beim Menschen sind nicht vorgekommen. Die 
Untersuchung des Fleisches bei Fäulniss ist nach der Beobachtung des Kreis- 
thier&rztes W. Eber auf folgende Weise möglich: während man sich sonst aaf 
die subjektive Gerachsempfindung verliess, weist man nach Eber die Entwick¬ 
lung von freiem Ammoniak nach: Ein Reagensglas von 2 cm Durchmesser und 
10 cm Länge wird mit so viel des aus 1 Theil reiner Salzsäure, 3 Theilen 
Alkohol und 1 Theil Aether bestehenden Reagens beschickt, dass der Boden 
etwa 1 cm bedeckt ist, verkorkt und geschüttelt. Von dem zur Untersuchung 
vorliegenden Gegenstände wird mit einem sauberen Glasstabe eine Probe abge¬ 
streift oder ein erbsengrosses Partikelchen an dem unteren Ende des Glasstabes 
befestigt; der Glasstab wird eingetaucht, so dass sein unteres Ende etwa 1 cm 
von dem Flüssigkeitsspiegel entfernt bleibt und auch die Wände des Gefässes 
nicht berührt werden. Bei Gegenwart von Ammoniak entwickelt sich in wenigen 
Sekunden ein Nebel, der sich vom Ende des Stabes herabsenkt. — Würste 
waren häufig mit „Carnit“ gefärbt, einer Anilinlösung bezw. ammoniakalischer 
Cochenillelösung; die Strafverfolgung gegen die Vortäuschung einer grösseren 
Frische wurde mit Erfolg eingeleitet. — Die Milch wird auf Strassen, Plätzen 
und in Verkaufsläden durch geübte Beamte aräometrisch mittelst des BischofT- 
schen Milchprobers geprüft; dagegen wurde die Bestimmung des Fettgehaltes 
nur durch den Chemiker ausgeführt. Im Jahre 1891: 29480 Milchkontrolen, 
5270 Liter Milch wurden beanstandet, 1244 Uebertretungen festgestellt; 692 
Bestrafungen von Milchhändlern wegen Uebertretung der Polizeiverordnung vom 
6. Juli 1887. — In der Berichtszeit sind 1566 Butterproben durch öffentliche, 
228 durch geheime Entnahme beschafft und untersucht worden. Bestrafungen 
von Butterhändlern durch die Gerichte erfolgten 1889: 107, 1890 : 452, 1891: 
336 Mal. Die Ausrede der Kleinhändler, dass sie die Beimischung der Margarine 
nicht erkannt haben, wird nicht mehr als geltend zugelassen and bei ihnen die 
einfache Schmelzprobe als bekannt vorausgesetzt: Reine Butter schmelzt klar, 
Margarine und Gemische mit ihr schmelzen trübe ab. — Für Bierseidel ist 
am 20. April 1892 die Polizeiverordnung betreffend die Einführung von Spül¬ 
apparaten mit ständigem Zu- und Abfluss von Wasser erlassen. — 

Gewerbliche Anlagen. Ende 1891 bestanden 491 Fabriken mit 94911 
männlichen und 32145 weiblichen Arbeitern; die Zahl der jugendlichen Arbeiter 
hatte sich seit dem Jahre 1888 in Berlin am 2085 Personen vermehrt. Zur 
amtsärztlichen Untersuchung gelangten 1889: 14 Fälle, von denen 6 als be¬ 
lästigend erklärt wurden (Rauch, Geräusche); 1890: 11 bezw. 3; 1891: 34 bezw. 
21. In denjenigen Räumen von Neubauten, in welchen Coakskörbe zum Aus¬ 
trocknen der Wände aufgestellt werden, dürfen Töpfer, Maler u. s. w. nicht 
arbeiten. Im Jahre 1890 wurden 28306 Werkstätten revidirt; darunter wurden 
347 sanitäre überhaupt nnd 235 wegen Doppelbenntzung (zum Schlafen) 
beanstandet. — 

Schulgesundheitspflege. Die öffentlichen Schulen beliefen sich auf 276 
mit 3911 Klassen. Bevölkert wurden diese Anstalten von 201568 Schülern, 
von welchen 12 825 = 6,36 °/ 0 im Alter von über 14 Jahren standen. Ausserdem 
bestehen 83 Privatschulen mit 654 Klassen and 19648 Schülern. Vom Verfasser 



Besprechungen. 


541 


wird betont, dass die schulhygienischen Untersuchungen nur dann Aussicht auf 
Erfolg haben, wenn nach dem Muster von Axel Key sich Eltern, Lehrer und 
Aerzte daran betheiligen. Von Schulärzten ist im Berichte nichts erwähnt. 
(Ref.) Statistische Erhebung, wie viel Schüler die Tuberkulose in der Schule 
acquiriren stehen noch aus. Tageslichtmessungen mittelst der Weber’ sehen 
Raumwinkelmesser und Photometer sind von Gilbert vorgenommen worden: 
die Gemeindeklassen hatten genügende Resultate bei heiterem, sehr ungenügende 
Resultate bei trübem Wetter. Für Spielplätze ist Sorge getragen. — Die 
Summe sämmtlicher Ferienkolonisten betrug am Schlüsse der Berichtszeit über 
2700 arme Kinder, für welche gegen 90000 Mark verausgabt wurden. Endlich 
folgt eine genaue Darstellung der Verhältnisse in der Waisenerziehungsanstalt 
zu Rummelsburg. (S. Original.) 

Gefängnisse. Als krank wurden im Lazareth folgende Gefangene be¬ 
handelt und zwar a) Männer: 487 — 584 — 552; im täglichen Durchschnitt 
9,05 — 11,46 — 11,14; im Verhältnis zur täglichen Durchschnittskopfstärke 

2,07 % — 2,33 °/ 0 — 2,13 %; b) Weiber 416 — 514 — 592;-11,62 — 

12,47 — 14,81;-2,65 °/ 0 — 2,82 °/ 0 — 3,10 °/ 0 . Geisteskranke unruhige 

Gefangene wurden der Charite überwiesen: Männer 16 — 15 — 7; Weiber 
6 — 7 — 7. — An Lungentuberkulose litten 34 — 22 — 18; an Syphilis und 
sonstigen Geschlechtskrankheiten: 114 — 142 — 129; an Krätze 57 — 61 — 
84; an akuten Krankheiten der Athmungsorgane: 93 — 133 — 122. Infolge 
der Verfügung des Polizei - Präsidiums vom 21. Oktober 1889 ist das Impfen bei 
den Stadtvoigteigefangenen eingefiihrt; ausgenommen sind alle Untersuchungs¬ 
gefangenen und alle anderen Getangenen, welche eine Freiheitsstrafe von weniger 
als 14 Tagen zu verbüssen haben. — In der Irrenabtheilnng der Strafanstalt 
zu Moabit betrug die Gesammtzahl der im Jahre 1891/92 detinirten geistes¬ 
gestörten Gefangenen 87. Von den durchschnittlich 37,25 Detinirten erwiesen 
sich an 5859 als arbeitsfähig 19,08; die Arbeit wurde als Heilmittel angeordnet. 
15 Isolirzellen sind vorhanden. Die chronische Verrücktheit war die häufigste 
der beobachteten Geistesstörungen (32); 13 F'älle von akuter resp. subakutcr 
Verrücktheit, 4 Dementia paralytica, 2 Fälle von Seelenstörung mit Epilepsie. 
11 Fälle geheilt, 43 Ungeheilt, 1 Todesfall (vorgeschrittene Tuberkulose). 

Fürsorge für Kranke und Gebrechliche. Samariterkurse für Schutz¬ 
leute wurde in der Berichtszeit in 2 Kursen ertheilt, im Ganzen beträgt bis 
Ende 1891 die Zahl der ausgebildeten Offiziere und Mannschaften 800. Der 
Magistrat hat 23 Kästen mit Verbandzeug und Mitteln für die erste Hülfe bei 
Unglücksfällen sowie 20 Tragbahren angeschafft. Für den Etat 1891/92 ist von 
der Subkommissiou für das Rettungswesen der Dispositionsfonds von 10000 auf 
40000 Mark erhöht worden. Rettungsvorrichtungen für im Wasser Verunglückte 
wurden angeschafft (Rettungsball aus Rennthierhaaren mit Rettungsleine, Kahn 
mit Rudern, Rettungsstange). Die Berliner Sanitätswachen weisen eine erfreu¬ 
liche Entwickelung auf. — Die Stadt Berlin verausgabte im Etatsjahr 1. April 
1890/91 für Armenverpflegung, Waisenhaus, Arbeitshaus, städtische Hospitäler, 
Siechenanstalten und Krankenhäuser, Obdachasyle, Irrenanstalten und Heim¬ 
stätten für Genesende in Summa: 10953676 M., wovon sich nur 1756626 Mark 
durch Einnahmen decken, das übrige durch Kommunalzuschuss aufgebracht wird. 
Die Steigerung des Zuschusses ist auf 11,57 °/ 0 berechnet. Zu erwähnen ist 
ferner das neue städtische Krankenhaus am Urban mit 600 Betten; auf jedes 
Bett kommt eine Bodenfläche von mindestens 8 H / 4 qm und bei einer Höhe von 
5 m im Erdgeschoss, 5,50 m im I. Stock, ein Luftkubus von 43 */ 4 bezw. 48 cbm. 
Ueber die innere Einrichtung und den Betrieb ist Näheres im Original nachzu¬ 
lesen. — Die städtische Irrenanstalt zu Dalldorf hatte am 31. März 1889 einen 
Bestand von 2557 Kranken; Zugang des Bestandes betrug 1889/90:102; 1890/91: 
223. Den Formen der Geistesstörung nach hatten die einzelnen Arten sich wie 
folgt betheiligt: Senile Geistesstörung 12,3 bezw. 6,7 °/ 0 , die paralitische Geistes¬ 
störung 27,5 bezw. 28,6; einfache chronische Geistesstörung 35,6 bezw. 41,8; 
Idiotie (Imbecillität) 5,0 bezw. 6,1; Epilepsie mit Geistesstörung 19,5 bezw. 
16,8 °/ 0 . — Als grosser Fortschritt auf dem Gebiete der Rekonvaleszentenpflege 
ist zu verzeichnen: die Errichtung der „Städtischen Heimstätten für Genesende“; 
dieselben wurden in den Herrschaftshäusern der städtischen Rieselgüter Blanken¬ 
burg und Heinersdorf eingerichtet. Der Aufenthalt ist auf 3 Wochen berechnet. 
Die Zahl der Betten beträgt 54 bezw. 60, ausserdem ist in B. noch eine Sommer¬ 
baracke mit 16 Betten. Zngegangen waren 200 — 262 — 291 Rekonvales- 



542 


Tagesnachrichten. 


zenten. — Endlich wäre hervorzuheben die „Heimstätte für Wöchnerinnen“; es 
werden Wöchnerinnen zwischen dem 10. nnd 21. Wochenbettstage anfgenommen, 
Wöchnerin and Kind müssen gesund sein (Bleonorrhoea neonatorum bleibt aus¬ 
geschlossen). In der Regel gelten als Aufenthaltsdauer 3 Wochen; Verpflegungs¬ 
satz pro Tag 2,25 Mark, von welchem Bedürftigkeit befreit. — 

Bäder. Zur Befriedigung des Badebedürfnisses waren 12 städtische, 
Flussbadeanstalten mit 14 Bassins vorhanden. Weitere zwei neue Volksbade¬ 
anstalten sind eingerichtet worden. 

Leichenschau- und Beerdigungswesen. Die Geschäftsführung des 
Leichenkommissariats — Sicherstellung der nicht in natürlichem Verlauf der 
Dinge erfolgten Todesfälle — vermehrt sich zusehends: Zahl der Unglücksfülle 
1881: 3180 mit 968 tödtlichen Ausgängen; 1889: 7839 und 1187f; 1890 : 9139 
und 1239 f; 1891: 9817 und 1340 f- Die Zahl der während der Berichtazeit 
in’s Leichenhaus gebrachten Leichen betrug: 774 — 857 — 862. Das Leichen¬ 
tiberführungswesen innerhalb Berlins selbst liegt in den Händen von Unter¬ 
nehmern, ausgedehnte polizeiliche Kontrole findet statt. Von Berlin nach anderen 
Gebieten sind Leichen überführt worden: 352 — 399 — 433. Genehmigung 
zum Ausgraben und Umbetten von Leichen wurde ertheilt: 48 — 28 — 31 Mal. 

— Im Interesse der Gesundheitspflege ist die Benutzung der bestehenden 47 
Leichenhäuser seitens des Magistrats dringend empfohlen worden; es wurden 
eingestellt 11597 — 11274 — 11678 Leichen, d. h. 32,0 — 32,33 — 33,41%. — 

Medizinal-Personal. Die Uebersicht der von den Physikern ange¬ 
führten Dienstgeschäfte ist im Original nachznsehen. Es fanden allmonatlich 
Physikats - Konferenzen statt, die Berathungsgegenstände sind ebenfalls im 
Original verzeichnet. — Am Ende der Berichtszeit waren 1639 Aerzte in Berlin, 
d. h. 1 Arzt auf jedes Tausend der Einwohner. Die Zahl der Zahnärzte 
belief sich auf 133. Die Zahl der Hebammen betrug Ende 1891: 803. 
Zwei Hebammenvereine bestehen. Es bestehen 93 Privatentbindungsanstalten, 
in welchen 204 — 219 — 195 Geburten vorkamen; von den 618 Müttern 
ist nur eine gestorben. — Das Heilgehilfen - Examen vor dem Stadtphysikus 
haben 72 — 65 — 70 Anwärter bestanden. Nicht approbirte Heilbeflissene 
wurden von den Polizei-Revieren ermittelt: 231 — 223 — 191. — Ende 
1891 batte sich die Zahl der Apotheken auf 131 erhoben, dazu kamen 
5 bereits genehmigte Neuanlagen; die Zahl der auf eine Apotheke entfallenden 
Einwohner belief sich danach auf 12393. Die Zahl der Drogengeschäfte ist auf 
450 angestiegen. Auf Grund der amtlichen Revisionen, zu denen jetzt regel¬ 
mässig ein Apotheker als Revisor zugezogen wird, erfolgten Bestrafungen: 160 

— 138 — 156 in Höhe von 3—150 Mark. Der Kampf gegen das Unwesen des 
Geheiminittelverkehrs ist fortgesetzt worden. Bis Ende 1891 sind 230 Geheim¬ 
mittel chemisch untersucht worden; ihre Anpreisung darf in Zeitungen nicht 
stattfinden; das Verzeichniss ist im Original enthalten. Wegen Uebertretung 
der Polizei - Verordnung vom 30. Juni 1887 sind 137 — 93 — 96 Bestrafungen 
von Zeitungsredaktionen erfolgt; ausserdem sind 33 — 44 — 23 Personen wegen 
unerlaubten Verkaufs von Geheimmitteln bestraft worden. Warnende Bekannt¬ 
machungen seitens des Polizei - Präsidiums richteten sich gegen 12 Geheimmittel. 

Es folgt im Original neben 11 Anlagen noch der Bericht über das Char¬ 
lottenburger Gesundheitswesen, abgefasst von Med. - Assessor Dr. Wehmer. 

Dr. Israel-Medenau (Ostpr.). 


Tagesnachrichten. 

Die politischen Zeitungen brachten in der jüngsten Zeit Mittheilungen 
Uber eine geplante Umgestaltung der medizinischen Prüfungen; es sollten 
darnach statt des Tentamen physicum 2 Prüfungen: eine naturwissenschaftliche 
nach 2 Semestern und eine anatomisch physiologische nach 4 Semestern, sowie 
ein Jahr praktischer Arbeit in einer Klinik oder einem Krankenhause vor der 
Staatsprüfung in Aussicht genommen sein. Eine Verlängerung des Studiums 
sollte dagegen nicht beabsichtigt werden, wohl aber die Einführung der Psychiatrie 
als Prüfungsgegenstand. Diesen Nachrichten gegenüber theilt die „Norddeutsche 



Tagesnachrichten. 


643 


Allgemeine Zeitung“ mit, dass sich die Angelegenheit noch in dem allerersten 
Stadium ihrer Entwickelung befinde und jedenfalls noch nicht so weit gediehen 
sei, um die baldige Vorlegung eines Entwurfes erwarten zu können. 


Die Frage, ob künftighin für die Zulassung zum thierärztlichen Studium 
das A'biturientenexamen auf einer neunklassigen höheren Lehranstalt als Vor¬ 
bedingung gefordert werden soll, wie solches von dem deutschen Veterinärrath 
beantragt war, ist von der Preussischen Regierung verneint. 


Am 25. Oktober d. J. hat eine Sitzung der wissenschaftlichen 
Deputation für das Medizinalwesen unter Zuziehung der Vertreter 
der Preussischen Aerztekammer stattgefunden. Der Gegenstand der Berathung 
bildete die Frage der staatlichen Beaufsichtigung öffentlicher und 
privater Krankenhäuser. 


Am 18. Oktober d. J. feierte der Geh. Sanitätsrath Kreisphysikus a. D. 
Dr. Adamkiewicz in Berlin sein 50jähriges Doktorjubiläum. So 
lange der Preussische Medizinalbeamtenverein besteht, hat der Jubilar demselben 
als Mitglied angehört und ist auch nach dem Ausscheiden aus seiner amtlichen 
Stellung als Physikus des Kreises Rawitsch Mitglied geblieben. Möge ihm das 
Otinm cum dignitate noch recht lange vergönnt sein! 


Am Freitag, den 20. d. Mts., ist der Prof, an der Berliner Universität 
Dr. Friedrich Falk beerdigt worden. Falk ist nur 53 Jahre alt geworden und 
nicht mit Unrecht schreibt man seinen Tod der Ursache zu, dass der Tod seiner 
vor einem Jahr dahin geschiedenen Ehefrau ihm das Herz gebrochen. Falk 
war ein rüstiger fleissiger emsiger Arbeiter auf dem Gebiete der medizinischen 
Wissenschaft, von ausserordentlicher Belesenheit und von treffendem schlag¬ 
fertigem Urtheil. Eine Menge Arbeiten auf dem Gebiete der gerichtlichen 
Medizin und der sanitären Wissenschaft kennzeichnen seinen Arbeitsweg. Auch 
unserer Zeitschrift ist er ein geschätzter Mitarbeiter gewesen. Als Mitglied des 
Preussischen Medizinalbeamten-Vereins, an dessen Wiege er gestanden, hat er 
nie in unseren Versammlungen gefehlt und stets regen Antheil an unserem 
Wirken genommen. — Wie er pietätvoll gegen Gattin und Mutter, so war er 
treu und aufopfernd gegen seine Freunde. Erschreckt durch seinen plötzlichen 
frühen Tod stehen wir trauernd an seinem Grabe. Friede seiner Asche! 


Die Cholera hat im Oder- und Havel gebiete in den letzten Wochen 
leider eine grössere Ausbreitung gewonnen, insbesondere in Stettin und Um¬ 
gegend, worüber im Eingang der heutigen Nummer von zuständiger Seite be¬ 
richtet ist. Die Zahl der Cholera-Erkrankungen stellt sich in Stettin selbst 
vom 11.—26. Oktober auf 77 mit 37 Todesfällen; im Kreise Randow sind in 
derselben Zeit 32 Erkrank, mit 22 Todesfällen vorgekommen, davon in Warsow 
10 bezw. 8, in Frauendorf 8 bezw. 1, in Bredow 3 (1), in Bolinchen eine tödtliche 
Erkrankung, in Pölitz eine Erkrankung, in Grabow a. 0. 2 Todesfälle. Ausserdem 
sind noch aus dem Odergebiete gemeldet: 2 Erkrankungen in Neuenkränitz, je 
eine tödtliche Erkrankung in Swinemünde, Niedersaathen und Hohewutzen 
(Kr. Königsberg i. N.), 4 Erkrankungen und 2 Todesfälle in Stepenitz (Kreis 
Kammin), je 1 Erkrankung in Eggesin (Kreis Uckermünde), Küstrin und Neu¬ 
schaumburg bei Küstrin. 

Im Havelgebiet sind in den letzten Tagen (20.—26. Okt.) eine grössere 
Anzahl von Choleraerkrankungen in Havelberg aufgetreten (29 mit 13 Todes¬ 
fällen), desgleichen an der Zerpenschleuse (9), ausserdem vereinzelte Fälle in 
Plötzensee (1), Rixdorf (1), Potsdam (1). 

In Hamburg sind vom 12.—26. Oktober nur 10 Erkrankungen und 6 
Todesfälle beobachtet; in Altona 3 bezw. 1, in Hadersleben 2, Tönning und Alten¬ 
werder je eine tödtliche Erkrankung, in Neuenwalde, Damnatz (Kreis Dannen¬ 
berg) und Harburg je 1 Erkrankung, in Wittenberge 4 Erkrankungen und 
2 Todesfälle, in Magdeburg 2 Erkrankungen und 1 Todesfall. 



544 


Tacresnachrichten. 


Ein neuer Seuchenherd scheint sich im II e m e 1 gebiet durch Einschler v T nig 
aus Russisch - Poltrn gebildet zu haben. und sind in Fvhze dessen neue sa;u:Are 
Ueberweisungsstationen eingerichtet. In Tilsit sind bis zum 26. • »krtcber 22 
Erkrankungen mit 4 T*>Ie^r'aJien; in Ragnit und Schmailemngken je 1 Erkrankung. 
Eine tGitüch verlaufende Erkrankung wird noch aus Gieiwitz in Ooerschiesien 
gemeldet. 

In Oesterreich hat die Cholera sowohl in Galizien, als in Ungarn 
weiter abgenoinmen, der Charakter der Erkrankungen ist ein milderer geworden, 
so dass ein baldiges Erlöschen der Seuche zu erwarten steht, in Galizien 
betrug die Zahl der Erkrankungen und der Todesfälle in der Woche vom 4. bis 
lu Oktober S2 bezw. 36, vom 11.—17. «Oktober 117 bezw. 63: Tom 18.—24. Oku 
77 bezw. 37 in 23. 31 bezw. 21 Gemeinden. Die Gesammtzahl der Erkrankungen 
ist damit auf 1170, jene der Todesfälle aut 7c4 = .V>.2 : 0 gestiegen. Am meisten 
verseucht sind noch immer die Bezirke Nadwoma <50 Erkr. und 31 Todesi.> 
und Sanok (48 Erkr. und 18 Todesiällei und Vor allem StanisUu (101 Erkr. 
und 30 Todesf.). 

In Ungarn sind vom 26. Sept. bis 3. <>kt. 120 Erkrankungen undS4Todes- 
fälle in 51 Gemeinden, vom 4.—11. Okt. 131 Erkrankungen und 71 Todesfälle 
in 50 Gemeinden angemeldet. Die Zahl der intizirten Kumitate ist von 22 auf 
16 gesunken; am mei-t^n sind eben so wie in den vorhergehenden Wochen die 
Komitate Marmoros (?*) bezw. 3-8) und Bacs - Bodroeh <24 bezw. 21) von der 
Seuche heimgesucht, ln Pest sind während dieser Zeit 26 Erkrankungen mit 
9 Todesfällen, in Klausenburg 6 mit 3 Todesfällen vorgekünimeu. 

Aus Bosnien wird der Ausbruch der Cholera in der Stadt Brcka ge¬ 
meldet; bis zum 13. Oktober sind dort 64 Erkrankungen und 32 Todesfälle 
featgestellt. 

In Rumänien ist die Cholera scheinbar im Erlöschen begriffen; vom 
25. Sept. bis 2. Okt. sind nur noch 33 Erkrankungen mit 23 Todesfällen, vom 
3.-8. Okt. 14 bezw. 9 zur Anzeige gelangt. Dagegen scheint die Cholera in 
Konstantinopel festeren Fu.>s zu fassen; die Zahl der bis jetzt dort ange¬ 
meldeten Erkrankungen beträgt 349 mit 2«J8 Todesfällen. 

In Italien ist eine wesentliche Abnahme der Cholera in Palermo noch 
nicht zu verspüren, denn vom 11.—25. Oktober sind 169 Erkrankungen und 81 
Todesfälle angemeldet. In Patti und Livorno scheinen sich jedoch die Verhält¬ 
nisse etwas Einstiger zu stellen, die Zahl der Erkrankungen betrug hier während 
derselben Zeit: 20 (11) bezw. 82 (31). 

In .Spanien ist die Cholera bis jetzt über die Provinz Biseaya nicht 
herausgekommen; vom 2.—15. Oktober sind hier 2v80 Personen daran erkrankt, 
149 gestorben, davon 124 bezw. 54 in Biscaya selbst. 

Aus Frankreich bleiben die Cholera-Nachrichten nach wie vor unvoll¬ 
ständig. Der Hauptherd der Seuche scheint hier Brest zu sein; in Nantes 
sind vom 28. Sept. bis 11. Okt. nur noch 26 Erkrankungen und 21 Todesfälle 
vorgekommen. In Holland scheint die Seuche im Erloschen begriffen zu sein; 
vom 4.—11. Oktober sind nur 10 vereinzelte Erkrankungen und 7 Todesfälle 
aus 8 verschiedenen Orten angezeigt. 

Aus England wird der Ausbruch der Cholera in einer Krankenanstalt 
in Greenwich gemeldet (augeblich 200 Erkrankungen); in Hüll waren bis Anfang 
Oktober 57 Erkrankungen mit 17 Todesfällen; in Grimsby 120 bezw. 72 vorge¬ 
kommen. 

In Russland betrug die Zahl der Erkrankungen und Todestalle vom 
9.—23. Oktober in Petersburg: 330 bezw. 147; in Moskau dagegen nur 37 bezw. 
17; vom 1.—19. Okt. in den Gouvernements Lomsha: 1278 bezw. 625, Grodno: 
168 bezw. 74; vom 1.—14. Oktober in den Gouvernements Wolhynien: 1057 
bezw. 444; Orel: 273 bezw. 103; Kiew: 540 bezw. 191; Jekaterinoslaw: 555 
bezw. 215; Kursk: 346 bezw. 77; Woronesh: 250 bezw. 110; Mohilew: 158 
bezw. 96 und Podolien 1150 bezw. 510. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath i. Minden i. W. 

J. C. C. Bram, Baehdruckerei, Minden. 




6. Jahrg. 


Zeitschrift 

für 


1893. 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rath u. gericlnl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- lind Meduinalrath in Minden. 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Meduinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlaffshandlunff>nd Rud. Moste 

entgegen. 


No. 22. 


Eraeheint am 1. und 15. Jeden Monats. 
Preis Jährlich 10 Mark. 


15. Novbr. 


Hebammen und Pfuscherinnen. 

Von Kreisphysikus Dr. Salomon in Darkebmen. 

Zur Hebung der materiellen Lage des Hebammenstandes im 
Regierungsbezirk Gumbinnen hat die Königliche Regierung seit 
dem Jahre 1884 dabin zu wirken gesucht, dass sämmtliche Kreise 
kontraktlich verpflichtete Hebammen gegen feste Gehälter anstellen 
und ein durch Statuten geregeltes Bezirks - Hebammenwesen ein¬ 
führen sollten. Die meisten Kreise sind dieser Anregung gefolgt 
und haben zum Theil namhafte Summen für Hebammenzwecke in 
ihren Etat eingestellt. Die Kreisvertretung von Darkehmen hat 
sich bis zur Stunde ablehnend verhalten und ihren Standpunkt in 
ungefähr folgender Weise motivirt: „Besondere Missstände im 
Hebammenwesen des Kreises sind nicht vorhanden. Durch eine 
Aufbesserung des Einkommens der Hebammen wird weniger eine 
sogleich eintretende Besserung der Qualität der Hebammen, als 
eine allmähliche Heranziehung besserer Elemente zu dem qu. 
Stande bezweckt. Dieses Ziel der angeregten Reform zu erstreben, 
ist keine Kreisangelegenheit, sondern Sache des Staates oder der 
Provinz. Der Kreis kann doch nur die in seinen Grenzen besonders 
hervortretenden Uebelstände zu beseitigen versuchen, — mit ganz 
allgemein vorhandenen Uebelständen und Schäden hat er sich nicht 
zunächst zu befassen. Das in Vorschlag gebrachte Statut soll zur 
allerhöchsten Bestätigung eingereicht werden, das Bezirkshebammen¬ 
wesen soll also eine dauernde Einrichtung werden. Es handelt 
sich mithin um eine dauernde und jedenfalls mit der Zeit zu¬ 
nehmende 1 ) Belastung des Kreises (von ca. 1500 Mark jährlich), 

*) In einem Schreiben Sr. Excellenz des Herrn Oberpräsidenten an die 
ostpreussische Aerztekammer vom 1. Mai 1893 heisst es: „ ... . Ich bin gern 
bereit, insbesondere einzelne Kreise, welche seither schon die statutarische 
Regelung eingefilhrt haben, zu einer Erhöhung der Bezüge der Hebammen 
anzuregen. 









546 


Dr. Salomon. 


deren eventuelle Aenderung oder Beseitigung der Macht der Kreis¬ 
vertretung vollkommen entzogen ist.“ Durch eingehende Er¬ 
hebungen war festgestellt worden, dass die Zahl der Hebammen 
eine ausreichende und ihre Vertheilung im Kreise eine zweckent¬ 
sprechende sei; spezielle wesentliche Missstände konnten der Kreis¬ 
vertretung nicht namhaft gemacht werden. Als Hauptargument 
für die Nothwendigkeit der Reform wurde die Thatsache angeführt, 
dass etwa die Hälfte der Geburten ohne Mitwirkung von Hebammen 
verlaufe. Ich persönlich (damals noch nicht Physikus) habe dem 
Referenten des Kreisausschusses gegenüber noch betont, dass die 
Einrichtung des Bezirkshebammenwesens die einzige Möglichkeit 
gewähre, eine strengere Disziplin, wie sie dringend nothwendig 
sei, durchzuführen. 

Im Jahre 1891 wurde von der Königlichen Regierung ein 
erneuter Versuch gemacht, die Kreisvertretung zur Annahme eines 
Statuts zu bewegen. Den Argumenten der Aerztekammer, von 
welcher wiederholte Anregungen ausgegangen waren, neues hinzu¬ 
zufügen, war ich ausser Stande. Die Kreisvertretung verhielt 
sich ablehnend, wie 1884. 

Der Wunsch, über den Umfang und die Ursachen des 
Pfuscherinnenthum es in meinem Kreise genauer orientirt zu sein, 
wurde bei dieser Gelegenheit in mir ganz besonders rege und ich 
entschloss mich zu einer genauen statistischen Bearbeitung 
der Frage. 

Soweit ich es kontroliren kann, war bisher die Zahl der im 
Kreise durch Pfuscherinnen gehobenen Kinder in der Weise fest¬ 
gestellt worden, dass von der Gesammtgeburtsziffer des Jahres 
einfach die Gesammtsumme der von den Hebammen des Kreises 
geleiteten Entbindungen abgezogen wurde, bei welcher Rechnung 
der Umstand natürlich in keiner Weise berücksichtigt ist, dass 
die Praxis der Hebammen vielfach über die geographische Kreis¬ 
grenze hinüber- und herübergeht. 

Die naheliegende Annahme, dass diejenigen Geburten, bei 
welchen eine Hebamme nicht zugegen gewesen ist, gerade die der 
ärmsten Frauen seien, schien mir für den recht wohlhabenden Kreis 
Darkehmen nicht ohne Weiteres berechtigt zu sein. 

Um nun einen genaueren Einblick in die thatsächlichen Ver¬ 
hältnisse zu gewinnen, habe ich mir ein grösseres Buch angelegt, 
in welches ich sämmtliche Ortschaften des Kreises in alphabetischer 
Reihenfolge derart eintrug, dass bei jeder Ortschaft Raum genug 
für die Eintragung der Geburten von mehreren Jahren vorhanden 
war. Das Buch war durchweg so liniirt, dass jede Eintragung 
nach folgenden Rubriken erfolgen konnte: Namen der Entbundenen, 
Stand, Tag und Stunde der Entbindung, lebendes oder todtes 
Kind. Nun liess ich mir vom Kreisausschuss die standesamtlichen 
Geburts- und Sterberegister (weil in den letzteren die Todtgebur- 
ten eingetragen sind) geben und übertrug sämmtliche Geburten, 
zunächst des Jahres 1890, in mein Ortschaftsregister; dann mar- 
kirte ich mir hierin die von den Hebammen nach Ausweis ihrer 
Tagebücher geleiteten Geburten durch rothe Unterstreichung. Um 



Hebammen und Pfuscherinnen. 


547 


keinen Fall zu übergehen, schickte ich nach sämmtlichen Nachbar¬ 
kreisen an die Physiker oder Landrathsämter frankirte Formulare, 
die mir dann von den Grenzhebammen der betreffenden Kreise 
ausgefüllt mit den Angaben über die Geburten, die sie im Kreise 
Darkehmen geleitet, zurückgestellt wurden. Zur Gewinnung 
grösserer Zahlen habe ich diese Arbeit später auch für das Jahr 
1891 gemacht. 

Auf diese Weise war ich nun in der Lage, jedem einzelnen 
Geburtsfall nachgehen zu können. Die Arbeit, der ich mich unter¬ 
zog, war keine so glatte, wie ich Anfangs gedacht, sondern bot 
Fehlerquellen in Menge. Vor Allem fand ich eine kaum glaubliche 
Unzuverlässigkeit der Hebammentagebücher. Die Ortsnamen waren 
sehr häufig falsch eingetragen, die Tage der Entbindung differirten 
mit den standesamtlichen Eintragungen um mehrere Tage mindestens 
in einem Drittel der Fälle, die Vornamen der entbundenen 
Frauen waren meistens falsch und die Stunde der Entbindung 
stimmte fast nie! Dass eine grosse Menge von Kindern, welche 
in den Hebammentagebüchern als lebend und gesund verzeichnet 
waren, in den standesamtlichen Registern als „todtgeboren“ figu- 
rirte, überraschte mich bei der von den Hebammen beliebten Praxis, 
sich von den frisch Entbundenen so schleunig wie möglich zu ent¬ 
fernen, nicht. Wochenbesuche werden hier meist wegen zu grosser 
Entfernung und oft wegen Mangels an Bezahlung nicht gemacht; 
wenn also ein Kind beim Weggehen der Hebammen noch etwas 
nach Luft schnappt, kommt es in ihr Tagebuch als „lebend und 
gesund“. Vor dem Standesamt wird die Bezeichnung „in der Ge¬ 
burt“ ungefähr synonym gebraucht mit „gleich nach der Geburt“, 
und da dieser Begriff sehr dehnbar ist, so erklärt es sich, dass 
für Kinder, die in der That mehrere Stunden gelebt haben, nicht 
je eine Geburts- und eine Sterbeurkunde, sondern bequemerweise 
nur eine Todtgeburtsurkunde, ausgestellt wird. Ganz auffallend 
aber erschien mir die Thatsache, dass ich im Jahrgang 1890 bei 
den Hebammen 16 Kinder als rechtzeitig geboren und lebend ver¬ 
zeichnet fand, die in den standesamtlichen Registern gänzlich 
fehlten. Der Kreisausschuss hat auf meinen Antrag bei den ein¬ 
zelnen Standesämtern genaue Erhebungen durch Vernehmungen etc. 
anstellen lassen. In einem Falle war ein im Jahre 1890 geborenes 
Kind erst im Jahre 1891 eingetragen, in allen übrigen Fällen 
haben die Eltern bei der Vernehmung ausgesagt, dass es sich um 
Frühgeburten gehandelt habe. Meiner Ansicht nach kann man 
nicht annehmen, dass alle diese Fälle von den Hebammen falsch 
eingetragen sind, ein Theil davon betrifft — davon bin ich fest 
überzeugt — rechtzeitig geborene und bald nach der Geburt ge¬ 
storbene Kinder, deren Anmeldung die Eltern aus Bequemlichkeit 
oder Nachlässigkeit einfach unterlassen haben. 1 ) Strafanträge zu 
stellen, wäre illusorisch gewesen, da die Hebammen gar nicht in 


0 Diese Beobachtung gibt nach mancher Richtung hin zu denken und 
wirft ein ganz eigenthümliches Licht auf die stets als zweifelsfrei angesehene 
Todtgeborenen- Statistik. Man sieht, dass die Hebammen irgend eine Eontroleüber 



548 


Dr. Salomon. 


der Lage sind, die Angaben ihrer nur pro forma und ganz nach¬ 
lässig geführten Tagebücher zu beeidigen. Es war für viele Heb¬ 
ammen übrigens eine sehr unliebsame Ueberraschung, als ich ihnen 
auf Grund der standesamtlichen Register und sonstiger Erhebungen 
den Nachweis führte, dass ihre Eintragungen in hohem Grade un¬ 
zuverlässig und zum Theil direkt falsch wären. 

In einzelnen Fällen konnte ich feststellen, dass Hebammen 
rite von ihnen geleitete Entbindungen gar nicht eingetragen 
hatten. Anfangs glaubte ich, dass diese Unterlassungen absicht¬ 
lich geschehen seien, um die Zahl der gehabten Entbindungen 
kleiner zu gestalten und die „geringe“ Praxis zur Erlangung einer 
möglichst hohen Unterstützung zu verwerthen. Eingehende Nach¬ 
forschungen haben mich jedoch zu der Ueberzeugung gebracht, 
dass solche Fälle nur in ganz verschwindend kleiner Zahl vorge¬ 
kommen sind. Ausser den angeführten Fehlerquellen, die für die 
summarische Berechnung der durch Pfuscherinnen geleiteten Ge¬ 
burten in Betracht kommen, ist noch die zu erwähnen, dass die 
hiesigen Hebammen alle Fälle, in denen sie zwar gerufen waren, 
aber entweder schon unterwegs oder erst am Bett der Wöchnerin 
erfuhren, dass das Kind bereits da sei, nicht in ihr Tagebuch ein¬ 
getragen haben. Um diese Fälle nicht fälschlich den Pfusche¬ 
rinnen zur Last zu legen, habe ich von sämmtlichen Hebammen 
mir die erforderlichen Angaben eingezogen und demgemäss die 
Listen berichtigt. 

Nachdem ich mich in der angegebenen Weise bestrebt hatte, 
die Fehler in den Listen zu korrigiren, habe ich mich an die 
eigentliche Statistik gemacht und glaube Zahlen gewonnen zu 
haben, die einen ungleich höheren Werth beanspruchen dürfen, als 
die aus einfacher Subtraktion (cf. oben) resultirenden. Absolut 
genau sind sie freilich auch nicht. Denn wie z. B. einerseits an 
gewissen Prozenten der ohne Hebamme verlaufenen Geburten die 
Pfuscherinnen unschuldig sind, weil es überstürzte Geburten waren, 
so ist umgekehrt gewiss bei mancher durch eine Hebamme been¬ 
deten Entbindung eine Pfuscherin thätig gewesen, die sich zurück¬ 
zog, als sie Unregelmässigkeiten bemerkte. 

Meine Statistik umfasst alle Geburten im Kreise aus den 
Jahren 1890 und 1891 =2682 Fälle. Die erste Thatsache, die 
ich feststellen konnte, war die, dass in unserer Kreisstadt der 
Begriff einer Hebammenpfuscherin unbekannt ist: sämmtliche 190 
städtische Geburten waren von Hebammen geleitet worden, wäh- 


Anmeldungen beim Standesamt nicht führen. Und wenn es Vorkommen kann, 
dass Geburten, bei denen eine offizielle Persönlichkeit thätig gewesen ist, nicht 
zur Eintragung gelangen, dann kann man sich leicht vorstellen, dass die An¬ 
meldung noch viel häufiger unterbleiben wird, wenn nur eine Pfuscherin bei der 
Geburt zugegen war. Den leichtgläubigen Eltern zu erklären, das Kind sei zu 
früh und nur in Folge dessen todtgeboren, ist für die Pfuscherin ebenso 
bequem als vortheilhaft. Die Eltern sind beruhigt, nach ihrer Ansicht von der 
Anmeldepflicht frei, die Sache kommt zu keinerlei amtlicher Cognition and die 
Pfuscherin kann nach wie vor erzählen, dass ihr von den „ausgetragenen“ 
Kindern, die sie gehoben habe, „kein einziges“ in der Geburt gestorben sei. 



Hebammen und Pfuscherinnen. 


549 


rend von den 2492 ländlichen Geburten 1421 mit, 1071 = 42,9 °/o 
ohne Hebammenbeistand verlaufen waren. 

In Bezug auf die geographische Vertheilung der Hebammen¬ 
pfuscherei zeigte sich sofort, dass in zwei getrennt liegenden 
Gegenden des Kreises in einer grösseren Zahl von Ortschaften nur 
selten eine Hebamme thätig gewesen war. In diesen beiden Be¬ 
zirken, in welchen bekannte Pfuscherinnen ihre Wirksamkeit ent¬ 
falten, kamen von 271 Entbindungen nur 57 auf Hebammen, da¬ 
gegen 214 (=79 °/o) auf Pfuscherinnen. 

Um in meinen weiteren Erörterungen verständlich zu sein, 
bedarf es zunächst einiger Angaben über einzelne spezielle Ver¬ 
hältnisse des Kreises. Die ca. 31000 ausschliesslich ackerbau¬ 
treibenden ländlichen Einwohner des Kreises sind auf ca. 13,5 
Quadratmeilen und 282 Ortschaften vertheilt. Unter diesen „Ort¬ 
schaften“ befinden sich 46 Güter mit mehr als 1000 Morgen und 
37 dazu gehörige Vorwerke, 30 selbstständige Güter mit weniger 
als 1000 Morgen und 113 Bauerndörfer. Unter letzteren darf man 
sich jedoch keine Dörfer vorstellen, wie sie in westlichen Provinzen 
bestehen. Geschlossene grössere Dörfer sind hier Ausnahmen; 
meistens liegen die eine politische Gemeinde, ein Dorf, bildenden 
Grundstücke mitten auf ihren Ländereien „ausgebaut“ weit aus¬ 
einander. Die Arbeit in allen landwirthschaftlichen Betrieben, auf 
Gütern sowohl wie in Bauernwirthschaften, wird zum weitaus 
grössten Theil durch fest engagirte Knechte und Gärtner (alias 
Instleute) verrichtet, welche neben freier Wohnung und freiem 
Brennwerk ein festes Baargehalt und die verschiedensten Natural¬ 
lieferungen erhalten. Meist nur zur Aushülfe während drängender 
Arbeitszeit werden freie Arbeiter, Tagelöhner, zum Unterschiede 
von Instleuten „Losleute“ genannt, herangezogen. Diese wohnen 
in den Dörfern zur Miethe, stehen in keinerlei festem Lohnverhält- 
niss und übernehmen Arbeiten, wie und wo sie sich ihnen bieten. 
Im Allgemeinen sind die in festem Lohn und Brot stehenden Inst¬ 
leute wesentlich besser situirt, wie die Losleute. Der Rückhalt, 
den sie an wohlwollenden Brotherren haben, die Fürsorge und 
Hülfe, die ihnen durch Rath und That von diesen event. durch 
Vorschüsse zu Theil wird, und die Sicherheit ihrer Stellung lässt 
sie als weit bevorzugter erscheinen, wie die in jeder Hinsicht auf 
sich allein angewiesenen Losleute. Zu berücksichtigen ist aber, 
dass in einem Punkte die Instleute der Bauern wesentlich anders 
situirt sind, als die Gutsinstleute. Auf allen grossen und auch 
auf einzelnen kleineren Gütern erhalten die Instleute freie ärzt¬ 
liche Behandlung und fast durchweg auch freie Medizin, während 
ein Bauer Arzt- und Medizinkosten für seine Leute nur höchst 
ausnahmsweise trägt, solche vielmehr im besten Falle nur veraus¬ 
lagt und vom Lohn abzieht. 

Hiernach ist im Allgemeinen der Gutsarbeiter als der best- 
situirte, der Instmann beim Bauern als der minder versorgte und 
der Losmann als der unvermögendste unserer ländlichen Arbeiter 
anzusehen. 

Wenn nun die Annahme, dass vorwiegend gerade die 



550 


Dr. Salomon. 


ärmsten Frauen von Pfuscherinnen entbunden werden, richtig 
ist, dann muss nach dem Gesagten die Statistik ergeben, dass auf 
den Dörfern das Pfuscherthum mehr in die Erscheinung tritt, als 
auf den Gütern. Und die Wahrscheinlichkeit dafür wird noch 
durch einen anderen Faktor erhöht. Das ist die Fuhrwerksfrage. 
Bei der meist nicht unerheblichen Entfernung bis zur Hebamme 
und bei der Menge von Utensilien, die eine Hebamme heute mit 
sich zu führen hat, ist die Gestellung eines Fuhrwerks für diese 
in der Mehrzahl der Fälle erforderlich. Auf den Gütern hat die 
Erlangung von Fuhrwerk für die Leute keine Schwierigkeit, bei 
den Bauern, die sich das Fuhrwerk von ihren Arbeitern überdies 
oft noch bezahlen lassen, liegt die Sache schon erheblich schwie¬ 
riger. Die meisten Bauernpferde sind mehr oder minder werthvolle 
Zuchtstuten, die der Besitzer nicht leicht einem Knecht anvertraut 
und die in tragendem Zustande resp. wenn sie noch junge Fohlen 
haben, sehr geschont werden müssen, so dass zeitweise der Bauer 
thatsächlich nicht in der Lage ist, Fuhrwerk zu geben. Am 
schlimmsten sind die Losleute und ärmeren Handwerker daran: 
denn sie müssen das oft sehr schwierig zu erlangende Fuhrwerk 
ausnahmslos bezahlen oder die Kosten dafür „abarbeiten“. 

Die Zusammenstellung der Geburten nach Gütern und Bauern¬ 
dörfern hat nun ergeben: 

1. Güter mit mehr als 1000 Morgen: 

749 Geburten, davon 373 mit, 376 (= 50,2 °/o) ohne Hebamme, 

2. Güter mit weniger als 1000 Morgen: 

150 Geburten, davon 80 mit, 70 (= 46,3 °/o) „ „ 

3. Bauerndörfer: 

1593 Geburten, davon 968 mit, 625 (= 39,2 °/o) „ „ 

2492 T42T 107 f 

Da aber wegen der später zu erwähnenden besonderen Ver¬ 
hältnisse in zwei Bezirken 271 Geburten in Bauerndörfern bei 
Nr. 3 abgezogen werden müssen, gestaltet sich das Verhältniss 
für die letzteren noch günstiger, nämlich von 
1322 Geburten in Bauerndörfern, davon 911 mit, 411 (=32,4 °/o) 

ohne Hebamme. 

Die Statistik hat also das direkte Gegentheil von dem er¬ 
wiesen, was man nach allgemeinen Gesichtspunkten anzunehmen 
berechtigt war. 

Um nun weiter nachzuforschen, welche Stände sich haupt¬ 
sächlich der Pfuscherinnen bedienen, habe ich sämmtliche Geburten 
in Bauerndörfern nach folgenden Rubriken gruppirt: 

L Besitzer, Geistliche, wohlhabende Kaufleute mit eigenem 
Fuhrwerk und sonstige gut situirte Berufsarten. 

II. Eigenkäthner, Lehrer, bessere Handwerker, Gendarmen, 
Briefträger etc. 

III. Instleute. 

IV. Tagelöhner (Losleute), arme Handwerker und ähnl. 

V. Unverehelichte. 

Es hat sich ergeben, dass 



Hebammen and Pf ascherinnen. 


551 


von 433 Geburten zu I 292 mit, 141 (=32,5 %) ohne Hebammen¬ 


396 

n 

. II 246 , 

160 (=38,1 .) . 

beistand 

329 

n 

, III 191 , 

138 (=41,9.) „ 

7t 

305 

T) 

. IV 173 „ 

132 (=43,2 .) , 


130 

y> 

. V 66 „ 

64 (=49,2 .) , 



verlaufen sind. 

Zwar zeigt sich bei dieser Zusammenstellung die prozentuale 
Zunahme der Pfuscherinnenthätigkeit im umgekehrten Verhältniss 
zur Wohlhabenheit, aber der Unterschied in den verschiedenen 
Wohlhabenheitsklassen ist doch ein ganz auffallend geringer und 
die absoluten Zahlen sind in hohem Grade überraschend. Die 
Klassen I und II können nur in ganz ausnahmsweisen Fällen 
wegen Armuth die Pfuscherinnen den Hebammen vorziehen und 
doch sind 291 Geburten dieser Leute ohne t^Hebammenbeistand 
verlaufen = 46,6 % der Gesammtsumme der Pfuscherinnengeburten, 
während die drei ärmsten Rubriken zusammen in 334 Fällen 
Pfuscherinnen zugezogen haben = 53,4 % der Gesammtsumme. 

Von 100 durch Pfuscherinnen geleitete Geburten kommen: 
je 22,6 auf Klasse I, 

71 24,0 y, „ n, 

„ 22,1 „ „ m, 

, 21,1 „ „ IV, 

* 10,2 „ „ V. 

Da diese Berechnung sich auf sämmtliche Geburten in Bauern¬ 
dörfern mit Einschluss der erwähnten beiden Bezirke, in welchen 
bekannte Pfuscherinnen gewerbsmässig ihr Wesen treiben, bezieht, 
so war es wichtig, noch eine besondere Aufrechnung der qu. Be¬ 
zirke einerseits und der übrigen Bauerndörfer andererseits zu 
machen. 

Dass in den beiden Bezirken ganz abnorme Verhältnisse 
bestehen, erhellt aus folgenden Angaben: Einer im Jahre 1879 
wegen fahrlässiger Tödtung mit 6 Monaten Gefängniss bestraften 
Hebamme wurde das Prüfungszeugniss entzogen. Sie erschien in 
Folge ihrer Bestrafung dem Publikum als Märtyrerin und wurde 
mehr wie früher zu Geburten zugezogen. Sie verstand es auf die 
raffinirteste Weise, sich immer mehr Praxis zu verschaffen und die 
benachbarten Hebammen durch alle möglichen Chikanen und Ver¬ 
dächtigungen aus dem Felde zu schlagen, so dass der Bezirk ihrer 
Thätigkeit sich stetig vergrösserte. Als ich im Mai 1888 die Ver¬ 
waltung des Physikats übernahm, ging ich gegen sie vor, jedoch 
sind die Bestraftingen durch das Schöffengericht am 9. Okt. 1888 
mit 50, am 2. April 1889 mit 60, am 26. Mai 1891 mit 100 Mk. 
ohne Effekt geblieben. Ja, es hat sogar den Anschein, als wenn 
sie mit jeder neuen Bestrafung an Popularität gewinnt. Denn als 
ich im Mai vorigen Jahres in dortiger Gegend die Anstellung einer 
Hebamme gegen eine jährliche Unterstützung von 100 Mark er¬ 
wirkte, war es nicht möglich, sie im Wohnorte der Pfuscherin 
zu stationiren, weil ihr Niemand eine Wohnung vermiethete. Trotz 
fulminanter Kreisblattverfügung, Instruktion der Amts- und Ge¬ 
meindevorsteher, der Gendarmen etc. hat die Pfuscherin nach wie 



552 


Dr. Salomon. 


vor Geburten geleitet, und die in diesem Jahre am 7. März erfolgte 
neuerliche Bestrafung mit 200 Mark wird vielleicht auch erfolglos 
sein. — In einer anderen Gegend hat eine frühere Hebamme sich 
ihre Praxis dadurch angenehmer gestaltet, dass sie ihr Zeugniss 
abgeliefert und ihren Beruf offiziell niedergelegt hat. Sie hat sich 
dadurch in die günstige Lage versetzt, Praxis mit Auswahl treiben 
zu können, indem sie die Frauen, bei denen nichts zu holen ist, 
abweist. Sie ist den lästigen Bestimmungen der Min.-Verf. vom 
22. November 1888 und des neuen Lehrbuches entgangen und hat 
sich der Kontrole des Physikus auf die einfachste Weise entzogen. 
Ich habe mich auf alle mögliche Weise bemüht, ihr beizukommen, 
doch vergeblich. Gemeinde-, Amtsvorsteher, Lehrer halten die 
Thätigkeit der Frau für segensreich und nehmen sie in Schutz, 
und die Leute ihrer Praxis bezeugen stets, dass ein Nothfall Vor¬ 
gelegen hat und keine „Bezahlung“ erfolgt ist. 

In diesen beiden Bezirken nun sind, wie oben erwähnt, von 
271 Geburten nur 57 von Hebammen geleitet worden, die anderen 
214 vertheilen sich auf die einzelnen Stände, wie folgt: 


I. Besitzer etc. 63 

II. Eigenkäthner etc. 75 

III. Instleute 18 

IV. Losleute 43 

V. Unverehelichte 15 


214 

Nach Ausscheidung dieser beiden Bezirke ergiebt die Berech¬ 
nung für die Bauerndörfer folgende Zahlen: 


I. 

272 Geburten mit Hebamme, 78 ohne (=22,3°/<>) 

n. 

232 

fl 

fl 

. 75 

» (=24,7 , ) 

in. 

188 

y* 

fl 

„ 120 

. (=39,2 ,) 

IV. 

156 

fl 

fl 

* 89 

. (=36,3,) 

V. 

63 

fl 

fl 

* 49 

» (=41,9 „ ) 


Das heisst, die absoluten Zahlen ergeben, dass von 100 durch 
Pfuscherinnen geleitete Entbindungen kommen: 


I. auf Besitzer etc. 19 

II. „ Eigenkäthner etc. 18,1 

III. „ Instleute 29,1 

IV. „ Losleute 21,9 

V. „ Unverehelichte 11,9 

~100 


In diesen Zahlen kann eine Stütze für die Annahme, dass 
in unserem Kreise die Armuth der ländlichen Bevölkerung die 
Hauptursache der ausgebreiteten Hebammenpfuscherei sei, nicht 
gefunden werden. Es war deshalb interessant, mit Hülfe meiner 
Zusammenstellungen nach anderen Ursachen zu suchen. 

Sollte vielleicht die Fuhrwerksfrage eine erhebliche Rolle 
spielen? Erklärlich wäre es, dass zu gewissen Jahreszeiten, etwa 
während der Saatzeit, der Ernte oder im Frühjahr und Herbst 
zur Zeit der schlechtesten Wege die Erlangung von Fuhrwerk 
für die Leute ganz besondere Schwierigkeiten haben und eine 
Rückwirkung auf die Abnahme der Hebammen- und Zunahme der 



Hebammen and Pfnscberinnen. 


553 


Pfuscherinnenthätigkeit haben könnte. Wenn das der Fall ist, 
dann muss die Zusammenstellung der Geburten nach Monaten dieses 
nachzu weisen im Stande sein. Der Uebersicht wegen habe ich 
die in dieser Richtung gewonnenen Resultate in Kurven graphisch 
zum Ausdruck gebracht. 

Die oberste Kurve I giebt die Gesammtziffer aller Geburten im 
Kreise während der beiden Jahre 1890 und 1891, Kurve II die 
Gesammtziffer aller während derselben Zeit ohne Hebammenbei¬ 



stand verlaufenen Geburten und Kurve III die Zahl der Pfusche¬ 
rinnengeburten mit Ausschluss der besprochenen abnormen beiden 
Bezirke. 

Alle 3 Kurven haben im Wesentlichen dieselben Hebungen 
und Senkungen, nur im Januar folgen die Kurven 2 und 3 nicht 
dem steilen Anstieg der Kurve 1, es wäre also dieser Monat in 
den beiden Jahren der für die Hebammen günstigste gewesen. 






554 


Dr. Salomon. 


Weitergehende Schlussfolgerungen hieraus zu ziehen, halte ich für 
bedenklich, da in den übrigen Monaten die Uebereinstimmung der 
Kurven eine zu konstante ist. 

Ich legte mir ferner die Frage vor, ob es nicht vielleicht 
hauptsächlich die Nachtgeburten sein könnten, bei denen Pfusche¬ 
rinnen thätig sind. Denkbar wäre es, dass, abgesehen von der 
ohnehin vermehrten Schwierigkeit, in der Nacht Fuhrwerk zu 
erlangen, finstere Nächte, zumal bei schlechten Wegen, die Heran¬ 
ziehung der Hebammen in besonderem Grade erschweren könnten.— 
Die Sonderung der Geburten in Tag- und Nachtgeburten ist natür¬ 



lich eine willkürliche und hat nur bedingten Werth. Denn zu 
vielen Geburten, die in der Nacht beendet sind, waren die Helfe¬ 
rinnen bereits am Tage geholt worden und umgekehrt. Ich habe 
alle Geburten, die in der Zeit von 8 Uhr Morgens bis 10 Uhr 
Abends beendet waren, als Taggeburten, die anderen als Nacht¬ 
geburten rubrizirt. 

Nach dieser Eintheilung sind von den 2492 ländlichen Ge¬ 
burten 1462 (= 58,6 %) als Taggeburten und 1030 (=41,4 °/o) 
als Nachtgeburten anzusehen. 








Hebammen und Pfuscherinnen. 


555 


Das Verhältniss von Tag- zu Nachtgeburten stellt sich bei 
Hebammen und Pfuscherinnen fast vollkommen gleich. Denn es 
verliefen 

von Hebammengeburten (in Summa 1421) 

838 = 58,9 % bei Tage, 

583 = 41,1 °/o bei Nacht; 
von Pfuscherinnengeburten (in Summa 1071) 

624 = 58,3 °/° bei Tage, 

447 = 41,7 °/o bei Nacht. 

Schliesslich habe ich mir noch eine Zusammenstellung der 
Geburten aus den Ortschaften gemacht, welche Sitz einer Heb¬ 
amme sind. Ich erwartete, dass in diesen — ebenso wie in der 
Stadt — von Ptuscherthum keine Rede sein würde. Doch auch 
hier zeigte sich, dass bei 25,7 °/o der stattgehabten Geburten 
eine Hebamme nicht zugegen gewesen war, denn von 241 Ge¬ 
burten waren nur 179 von solchen geleitet worden, 62 von 
Pfuscherinnen. 

Wenn ich nun alle meine Zahlen und Tabellen, die ich durch 
meine Arbeit gewonnen habe, überblicke, so scheint mir vor Allem in 
ihnen der objektive und einwurfsfreie Beweis zu liegen, dass im 
hiesigen Kreise die Mittellosigkeit der Gebärenden nur zum Theil das 
Pfuscherthum erzeugen und unterhalten kann. Ich vermeide ab¬ 
sichtlich, um nicht spitzfindige Statistik zu treiben, eine besonders 
pointirte Gegenüberstellung und Gruppirung der Zahlen und hebe 
nur ganz ausdrücklich die nackte Thatsache hervor, dass 291 
Bauern, Eigenkäthner etc. Hebammen verschmäht haben, dass 376 
Mal Pfuscherinnen auf unseren grössten und reichsten Gütern und 
70 Mal auf den kleineren Gütern thätig gewesen sind. Diese 
Zahlen sprechen eine zu laute Sprache, als dass sie überhört 
werden könnte. 

Woher kommt es, dass gerade die grossen alten Güter ein 
so günstiges Feld für die Pfuscherinnenthätigkeit liefern? Meiner 
Ansicht nach datier, dass viele alte Frauen daselbst bei den Leuten 
ein viel grösseres Vertrauen geniessen, als die Hebammen und weil 
die Hülfeleistung jener Frauen bei Entbindungen seitens der Guts¬ 
herren, Administratoren, Inspektoren etc. eine mehr oder minder 
stillschweigende oder offenkundige Begünstigung erfährt. Die 
erstere Thatsache darf nicht auffallen. Jedes Gut hat mehrere 
zum Theil hochbetagte würdige Altsitzerinnen, die über genügend 
freie Zeit verfügen, um anderen Menschen in allen Lebenslagen 
mit Rath und That beizustehen und namentlich ersteren, gleichviel 
ob aufgefordert oder unaufgefordert, reichlich zu spenden. Ueber 
einen reichen Schatz wunderlichster Erfahrungen gebietend, sind 
sie um „gute“ Rathschläge nie verlegen und werden von den 
jüngeren Generationen ihrer immensen Klugheit wegen angestaunt, 
zumal vermeintliche ausgezeichnete Erfolge der guten Rathschläge 
oft genug eingetreten — oder wenigstens erzählt sind. So kommt 
es, dass die jüngeren Frauen, die vielleicht schon als Kinder zu 
der alten „Tante“ ehrfurchtsvoll aufgeblickt haben, ein unbe¬ 
grenztes Vertrauen zu ihr haben und sich in der schweren Stunde 



666 


Dr. Salomon. 


sicherer in ihrer Hand, als in der einer unbekannten Hebamme 
wähnen. Sehr viele Pfuscherinnen lügen bei Vernehmungen sicher 
nicht, wenn sie angeben, dass sie auf’s Dringendste um ihre Hülfe- 
leistung gebeten worden sind. Anfangs sind sie im Gefühl ihrer 
Unkenntni88 und Unsicherheit den Bitten wohl nur mit Wider¬ 
streben gefolgt, dann hat die Eitelkeit nachgeholfen und schliess¬ 
lich hat sich in ihnen der Glaube an ihre Kunst und an ihre Uent- 
behrlichkeit so festgesetzt, dass sie sich aufrichtig für erhabene 
Wohlthäterinnen ihrer Mitmenschen halten. Und fragt man die 
Wöchnerinnen, wie sie sich bei solchen Wohlthaten stehen, so 
schwören sie hoch und theuer, dass die Tante ihnen Alles viel 
besser macht, als die rauhe Hebamme, „die sie einmal gehabt haben, 
aber nie wieder.“ Welche unnützen Umständlichkeiten macht doch 
eine solche Hebamme! Da soll ganz reine Wäsche vorgesucht 
werden, während die schmutzige doch gut genug ist, um durch 
Blut, Fruchtwasser, Urin etc, noch schmutziger gemacht zu werden; 
die Tante legt praktischerweise ein altes Schaffell unter das 
Laken, die Hebamme will goldreine frische Wäsche zur Unter¬ 
lage; die „feine“, mit weisser Schürze sich „aufspielende“ Heb¬ 
amme muss so und so viele Schüsseln mit Wasser haben, um sich 
alle Augenblicke zu waschen und „verstänkert“ noch dazu die 
ganze Stube mit „Kambol“, während die anspruchslose gute Tante 
sich die Finger einfach an der Schürze abwischt oder allenfalls 
über dem Patscheimer sich etwas Wasser über die Finger giessen 
lässt. Und dazu dieses ewige Untersuchen der Hebamme, durch 
das man nur zu Schanden gemacht wird! Wenn die Nachgeburt 
da ist, dann kommt die Hebamme und wäscht die frierende Frau 
womöglich mit dem kalten Karbolwasser: Die Tante nimmt ein 
altes Handtuch hinter dem Ofen vor, wischt unter dem Deckbett, 
ohne zu entblössen, alles hübsch trocken und lässt die Wöchnerin 
schlafen. Und wozu all’ die Quälerei? Nur damit die Hebamme 
bezahlt und der Gutsherr zweimal um Fuhrwerk gebeten werden 
muss! Solche Schilderungen muss man in allen Variationen wieder¬ 
holt gehört haben, um zu verstehen, dass die Pfuscherinnen vielen 
gebärenden Frauen weit sympathischer sind, als die Hebammen. 

Die Konnivenz der Gutsverwaltungen gegenüber den 
Pfuscherinnen erklärt sich in erster Linie daraus, dass diese keine 
Fuhrwerke gebrauchen. Wenn es auch zweifellos in unserem 
Kreise keine Gutsverwaltung giebt, die einer kreissenden Frau das 
Fuhrwerk verweigern würde, so ist es doch sattsam bekannt, 
dass die Hergabe von Fuhrwerk nicht gerade gern geschieht und 
durchweg mehr als Gefälligkeit, wie als Verpflichtung angesehen 
wird. Die vielen Kinder mit ihren häufigen Infektions- und ande¬ 
ren Krankheiten sind ohnehin schon auf den Gütern eine Last, 
und es ist gar nicht auffallend, dass die Frauen, die alle ein bis 
zwei Jahre schwanger werden und deshalb weniger zur Arbeit 
zugezogen werden können, bei allen Gutsinstanzen (Vorarbeiter, 
Kämmerer, Inspektor, Gutsherr) nicht gerade am besten ange¬ 
schrieben sind, so dass die Bitte um Fuhrwerk manche hämische 
Bemerkung der verschiedenen Vorgesetzten im Gefolge hat. Und 



Hebammen und Pfoecherinnen. 


657 


es liegt positiv in manchen Fällen für den betreffenden Gatten 
das Hauptmotiv dafür, zu seiner Frau eine Pfuscherin zu rufen, 
nur in dem Wunsch, der lästigen Bitten um Fuhrwerk überhoben 
zu sein. Dass den Gutsunterbeamten, welche durch Beschaffung 
von Fuhrwerk nur in ihren Dispositionen gestört werden (— zu dem 
Fuhrwerk gehört auch ein Mensch, eine Arbeitskraft —), die Zu¬ 
ziehung einer Pfuscherin lieber ist, liegt auf der Hand. Und der 
Herr? Nun, er erfährt von der ganzen Sache entweder nichts 
oder erst, wenn Alles vorüber ist. Und wenn der Verlauf ein 
glücklicher war, hat er keinen Grund, unzufrieden zu sein. 

Man sollte meinen, es könnte nicht schwer sein, die gebildeten 
Gutsherren von dem verderblichen Einfluss der Pfuscherinnen zu 
überzeugen, unter Hinweis auf den heute feststehenden Erfahrungs¬ 
satz „je weniger Hebammen, desto mehr Pfuscherinnen und desto 
mehi* Todtgeborene“. Wir sind aber bei solchen Einwirkungen in 
der Hauptsache meist auf unsere Ueberzeugung angewiesen und 
können noch wenige strikte und zahlenmässige Beweise bei- 
bringen. Der betreffende Gutsherr, den wir für die Hebamme 
erwärmen wollen, hat vielleicht zufällig ungünstige Erfahrungen 
gemacht, indem trotz Hebammenhülfe einige Todtgeborene und bei 
Ptusclierinnenbeistand nur Lebendgeborene auf seinem oder einem 
Nachbargut zu verzeichnen waren. Und da er ausserdem die 
Gewissheit hat, dass die bei ihm als gefährliche Pfuscherin dis- 
kreditirte Person eine herzensgute Frau ist, die absolut nicht aus 
Gewinnsucht, sondern aus reinster Gefälligkeit und Nächstenliebe 
ihre Hülfe gewährt, so ist er nicht ganz leicht zu überzeugen, 
zumal dann nicht, wenn die nächste Hebamme eine weise Frau 
von zweifelhafter Qualität ist. 

Dem Blühen des Pfuscherthums auf den Dörfern müssen zum 
Theil noch andere Ursachen zu Grunde liegen, wie auf den Gütern. 
Fassen wir zunächst einmal die 291 Pfuscherinnengeburten bei 
Bauern etc. in’s Auge. Weshalb können sich solche Frauen mehr 
zu Pfuscherinnen hingezogen fühlen, als zu den Hebammen? Die 
Gründe können sehr verschiedenartige sein. Oft genug werden 
bei der Wahl zwischen Pfuscherin und Hebamme rein persönliche 
Beziehungen entscheiden, Sympathien oder Antipathien, die mehr 
oder weniger in Zufälligkeiten begründet sind, häufiger aber wird 
der Pfuscherin deshalb der Vorzug gegeben, weil von ihr die 
Meinung besteht, dass sie sich mehr „Mühe“ giebt, als die Hebamme. 
Mag die „Mühe“ nun nach rein äusserlichem Gebahren und Gethue 
oder nach der Zeit, die der Kreissenden oder Wöchnerin gewidmet 
wird, abtaxirt werden, — in beiden Beziehungen sind einzelne 
Pfuscherinnen gewiss manchen Hebammen überlegen. Sie suchen 
sich den Eigenheiten der Kreissenden, die sie vielleicht von per¬ 
sönlichem Umgang her sehr genau kennen, mehr anzupassen, 
widersprechen vielleicht und verlangen nicht so viel, wie die Heb¬ 
amme und bleiben Tage lang bei der Wöchnerin, während die 
gewissenhafte Hebamme hie und da den oft falschen Wünschen 
der Gebärenden weniger nachgeben darf, sich nach Beendigung 
der Geburt bald fortbegiebt und wegen zu grosser Entfernung nicht 



558 


Dr. Salomon. 


weiter nach ihr sieht. Neben manchen persönlichen Vorzügen 
aber, die einige Dorf-Pfuscherinnen immerhin haben mögen, kommt 
bei den gewerbsmässig thätigen ein grosses Raffinement in Be¬ 
tracht, mit dem sie gegen die Konkurrenz der Hebammen an¬ 
kämpfen. Welche Verdächtigungen und Verleumdungen bringen 
sie gegen diese in Umlauf und wie willige Ohren finden sie bei 
den alten Weibern, die bei jeder Kreissenden in so grosser Zahl 
herumlungern und die ein wahrer Fluch für die armen Hebammen 
sind! Die ältere, sicher auftretende Hebamme hat wohl die nöthige 
Autorität, sie aus dem Gebärzimmer zu entfernen, aber die weniger 
erfahrene jüngere weiss sich ihrer nicht zu erwehren und empfindet 
die misstrauischen Blicke und kritisirenden Meinungsäusserungen 
als quälendes Alpdrücken. Was Wunder, wenn sie sich unter 
solchen Umständen hie und da Blossen giebt und vor den weib¬ 
lichen Dorfweisen keine Gnade findet. Und diese gerade machen 
in unzähligen Fällen das Renommö einer Hebamme, weniger die 
Gebärenden. Die gewissenhafte Hebamme, die sorgsam in allen 
Fällen, die sie nicht sicher zu beurtheilen weiss, den Arzt 
zuzieht, ist in ihren Augen die schlechteste, denn „die versteht 
nichts“. Deshalb hat so mancher Arzt schon armen Hebammen 
durch seine Vorwürfe, dass er unnütz geholt sei etc., sehr viel 
geschadet und ohne es zu ahnen, dem Pfuscherthum Vorschub ge¬ 
leistet! Möchte doch jeder Kollege sich zum Grundsatz machen, 
allen Tadel den Hebammen niemals anders als unter vier Augen 
auszusprechen und sie ausnahmslos wegen seiner Hinzuziehung vor 
den Anwesenden möglichst zu beloben, auch wenn Alles in der besten 
Ordnung und seine Hülfe nicht erforderlich ist. 1 ) 


*) In früheren Jahren erhielten hier die Aerzte, wenn sie zu einer Ent¬ 
bindung gerufen wurden, nur sehr ausnahmsweise von der Hebamme eine schrift¬ 
liche Benachrichtigung. Und wenn eine solche kam, so enthielt sie gewöhnlich 
nur die Worte „Bitte ärztlichen Beistand zur Entbindung, es geht sehr schwer, 
es geht nicht vorwärts“ oder ähnliches. Ich selbst bin zuweilen in die Welt hin¬ 
eingefahren, ohne überhaupt zu wissen, dass es zu einer Entbindung ging. Die 
Folge davon war die, dass man unter fünf Mal mindestens zwei Mal umkehren 
musste, weil unterwegs, zuweilen ganz dicht vor dem Ziel, der stereotype reitende 
Bote mit der Nachricht kam, dass das Kind bereits da sei. Der Aerger war 
natürlich gross, oft um so grösser, als für solche Fahrten ein Honorar nur in 
den wenigsten Fällen zu bekommen war. Diese Uebelstände habe ich dadurch 
sehr wirksam beseitigt, dass ich mir Zettel, wie nachstehend, drucken Hess und 
sie mit der Erklärung an die Hebammen vertheilte, dass die Aerzte des Kreises 
sich verabredet hätten, nur dann einer Bitte um Beistand zu folgen, wenn sie 
in Form eines gewissenhaft ausgefüllten Zettels ergehe. Das hat ausgezeichnet 
gewirkt. Die Hebammen liefern sachgemässe Berichte, die sie zum Nachdenken 
zwingen und damit ein planloses Herbeiziehen des Arztes verhindern, die Aerzte 
brauchen in vielen Fällen, z. B. bei alten Primiparen, sich nicht zu übereilen, und 
der reitende Bote ist ausser Mode gekommen. 

Entbindung in . 

.Frau.Jahre alt. 

Wievielte Entbindung der Frau?. 

Beginn der Wehen um . . Uhr am . . ton.. 

Abfluss des Fruchtwassers um . . Uhr. 

Kindcslage?. 









Hebammen und Pfuscherinnen. 


559 


Bei Beurtheilung der Ursachen für die Zurücksetzung der 
Hebammen speziell bei der bäuerlichen Bevölkerung sind nun noch 
einige andere Momente in Betracht zu ziehen, die in der Eigenart 
unseres litthauischen Bauers liegen. Es ist nämlich eine von 
altersher tief eingewurzelte Eigentümlichkeit desselben, wo nur 
immer möglich nicht mit Geld, sondern mit Naturalien zu zahlen 
und bei Allem, was er sich beschaffen muss, nicht auf Qualität, 
sondern auf Billigkeit zu sehen. Dieser Gewohnheit passt sich die 
Pfuscherin bestens an, denn sie verlangt gar kein Geld, nimmt 
nach und nach Naturalien im dreifachen Werthe des einer Heb¬ 
amme zustehenden Honorars und gönnt dem Bauern gern das be¬ 
glückende Gefühl, eine recht billige Hülfe gehabt zu haben. Es 
kommt nun öfter vor, dass auch einer Hebamme diverse Naturalien 
angeboten werden, die sie gern annimmt und für einen sichtbaren 
Ausdruck der Dankbarkeit ansieht, ohne daran zu denken, dass sie 
damit bezahlt werden soll. Wenn sie nachher aber ganz unbe¬ 
fangen und rein geschäftlich ihr Honorar verlangt, dann giebt’s 
einen Krach und der Bauer verschreit sie in der ganzen Umgegend 
als eine höchst unverschämte Person. Unsere Bauern sind über¬ 
haupt in mancher Beziehung Sonderlinge und stellen ein grosses 
Kontingent zu derjenigen Klasse von Menschen, die in allen Lebens¬ 
lagen ein durch Sachkenntnis getrübtes Urtheil perhorresziren. 
Aus grenzenlosem Misstrauen und der Furcht, betrogen zu werden, 
bevorzugen nicht wenige von ihnen in allen Branchen prinzipiell 
die Dii minorum gentium, gehen viel lieber zum Winkelkonsulenten, 
als zum Rechtsanwalt, halten den faulsten Kurpfuscher für viel 
klüger als den Arzt, benutzen auf allen Bureaus möglichst die 
Hintertreppen, kaufen viel lieber vom Hausirer, als aus einem 
reellen Geschäft, wenden sich bei Geldnoth weit eher an den 
schlimmsten Wucherer, als an einen anständigen Menschen etc. etc. 
In Folge dessen ist die Wahl einer Hebammenpfuscherin statt 
einer Hebamme bei so manchen Bauern nichts anderes als reine 
Prinzipientreue. — 

Aus meinen Zahlen und Betrachtungen dürfte zur Genüge 
hervorgehen, dass die wahren Ursachen der Hebammenpfuscherei 
auf dem Lande zum Theil weit verstecktere und komplizirtere 
sind, als vielfach angenommen wird und dass neben der Mittellosig¬ 
keit der Leute der Unverstand derselben mindestens ebenso schwer 
in die Wagschale fällt. Ich bin überzeugt, dass die Ursachen je 
nach lokalen Verhältnissen ausserordentlich variiren und vielleicht 
nicht in zwei Kreisen — geschweige denn in weiten Gebieten 
einer ganzen Provinz — die gleichen sind. 

Es müssen daher meiner Ansicht nach die von unserer ost- 
preussischen Aerztekammer angeregten Abhülfemassregeln bei ein- 


Wehenthätigkeit?. 

Besonders za erwähnende Umstände (Blatangen, Ohnmächten etc.) 
Aerztliche Hülfe ist verlangt um . . Uhr. 


Hebamme. 








660 


t>r. Salomon. 


heitlicher Durchführung in verschiedenen Gegenden der Provinz 
auch sehr verschiedene Erfolge zeitigen. Die Aerztekammer bat 
sich in ihren Sitzungen vom 9. Mai 1891 und 1. Juli er. für 

1. eine schärfere Verfolgung des Pfuscherunwesens, 

2. die Heranziehung besser qualifizirter Schülerinnen und 

3. die einheitliche Einführung einer erhöhten Hebammen-Taxe 
ausgesprochen. 

Gegen den ersten Vorschlag dürfte nichts zu erinnern sein, 
nur soll man die Wirksamkeit der Verfolgung nicht zu hoch ver¬ 
anschlagen. Ich selbst bin ein eifriger Verfolger der Pfuscherinnen 
und stelle Strafanträge, wo ich nur kann. Da aber die Strafbarkeit 
der Pfuscherei in drei Monaten bereits verjährt, ist es ausser¬ 
ordentlich schwer, gegen die einzelne Person genügendes Material 
zusammen zu bringen, das die Gewerbsmässigkeit erweist. Und 
in den vereinzelten Fällen, die zur Verhandlung kommen, wissen 
die der Pfuscherin in Dankbarkeit ergebenen Zeugen fast aus¬ 
nahmslos den Nothfall zu konstruiren. Ich rege immer und immer 
wieder meine Hebammen — denn von anderer Seite bekommt man 
überhaupt keine Meldung — zu Anzeigen an, sehe aber nur zu 
deutlich, dass sie neuerdings sehr zurückhaltend geworden sind, 
weil den bisherigen Anzeigen nur relativ selten Bestrafung gefolgt 
ist, 1 ) und weil sie von den freigesprochenen Pfuscherinnen nur 
Hohn und Spott geerntet haben. Es liegt überhaupt eine Zwei- 
schneidigkeit in der Verfolgung. Ich habe oben gezeigt, dass eine 
Pfuscherin hier nach und nach 410 Mark Strafe gezahlt und dennoch 
eine grossartige Praxis hat. Die Bestrafung macht also auf 
das Publikum keinen abschreckenden Eindruck und die Frei¬ 
sprechung einer Pfuscherin dient geradezu als Reklame für sie. 

In den Verhandlungen der ostpreussischen Aerztekammer ist 
auf die Hülfe der Standesbeamten grosses Gewicht gelegt worden. 
Sie sollen bei jeder Geburt die hülfeleistendeu Personen eintragen 
und feststellen. 8 ) Die Feststellungen und Eintragungen können 
natürlich nur dann einen aktuellen Werth haben, wenn sie auch 
möglichst bald zur Kenntniss der exekutiven Behörden gelangen. 
Es würde also unseren ehrenamtlich thätigen Standesbeamten, die 
ohnehin schon über zu viele Arbeit klagen, eine sehr bedeutende 
Mehrarbeit erwachsen. Wäre es nicht praktisch, zunächst den 
Anfang damit zu machen, dass der Standesbeamte verpflichtet 
wird, jeden Todesfall einer Wöchnerin (welche Frauen Wöchne¬ 
rinnen sind, weiss er ja aus den Geburtsregistern) sofort dem 
Kreisphysikus anzuzeigen ? Offiziell bekannt werden bis jetzt doch 
nur die Todesfälle aus der Praxis der Hebammen! 

Es dürfte hier der geeignete Ort sein, einige Bemerkungen 
auch über die Disziplinirung der Hebammen einzuschalten. Welche 
Macht hat der Physikus gegenüber den schlechten und nachlässigen 
Hebammen? Er kann tadeln, Verweise ertheilen, zur Vernehmung 


*) Einmal konnte einer Gntspfuscherin fahrlässige Tod taug nachgewiesen 
werden. Sie bekam 6 Monate Gefängniss. 

*) Durch einfache Nachfragen? Dann würde furchtbar gelogen werden. 
Oder durch Vernehmungen??? 



Hebammen und Pfuscherinnen. 


561 


vorladen, von Entziehung oder Verringerung der jährlichen Re¬ 
muneration sprechen, weiter nichts. Doch ja — er kann mit der 
Beantragung „der härtesten Strafen“ drohen. Aber mit der 
Festsetzung und Vollstreckung solcher hat es gute Wege. Das 
wissen die Hebammen ganz genau, ebenso wie es ihnen nicht un¬ 
bekannt ist, dass bei der Vertheilung der Remunerationen (alias 
Unterstützungen) der Physikus nur berathende Stimme hat. 1 ) Frei¬ 
lich kann einer Hebamme die Konzession entzogen werden. Mit 
welcher Wirkung ? das illustrirt die Hauptpfuscherin meines Kreises. 
Kurz und gut, mit den Disziplinarmitteln ist es traurig bestellt, 
man ist in der Hauptsache auf seinen rein persönlichen Einfluss 
beschränkt, leider zum Schaden der Sache. Der Physikus müsste 
weit mehr einerseits der stützende wohlwollende Berather seiner 
Hebammen mit selbstständiger Disposition über einen Theil des 
Unterstützungsfonds, auf der anderen Seite aber auch der mit 
positiver Strafgewalt befugte Vorgesetzte sein und nicht nur so 
heissen. 

Der zweite Vorschlag der Aerztekammer bezieht sich auf 
die Heranziehung besser qualifizirter Schülerinnen. Auch darüber 
herrscht wohl allgemeine Einstimmigkeit, dass unser Hebammen¬ 
wesen in erster Linie nur durch Aufbesserung des Hebammen- 
ersatzes gehoben werden kann. Die Königliche Regierung sieht 
als ein Hauptmittel zur Erreichung dieses Zweckes die Einrichtung 
des Bezirkshebammenwesens an. Dass aber ein Bezirkshebammen¬ 
gehalt von ca. 30 Mark und die Anwartschaft auf eine minimale 
Pension sollte im Stande sein können, bessere Stände, als bisher, 
dem Hebammenberufe zuzuführen, das glaube ich nicht. Ebenso 
glaube ich nicht, dass unsere freien Hebammen, wenn sie plötzlich 
zu Bezirkshebammen mit 80 Mark Gehalt avanciren, fortan mehr 
arme Frauen als bisher unentgeltlich entbinden werden. Ich halte 
vielmehr hier das Bezirkshebammenwesen in der Hauptsache nur 
für ein werthvolles Mittel, um dem Hebammenmangel entgegen zu 
wirken. 

Die Aerztekammer meint in ihrem dritten Vorschläge, der 
einheitlichen Einführung einer erhöhten Hebammentaxe, das ge¬ 
eignetste Mittel zur Aufbesserung der materiellen Lage des Heb¬ 
ammenstandes gefunden zu haben. Für meinen Kreis muss ich die 
Wirksamkeit dieses Mittels entschieden in Abrede stellen und 
glaube in der vorstehenden Abhandlung genügendes Material zum 
Beweise dafür niedergelegt zu haben, dass unsere Hebammen, 
wenn sie nach einer höheren Taxe liquidiren wollten, sich nur 
noch unpopulärer machen würden, als sie jetzt schon sind. Dass 
sie übrigens bei wohlhabenden Leuten ein zu geringes Entgelt 
erhalten, wie es in den Verhandlungen der Aerztekammer betont 


*) Das dürfte doch in den meisten Kreisen anders sein; im hiesigen Re¬ 
gierungsbezirke wenigstens, sowie in meinem früheren amtlichen Wirkungskreise 
sind die Hebammen stets von der zuständigen Behörde in Strafe genommen, so¬ 
bald dies vom Physikus beantragt und gehörig begründet war. Auch die Ver¬ 
theilung und Höhe der Remunerationen wird lediglich von dem Urtheile des 
Physikus abhängig gemacht. Rpd. 



562 


Dr. S&lomon: Hebammen and Pfuscherinnefl. 


wurde, ist hier sicherlich nur auf Ausnahmen beschränkt. Ich 
habe im Gegentheil gefunden, dass in wohlhabenden Häusern die 
Hebammen durch zu hohe Bezahlung verdorben und verwöhnt 
werden. Es ist hier z. B. in den besseren Kreisen in der Stadt 
und auf dem Lande Sitte, den Hebammen nach beendeter Erst¬ 
lingsgeburt (vielfach auch bei den folgenden) 20 Mark zu geben 
und die Wochenbesuche besonders zu honoriren, während den 
Aerzten für Wendungen und Zangengeburten weit geringere 
Honorare gezahlt werden! Solche unverdient hohe Bezahlung 
führt bei dem geringen Bildungsgrad unserer Hebammen leider 
nicht so sehr selten zu jener bekannten, stellenweise geradezu 
widerlichen Ueberschätzung des Werthes ihrer Leistungen. Und 
es ist nicht zum kleinsten Theile gerade die Ungleichmässig- 
keit in der Bezahlung, der Gegensatz der Honorare der Reichen 
und der weniger Bemittelten, als der Grund ihrer allgemeinen 
Unzufriedenheit und ihres unrichtigen Benehmens und Verhaltens 
gegenüber der ländlichen Arbeiterbevölkerung anzusehen. Ueber- 
dies sind die so allgemeinen Klagen der Hebammen mit einer 
gewissen Vorsicht aufzunehmen. In ihren jährlich wiederkehrenden 
Unterstützungsgesuchen klagen alle ohne Ausnahme über zu ge¬ 
ringe Praxis; die verheiratheten klagen, dass sie Männer haben, 
die entweder krank sind oder saufen, die unverheiratheten klagen, 
dass sie keinen Mann haben; die kinderlosen klagen, dass sie 
für die Zeit, wo sie ihrer Praxis nachgehen, fremde Leute zur 
häuslichen Arbeit annehmen müssen, diejenigen mit Kindern klagen, 
dass diese ihnen zu viel kosten etc. etc. Die Klagen werden 
durch das System der jährlichen Unterstützungen gross gezogen 
und wirken, wie ich glaube, in moralischer Beziehung direkt un¬ 
günstig. Welche Hebammen sollen die höchsten Beträge aus dem 
Kreisfonds bekommen? Diejenigen, die am meisten klagen, die 
mit der geringsten Praxis zur Milderung ihrer Nothlage oder die 
mit der grössten Praxis zum Zwecke der Belohnung, der Prämiirung 
tüchtiger Leistungen? Wie verschiedene Gesichtspunkte mögen 
wohl an den verschiedenen Orten bei der Vertheilung massgebend 
sein! Die Hebammen mit der geringsten Praxis mögen zuweilen 
gerade die schlechtesten sein, aber sind die mit der grössten Praxis 
immer die besten? Die sachgemässe Beurtheilung dieser Fragen 
ist jedenfalls schwierig genug, denn über die Einnahmen erfährt 
man nur ganz gelegentlich etwas und die Zahl der gehobenen 
Kinder steht vielleicht manchmal im umgekehrten Verhältniss zur 
Menge der eingenommenen Markstücke. 

Ich gönne meinen Hebammen von Herzen weit grössere Ein¬ 
nahmen, als sie sie jetzt durch ihren dornenvollen Beruf sich 
mühsam erringen, eine Erhöhung der Taxe aber wünsche ich ihnen 
nicht, denn mehr einnehmen würden sie dadurch doch nicht, aber 
sie würden unzufriedener werden. Dagegen möchte ich gern, gern 
im Besitze der nöthigen gesetzlichen Handhaben sein, um ihnen 
ohne Hülfe der Gerichte dasjenige beitreiben zu können, was sie 
nach der heutigen Taxe auch wi/klich verdient haben. 

Wer meinen Auseinandersetzungen bis hierher gefolgt ist, 



Zur Medizinalreform. 


563 


wird sich jetzt zum Schluss vielleicht sehr enttäuscht sehen, wenn 
ich keine Verbesserungsvorschläge mache. Dazu fühle ich mich 
nicht berufen. Ich beschränke mich darauf, vor zu weitgehender 
Generalisirung der Abhülfemassregeln zu warnen und empfehle 
möglichste Spezialisirung nach lokalen Verhältnissen. 


Zur Medizinalreform. 

Die Frage der Medizinalreform wird jetzt mit Rücksicht 
auf die bevorstehende Landtagssession wiederum in erfreulicher 
Weise in den politischen Zeitungen besprochen. Wir bringen nach¬ 
stehend einen von dem Hannoverschen Kourier in der Morgenaus¬ 
gabe vom 2. d. M. gebrachten Leitartikel über die beregte An¬ 
gelegenheit, dessen sachgemässer Inhalt die Leser der Zeitschrift 
sicherlich interessiren wird. 

. „Zum ersten Mal ist von einer politischen Partei — der nationalliberalen 
— in ihr Programm die Forderung einer durchgreifenden staatlichen Medizinal¬ 
reform mit aufgenommen worden, nachdem seit Jahrzehnten im preussischen 
Abgeordnetenhaus bei jeder Session Vertreter der verschiedensten politischen 
Richtungen, wie die Abgeordneten Graf, v. Pilgrim, Langerhans, Virchow 
und Brandenburg, ihre Klagen Ober das Nichtzustandekommen der Medizinal¬ 
reform in Preussen stets vergeblich vorgebracht haben. 

Wenn man sich erinnert, dass schon im Jahre 1877 der jetzige Herr Kul¬ 
tusminister dem Abgeordnetenhause gegenüber als Regierungskommissar die Er¬ 
klärung abgegeben hat, „dass ein vollständiger Plan fttr die Reorganisation der 
Medizinalverwaltung bereits von der wissenschaftlichen Deputation fttr das Me¬ 
dizinalwesen ausgearbeitet sei, so dass das Ministerium hoffentlich bald (1) in 
die Lage kommen werde, diese Vorlage an das Abgeordnetenhaus gelangen zu 
lassen“ — und damit die bei Gelegenheit der Beantwortung der Interpellation 
Douglas, betreffend Massregeln gegen die Cholera, von dem Herrn Kultus¬ 
minister nach 16 Jahren abgegebene Erklärung vom 4. Juli d. J. vergleicht, 
wonach „er sich erst einen dnrehgearbeiteten, brauchbaren und einheitlichen Plan 
fttr die Medizinalreform schaffen müsse, worüber noch mancher Tropfen Wasser 
den Berg hernnterlaufen könne“, — so muss man doch ernstlich fragen, was 
denn eigentlich in der ganzen Zeit geschehen ist in der Angelegenheit der 
preussischen Medizinalreform und an wem diese Stagnation liegt P 

Es ist ja selbstverständlich, dass man eine so tief einschneidende und 
wichtige Reform nicht über das Knie brechen kann und dass eine ganze Reihe 
schwieriger organisatorischer und finanzieller Fragen hierbei zu lösen ist; aber 
innerhalb vier Jahrzehnte — so lange taucht die Frage der Medizinalreform all¬ 
jährlich wieder auf — hätte man doch endlich Mittel und Wege finden können, 
einen festen Plan zu schaffen! Alle unsere Nachbarstaaten fast besitzen eine 
bessere Gestaltung ihres Medizinalwesens, und besonders Sachsen und Hessen 
haben durch Schaffung der neuen Instruktion fttr Bezirksärzte vom Juli 1884 in 
geradezu hervorragender Weise für die gesundheitliche Verbesserung ihrer Lande 
gesorgt, wie man es sachgemässer nicht verlangen kann, ebenso Baden. Warum 
hält man sich in Preussen nicht an jene Vorbilder und sucht unter Anlehnung 
an diese Organisationen etwas Aehnliches zu schaffen f Finanzielle Bedenken 
allein können es doch nicht sein, eine Forderung von etwa 2 Millionen Mark, 
welche sofort vom Abgeordnetenhause bewilligt werden würde, nicht in den Etat 
einzustellen? Der Herr Finanzminister hat selbst zu lange an der Spitze eines 
der grössten Gemeinwesens gestanden, welches sich durch die Trefflichkeit seiner 
gesundheitlichen Einrichtungen auszeichnet, und der Herr Finanzminister ist ein 
zu bewährter Nationalökonom, um nicht zu wissen, dass ein wirksamer Schutz 
gegen Infektionskrankheiten, welche, wie im verflossenen Jahr die Cholera, Handel 
und Gewerbe auf lange Zeit hin völlig lahm legen können, nur bei einer Um¬ 
gestaltung unseres jetzigen unzulänglichen Medizinalwesens möglich ist, damit 



564 


Zur MedizinalrefornL 


die Assanirung von Stadt und Land grössere Fürsorge dnrch die eigens hierzu 
angesteilten Gesundheitsbeamten des Staates erfahren kann, und dass diese 
Mehrausgaben sich reichlich rentiren. 

Vielmehr will es scheinen, dass das Nichtzastandekommen einer Medizinal- 
reform in Preussen in dem Umstande seinen Grund hat, dass an der Spitze der 
Medizinalabtheilung im preussischen Kultusministerium nicht ein Mediziner, son¬ 
dern ein Jurist steht, welcher selbstverständlich nicht das lebendige Interesse 
für eine Medizinalreform haben kann, wie ein Fachmann; ganz abgesehen davon, 
dass ein Jurist sich erst mühsam in die zahlreichen technischen Fragen, welche 
hier in Betracht kommen, hineinarbeiten muss und sie schliesslich doch nicht ao 
beherrschen kann, wie ein Fachmann. Wohl nur allein dem Umstande, dass ein 
Fachmann dem Militär-Sanitätswesen vorsteht, ist es zuzuschreiben, wenn 
dessen treffliche Organisation erst jüngst so recht in den Vordergrund wieder 
trat, als die Civil-Medizinalbehörden auf die Hilfe des Sanitätskorps zurück¬ 
greifen mussten beim Ausbruch der Cholera. Als eine wesentliche Vorbedin¬ 
gung für die Verwirklichung einer Medizinalreform in Preussen erscheint daher 
die Forderung, dass mit den veralteten unhaltbaren Verhältnissen gebrochen und 
einem Fachmanne die Leitung der Civil - Medizinalangelegenheiten übertragen 
werde. Sodann aber bedarf die Frage einer ernstlichen Erwägung, ob nicht aus 
Gründen der Zweckmässigkeit diese Medizinalabtheilung besser vom Kultusmini¬ 
sterium ganz abzutrennen und dem Ministerium des Innern zu unterstellen ist, 
wohin sie ihrem ganzen Wesen nach viel mehr hinpasst, besonders als Gesund¬ 
heitspolizei. 

Vor Allem ungenügend ist die jetzige Stellung der Kreismedizinal¬ 
beamten, welche unter den z. Z. obwaltenden Verhältnissen kaum Gelegenheit 
finden, ihre unter Aufwendung grosser pekuniärer Opfer und Hintenanstellnng ihrer 
Praxis erworbenen Kenntnisse zu verwerthen, und welche für das winzige, nicht 
pensionsfähige Gehalt von 900 Mark eine Arbeitslast zu verrichten haben, welche 
in keinem Verhältnis steht zu der ihnen gewährten — Abfindung; denn von Be¬ 
soldung kann hier kaum die Bede sein. Als besonders charakteristisch mag hier 
noch hervorgehoben werden, dass zur Bewältigung der sehr erheblichen Büreau- 
arbeiten nicht die geringste Beihilfe an Büreaugeldern gewährt, wohl aber eine 
sehr genaue Führung der Registratur verlangt wird. 

Noch ist die Erinnerung an die vorjährige Cholerazeit bei den Kreisphy¬ 
sikern nicht entschwunden, wo äie unter Aufopferung ihrer Praxis, auf welche 
sie doch ausschliesslH* zum Lebensunterhalt angewiesen sind, monatelang ge¬ 
zwungen waren, als tou^lieder der Sanitätskommissionen sanitätspolizeiliche Be¬ 
sichtigungen an ihrem Wohnorte unentgeltlich vorzunehmen und Berichte über 
Berichte zu erstatten, und, ereignete sich wirklich ein Cholerafall in ihrem Be¬ 
zirk, von ihrer Klientel ängstlich gemieden wurden aus Furcht vor Ansteckung. 
Die Nachwehen der vorjährigen Epidemie haben die Medizinal beamten durch den 
Ausfall in ihrer Praxis noch lange zu fühlen gehabt, eine Entschädigung hier¬ 
für haben sie nicht erhalten und auch selbstverständlich nicht erwartet, wohl 
aber bei Hintenansetzung der eigenen Gesundheit wie des Lebens, im Bewusst¬ 
sein treu erfüllter Pflichten gehofft, dass endlich nun an massgebender Stelle die 
längst erwartete und versprochene Reform in Scene gesetzt werden würde. 
Dass die Medizinalbeamten durch die Beantwortung der Interpellation Douglas 
im Abgeordnetenhause am 4. Juli d. J. seitens des Kultusministers nicht gar zu 
hoffnungsvoll gestimmt worden sind bezüglich des baldigen Zustandekommens 
der Medizinalreform, ist erklärlich, und so anerkennend und ehrenvoll der Herr 
Minister sich über die aufopfernde Thätigkeit der ihm unterstellten Medizinal¬ 
beamten aussprach, so wird doch dadurch eine Verbesserung ihrer unhaltbaren 
Stellung nicht erreicht und muthlos müssen sie der Zukunft auch ferner entgegen¬ 
sehen ! Wenn jest ein Kreisphysikus durch Alter oder Krankheit dienstunfähig wird, 
so kann ihm ausnahmsweise sein Gehalt — sit venia verbo — ganz oder 
zum Theil durch besonderes Wohlwollen der Vorgesetzten erhalten bleiben, 
ebenso können auch die Wittwen solcher Medizinalbeamten bis zu 300 H. 
Pension erhalten; man bedenke, welche Beruhigung es für einen auf dem Sterbe¬ 
bette liegenden Kreisphysikus sein muss, der Jahrzehnte lang treu seine Pflicht 
geth&n hat im Dienste des Staates, die Seinon so wohl versorgt zu wissen, und 
doch ist bei Epidemien kein Beamter nebst seiner Familie der Gefahr so aus¬ 
gesetzt wie der Kreisphysikus! 

Aber gerade die vorjährige Gholerazoit hat auch weiteren Kreiseu, als 



Eine Entscheidung zum Taxgesetz in Bezog aof die Berechnung d. Tagegelder. 565 

den Medizinalbeamten, die Augen darüber geöffnet, dass die geschilderten Ver¬ 
hältnisse so nicht länger im Argen liegen bleiben dürfen und dass der preussische 
Bürger und Steuerzahler ebenso wie sein Nachbar in Sachsen, Hessen und Baden 
berechtigt ist zu fordern, dass das Medizinalwesen in Preussen einer durch¬ 
greifenden Reform unterzogen werde, indem durch Anstellung von gut besoldeten 
und pensionsfähigen Gesundheitsbeamten für eine wirksame Hebung der gesammten 
gesundheitlichen Verhältnisse des Staates Sorge getragen werde, und zwar so, 
wie es der Bürger dei dem hohen Stande der Gesundheitslehre verlangen muss, 
eingedenk des Disraelischen Ausspruches: „Die öffentliche Gesundheit ist das 
Fundament, auf welchem das Glück des Volkes und die Macht des Staates 
beruhen.“ 

Nur mit Freude ist es daher zu begrüssen, dass von der Volksvertretung 
selbst in der kommenden Session des Abgeordnetenhauses an die preussische 
Regierung das Verlangen gerichtet werden wird, mit der allseitig als erforder¬ 
lich anerkannten und längst verheissenen Medizinalreform endlich Ernst zu 
machen. Mag man bezüglich der Entstehung und Verbreitung der gefährlichsten 
Infektionskrankheiten ein Anhänger der Koch’schen oder v.Pettcnkofer’schen 
Schule sein, in dem einen Punkt kommen beide Schulen zusammen, dass nämlich 
die beste Abwehr der Infektionskrankheiten, durch welche alljährlich Tausende 
von Menschen dahingerafft werden, die wohl hätten erhalten bleiben können, — 
die Schaffung wirklich guter gesundheitlicher Verhältnisse in Stadt und Land 
ist, und dass zur Erreichung und Erhaltung derselben besondere Gesundheits¬ 
beamte im Staate angestellt werden müssen, welche diese Geschäfte nicht, wie 
bisher, im Nebenamt, sondern im Hauptamt wahrzunehmen haben!“ 

In Nr. 566 der Berliner neuesten Nachrichten wird ferner 
folgende Notiz gebracht: 

„Wie wir vernehmen, soll gegenwärtig im Ministerium der geistlichen etc. 
Angelegenheiten ein Gesetzentwurf betreffend die Organisation der 
Medizinal - Verwaltung und die Elinrichtung einer ärztlichen Standesvertretung 
ausgearbeitet und dem Landtage zur Beschlussfassung vorgelegt werden. Die 
Gruudzüge dieses Gesetzentwurfs sollen folgende sein: Anstellung eines Kreis¬ 
arztes (Physikus) für jeden Kreis mit Besoldung und Pensionsberechtigung; 
soweit seine amtlichen Funktionen es zulassen, würde auch die Ausübung der 
Privatpraxis gestattet sein; Fortfall der bisherigen Kreiswundärzte; Einführung 
von Ortsgesundheitsräthen als kollegialische Behörde ohne Besoldung für diese 
Funktion; Einsetzung von Provinzial - Gesundheits - Behörden und als oberste 
Instanz Einsetzung einer dem Medizinal-Minister unmittelbar unterstellten wissen¬ 
schaftlichen Deputation für das Medizinal - Wesen. — Die Vorsitzenden und die 
ordentlichen Mitglieder der letzteren beiden Körperschaften sollen, soweit sie 
nicht schon Staatsbeamte sind, Besoldung, die ausserordentlichen Mitglieder für 
die Zeit ihrer Funktionirung Diäten erhalten.“ 

Hoffen wir, dass sicli diese Nachricht diesmal als zutreffend 
bewährt! Sie findet eine gewisse Bestätigung durch eine andere, 
soeben von den politischen Zeitungsnachrichten gemachte Mit¬ 
theilung, wonach dem Geh. Ober - Reg. - Rath Dr. Förster im 
Kultusministerium an Stelle des seit längerer Zeit erkrankten Geh. 
Ober-Reg.-Rath Löwenberg das Justitiaramt in der Medizinal¬ 
abtheilung des Ministeriums übertragen ist und dieser Wechsel 
angeblich mit organisatorischen, das Medizinalwesen betreffenden 
und nicht länger aufschiebbaren Fragen zusammenhängt. 


Eine Entscheidung zum Taxgesetz in Bezug auf die 
Berechnung der Tagegelder. 

Mitgetheilt vom Kreisphysikus San.-Rath Dr. Raabe in Kolberg. 

In Nr. 11, Jahrgang 1892 der Beilage zur Zeitschrift für 
Medizinal - Beamte ist eine Entscheidung des Oberlandesgerichts 



566 Eine Entscheidung zum Taxgesetz in Bezug auf die Berechnung d. Tagegelder. 

zu Posen vom 26. März 1893 über die Frage zum Abdruck ge¬ 
bracht, „ob der Medizinalbeamte verpflichtet ist, zur 
Wahrnehmung eines gerichtlichen Termins auch in 
der Nacht eine Reise anzutreten.“ 

Trotz der Entscheidung zu unseren Gunsten, scheint dieselbe 
nicht in allen Landgerichtsbezirken beachtet zu werden und ver¬ 
dient daher wohl nachstehende Entscheidung des Oberlandes¬ 
gerichts zu Stettin veröffentlicht zu werden, um vorkommenden 
Falls den Kollegen zur Richtschnur zu dienen. 

Die Entscheidung ist insofern noch von besonderer Wichtig¬ 
keit, als sie ganz anderartig begründet wird und besonders auf 
die Verfügung des Herrn Reichskanzlers vom 9. April 1881 hin¬ 
weist, während eine Berufung auf diese Verfügung vom Oberlandes- 
gericht Posen als nicht zutreffend zurtickgewiesen ist. 

Zum 20. Mai d. J. Vormittags 10 Uhr in der Sache wider 
St. als Sachverständiger vor das Königliche Landgericht in Köslin 
vorgeladen, hatte ich bereits am 19. Abends die Reise nach dort 
angetreten, um nicht den Zug 5,34 früh von hier benutzen zu 
müssen, um rechtzeitig im Termin erscheinen zu können. 

Ich beanspruchte Tagegelder für 2 Tage, wie sie bisher in 
ähnlichen Fällen anstandslos gezahlt wurden. Zu meiner grossen 
Verwunderung wurden mir diese diesmal nicht bewilligt, son¬ 
dern nur für einen Tag 9 Mark gezahlt, weil von Seiten des 
Königlichen Landgerichts die Anweisung an die Kassenbeamten 
ergangen war, Sachverständigen, auch den ärztlichen, nur für 
einen Tag Tagegelder zu zahlen, wenn die Möglichkeit bestände, 
die Hin- und Rückreise nach Köslin an einem Tage zu machen. 

Auf eine von mir an das König). Landgericht zu K. einge¬ 
reichte Beschwerde, welche ich unter anderem auch durch obige 
Verfügung des Herrn Reichskanzlers zu begründen suchte, erhielt 
ich nachstehenden Bescheid vom 28. Juli d. J.: 

„In der Strafsache wider den Mühlenbesitzer St. zn J. wird der Antrag 
des Sanitätsraths Dr. Baabe zn Eolberg, betreffend die Nachbewillignng von 
9 Mark Diäten abgelehnt. 

Da die Hin- und Rückreise sich an einem Tage sehr wohl bewerkstelligen 
Hess, liegt kein Grand vor, auch noch für einen zweiten Reisetag Diäten zu 
gewähren. Für die eintägige Reise hätte zwar der aus Eolberg schon um 5 Uhr 
34 Minuten früh abgehende Zug benutzt werden müssen, indessen ein solcher 
Zeitpunkt kann insbesondere zur Sommerzeit als ein so frühzeitiger nicht aner¬ 
kannt werden, dass schon die Zureise am Tage zuvor für den Antragsteller 
geboten gewesen wäre.“ 

Hiermit nicht befriedigt, wandte ich mich mit meiner Be¬ 
schwerde an das Königl. Oberlandesgericht zu Stettin, das die¬ 
selbe durch Beschluss vom 31. August als begründet anerkannte 
und den vorstehenden Beschluss des Landgerichts wieder aufhob. 

Das betreffende Urtheil lautet wie folgt: 

„Mit Recht macht der Beschwerdeführer geltend, dass ihm, einem viel 
beschäftigten Arzt und Ereisphysikus, nicht zngemuthet werden könne, um 
4 1 /* Uhr Morgens aufzustehen, und mit dem um 5 Uhr 34 Minuten von Eolberg 
abgehenden Zuge nach Eöslin zu fahren, um den vor dem dortigen Landgerichte 
anberaumten Termin wahrzunehmen. Dem entsprechend hat denn auch der 
Reichskanzler in seiner Verfügung vom 9. April 1881 (Zentralblatt für das 
Deutsche Reich S. 136) angeordnet, dass Dienstreisen in den Morgenstunden 



Kleinere Mittheilnngen und Referate aus Zeitschriften. 567 

m 

anzutreten seien, unter Morgenstunden aber im Sommer die Zeit von 6 Uhr, im 
Winter von 7 Uhr Morgens ab zu verstehen sei. 

Der Beschwerdeführer war demnach nicht verpflichtet, den um 5 Uhr 
34 Minuten von Kolberg nach Köslin abgehenden Zug zu benutzen, sondern 
berechtigt, bereits am Tage vorher nach Köslin zu fahren. 

Die Beschwerde ist deshalb begründet und sind dem Beschwerdeführer 
noch 9 Mark weitere Tagegelder zu zahlen. 

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleiben nach §. 6, 45 des D. Q. K. 6. 
ausser Ansatz.“ 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

B. Hygiene und öffentliches Sanit&tswesen: 

Die Frage der Verbesserung der WohnungsVerhältnisse auf der 
Konferenz der Zentralstelle für Arbeiter - Wohlfahrtseinrichtungen. 
Von Dr. H. Albrecht in Gross - Lichterfelde. Deutsche Vierteljahrsschrift für 
öffentliche Gesundheitspflege; 1892, Heft 4. 

Der Umstand, dass innerhalb der letzten Jahre die Wohnungsnoth und 
die Mittel zu ihrer Abhilfe Gegenstand der Verhandlungen der verschiedensten 
Vereine und Körperschaften gewesen ist, und dass eine schon im Jahre 1888 erfolgte 
Literaturzusammenstellung etwa 400 Nummern aufweisen konnte, kennzeichnet 
genügend die Wichtigkeit der Frage. Bei der zweifellos vorhandenen Nothlage 
müssen wir in der Praxis streng zwischen idealen Forderungen und der Mög¬ 
lichkeit unterscheiden, einem dringenden Bedürfniss vielleicht in einer streng 
hygienischen Grundsätzen nicht vollkommen entsprechenden Weise abzuhelfen. 
Der Gedanke, welcher in der englischen Gesetzgebung Verkörperung gefunden 
hat, grössere oder kleinere Bauquartiere, die sich in einer nicht gesundheitsge- 
mässen Verfassung befinden, zu enteignen und niederzulegeu, hat sich nicht be¬ 
währt; denn wo diese Bestimmung Wirklichkeit geworden ist, hat sich die Zahl 
der gänzlich Obdachlosen um ein Beträchtliches vermehrt. Auch wo bei uns in 
Deutschland alte Stadttheile durch Strassendurchbrttche niedergelegt worden 
sind, hat sich der Ausspruch Bastiat’s als zutreffend gezeigt; „was man sieht, 
sind die prächtigen Wohnungen; was man nicht sieht — das Elend derer, die aus 
schlechten in noch schlechtere Wohnstätten vertrieben wurden.“ 

So manche Bestimmungen der Banpolizeiordnung in Berlin und in anderen 
grossen Städten, welche unter dem Einfluss der populär gewordenen hygienischen 
Anschauungen erlassen sind, erschweren der Privatbauthiitigkeit gerade nach der 
Richtung ihre Wirksamkeit, Wohnungen herzustellen, welche dem Bedürfniss des 
kleinen Mannes entsprechen. Die paar Musterhäuser, welche gemeinnützige Bau¬ 
gesellschaften und ähnliche Vereinigungen hergestellt haben, sind dem Noth- 
stande gegenüber wie ein Tropfen im Meere. Nicht etwa aber soll in der Bei- 
seitelassung des idealen Zieles das alleinige Heil gesucht werden, man soll nur 
sich bewusst bleiben, dass das Bessere sehr leicht der Feind des Guten sein kann. 
Wenn man unter Wohnungsnoth nicht gerade Obdachlosigkeit, sondern ein 
Wohnen breiter Bevölkerungsschichten in hygienisch und sittlich unzulänglichen 
Verhältnissen versteht, giebt es eine Wohnungsnoth nicht nur in den grossen 
Städten, sondern fast überall in Deutschland; hier mehr, dort weniger, auch 
wohl auf dem platten Lande. Der Mittel zur Lösung der Frage sind viele, 
und Viele sind berufen, daran mitzuarbeiten. Alle Besitzenden haben die Ver¬ 
pflichtung, sich auch hierbei der Bedürftigen anzunehmen, speziell auch die 
Arbeitgeber, sei cs durch die direkte Errichtung von Wohnhäusern, sei es durch 
finanzielle Förderung gemeinnütziger Aktien - Gesellschaften oder Baugesell¬ 
schaften. Dahingehende Bestrebungen durch Darleihung niedrig verzinslicher 
Kapitalien zu unterstützen, liegt ferner den Gemeinden, den öffentlichen Spar¬ 
kassen, den Invaliditäts- und Altersversicherungs - Anstalten ob. Von grösster 
Bedeutung aber ist auch hierbei die Stellung, welche der Staat in der Frage 
einnimmt. Mit direkten Subventionen seitens des Staates hat man mehrfach 
schlechte Erfahrungen gemacht, bedeutsam ist die Einwirkung, welche der Staat 
als Gesetzgeber nach dieser Richtung ausübt. In mannigfacher Beziehung er¬ 
scheint im Augenblick unsere Gesetzgebung auf diesem Gebiet revisionsbedürttig. 
— In dem zweiten Theil seiner Ausführungen wendet Verfasser sich zu den 



568 Kleinere Mittheilungen and Referate ans Zeitschriften. 

technischen Einzelheiten, welche an der Hand einer grossen Anzahl von Muster¬ 
entwürfen für städtische und ländliche Verhältnisse angepasst in sehr instruk¬ 
tiver Weise besprochen werden. Dr. Meyhoefcr-Görlitz. 


Die Arbeiterwohnungsfrage in der Gesetzgebung verschiedener 
Länder. Von Stadtbaurath J. Stübben. Vierteljahrsschrift für öffentl. Ge¬ 
sundheitspflege; 1892, H. 4. 

Verfasser geht von einem Gesetzentwürfe aus, welchen der Abgeordnete 
Julius Siegfried und 76 andere Mitglieder der französischen Kammer 
eingebracht haben, uml dessen Bestimmungen im Wesentlichen folgende sind: 
Es werden in jedem Departement ein oder mehrere Ausschüsse für Arbeiter¬ 
wohnungen eingesetzt, welche fördernd darauf einzuwirkeu haben, „dass durch 
Genossenschaften, Bau- oder Kredit - Aktien - Gesellschaften und Privatleute ge¬ 
sunde und billige Wohnungen erbaut werden, welche bestimmt sind, an Beamte, 
Handwerker, gewerbliche und landwirtschaftliche Arbeiter vermietet oder — 
sei es auf Rechnung, sei es auf Abzahlung — verkauft zu werden.“ Sie können 
Untersuchungen anstellen, bauliche Wettbewerbe veranstalten, Ordnungs- und 
Reinlichkeitspreise vertheilen, Geldunterstützungen an Baugenossenschaften be¬ 
willigen und allgemein ihre Mittel zu Gunsten der Anregung des Baues oder 
der Verbesserung von Arbeiterwohnungen verwenden. Die Bureaukosten, die 
Bezahlung des Schriftführers und die Diäten für die Ausschussmitglieder fallen 
dem Departementshaushalt zur Last. Abgesehen von Geschenken und Stiftungen 
sollen die Mittel zu Beihilfen folgendermassen Zusammenkommen: Die öffentliche 
Hinterleguugskasse, die nationale Pensionskasse, die Versicherungskassen für 
Todes- und Unfälle und die Postsparka-se werden ermächtigt, bis zu einem 
Zehntel ihrer verfügbaren Geldmittel als Hypotheken für die Errichtung von 
Arbeiterwohnungen darzuleihen. Dasselbe gilt für die Privatsparkassen bis zu 
einem Zehntel ihrer Hinterlegungen und bis zu einem Drittel ihrer Reserven. 
Wohlthätigkeitsanstalten, Hospize und Krankenhäuser können mit Genehmigung 
der Präfekten einen Theil ihres Vermögens, welcher ein Drittel nicht überschreiten 
darf, zur Erbauung von Arbeiterwohnungen in den Grenzen ihres örtlichen Wir¬ 
kungskreises verwenden. Die Einzelhäuser, welche von den im Gesetz bezeichneten 
Genossenschaften und Gesellschaften errichtet werden, um an Arbeiter gegen 
Jahresbezahlungen verkauft zu werden, siud von der Gruudsteuer, von der Thür- 
und Fenstersteuer und von den Gütern der todten Hand befreit, so lange sie 
von den Arbeitern, für welche sie erbaut wurden, deren Ehegatten oder Kindern 
bewohnt werden. Die Stempclgebühren beim Abschluss des Kaufes werden zur 
Hälfte erlassen, die andere Hälfte kann in fünfjährigen Raten bezahlt werden. 
Die Vorgesetzte Instanz für die Ausschüsse ist ein „Oberer Arbeiterwohnungs¬ 
rath“ im Handelsministerium. 

Dieser Gesetzentwurf ist dem belgischen Gesetze vom 9. August 1889 
in den Hauptpunkten ähnlich. 

In Oesterreich wird der Gegenstand durch das Gesetz zur Beförderung 
der Errichtung von Arbeiterwohnungen vom 9. Februar 1892 geregelt, welches 
gleichfalls dem französischen Gesetzesvorschlage in Ziel und Mitteln verwandt 
ist. Hier werden die öffentlichen Abgaben 24 Jahre lang erlassen, wenn die 
Wohnungen gewissen gesetzlichen bezw. gesundheitspolizeilichen Bestimmungen 
entsprechen. (Kein Wohnraum darf mit dem Fussboden unter der Strassenhöhe 
liegen, die Räume müssen je nach Anzahl der Zimmer bestimmte Flächenmasse 
innerhalb gewisser Grenzen darbieten.) 

In Nordamerika ist die Wohnungsgesetzgebung verschieden von Staat 
zu Staat und Stadt zu Stadt. Am besten scheint dieselbe in Newyork geregelt 
zu sein, wo das Gesundheitsamt mit weiten Vollmachten versehen ist. Zwei 
obere Beamte und 43 Unterbeamte revidiren zweimal jährlich die Miethswoh- 
nnngen und besuchen häufig des Nachts die Logirhäuser. Für je 2 Familien 
bezw. 15 Schläfer muss ein Wasserabort, für jeden Einwohner ein Wohnraum 
von 17 cbm, für jeden Schläfer ein Luftraum von 11,5 cbm vorhanden sein. 

Am ausführlichsten sind die Arbeiterwohnungsfragen in dem englischen 
Gesetz vom 18. August 1890 geregelt. Der erste Theil handelt von den un¬ 
gesunden Stadttheilen bezw. Häusergruppen. Nach voraufgegangenem gesetzlich 
festgestelltem Verfahren können ganze Häuserblocks oder Thcile derselben, 
welche gesundheitlich beanstandet werden müssen, baulich geändert — umgebaut 
oder ganz niedergelegt — werden. Die Oberbehörde im Gesundheitsamt ent- 



Kleinere Mitteilungen und Referate aas Zeitschriften. 


669 


scheidet, ihr Sprach bedarf aber der Bestätigung des Parlaments, welchen der 
Verbessernngsentworf behufs etwa anzubringender Abänderungen vorgelegt werden 
muss. Darauf hat die Gemeinde die Ausführung der erforderlichen Massnahmen 
zu veranlassen. — Der zweite Theil handelt von einzelnen ungesunden Wohn¬ 
häusern. Auf Anfordem von vier oder mehr Familien muss der Beamte das 
Haus untersuchen nnd über den Befund berichten. Im Uebrigen hat die Ge¬ 
meinde die Verpflichtung, regelmässige Wohnungsbesichtigungen zu veranlassen. 
Erkennt sie den gesundheitsschädlichen oder unbewohnbaren Zustand an, so muss 
sie das Haus schlicssen. Durch friedcusrichterliche Bestätigung wird diese Mass- 
regel rechtskräftig. Jeder Bewohner erhält hiervon Mittheilung, zugleich wird 
ihm eine Känraungsfrist und gegebenenfalls eine Entschädigung für Rechnung 
des Eigentümers bewilligt. Falls der vorschriftsmässige Umbau bewirkt wird, 
so erhält der Eigentümer auf Gemeindebeschluss eine Vergiitigung. Aehnliche 
Massregeln können auch bei Häusern Platz greifen, welche nicht an sich unge¬ 
sund und unbewohnbar sind, sondern anderen Häusern die Luft nehmen (obstruc¬ 
tive buildings). Im dritten Theil des Gesetzes sind die Bestimmungen über 
Errichtung, Verbesserung, Verwaltung und Beaufsichtigung eigentlicher Arbeiter¬ 
wohnungen (working dass lodging houses) enthalten, deren Ueberwachung und 
Ausführung Sache der Ortsbehörde ist. Diese kann Häuser miethen oder kaufen, 
zu Arbeiterwohnungen einrichten, oder von gemeinnützigen und anderen Gesell¬ 
schaften eingerichtete Arbeiterwohnhäuser in Kauf, Miete oder blosse Verwal¬ 
tung übernehmen. Die Verwaltung und Beaufsichtigung der in Rede stehenden 
Wohnungen ist Sache der Ortsbehörde. Gesellschaften, Arbeitgeber und Privat¬ 
personen können amtliche Darlehen erhalten zur Errichtung neuer oder Ver¬ 
besserung bestehender Arbeiterwohnnngen. 

(Man ersieht hieraus, dass bei uns die Gesetzgebung in Bezug auf die 
Sorge für gesunde Wohnungen, insbesondere Arbeiterwohnnngen, vielen anderen 
Staaten gegenüber weit zurücksteht. Es darf aber nicht verkannt werden, dass 
unsere gesammte sozialreformatorische Gesetzgebung der letzten Jahre in ihrem 
Bestreben, die ärmeren Schichten zu schätzen, nothgedrungen und billigerweise 
die Schultern der besitzenden Klassen in hohem Masse belastet hat. Insbeson¬ 
dere trifft dies für die Arbeitgeber in einem Grade zu, welcher sie in einzelnen 
Gewerbebetrieben ihren von derartigen Lasten nicht gedrückten und billiger pro- 
duzirenden ausländischen Konkurrenten gegenüber bereits in schwierige Verhält¬ 
nisse gebracht hat. Daher rührt sicherlich nicht zum kleinsten Theil die starke 
Strömung im Volke, in den Erlassen von Gesetzen auf dem Gebiete der Sozial¬ 
reform eine Ruhepause eintreten und erst die bereits erlassenen zur vollen Wirk¬ 
samkeit gelangen zu lassen. Referent kann sich der Hoffnung nicht hingeben, 
dass auf Jahre hinaus bei uns eine Wohnungsgesetzgebung erstehen sollte, 
welche sich inhaltlich an die vorbesprochenen anschliessen möchte.) Ders. 

In welcher Weise ist den heutigen gesundheitlichen Missständen 
der üblichen Arbeiterwohnnngen auf dem Lande, in Ackerbau trei¬ 
benden nnd gewerbereichen Gegenden erfolgreich entgegenzutreten? 
Von Dr. Marx-Erwitte. Vierteljahrssehr. f. öffentl. Gesundheitspflege, 1893; 
H. 1. 

Trotz des Vorgehens zahlreicher anderer Kulturstaaten und der vielfachen 
Anregungen, welche auch bei uns von Einzelnen und Vereinigungen ausgegangen 
sind (cfr. Miquel’s Thesen auf der 14. Versammlung des deutschen Vereins 
für öffentliche Gesundheitspflege in Frankfurt a. M.), hat sich die Gesetzgebung 
in Deutschland der Frage nach den Massregeln zur Erreichung gesunder Woh¬ 
nungen weder in Stadt, noch Land angenommen. Das Land bedarf dieser Für= 
sorge ebenso wie die Städte; denn der Unterschied zwischen beiden hat sich 
durch die immer zunehmende Maschinenarbeit im ländlichen Betriebe mehr und 
mehr verwischt. Nicht das letzte Motiv zu dem Abströmen der ländlichen Be¬ 
völkerung in die Städte ist die elende Wohnung, in welcher der Ackerarbeiter seine 
ermüdeten Glieder ausrnhen muss. 

Verfasser fasst seine Ausführungen über die zu ergreifenden Massregeln 
in folgenden Sätzen zusammen: 

1. Eine Arbeiterwohnungsfrage besteht nicht nur in der Stadt, sondern 
auch in dringlicher Weise auf dem Lande. 

2. Die sanitären Uebelstände der Wohnungen landwirtschaftlicher Ar¬ 
beiter sind in zahlreichen Fällen sehr starke, besonders in den Massenquartieren 



570 


Besprechungen. 


der Arbeiter, die ans den östlichen Provinzen während der landwirtschaftlichen 
Arbeitsperiode nach dem Westen kommen. 

3. Den hier bestehenden Missständen müssen, behnfs Abstellung, die Orts¬ 
polizeibehörden (event. der zuständige Gewerbeinspektor) ihr Augenmerk zu¬ 
wenden. 

4. Für die kleineren Ziegeleien ist eine gewisse Mindestforderung bezüg¬ 
lich der Beschaffenheit der Arbeiterwohnungen aufzustellen, die sich auf den 
Luftraum, die Grösse und Zahl der Lagerstellen, sowie auf die nothwendigste 
Reinlichkeit erstreckt. 

5. Die Anfertigung von Cigarren ist auf dem Lande in vielen Gegenden 
eine verbreitete Hausindustrie. Dieselbe hat mannigfache gesundheitliche Uebel- 
stände für die damit beschäftigten Familien im Gefolge bei den jetzigen Woh¬ 
nungsverhältnissen. Durch einen vernünftigen Zwang in Bezug auf Absonderung 
des Arbeitsraumes von den Wohn- und Schlafräumen, sowie durch Belehrung 
über Staubverhütung, Reinlichkeit und Beseitigung des Auswurfes Hustender 
ist Abhilfe zu schaffen. 

6. Das Loos des ländlichen Arbeiters ist durch Schaffung eines eigenen 
Heims am geeignetsten zu verbessern. Die Gesetze vom 27. Juni 1891 über 
Rentengüter und vom 7. Juli 1891, betreffend die Beförderung der Errichtung 
von Rentengütern, zeigen die Wege zur Erreichung dieses Zieles. 

Von Interesse sind noch einzelne Zahlenangaben über die Herstellungs¬ 
weise von gemeinnützigen Gesellschaften errichteter Wohnungen für Arbeiter 
und kleine Beamten. Die von einer solchen Gesellschaft in Bremen erbauten 
300 Häuser haben mit Grund und Boden durchschnittlich 3700 Mark gekostet 
und enthalten 2 Zimmer mit Küche, Keller, Speicher mit Mansarden, dazu einen 
kleinen Garten mit Stall. — In Hamburg werden derartige Häuser mit Vor¬ 
gärtchen und Hintergarten für 3500 Mark abgegeben. — Die Häuser der Kolo¬ 
nien in Mühlhausen L E. kosten 2400 bis 3600 Mark. — Die Bangesellschaft in 
M.-Gladbach legt für ihre Häuser (Bauplatz, Garten und Stall eingerechnet) 3900, 
die in Barmen 4200 M. an, die Berliner Baugenossenschaft baut zweistöckige 
Häuser zu 6000 und 7000 Mark mit Grund und Boden. Die Gesellschaft „Eigen¬ 
haus“ in Berlin stellt ein Haus her mit Küche und Zimmer im Erdgeschoss, 
darüber Kammer mit Bodenraum, dazu Hof und Garten für 2800 M.; eine Woh¬ 
nung aus 5 Räumen für 3750 M., von 6 Räumen für 5200 M., von 7 Räumen 
für 6500 M. Die Bergmannshäuser im Saarrevier kosten 2500 bis 3500 M., die 
der Burbacher Hütte 4200 M., die Arbeitshäuser in Neuenkirchen 3200 M. 

Die Punkte 4 nnd 5 gehören in ein grosses Programm für weite Verhält¬ 
nisse wohl nicht hinein, da sie Gewerbezweige betreffen, welche trotz der zwei¬ 
fellos grossen Zahl der in ihnen beschäftigten Personen doch nur eine örtliche 
Bedeutung besitzen, und die in ihnen zu Tage tretenden Schäden an der Hand 
der Bestimmung zu 3 wohl abgewehrt werden können. Es müsste noch sonst 
eine Anzahl anderer Industrie- bezw. Hausindustriezweige ebenfalls aufgeführt 
werden, welche in gesundheitlicher Beziehung die gleiche Beachtung verdienen. 
So giebt es in des Referenten Gegend nur unerheblichen Ziegeleibetrieb und so 
gut wie gar keine Cigarrenfabrikation als Hausindustrie, während daselbst aus¬ 
gebreitete Hausweberei und Glasschleiferei angetroffen werden. — Im Uebrigen 
verweist Referent auch hierzu auf das am Schlüsse seines vorhergehenden Re¬ 
ferats über den Artikel von Stübben Ausgeführte. Ders. 


Besprechungen 

Zeitschrift für Hypnotismus, Suggestionstherapie, Suggestions¬ 
lehre und verwandte psychologische Forschungen. Herausgegeben von 
Prof. Dr. Bernbeim (Nancy), Prof. Dr. Danilewski (Charkow), Prof. Dclboeuf 
(Lüttich), Dr. Max Dessoir (Berlin), Dr. van Eeeden (Amsterdam), Prof. 
A. Fore 1 (Zürich), Dr. Sigm. Freud (Wien), Dr. J. Gr ossm a nn (Könitz Wp.), 
Prof. Dr. Hirt (Breslau), Dr. A. de Jong (Haag), Dr. Liöbeault (Nancy 1, 
Dr. P. J. Moebius (Leipzig), Dr. Albert Moll (Berlin), Prof. Morseil, 
(Genua), Dr. vanRentherghem (Amsterdam), Prof. Dr. Rosenbach (Breslau), 
Dr. Frh. v. Schrenck-Notzing (München), Dr. Sperling (Berlin), Dr. 



Besprechungen. 


B71 


Lloyd-Tuckey (London), Dr. 0. Wetterstrand (Stockholm), unter Mit¬ 
wirkung einer weiteren Reihe mit Namen angeführter Gelehrter; redigirt von 
Dr. J. Grossmann (Könitz Westpr.). Berlin 1892/93. Verlag von Hermann 
Brieger. I. Jahrgang. — Jeden Monat ein Heft in 8°. Erstes Heft im 
Oktober 1892 erschienen. Jetzt 10 Hefte mit 354 Seiten. 

Vorbemerkungen: Welch’ eine kurze Spanne Zeit, seitdem die 
ersten Suggestionsversuche der Nancyer Schule (Liöbeault, Bernhein u. a.) 
weiteren Kreisen bekannt wurden, und welche Verbreitung und therapeutische 
Verwerthung hat, wie die Gegner sagen, der Suggestionsunfug, oder wie die 
Anhänger verkünden, die Suggestionslehre als neue Wissenschaft gefunden! Noch 
vor wenigen Jahren gehörte es in psychiatrischen und neurologischen Kreisen 
zum guten Ton „die französischen Komödien" vornehm zu ignoriren, heut zu 
Tage reihen sich dem Schweizer Vorkämpfer der Suggestionslehre Forel schon 
ein v. Krafft-Ebing und andere hervorragende Irren- und Nervenärzte an. 
Jedenfalls kann man, wie Wundt in seinen philosophischen Studien bemerkt, 
jetzt an diesen Dingen nicht mehr schweigend Vorbeigehen, sondern muss zu 
ihnen Stellung nehmen. 

Ist denn die Suggestion wirklich so etwas Neues? So lange es Menschen 
giebt, hat die Macht der Vorstellung — und das ist doch Suggestion — im 
Einzeldasein und im Leben der Völker ihre entscheidende Rolle gespielt Jahr¬ 
hunderte hindurch sehen wir suggerirte Einzel Vorstellungen das Geistesleben 
ganzer Völkerschaften dominiren, oft (Hexenglaube u. A.) ihren vernichtenden 
Einfluss ausüben, aber auch zum Heilmittel von mancherlei Schäden im Volks¬ 
leben werden. Und im Einzelleben? Früher wie heute snggerirt das tröstende 
Mutterwort dem Kinde beruhigende Vorstellungen, früher wie heute bringt der 
psychische Einfluss des Arztes dem Kranken so oft die beste Linderung und 
glättet das Wort des Priesters die Wogen der Seelenangst gläubiger Gemüther! 

Ohne Weiteres muss auch die Heilwirkung des psychischen Einflusses bei 
bestimmten krankhaften Zuständen zugegeben werden. Das lehrt ja seit 
Menschengedenken die alltägliche Erfahrung (Heilungen durch sympathetische 
Kuren, Besprechen; durch religiöse Vorstellungen, durch Homöopathie und 
manche alleopathische Kuren, durch Geheimmittel und vieles Andere). 

Was giebt denn nun der eingeredeten Vorstellung im Einzelfalle diese 
Kraft? Vertrauen und Glauben des zu beeinflussenden Individiums an die 
Macht der beeinflussenden Persönlichkeit! Nun wissen wir aber, dass dieses 
Vertrauen oder der Glaube an das In-Wirklichkeit-Treten einer Versicherung 
— und dieses Vertrauen nennen wir heute die Suggestibilität einer Persönlich¬ 
keit — also wir wissen, dass die Suggestibilität um so stärker ist, jemehr der 
Beeinflussende der Versuchsperson oder dem Kranken zu imponiren vermag, und 
je geringer die psychische Energie des zu Beeinflussenden ist. 

Bei jeder Psychotherapie spielen also die Persönlichkeit des Psychothera¬ 
peuten und die Suggestibilität des Kranken, also ein psychisches Abhängigkeits- 
verhältniss des Letzteren von Ersterem die Hauptrollen; und der Erfolg jeder 
Psychotherapie — und Aehnliches lehrt ja auch die Nancyer Schule — wird 
davon abhängen, ob der Suggcrircnde die Kunst besitzt, die Suggestibilität bei 
seinem Kranken zu wecken. 

Frühere Psychotherapeuten suchten Letzteres dadurch zu erreichen, dass 
sie bona oder mala fide ihre Persönlichkeit mit dem Nimbus besonderer geheim- 
nissvoller Kräfte auszustatten suchten. Die Geschichte des Mesmerismus und 
Occultismus giebt hierfür genügende Belege. Die Mehrzahl der heutigen Psycho¬ 
therapeuten verzichtet aber auf diesen Kunstgriff. Sie sucht die Wirkung ihrer 
Manipulationen dadurch zu erhöhen, dass sie die psychische Widerstandsfähigkeit 
des zu Behandelnden künstlich möglichst tief herabsetzt. Dies wird bekanntlich 
dadurch erreicht, dass durch Fixirung der Geistesthätigkeit auf einen bestimmten 
Sinneseindruck und durch Suggestion künstlich ein schlafähnlicher Zustand, die 
Hypnose, erzeugt wird. Hypnose bedingt eine vorübergehende partielle Lähmung 
der Hirnthätigkeit, eine Bewusstseinshemmung. In diesem immerhin krankhaften 
Zustand der Grosshirnrinde sind die der zu suggerirenden Vorstellung entgegen 
wirkenden Neben- oder Hemmungsvorstellungen paralysirt, während die Receptions- 
centra weiter funktioniren. Die eingeredeten Vorstellungsgruppeu werden also 
aufgenommen, centri-sc. psychopetal weiter geleitet, ohne Korrektion als Gedächt- 
nissbild in der Hirnrinde deponirt, und können nun zu Willensimpulsen werden 



Besprechungen. 


572 


und auch noch nach dem Erwachen des Kranken aus der Hypnose dem Be¬ 
wusstsein dauernd ein<?ereiht verbleiben. — 

Bei solcher Auffassung können wir ein sich von magnetischen oder tele¬ 
pathischen Vorspiegelungen frei haltendes Suergeriren immerhin als eine wissen¬ 
schaftliche Untersuchungsmethode gelten lassen: und wenn man nun die ’rei 
solchen psychologischen Experimenten gewonnenen Resultate therapeutisch zu 
verwerthen sucht, so kann man auch vom wissenschaftlichen Standpunkt eigent¬ 
lich gegen diese Versuche nichts Stichhaltiges einwenden; und man wird scfa.n 
als Arzt der ganzen Sache um so aufmerksamer näher treten, je verblüffender 
viele durch diese Methode erzielten, nicht anznzweifeluden Heilresultate bei 
gewissen Krankheiten sind. — Geradezu nothwendig ist aber dem Geriehtsarzt 
eine eingehende Kenntnissnahme des wirklich Thatsüehlichen und der neuesten 
Veröffentlichungen auf dem Gebiete der Hypnose und Suggestion. Bewus^ts* ins- 
zustände, wie sie durch hypnotische Manipulationen erzeugt werden kennen, 
haben eine grosse strafrechtliche Bedeutung: und letztere hat auch sehen in 
vielgenannten Arbeiten von Juristen (Liegeois, v. Li li enthalt und von 
Aerzten (z. B. Forel, der Hypnotismus, seine psycho-physiologische, medizinische, 
strafrechtliche Bedeutung und Handhabung. Stuttgart 1*91. 2. Auflage; ihre 

gebührende Beachtung gefunden. — — 

Die neue Zeitschrift für Hypnotismus und Suggestionslehre, welche in der 
Revue de 1’ hypnotisme eine in Belgien geborene, schon 6 Jahre alte Schwester 
besitzt, will nun dem Hypnotismus als Experiincutalpsychologie und der Sug¬ 
gestion als psychischem Heilverfahren in der Medizin eine Gasse bahnen. 

Im scharfen Gegensatz zu rharcot und seiner Schule, die in der Hyp¬ 
nose nichts weiter, als die Erscheinungsform eines psychopathischen Zustandes 
der Hysterie, erblickt, sollen wir Hypnotismus als eine besondere, zwischen 
Psychiatrie und Gehirnphysiologie stellende Disziplin ansehen. „Da wir ferner 
mit der Suggestion, durch sog. psychische Einwirkung, das Gehirn des Hypnoti- 
sirten und durch dasselbe einen grossen Theil der Funktionen seines übrigen 
Körpers (Bewegung, Ausscheidung, Gefässinnervation, wie z. B. Verdauung, 
Menstruation etc.), sowie alle sensiblen oder cerebropetalen (psychopetalen» 
Funktionen beeinflussen können, so gehört der Hypnotismus eben so sehr zur 
Nervenphysiologie. Da wir aber in der SuggestionsmethoJe eine bedeutende, in 
ihrer Tragweite noch lange nicht genügend erfasste Heilmethode besitzen, ge¬ 
hört der Hypnotismus ebenfalls und in hohem Masse zur Therapie und somit 
zur praktischen Medizin.“ S. 76 d. Z. 

Das ist der Kern, der wohl als Programm für die neue Zeitschrift anzu¬ 
sprechenden Arbeit Forel’s: „Suggestionslehre und Wissenschaft* 4 
welche na der Spitze des ersten Heftes steht und sich durch das zweite und 
dritte Heft fortsetzt. Es folgt im ersten Heft dann ein Beitrag Liebeaults: 
„Hypnotismus oder Suggestionstherapie“, welcher uns die von 
dem Verfasser beim Hypnotisiren angewandten Methoden mittheilt. Lie- 
beault benutzt neben der Fixirnng der Geistesthätigkeiten durch den Ge¬ 
sichtssinn hauptsächlich die psychische Infektion, also das Beispiel. Er hyp- 
notisirt immer mehrere Personen zugleich, bringt also seine Klienten ge- 
wissermassen in eine hypnotische Atmosphäre und unterstützt die psychische 
Infektion durch Verbalsuggestion: „Schlafen Sie etc. u — Dann giebt Wetter¬ 
strand-Stockholm eine Anweisung zur therapeutischen Verwendung „des 
künstlich verlängerten Schlafes“. Der Verfasser theilt fünf Fälle 
mit: Neuralgien mit hysterischen Cerebralerscheinungen, abnorme Menstrual¬ 
blutungen mit hysterischen Konvulsionen, zwei Fälle von einfacher Hystero- 
epilepsie und einen Fall von idiopathischer Epilepsie, welche er durch artifiziellen, 
Tage und Wochen hindurch ohne wesentliche Unterbrechungen (nur Nahrungs¬ 
aufnahme etc.) verlängerten Schlaf geheilt, resp. gebessert haben will. 

Nachdem dann noch ein kurzer Bericht (Sperling-Berlin) über den 
internationalen Kongress für experimentelle Psychologie in London gebracht ist, 
schliesst das erste Heft mit zwei Referaten und kleineren Mittheilungen. 

So setzt sich auch der Inhalt der weiteren neun Hefte aus < >riginalartikeln 
medizinisch-psychologischen Inhaltes, Abhandlungen über Methoden und Erfolge 
verschiedener auf dem Titelblatt genannter Psychotherapeuten, Angaben über 
die verschiedenste therapeutische Verwendung der Hypnose und aus Referaten 
über die einschlagende Literatur zusammen. Von hervorragenden Aufsätzen 




Besprechungen. 


573 


mehr psychologischen Inhaltes nennen wir eine weitere, sich durch fttnf Hefte 
erstreckende Arbeit Li6beault’s: „Streifzüge in das Gebiet der pas- 
siven Zustände, des Schlafes und der Träume", Delboeuf’s: 
„psychologische Betrachtungen über den Hypnotismus, gele¬ 
gentlich eines durch Suggestion geheilten Falles von Mord¬ 
manie" und Prof. W. Eoch’s: Beiträge zur physiologischen Er¬ 
klärung der Suggestionswirkung. Letzteres ist mehr ein medizinisch¬ 
philosophischer Essai, welcher die Suggestionswirkung aus der Analogie verschie¬ 
dener physiologischer Vorgänge, die durch psychische Reize aasgelöst werden, zu er¬ 
klären, resp. plausibel zu machen sucht. — Es haben derartige theoretische 
Spekulationen und Raisonnements, welche wir auch bei einer Reihe anderer Auf¬ 
sätze mit in den Kauf nehmen müssen, aber für uns ein zu geringes Interesse 
und liegen unserem Denken auch zu fern, als dass wir auf das in der bezeich- 
neten Richtung Gebotene hier weiter eingehen möchten. Nur einiger Be¬ 
merkungen Sigm. Freud’s (Wien) über die Entstehung hysterischer Symp¬ 
tome durch den Gegenwillen möchten wir erwähnen, die an einen Fall von hyp¬ 
notischer Heilung hysterischer Laktationsbeschwerden geknüpft werden. Freud 
legt Gewicht anf die Kontrastvorstellungen, die bei dem Neurastheniker mit dem 
Willensakt zu einem Bewusstseinsakt verbunden sind und dadurch die die 
cerebrale Neurasthenie charakterisirende Willensschwäche erzeugen. Bei der 
Hysterie besteht die Kontrastvorstellung als gesonderte Vorstellung weiter. 
Diese im normalen Zustand beim Denkprozess gehemmte Nebenvorstellung wird 
nun bei den hysterischen Symptomen, wenn es zur Ausführung des Vorsatzes 
kommen soll, mit derselben Leichtigkeit durch Innervation des Körpers objekti- 
virt, wie im normalen Zustand die Willensvorstellung. Die Kontrastvorstellung 
etablirt sich als Gegenwille. Daran werden schöne Bemerkungen über Tic convulsif, 
Koprolalie, Echolalie etc. geknüpft. Es ist eine sehr lesenswerthe, geistreiche 
Arbeit. 

Aber uns interessirt mehr das Thatsächliche; und deshalb wollen wir 
unsere weitere Aufmerksamkeit nur noch den Aufsätzen der Suggestionstherapie 
zuwenden. 

Da ist denn zuerst eine vom 4. bis 8. Heft reichende Arbeit eines Arztes 
in Baden-Baden, des Dr. von Cörval zu erwähnen Der Genannte giebt unter 
dem Titel „Suggestiv-Therapie“ zuerst eine mit vielen praktischen Winken 
versehene Anweisung zu hypnotisiren, redet unter Anderem auch der gleich¬ 
zeitigen Anwendung minimaler Mengen der verschiedensten Narcotica (vergl. 
auch die Studie Dr. v. Schrenks: Die Bedeutung der Narcotica für die Hypnose 
mit besonderer Berücksichtigung des indischen Hanfes) zur Begünstigung der 
raschen Aufnahme von Suggestionen das Wort und versucht dann eine Zu¬ 
sammenstellung der Krankheitszuständc, bei denen Suggestion Heilung bezw. 
Besserung gebracht hat. Dass hierbei als eigentlichste Domäne der hypnotischen 
Suggestivbehandlung die funktionellen Neurosen obenan zu stehen kommen, 
dass traumatische, Schreck- und Beschäftigungsneurosen nicht selten bei dieser 
Behandlung in kurzer Zeit dauernd beseitigt oder mindestens Behr günstig beein¬ 
flusst werden, ist wohl sicher. Bei Chorea, Paralysis agitans und selbst bei der 
Behandlung des Stotterns lauten die Urtheile indess noch sehr verschieden, und 
auch in Bezug auf Neurasthenie und Hysterie gehen die Ansichten noch ziemlich 
auseinander. Durch Gewohnheit erworbene Perversitäten (konträre 
Sexualempfindung und andere sexuelle Psychopathien) werden entschieden (Moll, 
v. Krafft-Ebing) günstig beeinflusst. Psychische Erkrankungen ernsterer 
Art — und zu demselben Ausspruch kommt auch der kompetente Beurtheiler 
Forel in seinem im 10. Hefte abgedruckten Aufsatze „Suggestion und Geistes¬ 
störung“ — eignen sich aus leicht verständlichen Gründen nicht zur Suggestiv¬ 
behandlung. Alkoholismus wird günstig, Morphinismus sehr wenig beeinflusst. 
Bei Neuralgien aller Art, vor allem bei der Trigeminusneuralgie werden zum 
Theil sehr glänzende Resultate gemeldet, oft soll aber auch gar nichts erreicht 
werden. Die Erklärung hierfür liegt ja nahe. Auch Schlaflosigkeit, besonders 
die aus psychischen Ursachen, giebt der Psychotherapie (Trost!!) ein günstiges 
Arbeitsfeld. Ebenso scheint die psychische Behandlung mancher Ernährungs¬ 
störungen (Chlorose) und deren Ursachen (nervöse Dispepsie, Diarrhöen, Ver¬ 
stopfungen, Menstruationsanomalien) eine äusserst dankbare zu sein. — 

Praktisch wichtig ist ferner die Thatsache, dass es bei etwas tiefer Hyp¬ 
nose gelingt, vollständige Gefühllosigkeit an einer bestimmten Körperstelle oder 



574 


Tagesnachrichten. 


allgemeine Anaesthesie zu erzeugen. Diese Erfahrung ist schon oft bei Ope¬ 
rationen und in neuester Zeit auch bei dem Geburtsakt verwerthet. Die neue 
Zeitschrift bringt uns auch hierzu Belege. So finden wir die Mittheilungen zweier 
Geburten (v. Schrenk-Notzing und Dr. T a t z e 1 - Essen), die in der Hypnose 
schmerzlos und zum Theil mit Amnesie des ganzeu Vorgangs verliefen; und 
van Rentherghem tkeilt einen Fall mit, in welchem die Operation eines 
kompleten alten Dammrisses bei einer Dame, die wegen eines Herzfehlers nicht 
chloroformirt werden durfte, unter dem Einfluss der Suggestion ohne Hypnose, 
— d. h. also durch Trost - zu - sprechen — fast schmerzlos verlief. 

Unter den Referaten, die bekannte Werke von Moll, Schmidtkunz, 
Forel, v, Schrenk-Notzing und v. Kraft-Ebing berücksichtigen, ist 
der vom 3. bis zum 10. Heft reichende und noch nicht abgeschlossene Literatur¬ 
bericht Moll’s hervorzuheben. Moll giebt in der aus seinen übrigen Arbeiten 
bekannten fleissigen und sorgfältigen Weise eine sehr übersichtliche Zusammen¬ 
stellung der wichtigsten Erscheinungen auf dem Gebiete der hypnotischen 
Literatur. Dieselbe beginnt mit James Braid, der zuerst nachwies, dass die 
vorher magnetischen Einflüssen zugeschriebenen Wirkungen einfach auf die 
Fixirung der Aufmerksamkeit zurückgeführt werden könnten, und reicht bis zu 
den allerneuesten Arbeiten des einschlägigen Gebietes. Wer sich rasch in der 
modernen Suggestiv - Literatur zurecht Anden will, der mag neben der Biblio¬ 
graphie von Dessoir diesen Literaturbericht zur Hand nehmen. — 

Ob die Anhänger der neuen und doch schon uralten therapeutischen 
Methode durchdringen, und die Zahl ihrer Gegner nun kleiner werden wird, 
ob sich die Suggestivtherapie gerade so Bahn brechen wird, wie Hydro - Elektro¬ 
therapie und Aehnliches, wer vermag es heute, wo der Streit für und wider 
noch laut erschallt, schon zu sagen. Die neue Zeitschrift steckt ja die Grenzen, 
welche den psychotherapeutischen Versuchen doch wohl immer gezogen bleiben, 
sehr weit!! Sie erklärt das Heilverfahren für ein ganz ungefährliches, dem die 
Zukunft gehören wird. Uns liegt, wie schon oben angedeutet wurde, die Pflicht 
ob, auf die strafrechtliche Bedeutung des Hypnotismus unsere besondere Auf¬ 
merksamkeit zu richten, und das soll vielleicht demnächst geschehen. 

Nachtrag. Seit der Absendnng des Referats über „Hypnotismus 
und Suggestionslehre“ sind das 11. und 12. Heft der Zeitschrift, Seite 355 
bis 437 erschienen, und damit hat der erste Jahrgang seinen Abschlncs erreicht. 
Das 11. Heft, in welchem auch Moll’s Literaturbericht zu Ende geführt wird, 
beginnt mit einer Arbeit des Redakteurs J. Grossmaun, welche den Hauptinhalt 
dieses und des zwölften Heftes ausmacht. Unter dem Titel „Die Suggestion, 
speziell die hypnotische Suggestion, ihr Wesen und ihr Heil¬ 
werth“ will der Verfasser an der Hand allbekannter psychologischer Erfahrungs- 
sätze ein weiteres Verständniss für das Wesen und die Wirkung der Suggestion 
anzubahnen suchen. Für Suggestion; denn er bekennt sich rückhaltlos zu dem 
Grundsatz Delboeufs: „II n’ya pas d’hypnotisme, il n’ya que de la Suggestion“. 

Die Arbeit, welche später in Buchform erscheinen soll, ist als eine Ant¬ 
wort auf die Angriffe zu betrachten, welche die Suggestionstherapie jüngst wieder 
von einflussreichster Seite — Mendel, Strümpell, Virchow u. A. — er¬ 
fahren hat. Wir kommen zu geeigneter Zeit auf die Darstellungen Gross- 
mann’s und auf den ganzen Gegeustand zurück. Dr. Kühn-Uslar. 


Tagesnachrichten. 

Dem Bundesrathe ist der Gesetzentwurf betreffend die Bekämpfung 
gemeingefährlicher Krankheiten wiederum zugegangen. Derselbe stimmt 
im Wesentlichen mit dem bereits in der vorletzten Session dem Reichstage vor¬ 
gelegten Entwürfe überein; es ist nur der §. 9 fortgelassen, durch den die un¬ 
verzügliche öffentliche Bekanntmachung der Erkrankungen und Todesfälle beim 
Ausbruch einer der in dem Entwurf genannten Krankheiten in einer Ortschaft 
vorgeschrieben war. 

Es scheint überhaupt, als ob man an zuständiger Stelle nicht mehr das 
bisherige Verfahren der sofortigen täglichen Bekanntmachung aller Erkrankungs- 



Tagesaachrichten. 


676 


fälle durch den Reichaanzeiger als angezeigt und zweckmässig hält, wie aus der 
nachstehenden Bekanntmachung des Reichsanzeigers hervorgeht: 

„Dem energischen Eingreifen der Behörden ist es gelungen, die Cholera 
überall, wo sie sich zeigte, und auch in den von der Krankheit heimgesuchten 
Orten so erfolgreich zu bekämpfen, dass jetzt nur noch ganz vereinzelt neue 
Fälle Vorkommen. Die letzteren haben, wie die Verhältnisse in Deutschland zur 
Zeit liegen, ein unmittelbares Interesse für weitere Kreise nicht mehr in dem 
Masse, dass es erforderlich erschiene, weiterhin noch täglich an dieser Stelle 
darüber zu berichten. Gemäss einem Beschlüsse der im Kaiserlichen Ge¬ 
sundheitsamt gebildeten Cholera-Kommission werden daher von jetzt ab nur 
zweimal in der Woche und später jede Woche einmal Mittheilungen über die 
etwa neu vorgekommenen Cholerafälle hier veröffentlicht werden.“ 

Dass das rücksichtslose Veröffentlichen jedes einzelnen Cholerafalles beson¬ 
ders in industriellen Gegenden seine grossen Bedenken hat und die dadurch 
hervorgerufene Schädigung von Handel und Verkehr in keinom Vergleich steht 
zu dem Nutzen derartiger Bekanntmachungen, diese Ansicht ist bisher stets 
von uns vertreten. Hoffentlich wird nun auch der für Prenssen gültige Ministerial¬ 
erlass vom 23. August d. J. Uber die öffentlichen Bekanntmachungen beim Aus¬ 
bruch von Cholera entsprechend abgeändert. 


Ueber die Umgestaltung des Irrenwesens ist seitens der wissenschaft¬ 
lichen Deputation für das Medizinalwesen ein umfangreiches Gutachten ausge¬ 
arbeitet, in dem eine Verschärfung der Vorschriften über die Aufnahme von 
Geisteskranken in die Irrenanstalten, sowie eine strengere Kontrole dieser An¬ 
stalten und die Errichtung von Besuchskommissionen, sowie eine Abänderung 
der Bestimmungen der Civilprozessordnung über das Entmündigungsverfahren 
(§. 595) vorgeschlagen sein soll. Augenblicklich finden kommissarische Be¬ 
rathungen unter den betheiligten Ministerien statt, denen dieses Gutachten zu 
Grunde liegt. Würden dieselben zu einer Verschärfung der Aufnahme¬ 
bestimmungen führen, so könnte dies nur bedauert werden; die jetzigen Vor¬ 
schriften sind vollkommen ausreichend. 


Dem Bundesrath ist ein Entwurf wegen Abänderung der Bestimmungen 
über die Prüfungen der Thierärzte, Zahnärzte and Apotheker zugegangen. 
Die Zulassung zur Prüfung der Thierärzte ist abhängig von dem Reifezeug- 
niss für die Prima eines Gymnasiums, eines Realgymnasiums, einer Oberreal¬ 
schule oder einer als gleichstehend anerkannten Lehranstalt. Bei Oberreal¬ 
schul • Primanern ist der Nachweis zu führen, dass sie einen bis einschliesslich 
Quarta reichenden Lateinkursus einer höheren Lehranstalt durchgemacht oder 
die entsprechenden Kenntnisse im Latein sich angeeignet haben. Für Zahn¬ 
ärzte wird verlangt ein Reifezeugniss einer höheren Lehranstalt mit sechs¬ 
jährigem bezw. für die Obersekunda einer höheren Lehranstalt mit neunjährigem 
Lehrgang, sowie Nachweis von lateinischen Vorkenntnissen. Die Zulassung von 
Apothekern wird bedingt durch den Nachweis des wissenschaftlichen Be¬ 
rechtigungszeugnisses für den einjährig - freiwilligen Militärdienst und der Kennt¬ 
nisse im Latein. Danach würde ein Apotheker im Latein nur noch die Kennt¬ 
nisse eines Quartaners (!!) nöthig haben. 


Der in diesem Jahre wegen der Cholera verschobene XI. internationale 
medizinische Kongress soll nnnmehr vom 29. März bis 5. April 1894 in 
Rom abgehalten werden. _ 


Die Cholera hat in Deutschland während der letzten Wochen in den 
noch infizirten Flussgebieten glücklicher Weise keine weitere Ausbreitung ge¬ 
nommen, sondern es ist im Gegentheil überall eine Abnahme zu verzeichnen. 

Im Memelgebiete sind in der Zeit vom 27. Oktober bis 9. November 
9 Erkrankungen und 2 Todesfälle vorgekommen; davon & in Tilsit; ausserdem 
2 Erkrankungen in Labiau am kurischen Haff. 



576 


Tagesnachrichteö. 


Im 0 d e r gebiet betrag während derselben Zeit die Zahl der Erkrankungen 
und Todesfälle 38 (12), davon in Stettin 8 (2), im Kreise Randow 13 (3) [in 
Warnow 4 (1), Pölitz 2, Grabow a. 0. 3 (2), Stöwen 2, Gartz a. 0. 1, Kratzwieck 
1], im Kreise Kammin 5 (2) [in Stepenitz 3 (1), Neusalz a. 0. 2 (1)], in Wollin 
4 (3), in Swinemttnde 1 (1) und in Neucnzell im Kreise Königsberg i. N. 1 (1), 
in Niederfinow bei Angermünde 1 (1). 

Im Havel- und Elbe gebiet stellte sich innerhalb desselben Zeitraumes 
die Zahl der Cholera-Erkrankungen auf 39 mit 11 Todesfällen, davon entfielen auf 
Zerpenschleuse 5, Havelberg 7 (3), Rathenow 1 (1), Potsdam 3 (1), Angermünde 
3 (1), Berlin 1, Stendal 1, Hitzacker 1, Hamburg 4 (2), Altona 1 (1), Harburg 
1 (1) und Landwehr (Nordostseekanal) 7. 

In Oesterreich dauert der Rückgang der Cholera in Galizien an. 
In der Woche vom 23. bis 31. Oktober sind nur noch 36 Erkrankungen mit 27 
Todesfällen, in der Woche vom 1. bis 7. November 51 Erkrankungen mit 23 
Todesfällen gemeldet, in 24 bezw. 20 Gemeinden und 12 politischen Bezirken. 
Die meisten Erkrankungen kamen in den Bezirken Sanock (20 bezw. 5), Stanis- 
lau (29 bezw. 17) vor. Ausserdem sind aus der Buckowina in der am Dniester- 
flusse gelegenen Gemeinde Doroszoutz 4 Erkrankungen an Cholera und 1 Todes¬ 
fall gemeldet. 

In Ungarn betrug die Zahl der Cholera - Erkrankungen in der Woche 
vom 11.—17. Okt.: 274 mit 136 Todesfällen, in der Woche vom 18.—24. Okt.: 
204 bezw. 126 in 72 Gemeinden und 23 Komitaten, davon in Budapest 34 (26), 
in Klausenburg 7 (5), in den Komitaten Marmaros 63 (32), Torental 133 (73), 
Pest - Kiskun 37 (22) und Zemplin 26 (17). 

In Bosnien sind einem amtlichen Ausweise zu Folge vom 23. September 
bis 13. Oktober 217 Erkrankungen an Cholera mit 107 Todesfällen angezeigt, 
davon im Bezirk Brcka 54 bezw. 23. 

In Rumänien betrug die Zahl der Erkrankungen vom 20.—29.Oktober 
67 mit 34 Todesfällen, davon im Distrikt Braila 33 bezw. 19. In Konstanti¬ 
nopel scheint die Cholera noch immer ziemlich verbreitet zu sein; am 11. No¬ 
vember sind dort z. B. 23 Erkrankungen vorgekommen. 

In Italien ist die Cholera im Erlöschen begriffen; Livorna und Patti 
sind völlig cholerafrei, auch aus Palermo werden nur noch einige Cholera¬ 
fälle gemeldet. 

Dasselbe gilt von Spanien. Die Zahl der Cholera-Erkrankungen betrug 
hier in der verseuchten Provinz Biscaya vom 23.—29. Oktober nur noch 29 mit 
26 Todesfällen, davon 21 bezw. 17 in Bilbao. 

Auch in Frankreich scheint die Seuche allmählich in den noch von ihr 
ergriffenen Departements zu erlöschen. In dem am meisten verseuchten Departe¬ 
ment Finistere sind vom 9.—26. Oktober 82 Personen der Krankheit erlegen, 
davon 28 in Brest. 

In England sind nur noch ganz vereinzelte Cholerafälle beobachtet; 
in den Niederlanden vom 24.—30. Oktober 24 Erkrankungen und 13 Todes¬ 
fälle, besonders in den östlichen Landestheilen (Provinzen Drenthe, Oberyssel 
und Groningen). 

In Russland betrug die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle vom 
24. Oktober bis 11. Novbr. in Petersburg 160 (88), in Moskau vom 17. Oktober 
bis 4. Novbr. 12 (5); vom 16. Oktober bis 28. Oktbr.: in den Gouvernements 
Grodno: 148 (47), Lomsha 639 (283), Petersburg 123 (38), Orel 256 (90), Podo- 
lien 1126 (538), Moskau 82 (43), Tula 128 (43), Kiew 649 (249), Wolhynien 948 
(388), Kursk 182 (92). Im Allgemeinen ist somit wohl eine Abnahme der Seuche 
bemerkbar, aber doch noch nicht in erheblichem Maasse. Insonderheit scheint 
die Cholera nach Westen zu in den polnischen Bezirken eher zu- als abzu¬ 
nehmen. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath in Minden i W. 

J. C. C. Brnos, Buchdruckerei, Minden. 




6. Jahrg. 


Zeitschrift 

tui’ 


1893. 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rath u. gerichtl. Stautphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Medi/.inalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer's mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserat«, die durchlaufende Petitzeile 45 Pf. nimmt die Verlagshandlung^und Rad. Mosse 

entgegen. 


No. 23. 


Kraeheint am 1. und 15. Jeden Monats. 
Preis Jährlich 10 Mark. 


1 . 


Dezbr.. 


Epidemiologische Erfahrungen Uber Diphtherie. 

Von Kreis - Phy9ikus Dr. Richter in Marienburg, früher in Gross-Wartenberg. 

Ein Epidemiezug der Diphtherie durch den Kreis Gross- 
Wartenberg während der Jahre 1890—1893 gab mir Veranlassung 
zu folgenden Beobachtungen: 

Im Herbste 1890 brach in W. eine schwere Diphtherie- 
Epidemie aus. Auch eine Dame erkrankte nach ärztlichen Fest¬ 
stellungen an der Seuche und starb an den Folgen derselben. 
Bald darauf erreichte die Epidemie ihren Höhepunkt. Im Publikum 
wurde mehrfach die Ansicht laut, zu der grossen Ausbreitung der 
Seuche hätten nicht oder nicht gehörig desinfizirt verschenkte 
Effekten beigetragen, welche von der an Diphtherie verstorbenen 
Dame herrührten und zum grossen Theil in den Besitz der am 
meisten beschäftigten Hebamme in W. übergegangen waren. 

Als ich im Winter 1890 nach W. kam, war die Diphtherie- 
Epidemie im Erlöschen. Indessen kamen vereinzelte, zum Theil 
tödlich endigende Fälle der Seuche in W. noch bis spät in das 
Jahr 1891 hinein vor. 

Während desselben Jahres wurden ferner einzelne, ebenfalls 
theilweise tödlich ablaufende Fälle von Diphtherie an anderen 
Orten des Kreises, nämlich zu Dm., Db., Kz. und T. festgestellt. 
In Dm. und Db. wurden Kinder der im Schulhause wohnenden 
Lehrer von der Seuche befallen. In Folge dessen fand eine zeit¬ 
weilige Schliessung und gründliche Desinfektion der betreffenden 
Schulen statt. Zu einer Verbreitung der Seuche kam es nicht, 
ob post hoc oder propter hoc bleibe dahingestellt. 

Im März und April 1892 verdichtete sich die Seuche in T. 
zu einer kleineren Epidemie, welche leider, da der Berichterstatter 
verreist war, nicht genauer studirt wurde. Im Ganzen scheinen in 
T. nach nachträglichen Feststellungen etwa 6—8 Erkrankungen 
Vorgelegen zu haben. 








578 


Dr. Richter. 


Einige Wochen später zog ein Arbeiter von T. nach F. N., 
dessen Kinder kurz zuvor „halsleidend“ gewesen waren. Im Juli 
und August bis in den September 1892 hinein wüthete in F. N. 
eine äusserst ausgebreitete Diphtherie - Epidemie, welche von im 
Ganzen 887 Einwohnern innerhalb des genannten kurzen Zeit¬ 
raums 15 Opfer forderte. Im Beginn der Epidemie waren vielfach 
bei Gelegenheit der Beerdigung von Diphtherie - Leichen Schmau¬ 
sereien in den Trauerhäusern unter Betheiligung von Kindern ab¬ 
gehalten worden. 

Am 12. September reiste ein Mann aus dem verseuchten 
F. N. nach dem seit vielen Monaten diphtheriefreien W. und 
logirte für 3 Tage bei der Familie H. Am 20. September erkrankte 
ein Kind der letzteren an einer schweren Halsentzündung. Dasselbe 
kam in meine Behandlung: es fanden sich zusammenhängende, 
schmutziggraue, die ganzen Mandeln beiderseits bedeckende Beläge, 
welche sich später auch auf das Zäpfchen ausdelmten. Sofort 
wurden alle Massregeln zur Verhütung einer Verschleppung der 
Seuche getroffen, vor Allem das ältere H.’sche Schulkind vom 
Schulbesuche ausgeschlossen. Am 8. Oktober erkrankte ein zweites 
Kind der H.’schen Familie unter denselben Erscheinungen, wie 
da9 erste. Beide Kinder genasen. Eine Verschleppung der Seuche 
fand nicht statt. 

Ferner trat die Diphtherie ziemlich gleichzeitig und zwar 
sehr bald in grösserem Umfänge im Laufe der Monate September 
und Oktober 1892 in N. und F. und deren Umgegenden auf, um 
dann hier ihren nunmehrigen Hauptsitz aufzuschlagen und unter 
zum Theil bedeutenden Opfern an Menschenleben, in F. bis spät 
in das Frühjahr des Jahres 1893 hinein, zu behaupten. 

In M. L. und Gr. C. traten um die Weihnachtszeit 1892 
herum vereinzelte Fälle der Seuche, in Mg. und Fr. im Febr. 1893 
eine kleinere Epidemie auf. Die letztere hielt sich ausschliess¬ 
lich an die evangelische Schule zu Mg., welche auch von Kindern 
aus Fr. besucht wird, während die katholische Schule gänzlich 
verschont blieb. Die Epidemie kam nach mehrtägiger Sperrung 
der Schule zum Zwecke der Desinfektion derselben zum Erlöschen. 

Endlich kamen im April 1893 noch vereinzelte Diphtheriefalle 
in Sr. und Kl. C. vor. Später auch in Ts. und Nf. 

Die beigegebene Karte soll den bisherigen Bericht erläutern 
und ergänzen. An derselben dürfte Eins jedem unbefangenen Be¬ 
obachter auffallen, nämlich dass der mit schlechten Kommunikations¬ 
wegen versehene und daher sehr verkehrsarme äusserste Norden 
des Kreises so gut, wie seuchenfrei geblieben ist. — 

Was den Charakter der Epidemie aiilangt, so erklärten die 
behandelnden Aerzte grösstentheils denselben bei rechtzeitiger 
ärztlicher Pflege für verhältnissmässig gutartig. Herr Dr. W. 
in N. hat von während der Epidemie im Ganzen 82 an Diphtherie 
behandelten Kranken nur 18 durch den Tod verloren. Von diesen 
letzteren kamen 9 zu spät, nämlich mit ausgebildeten Erstickungs¬ 
erseheinungen in seine Behandlung. Der Ausgang von G Fällen 
blieb unbekannt. 



Epidemiologische Erfahrungen über Diphtherie. 


579 


Ganz anders gestaltete sich der Genius epidemicus in F., 
nachdem das berüchtigte Noortwyck ’ sehe Kurpfuschermittel aus 
Berlin, im Wesentlichen aus Alkohol, Kreosot und Birkentheer 
bestehend, nach F. eingeschleppt worden war und vom Publikum 
unter Vernachlässigung der ärztlichen Behandlung vielfach ange¬ 
wendet wurde. Nunmehr kamen viele der an Diphtherie erkrankten 
Kinder erst 24 Stunden und noch kürzere Zeit vor dem Tode 
mit zum Theil scheusslichen Rachenbelägen in die Behandlung 
der Aerzte. 

Ein Theil der behandelnden Aerzte erklärte es für eine auf¬ 
fallende Thatsache, dass die Seuche viel häufiger in solche Familien 
einbrach, in welchen sich schulpflichtige Kinder befanden, als in 


O Städte. 

O Ortsch cr/'ten. 

■ • epicle rutsch“ 1 Crbrei tun g. 
© ei n z e ln o Fu Fe. 

Chausseen 
Eisen b<y./m 



solche, in welchen schulpflichtige Kinder nicht vorhanden waren. 
Einer der Aerzte schrieb mir einen Brief, in dem er die Schulen 
in F. indirekt als Seuchenherde bezeichnete, „weil auffallender 
Weise in seiner Praxis nur dort Erkrankungen an Diphtherie vor¬ 
kämen, wo schulpflichtige Kinder vorhanden wären und zwar ohne 
Unterschied der sozialen Stellung der Eltern und der damit ver¬ 
schiedenen häuslichen hygienischen Massnahmen und Einrichtungen“. 
Sowohl die Aerzte, als das Publikum, verlangten daher eine 
Schliessung der Schulen. 

Im Laufe der Epidemie von 1892/93 wurden im Ganzen vier 
Schulschliessungen als Selbstzweck, d. h. nicht nur auf mehrere 
Tage zum Zwecke einer Desinfektion der Schulen, sondern auf 
längere Zeit nothwendig; die Wirkung derselben aber erschien, 



580 


Dr. Richter. 


soweit der Schluss „propter hoc“ erlaubt ist, in der That in allen 
Fällen als eine überraschende: 

In F. N. fielen der Seuche während der Monate Juli und 
August 1892 von insgesammt 887 Einwohnern 12 Kinder zum Opfer. 
Unterm 28. August wurde die Schulschliessung verfügt und die 
Schule gründlich desinfizirt. Dann starben noch bis in den Monat 
September hinein 3 weitere an Diphtherie erkrankte Kinder. Darauf 
aber erlosch die Seuche. 

In 0. und Ch. — diese Ortschaften haben ihre gemeinsame 
Schule in 0. — erlagen während der Monate September und Ok¬ 
tober 1892 von zusammen 635 Einwohnern 10 Kinder der Diph¬ 
therie. In 0. allein befiel während des genannten Zeitraums die 
Seuche unter im Ganzen 463 Einwohnern 25 Kinder in 9 Familien. 
Am 1. November wurde die Schliessung und Desinfektion der 
Schule in 0. verfügt und erstere 14 Tage lang aufrecht erhalten, 
worauf die Seuche für die Dauer erlosch. 

In S. kamen unter 688 Einwohnern zu Ende Oktober und in 
den ersten Tagen des November 1892 schnell hintereinander etwa 
6—8 Erkrankungen mit 3 Todesfällen, zum Theil an Schulkindern 
zur Beobachtung. Auf meinen Rath entschloss man sich unterm 
6. November 1892 sogleich zu einer Schliessung der Schule für 
14 Tage mit gründlicher Desinfektion derselben, da ich ein con- 
pement der Seuche mittelst dieser Massregel in Aussicht stellte. 
Zugleich erging eine Bekanntmachung im Kreisblatte, welche dazu 
rieth, in mit Diphtheritis verseuchten Ortschaften den Verkehr der 
Kinder auch ausserhalb der Schulen möglichst zu beschränken. 
Darauf erlosch die Seuchfe in S. 

In F. wurde wegen anhaltenden Ansteigens der Diphtherie- 
Morbidität und - Mortalität — im Januar und Februar erlagen der 
Seuche in F. von insgesammt 3335 Einwohnern ca. 12 Kinder und 
zwar herrschte die Seuche wiederum ausschliesslich in der 
evangelischen Schule, während die katholische zunächst seuchenfrei 
blieb — unterm 4. März 1893 eine Schliessung der ersteren Schule 
für einige Tage behufs gründlicher Desinfektion derselben ange¬ 
ordnet und vorgenommen. Alsbald fand eine sehr auffallende Ab¬ 
nahme der Seuche statt, denn in der Zeit vom 7. März bis 10. April 
1893 kamen nur noch 2 weitere Diphtheriefälle in F. zur Kennt- 
niss der wachsamen Behörden. Dann aber flackerte die Seuche 
plötzlich wieder auf. Vom 18. bis 26. April wurden 6 Neu¬ 
erkrankungen mit 2 Todesfällen au Diphtherie aus F. bekannt. 
Nunmehr liess sich feststellen, dass die Seuche auch in die katho¬ 
lische Schule ihren Einzug gehalten hatte. Die Schulen wurden 
daher beide geschlossen und sorgfältig desinfizirt. Danach konnten 
die Schulen am 26. Mai wieder eröffnet werden. Seitdem wurde 
nichts mehr von Diphtherie in F. wahrgenommen. 

Soweit in Kürze meine Beobachtungen. Die Schlüsse, welche 
ich aus denselben ziehe, sind Folgende: 

1. Nicht oder nicht genügend desinfizirte Effekten von 
Diphtherie-Kranken sind als äusserst gefährliche, der Verschleppung 
der Seuche in ganz hervorragendem Masse dienende Vehikel anzu- 



Epidemiologische Erfahrungen Aber Diphtherie. 


581 


sehen. Die im grossen Publikum sich Bahn brechende Empfindung 
hierfür ist zu nähren und ihr durch strenge Ueberwachung des 
Verkehrs mit solchen Effekten und gründliche Desinfektion der¬ 
selben in strömendem Wasserdampf Rechnung zu tragen. 

2. Auch vereinzelten Fällen von Diphtherie muss andauernd 
die ganze Aufmerksamkeit der Behörden gewidmet werden, da 
dieselben unter für die Entwickelung der Seuche günstigen Um¬ 
ständen, z. B. sobald dieselbe sich in einer Schule einnistet, zu 
kleineren oder grösseren Epidemien sich verdichten und den Aus¬ 
gangspunkt für grössere Seuchenzüge abgeben können, wie der 
Verlauf der Epidemie vom Jahre 1892/93 im Kreise Gross-War¬ 
tenberg gezeigt hat. Die Pflichten der Behörden haben sich hier¬ 
bei zu erstrecken: 

a. Auf eine strenge Aufsicht über die Anzeigepflicht der Aerzte 
und der übrigen nach Massgabe der bestehenden Vor¬ 
schriften zur Anzeige des Ausbruchs ansteckender Krank¬ 
heiten verpflichteten Personen. 

b. Auf die jedesmalige Feststellung wenigstens der ersten 
Fälle der Seuche an jedem einzelnen betroffenen Orte des 
Kreises nach Massgabe der Min.-Verfügung vom 23. April 
1884. Die ärztliche Feststellung allein genügt keines¬ 
falls, soll vielmehr nur als Grundlage für die weitere 
Untersuchung und Begutachtung der Sachlage von Gesichts¬ 
punkten der Staatsgesundheitspflege dienen, welche den 
praktischen Arzt direkt nichts angeht. Der praktische 
Arzt ist weder verpflichtet, noch berechtigt, den Behörden 
massgebende Vorschläge gegen die Verbreitung anstecken¬ 
der Krankheiten zu machen. 

c. Auf die strenge Durchführung der von dem Kreismedizinal- 
Beamten vorgeschlagenen Massregeln. Entstehen Zweifel 
über die Zweckmässigkeit und Berechtigung derselben, 
so sind sie gleichwohl bis zur Entscheidung durch höhere 
Instanzen und event. unter Vorbehalt von Regressansprüchen 
an den Kreismedizinalbeamten durchzuführen. 

3. Die Art der Verschleppung der Seuche von T. nach F.- 
N. legt den Gedanken nahe, dass die leichtesten Fälle von Diph¬ 
therie, gerade wie bei der Cholera, bezüglich der Verbreitung der 
Krankheit die gefährlichsten sind, dass also in Zeiten von Diph¬ 
therie-Epidemien den Anginen mit geringen Belägen u. s. w. die¬ 
selbe Aufmerksamkeit zuzuwenden ist, wie den schon dem Laien 
als Diphtherie imponirenden schweren Erkrankungsfällen. 

4. Die Diphtherie ist eine wahrscheinlich rein kontagionisti- 
sche Krankheit. Wären die Kinder des Stellmachers H. in W. 
nicht sogleich in ärztliche Behandlung gekommen, wäre nicht Alles 
geschehen, um die Ausbreitung der Seuche zu verhüten, wäre 
z. B. das nicht erkrankte Schulkind der Familie nicht strenge von 
den erkrankten Kindern isolirt gehalten worden, hätte es sich in- 
fizirt und die Schule bis zum oder gar bis einige Zeit nach dem 
Ausbruche der Krankheit bei ihm selbst besucht, wie dies so 
unendlich häufig geschieht, so lag die Gefahr nahe, dass wir in 



582 


Dr. Richter. 


W. im Jahre 1892 eine zweite, nicht minder schwere Diph¬ 
therie-Epidemie erlebten, als im Jahre 1890. Hätte es dann aus 
irgend einem Grunde der Kenntniss sich entzogen, dass ein aus 
dem durch und durch mit Diphtherie verseuchten F. N. zugereister 
Mann sich einige Tage lang im H.’schen Hause aufhielt und mit 
den H.’schen Kindern in innige Berührung kam, so wäre der Ur¬ 
sprung dieser zweiten Epidemie in völliges Dunkel gehüllt geblieben. 

Eben so gut nun wie nach W. kann die Seuche auch 
nach N. und F. und den übrigen Orten, in welchen sie auftrat, 
durch den menschlichen Verkehr allein verschleppt worden sein. 
Wie wäre sonst das fast absolute Freibleiben des chausseenlosen 
nördlichsten Theiles des Kreises erklärbar? Es ist eben nur selten 
möglich und stets mehr oder weniger vom Zufalle abhängig, die 
Fäden aufzufinden, welche die einzelnen Fälle und die einzelnen 
Seuchenherde mit einander verbinden. Der menschliche Verkehr 
geht auch unter den scheinbar einfachsten Kulturverhältnissen 
noch auf so verschlungenen Pfaden vor sich, dass es unmöglich 
ist, ihm überall hin in’s Einzelne zu folgen. Die sich mehrenden, 
zum Theil einwandsfreien Beobachtungen, in welchen es hin und 
her gelingt, ihm nachzuspüren, sprechen aber mit so lauter Stimme 
dafür, dass auch die Diphtherie eine Verkehrskrankheit in be¬ 
schränkten Grenzen ist, dass wir nicht nöthig haben, mystische 
Hypothesen anderer Art für die Erklärung ihrer Verbreitung her- . 
anzuziehen. Wenn die Diphtherie trotz ihrer grossen Ansteckungs- 
faliigkeit eine mehr lokale Verkehrskrankheit ist, so erklärt sich 
dies leicht durch die Bevorzugung des Kindesalters, welche die 
Seuche verfolgt. Kinder aber stehen überall in mehr oder weniger 
lokal begrenztem Verkehr unter einander. 

5. Die Epidemie hat ferner die längst bekannte Thatsache 
bestätigt, dass eine frühzeitige Allgemeinbehandlung der an Diph¬ 
therie Erkrankten das Sterblichkeits-Verhältniss günstig beein¬ 
flusst. Der trostlose Satz: „Die leichten Fälle kommen durch, 
die schweren sterben“, ist wenigstens für die Praxis ausserhalb 
der Krankenhäuser mit grossen Einschränkungen zu verstehen, da 
man hier oft sehr verzweifelte Fälle schliesslich doch noch durch¬ 
kommen sieht, welche in vielen unserer Krankenhäuser in Folge 
der mangelhaften hygienischen Verhältnisse derselben verloren 
wären. 

6. Die Schulen stellen die Hauptseuchenherde der Diphtherie 
dar und zwar so, dass durch bereits infizirte oder noch nicht völlig 
ansteckungstreie Kinder, welche die Schulen besuchen, der An¬ 
steckungsstoff immer von Neuem in die Schulen hineingeschleppt 
und hier geradezu aufgestapelt wird. Eine gründliche Desin¬ 
fektion der Schulen kann daher eine Abnahme oder sogar ein Er¬ 
löschen der Seuche bewirken. Eine einigermassen sichere Wirkung 
aber darf man sich bei einiger Ausbreitung der Seuche nur von 
einer zeitweiligen Sperrung der Schulen versprechen, welcher jedes 
Mal die gründliche Desinfektion derselben zu folgen hat. 

Hiernach schlage ich den Kollegen in Ermangelung eines 



Epidemiologische Erfahrungen über Diphtherie. 


583 


Seuchengesetzes folgende Abwehrmassregeln in Fällen von Diph¬ 
therie-Epidemien in ihren Kreisen vor: 

1. Die Anzeigepflicht ist den Aerzten durch unentgeltliche 
Lieferung vorgedruckter Meldekarten aus Kreismitteln zu er¬ 
leichtern. 

2. Die Aufmerksamkeit der Lehrer ist auf die Seuche hin¬ 
zulenken. Dieselben sind strengstens anzuweisen, alle „halskranken“ 
Kinder zur Zeit der Epidemie sofort und für so lange vom Besuche 
der Schule auszuschliessen, bis dieselben durch ärztliches Zeugniss 
den Nachweis liefern, dass sie entweder nicht an Diphtherie leiden 
und gelitten haben, oder dass mindestens vierzehn Tage nach dem 
Verschwinden der Beläge verflossen sind. Bringen dieselben ein 
solches Attest nicht bei, so sind vier volle Wochen auf den Ab¬ 
lauf der Krankheit anzurechnen und die Kinder nicht eher zu¬ 
zulassen. 

3. Kommen auf dem Lande und in kleinen Städten schnell 
hintereinander bei Kindern derselben Schulen und deren nicht 
schulpflichtigen Hausgenossen mehrfach verdächtige Fälle von Hals¬ 
oder Nasenentzündung, etwa mit tödtlichem Ausgange vor und 
wird bei einem oder dem andern der Kinder eine diphtheritische 
Erkrankung (wozu auch der sogen. Croup zu rechnen) festgestellt, 
so sind die ganzen Schulen bezw. bei grösseren Schuletablisse¬ 
ments die befallenen Klassen ungesäumt zu schliessen und gründ¬ 
lich zu desinfiziren. Im Allgemeinen dürfte es nach meinen 
Erfahrungen genügen, die Sperren vierzehn Tage bis drei Wochen 
lang aufrecht zu erhalten. 

Einer so mörderischen Krankheit gegenüber, wie der Diph¬ 
therie, sind die energischsten Schutzmassregeln am Platze und 
müssen alle anderen Rücksichten schweigen. Ist aber die Diph¬ 
therie erst einmal in eine Schule oder Klasse eingebrochen, so 
besteht nach meinen Erfahrungen die äusserste Gefahr einer unter 
Umständen sehr schnellen und ausgedehnten Propagation der Seuche. 
Die meisten Schulsperren werden leider verhängt, 
wenn sie nichts mehr leisten können. Bedenken der zu¬ 
nächst vorgeordneten Behörden ist durch Ablehnung aller weiteren 
Verantwortung und event. Bericht an die Vorgesetzte Behörde zu 
begegnen. 

4. In grossen Städten, in welchen die Seuche endemisch ist, 
sollten alle Schulkinder bis zum 10. Lebensjahre aufwärts wöchent¬ 
lich einmal ärztlich auf Diphtherie untersucht werden. Ich stelle 
mir die Ausführung dieser Massregel ähnlich vor, wie die kom¬ 
pagnieweisen Untersuchungen der Soldaten auf den Zustand ihrer 
Geschlechtsorgane und Augenbindehäute. Die Kinder treten klassen¬ 
weise an, jedes mit seinem eigenen Mundspatel in der Hand. Der 
Arzt, hinter welchem der Schuldiener mit einer, Sublimatlösung 
enthaltenden Schale hergeht, schreitet die Reihen entlang und in- 
spizirt mit einem Blicke die äussere Nase und den Rachen jedes 
Kindes. Verdächtige werden herausgestellt und später gesondert 
genau untersucht. Diese Massregel ist nach Anstellung von Schul¬ 
ärzten durchführbar und vollkommen genügend. Ich bin fest über- 



584 


Dr. Ohlemanu. 


zeugt, dass dieselbe im Laufe der Jahrzehnte zu einer sehr wesent¬ 
lichen Einschränkung der Diphtherie in grösseren Städten führen 
müsste. 

5. Ausserdem sind die Desinfektionen der Räume, in welchen 
Diphtherie - Kranke gelegen haben, und der Effekten derselben 
durchzuführen. 

6. Endlich ist ein Verbot aller Kinder-Versammlungen in 
Trauerhäusern, in welchen Diphtherie - Leichen liegen, zu erlassen 

Nur wenn die so siegreich begonnene Bekämpfung der Diph¬ 
therie im Kranken durch die Heilserumtherapie unterstützt wird 
durch einen Vernichtungskampf gegen die Diphtheriekeime im 
Grossen ausserhalb des Kranken, dürfen wir hoffen, dass dieser 
scheusslichsten aller Kinderseuchen in absehbarer Zeit ihre 
Schrecken genommen werden. 

Dazu aber bedarf es eines nicht zu ermüdenden Ringens mit 
dem Vorurtheil des Publikums in weiterem und engerem Sinne des 
Wortes; und berufen zu diesem Ringen sind an erster Stelle die 
Medizinal - Beamten. 


Zur Aggravation von Amblyopie. 

Von Dr. Ohlemann in Minden, früher Kreiswundarzt des Kreises Osterholz. 

Im Anschlüsse an meine im Oktoberhefte dieses Blattes 
gebrachten Mittheilungen über Aggravation bei ^ugenverletzungen 
möchte ich noch Einiges nachtragen, einmal weil während des 
Druckes der Arbeit eine andere über denselben Gegenstand von 
N i e d e n in Bochum erschien und andererseits, weil ich inzwischen 
Gelegenheit fand, in der Königlichen Augenklinik in Berlin noch 
weitere Erfahrungen sowie Urtheile von Fachgenossen zu sammeln. 
Vor Allem verdiente es die Nieden’sche Arbeit 1 ) in weiteren 
Kreisen bekannt zu werden. Sie beschäftigt sich in ausführlicher 
Weise nicht allein mit der Simulation von Sehstörungen, sondern 
überhaupt mit der Uebertreibung und Simulirung aller Arten 
von Augenverletzungen. Es lässt sich über diese Arbeit nicht 
erschöpfend im Auszuge referiren, dazu ist die Fülle der Einzel¬ 
heiten zu gross, es möge daher gestattet sein, einiges herauszu¬ 
greifen, was sich auf die Simulation der Sehfähigkeit 
bezieht. — Zunächst eine kurze Bemerkung über die Statistik: 

Seit dem Erlass des Unfall-Versicherungsgesetzes vom 6. Juli 
1884, berichtet Nieden, hat sich im Bezirke Saarbrücken die 
Zahl der Unfälle um 25 °/ 0 vermehrt, die Zeitdauer der Heilung 
dagegen ist 30 °/ 0 länger als früher. 

Es giebt Kollegen, welche es mit den Arbeitern halten, 
das ist rein menschlich, thut wohl am Ende ja ein jeder, 
allein der Standpunkt des einzelnen Arztes mag schliesslich ab- 

*) Die Arbeit entstand als Festschrift zur Feier des 25jährigen Jubiläums 
des ärztlichen Vereins des Regierungsbezirks Arnsberg und ist im Druck erschie¬ 
nen bei Bergmann in Wiesbaden in den gesammelten Beiträgen aus dem (ie- 
samintgebiet der Chirurgie und Medizin des praktischen Lebens, redigirt von 
Prof. Dr. Löbker und Dr. Nieden. 



Zur Aggravation von Amblyopie. 


585 


hängig sein von den Erfahrungen, die er macht. Der eine 
macht gute bei der Arbeiterbevölkerung, er ist daher um so 
eher geneigt, den Angaben derselben bei Verletzungen einen guten 
Glauben entgegen zu bringen, ein Anderer ist vielleicht ein¬ 
mal hineingefallen; es sind ihm öfter Fälle von Simulation vor¬ 
gekommen, er ist daher von vornherein etwas misstrauisch. So 
sagte mir ein Fachgenosse in der Königlichen Augenklinik in 
Berlin, er glaube, dass iu der Provinz von Seiten der Aerzte häufig 
wohl viel zu rigoros gegen die Arbeiter verfahren werde, nach 
seinen Erfahrungen würde ihnen sehr häufig Unrecht gethan. Ich 
registrire diese Bemerkung, weil es ja nützlich ist, auch andere 
Meinungen hierüber kennen zu lernen. Ob der Herr Kollege aber 
auch gegenwärtig so urtheilen würde, nach dem Erscheinen der 
N i e d e n ’sclien Arbeit, das weiss ich allerdings nicht. Dieser Beob¬ 
achter hat die Wahrnehmung gemacht, die auch ich bereits aus¬ 
gesprochen habe, dass die Leute durch längere Uebung und wieder¬ 
holte Untersuchungen ausserordentlich lernen, sie bestehen die 
Prüfungen mit einer verblüffenden Sicherheit, die bei der gleich¬ 
bleibenden Korrektheit ihrer Angaben in Erstaunen setzt. Ganz 
gegentheilig urtheilen die Herren Kollegen in Berlin, wie ich 
bereits erwähnte. Sie haben z. B. kein Vertrauen zur Prisma¬ 
untersuchung bei Aggravirungen von Sehstörungen, auch wenn es 
sich nur darum handelt, die Vertrauenswürdigkeit der Angaben 
der Leute zu prüfen. Die Herren Kollegen machen geltend, dass 
man als Augenarzt wohl mit Prisma umzugehen verstehe, Leuten 
aber, die nie im Leben ein Prisma gesehen oder in der Hand ge¬ 
habt hätten, nicht zumuthen könne, richtige Angaben zu machen, 
man dürfe denselben daher keine Bedeutung beilegen. Man kann 
da anderer Meinung sein, nicht allein auf Grund der Nieden’schen 
Beobachtungen; man darf einwenden, dass doch klinisch bei der 
Prüfung der Augenmuskel-Verhältnisse kein Unterschied bei den 
Patienten gemacht wird in Hinsicht jeweiliger Bildung und Intelli¬ 
genz; letztere zumal ist keineswegs an die Bildung gebunden. 
Ein Arbeiter mit gesunden Sinnen kann unter Umständen richtiger 
eine Beobachtung machen, als ein Anderer, der vielleicht viele 
Jahre die Schulbank gedrückt hat. Dann aber auch noch ein 
anderer Einwurf: Die Perimeter-Prüfung lässt man gelten, ist 
diese aber nicht auch basirt auf subjektive Angaben des zu Unter¬ 
suchenden ? Und gehört nicht noch mehr Intelligenz oder vielmehr 
guter Wille dazu, auf die Intentionen des Untersuchers einzugehen? 
Bei der Prisma-Untersuchung hat der zu Untersuchende nur an¬ 
zugeben, ob er ein Licht einfach oder doppelt sieht, man kann 
zur Noth, wenn nicht erwartete Antworten kommen, sogleich selbst 
nachsehen, woran die Ursache liegt, ob etwa störende Nebenreflexe 
die Zahl der Nebenbilder vergrössert haben. Bei der Gesichts¬ 
feldprüfung hingegen kommt noch hinzu, dass der zu Untersuchende 
zentral fixiren und dabei über das, was er peripher sieht, Angaben 
machen soll. Stets hat man dabei zu kontroliren, ob keine Ab¬ 
weichung des zentralen Sehens stattfindet. Dann ferner lassen sich 
die Angaben, ob richtig peripher gesehen und angegeben wird, 



586 


Dr. Ohlemann. 


gar nicht kontroliren; nachweisen kann man unrichtige Angaben 
nur aut die von Schmidt-Rimpler angegebene Weise. Es 
kommt daher meines Erachtens nicht auf die Art der Methode an, 
sondern auf die Weise, wie man in überzeugender Art den Beweis 
für die erhaltenen falschen Angaben erhält. 

Wenngleich auch meine Prisma - Untersuchung abfällig be- 
urtheilt wurde, so möchte ich doch noch Einiges über dieselbe 
nach tragen, schon um Fehlerquellen zu vermeiden. Diese liegen 
in den bereits berührten Reflexen. 

Betrachtet man ein Licht mit einem Prisma mit der Basis 
nach unten vor einem Auge, so sieht man in gerader Blickrichtung 
2 Lichter übereinander, wobei das höher stehende dem mit dein 
Prisma versehenen Auge angehört. Man wähle keine für solche 
höheren Grades, etwa 4°—5°, da es wünschenswert ist, dass die 
Lichter nicht zu weit von einander stehen. Würde man diese 
Prismen mit der Basis nach innen oder aussen verwenden, so würden 
die Doppelbilder von der Fusionstendenz der Augenmuskel bald 
überwunden, dies ist bei der Stellung mit der Basis nach unten 
nicht der Fall. Wenn man nun statt geradeauszusehen, hoch 
nach oben sieht, so kann man meist noch ein, ja sogar noch 
mehrere Flammenbildchen ebenfalls in geradem Bilde erkennen. 
Sie sind zwar schwach, allein sie sind doch da. Man muss daher 
bei den Versuchen geradeaus blicken lassen und kann sich event. 
auch die Stellung des Flammenbildchens beschreiben lassen. Allein 
darauf kommt nicht alles an, sondern es kommen die Antworten 
in Betracht, aus denen man erkennen kann, ob dieselben glaub¬ 
würdig sind. Man urtheilt ja auch hiernach nicht allein, sondern 
man muss sein Urtheil von dem Gesammtresultat der Untersuchung 
und der ganzen Beobachtungszeit abhängig machen. Ausserdem 
lassen sich die störenden Flammenbildchen ausschliessen, wenn 
man die obere Hälfte des Prismas durch ein Papierblättchen, das 
man mit etwas Wasser aufträgt, bei der Prüfung undurchsichtig 
macht. 

Sehr interessant sind die Beobachtungen, welche Nie den 
bei der Perimeter - Prüfung gemacht hat. Er prüfte die Grenzen 
für gelb, grün, roth, blau und weiss. Das Gesichtsfeld für weiss 
z. B. ist nach oben unter normalen Verhältnissen etwa 50° des 
Perimeterbogens, medianwärts 60°, lateral 35°, nach unten 70°. 
Nieden fand bei den der Simulation Verdächtigen in allen Rich¬ 
tungen 32° vom Fixationspunkte. Und weshalb? Weil bei seinem 
Perimeterbogen an dieser Stelle eine feine Nietstelle sich befindet, 
die dem Gedächtnisse des zu Untersuchenden bei der zweiten und 
dritten Aufnahme eine vorzügliche und verführerische Handhabe 
verleiht, das Geschäft des Leugnens zu beginnen. Noch be¬ 
stimmter wird der Verdacht, wenn, wie bereits angegeben, weiter 
bei der Aufnahme des Gesichtsfeldes in doppelter Entfernung vom 
Fixirpunkte die Grenzen nicht, wie der Sache gemäss, in ent¬ 
sprechend grösserer Ausdehnung, sondern kleiner angegeben werden, 
weil der Simulant der Meinung ist, je grösser die Entfernung, 
desto undeutlicher müsse er sehen. 



Zur Aggravation von Amblyopie. 


587 


Auch nach dem Allgemeinverhalten des Simulanten kann 
man sich zuweilen richten, oder dasselbe zur Beurtheilung ver- 
werthen. Ein Kranker, der in der That eine konzentrische, halbsei¬ 
tige oder sektorenförmige Gesichtsfeldbeschränkung besitzt, kann auch 
an seiner Schädelstellung, der Drehung und Haltung seines Kopfes 
bei seiner Orientirung im Raume erkannt werden, was so charak¬ 
teristisch ist, dass auch der gewiegteste Simulant die Täuschung 
nicht durchführen könnte/ 

Eine wichtige Ausnahme aber giebt es hierbei doch. Das 
sind die Fälle traumatischer Neurose mit ihrer konzentrischen 
Gesichtsfeldeinengung, die als Ermüdungs - Einschränkung aufzu¬ 
fassen ist. Es sind die Fälle, welche als Anaesthesie oder 
Hyperaesthesie der Netzhaut, auch traumatische Hysterie und 
Neurasthenie genannt, bereits geschildert sind. Bei diesen Zu¬ 
ständen ist das Orientirungsvermögen nicht aufgehoben. 

Einen solchen Fall hatte ich vor Kurzem in der Berliner 
Königlichen Augenklinik zu beobachten Gelegenheit, und bei der 
ersten Untersuchung — nicht erkannt, obgleich alle charakteristi¬ 
schen Merkmale vorhanden waren: 

Dr. Silex, erster Assistent der Klinik, überwies mir eine 
Patientin zur Prüfung und Diagnose. Minna B., 17 Jahre alt, 
wurde am 6. April dieses Jahres bei ihrer Arbeit in den allge¬ 
meinen Berliner Elektrizitäts - Werken verletzt. Die Arbeit be¬ 
stand darin, Ankerstücke in Gefasse mit Zink und Säuren zu 
tauchen. Hierbei entstand eine kleine Explosion und es spritzte 
ihr etwas dabei in die Augen. Status praesens am 12. Septbr.: 
Die Bindehäute gesund, am nichtpupillaren, unteren rechten Cor- 
nealtheil eine kaum sichtbare kleine Trübung, linke Cornea klar. 

6 

Sehschärfe beiderseits —, doch wird über rasche Ermüdung ge- 

IO 


klagt. Ophthalmoskopisch scheint 1D Myopie vorhanden zu sein. 
Konkavgläser bessern die Sehschärfe nicht. Mit Rücksicht auf 
die leichte Cornealtrübung wurde mit Cylindergläsern geprüft, ob¬ 
gleich keratoskopisch kein Astigmatismus nachweisbar war. In der 
That wurde mit 1 Dioptrie konkav sphärisch kombinirt mit 1 j 2 D 
Koncavcylinder, Axe senkrecht, die Sehschärfe gebessert, stieg auf 


6 

9 


und die Ermüdung trat zurück. 


Die Untersuchung selbst war 


nicht einwandtfrei, da während der Sehprüfungen zahlreiche 
Patienten die Untersuchung störten, der Raum sehr beengt war, 
da 4 Kollegen gleichzeitig Sehprüfungen Vornahmen, und das Re- 
fraktions - Ophthalmoskop nur kürzere Zeit frei war. 

Dr. Silex erklärte die Diagnose für falsch, und war es auch 
für mich nachher zweifellos, dass es sich um eine traumatische 
Neurose, An- oder Hyperaesthesia retinae handelte. Das Gesichts¬ 
feld war vorher bereits wiederholt aufgenommen, hatte konzen¬ 
trische Gesichtsfeld-Einschränkung ergeben und die rasche Er¬ 
müdung bei der Sehprüfung war zu evident. Dazu war der Er¬ 
nährungszustand kein sehr guter und allgemeine Symptome anämi¬ 
scher Natur vorhanden. 



588 


Dr. Ohlemann: Zur Aggravation von Amblyopie. 


Während in diesen Fällen das Refraktions - Ophthalmoskop 
in Stich lässt, wenigstens ohne Bedeutung ist, giebt es anderer¬ 
seits wieder solche, in denen damit allein eine Simulation erkannt 
werden kann. Sie kommen wohl nur den Militärärzten zur Beob¬ 
achtung. Erzählt wurde in der Klinik folgende Methode: 

Ein Einjähriger meldet sich bei dem betreffenden Stabsarzt 
zur Untersuchung. Er stellt sich vor mit einem Pince-nez von 
5 oder 6 Diopterien (konkav 8 oder 7) und erklärt, dass er diese 
Nummer schon von Kind auf trage. Die Sehprüfung wird gemacht, 
feiner Druck nach Schweigger 0,5 und 0,6 in 5 bis 10 ctm 
Entfernung mühsam erkannt. Für die Ferne zeigt sich eine Seh- 
6 6 

schärfe von ^ bi8 jg. Der zu Untersuchende liest unterste Reihe 

R D, zweitunterste: G, B, 0, drittunterste: H . . ., weiter kommt 
er nicht, natürlich nur mit seinem Glase, ohne Glas behauptet er 
gar nichts an der Tafel sehen zu können. 

Ist nun die Zahl der Stellungspflichtigen in dem Termin eine 
grosse, ist ein Dunkelzimmer und ein Refraktions - Ophthalmoskop 
nicht zur Hand, dann kann der untersuchende Stabsarzt unmöglich, 
eine objektive Diagnose machen. Kommt ferner ein Stellungs¬ 
pflichtiger mit einem starken Konkavglase, so wird man selten 
wohl sofort den Gedanken haben, dass der Mann sich dasselbe nur 
zur Untersuchung angeschafft haben könne. 

Uebrigens ist diese Methode schon alt, und habe ich sie im 
Auslande, wenn auch in anderer Variation kennen gelernt. Ein 
Stellungspflichtiger, der mir die Sache selbst berichtete, kam zur 
Untersuchung und behauptete, nicht in der Ferne sehen zu können. 
Der prüfende Militärarzt hielt ihm schwache Konkavgläser vor, 
ohne Besserung, erst als er starke benutzte, behauptete der Mann, 
etwas besser sehen zu können. Dieser berichtete mir aber auch 
dass er von Jemand, den er nicht nennen wollte, dahin instruirt 
worden sei, erst dann von einer kleinen Besserung seines Sehver¬ 
mögens zu sprechen, wenn der Stabsarzt an einer gewissen Stelle 
im Brillenkasten angekommen sei. Hier war also ein Helfers¬ 
helfer da, der den Militärpflichtigen auch den Brillenkasten vorher 
gezeigt hatte. Für mich war das seiner Zeit Veranlassung, einem 
der Herren Oberstabsärzte über diese Sache nach der Heimath 
zu berichten. 

Eine praktische, sehr leicht anzustellende Probe auf Richtig¬ 
keit der Angabe, beschreibt Nieden in folgender Weise: Man 
soll 2 Probetafeln so nebeneinander aufhängen, dass die Probe- 
0 0 

buchstaben von -r-s z - B. und ö in einer Reihe stehen. Liest nun 
io y 


der zu Untersuchende die Probebuchstaben der ersten Tafel, also 
~ und fahrt mit der 2. Tafel, also ~ fort, so weiss man zunächst, 

IO v 


6 0 

dass er'- hat. Nimmt man dann eine 3. Tafel und lässt von -- 
y ob 


6 

an aufwärts lesen und wollte er dann leugnen - zu erkennen, so 

y 



Dr. Wilhelmi: Zur Frage der Aggravation bei Augenverletzungen. 589 

wäre seine falsche Angabe erwiesen. Dasselbe sei der Fall wenn 
man, was bei jüngeren und harmlosen Leuten vorkäme, eine ge- 

ß 

wisse herabgesetzte Sehschärfe fände, etwa ^ und nun ein Kon¬ 
kav- und Konvexglas zusammengehalten, von gleicher Brechkraft, die 
sich also gegenseitig aufheben, Vorhalte, und damit eine Besserung 
der Sehschärfe angegeben würde. 1 ) 

Endlich kam es sogar vor, dass weniger intelligente Simu¬ 
lanten mit den Lippen die Bewegungen für Aussprache des be¬ 
treffenden Buchstaben machten, dann aber nach einigem Zögern 
einen plötzlich anders lautenden Buchstaben nannten. 

Geduld und unverdrossene Langmuth werden hier als die 
Hauptmittel genannt, wissenschaftlich wird man jedoch kaum ohne 
Prisma, Perimeter, und Refraktions - Ophthalmoskop eine sichere 
Diagnose zur Erkennung von Uebertreibungen bei den Sehprüfungen 
zu machen im Stande sein. 


Zur Frage der Aggravation bei Augenverletzungen. 

Von Kreisphysikus Dr. Wilhelmi in Schwerin (Mecklenb.). 

Der Aufsatz des Herrn Dr. Ohlemann in Nr. 20 d. Zeitschr. 
giebt mir Veranlassung, auch meinerseits für einschlägige Fälle 
den Herren Kollegen ein Untersuchungsverfahren zu empfehlen, 
das mich schon zweimal in den Stand gesetzt hat, fälschliche An¬ 
gaben der betreffenden Exploraten prompt und mit mathematischer 
Sicherheit als solche nachzuweisen. 

Es gründet sich dieses sehr einfache Verfahren auf die That- 
sache, dass in Laienkreisen ziemlich allgemein der Glaube ver¬ 
breitet ist, zwei oder mehrere vor einander gesetzte 
Brillengläser wirken „schärfer“, als nur eines der¬ 
selben allein. Dass dies nur von gleichartig geschliffenen Glä¬ 
sern gilt, dass aber entgegengesetzt geschliffene in ihrer Wirkung 
sich auflieben, und dass durch Voreinandersetzen einer beliebigen 
Zahl von Gläsern man die Möglichkeit hat, die mannigfachsten 
optischen Wirkungen durcheinander hervorzubringen, zumal, wenn 
auch Oylindergläser mit eingeschoben werden — soweit reicheu 
die optischen Kenntnisse der zur Untersuchung kom¬ 
menden Individuen in der Regel nicht. 

Verhältnissmässig leicht ist es auf Grund dieser Erwägung 
mir in beiden Fällen gelungen, der Forderung des Dr. Ohlemann 
gerecht zu werden und den zu Untersuchenden dahin zu bringen, 
„dass er zugiebt, worauf es ankommt“ und zwar in der That „in 
höchst naiver Weise“. 

Ich beschäftigte mich ausschliesslich mit dem angeblich schlecht 


*) Diese Methode ist indessen nicht ganz einwandfrei, da man es mit 
einer durchaus nicht siinulirten abnormen Akkomodationsspannung zu thun haben 
kann, die bei den Sehprttfnngen mit und ohne Gläser ganz erhebliche Schwan¬ 
kungen in den Angaben der Untersuchten verursacht (cfr. meinen Beitrag zur 
Schulmyopie im Archiv für Augenheilkunde von Knapp und Schweiggcr 
Bd. 26, p. 168—180). 



590 Dr. Wiihelmi: Zur Frage der Aggravation bei Augenverletzungen. 

sehenden Auge und zeigte mich, auf die Klagen des Exploraten 
scheinbar gläubig eingehend, bemüht, eine Brille zu finden, durch 
die das Sehvermögen gebessert werde. Wie zu erwarten war. 
nachdem der Augenspiegel einen negativen Befund und Emmetropie 
ergeben hatte, wurden sowohl schwache, als mittelstarke Konvex- 
und Konkavgläser richtig als verschlechternd zurückgewiesen. 
Darauf setzte ich dem Exploranden ein starkes Konvexglas vor, 
durch welches erst recht nicht sehen zu können er ganz mit Recht 
angab. Vor dies Konvexglas brachte ich nun successive schwächere 
und stärkere Konkavgläser, schob auch, als allmählich der Unter¬ 
suchte angab, jetzt werde das Sehen besser, zur Abwechslung und 
um ihn sicherer und vertrauensseliger zu machen, verschiedentlich 
Cylindergläser ein, durch deren Drehung ich ihn zu verwirren und 
von ruhiger Ueberlegung abzulenken versuchte. So gab dann jedes¬ 
mal schliesslich der Expl. ganz gutwillig gerade dann eine bedeu¬ 
tende Besserung des Sehvermögens an, als er eine Anzahl Brillen¬ 
gläser vor dem Auge hatte, deren optische Gesammtwirkung gleich 
+ 0 war, während er selber die Vorstellung hatte, jetzt handle es 
sich vielleicht um die stärksten Nummern des Brillenkastens. 

In dem einen Falle war es ein Fabrikschlosser, der vor län¬ 
gerer Zeit eine schwere Augenverletzung erlitten hatte: man sah 
noch eine deutliche, etwa 11 mm lange, 1 mm breite schwärzlich 
tingirte Narbe in der Sclera, mit welcher die Bindehaut zum Theil 
verwachsen war. Im Uebrigen aber war ein Befund, der die an¬ 
gegebene Sehschwäche hätte erklären können, nicht vorhanden. 
Es gelang mir, nachdem ohne Glas nur eine Sehschärfe von 5 /* 4 
zugestanden worden, durch obiges Verfahren volle Sehschärfe (!) 
nachzuweisen, d. h. als der Expl. drei Gläser voreinander trug, 
die zusammen optisch wie Fensterglas wirkten, las er fliessend 
die betr. Probebuchstaben, von denen er vorher nichts hatte sehen 
können. 

Ganz analog ging es im zweiten Falle zu. Hier lag keine 
Verletzung vor. sondern es handelte sich um Hornhauttrübungen 
beiderseits in Folge skropliulöser Entzündungen bei einem Knaben 
von 13 Jahren (!), der auf Grund seiner schlechten Augen augen¬ 
scheinlich sich um die Schularbeit „drücken“ wollte. Dieser be¬ 
hauptete Anfangs, Buchstaben von 7 cm Höhe in unmittelbarer 
Nähe vor den Augen nicht erkennen zu können und las dann schliess¬ 
lich mit Fensterglas fliessend kleinen Druck. 

Auch ich will, wie Ohle mann, „nicht den Anspruch erheben, 
eine neue Methode gefunden zu haben,“ bin vielmehr überzeugt, 
dass schon mancher Kollege aus eigener Ueberlegung ganz ähn¬ 
lich wird vorgegangen sein; nichtsdestoweniger glaubte ich, mit 
dieser Mittheilung nicht zurückhalten zu dürfen, da in den mir zu¬ 
gängigen Lehrbüchern des beschriebenen einfachen Verfahrens Er¬ 
wähnung nicht gethan wird. Selbstverständlich wird auch 
auf diese Weise nicht jeder Simulant sich überrumpeln lassen. 



Dr. Reiraann: Zur Stellungsverbesserung der Kreisphysikor. 


591 


Zur Stellungsverbesserung der Kreisphysiker. 

Von Kreisphysikus Dr. Reimann in Neumünster. 

Der Tropfen höhlt den Stein. Wenn es nicht wieder Zukunfts¬ 
musik ist, was die Tageszeitungen über die bevorstehende Ver¬ 
besserung des staatlichen Medizinalwesens berichten, dann möchte 
ich noch Einiges zu den Rangverhältnissen der Kreisphysiker 
bemerken. 

In Nr. 21, Jahrg. 1892 dieser Zeitschrift betont Kollege 
Doeblin mit Recht die Zurücksetzung, welche die Kreismedizinal¬ 
beamten gegenüber den anderen Beamtengattungen ihrer Rangstufe 
dadurch erfahren, dass ihnen nicht wie diesen nach einer gewissen 
Dienstzeit eine persönliche Rangerhöhung zu Theil wird. Es sind 
dort die Kreisschulinspektoren, Oberlehrer, Oberförster, Landrichter 
aufgeführt, man kann von nicht akademisch Gebildeten noch die 
Postdirektoren der grösseren Aemter nennen: sie Alle erhalten im 
höheren Dienstalter den Rang der Räthe IV. Klasse. Mit der 
Verleihung des Sanitätsrathstitels ist bekanntlich eine Rangerhöhung 
nicht verbunden. Freilich sind Jene Staatsbeamte im Hauptamt, 
die Kreisphysiker sind es bis jetzt — wenigstens ihrer Besoldung 
nach — nur im Nebenamt, im Wesentlichen sind sie aber praktische 
Aerzte. Andererseits sollte man meinen, dass der Staat, der sonst 
in der Regel mit Ehre zahlt, was er an baarer Münze schuldig 
bleibt, diesen Grundsatz auch gegenüber den trotz ihrer nebenamt¬ 
lichen Stellung unzureichend bezahlten Kreisphysikern in Anwen¬ 
dung brächte. Das ist bisher nicht geschehen; der Rang steht hier 
nicht, wie es sein sollte, im umgekehrten, sondern im geraden Ver- 
hältniss zur Besoldung. Wir dürfen wohl erwarten, dass mit der 
neuerdings, wie es scheint, beabsichtigten Umgestaltung unserer 
Aemter auch in dem erwähnten Punkte Wandel eintritt. Mögen 
immerhin von einem höheren Gesichtspunkt aus diese Dinge als 
nebensächlich, ja kleinlich erscheinen, sie sind es nicht im prak¬ 
tischen Leben, im Alltagsverkehr, in dem wir uns doch zu bewegen 
haben. Wir wünschen, dass die Hälfte der Kreisphysiker gleich 
den übrigen Beamten ihrer Rangstufe in einem bestimmten Dienst¬ 
alter einen Titel erhalte, mit welchem eine entsprechende Rang¬ 
erhöhung verbunden ist. Damit sind keinerlei materielle Vortheile 
weder bei Dienstreisen noch anderen Gelegenheiten verbunden; 
denn es handelt sich um nichts weniger oder mehr als um eine 
persönliche Titularauszeichnung. 

Es sind ferner bei der Verleihung des Titels die Ungleich¬ 
heiten zu vermeiden, die jetzt in den verschiedenen Landestheilen 
bezüglich der Zahl der Inhaber des Sanitätsrathstitels bestehen. 

Sollte im Uebrigen auch diesmal sicli nicht bewahrheiten, was 
die Zeitungen melden, so werden wir ältere Kreisphysiker zwar nicht 
enttäuscht sein, wohl aber wächst — und das ist die bedenkliche 
Seite der immer wiederkehrenden Verheissungen — mit jeder 
solcher Welle der Wettbewerb um die Physikatsämter. Wenn 
gelegentlich im Parlament auf die zahlreichen Bewerbungen hinge¬ 
wiesen wurde, die auch unter den jetzigen, so wenig verlockenden 



592 


Aus Versamm langen and Vereinen. 


Verhältnissen für erledigte Physikatsämter einlaufen, so darf doch 
dabei nicht übersehen werden, dass viele der Bewerber, ja wohl 
die meisten derselben das zukünftige Physikat erstreben, das 
Amt, welches die längst verheissene „Medizinalreform“ ihnen in 
Aussicht stellt. In Folge der langjährigen, zum Tlieil von einfluss¬ 
reichen und massgebenden Stellen aus erfolgten Zusicherungen 
halten diese Bewerber die Umgestaltung des staatlichen Medizinal¬ 
wesens für eine Frage der nächsten Zeit. Die Verhältnisse aber, 
sofern sie die Bewerbung um erledigte Aemter beeinflussen, sind 
geeignet, die ganze Sachlage Fernerstehenden gegenüber falsch 
zu beleuchten. Ein entschiedenes „Nein“ auf unsere Wünsche, 
soweit dieselben auf ein nahes Ziel gerichtet sind, vermag Illu¬ 
sionen zu zerstören und in gewisser Beziehung weniger hemmend 
zu wirken, als die dilatorische Behandlung unter der stereotypen 
Versicherung: „Die Pläne sind fertig.“ 


Aus Versammlungen und Vereinen. 

Bericht über die 47« Konferenz der IHedisinalbeamten des 
Beg.-Bez. Düsseldorf vom 4. November 1893. 

Anwesend waren 32 Medizinalbearate, darunter als Gäste Reg.-Assessor 
v. Pcistel und Oberstabsarzt Dr. Metzler. Der Vorsitzende, Reg - und 
Med.-Rath Dr. Mich eisen gedenkt in ehrenden Worten des am 31. Mai ver¬ 
storbenen Kr.-Physikus San.-Rath Dr. Wie seines in Solingen uud begrüsst die 
neuernannten Kreisphysikus Dr. Moritz in Solingen und Kreiswundarzt Dr. 
Schneider in Neuss. 

1) Aus der Besprechung der Medizinalverfügungen des letzten halben 
Jahres ist Folgendes hervorzuheben: Bei der Revision von Krankenhäusern 
ist auf Anschaffung eines Desinfektionsapparates zu dringen, auf die Ableitung 
der Schmutz- und Abwässer zu achten und darauf zu sehen, dass die Kranken¬ 
zimmer nicht zu stark belegt sind; zu letzterem Zwecke empfiehlt es sieh, an der 
Thur eine Tafel anbringen zu lassen, auf welcher der Quadrat- uud Kubikinhalt 
des Zimmers angeschrieben steht; 20 cbm pro Bett gilt als Miuimum. 

Für die Revision der Drogengeschäfte bestimmt eine Zirkular-Ver¬ 
fügung, dass bei indifferenten Stoffen nur auf ihre gute Beschaffenheit, nicht 
auf die Aufbewahrung zu achten ist. Unzuverlässigen Drogisten soll der Gift¬ 
handel abgenominen, bezw. die Erlaubnis« dazu nicht crtheilt werden. 

Aus Anlass eines Spezial falle.« sind die Polizeibehörden angewiesen, öff ent¬ 
liche Vorstellungen über Suggestion nicht zu gestatten. 

Eine Ministerial- Verfügung erinnert daran. Massenerkraukuugen 
uud Epidemien sofort dem Regierungspräsidenten auzuzeigen. 

Es ist geplant, für den Reg.-Bez Düsseldorf eine Rekonvaleszenten- 
Anstalt in waldiger und hügeliger Gegend zu bauen; die Physiker sind ge¬ 
beten, recht bald Verschlage für einen geeigneten Platz zu machen. 

Eine nöthig gewordene neue Ausgabe von Gerönne’s Medizinalver- 
orduungen wollen der Vorsitzende und Reg.-Assessor v. Peistel besorgen. 

2) Im Anschluss an das Referat des verstorbenen Dr. W i c s e m e s in der 
Frtihjahrssitzung berichtete San.-Rath Dr. Schruff (Neuss) über Begräbniss- 
ordnnng. 

3) Das Brausebad und seine Einrichtung in Volksbadeanstalten, Kasernen, 
Gefängnissen und Schulen erläuterte in einem eingehenden Vortrage, der näch¬ 
stens im Druck erscheinen soll, Kreiswundarzt Dr. Wolff-Elberfeld. 

4) Für den Neudruck der ,, Regeln für die Ernährung und Pflege 
der Kinder im 1. Lebensjahre und für die Pflege der Wöchnerinnen“ hat Kreis¬ 
wundarzt Dr. Hartrop in Barmen einige Verbesserungen vorgeschlagen, welche 



Kleinere Mittheilungen und Referate ans Zeitschriften. 


593 


im Grosssen^undJ Ganzen die ursprüngliche Fassung wenig verändern and angC' 
nommen werden. 

Das gemeinschaftliche Mittagessen wurde wie gewöhnlich mit gutem Ap¬ 
petit und in heiterster Stimmung genossen. 

Dr. Hofacker -Düsseldorf. 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

A. Gerichtliche Medizin. 

lieber Hitzschlag mit tödtlichem Ausgang. Von Prof. Dr. Dittrich. 
Sonder - Abdruck aus der Zeitschrift für Heilkunde; XVI. Bd., 4. Heft. 

Die Arbeit Dittrich’s wirft neues Licht in das Dunkel des Wesens 
vom Sonnenstich und Hitzschlag, und dankbar wird die militärische wie die 
bürgerliche Medizin diesen Beitrag, der namentlich auf dem Sezirtische gewonnen 
ist, annehmen. Namentlich der Fall 8, welcher bereits 6 Stunden nach dem 
Tode zur Obduktion gelangte und der noch frei war von allen Fäulnisserschei- 
nungen, hat gutes Material zur Beurtheilung des pathologischen Bildes geliefert. 
Ich lasse deshalb den Befund in Vollständigkeit folgen: 

„Aeusserliek: 1. Körperlich ziemlich gross, kräftig muskulös, gut genährt. 
Haut im Gesichte dunkel violett, sonst bräunlich pigmentirt. Rückwärts dunkel¬ 
violette Todtenfiecke. Todtenstarre unten sehr stark, oben im mittleren Grade 
ausgeprägt. Bindehäute dunkelviolett, stark injizirt. Pupillen eng, gleich. 

Innerlich: 2. Schädeldeckcn sehr blutreich. Unter denselben, namentlich 
am Scheitel und am Hinterkopf, sehr reichliche, Stecknadelkopf- bis kreuzer- 
grosse Blutextraversate. Dura von mittlerem Blutgehalte, in dem Sinus sehr 
reichliches dunkelflüssiges Blut. Die inneren Hirnhäute ziemlich blntreich, an der 
Konvexität leicht verdickt, stark getrübt. An der rechten Seite des rechten 
Stirnlappens ziemlich ausgebreitete, auch sonst noch in den inneren Meningen 
hie nnd da kleine Blutextraversate. Gehirnsubstanz teigig, sehr blass, serös 
durchfeuchtet. 

3. Im Munde etwas blutiger Schleim. In den Jugularvenen reichliches 
dunkelflüssiges Blut. Karotiden leer. In der Gefässscheide der grossen Halsge- 
fässe ziemlich reichliche, bis linsengrosse Blutextraversate. 

5. Lungen frei, blutreich, lufthaltig, an der Oberfläche derselben spärliche 

Ecchymosen. * 

6. Im Herzbeutel etwas Serum. Au der Innenfläche des Herzbeutels ziem¬ 
lich reichliche Ecchymosen, ebensolche in grosser Menge an der Oberfläche des Her¬ 
zens, namentlich links. Herz faustgross, sehr schlaff, rechts stark fettbewachsen. 
Herzfleisch blass, leicht zerreisslich. In den Herzhöhlen spärliches dunkelflüssiges 
Blut. In dem Gewebe der etwas verdickten Aortenklappen und am freien Rande 
der Bicuspidalis punktförmige Ecchymosen in grosser Menge. Im Endokard des 
linken Ventrikels, namentlich an der Septumseite, sehr reichliche streifenförmige 
Blutextraversate. An der Aussenfläche der Aorta, besonders im Bereich ihres 
aufsteigenden Abschnittes, zahlreiche linsengrosse Blutaustritte. 

7. Leber klein, hellgelb, ziemlich stark verfettet, sehr fest, mit fein- und 
grobhöckeriger Oberfläche. Peritonalüberzug stark verdickt. Im Innern der 
Leber sehr starke Bindegewebswucherung. 

8. Milz auf das Doppelte vergrössert, blntreich, fest. Kapsel verdickt. 

9. Im Magen kein abnormer Inhalt. Schleimhaut verdickt, mit zähem 
Schleim bedeckt. In der Schleimhaut nahe der Cardia sehr reichliche, herdweise 
angeordnete Ecchymosen. 

10. Nieren blutreich; Harnblase leer; Schleimhaut blass violett. Neben¬ 
nieren normal. 

11. Im Darm theils flüssiger, thoils schleimiger, theils dünnbreiiger, schwach 
gallig gefärbter Inhalt. Schleimhaut blass violett, im Dünndarm von reichlichen 
Blutungen durchsetzt. Diese letzteren sind theils rundlich und dann Stecknadel¬ 
kopf- bis linsengross, theils streifenförmig, liegen dann meist auf der Höhe der 
Falten und verlaufen ott vollständig zirkulär. Im Dickdarm kleine Blutaustritte 
wahrzunehraen. 

12. Bauchspeicheldrüse blass, ziemlich fest.“ 

Dittrich resumirt dahin: „Somit findet sich nur ein Befund, welcher 



594 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


in sämmtlichen Fällen konstatirt werden konnte, nämlich das Auftreten von 
theils äusserst kleinen, theils ausgebreiteten Blutaustritten an verschiedenen 
Körperstellen.“ Auch andere hätten solche Blutungen gefunden und beschrieben 
an verstorbenen Menschen und an experimentell behandelten Thieren. 

Er weist dann darauf hin, dass meistens das Herz durch chronische Ver¬ 
änderungen sich auszeichnete und damit ein prädisponirendes Moment zum exitus 
letalis geboten hätte. 

Dass die Blutungen beim Hitzschlag in Folge von Degenerationsverände¬ 
rungen — namentlich fettiger Degenerationen — der Gefässe auftreten, sei 
nicht anzunehmen. Die mikroskopische Untersuchung hätte keine merkliche 
Veränderung der Gefässwände ergeben, namentlich keine Verfettung. Am meisten 
Wahrscheinlichkeit habe die Annahme fiir sich, dass die Blutungen eine Folge 
der Hyperämie des Venensystems seien, welche zu kapillären Blutungen führten. 

Dittrich geht dann auch auf das Verhältnis von Sonnenstich und Hitz¬ 
schlag ein und endet mit der Besprechung der äusseren Ursachen der Krankheit, 
wobei er das Zusammentreffen von hoher Temperatur, geringer Luftbewegung, 
zeitweise abnorm niedriger Feuchtigkeit der Luft und vollständig mangelnder 
oder äusserst geringer Bewölkung nach seiner Beobachtung als geeignet zur Her¬ 
vorbringung des Hitzschlages kennzeichnet. Dr. Mittenzweig. 


Mord durch Erdrosselung, kombinirt mit Halsschnittwunden. Von 
Dr. Haberda, Assistent am Institut f. gerichtl. Medizin des Herrn Hofraths 
Prof. E. v. Hof mann in Wien. Sonderabdruck aus der Vierteljahrsschrift für 
gerichtl. Medizin; III. Folge, VI. Bd., H. 1. 

Die 35 Jahre alte Prostituirte Th. St. wurde eines Morgens in ihrem Bette 
todt aufgefunden; um ihren Hals war ein alter Lederriemen in zwei Touren 
herumgelegt und rechts geschnallt, ausserdem zeigte der Hals mehrere blutende 
Wunden. Durch die Sektion wurde festgestellt: 1) dass der Tod durch Er¬ 
stickung erfolgt sei (Ecchymosen in der Haut und in den Schleimhäuten des 
Gesichts, allgemeine flüssige Beschaffenheit des Blutes); 2) dass die Erstickung 
durch kräftige horizontale Konstriktion des Halses mittels eines breiten band¬ 
artigen Strangulationswerkzeuges, also durch Erdrosseln bewerkstelligt worden 
sei (Strangfurche, Bruch des rechten oberen Kehlkopfhomes, Suffusionen in der 
Gefftssscheide, über.der Schilddrüse und im präverteberalen Zellgewebe). Die 
Vorgefundenen Schnittwunden (2 oberflächlich und eine tiefe, welche mehrere 
Muskeln durchdrang und die Luftröhre eröffnete) zeigten Reaktionserschei¬ 
nungen, mussten also noch bei Lebzeiten zugefügt worden sein. Da sich aber 
keine Zeichen von Verblutung vorfanden, wurde erklärt, dass sie mit dem 
Tode in keinem Zusammenhang standen. Lag nun Selbstmord oder Mord 
vor? Selbstmord durch Halsabschneiden ist nichts Seltenes, auch Selbsterdrosse¬ 
lung ist wohl möglich; auch eine Kombination beider Selbstmordarten ist wohl 
denkbar. Die Schnittwunden hatten, wie häufig beim Selbstmord, eine Richtung 
von links oben nach rechts unten, auch ihre Mehrzahl und ihre geringe Tiefe 
sprechen dafür. Gegen einen Selbstmord sprach der Umstand, dass die Schnitte 
tiefer lagen, als in der Regel beim Selbstmord, ferner war es wohl kaum mög¬ 
lich, dass nach Eröffnung der Luftröhre ausgesprochene Erstickungserscheinungen 
zu Stande kommen konnten. Es wurde begutachtet, dass die grössere Wahr¬ 
scheinlichkeit für Mord spreche und Folgendes ausgeführt: 1) die Erdrosselung 
war das Primäre, der Ueberfall musste entweder an der Schlafenden oder sonst 
unerwartet und tückisch geschehen sein; es fanden sich keine Spuren von Gegen¬ 
wehr, weil ja mit der Konstriktion des Halses sofortige Bewusstlosigkeit ent¬ 
stehen musste; 2) die Schnittwunden sind beim Leben beigebracht, waren ge- 
wissermossen agonale und zeigten daher noch die Kennzeichen der Vitalität. 
Die Richtung der Schnitte erklärt sich aus der Stellung des Mörders, der offen¬ 
bar hinter seinem Opfer gestanden hat. Die Eröffnung der Trachea hat schon 
nach dem konvulsiven Stadium der Erstickung, in welchem die Ecchymosen zu 
Stande kommen, stattgefunden. — Die polizeilichen Nachforschungen stellten 
den Mord ausser Zweifel. Der Mörder endete durch Selbstmord. 

Dr. Israel-Medenau (Ostpr.). 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


595 


B. Hygiene und öffentliches Sanitätswesen: 

Zur Hygiene der Barbierstuben. Von Dr. A. Bla sch ko. Nach 
einem am 6. Dezember 1892 in der Berliner dermatologischen Vereinigung ge¬ 
haltenen Vortrage. Berl. klin. Wocheuschr. 1893, Nr. 35. 

Von den durch die Barbierstuben verbreiteten Krankheiten ist der Herpes 
tonsurans die häufigste; es kommen dann weiter in Betracht die Impetigo conta¬ 
giosa, Trichorrtexis nodosa, Eczema impetiginosum und die Alopecia areata. 
Ausser für die genannten Hautkrankheiten können die Barbier3tuben unter Um¬ 
ständen auch den Ansteckungsherd abgeben für die Syphilis und vielleicht auch 
nach Blaschko für die Cholera, wenn man bedenkt, dass z. B. die Serviette, 
mit der sich eben ein Kunde das Gesicht abgewischt, kurz darauf einem zweiten 
vorgelegt wird. 

Die Uebertragungsweise ist theils eine unmittelbare, theils eine 
mittelbare; die erstere findet statt, wenn der Barbier oder der Gehülfe selbst 
erkrankt ist, letztere, wenn derselbe die Krankheit eines Kunden durch seine 
Hände oder durch Utensilien weiter trägt, und hier kommen Servietten und 
Handtücher, Rasiermesser, Rasierpinsel, Schwämme, Puderquasten, Kämme und 
Bürsten in Betraaht. 

Wenngleich ja ein Theil der oben angeführten, durch die Barbierstuben 
weiter verbreiteten Krankheiten meist nur unbedeutende Affektionen hervorruft, 
so lässt sich dies von dem Herpes tonsurans und der Syphilis doch nicht sagen 
und diese beiden Aftektiouen allein genügen, um die Forderung nach umfassenden 
Kautelen vollauf zu regeln. Als vor einigen Jahren in Berlin der Herpes ton¬ 
surans besonders häufig auf trat, wurden in einer Arbeit von Saalfeld der Ber¬ 
liner Barbier- und Friscurinnung folgende Massregeln von K ö b n e r empfohlen 
zum Schutze des Publikums: 1. Ausbrühen der Rasiermesser und Rasierpinsel in 
siedend heisscm Wasser, 2. eigene Pinsel für jeden einzelnen Barbierkunden, 
3. für jeden Barbierten ein reines, frischgewaschenes Handtuch, 4. gesonderte 
Puderquasten. Ausserdem wird die Zurückweisung jedes mit pilzverdächtigen 
Ausschlagsherden im Gesicht oder am Halse Behafteten aus den Barbierstuben 
gefordert. — Von allen diesen Massregeln ist nur vereinzelt die Abschaffung der 
Puderquaste durchgeführt worden, an deren Stelle in einigen wenigen Geschäften 
kleine Wattebäuschchen, die nach dem Gebrauch weggeworfen werden, ge¬ 
treten sind. 

Die Erfolglosigkeit der Köbner’schen Vorschläge erblickt Bl. einmal 
darin, dass diese Forderungen nicht obligatorisch sind, dass keine Behörde da 
ist, welche auf ihrer Befolgung besteht; sodann aber hindern rein wirthschaftliche 
Gründe ihre Durchführung; denn bei einer Bezahlung von 5—15 Pf. können die 
Geschäftsinhaber einfach nicht eine solche Summe weitgreifender und kost¬ 
spieliger Kautelen aufwenden. Was die Massnahmen selbst betrifft, so wäre ja 
die einfachste Lösung: gesondertes Rasierzeug, d. h. auch besonderes 
Messer für jeden einzelnen Kunden. Wo sich diese Massregel nicht durchführen 
lässt, müsste man wenigstens die peinlichste Sauberkeit verlangen: Ausbrtihen 
der Messer und Pinsel, oder Abwischen der Messer mit einem in absolutem Al¬ 
kohol getauchten Wattebausch. Sodann wäre allgemein an Stelle der Puder¬ 
quasten die Anwendung von Wattebäuschchen anzuordnen; an Stelle der verlangten 
reinen Servietten hat die Benutzung von Servietten aus chinesischem Papier zu 
treten zum Ab wischen. Alle diese Anordnungen müssten in einem 
Regulativ vereinigt werden und die dauernde Kontrole hierüber ist den 
für Berlin schon längst als dringend nöthig erachteten Gesundheitsauf¬ 
sehern zu übertragen. Um die an Geschlechtskrankheiten selbst leidenden 
Barbiere und deren Gehilfen eher dem Beruf zu entziehen, hält Bl. schliesslich 
die Umwandlung der nach §. 6 a des Krankenkassengesetzes für ansteckende 
Krankheiten fakultativen Krankenhausbehandlung in eine obliga¬ 
torische für Geschlechtskranke durch Statut für erforderlich. 

Dr. Dütschke-Aurich. 


Formalin. Von Dr. J. Stahl, Inhaber von Dr. E. Ritsert’s bak¬ 
teriologisch-chemischem Institut. Pharinaz. Zeitung vom 18. März 1893, Nr. 22. 

Die praktische Desinfektion bezweckt absolut sichere Abtödtung aller In¬ 
fektionskeime innerhalb möglichst kurzer Zeit mit möglichst geringen Kosten, 
möglichster Schonung der zu desinfizirenden Objekte und ohne dass die Gesund¬ 
heit der desinfizirenden Personen darunter leiden. Die jetzigen Methoden sind: 



596 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


1) Mechanische Reinigung, 2) strömender Wasserdampf, ö) chemische Desinfek¬ 
tionsmittel; sie leiden jedoch alle an gewissen Unzuträglichkeiten und genügen 
der Anforderung nicht unter allen Umständen, namentlich nicht die Desinfek¬ 
tionsmittel, über deren Wirkungen Koch und seine Schüler manche Illusion 
zerstört haben. , 

Die Schering’sehe mechanische Fabrik hatte den glücklichen Gedanken, 
angeregt durch eine Notiz von Löw aus dem Jahre 1886 und die Arbeiten von 
Aronson 1892 (Berl. klin. Wochenschr. S. 749) und von Berlioz und 
Trillat (Comptes rendues I, 115, p. 290) das Formaldehyd in die Desinfek¬ 
tionstechnik einzuführen. Die konzentrirte 40% wässerige Lösung ist mit dem 
Namen Formalin belegt. 

Die Versuche Stahl’s erstrecken sich auf folgende: 

1. Mikrobicide Kraft des Formalins in wässeriger Lösung. 

2. Mikrobicide Kraft der Formalindämpfe. 

8 Sterilisirung von Verbandstoffen durch Formalith (mit Formalin dorch- 
tränkte Kiselguhrstücke). 

4. Mikrobicide Kraft des Formalins bei der Bestäubung von Papier und 
Stoffproben, Tapeten, Seide, Sammet, Atlas etc. 

Indem in Bezug auf die Einzelheiten das Original eingesehen werden möge, 
sind die Nutzanwendungen und Schlussfolgerungen der Arbeiten folgende: 

Formalin ist, wie kein anderes Mittel zur Desinfektion geeignet. Die 
Wirkung ist dem des Sublimats ähnlich; das Formalm ist relativ ungefährlich, 
lässt Gegenstände organischer oder unorganischer Natur intakt, es ist billig und 
seine Handhabung eine leichte. 

Formalin ist leicht vergasbar, wird von festen Körpern geradezu anfge- 
saugt und dringt in die verborgensten Ritzen der Desinfektionsobjekte. 

Die Anwendungsweisen sind folgende: 

1) Desinfektion vermittelst Zerstäubungsapparate: Für glatte Wände ge¬ 
nügt die Bestäubung mit % % Formalinlösung. Für eine Wand von 50 qm sind 
0,4 1 einer %% Lösung oder 5 gr 40% Lösung nöthig. Möbeln, Kleidungs¬ 
stücke sind mit 1—2% Lösung energisch zu bestäuben. 

2) Die Desinfektion durch Vergasung. Formalin in geschlossenem Raume 
zum Verdampfen gebracht, ist der Karbolsäure, schwefligen Säure, Chlor, Brom 
und sonstigen vergasbaren Mitteln vorzuziehen. Zur Desinfektion von Pelz¬ 
werken wird sich vergastes Formalin besonders eignen. 

Vorläufige Mittheilnng über die Desinfektion von Kleidern, Leder- 
waaren, Bürsten und Büchern mit Formaldehyd (Formalin). Von Prof. 
Dr. K. B. Lehmann. Münchener mediz. Wochenschrift; 1893, Nr. 32. 

Angeregt durch die Veröffentlichung von Stahl und in der Hoffnung, 
durch das Mittel eine Desinfektion im Hause von Stoffen vornehmen zu können, 
die ein Auskochen in Wasser oder Untertauchen in Desinfektionsflüssigkeiten 
nicht vertragen, stellte Verfasser Versuche an, die seine Erwartungen nicht 
täuschten. Die Untersuchung geschah mit der 40% Formalinlösung. Von den 
Resultaten seien hervorgehoben: Mit 30 gr der Lösung ist durch die sich ent¬ 
wickelnden Dämpfe ein kompleter Männeranzug in einer verschlossenen Kiste, 
selbst wenn es sich um Infektion mit Milzbrandsporen mittlerer Resistenz han¬ 
delt, zu bewerkstelligen. Bedingung ist loses Zusammenlegen der Kleider. Die 
Formalindämpfe reizen allerdings stark, doch sollen sich die Arbeiter in der 
chemischen Fabrik rasch an diese Unannehmlichkeit ohne Schaden für die Ge¬ 
sundheit gewöhnen. Von den desintizirten Kleidern schwindet der Geruch nur 
langsam, Besprengen der Kleider mit Ammoniak, wodurch das Formalin in 
Hexamethylentetramin übergeführt wird, beseitigt den Geruch. 

Beträufelung von in einem Tuch lose gewickelten gebrauchten Kopf- und 
Nagelbürsten, Ebonitkämmen und Kleiderbürsten, in eine Desinfektionskiste 
gebracht, waren nach 24 Stunden keimfrei, ohne dass Borsten oder Politur ge¬ 
litten hatten. Ebenfalls gab die Desinfektion von Büchern gute Resultate. Ver¬ 
fasser knüpft grosse Hoffnungen an die Verwendung der Formalindämpfe, die 
dem strömenden Wasserdampfe grosse Konkurrenz machen würden, namentlich 
dürften die Haarschneidegeschäfte grossen Nutzen davon erwarten. 

Die Formalindämpfe sind nicht brennbar und eine Explosionsgefahr nicht 
beobachtet. Weitere Untersuchungen der Desinfektion von Wänden, Tapeten 
und Verbandstoffen stehen in Aussicht. 



Kleinere Mittheilungen und Referate au* Zeitschriften. 


597 


Ueber einige Wirkungen des Formaldehyds. Von Dr. Carl 
Gegner, prakt. Arzt in Stadtoldendorf (Braunschweig). Aus dem pharmazeu¬ 
tisch-poliklinischen Institut des Prof. Pr. Penzoldt in Erlangen. Ebendaselbst. 

Gegner prüfte zunächst den fäuln iss verzögernden Einfluss eines For¬ 
malinzusatzes (0,5 bis l,0°/ o ) an Urin und Blut und dann die Wirkung von For¬ 
malinlösungen uud Formalindämpfen auf Bakteriengemische und weiter auf Rein¬ 
kulturen von verschiedenen Bakterien: Staphylococcus pyogenes, Milzbrand-, 
Typhus- und Cholerabazillen. 

Die Anwendung in Form des Bestreichens (3 mal täglich) auf das Ohr 
und ein Hinterbein einer Maus zeigte nach der ersten Pinselung schon Röthung, 
Schwellung und Temperaturerhöhung. Am siebenten Tage war das Ohr hart 
und konnte stückweise, wie Papier - mache, abgebrochen werden. Keine Ei¬ 
terung an den Grenzen des Gewebes. 

Die Lösung und Dämpfe erzeugten bei Gurgelungen und Einathmungen 
Brennen und Kratzen, und bei Anwendung einer 25 °/ 0 Lösung zum Pinseln im 
Rachen entstand Glottiskrampf. 

Die Versuchsresultate lauten: Formalin ist ein starkes Bakteriengift, über¬ 
trifft jedoch andere stark antibakterielle Mittel nicht, dagegen ist die Wirkung 
der Dämpfe auf verschiedene pathogene Mikroorganismen, insbesondere auf die 
Cholerabazillen eine sehr energische. Eine Verwendung der Formalindämpfe zur 
Desinfektion von Räumen und Gegenständen, welche mit Cholera infizirt sind, 
dürfte versucht werden. 

Der unangenehme Geruch und die örtlich reizende Wirkung steht der 
Anwendung auf Schleimhäute hindernd entgegen. Die Mumiflzirung des Ka¬ 
ninchenohres mahnt zur Vorsicht bei Gebrauch auf der äusseren Haut, obschon 
2,5 °/ 0 Lösungen Fingerwaschungeu gestatteten. Vielleicht bieten Hautkrank¬ 
heiten und die histologische Technik ein Feld der Anwendung für Formalin. 

Untersuchungen über Formaldebyd. Von Dr. Blum in Frankfurt. 
Ebendaselbst. 

Ende vorigen Jahres hatte Blum mit Forinaldehydlösungen experimentirt 
und fand die Angabe der stark antiseptischen Eigenschaften verschiedener Au¬ 
toren bestätigt. In Bezug auf die Anwendung der Lösungen in der Chirurgie 
überall da, wo es sich um rasche Abtödtungen der Mikroorganismen handelt, sei 
dieselbe nicht anwendbar, weil die Aufhebung der Lebensfähigkeit von Bakterien 
selbst bei Einwirkung starker Formaldehydlösungen nur sehr langsam sich 
vollzieht. 

Nach den Veröffentlichungen von Stahl wurden dann die Versuche 
wieder aufgenommeu. Es wurde jedoch zur Bestimmung der Zeit, welche noth- 
wendig ist zur Abtüdtnng von Mikroorganismen durch ein Antiseptikum eine 
vom Stahl'scheu Verfahren abweichende angewandt, die vor dem Ausstreichen 
der desinfizirten Fäden auf feste Nährboden das Antiseptikum entfernen Hess. 

Das Resultat lautet: Formaldehyd hebt selbst in starken Konzentrationen 
nur langsam die Lebensfähigkeit der Mikroorganismen auf; eine ganz schwache 
Lösung genügt jedoch schon, um die Fäulniss und Entwickelung von Pilzen zu 
verhindern unter allmählicher Abtödtung der Bakterien. 

Die innerliche Darreichung Hess bei Thiercn Unsicherheit des Ganges und 
langsam cintretcnde Paresen der hinteren Extremitäten, sowie Aufhebung der 
Fresslust als Vergiftungssymptome erkennen. 

Verfasser glaubt nicht an eine mögliche Anwendbarkeit in der Chirurgie, 
jedoch an die Brauchbarkeit des Formaldehyds als Konservirungsmittel. 

Untersuchungen über Formaliudämpfe sind nicht erwähnt. 

Dr. Overkamp -Warendorf. 


Experimentelle Untersuchungen über das in Greifswald einge- 
fübrte neue Kübel-Reinigungsverfahren. Von F. Kornstädt, prakt. 
Arzt. Aus dem hygienischen Institut in Greifswald. Zeitschrift lür Hygiene 
und Infektionskrankheiten XV., 1. 

Dem Kübel- oder Tonnensystem, welches für eine grössere Anzahl von 
Städten unzweifelhaft die zweckmässigste Art ist, sich der menschlichen Ab¬ 
fallstoffe zu entledigen, haftet eine nicht unerhebüche Gefahr dadurch an, dass 
es praktisch undurchführbar ist, die Kübel bei dem nothwendigen Wechsel stets 
in dasselbe Haus zurückzubringen, so dass die Möglichkeit der Verschleppung 



598 


Besprechungen. 


von Krankheitskeimen vorhanden ist. Verfasser bezeichnet die in verschiedenen 
Städten eingeführten sog. Desinfektionsverfahren, welche meistens in Spülung 
mit verdünnter Karbolsäure bestehen, mit Recht als ganz unzulänglich und be¬ 
schreibt die Reinigungsanlage, welche in Greifswald eingerichtet ist. Der Inhalt 
der Kübel wird daselbst mit dem Küchenmiill und Strassenkehricht zu Kompost 
verarbeitet und dadurch der Landwirtschaft dienstbar gemacht, wodurch ein 
Theil der Abfuhrkosten gedeckt wird. Die Kübel werden mittelst eines Brause¬ 
apparates durch ein unter gewissem Druck einströmendes Gemisch von Dampf' 
uud heissem Wasser gereinigt. Das Verfahren hatte sich bei der experimen¬ 
tellen Prüfung, welche Löffler an neuen, glattwandigen Kübeln vorgenommen 
hatte, ausreichend bewiesen, um dieselben in keimfreien Zustand zu versetzen. 
Verfasser konnte aber feststellen, dass das Verfahren ohnmächtig war, sobald 
die Wandungen der Kübel durch längeren Gebrauch angegriffen waren, da die 
Spaltpilze in den Rissen und Spalten der Holz wände Schlupfwinkel fanden, in 
denen sie der Einwirkung des Dampf-Wassergemisches entzogen blieben. Da¬ 
gegen hatten sich einige, seit längerer Zeit in Gebrauch befindliche, innen mit 
Emaillefarbe gestrichene Kübel recht gut bewährt und konnten leicht sterilisirt 
werden; noch mehr würde sich nach Verfasser die Verwendung von verzinnter 
eiserner, innen emaillirter Kübeln — vielleicht auch von Papierkübeln — em¬ 
pfehlen. Dr. Langerhans -Celle. 


Versuche über die Desinfektion der städtischen Abwässer mit 
Schwefelsäure. Von Dr. M. Ivanoff aus Sophia. Aus dem Institut für In¬ 
fektionskrankheiten. Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten XV, 1. 

Die bekannte Empfindlichkeit der Cholerabakterien gegen die Einwirkung 
selbst stark verdünnter Säuren veranlasste Ivanoff zu einer Versuchsreihe, welche 
die Möglichkeit feststellen sollte, durch Zusatz von Schwefelsäure zu städtischer 
Kanaljauche in letzterer enthaltene Cholerabaktcrien abzutödten. Es wurde 
Berliner und Potsdamer Kanaljauche verwendet und derselben Cholerastuhl, 
bezw. auch Cholera-Bakterien in Reinkultur hinzugesetzt. Zusatz von Schwefel¬ 
säure bis zu stark saurer Reaktion entsprechend einem Gehalte von 0,08 Prozent 
bewirkte in einer Viertelstunde Abtödtung der Cholerabakterien. Das Verfahren 
würde sich nächst der Kalkdesinfektion als das billigste gestalten. Ders. 


Besprechungen 

Dr. Friedrich Endemann, Prof. d. Rechte in Königsberg i. Pr.: Di e 
Rechtswirkung der Ablehnung einer Operation sei¬ 
tens des körperlich Verletzten. Ein Beitrag zur Lehre 
von der zivilrechtlichen Haftung aus Körperverletzungen nnd zur 
Auslegung der Reichsversicherungsgesetze. Berlin 1803. Ver¬ 
lag von Carl Hey mann. Gross 8°; 130 S. 

Die Frage, welche den Gegenstand der vorliegenden Abhandlung bildet, 
ist in Folge der neuen Haftpflicht-Kranken- und Unfallversichcrungs-Gesetz¬ 
gebung einerseits, in Folge der grossen Fortschritte der medizinischen Wissen¬ 
schaft auf dem Gebiete der Operationslehre andererseits, für Juristen wie für 
Mediziner von einer weit grösseren Bedeutung wie früher. Es ist daher dankbar 
anzuerkennen, dass ein Mann von der wissenschaftlichen Bedeutung des Ver¬ 
fassers gerade diese Frage einer ebenso gründlichen, wie klaren Behandlung 
unterzogen hat. 

Der Verfasser bespricht zunächst im I. Kapitel den Kausalzusammenhang 
und seine Unterbrechung; im II. die Culpakompensation; im III. die Bemessung 
des verursachten Schadens, und im IV. und letzten, welches für die Mediziner 
das bei weitem wichtigste und interessanteste ist, (las Reichsversicherungsrecht. 

Es ist weder in der Theorie noch in der Praxis bisher bestritten, dass das 
mit der Haftpflicht belegte Ereigniss, dessen Folge der eingetretene Schaden ist, 
durch Unterlassen seitens eines Menschen nicht kausal werden kann, dass viel¬ 
mehr der Mensch nur durch Handlungen kausal wird, wohl aber wird mit Recht 



Tagesnachrichten. 


599 


angenommen, dass wenn in Folge eines Ereignisses, auch eines Naturereignisses, 
z. B. Blitz, ein Schaden entsteht, der Mensch für diesen Schaden juristisch haft¬ 
bar zu machen ist, wenn der Kausalzusammenhang zwischen Ereigniss und 
Schaden durch schuldhaftes — bezw. nach der Rcichshaftpflicht und Unfallver¬ 
sicherungsgesetzgebung wegen Gefährlichkeit des Betriebes auch ohne Culpa ge¬ 
setzlich verpflichtendes — Thun oder Unterlassen, z. B. durch fehlerhafte An¬ 
lage eines Blitzableiters, da wo die Pflicht richtiger Anlage vorlag — herbei¬ 
geführt ist, dass wir also „für die Begründung der rechtlichen Haftung nicht 
den Nachweis des Verschuldens im Sinne von Verursachung brauchen“. Auch die 
weitere Folgerung des Verfassers, dass blosse Unterlassung den Kausalzusammen¬ 
hang nicht aufhebt, ist ebenso unbestritten, desto bestrittener dagegen die 
Frage, ob auch durch Culpakompensation der Kausalzusammenhang nicht auf¬ 
gehoben werden könne. Auf scharf logisch aufgebaute Gründe gestützt, beant¬ 
wortet Verfasser diese Frage dahin, dass die eigene Culpa die Haftung nur auf- 
lieben kann, wenn sie bei Entstehung des Schadens mitwirkte, eine Unterlassung 
des Verletzten aber niemals; er kommt daher zu dem Resultate, entgegen der 
neueren Praxis des Reichsgerichtes, die Verweigerung der Operation begründet 
keinen Einwaud gegenüber dem Entschädigungsansprüche des Verletzten. 

Im dritten Theile weist Verfasser überzeugend nach, dass auch bei Be¬ 
messung des effektiven Schadens die Operationsmüglichkeit keine Berücksichtigung 
finden kann, da von den allein in Betracht kommenden schweren eigentlichen 
Operationen nur die absolut nicht lebensgefährlichen den Verletzten zuzumuthen 
wären, derartige Operationen aber nicht existiren und da auch der Erfolg der 
Operation sicher nie vorauszusetzen ist. 

Im letzten Theile wird ausgeführt, dass — nicht nach dem Reichshaft- 
pflichtgesetze, wohl aber bei der Reichs Versicherung — dem Verletzten die 
Pflicht zur Krankenhausbehandlung bis zur Heilung bei Verlust der Schadener¬ 
satzforderung während dieser Zeit, nicht aber die Pflicht zur Duldung einer 
Operation vorliegt, und dass die gleichen Grundsätze bezüglich der Reichs-In- 
validitäts- und Altersversicherung gelten. 

Die Abhandlung ist durchweg in vorzüglichem, auch dem Nichtjuristen 
verständlichen Style geschrieben und kann das Studium besonders der beiden 
letzten Theile Medizinern auf das Wärmste empfohlen werden. 

Dr. R u m p - Osnabrück. 


Tagesnachrichten. 

In den Reichshaushalts - Etat für 1894/95 sind bei dem des Reichsge¬ 
sundheitsamts 11400 Mark mehr in Ansatz gebracht für zwei neue Mitglieder, 
deren Anstellung durch die Zunahme der Geschäfte bedingt ist; ausserdem werden 
noch 11000 Mark mehr für die sächlichen Ausgaben verlangt. Unter den ein¬ 
maligen ausserordentlichen Ausgaben sind als erste Rate zum Bau des neuen 
Dienstgebäudes für das Rcichsgesundheitsamt 155000 Mark in den Etat eingestellt. 

Cholera. Im Deutschen Reiche hat die Zahl der Cholera - Erkrankungen 
in der Zeit vom 10.—23. November eine weitere Abnahme erfahren. In West- 
und Ostpreussen sind nur 4 Erkrankungen an 3 Orten der Kreise Briesen, 
Labiau und Osterode vorgekommen; im Odergebiete 24 mit 12 Todesfällen 
[davon in Stettin 5 (2), in Gartz a. 0. 6 (1), in Gollnow 7 (5), in Greifenhagen 
(2), in Gieiwitz 2 (1); die übrigen vertheilen sich auf einzelne Orte in den 
Kreisen Randow, Angermünde, Königsberg i./N. und Oberbarnira]; im Havel- 
und Elbegebiet: 9 mit 5 Todesfällen, davon 1 in Berlin, 6 (4) in vier Orten 
der Kreise Zauch - Belzig, Westbavelland, Ruppin und im Hamburger Land¬ 
gebiet, und 2 (1) unter den Arbeitern des Nordostseekanals. 

In Hamburg und Altona sind seit dem 2. bezw. 7. November keine 
Cholera-Erkrankungen mehr zur Anzeige gelangt, so dass an beiden Orten die 
Seuche als erloschen anzusehen ist. 

In Oesterreich hat sich in Galizien die Zahl der (’holera - Erkran¬ 
kungen in den Wochen vom 7.—15. und 14.—21. November ungefähr auf der¬ 
selben Höhe wie iu den Vorwochen gehalten: 41 und 49 mit 28 bezw. 16 Todes¬ 
fällen in 10 bezw. 17 Gemeinden und 7 bezw. 10 politischen Bezirken. Die 



600 


Tagesnachrichten. 


meisten Erkrankungen kamen im Bezirke Staremiasto vor (43 mit 20 Tode*- .1 
fällen), während in den früher hauptsächlich verseuchten Bezirken Sanock und 
Stanislau die Seuche fast erloschen ist. Aus der Buckowina sind während l 
desselben Zeitraums und zwar aus der Gemeinde Doroszoutz 7 Erkrankungen * 
und 5 Todesfälle gemeldet. 

In Ungarn ist die Zahl der Neuerkrankungen und Todesfälle an Cholera 
in der Woche vom 1.—7. November bedeutend zurückgegangen, und stellten sich 
auf nur 64 bezw. 31 in 35 Gemeinden, gegenüber 237 bezw. 144 in 67 Gemeinden 
während der vorhergehenden Woche vom 29.—31. Oktober. Hauptsächlich ver¬ 
seucht ist noch das Komitat Torontal, die Zahl der Erkrankungen betrug: hier 
während jenes Zeitraums 124 mit 68 Todesfällen. In Budapest sind noch 11 
Erkrankungen und 9 Todesfälle, in Klausenburg 3 und 1 Todesfall zur Anzeige 
gelangt. " j 

In Bosnien ist die Cholera gleichfalls im Rückgänge begriffen. Vom 
16.—22. Oktober betrug die Zahl der Erkrankungen noch 169 mit 85 Todesfällen 
in 44 Ortschaften, davon im Bezirk Brcka 74 bezw. 38, in der darauffolgenden j 

Woche vom 23.—31. Oktober dagegen nur 109 Erkrankungen und 66 Todesfälle : \ 

davon im Bezirk Brcka 61 bezw. 25. jf 

In Rumänien sind vom 30. Oktober bis 5. November nur 5 Neuer¬ 
krankungen an Cholera zur amtlichen Kenntniss gelangt; in Konstantin opel 
und Umgegend lässt sich dagegen noch keine Abnahme der Seuche gegenüber 
den Vorwochen konstatireu; am 23. November betrug z. B. die Zahl der täglichen 
Erkrankungen noch 52 mit 12 Todesfällen. Seit dem am 10. September erfolgten 
Ausbruch der Cholera bis zum 6. November sollen 344 Erkrankungen und 202 
Todesfälle vorgekommen sein; seitdem scheint die Krankheit aber an Ausbreitung 
zugenommen zu haben. 

In Italien ist die Cholera scheinbar im Erlöschen begriffen; in Palermo 
sind in der letzten Zeit nur noch vereinzelte Erkrankungen angemeldet. Bis 
zum 2. November hat hier die Gesammtzahl der Cholerafälle 968 betragen, 
darunter 507 mit tödtlichem Verlaufe. 

Auch in Spanien ist die Cholera erloschen; seit dem 30. Oktober sind 
keine Neuerkrankungen mehr vorgekommen. 

Ueber den gegenwärtigen Stand der Cholera in Frankreich liegen 
keine näheren Nachrichten vor. In Belgien sind vom 17.—31. Oktober 28 Er¬ 
krankungen und 15 Todesfälle (davon 23 bezw. 13 in Antwerpen) vorgekommen; i 

in den Niederlanden vom 31. Okt. bis 13. Nov. 13 vereinzelte Todesfälle. | 

In Russland betrug die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle in der 
Stadt Petersburg vom 12.—20. Novbr.: 65(25); in der Stadt Moskau vom 5. bis 
11. Novbr.: 2 (2); vom 29. Okt. bis 11. Novbr. in den Gouvernements: Peters* 
bürg 61 (13), Moskau 31 (12), Kiew 450 (148), Wolhynien 696 (269), Wilna 36 
(33), Kaiisch 28 (31), Warschau 41 (11), Siedlec 76 (44), Grodno 33 (13), j 

Esthland 5 (2), Lomsha 137 (76), Kowno 162 (65). Es geht daraus ein Nach- | 

lass der Seuche hervor, insbesondere in den westlichen Provinzen. 


Preu88ischer Medizinalbeamtenverein. 

Die Mitglieder des Preussischen Medizinalbeamtenvereins werden auf den 
der heutigen Nummer beigegebenen vorläufigen Geschäfts- und Kassenbericht 
noch besonders aufmerksam gemacht. 

Der Vorstand des Preussischen Medizinalbeamtenvereins. 

Im Auftr. 

Dr. Rapmund, 

Reg.- und Med.- Rath in Minden. 

Vorsitzender. 

Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath in Minden i. W. 

J. C. G. Bruns, Bncbdrackerei, Minden. 


6. Jahrg. 


Zeitschrift 


1893. 


für 


MEDIZINALBEAMTE 

Herausgegeben von 

Dr. H. MITTENZWEIG Dr. OTTO RAPMUND 

San.-Rath u. gerichtl. Stadtphysikus in Berlin. Reg.- und Medizinalrath in Minden. 

und 

Dr. WILH. SANDER 

Medizinalrath und Direktor der Irrenanstalt Dalldorf-Berlin. 


Verlag von Fischer’s mediz. Buchhdlg., H. Kornfeld, Berlin NW. 6. 

Inserate, die durchlaufende Petitzell© 45 Pf., nimmt die Verlagahandlnng und Rad. Mosse 

entgegen. 


No. 24. 


Krsehefnt am 1. und 15* Jeden Monate. 
Preis Jährlich 10 Mark. 


15. Dezbr. 


Einige Fälle von wahrscheinlicher und von angeblicher 
Vergiftung durch Wurst und Fleisch. 

Aus dem Institute für gerichtliche Medizin des Herrn Hofrathes Professor 

v. Hofmann in Wien. 

Von Dr. Albin Haberda, Assistenten am Institute. 

So zahlreich auch die Berichte über Fälle von Wurst- und 
Fleischvergiftung sind, so haben sie doch noch keine vollständige 
Aufklärung dieser Erkrankungen namentlich in Hinsicht des eigent¬ 
lichen Krankheitsgiftes zu erbringen vermocht und schon deshalb 
erscheinen weitere Beiträge zu diesem interessanten Kapitel ge¬ 
rechtfertigt, da sie in Zukunft für unsere Erkenntniss von Wich¬ 
tigkeit werden können. 

Zumeist sind es Massenerkrankungen, über die berichtet wird, 
und diese sind schon durch die Art ihres Auftretens, die gleiche 
Gelegenheitsursache und den gleichartigen Verlauf soweit auf¬ 
geklärt, dass sie zwar von grösstem medizinischen Interesse sind, 
vor Gericht aber doch mehr oder weniger klar erscheinen. 1 ) Viel 
schwieriger zu beurtheilen sind die Fälle, wenn sie auf wenige 
Erkrankungen beschränkt Vorkommen, und gerade über solche 
Fälle soll nachstehend berichtet werden. 

Der Krankheitsverlauf ist in den Fällen von Wurst- und 
Fleischvergiftung ein ziemlich gleicher und auch in aetiologischer 
Hinsicht werden jetzt beide mit grosser Wahrscheinlichkeit auf 
die toxische Wirkung gewisser organischer Basen zurückgeführt. 


*) In jüngster Zeit hat Schröder (Vierteljahrsschr. f. ger. Med., III. Folge, 
VI. Bd., Suppl.-H. p. 104 u. ff.) eine Massenerkrankung beschrieben, die durch 
das Fleisch einer Kuh veranlasst wurde, die wegen eines Klauenübels (Panaritium) 
notligeschlachtet worden war. In dankenswerter Mühe fügt er in Ergänzung 
K o b o r t s eine tabellarische Zusammenstellung der bisher veröffentlichten Massen- 
erkrankuugen durch Fleisch und Warst an. 



602 


Dr. Haberda. 


Sehen wir von den früher auch hierher gezählten Fällen von 
Trichinosis und von den sicheren intestinalen Milzbrandinfektionen 
ab, so kommt als nächste Gelegenheitsursache vor Allem Folgendes 
in Betracht: Entweder stammte das roh oder irgendwie zube¬ 
reitet genossene, allenfalls zur Wurst verarbeitete Fleisch von 
einem mit einer Infektionskrankheit behafteten Thiere, oder 
aber das Fleisch oder die daraus bereitete Wurst unterlag, 
obwohl ursprünglich giftfrei, gewissen Zersetzungsprozessen, die 
übrigens nicht identisch sein müssen mit der gewöhnlichen Fäul- 
niss (Husemann), und wurde dadurch gesundheitsschädlich, ein 
Umstand, auf den wir noch zu sprechen kommen. In ersterer Hin¬ 
sicht sind es namentlich septische und pyaemische Erkrankungen 
der Thiere, insonderheit von den Geburtswegen bei Kühen (Bol- 
linger, Flinzer) oder vom Nabel bei Kälbern ausgehend, doch 
sicher auch andere Infektionskrankheiten, und es ist bezeichnend, 
dass es, wie Bollinger hervorhebt, zumeist das Fleisch nothge- 
schlachteter Thiere ist, das zur Ursache solcher Erkrankungen wird. 
In letzterer Hinsicht muss bemerkt werden, dass ein Fleisch oder 
eine Wurst giftig wirken kann, ohne gerade Verdacht erregend 
auszusehen oder zu schmecken, ja von Einzelnen wird sogar be¬ 
merkt, dass durch gewöhnliche Fäulniss das Wurstgift unwirksam 
werden kann, abgesehen davon, dass evident faules und stinkendes 
Fleisch oder derartige Würste nicht leicht von Jemand genossen 
werden. Es kann vorläufig noch nicht als sicher hingestellt werden, 
ob es wirklich in Fleisch und Wurst zur Entwicklung kommende 
organische Basen, Ptomaine, sind, die, in den Körper eingefuhrt, 
zu den schweren Erkrankungsformen führen, zumal nur vomPto- 
matropin bisher sicher gestellt ist, dass seine Wirkungen auf den 
thierischen Organismus den Krankheitssymptomen bei Botulismus 
analog sind, oder ob nicht die Invasion von Mikroorganismen 
als solchen vom Magendarmtrakt aus zu den Erkrankungen führt, die 
man unter den Namen Wurst- und Fleischvergiftung zusammen¬ 
fasst und die mit gewisser Berechtigung auch als intestinale 
Sepsis (Bollinger) oder als intestinale Mykosen (im Sinne 
Hubers 1 ) bezeichnet werden könnten. Vielleicht greifen beide 
diese aetiologischen Momente Platz, und in der That gelang es 
einzelnen Autoren (z. B. Ehrenberg 2 ) Ptomaine aus zur Ur¬ 
sache der Vergiftung gewordener Wurst darzustellen, während 
Andere Bazillen in solchem Materiale fanden (wie z. B. Gärtner 
im Fleischsaft und Gaffky), sie rein kultivirten und mit mehr 
oder weniger sicherem Erfolge auf Thiere übertrugen. 

Bezüglich der klinischen Symptome verweise ich auf 
Huber’s 3 ) Angaben und auf die Schilderung inKobert’s ausge¬ 
zeichnetem Lehrbuche der Intoxikationen p. 711 und ff., in dem sich 
auch eine erschöpfende Literaturangabe findet. Uebrigens werde 
ich bei der Schilderung meiner Fälle das Wesentliche hervorheben. 
Auch auf die Obduktionsbefunde kommen wir später zu sprechen. 


*) Deutsches Arch. f. kl. Mediz., Bd. 25, p. 220—211. 
*) Zeitschr. f. phy-. Chemie, Bd. 11, p. 239. 

*) 1. c. 



Einige Fälle von wahrscheinlicher u. von angebl. Vergiftung durch Wurst etc. 603 

Ich will zunächst über drei Fälle aus diesem Jahre berichten, 
von denen ich zwei zu seziren Gelegenheit hatte: 

Am 27. Juli verzehrte die Familie W., aus Vater und zwei 
Töchtern bestehend, in voller Gesundheit das Abendbrot, das aus 
vier Stück Cervelatwürsten bestand, die am selben Abend 
bei dem benachbarten Wirthe Sch. gekauft worden waren. Der 
Vater, Alois W., ein 48 jähriger Goldarbeiter, ass zwei, die jüngere 
lljähr. Tochter, Helene, ein Stück der Würste, indess die 12 1 /* 
Jahre alte Marie sich mit einem Theil der vierten begnügte. Dazu 
tranken die drei zusammen 1 Liter Bier. 

Am nächsten Tage wurden alle unwohl, zuerst der Vater, 
zuletzt Marie. Sie hatten Brechreiz und Erbrechen, 
Appetitlosigkeit und Bauchschmerzen, weshalb am 29. 
ein Arzt gerufen wurde. Dieser hielt die Erkrankung für einen 
einfachen Magenkatarrh und verordnete Chinadekokt und Acid.muriat. 
dilut. Von dem zuerst Erbrochenen und dem Wurstrest bekam 
er nichts zu Gesichte, da diese Dinge schon beseitigt worden 
waren. In der nächsten Zeit verschlimmerte sich der Zustand bei 
den Patienten, es gesellten sich Diarrhöen und Schwindel 
hinzu, auch hohes Fieber (bis39,4°), Benommenheit des 
Sensoriums und leichter Icterus stellten sich bei dem 
Manne und der jüngeren Tochter ein, so dass beide am 3. August 
in’s Spital abgegeben wurden. Die ältere Tochter, die am leich¬ 
testen erkrankt war, kam erst am 6. August in ein Spital. 

Bei der Aufnahme im Spitale zeigte Alois W. leichte 
Lippen-Cyanose, mässig frequenten Puls, Fieber und an 
beiden Unterschenkeln einzelne stecknadelkopf¬ 
grosse Haemorrhagien. Ueber beiden Lungen wurde Bron¬ 
chitis konstatirt. Die Herztöne waren dumpf, doch rein, das 
Abdomen etwas aufgetrieben, Leber und Milz leicht ver- 
grös8ert. Am Abend der Ankunft war die Temperatur 39,8°. 
In den folgenden drei Tagen hielt sie sich stets über 38°. Am 
6. August wurde deutlicher Milztumor konstatirt, am 
8. August stellten sich reichlichere hellbraune Stühle, am 9. deut¬ 
licher Icterus und Dyspnoe ein, nachdem schon in der ganzen 
Zeit vorher leicht icterisches Kolorit bemerkbar gewesen war. 
Am 10. August starb der Patient. 

Das jüngere Mädchen, Helene W., klagte bei der Aufnahme 
über seit 8 Tagen bestehende Bauchschmerzen, zeigte trockene 
Lippen, belegte Zunge. Sie war icterisch, zeigte reichliche 
Diarrhöen und Schmerzhaftigkeit des Bauches. Am 
5. collabirte sie, wurde cyanotisch und pulslos. Man 
reichte ihr reichlich Excitantia. Am 6. bestand starke Hinfällig¬ 
keit und Blässe. Die Bewegung des Kopfes war erschwert, 
rechts zeigte sich leichte Ptosis, die Pupillen waren 
gleich weit, die rechte Naso-labialfalte etwas verstrichen. 
Allgemeine Hyperalgesie; Puls 112. Sie erbricht in den 
folgenden Tagen grünliche Flüssigkeit, hat flüssige 
Stühle und deutlichen Milztumor. 

Am 10. August ist die Patientin ungemein hinfällig, ihr 



604 


Dr. Haberda. 


Puls 132, sie blutet aus dem Zahnfleisch. Am 11. ist di“ Par<»- 
tisgregend schmerzhaft. Die Blutuntemichunff ergiebt stark 
vermeinte weisse Blutzellen. Am 12. Auffust Nachmittags stirbt 
die Patientin. 

Marie allein blieb am Leben. Sie kam am 6. August be¬ 
wusstlos mit sehr weiten und ungleichen Pupillen im 
Spital an, erbrach fortwährend grünliche, sauer reagireiide 
Massen, lag zusammengekauert im Bette. Die Haut war wachs¬ 
gelb und trocken, die Temperatur 39,9°. Dem Mund ent¬ 
strömte widerlicher Geruch, die Athmungsfrequenz war auf 60 
gesteigert. Das Abdomen aufgetrieben; Leber und Milz ver- 
grüssert, Stühle diarrhöisch. Unter excitirender Behandlung erholte 
sie sich schon am zweiten Tage und rekonvalescirte von da an, 
wenn auch langsam. Am 26. August ist sie schon so weit erholt, 
dass sie von der Ursache ihrer Erkrankung zu erzählen vermag. 
Sie giebt an, sie hätten an jenem Abend ausser den Würsten 
nichts gegessen, sicher keine Schwämme, auch nicht in den vorher¬ 
gegangenen Tagen. Die Würste hätten ganz gut geschmeckt. 

Noch ehe ich mir diese, zwar nicht sehr genauen, doch 
immerhin werthvollen Angaben vom behandelnden Arzte und in den 
betreffenden Spitälern verschafft hatte, nahm ich wegen des be¬ 
stehenden Verdachtes auf Wurstvergiftung am 12. August 
die gerichtliche Obduktion der Leiche des Alois W. und 
am 14. August jener der Helene W. vor. Erstere Leiche war 
leider schon sehr faul. 

Ich lasse die Obduktionsbefunde ziemlich ausführlich folgen: 

Leiche des Alois W.: 

Körper gross, wenig genährt Haut Hass mit deutlichem Stich in’s 
Gelbliche, am Kücken und in der linken Gesichtshälfte rothviolett. Binde¬ 
häute gelblich. Pupillen 3 mm weit. Aus Mund und Nase entleert sich 
schmutzig rot he Flüssigkeit. Bauch faulgrün. Untere Gliedmassen todtenstarr. 

Hirnhäute und Hirn mässig blutreich, erstere etwas feuchter, Hirnkammern 
etwas weiter, mit leicht verdicktem Ependym. Hirngefässe zart, in den Blut¬ 
leitern locker geronnenes Blut. 

Die Weichtheile des Halses blutig imbibirt. In den oberen Luftwegen 
röthliche Flüssigkeit, die Schleimhaut schmutziggrün. 

Das Zwerchfell rechts an der 5., links an der 6. Rippe. Die Lungen 
stark ausgedehnt, ihre Überlappen blutarm, vollständig lufthaltig; die Unter¬ 
lappen sehr blutreich, etwas dichter, schaumarrae Flüssigkeit entleerend 
und in scharf umschriebenen lobulaeren Herden grauviolett, 
luftleer und undeutlich gekörnt. In den Bronchien rechterseits grauer 
Schleim. 

Das Herz ebenso wie der Herzbeutel reichlich mit schlaffem Fett be¬ 
wachsen, sehr schlaff, etwas breiter; in seinen Höhlen spärliches leicht geronne¬ 
nes Blut, die Innenwand überall blutig imbibirt. Klappen und Gefässe ziemlich 
zart, die Kammern weiter, der Herzmuskel, besonders rechts stark von Fett¬ 
gewebe durchwachsen, gelbbraun und z er r e is s lic h. 

Leber gross, plumprandig, glatt, am Durchschnitt dichter, blutarm, 
undeutlich gezeichnet und theils gelbbraun, theils faulgrün. Milz 
gross, mit gespannter Kapsel, w e i c h , Gewebe ehokoladefarbig. Nieren 
gross, von Fäuluissblascu durchsetzt, Rinde breiter, graugelb, Ober¬ 
fläche glatt. 

Im Magen nebst Gas etwa 50 g einer dunkelbraunen unangenehm riechen¬ 
den Flüssigkeit ;die Schleimhaut verdickt, theils gelbgrau, theils 
graugrün. Im Dünndarm mässig reichlicher gallig gefärbter 
wässriger Inhalt, im Dick darin nebst spärlichem galligen 



Einige Fälle von wahrscheinlicher n. von angebL Vergiftung durch Wurst etc. 605 


Koth etwas gallig gefärbte Flüssigkeit, die Schleimhaut über¬ 
all dünn und blass, die Schleimhautfalten im oberen Dünndarm 
sowohl, als besonders die Follikel und Plaques im Ileum und 
die Follikel des Dickdarms grau pigmentirt, flach. Die mesen¬ 
terialen Lymphdrüsen klein, blass. Das Unterhaut- und Bauchfett sehr schlaff. 

Leiche der Helene W. 

Körper 127 cm lang, schwächlich und wenig genährt, die Haut blass¬ 
gelb, am Rücken nur spärliche violette Todtenflecke. Gesicht verfallen, Bulbi 
eingesunken, Bindehäute stark gelb, Pupillen über mittel weit, gleich. 
Ans dem Munde entleert sich gelbliche Flüssigkeit; die Zähne rhachitisch, das 
Zahnfleisch schmutzigblauroth und gelockert, Hals und Thorax lang und schmal, 
Bauch stark eingezogen. Keine Todtenstarre. 

Schädeldecken blassgelb, ebenso die Qura; die inneren Hirnhäute blut¬ 
reich und mit reichlichem gelblichen Serum durchtränkt, Hirn weich, feucht, 
blntreich. Im Marklager des Grosshirns, desgleichen in der 
inneren Kapsel und unter dem Ependym der Hirnkammern reich¬ 
liche, theils streifige, theils punktförmige, zumeist in 
Gruppen stehende kleine Blutaustritte. Die Meningen des 
Kleinhirns reichlich injicirt und auch ecchymosirt. Kleinhirn 
weich und blutreich; auch in ihm und zwar in Mark und Rinde 
kleinste Blutungen. In den Blutleitern spärliche Fibringerinnsel. 

Die Lymphdrüsen am Halse vergrössert und blass, nur eine am 
linken Unterkieferwinkel blutreicher. In den oberen Luftwegen gelbgrüne 
Flüssigkeit, die Schleimhaut blass. Zwerchfell beiderseits an der 4. Rippe. 
Linke Lunge vielfach fädig angewachsen, im linken Pleurasack 
etwa 100 g einer nicht getrübten hellgelben Flüssigkeit. An der Aussen- und 
Hinterseite des Unterlappens reichliche Ecchymosen. Die Lunge überall lufthaltig, 
im Oberlappen sehr blutarm, im Unterlappen mässig blutreich und von reich¬ 
lichem schaumigen blassgelben Serum überströmend. Die rechte Lunge nur 
mit dem Oberlappen leicht angewachsen, stärker gedunsen, sonst wie links. 

Herz schlaff, spärlich ecchymosirt, enthält spärliche Gerinnsel, 
Klappen zart und blass, der Herzmuskel blassgelblichbraun und 
morsch. 

Der rechte Leberlappen mit dem Zwerchfell fädig ver¬ 
wachsen. Leber glatt, scharfrandig, am Schnitt dunkelgrünlicbbraun, 
die acinöse Struktur verwischt. Milz plump, 12 cm lang, bis 
6 cm breit und bis 5 cm dick, ihre Kapsel mit der Umgebung 
stellenweise verwachsen, braunviolett mit mehreren deutlich 
vorragenden keilförmigen blassgraugelben und von einem 
schmalen rothen Hof begrenzten Herden. Milzpulpe zer- 
fliessend weich, chokoladefarben. Nieren weich, blutarm, glatt, 
die Rinde verbreitert, gelbgrau, roth gestrichelt und punk- 
tirt; in der Harnblase etwa 10U g blassen Harnes. 

Der Magen, nur wenig ausgedehnt, enthält etwa 50 g einer braunen, 
dicklichen, sauer rcagirenden Flüssigkeit. Die Magenschleimhaut ist 
gallig gelb gefärbt, nur im Pyloru saut heil mehr grau und 
daselbst mit zähem grauem Schleim bedeckt und etwas dicker. 
Im Grunde finden sich in ihr spärliche Ecchymosen. Die Gedärme 
sind kontrahirt und von aussen blass. Der Dünndarm führt mässig 
reichlichen, etwas schleim igen, grünlichbraunen, fade riechen¬ 
den Inhalt; die Schleimhaut ist blassgrau, im Jejunum und 
Ileum sind die im ersteren leicht vergrösserteu Follikel und die 
Plaques pigmentirt. Im Duodenum ist der Inhalt leicht breiig, gallig 
gefärbt, die Schleimhaut wie im Magen galliggelb, dünn, die Follikel leicht vor¬ 
stehend und blass. Im Dickdarm findet sich spärlicher, m)t etwas 
trüber grauer Flüssigkeit gemengter und leicht faekulent 
riechender graubrauner Schleim. Die Schleimhaut hier überall 
blassgrau, hie und da auf der Höhe weniger Falten leicht 
geröthet. Die Lymphdrüsen des Gekröses sind klein, hart, einige verkalkt. 

Wenn wir die Sektionsergebnisse überblicken, so fallen uns 
Icterus, Milztumor und degenerative Prozesse am Herzmuskel, an 
der Leber und den Nieren auf, welche Veränderungen besonders 



606 


Dr. Haberda. 


an der frischeren Leiche des Mädchens deutlich ausgesprochen 
waren. Die Veränderungen entsprechen Befunden, wie wir sie 
sonst bei septischen Prozesen gewöhnlich antreffen. Hierzu kommen 
bei dem Mädchen noch Blutungen in den Hirnhäuten und im Hirn 
selbst. Wir können diese in Einklang bringen mit den septischen 
Erscheinungen und als Zeichen einer tiefgreifenden Blutdissolation 
auffassen. 

Die Untersuchung einzelner grösserer dieser Blutungen, sowie 
der Milzpulpe auf Bakterien im Deckglaspräparate fiel vollständig 
negativ aus. In der Milzpulpe fiel hierbei ungemein 
reichliches rothbraunes körniges Pigment auf, was 
auf reichlichen Zerfall von Blutkörperchen hinweist. In destil- 
lirtem Wasser aufgeschwemmt, gab die Milzpulpe das Spektrum 
des Oxybaemoglobins, das durch Schwefelammon sehr rasch reduzirt 
wurde. Die mikroskopische Untersuchung des Herzmuskels 
der Helene W. ergab parenchymatöse Degeneration; gleiche Ver¬ 
änderung zeigten die Nierenepithelien. Im Harnsediment fanden 
sich reichliche Nierenepithelien, spärliche hyaline Cylinder, kein 
Blut. Eiweiss konnte in Spuren, nicht aber Zucker im Harn nach¬ 
gewiesen werden. 

Völlig verschieden von den sonst in der Literatur gegebenen 
Schilderungen ist der Magen- und Darmbefund. Während sonst 
selbst haemorrhagische Entzündungen der Schleimhaut, Infiltrationen 
und Schwellungen des Follikelapparates mit Betheiligung der 
Mesenteriallymphdrüsen, selbst nach Art des Typhus, beschrieben 
werden, ja Wälder die Massenerkrankung von Kloten direkt als 
Typhusepidemie bezeichnet, wogegen Huber *) mit Recht Einwand 
erhebt, finden wir hier eigentlich nichts von all’ dem. Bei dem 
Manne zeigte die Magenschleimhaut chronisch entzündliche Ver¬ 
änderungen und im Darm, der allerdings flüssigen Inhalt führte, 
fanden sich Piginentirungen, wie sie nach alten Katarrhen Zurück¬ 
bleiben. Aehnliehe Befunde zeigte die Leiche des Mädchens. Hier 
waren die Follikel zwar etwas grösser, doch muss dies eher auf 
eine Konstitutionserkrankung zurückgeführt werden, die sich auch 
in Vergrösserung der Lymplulrüsen des Halses und Verkalkung 
der im Gekröse manifestirte. Nur im Dickdarm waren eiuige 
Falten, doch nicht bedeutend, geröthet und im Magenfundus spär¬ 
liche Ecchymosen. Der Magen- und Darmbefund weist also auf 
Darmerkrankungen hin, die gewiss längere Zeit vor dem Ge¬ 
nuss der Wurst bestanden haben mussten und die vielleicht als 
disponirendes Moment beim Eintreten der schweren Erkrankung 
durch Aufnahme des Wurstgiftes gedient haben mögen. Höchst¬ 
wahrscheinlich kam es hierbei zu einer akuten Reizung dieser 
Organe, worauf die klinischen Symptome deuten, die aber bei dem 
protrahirten Verlauf der Erkrankung zur Zeit des Todes schon 
geschwunden war, so dass nur die weiteren Folgen der Aufnahme 
des Giftes sich präsentirten. Das Haemorrhagische, das diese 
Prozesse so oft auszeichnet und das sich deshalb wiederholt her* 

l ) l. c. 



Einige Fälle von wahrscheinlicher u. von angebl. Vergiftung durch Wurst etc. 607 


vorgehoben findet, sprach sich in diesen Fällen im Leichenbefund 
in den Hirn- und Hirnhautblutungen aus, während des Lebens bei 
dem Manne im Auftreten von Haemorrhagien an beiden Unter¬ 
schenkeln. 

Neuerdings bespricht Juhel-R6noy im Augustheft der 
Annales d’hygiöne publique die klinischen Symptome in 
vier Fällen von Vergiftung durch Schweinefleisch und hebt das 
Auftreten von Blutungen hervor, die einerseits, als Roseola ge¬ 
deutet, im Verein mit anderen Symptomen zur Verwechselung mit 
Typhus, andererseits zu einer solchen mit exanthematischen In¬ 
fektionserkrankungen oder mit anderen Hauterkrankungen fahren 
können und schlägt für letztere Fälle die Bezeichnung „dermatoses 
alimentaires“ vor. 

Wenn wir die klinischen Symptome durchgehen, so stimmt 
Manches mit den gebräuchlichen Angaben überein. So vor Allem 
das Auftreten der ersten Erscheinungen erst nach dem Verlaufe 
mehrerer Stunden, das Einsetzen mit Nausea und Erbrechen, die 
Diarrhöen, die schweren Allgemeinsymptome mit hohem Fieber. 
Leider konnte ich über das Verhalten der Pupillen in den ersten 
Tagen nichts erfahren, zumal der behandelnde Arzt, der nur 
an akuten Magenkatarrh dachte, die Pupillen wahrscheinlich 
vernachlässigte, so dass er mir jetzt darüber keine sicheren An¬ 
gaben zu machen wusste. Auffallend ist, dass bei der Genesenen 
noch am 10. Tage im Spitalbericht sehr weite und ungleiche Pu¬ 
pillen hervorgehoben sind. Betonen möchte ich noch bei dem 
jüngeren Mädchen die Paresen des rechten N. oculomotorius und 
facialis, sowie die Hyperalgesie, Erscheinungen, die sich vereinzelt 
auch bei anderen Beobachtern erwähnt finden. Desgleichen ver¬ 
dient bei ihr noch das Auftreten von Schmerzhaftigkeit in der 
Parotisgegend am Tage vor dem Tode hervorgehoben zu werden. 
Leider wusste ich hiervon zur Zeit der Sektion noch nichts und 
so unterblieb die anatomische Untersuchung dieser Gegenden. So 
viel mir bekannt, erwähnt nur noch Roth das Auftreten von 
Parotitis bei Botulismus. 1 ) 

Was das Gutachten anbelangt, so lautete dasselbe mit 
grosser Wahrscheinlichkeit auf Wurstvergiftung. 

Wenn wir bedenken, dass alle drei Personen nach dem Ge¬ 
nüsse derselben Wurst unter den gleichen Symptomen erkrank¬ 
ten, dass diese Symptome entschieden solche waren, wie sie bei 
Botulismus in Erscheinung kommen können, dass auch der Ob¬ 
duktionsbefund nicht gegen diese Annahme spricht, ja insofern für 
sie, da wir keine der gewöhnlichen Ursachen für das Auftreten 
der entschieden septischen Erscheinungen auffinden konnten, kann 
die Diagnose kaum in Zweifel gezogen werden. Die ursprüngliche 
Notiz einiger Tagesblätter, dass die Erkrankung möglicherweise 
auch nach dem Genüsse von Schwämmen aufgetreten sei, bewahr¬ 
heitete sich nicht, indem hiervon einerseits dem zuerst gerufenen 
Arzte nichts gesagt worden war und and rerseits die überlebende 


‘) Vierteljahrsch. f. ger. Med. 1893, B. 39, p. 251. 



608 


Dr. Haberda. 


Marie W. ausdrücklich in Abrede stellte, dass in der Familie 
während der letzten Zeit vor der Erkrankung Schwämme über¬ 
haupt genossen worden seien. Für die Abhängigkeit der 
Erkrankung von dem Genüsse jener Wurst spricht auch der Um¬ 
stand, dass das ältere Mädchen, das am wenigsten davon verzehrt 
hatte, genas und dass der Vater, der am meisten ass, zuerst er¬ 
krankte und zuerst starb. Auffallend ist, dass sonst Niemand im 
selben Stadtbezirk in jenen Tagen unter ähnlichen Erscheinungen 
erkrankt ist. Wenigstens ist hiervon den Behörden nichts bekannt 
geworden. Ganz ausgeschlossen kann es allerdings nicht werden. 
Ueber die Beschaffenheit der Wurst, die Art ihrer Zubereitung, 
die Provenienz des Rohmateriales, aus dem sie gefertigt war, 
konnte nichts eruirt werden, da erst am 3. August, also am 7. Tage 
nach dem jene Würste verkauft wordenwaren, bei dem betreffenden 
Gastwirthe und dem Wurstfabrikanten, von dem dieser seine Waare 
bezog, Revisionen von Seiten der Polizeiorgane vorgenommen wurden, 
die natürlich resultatlos blieben. Insofern ist der Fall unaufge¬ 
klärt und dies hinderte auch, dem Gerichte gegenüber mit der 
sicheren Diagnose „Wurstvergiftung“ hervorzutreten. 

Gerade in der letzten Zeit beschäftigten sich in Wien die 
Behörden mit der Frage, welche Würste zum allgemeinen Konsum 
zuzulassen seien und welche Vorsichtsmassregeln namentlich in 
Hinsicht der „dürren“, d. i. luftgetrockneten Würste zu treffen 
seien, um den Verschleiss verdorbener Waare zu verhindern. 

Es wurden hierüber sowohl gutachtliche Aeusserungen der 
von dieser Angelegenheit tangirten Genossenschaften, als des 
städtischen Marktkommissariates, des Stadtphysikates und Landes- 
Sanitätsrathes eingeholt und in nächster Zeit wird sich auch der 
Oberste Sanitätsrath mit dieser“ Frage beschäftigen. Der Güte 
meines verehrten Chefs, als Präsidenten des Obersten Sanitäts- 
rathes, verdanke ich die Kenntniss der folgenden vom Marktkom¬ 
missariate erhobenen, die Bereitung und Aufbewahrungsweise von 
Wurstwaaren betreffenden Daten, die ich, da sie auch ärztliches 
Interesse bieten und bei der Beurtheilung vorkommender Wurst¬ 
vergiftungen aufklärend wirken können, hier in Kürze anschliesse: 

Die bei uns hauptsächlich zum Konsum gelangenden Würste 
verlassen die Werkstätte des Wurstfabrikanten entweder ganz 
roh oder mehr oder weniger gekocht und geräuchert. 

Zu den rohen gehören die Brat-, Salami- und Morta¬ 
dellawurst; zu der zweiten Gattung die Augsburger, Leber-, 
Blut-, die Selch- nnd Frankfurter Wurst, weiter die 
Extra-, Pariser, Knack - und Cervelat-, Braunschweiger, 
Pr es 8- und die geräucherte Blutwurst. Die letzteren werden, 
abgesehen von jenen, die schon durch den Namen das Ma¬ 
terial, aus dem sie bereitet sind, kennzeichnen, zumeist aus Rind- 
und Schweinefleisch in verschiedener Mischung, und zwar meist 
unter Zusatz von Speck und Gewürzen gefertigt, in verschiedene 
Thierdärme, die vorher in Salzwasser mazerirt sind, gefüllt und 
nun durch verschiedene Zeit geräuchert und schliesslich in heissem 



Einige Fälle von wahrscheinlicher u. von angebl. Vergiftung durch Wurst etc. 609 

Wasser erwärmt. Während die Salami-, Mortadella- und Braun¬ 
schweiger Wurst nach ihrer Bereitung in kühler Jahreszeit oder 
in entsprechenden Kühlräumen 2—3 Monate an der Luft getrock¬ 
net werden, um so konservirt als sogenannte Dauerwürste in 
den Handel zu kommen, müssen die anderen Würste frisch, zum 
Theil noch in verschiedener Weise zubereitet, genossen werden. 
Es gestattet nur bei den genannten drei Gattungen die Art der 
Zubereitung 1 ) eine einfache Lufttrocknung ohne weitere Verände¬ 
rung, wobei bei der Braunschweiger Wurst noch durch Räuche¬ 
rung die Widerstandsfähigkeit gegen Fäulniss erhöht wird. Wenn 
es auch an der äusseren Hülle zu Schimmelbildung kommt, so 
bleibt doch bei Einhaltung der Bereitungsvorschriften eine tiefere 
Verderbniss der Wurst sicher aus. 

Nun werden aber auch andere Würste (so z. B. die Extra-, 
Pariser-, Cervelat-, Frankfurter Wurst u. s. w.) der Lufttrocknung 
unterzogen und sodann als „dürre“ Würste verkauft. Zumal 
die Gastwirthe pflegen einen grösseren Vorrath von frischen 
Würsten sich anzuschaffen und den nicht frisch konsumirten 
Theil zumeist an ganz ungeeigneten Orten, wie z. B. in den 
Wirthsstuben, aufzuhängen und so der Trocknung zu unterziehen. 

Gegen die Zulässigkeit derartig getrockneter Würste zum 
Verkauf wurde hauptsächlich Ein wand erhoben und zwar mit 
vollem Recht. 

Es werden nämlich bei Bereitung der genannten Würste der 
Wurstmasse von vielen Fabrikanten Wasser und Kartoffelmehl zu¬ 
gesetzt, ein Vorgang, der, wie ich den Akten entnehme, auch in dem 
Motivenbericht des deutschen Gesundheitsamtes zur Begründung 
des Gesetzes vom 14. Mai 1879, betreffend den Verkehr mit 
Nahrungs- und Genussmitteln, erwähnt wird und den übrigens 
auch Rubner in seinem Lehrbuch der Hygiene anführt 2 ). Der so 
gebildete Kleister vermindert durch die Berührung mit der organi¬ 
schen Substanz des Fleisches und des Darmes nur noch mehr die 
Widerstandsfähigkeit der Wurst, so dass sich diese im Sommer 
schon in kurzer Zeit verändert: Sie überzieht sich mit Schimmel, 
das Fleisch wird graulich und Geruch und Geschmack werden 
säuerlich. Später schrumpft sie durch Wasserverlust ein, so dass 
sie sich bis auf 2 /s, ja bis auf V, ihres Volumens vermindert, ihr 
Fleisch wird dunkelroth und schmeckt häufig ranzig. Während 
im halbgetrockneten Zustande wohl Niemand eine solche Wurst 


*) Die Salami besteht aus rohem entfetteten Schweinefleisch, die Morta¬ 
dellawurst aus Kindfleisch und Speck. Bei beiden wird das Fleisch mit Gewürz 
gemengt, fein gehackt und sehr trocken und stark gepresst in Rindsdärme 
gefüllt. Gerade die Wasserarmuth verhindert — wie bekannt — die Zersetzung, 
übrigens wird das Fleisch noch vor dem Zerkleinern durch Einsalzen und Liegen¬ 
lassen in der Salzlake einem Konservirnngsprozesse unterzogen. 

Die Braunschweiger Wurst besteht zumeist aus Abfällen der Wurst¬ 
fabrikation, die in einer der eben geschilderten ähnlichen Weise verarbeitet 
werden, doch werden die Würste schliesslich noch gekocht und geräuchert. 

*) P. Lohmann spricht in seinem Handbuch über Lebensmittelpolizei 
(Leipzig 1894, Verlag von Günther) die Ansicht aus, dass diese Zusätze keine 
die Wurst verderbniss Fördernde Wirkung ausiiben. 



610 


Dr. Haberda. 


kaufen würde, kommen diese später, nachdem sie also ganz inten¬ 
sive Stadien der Zersetzung durchgemacht haben, getrocknet zum 
Konsum. Gerade in derartigen Würsten kann es auch 
zur Bildung organischer Basen kommen und so ihr Ge¬ 
nuss gesundheitsschädlich werden. 

Jedenfalls erhellt aus dem Mitgetheilten, dass auch aus gutem 
Fleisch zweckmässig zubereitete Würste durch zu langes Auf¬ 
bewahren, zumal an ungeeigneten Orten, Veränderungen durch¬ 
machen können, die nicht so in die Augen springende sind, dass 
der Genuss solcher Würste sich von selbst verbieten würde, und 
die gerade deshalb zu Vergiftungen Anlass geben können. 

Vielleicht waren auch die von den erwähnten drei Personen 
genossenen Cervelatwürste derartig getrocknete, wenn sie auch 
nach Ansicht jener gut aussahen und schmeckten. Es ist ja be¬ 
kannt, dass das ärmere Volk in der Auswahl seiner Nahrung nicht 
eben rigoros ist. So mögen wohl auch andere Leute dieselben 
Würste aus der gleichen Bezugsquelle genossen und, falls sie dar¬ 
nach unwohl wurden, dies nicht sonderlich geachtet haben. 

Dass der Verlauf gerade in unseren Fällen so böse wurde, 
hat vielleicht in einer geringeren Widerstandskraft der Betroffenen 
seinen Grund. Marie W. ist ein schwächliches und anaemisches 
Individuum, ihre Schwester Helene war gleichfalls schwächlich, 
lymphatisch, zeigte angewachsene Lungen und alte perihepalitische 
und perisplenitische Adhaesionen und verkalkte Mesenteriallymph- 
diiisen. Der Vater soll schon oft und lange krank gewesen sein, 
viel gehustet haben und vor Jahren wegen einer Facialislähmung 
behandelt worden sein. Uebrigens dürfte er dem Trünke ergeben 
gewesen sein, wie das Fettherz, die fettig infiltrirte Leber, der 
chronische Magenkatarrh und die schlaffe Beschaffenheit des Körper- 
fettes hinlänglich bewiesen. Hierzu kommen bei beiden Ver¬ 
storbenen noch die früheren Darmerkrankungen. 

Wiewohl nach dem Obduktionsbefunde in den mitgetheilten 
Fällen der Verdacht auf irgend eine der gewöhnlichen Intoxi¬ 
kationen ausgeschlossen erschien und obwohl an den Nachweis 
einer eventuell in Betracht kommenden organischen Base nach dem 
heutigen Stande dieser Lehre nicht zu denken war, wurde doch 
die chemische Untersuchung der Leichentheile der 
Helene W. beantragt und dieselbe von den Herren Hofrath 
E. Ludwig und Professor J. Mauthner durchgeführt, wobei, 
wie erwartet, ein völlig negatives Kesultat sich ergab. 

An eine bakteriologische Untersuchung konnte natürlich 
in unseren Fällen schon wegen der Länge des Verlaufes nicht 
mehr gedacht werden. 

In unseren Gegenden, besonders in Wien, sind solche Ver¬ 
giftungen durch Nahrungsmittel sehr selten. Trotzdem kamen im 
Institute, seit es unter v. Hofmann’s Leitung steht, also seit 
Oktober 1875, unter circa 2400 gerichtlich und 11500 sanitäts¬ 
polizeilich obduzirten Leichen im ganzen 19 Leichen wegen Ver¬ 
dachtes auf Vergiftung durch Wurst oder Fleisch zur behördlichen 



Einige Fälle von wahrscheinlicher u. von angebl. Vergiftung durch Wurst etc. 611 


Obduktion. Zwei dieser Fälle sind oben ausführlich mitgetheilt, 
die übrigen schliesse ich hier an: 

1. Barbara H., 25 J. alt, war am 16. Mai 1876 Abends angeblich in Folge 
Genusses von Pferdefleischwürsten gestorben. Ucbrigens soll sie schon 8 Tage 
vor dem Genuss der Würste über Magenschinerzen geklagt haben, auch hatten 
ihr Mann und ihre Kinder schadlos von derselben Wurst ge¬ 
gessen. 

Die landesgerichtliche Obduktion ergab natürlichen Tod in Folge chroni¬ 
scher Tuberkulose der Lungenspitzen und angeborener Aortenenge mit Herz¬ 
erweiterung und fettiger Entartung des Herzfleisches. Magen- und Darmschleim¬ 
haut waren leicht gelockert, doch blass. 

2. Franz U., 20 J. alt-, starb am 2. Oktober 1876 Nachmittags. Er litt 
seit 48 Stunden an Abführen, dem sich schliesslich Erbrechen und Krämpfe in 
den Waden hinzugesellten. Angeblich traten diese Erscheinungen nach dem 
Genuss von Schweinefleisch, Weintrauben und Bier auf. 

Die sanitätspolizeiliche Obduktion ergab Milztumor, blasse, doch gelockerte 
und mit reichlichem Schleim belegte Magenschleimhaut, rosenrot h injieirte und 
grosse Mengen flockigen uud wässerigen Inhaltes führende Darmschlingen; die 
Darmschleimhaut besonders auf deu Faltenhohen geschwellt, gelockert und ge- 
röthet. Auch die Follikel geschwellt, desgleichen die GekröMymplulrüsen. Da 
keine die Diagnose fördernden Erhebungen Vorlagen, musste nach denn Obduktions¬ 
befunde mit grösster Wahrscheinlichkeit eine natürliche infektiöse Darmerkrankung 
(vielleicht Dysenterie) als Todesursache angegeben werden. 

3. Anna K., 50 J. alt, starb am 22. Juli 1877 unter den Erscheinungen 
des Brechdurchfalles. Sie litt angeblich an Athemnoth und häufigen Magen¬ 
krämpfen mit Diarrhöen, welche Erscheinungen 2 Tage vor dein Tode nach dem 
Genüsse von Wurst besonders stark auftraten und bis zmn Tode anhielten. 

Die sanitätspolizeiliche (Induktion ergab nur leichte Lockerung der Darm¬ 
schleimhaut und natürlichen Tod in Folge Herzverfettung mit Ilydrothorax und 
Stauungen in allen Organen und ein Aortenaneurysma. 

4. Ferdinand P., 16 J. alt, starb am 20. Juli 1879. Am 19. Mittags ass 
er mit anderen Leuten Suppe, Rindfleisch und Gemüse, gegen 5 Uhr bekam er 
Kopfschmerzen, Abends Bauchschmerzen, dann Erbrechen. 

Die landesgerichtliche Obduktion ergab rechtsseitige croupöse Lungen¬ 
entzündung. 

5. Rosa E., 66 J. alt, starb am 22. September 1888. Sie war am 16. Sept. 
nach dem Genüsse von „Bröckelfleisch“ unter Erbrechen und Durchfall erkrankt. 
Diese Erscheinungen schwanden zwar nach 24 Stunden, doch blieb die Patientin 
sehr schwach und bettlägerig und starb plötzlich. 

Die sanitätspolizeiliche Obduktion ergab Embolie der Pulrnonalarterie im 
Gefolge von Thrombose der linken Vena saphena und geringen Darmkatarrh. 

6 Anton K., 34 J. alt, starb am 8. April 1889 früh. Er ass am 6. April 
Wurst, worauf sich Erbrechen und Diarrhoe einstellten. Die sanitätspolizeiliche 
Obduktion ergab rechtsseitige croupöse Pneumonie. 

7. Johanna H., 21 J. alt, starb am 10. Juli 1889 früh nach 24stündiger 
ärztlicher Behandlung. Soll am 8. Juli Mittags Marillen, Gurken, Bier, Wurst¬ 
tein und Schweinefleisch gegessen haben uud darnach unter Erbrechen und 
Diarrhoe erkrankt sein. 

Die sanitätspolizeiliche Obduktion ergab: Volvulus der Elexura sigmoidea 
mit Gangrän des Darmes, Bauchfellentzündung und akuten Darmkatarrh. 

8. Der 4 Jahre alte Rudolf K. war am 19. September 1*8U um 3 Uhr 
Nachmittags gestorben, nachdem er am Abend vorher gebackenes K al bfleisch 
gegessen und darnach erkrankt war. 

Die gerichtliche Sektion ergab: Pupillen beiderseits gleichmässig 
verengt. Hirnhäute sehr blutreich und gespannt, das Gehirn sehr blutreich, 
feuchter, seine Windungen abgeflacht, die Kammern etwas erweitert. Lungen 
feucht; Herz enthält locker geronnenes Blut, sein Fleisch zäh, in den 
Innenschichten blässer. Leber gross, schlaff, am Schnitt braungelblich mit kaum 
erkennbarer Zeichnung; Milz klein, brüchig, blutreich. Ln Magen etwa 150 g 
dunkelbräunlicher flockiger Flüssigkeit, die Magenwandung fast in ganzer Aus¬ 
dehnung etwas erweicht, die Schleimhaut stark gequollen, bräunlich und grün¬ 
lich; im Fundus bemerkt man eine sehr feine netzförmige Zeichnung mit unter- 



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Dr. Haberda. 


mengten schwärzlichbraunen Punkten im Bereiche der daselbst erhaltenen 
Schleimhautschichte. Nieren schlaff, bräunlich violett mit kaum verwischter 
Zeichnung. Der unterste Dünndarm, fest zusaminengezogen, enthält wenig grauen 
Schleim, die Schleimhaut gefaltet, da und dort fleckig injicirt; die Plaques stark 
vergrössert, erhaben, zum grössten Tlieil rosenroth. Nach aufwärts zu enthält 
der Darm etwas mehr gallig gefärbten dünnbreiigen Inhalt, die Schleimhaut wie 
in den unteren Schlingen. Im Dickdarm iindet sich dünnflüssiger, trüber, mit 
einzelnen Flocken gemengter Inhalt, die Darmwandung ist etw T as starrer, die 
Schleimhaut im ganzen Verlauf gelockert, gleichtnässig leicht injicirt und ausser¬ 
dem mit feinsten Blutpunkten roth gesprenkelt. Auch hier sind die Fullikel 
vergrössert, die Lymphdrüsen des Gekröses vergrössert, weicher und blutreicher. 

Im Gutachten sagte A. Pal tauf, dass die gefundene Magen- und Darm¬ 
entzündung zwar der gewöhnliche Befund in frischen Fällen von Fleischvergiftung 
sei und dass für die Annahme einer anderweitigen Vergiftung kein Anhaltspunkt 
vorliege, dass jedoch die Frage, ob faktisch Vergiftung durch Fleisch anzunehmen 
sei, zumal da eine chemische Untersuchung nach dem dennaligeu Stand der 
Wissenschaft kein förderndes Resultat erwarten lasse, nur aus den Umständen 
des Falles entschieden werden könne. 

Die weiteren Nachforschungen ergaben keine die Diagnose sichernde An¬ 
gaben, so dass der Fall leider unaufgeklärt blieb. 

9. Franz R., 16 J. alt, Lehrling, zechte am 15. September 1889 in Gesell¬ 
schaft mehrerer Freunde, ass Pflaumen und trockene Wurst. Am nächsten 
Tage wurde er unwohl, schwach, erbrach und hatte Bauchschmerzen, welche 
Symptome bis zum Tode am 22. September anhielten. 

Die gerichtliche Obduktion ergab subakute Phosphorvergiftung und die 
Erhebungen stellten Selbstmord fest. 

10. Marie W., 47 J. alt, Blumenmacherin, ass am 12. September 1891 
Abends einige Schnitten einer sogenannten Braunschweiger Wurst, die 
ihr schlecht schmeckten und von welcher sie ihrem Manne, der mit ihr speiste, 
abrieth. Ueberdies assen beide Schinken und tranken dazu ganz wenig Wein. 
Sie selbst nahm später einige Pflaumen, „um den metallischen Geschmack aus 
dem Munde zu bringen“. Schon in der Nacht darauf stellten sich bei ihr 
schmerzhafte Krämpfe in den unteren Extremitäten und Erbrechen ein. Der 
Mann dagegen hatte eine flüssige Stuhlentleerung, bli« b aber sonst gesund. Bei 
der Frau traten schwerer Icterus und Zeichen einer Nierenentzündung ein, am 
23. wurde sie bewusstlos, hatte weite Pupillen, zahlreiche Petechien in der Haut 
und blutete aus dem Zahnfleisch. Die diarrhueischeu Entleerungen wurden 
schliesslich blutig und so starb sie atn 24. September früh. Wegen Verdachtes 
auf Wurstvergiftung nahm ich am 2G. die gerichtliche Obduktion der leicht, 
faulen Leiche vor: In dem Unterhautzellgewebe fanden sich zahlreiche kleine Biut- 
austritte, desgleichen in der Haut. Die Lungen sehr feucht, in den Unterlappen 
leichte Hypostasen, Herz sehr schlaff, sein Fleisch stark von Fett bewachsen, 
gelblichbraun und morsch. Leber brüchig, graugelbgrün, sehr gross, Milz grösser, 
schlaff, morsch und blutreich. Im Magen graugrüne Flüssigkeit, seine Schleim¬ 
haut theils grünlich, theils gelblich grau, im Grunde ecchymosirt. Nieren grösser, 
schlaff, Rinde verbreitert, gelockert, gelblichgrün, undeutlich gezeichnet und auf 
der Oberfläche braunroth gefleckt. Der Dünndarm führte in den oberen zwei 
Dritteln grünlichen etwas schleimigen Inhalt. Die Schleimhaut daselbst erscheint 
gelblichgrün ohne Schwellung. Das unterste Drittel des Dünndarmes und der 
ganze ziemlich enge Dickdarm enthalten blutig tingirte etwas eingedickte Flüssig¬ 
keit, die röthlichbraune Schleimhaut ist in nach abwärts abnehmendem Grade 
stark infiltrirt, besonders in den Falten, welche im oberen Dick¬ 
darm als dicke starre Wülste vorspringen, an deren Oberfläche die obersten 
Schichten leicht nekrosirt und kleinförmig abgestossen er¬ 
scheinen; die Schichten darunter stellenweise ecchymosirt und im ganzen 
serös durchfeuchtet. Der Bauchfellüberzug des Dickdarmes trüb, stellenweise 
blutig gefärbt. — Die Gallenwege durchgängig, ihre Schleimhaut blass, nur an 
der Einmündungsstelle in den Dünndarm geschwellt und geröthet. 

Die chemische Untersuchung der Leichentheile ergab die An¬ 
wesenheit erheblicher Mengen von Zink. 

Mein Gutachten lautete in der Hauptsache wie folgt: 

1) M. W. ist an einer intensiven Entzündung des Dünn- und Dickdarmes 
gestorben. 



Einige Fälle von wahrscheinlicher u. von angebl. Vergiftung durch Wurst etc. 613 

2) Ausserdem fand sich parenchymatöse Entartung des Herzens, der 
Magenschleimhaut und der Nieren, Fettleber und Fettherz, welche letzteren zwei 
Zustande jedoch offenbar schon vor der letzten Erkrankung bei der sehr fett¬ 
leibigen Frau bestanden haben dürften. 

3) Die Befunde sind solche, wie sie einerseits auf natürliche Weise in 
Folge einer infektiösen Darmerkrankung, der Ruhr (Dysenterie), zu Stande 
kommen, andererseits aber auch durch subakute Vergiftungen, besonders mit 
Metallgiften, veranlasst werden. 

4) Da das in den Leichentkeilen gefundene Zink, das wohl nur als schwefel¬ 
saures Salz in der hier in Betracht kommenden Weise giftig wirken könnte, 
auch durch Medikamente in den Körper gelangt sein konnte, so kann aus dem 
chemischen Befunde nicht mit Berechtigung der Schluss auf eine Vergiftung 
mit einem Zinksalz gemacht werden. 

5) Die Möglichkeit einer Wurstvergiftung oder einer Phosphor¬ 
vergiftung lässt sich einerseits aus den gerichtlichen Erhebungen, anderer¬ 
seits aus dem anatomischen Befunde ausschliessen. 

6) Wahrscheinlich liegt eine natürliche Erkrankung vor, wenn sich auch 

eine Metallvergiftung nicht ganz sicher ausschliessen lässt. 

11. Julius Merks, 59 J. alt, starb am 23. Oktober 1891 früh. Dieser 
Fall wurde von P. Dittrich ausführlich publizirt*) (Wien. Klin. Wochenschrift 

1891, p. 880). 

Die sanitätspolizeiliche Sektion ergab intestinalen Anthrax, der aber nicht 
durch Wurst, wie man anfänglich vermuthet hatte, sondern durch die Unrein¬ 
lichkeit des Verstorbenen selbst veranlasst wurde, da derselbe auf dem Vieh¬ 
markt, auf dem er beschäftigt war, mit milzbrandkranken Thieren in Berührung 
gekommen war und sieh so infizirt hatte. 

12. Robert P., 55 J. alt, war am 6. April 1892 früh mit seinem Schlaf¬ 
kameraden bewusstlos im Bette aufgefuuden worden, nachdem beide am Abend 
vorher Blutwurst und Kraut gegessen hatten. Im Spitale kam P. bewusst¬ 
los, cyanotisch, mit Trismus und klonischen Krämpfen der Extremitäten an. 
Pupillen waren enge, Stuhl dunkel, dickflüssig. 

Die gerichtliche Sektion (v. Hof mann) ergab Nekrosen in beiden 
Linsenkernen, Schluckpneumonie und Her zfleisch Verfettung 
in Folge von Kohlenoxydvergiftung, welche letztere Annahme durch 
die Erhebungen bestätigt wurde. Der zweite Mann wurde gerettet. 

Der 13. Fall betraf einen 4 Jahre alten Taglöhnerssohn, der am 16. Mai 

1892, 8 Uhr Morgens, unter Erbrechen und Krämpfen gestorben war. Diese 
Erscheinungen waren am selben Tage gleich Morgens nach 
dem Frühstück, das aus Rindssuppe, Milch und Semmel bestand, 
aufgetreten. Gleichzeitig erkrankten auch der Vater, die 
Mutter und drei Geschwister nach demselben Frühstück unter Erbrechen, 
doch genasen diese Personen rasch wieder. 

Die sanitätspolizeiliche Sektion (v. Hof mann) der 81 cm langen, sehr 
gut genährten Leich ergab: Hirn stärker durchfeuchtet. Vordere Rippenenden 
leicht verdickt, Lungen mit den Oberlappen angewachsen; im linken Oberlappen 
eine haselnussgrosse fleischartig verdichtete Partie mit einzelnen grauen kleinen 
Knötchen, sonstiges Parenchym lufthaltig, blutreich, feuchter. Thymus von 
mehreren bohnengrossen käsigen Herden durchsetzt. Am Bauchfell der rechten 
unteren Bauchwand käsige Knötchen. Leber fetthaltig, Milz schlaff, blass. Der 
geblähte Magen enthielt 20 g einer braunen, nach Kaffee riechenden Flüssigkeit, 
Schleimhaut gelockert, doch blass, auf der Höhe der Falten gelblich. 
Im Dünndarm massig reichlicher schleimiger, im Dickdarm eben solcher 
bleichgrauer, mit käsigen Bröckchen gemengter Inhalt; Schleimhaut beider blass, 
doch gelockert mit geschwellten Follikeln. Nieren normal; die 
Mesenterialdrüsen haselnussgross, violett. 

Die von Herrn Hofrath E. Ludwig vorgenommene Untersuchung der 
Leichentheile auf metallische Gifte und Alkaloide fiel negativ aus. Mit Rück¬ 
sicht hierauf, auf den Obduktionsbefund und die Umstände des Falles lautete 
das Gutachten mit Wahrscheinlichkeit auf Vergiftung durch 
Pt omaine. 


0 Ein ausführliches Referat über diesen Fall ist in Nr. 23, Jahrg. 1891 
dieser Zeitschrift, S. 636, gebracht. 




614 


Dr. Haberda. 


14. Der 16jährige Tapeziererlehrliug Eduard M. war am 31. Aug*. 1892 
um 9 Uhr Morgens gestorben, nachdem er um 2 Uhr Oderberger Würste 
und um 6 Uhr sein aus Wurst und Brot bestehendes Nachtmahl eingenommen 
hatte. Bald nach diesem war er unwohl geworden, hatte den Abort aufgesueht 
und dort fand man ihn Stunde später bewusstlos und um ihu erbrochene 
Massen. Bei andauernder Bewusstlosigkeit starb er. 

Die gerichtliche Sektion (P. Dittrich) der schon faulen Leiche ergab: 
Keine Veränderungen am Mageu und Darin, dagegen als Ursache des natürlichen 
Todes eine Hirnblutung mit Durchbruch in die Hirnkammern. 

15. Die 9 Jahre alte Marie W. erkrankte am 31. Dezember 1892 am 
Abend nach dem Genuss von Wurst („Plunzcn“) an Kopfschmerzen, Erbrechen. 
Durchfall, wurde bald darauf bewusstlos und starb nach 24 Stunden. Die 
übrigen Kinder der Familie, die von derselben Wurst gegessen 
ha t teu, blieben ge s u ud. 

Die gerichtliche Sektion (v. Hof mann) des rhachitischen Kindes ergab 
normalen Magen- und Dannbefuud und als Todesursache rechtsseitige 
Pneu m o n i e. 

16. Anton A., 2 J. alt, starb am 10. Juli 1893 an Darmkatarrh, der 
angeblich in der letzten Zeit nach de m Genuss einer faulen 
Wurst a u f g e t r e t e n w a r. 

Die von mir gemachte gerichtliche Sektion des blassen und abgemagerten 
Kindes ergab ein häutiges Bild: hochgradige Khachitis, chronischen Magen- 
darmkatarrh, fettige Entartung der grossen Drüseu und Lungenödem. 

17. Der letzte Fall wurde am 4. Oktober 1893 von Herrn Hofrath 
v. H o f m a n n sanit ätspolizeilich obduzirt: 

Die 18jährige Magd M. M. wurde am 2. Oktober sterbend in’s Kranken¬ 
haus gebracht und verschied, ehe noch eine Diagnose gemacht werden konnte. 
Sie soll am selben Tage die Suppe von geräuchertem Pferdefleisch 
genossen haben. 

Die wesentlichen Sektionsbefunde lauteten: 

Die Schleimhaut im Rachen und Kehlkopf dicht injizirt 
und s i c h 11 i c li g e s c h w e 111, a in Kehldeckel eine h a n f k o r n g r o s s e 
f e s t h a f t e n d e A u f 1 a g e r u n g von f i l> r i n ö s e in E x s u d a t. Die T u n - 
si 11en über h as e1n u ss g r os s, succu1e n t, ge ro t h e t und mit fest- 
hafteudem fibrinösem Exsudat belegt. Der rechte Lungen¬ 
unter lappen blutreicher, die Pleura hier ecchymosirt und mit kleinen 
f i h r i u ö s e n E x s u d a tmembranen stellenweise überzöge n. Herz¬ 
fleisch sehr bleich und morscher. 

Die Magenschleimhaut wenig gelockert, grauröthlich, in den hinteren 
Partien gallig imbibirt. Lebersubstanz blutreich mit undeutlicher Struktur, 
Milz geschwellt, 13,5cm lang, 10cm breit, blutreich und weich; 
Nieren schlaff und gelockert. 

Im Dünndarm gallig gefärbter Inhalt, die Schleimhaut sonst blass, nur 
im untersten Ileum und an der Ilcocoecalklappe sehmutzigviolett mit stark 
vor treten den v e rgrö s s er t e n Plaques und Follikeln. Dickdann 
fast leer, seine Schleimhaut blass. Die Gek rösly mphdrüsen in der 
Ileocoecalgegend vergrüssert. 

Die mikroskopische Untersuchung ergab parenchymatöse Erkrankung von 
Herzmuskel und den grossen Unterleibsdriisen. 

Darnach war sicher, das die Untersuchte im Beginne einer akuten In¬ 
fektionskrankheit gestorben war und es konnte an Diphtherie oder Ileotyphus 
gedacht werden. 

Die bakteriologische Untersuchung auf Typhusbazillen durch Herrn Prof. 
Weichsel bäum fiel negativ aus, so dass erstere Annahme die wahrschein¬ 
lichere war. 

Die Annahme einer Wurstvergiftung entfiel. 

Diese Fälle beweisen, wie durch das zufällige Zusammen¬ 
treffen des Genusses von Wurst oder Fleisch mit dem Einsetzen 
der Erscheinungen irgend einer anderen Vergiftung (wie durch 
Phosphor oder Kohlenoxydgas), oder einer schweren Allgemein- 
krankung (z. B. Pneumonie), oder irgend einer Darmerkrankung 



Einige Fälle von wahrscheinlicher u. von angebl. Vergiftung durch Wurst etc. 615 

(Dysenterie, Volvulus u. s. w.), oder mit dem Eintritt plötzlichen 
Todes ohne vorherige krankhafte Symptome aus Ursachen (Herz¬ 
fleischentartung, Embolie der Lungenarterie u. s. w.), wie wir sie 
täglich bei den sanitätspolizeilichen Obduktionen plötzlich Ver¬ 
storbener finden, der Verdacht einer Wurstvergiftung veranlasst 
werden kann. 

Nur durch eine sachgemässe Leichenuntersuchung kann im 
Zusammenhalte mit den Umständen Aufklärung gebracht werden, 
wenn auch das isolirte Erkranken einer Person schon an 
sich den Verdacht sehr entkräftigen muss. 

Im Falle 8 musste die Frage, ob Fleischvergiftung vorliege, 
offen gelassen werden und im Falle 13 konnte, zumal ausser dem 
verstorbenen Kinde noch andere Leute erkrankt waren, und es 
doch nicht anging, von der nicht eben weit vorgeschrittenen Tuber¬ 
kulose den Tod herzuleiten, die Wahrscheinlichkeitsdiagnose auf 
Vergiftung durch Ptomaine lauten, zumal der krankhafte Zustand 
des Kindes eine verminderte Widerstandsfähigkeit gegen solche 
Schädliclikeiten bedingen konnte, ja musste. 

Nachschrift. 

Nach Abschluss vorstehender Mittheilungen kam ein wei¬ 
terer hierher gehöriger Fall im Institute zur Sektion: 

Der 36jährige Bürstenbindergehilfe J. H. hatte am 
27. Oktober 1893 eine gebratene Blutwurst zum Nachtmahl ver¬ 
zehrt, bekam in der Nacht darauf Brechreiz, war am nächsten 
Tage sehr matt und am zweiten Tage kaum mehr fähig, sich auf¬ 
recht zu erhalten. Am 31. Oktober trat Erbrechen und Schmerz¬ 
haftigkeit des Abdomens ein, häufige Ohnmachtsanfälle, grosser Durst 
und Schmerzen in der linken Seite gesellten sich hinzu. Unter 
zunehmender Schwäche verstarb der Kranke am 3. November. 

Drei in derselben Werkstätte beschäftigte Gesellen hatten 
am selben Abend gleichfalls aus demselben Gasthause bezogene 
Blutwürste gegessen, doch verzehrten sie ihre Würste nicht ganz, 
da aus einer derselben, die nicht gar gebraten war, Blut hervor¬ 
kam, worüber sie Ekel empfanden. Zwei von ihnen klagten am 
folgenden Tage über Brechreiz, blieben jedoch gesund. 

Wegen V erdachtes auf Wurstvergiftung wurde die Leiche 
des J. H. am 5. November von Herrn Hofrath von Hofmann 
gerichtlich obduzirt. Die interessante Sektion ergab typische 
Milzbrandbefunde in den Lungen sowie im Magendarm¬ 
trakt mit haemorrhagischer Schwellung der Bronchial- und 
Gekrösdrüsen, Blutungen in den Brust- und Bauchmuskeln, trübes 
gelbliches Serum im Brust- und Bauchraum, sulziges 
Oedem des Zellgewebes um die Nieren und einen bohnen¬ 
grossen Milzbrandkarbunkel in der Haut des linken Ober¬ 
schenkels. Die bakteriologische Untersuchung aller dieser 
Theile bestätigte die Diagnose. 

Die gerichtlichen Erhebungen stellten klar, dass — wie auch 
schon nach dem Sektionsergebniss anzunehmen war — nicht 
durch die Wurst die Infektion bedingt war. Die Würste waren 
am 27. Oktober — am Tage der Erkrankung des J. H. — aus 



616 


Dr. Mittenzweig. 


vollständig frischem Material hergestellt worden und gelangten 
am selben Abend 100 Stück davon zum Verkauf, ohne dass Jemand 
nach ihrem Genüsse erkrankt wäre. Das Unwohlsein der schon 
erwähnten zwei Gesellen konnte seinen Grund in dem Ekelgefühl 
gehabt haben. 

Ueberdies wurde erhoben, dass J. H. schon in den Tagen 
vor dem Genüsse der Blutwurst schwach und herabgekommen 
ausgesehen hatte und dass er in dieser Zeit mit der Verarbeitung 
von rohen Thierhaaren, besonders rohem Rosshaar, be¬ 
schäftigt war, so dass die Annahme nahe liegt, dass er sich hier¬ 
bei mit Milzbrand infizirt hat. 


Traumatische Verblutung aus den Gefässen der rechten 

Nebenniere. 

Von Dr. Mittenzweig. 

Der dreissigjährige äusserst muskulöse Arbeiter M. war zwischen 
die Puffer zweier Eisenbahnwagen gekommen und hatte verhält- 
nissmässig wenige äussere Verletzungen davon getragen. Er war 
sofort ärztlich behandelt. Man hatte ihm, da er rechtsseitig über 
heftige Schmerzen klagte, an der rechten Seite der Brust und des 
Bauches blutige Schröpfköpfe gesetzt und ihn dann in das Augusta- 
Hospital geschickt. Dort war er nach ca. 24 Stunden gestorben, ohne 
dass man die spezielle Todesursache nennen konnte. 

Die Obduktion ergab Tod durch innere Verblutung. Im 
rechten Brustfell sack lagen 800, in der Bauchhöhle 2500 g Blut. 

Das rechte Schlüsselbein, die 4. Rippe rechts, sowie die 4. 
bis 6. Rippe links wraren gebrochen. 

Das parietale Bauchfell an der rechten Hinterwand der Bauch¬ 
höhle war durch flüssiges und geronnenes Blut abgehoben und iu 
der Gegend der rechten Niere stark gedehnt und spaltenartig ge¬ 
trennt. 

Wir Obduzenten und der Herr Medizinalrath Lindner 
überzeugten uns, dass die rechte Niere unter der Kapsel einen 
massigen Bluterguss hatte, welcher aus einem oberflächlichen Riss 
des Nierengewebes herrührte, und dass ebenso die Leber am 
stumpfen hinteren Rande ein wenig eingerissen w r ar. 

Dagegen fanden wir folgende Beschaffenheit an der rechten 
Nebenniere. 

Nr. 55 des Protokolls: „Die rechte Nebenniere ist in dicke 
Blutgerinnsel eingehüllt. Nachdem die Nebenniere aus diesen 
herausgeschält ist, findet sich ihr Rand unverändert und ebenso 
kann man ihre Furchung noch deutlich bemerken. Dagegen er¬ 
scheint ihre konkave Fläche auseinander getrieben und in der 
Gegend ihrer Pforte ist das Gewebe durch starke Verfilzung mit 
geronnenem Blute verdickt. 

Ein Schnitt durch die ganze Nebenniere vom Rande nach 
dem Hilus trennt sie in zwei Hälften und trifft am Hilus ein 
kugelförmiges Blutgerinnsel von l 1 /, cm Grösse, von dem aus 



Traumatische Verblutung aus den Gefässen der rechten Nebeniere. 617 

strangförmige Blutgerinnsel nach und durch die Spalten des Bauch¬ 
felles in die Bauchhöhle hineinragen.“ 

Nr. 65. „Die Aorta, die Vena cava, die Pfortader, die Leber¬ 
venen und Leberarterie, die Nierengefässe etc. sind nicht ver¬ 
letzt. Zwischen den Blättern des Gekröses finden sich keine 
Blutungen. 

Das Gewebe in der Umgegend der grossen Gefasse der 
Bauchhöhle ist wenig mit Blut durchsetzt. 

In der Gegend der mittleren Brustwirbel finden sich in der 
Aorta einige blassbraungraue Blutgerihnsel (Thromben), in Länge 
bis zu 5 cm, welche aus den Interkostalarterien heraushängen 
und nach dem Arcus Aortae zu gerichtet sind. 

Sonst bemerkt man hier nichts Abnormes.“ 

Dieser Fall lehrt, dass auch die sonst normalen Nebennieren 
forensisch nicht so bedeutungslos sind, wie wir Physiker wohl 
bisher geglaubt haben und dass das Regulativ nicht so unrecht 
hat, wenn es verlangt, dass auch diese Organe stets herausge¬ 
nommen und beschrieben werden. 

Von vomeherein sollte man allerdings meinen, dass die ver¬ 
letzten Gefasse der Nebenniere kaum im Stande wären, den Ver¬ 
blutungstod herbeizuführen und doch lehrt dieser Fall das Gegentheil. 

Hyrtl sagt von ihnen: „Die Nebennierenarterien, Arteriae 
suprarenales, gewöhnlich zwei Paare, nicht erheblich.“ 

„Die Nebennierenvenen, Venae suprarenales. Sie sind im 
Verhältnis der Grösse der Nebenniere sehr entwickelt. Die linke 
geht in der Regel zur linken Nierenvene.“ 

Dass die Nebennierenarterien bisweilen recht erhebliches 
Kaliber haben, davon habe ich mich nachträglich an der Leiche 
selbst überzeugt. Das Kaliber ist mitunter an beiden Arterien 
recht verschieden; so sah ich dieser Tage rechts ein Lumen von 
1 mm, links ein solches von 3 mm. 

Abgesehen von dem Interesse, welches die rechte Nebenniere 
bot, fand sich bei dieser Obduktion ein zweiter bemerkenswerther 
Punkt, nämlich die Thrombenbildung in der Aorta der Brusthöhle. 
Ich weise darauf hin, dass nach diesem Befunde die Möglichkeit 
gegeben war, dass ein Stück dieser Thromben sich ablösen und 
in die linke Carotis hineingespült werden konnte, um schliesslich 
eine Embolie im Gehirn und einen plötzlichen Gehimtod zu be¬ 
wirken. 

Die Kenntniss solcher Fälle ist nicht ohne Wichtigkeit für 
die Geschichte der Thrombose und namentlich für plötzliche Todes¬ 
fälle bei Verletzung der Brustwand, insbesondere für die Recht¬ 
sprechung der Unfallversicherung, zumal wenn die Sektion unter¬ 
geben und eine andere Todesursache nicht festgestellt ist. 


Hygienische Seminarkurse. 

Von Kreisphysikus Dr. Dyrenfurth in BQtow. 

Nach Zeitungsmeldungen wird höheren Orts beabsichtigt, in 
den Schullehrer-Seminarien hygienische Kurse einzuführen. Einige 



618 


Dr. Dyrenfurth. 


Vorbereitung in der Gesundheitskunde erhalten die Zöglinge schon 
jetzt gelegentlich des anthropologischen, zoologischen und botani¬ 
schen Unterrichts. Sie werden belehrt über den Bau des mensch¬ 
lichen Körpers und die Verrichtungen seiner Organe, über Ent¬ 
wickelung, Wandelungen und Wanderungen der menschlichen Para¬ 
siten ; in den Seminargärten werden die wichtigsten einheimischen 
Giftpflanzen gezogen, durch Modelle die Giftpilze veranschaulicht, 
es wird beim Turnunterricht das Hülfsverfahren bei plötzlichen 
Unglücksfallen (Scheintod bei Ertrinken, Ersticken durch Kohlen¬ 
dunst, Erhängen) gelehrt und geübt. Dennoch erscheint das bisher 
Gebotene noch recht unzulänglich und eine beträchtliche Erweite¬ 
rung des hygienischen Wissens der zukünftigen Volksbildner sehr 
wünschenswerth, weshalb wir die geplante Einrichtung nur mit 
Freude begrüssen können. 

Der Elementarlehrer, insbesondere der ländliche, ist ein 
Sohn des Volkes und steht durch Beruf und Verkehr mitten im 
Volke. Er kennt dessen Wohnstätten und Gewohnheiten, seine 
Sitten und Unsitten, seine Lebensweise und Lebensverhältnisse. 
Vermöge seiner ganzen Stellung und seiner höheren Bildung ge- 
niesst er in breiten Kreisen Ansehen und Einfluss, sein Wort und 
sein Rath sind von Gewicht und Geltung. 

Wie ein Fremdling jedoch und rathlos steht er, zumal im 
Anfang seiner Laufbahn, gemeingefährlichen und ansteckenden 
Krankheiten gegenüber, wenn sie die Schwelle des Schulhauses 
überschreiten. Keine Ahnung hat der junge Lehrer von den Merk¬ 
malen, unter welchen Scharlach, Diphtherie, Trachom u. s. w. in 
die Erscheinung treten. Welcher Medizinalbeamte hat es nicht 
aber schon erfahren, wie oft gerade die Schule der Herd und das 
Mittelglied zur Verbreitung und Einnistung böser Epidemien bildet? 
Ein oder mehrere Schüler sind krank gemeldet und fehlen viel¬ 
leicht eme Woche lang in der Schule. Nachdem sie während der 
Zeit das Zimmer oder das Bett gehütet und wohl auch Besuche 
von ihren Mitschülern erhalten haben, erscheinen sie wieder, kaum 
halb genesen, aber noch voll mit Ansteckungsstoff beladen. Kurz 
darauf erkranken die Nachbarschüler; zusehends mehrt sich die 
Zahl der Ausstäudigen — bald ist die Schule entvölkert, das ganze 
Dorf verseucht. Nun endlich wird der bekannte schwerfällige 
Apparat in Bewegung gesetzt, der Landrath von der Sachlage be¬ 
nachrichtigt, der Gemeindevorsteher — Fristvermerk 5 Tage — 
beauftragt, die Krankheit durch einen Arzt konstatiren zu lassen. 
Erst wenn dieser dem Kinde den Namen gegeben, wird der Kreis- 
physikus angewiesen, an Ort und Stelle Vorkehrungen gegen die 
Ueberhandnahme der Kalamität zu treffen. — Freilich ist mittler¬ 
weile schon ein halbes Dutzend Kinder und darüber auf den Kirch¬ 
hof gebracht und Haus bei Haus in ein Lazareth verwandelt. 
Kein Wunder, wenn jetzt die angeordneten Massregeln so herzlich 
wenig Früchte tragen! Wie viel weniger Opfer hätte die Seuche 
verschlungen, wenn der Lehrer im Stande gewesen wäre, gleich 
die ersten Fälle sofort zu erkennen oder zu vermuthen ' und bei 
der Behörde auf Untersuchung zu dringen! Diese Fähigkeit wird 



Hygienische Seminarkurse. 


619 


er sich aber nur nach vorheriger im Seminar empfangener An¬ 
leitung zu eigen machen können. Verstand es der Vortragende, 
die Ursachen und das Wesen, den Verlauf und die Gefahren der 
gewöhnlichen Volkskrankheiten kurz und bündig, aber auch klar 
und deutlich darzulegen, so wird sein Wort sicherlich im Ohr des 
Hörers haften. 

Mit der blossen Kenntniss des Feindes ist es aber nicht ge- 
tlian, es muss auch gezeigt werden, wie er sich vermeiden oder 
möglichst unschädlich machen lässt durch Reinlichkeit, Wäsche¬ 
wechsel, Zufuhr frischer Luft, Vernichtung der Abgänge, Hand¬ 
habung des Desinfektionsverfahrens. Mit diesen Vor¬ 
beugungsmitteln muss der Lehrer um so nothwendiger vertraut 
sein, als derselbe ja häufig genug in die Lage kommt, sie in seiner 
eigenen Familie anzuwenden, und gleichzeitig dafür Sorge zu tragen, 
dass sein Haus nicht zum Ausgangspunkt einer verheerenden 
Seuche werde. 

Selbstverständlich wird bei diesem. Unterricht nicht von 
pathologisch - anatomischen Belehrungen, von chemischen oder 
mikroskopischen Untersuchungen die Rede sein dürfen, noch viel 
weniger von Behandlungsmethoden oder Heilmitteln. — Der Unter¬ 
richt bezweckt ja nicht, den künftigen Lehrer zum Bazillenfänger 
oder Heilkünstler abzurichten, sondern vor Allem ihm die Fähig¬ 
keit zur Kenntniss der charakteristischen Merkmale beizubringen, 
unter denen die landläufigen ansteckenden Volkskrankheiten sich 
darstellen, nämlich: Cholera, Blattern, Scharlach, Masern, Typhus, 
Diphtherie, Kroup, Genickstarre, Trachom, Krätze. 

An die Urheberin der letztgenannten schliesst sich die Be¬ 
trachtung der anderen Schmarotzer, besonders der Trichine 
und des Bandwurms, welche mit Rücksicht auf ihre Gemein¬ 
schädlichkeit doch noch gründlicher und ausführlicher, als es im 
Klassenunterricht möglich war, behandelt werden müssen. Einer 
eingehenden Wiederholung bedürfen auch die wichtigsten chemischen, 
pflanzlichen uni thierischen Gifte (Hundswuth und Schlangengift) 
mit Angabe der in dringenden Fällen geeigneten Hausmitel. 

Die Hülfsleistungen des Lehrers bei plötzlichen Unglücks¬ 
fällen möchte ich nur auf die mit unmittelbarer Lebensgefahr ver¬ 
bundenen beschränken, nicht aber auf die übrigen in’s Samariter¬ 
fach einschlagenden ausdehnen. Die Herren haben, wie man sagt, 
ohnedies zuweilen Neigung den Aerzten in’s Handwerk zu pfuschen 
und es scheint nicht räthlich, sie auf diesen Boden noch weiter 
zu verlocken. — 

Ein höchst ergiebiges Feld zur Ausübung der Gesundheits¬ 
pflege findet der Lehrer in den ihm theils als Wohnung, theils zur 
Wahrnehmung seines Berufs überwiesenen Räumen. Bis die Zeit 
des Schularztes kommt, wird muthmasslich nicht nur „mancher 
Tropfen“, sondern auch mancher „Hektoliter“ Wasser in denOcean 
fliessen. So lange muss in vielen Dingen der Lehrer für ihn ein- 
treten; er findet in seinem Bereich dankbare Aufgaben die Fülle. 
Für diese muss sein Auge geschärft werden. Wie häufig, nament¬ 
lich auf dem Lande, die Schulzimmer und Lehrerwohnungen den 



620 


Aus Versammlungen und Vereinen. 


hygienischen Anforderungen in’s Gesicht schlagen, wie oft in den 
zugigen, nasskalten Räumen chronischer Muskel- und Gelenk¬ 
rheumatismus, Kopfschmerz, Bleichsucht und Brustleiden iliren 
Ursprung haben, weiss jeder Kollege aus eigener Erfahrung. 

Wie kläglich es auf dem Laude um die Wasserentnalime- 
stellen und Abortanlagen meistentheils bestellt ist, wie oft man 
daselbst beide in bedenklichster Nachbarschaft zu einander findet, 
ist ebenfalls männiglich bekannt. Der Lehrer, - der über die 
schweren Nachtheile verunreinigten Trinkwassers unterrichtet ist, 
wird auch für Beseitigung unerträglicher Uebelstände in seiner 
Sphäre zu wirken wissen. — 

Ueber den wichtigsten Abschnitt des Kursus, enthaltend die 
Grundlehren der speziellen Schulhygiene mit ihrem reichen, haupt¬ 
sächlich dem Schutz des Auges und der Lungen dienenden Stoff: 
Schulbänke und Tische, Lufterneuerung, natürliche und künstliche 
Beleuchtung, Heizung, (Ofenklappe und Kohlendunst), Vermeidung 
der Staubschädigungen u. s. w., kann ich mich in dem engen 
Rahmen dieses Aufsatzes nicht weitläufig auslassen. 

Sache des Lehrers — dass dieser nur ein Arzt, sei es der 
der Anstalt, sei es ein Medizinalbeamter, seien kann, ist selbstver¬ 
ständlich — wird es sein, das gesammte Material in etwa 15 Vor¬ 
tragsstunden zu bewältigen. Damit die erworbenen Kenntnisse 
sich nicht zu schnell verflüchtigen, sondern im Gegentheil als 
dauernder Besitz mit in’s Leben hinübergenommen werden, dürften 
zur Theilnahme an dem Kursus nur die im letzten Halbjahr vor 
dem Examen stehende Jünglinge heranzuziehen sein. Selbst bei 
überhäufter Beschäftigung wird sich für einen so wichtigen Zweck 
noch ein Stündchen in der Woche ausfindig machen lassen. 


Aus Versammlungen und Vereinen. 

Bericht über die am 10. Oktober diese« Jahres 
in Offenbar^ stattgehabte Versammlung des Badischen 
staatsärztlichen Vereins. 

Die Versammlung war recht zahlreich besucht, die Präsenzliste ergab 
34 anwesende Vereiusmitgliedcr. 

1. Der erste Vortrag des Herrn Geheimrath Dr. B&ttlekner be¬ 
handelte den 

Entwurf einer neuen Dienstanweisung für die Hebammen, 

wie solche hauptsächlich durch den heutigen Stand der wissenschaftlichen Kennt¬ 
nisse und praktischen Erfahrungen über das Wesen des Puerperalfiebers und die 
dadurch bedingte Nothwendigkeit bestimmter Vorschriften für die Hebammen 
als dringendes Bedürfnis sich geltend gemacht hat. Die Aeuderungen der alten 
Dienstanweisung beziehen sich daher grosseuthcils auch auf die von den Heb¬ 
ammen zu beobachtende Asepsis und stellen bestimmte Regel» und Vorschriften 
auf, nach welchen die Hebammen sich zu richten haben. Der neuen Dieust- 
weisung soll in einer Anlage eine belehrende Abhandlung über das Kindbett¬ 
fieber und die zur Verhütung desselben nüthigen Verhaltungsmassregeln bei¬ 
gegeben werden. 

Diesem Vortrage folgte eine sehr lebhafte Diskussion, wobei mancherlei 
Bedenken und Wünsche geüussert wurden. Von verschiedener Seite wurde die 
Frage angeregt, ob die Karbolsäure nicht durch andere weniger giftige Des- 
infizieutien (Lysol, Kreolin etc.) ersetzt werden könnte. Es wurden Wünsche 


Aus Versammlungen und Vereinen. 


621 


für materielle Besserstellung der Hebammen, Aenderung des Wahlmodus der 
Hebammen, Beseitigung des Bezirksraths bei Absetzung einer Hebamme aus¬ 
gesprochen. Im Allgemeinen wurde aber das Bedürfniss einer neuen Dienst¬ 
weisung anerkannt und den bevorstehenden Aenderungen zugestimmt. 

2. In einem zweiten Vortrage 

über das gerichtsärztliche Gutachten 
wies Herr Geheimrath Dr. Battlehner auf die Irrthttmer und Formfehler 
hin, welche noch mehrfach bei Abgabe von gerichtsärztlichen Gutachten Vor¬ 
kommen. Insbesondere in Betreff des vorläufigen Gutachtens sei zu beachten, 
dass ein vorläufiges Gutachten nur auf Verlangen der requirirenden Behörde ab¬ 
zugeben sei und in dem Protokoll ausdrücklich angegeben werden müsse, dass 
und von welcher Behörde das vorläufige Gutachten verlangt sei, dem vorläufigen 
Gutachten müsse jedoch immer ein Gutachten (Endgutachten) folgen; es sei 
aber, wenn möglich, durchaus statthaft, dass nach einer Leichenöffnung ein 
Gutachten sofort abgegeben werde. Der Anwesenheit des Bezirksarztes bei 
einer Leichenöffnung, wenn er zugleich behandelnder Arzt gewesen sei, stehe 
Nichts entgegen; nur dürfe er bei deiselben nicht mitwirken, weder als sezirender, 
noch als protokollireuder Arzt; nach der Leichenöffnung trete jedoch der ordent¬ 
liche Bezirksarzt wieder in seine Rechte als begutachtender Gerichtsarzt ein. 

3. Der Vortrag des Medizinalrath Dr. R e i c h - Freiburg 

über forense Begutachtung von Bewusstlosigkeitszuständen 
behandelte hauptsächlich jene Form von transitorischer Geistesstörung, welche 
als pathologischer Rauschzustand bezeichnet wird, wies auf die Schwierigkeiten 
der gerichtsärztlichen Beurtheilung hin und gab genau die Kriterien an, welche 
einen gewöhnlichen Berauschungszustand von dem pathologischen Rausche unter¬ 
scheiden. Zum Schluss wurde das Vorgetragene durch Erzählung eines selbst 
beobachteten Falles illustrirt. — 

Nach der dreistündigen Sitzung vereinigte die Mitglieder ein gemein¬ 
schaftliches Essen zu heiterem kollegialischem Zusammensein. 

(Aerztliche Mittheilungen aus und für Baden Nr. 20; 1893.) 


Bericht über die Herbatvergammlimg des Vereins der 
Aerzte Hohenzollerns. 

Die diesjährige Herbst-Versammlung des Vereins der Aerzte Hohenzollerns 
fand am 28. Oktober d. J. im „Museum“ zu Hechingen statt. Es waren Mit¬ 
glieder aus Sigmarinuen, Hechingen und Haigerloch anwesend; die Betheiligung 
war keine starke, umfasste jedoch mehr als den vierten Theil der gegenwärtig 
22 betragenden Mitgliederzahl. 

Die Sitzung wurde gegen 1 Uhr durch den Vorsitzenden, Reg.- und Med.- 
Rath Dr. Schmidt aus Sigmaringen eröffnet und zwar, da der Vortrag des 
Oberamts - Phvsikus Dr. E i ck h o f f wegen vorübergehender Abberufung desselben 
ausfiel, mit dem zweiten Gegenstand der Tagesordnung: 

lieber Medizinal -Gesetzgebung in Hohenzollern. 

Der Vortragende gab einen Ueberblick über alle diejenigen wichtigeren Medi¬ 
zinal - Gesetze und Verordnungen, deren Kenntnis» für die in Hohenzollern prak- 
tizirenden Aerzte von Wichtigkeit sind. Diese stammen ztim grössten Theil aus 
der Zeit der Fürstl. Verwaltung der den Reg.-Bezirk Sigmaringen bildenden ehe¬ 
maligen Fürstenthünter Hohenzollern-Sigmaringen und Hohenzollern-Hechingen, 
zuin kleineren Theil aus der Zeit nach erfolgtem Uebergang des Landes in die 
Künigl. Preussische Verwaltung. 

a) Die Impfung aller Kinder im Verlaufe des ersten Lebensjahres mit 
eventueller ein- bis zweimaliger Wiederholung in Zwischenräumen von drei Mo¬ 
naten ist in Hohenzollern schon lange Zeit vor Erlass des Reichs - Impfgesetzes 
von 1874 eine obligatorische gewesen (in Hohenzollern-Sigmaringen durch Fürst¬ 
liche Verordnung vom 31. Mai 18 2 6, in Hohenzollern - Hechingen durch Reg.- 
Verordnung vom 27. Januar 18 29); ferner führte die Sigmaringer Reg.-Verord- 
nung vom 29. Dezember 1834 obligatorisch die Revaccina tion aller Rekruten, 
bedingungsweise auch diejenige der anzustellenden Landjäger ein. Als Impf¬ 
ärzte lüngirten die Arntsphysiker und unter ihrer Aufsicht die praktizirenden 
Aerzte und befugten Chirurgen. 

Aus dem zur Ausführung des Reichs-Impfgesetzes vom 8. April 1874 für 



«22 


Aus Versammlungen und Vereinen. 


die hobenzollernschen Lande erlassenen Regulativ vom 30. März 1374 und der 
dasselbe abändernden Reg.-Verfügung vom 5. Mai 1875 ist hervorzuheben, dass 
der Amtsausschuss die Impfärzte gemäss $. 43 der Amts- und Landesordnung 
anstellt, sowie dass, gemäss §. 4 die Impfärzte u. A. den zuständigen Rehorden 
über Impfangelegenheiten unentgeltlich Auskunft zu geben haben. Demnach sind 
sie auch verpflichtet, die durch Reg.-Präs.-Verfügung vom 27.April 1S92 1 ) 
ein geforderten, alljährlich vor Beginn dee Impfgeschafr.es durch die Oberamt- 
männer dem Regierungspräsidenten — behufs amtlicher Beaufsichtigung der 
öffentlichen Impfungen — einzureichenden I m pf- Ter in ins-U ebersich teil zu 
erstatten. 

b) Für die Bekämpfung ansteckender Krankheiten sind zwei 
Verordnungen und eine Zusatz-Verordnung, bctr. choleraverdächtige Erkrankungen 
und Todesfälle massgebend, ferner die Dienst-Instruktion der Physiker. 

Nach der Verordnung Fürstlicher Gcheimm Konferenz, die Staat.sfiirsurge- 
bei ansteckenden Krankheiten betreffend, vom 5. Dezember 1836 ist eine Anzeige 
an den „Ortsvorsteher“ zu erstatten: 

a. bei jedem Fall von Erkrankung an 1. Wuthkrankheit, 2. Milzbrand, 
3. Rotz- oder Wurmkrankheit, 4. Cholera, 5 Pocken, 6. Nervenfieber ( Typhus); 
ß. bei jedem Fall von Erkrankung au 7. Ruhr, 8. Masern, 9. Scharlach, 
10. Rötheln. 

Bei Pocken, Milzbrand, Rotz soll die Anzeige sogleich auch an die Phy¬ 
siker erfolgen; ferner an das Amt 
Y- bedingungsweise 11. bei Syphilis und 12. bei Krätze. 

Wenn schon die Einleitung der unmittelbaren Staatsfürsorge für die Be¬ 
handlung der Kranken mit Uebernahme von zwei Drittheilen der Kurkosten etc. 
auf die Landeskasse (§. 33 a. a. 0.) jetzt kaum mehr ciutrirt, ebensowenig wie 
die Anwendung der im Abschnitt VT. und XII daselbst, in den 100—125 ge¬ 
gebenen, meist veralteten Anweisung zur „Zerstörung der Ansteckungsstoffe- 
und des „Verfahrens beim Reinigen“, — so ist genannte Fürstliche. Verordnung 
doch im Wesentlichen noch in Geltung. Sie wurde theils erweitert, theils ah- 
geschwächt durch die „Polizei-Verordnung, betreffend die Anzeigepfiicht bei 
ansteckenden Krankheiten vom 20. Dezember ISSl“, erweitert, durch die Aus¬ 
dehnung der Anmeldungsprticht auf Erkrankungen an Flecktyphus (unbedingt), 
Diphtherie und Keuchhusten (bedingt), — abgesehwärht dadurch, dass die Aus¬ 
übung der Anzeigepflicht wie bei Diphtherie und Keuchhusten, nunmehr auch 
bei Ruhr, Scharlach, Masern nur bei Bösartigkeit oder epidemischer Ausbreitung 
verlangt wird. Ausserdem wird den Aerzten durch dieselbe Polizei-Verordnung 
ausser der regelmässigen Meldung an die Ortspolizeihehürde die Anzeige aller 
meldepflichtigeu Krankheiten längstens innerhalb 8 Tagen an den betreffenden 
Oberamtsphysikus aulerlegt. 

Durch Zusatz-Poljzeiverordmmg vom 3 August 1802 wurde die. Anzeige¬ 
pflicht bei Cholera-Erkrankungen auch auf alle choleraverdächtigen Erkran- 
kungs- und Todesfälle ausgedehnt und die sofortige Anzeige ausser an 
die Polizei gleichzeitig an die Oberamts - Physiker vorgeschrieben. 

Unter diesen nur kurz skizzirten Umständen ist die Sachlage eine sehr 
verwickelte und die gleichmässige Erfüllung der Anzeige. -Vorschriften für die 
Aerzte u. A. erheblich erschwert. Eine Abhülfe ist in Rücksicht auf den Erlass 
des Reichs-Seuchengesetzes bisher unterblieben. 

c) Eigenartig ist ferner die D i c n s t -1 n s t r u k t i o n für die Physiker 
des Reg.-Bezirks Sigmaringeii vom 2. Nov. 1869, insofern sie diesen das Recht 
giebt, aus eigenem Entschluss und mit eigener Verantwortlichkeit die zur 
Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens dienlichen Massregeln durch ent¬ 
sprechende Anträge bei den zuständigen Polizeibehörden herheizufiihren. Nach 
§. 3, c derselben hat die sanitätspolizeiliche Thätigkeit des Physikus sich noch 
in Besonderem auf die Angabe von Sicherung*- und Verbaltumrsm assregeln bei 
Ausbruch epidemischer und ansteckender Krankheiten zu erstrecken. Ihr Ver¬ 
halten regelt sich hierbei nach der obigeu Fiirstl. Verordnung vom 5. Dezember 
1836, soweit sie aber, wie z. B. betreffs der Desinfcktkmsmassregeln, veraltet 
ist, zur Zeit nach keinen bestimmten Normen, sondern — von den bei Cholera 
gegebenen Vorschriften neueren Datums «abgesehen — nach ihrem pliiehtmässigen, 
auf den Stand der Desinfektionslehre basirteu Ermessen. 


*) S. Beilage zur Zeitschr. f. Med.-Beamte Nr. 12, 1892, S. 78. 



Aus Versammlungen und Vereinen. 


628 


d) Hohenzollern - Sigmaringen besitzt ferner eine durch Ailerh. Verordnung 
vom 21. Juli 1852 auch für (len Bezirk Hechingen gültig erklärte Allgemeine 
Apotheker-Ordnung vom 4. Mai 1885 Nach §. 9 kann einem Arzte oder 
Wundärzte die Anlegung einer Hausapotheke und das Dispeusiren der Arznei¬ 
mittel unter gewissen Bedingungen, zu denen der Nachweis der zum Selhstdis- 
pensiren nöthigen Kenntnisse in einer Prüfung gehört, gestattet werden. Uebcr- 
tretung der Vorschriften der Apothekerordnung haben „Verweis oder Geldstrafe 
von fünf bis einhundert. Gulden zur Polge, hei schweren Verschulden bleibt Vor¬ 
behalten, den Apotheker für unfähig zur Ausübung seiner Kunst zu erklären“ 
(s. auch §. 58 der Gewerbeordnung). 

e) Eine M edi zinal-Tax -Ordnun g vom 1. Juli 1828, nur für das Für- 
stenthum Sigmaringen geltend, findet kaum noch Anwendung, sie ist schlechter 
als die Preussi^che Taxe vom 21. Juni 1815, welche bei Festsetzung ärztlicher 
Liquidationen in der Kegel hier als Grundlage dient. 

f) Ferner besitzt Hoheuzollern seit mehr als fünfzig Jahren die obli¬ 
gatorische Leichenschau. Näheres enthalten die Sigraaringer Verordnung 
vom 20. Januar 1888 und die mit dieser zumeist gleich lautende Hechinger 
Verordnung vom 11. April 1848. Es werden als Leichenschauer in allen Gemeinden 
des Regierungsbezirks in erster Reihe die Oberamts - Physiker, in Hechiugen der 
„Landeswuudarzt“, alsdann Aerzte, Wundärzte I. und II. Klasse, in letzter Reihe 
unbescholtene, amtlich vorgeprüfte Laien verwendet. Trotz verschiedener Mängel 
der Leichenschauordnung ist ihre Zweckmässigkeit nicht zu verkennen. 

g) Als nur für das Fürstenthum Hoheuzollern - Sigmaringen gültig, 
aber durch Gewohnheitsrecht auch im Bezirk Hechingen geübt, ist ferner zu er¬ 
wähnen die Verordnung Fürst!. Geh.-Konferenz vom 11. März 1836, die Ver¬ 
legung und Einrichtung der Friedhöfe betreffend; sie ist im §. 8 bezüglich 
der Familien-Begräbnisse durch Ailerh. Kab.-Ordre vom 24. Febr. 1875 abgeändert. 

Die in den altländischen Provinzen bestehende Vorschrift (Min.-Erlass vom 
26. Novbr. 1848), wonach Veränderungen vor Ablauf von 40 Jahren nach erfolgter 
Schliessung des ßegrähnissplatzes unstatthaft sind, gilt für Hohenzollern nicht; 
nach §. 12 a. a. 0. dürfen solche (z. B. Ebnen, Bepflanzen etc.) ohne Um¬ 
grabungen schon nach 5 Jahren vorgenoramen werden; im Uebrigen bleibt 
nach Anlegung eines neuen Friedhofes der alte noch auf 15—20 Jahre ge¬ 
schlossen. — Die Mehrzahl der vorhandenen 102 Kirchhöfe gehört den politi¬ 
schen Gemeinden. Die Beerdigung evangelischer Glaubensgenossen ist 
durch die Erektious-Urkunde für die beiden evaugelischen Pfarrsysteme Sigma¬ 
ringen und Hechingen vom 5. Juli 1861 geregelt. 

h) Ferner wurde vom Vortragenden darauf hingewiesen, dass im vorigen 
Jahre die Nothwendigkeit einer Polizei-Verordnung d. d. 13. Juni über die 
öffentliche A n kündigung von Heil-, Geheim - und Schwindelmit¬ 
teln in der Presse und anderweitig hervorgetreten ist. Durch dieselbe 
wurde bewirkt, dass das vorher sehr verbreitete Anpreisen von Geheimmitteln 
etc. seitens gewisser Kaufleute und besonders auch der benachbarten Württem- 
bergischen Apotheker in den hohenzollernschen Lokalblättern fast gänzlich 
verschwunden ist. 

Mit einer Bemerkung, welche die Nothwendigkeit der Kenntniss der Me¬ 
dizinalgesetze auch für den praktizirenden Arzt hervorhob und mit einer Auf¬ 
forderung, die Landesverwaltung in der Handhabung derselben möglichst zu 
unterstützen, schloss der Vorsitzende seine durch die knapp bemessene Zeit 
wesentlich gekürzten Darlegungen. 

Hieran knüpfte sich eine von Dr. S t a u s s angeregte Erörterung über die 
Erstattung der Impf-Termins-Uebersichten. 

Statt des auf der Tagesordnung stehenden dritten Vortrages über 
„eine selteneForm von Peritouitis“ hielt Dr. Woe r n e r - Hechingen einen sehr 
ausführlichen, durch zahlreiche Tabellen erläuterten Vortrag über 

eine unter den Mannschaften der Garnison der Burg Hohenzollern 
beobachtete isolirte Epidemie von Influenza. 

Es wurden in der Zeit vom 28. Dezember 1892 bis zum 16. Januar 1893 
68°/ 0 der Ist-Stärke befallen; der Krankheitsverlauf war ein sehr schwerer, 
ein Mann starb nach vorausgegangenen heftigen Blutungen der Nase bald 
nach seiner, in vorsichtigster Weise erfolgten Ueberftihrung von der Burg in’s 
Spital der influenzafreien Stadt Hechingen. Die Erkrankungen erfolgten in 



624 


Kleinere Hittheilongen und Referate aus Zeitschriften. 


der Regel plötzlich mit Frieren oder Schüttelfrost; die Erscheinungen waren 
vorwiegend gastro-intestinaler Natur, die Komplikationen sehr zahlreich 
und schwer, so dass im Anfang der Epidemie an Typhus gedacht, auch die 
Möglichkeit einer Fleischkonserven-Vergiftung erwogen wurde. Der Vortragende 
begründete die Diagnose Influenza typhosa in ausführlicher Weise. Eine ein¬ 
gehende Beschreibung der interessanten Epidemie wird an anderer Stelle erfolgen. 

In der sich anschliessenden Diskussion hob Reg.-u. Med.-Rath Dr. Schmidt 
hervor, dass er Gelegenheit gehabt habe, im Januar d. J. von Amtswegen die 
Civilbevölkerung der Burg zu untersuchen und dass seine durch den Assistenz¬ 
arzt der Garnison unterstützten Feststellungen, wie die Untersuchung der im 
Spital zu Hechingen untergebrachten Soldaten ihn schon damals zu der Üeberzeu- 
gung geführt hatten, dass es sich nicht um Typhus oder Nahrungsmittel-Ver¬ 
giftung, sondern um eine Influenza gravior praecipue gastrica gehandelt habe. 

Hierauf wurde durch Abstimmung beschlossen, den Kollegen für die Wahl 
zur Aerztekammer der Rheinprovinz und der hohenzollern’schen Lande als 
Mitglied den Reg.- u. Med.-Rath Dr. Schmidt, als Stellvertreter den Oberarzt 
am Spital zu Hechingen Dr. Woerner in Vorschlag zu bringen. 

An die gegen s / 4 4 Uhr beendete Sitzung schloss sich ein gemeinschaft¬ 
liches Essen, an welchen den Aerzten aus Sigmaringen wegen Abgang des 
Zages nur kurze Zeit theilzunehmen verstattet war. S. 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

A. Gerichtliche Medizin. 

Ueber Kehlkopffraktnren. Von Dr. Max Sch eie r in Berlin. Deutsche 
medizinische Wochenschrift, Nr. 33, 1893. 

An der Hand eines im Berliner städtischen Krankenhause am Urban be¬ 
obachteten Falles von Kehlkopffraktur hat Verfasser eine Zusammenstellung der 
diesbezüglichen Literatur neben den Resultat en von Leichen versuchen geliefert, 
die nicht zum wenigsten das Interesse des Gerichtsarztes in Anspruch nehmen 
dürften. Die Brüche gehören zu den seltensten, gleichzeitig aber auch zu den 
gefährlichsten; abgesehen von den zahlreichen Beobachtungen an Erhängten 
konnte Verfasser im Ganzen 95 genau beobachtete Kehlkopfbrüche zusammen¬ 
stellen. Als Ursache von 43 durch Gurlt zusammengestellten Frakturen war 
angegeben: Würgen des Halses (14), Henken (2), Zusaminenpressen des Halses 
[z. B. durch Wagenrad, Eisenbahnpuffer] (3), Auffallen des Halses auf einen 
harten Gegenstand (8), Stoss, Schlag. Wurf gegen den Hals (8), Schiesspulver¬ 
explosion (1), Erhängen (4), unbekannt (3). Schussverletzungen führen änsserst selten 
zu Frakturen; öfters ist Hufschlag als Ursache aufgeführt. Endlich können Frak¬ 
turen durch indirekte Gewalt entstehen: durch Sturz auf den Kopf, indem im 
Moment der Gewalteinwirkung eine plötzliche Beugung des Kopfes nach vorn 
stattfindet, das Kinn heftig gegen den oberen Theil des Brustbeins angedrängt, 
und dadurch der Kehlkopf zusammengedrückt wird. 

Die experimentellen Untersuchungen wurden von Verfasser an verschieden 
alten Leichen (19 bis 81 Jahre alt) und ohne bestimmte Auswahl ansgeführt: 

1) Zehn Versuche: Erwürgung mit der Hand derart, dass der Daumen 
der rechten Hand auf die eine Seite, die vier übrigen Finger anf die andere Seite 
des Kehlkopfes gelegt wurden. In 5 Fällen Bruch des Zungenbeins, davon das 
grosse Horn gewöhnlich in der Mitte; 6 Frakturen des Schildknorpels, gewöhn¬ 
lich in der Mittellinie oder 3—5 mm neben derselben, geringe Dislokation ; 
das obere Horn des Schildknorpels war in 6 Fällen gebrochen; der Ringknorpel 
war 7 mal gebrochen, meist eine Fissur vorn in der Mitte. Die Schleimhaut 
des Kehlkopfes war niemals verletzt, zuweilen fand sich eine Zerreissung des 
Ligamentum conicum. 

2) Sechs Versuche: Schlag mit der geballten Faust auf den 
Kehlkopf. Nur in einem Falle Verletzung des Zungenbeins. Da der Schlag 
mehr den vorspringenden Theil des Halses, das Pomum Adami, traf, so war der 
Schildknorpel in sämmtlichen Fällen mit Ausnahme eines einzigen Falles ge¬ 
brochen; doch verlief der Bruch am Schildknorpel nicht so geradlinig wie bei 
der ersten Serie, theils in der Mitte, theils zur Seite, zuweilen in der Form 
eines nicht stark gekrümmten lateinischen S. Der Ringknorpel war nur einmal 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


626 


unversehrt; dreimal sass der Yertikalbruch im vorderen Ringtheil zu beiden Seiten 
von der Mittellinie je ca. V* cm entfernt, ganz symmetrisch, so dass das Mittel¬ 
stück herausgebrochen und nach innen gesunken war. 

Es gestalten sich demnach die Brüche der Knorpel in beiden Gruppen ganz 
verschieden, so dass man in einzelnen Fällen aus dem anatomischen Befunde 
einen Schluss auf die betreffende Gewalteinwirkung zu ziehen im Stande sein 
wird. Stimmbandverletzungen sind ebensowenig beobachtet worden wie Fraktur 
oder Luxation des Aryknorpels. 

Aus dem Umstande, dass schon ein mittlerer Druck, ein nicht zu starkes Hin¬ 
fassen genügte, um ein Krachen am Kehlkopfe hervorzubringen, schliesst Ver¬ 
fasser, dass es daher sehr wohl möglich sei, dass bei einer unvorsichtigen Be¬ 
handlung der Leiche, heim Transport der Leiche u. s. w. Brüche der Kehlkopf¬ 
knorpel u. s. w. entstehen können. Schon geringe Verkalkung oder Verknöcherung 
begünstigt die Neigung zur Fraktur. Das Lebensalter ist für die Brüchigkeit 
der Kehlkopfsknorpel durchaus nicht bestimmend; nach Patenko ist eine 
Regelmässigkeit in der Ausbreitung der Verknöcherung im Zusammenhang ihres 
Entwickelungsgrades mit einem bestimmten Lebensalter nicht vorhanden. 

Im Allgemeinen ist die Verletzung eine schwere, lebensgefährliche; etwa 80 °/ 0 
endeten tüdtlich. Der Tod kann eintreten durch Erstickung unmittelbar nach dem 
Unfälle, im weiteren Verlaufe durch ödemaröse Schwellung der Kehlkopfschleim¬ 
haut, durch subperichondrale und submuköse Blutergiessungen, Glottiskrampf, 
durch Obstruktion der Luftwege in Folge nachträglicher Verschiebung der Frag¬ 
mente. Dr. Israel-Medenau (Ostpr.). 


Wieviel Morphin darf ein Arzt einem Kranken ata Einzeldosis 
verordnen? Ein gerichtliches Gutachten. Von Dr. Lew in. Sonderabdruck 
aus der Berl. klin. Wochenschr.; 1893, Nr. 41. 

Ein Arzt hatte einer an Krebs leidenden Patientin folgende Medizin ver¬ 
schrieben: 

Rp. Morphini mnriat. 0,2 
Aqua destillat. 10,0 

M. D. S. Abends vor dem Schlafengehen 20—30 Tropfen zu nehmen. 

Die Kranke hatte am Abend des 22. Januar 20—22 Tropfen davon er¬ 
halten und war am 26. Januar, nachdem sie noch am 25. Januar ihren Arzt 
erkannt und ihren Namen genannt hatte, gestorben. 

Die Sektion ergab: Verdickung der zwei- und dreizipfligen Klappe, De¬ 
generation des Herzmuskels, allgemeine Herzerweiterung, kolossaler Krebstumor 
im Unterlcibe, der mit vielen Organen untrennbar verwachsen war. Die che¬ 
mische Untersuchung auf Morphin fiel negativ aus. 

Die Gerichtsärzte hatten ihr Gutachten dahin abgegeben: 

„Die»Vergiftung hat den Tod, der allerdings durch das kolossale Krebs¬ 
leiden der Verstorbenen ohnehin in kürzester Frist herbeigeftthrt sein würde, be¬ 
schleunigt. 

Das L«*l><m der Schwerkranken war nur unter Anwendung stärkender 
Mittel, sowohl durch Pflege, wie durch Medication voraussichtlich noch einige 
Zeit zu erhalten — durch ein narkotisches Mittel, welches lähmend auf Gehirn- 
thätigkeit, Athmung, Urinsekretion wirkte, musste der Tod beschleunigt werden. 

Ein grosser Mangel an Vorsicht und eine beträchtliche Fahrlässigkeit 
würden dem augeklagten Arzte auch in dem Falle vorgeworfen werden müsden, 
wenn der Tod nicht erfolgt wäre.“ 

Lewin nennt diese Ausdrücke hart und unbegründet und kommt zudem 
Gutachten : 

„Die bei der Verstorbenen beobachteten Symptome sind theilweise Mor¬ 
phinwirkungen. Der Tod ist nicht allein eine Folge dieser Morphinwirkung ge¬ 
wesen. Er ist als das Ergebniss eines schweren Krebsleidens, eines bestehenden 
Herzleidens und einer besonderen Einwirkung, hier Morphin, anzusehen. Alle 
drei Faktoren haben in realer Konkurrenz sich an dem Ausgange betheiligt. 

Aber selbst wenn weder ein Krebs- noch ein Herzleiden bestanden hätte, 
und nur das Morphin als Ursache übrig bliebe, könnte niemals ein Kunstfehler 
des Arztes konstruirt werden, sobald die maximale Dosis des Arzneibuches nicht 
überschritten wurde. Innerhalb der zulässigen Grenzen bewegte sich aber iü 
diesem Falle die verabfolgte Menge des Morphin/ 



626 


Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


Referent tritt dem Gutachten Lewin’s nicht bei, kann aber auch die 
Begründung des Gutachtens der Gerichtsärztc nicht vertreten. 

Der Arzt hatte unbedacht bezw. fahrlässig gehandelt, nicht dadurch, das? 
er der Kranken ein Schlafmittel, welches Morphin enthielt, verordnet«, M>ndem 
dadurch, dass er eine so grosse Menge verordnet«, ohne dazu irgendweicii^n 
Grund zu haben. Wenigstens ist aus dem von Lewin Mitgetheilten nicht er¬ 
sichtlich, warum der Arzt die gewöhnliche Starke des Schlafmittels, 1 tVntigramm 
Morphin um das Doppelte resp. Dreifache überschritt. Er hätte sich sag ra 
müssen, dass eine solche Gabe lebensgefährlich werden konnte, da die Patientin 
nicht an Morphin gewöhnt war. Denn nur solchen Personen darf der Arzt die 
Maximaldose und das Vielfache der Maxi maldosen verordnen. Der Arzt ist in 
seiner Verordnung nicht an die Dosen des deutschen Arzneibuches gebunden. 
Täglich werden diese Dosen ja mit Recht bei Morphiophagen um das lü- und 
20täche überschritten. Der Arzt hat aber die Pfluln, »tun Handeln event. zu 
begründen, wenn er das gewöhnliche Muss eines giftigen Mittels überschreitet. 
Im vorliegenden Falle war der Arzt nicht im Staude, die Verordnung einer so 
grossen Gabe zu entschuldigen, vielmehr hätte ihn der Zustand der Patientin 
und der Umstand, dass sie bisher oder wenigstens in der letzten Zeit kein Mor¬ 
phin erhalten hatte, doppelt vorsichtig in der Wahl der Dosis machen sollen. 

Dass er unvorsichtiger und unnüthiger Weise eine so grosse, eine unter 
Umständen tödtliche Gabe verordnet hatte, das ist ihm meines Erachtens als 
Fahrlässigkeit anzurechnen. Dr. M i 11 e n z w e i g. 


Ueber Irrthum und Irresein. Rede, gehalten zur Feier des Stiftungs¬ 
tages der militärärztliehen Bildungsaustalten am 2. August 1893 von Prof. Dr. 
F. Jolly. Berlin 1893. Verlag von Aug. Hirse hwald. 

Diese im Druck erschienene Rode Jolly’s verdient gerade in der Jetzt¬ 
zeit die Beachtung weiterer Kreise, weil sie in eingehender und doch leicht ver¬ 
ständlicher Weise ein Thema bespricht, welches dem Arzte und dem gebildeten 
Laien durch die Kämpfe über das lrrenweseu nahe gelegt ist. 

Der Verfasser setzt den Unterschied auseinander, der zwischen Irrthmn 
und Irrsinn, zwischen dem physiologischen und dem pathologischen Irrthum be¬ 
steht und kommt zu dem Schlüsse, dass die Psychiatrie über hinreichende Kri¬ 
terien verfügt, um beide von einander zu unterscheiden. Allerdings dürften wir 
uns nicht darauf beschränken, den Inhalt des Irrthums zu untersuchen; denn 
dieser biete in vielen Fällen keine Handhabe zur Unterscheidung der gesunden 
oder krankhaften Natur der zu untersuchenden Vorstellung. Die wissenschaft¬ 
liche Untersuchung müsse sich vielmehr auf die Art der Entstehung des irr- 
thutns richten und auf das Verhältnis, in welches er zu amlereu psychischen 
Vorgängen tritt. Hierbei dürfen wir ferner nicht etwa auf die nächste äussere 
Veranlassung oder die nächstliegenden psychologischen Verkettungen uns stützen, 
wie es der Laie zu lieben pflegt, sondern wir müssen zurückgehen auf die Zu¬ 
stände des Gehirnes, durch welche ein Ueberwiegen oder ein Schwinden einzelner 
Glieder des psychologischen Vorganges bedingt wird. Nur insofern wir im 
Stande sind, im einzelnen Falle aus dem gcsaimutcn Ablauf der psychischen 
Vorgänge solche zu Gruude liegenden Störungen zu erschließen und in ihnen 
gesetzmässige, nach der psychiatrischen Erfahrung regelmässig in bestimmten 
Formen ablaufende Krankheitsbilder zu erkennen, wird uus auch die Beurtei¬ 
lung des einzelnen Irrthums gelingen. 

Jolly veranschaulicht diesen Gedanken, indem er die Entstehung irr¬ 
tümlicher Vorstellungen aus Sinnesdelirien, aus den Störungen des Gedächtnisses, 
aus den unvermittelt auftretenden Vorstellungen (den Primordialdelirieu Grie¬ 
sin ge r’s), und aus Zwangsvorstellungen darlegt und hierbei den Einfluss be¬ 
tont, welchen krankhafte Affektzustäude auf die Bildung von krankhaftem Irr¬ 
thum ausüben. Klärend wirkt Jolly hierbei namentlich durch den Vergleich, 
den er mit bekannten mehr harmlosen, psychischen Vorgängen anstellt, indem er 
so unmerklich den Leser von dem Bekannten und Alltäglichen in das unbekannte 
und wissenschaftliche Gebiet hinüberführt. 

Werfen wir, sagt er am Schluss, einen Rückblick auf die verschiedenen 
psychischen Vorgänge, welche dem physiologischen und dem pathologischen Irr¬ 
tum zu Grunde liegen, so sehen wir, dass iu allen Kategorien Uebergänge vor¬ 
handen sind, dass der pathologische Irrthum aber überall da zu 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


627 


Stande kommt, wo Reizerscheinungen in einzelnen Gebieten 
mit allgemeiner oder partiellerSckwäehe der höherenbewuss¬ 
ten Association einhergehen. Ders. 


B. Hygiene und öff eil tliches Sanitätswesen: 
lieber eine in Deutschland bestehende Lepraendemie. Von Dr. 
Pindikowski in Memel. Deutsche mediz. Wochenschrift; 1893, Nr. 40, S. 979. 

Seit einer Reihe von Jahren kommen in der Stadt und im Kreise 
Memel vereinzelte Falle von Erkrankungen an Lepra vor. Mit Hilfe der Ver- 
waltungsbehürlen konnte der Verfasser neun zur Zeit lebende Kranke sicher fest¬ 
stellen, denen sich vier in den letzten Jahren Verstorbene anreihen lassen. Die 
Falle kamen in der einheimischen litthauischen Bevölkerung vor, gehören sämint- 
lich der tuberösen Form an und betreffen sechs Männer und sieben Frauen im 
Alter von IG—70 Jahren. Sämmt liehe Fälle sind durch mikroskopische Unter¬ 
suchung excidirter Hautstiickchen siciiergestellt. Eine bestimmte Verbreitung 
innerhalb des Kreises besteht nicht; eine Einschleppung aus Russland ist mit 
Sicherheit auszuschiiessen, da auch nicht einer der Kranken jemals seinen Wohn¬ 
ort, ausserhalb des Kreises gehabt, auch sich nicht einmal vorübergehend in einer 
Lepragegend aufgehalten hat. Da mithin eine autochtone Entstehung an Ort 
und Stelle aimiiiehiuen ist, ist es für Verfasser ein dringendes Erforderniss, dass 
die Verwaltungsbehörden ihre Aufmerksamkeit der Lepraendemie zuwenden, um 
nicht eines Tages von einer Ausbreitung überrascht zu werden. Strengste Iso- 
lirung ist die einzige zweckmässige Massnahme. 

Dr. Israel-Medenau (Ostpr.). 


Die Desinfektionsanstalt kleiner Städte. Vortrag, gehalten in der 

XI.1L Versammlung ostpreussischer Aerzte zu Königsberg von Professor 
E. v. Es mar ch. (Separat-Abdruck aus dem „Gesundheits- Ingenieur“ 1893, 
Nr. 16.) 

v. Esmarch hält es für möglich, auch kleinere Städte zur Anlage einer 
stationären Desinfektionsanstalt zu bewegen. Er beschreibt einen geeigneten 
Dampfapparat — der grösseren Billigkeit und Sicherheit wegen ist einer mit 
einfach strömendem Dampfe gewählt — und ein zweckentsprechendes Gebäude. 
Die Kosten der Anlage veranschlagt er auf 5—8500 Mark. Dass Personal soll 
durch einen 2— 3wöchentlichen Kursus an einer grösseren Desinfektionsanstalt 
ausgebildet werden, und, da es wegen Mangels an dauernder Beschäftigung die 
Desinlektionen nur im Nebenamte ausfiihrcn kann, sollen die Anstalten mit vor¬ 
handenen Kranken- oder Armenhäusern oder auch Waschanstalten verbunden 
werden, deren Wärter resp. Heizer gelegentlich als Desinfektoren fungiren 
können. 

Die Ausführung der dem E.’schen Vorichlage zn Grunde liegende Ideen 
ist nach dem heutigen Stande unteres Wissens sicherlich eine NothWendigkeit; 
ob der Vorschlag selbst aber viele Folgen haben oder auch nur beachtet werden 
wird, ist zweifelhalt. Zuin Theil sind E.’s Voraussetzungen nicht zutreffend. 
Kleinere städtische Gemeinden mit Annen- oder Krankenhäusern, deren Per¬ 
sonal die Desinfektion nebenbei — von Zeiten epidemischen Auftretens einer 
Seuche ganz abgesehen — ausführen könnte, sind selten, und Waschanstalten 
müssten erst ad hoc errichtet werden. Zudem ist es doch zum mindesten un¬ 
wahrscheinlich, dass sich viele kleinere Gemeinden dazu verstehen werden, 5 bis 
85U0 Mark (und es dürfte, nach den Anforderungen, welche E. stellt, die S umm e 
sich w r ohl mehr der letzteren Zahl zuneigen), zu dem geforderten Zweck herzn- 
geben, so lange die Desinfektion nicht durch ein Gesetz (Seuchengesetz I!) für 
eine grössere Anzahl häutig vorkommender, übertragbarer Krankheiten obliga¬ 
torisch gemacht ist. Endlich aber muss Referent nach seinen Erfahrungen über¬ 
haupt die Ausnutzbarkeit der geforderten Anlagen in kleineren Städten bei dem 
jetzigen Stande unserer Meduinalorganisation bestreiten. Referent hat in seinem 
Wirkungskreise seit über Jahresfrist 8 transportable Dampfapparate — nebenbei 
gesagt kostet das Stück mit 1 Kubikmeter Desiufektionsraum und den Apparaten 
zur Wohnungsdesinfektiou nur etwa 5UÜ Mark —, er hat etwa 40 geprüfte 
Desinfektoren, und ihm steht eine Polizeiverordnung zur Seite, welche die Des¬ 
infektion nach einer Anzahl von Krankheiten anordnet. Und der Erfolg? In 
weiterer Entfernung von der Kreisstadt wird ab nnd zn gemeldet und desinfizirt ? 



628 Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 

je näher der Kreisstadt desto seltener, und in der Kreisstadt wird weder ge¬ 
meldet noch desinfizirt. Die Aerzte fürchten das Dazukommen des Medizinai- 
beamten, sie scheuen seinen Einblick in den Kreis ihrer Klientel und eventuell 
auch das dadurch bedingte leichtere Eindringen in denselben. Hic uaeret aqua. 
Man schaffe zuerst eine bindende Seuchengesetzgebung, man lasse den Medizinal- 
beamten aus dem Kreise der konkurrirenden Aerzte ausseheiden und Vorschläge, 
wie die des Professor v. Esmarch werden nicht unbeachtet und unberück¬ 
sichtigt bleiben. 1 ) Dr. Jacobson- Salzwedel. 


Die Milch in Neapel. Untersuchungen von Dr. Alf. Montefusco. 
Annali dell’ Istituto d’Igiene della R. Universita di Roma. Vol. III. 

Erst seit 1887 wurden in Neapel Milchanstalten eingerichtet, die iin Ver¬ 
hältnisse zu den städtischen Bedürfnissen an Zahl zu gering (nur 15) und wenig 
leistungsfähig sind. 

Der gewöhnliche Milchverkauf vollzieht sich in Neapel auf eine andere, 
ganz eigentümliche Weise. Die milchgebenden Thiere (Kühe, Ziegen und 
Eselinnen) werden fast alle zu bestimmten Tageszeiten (Morgens 6—9 Uhr. 
Abends eine Stunde vor Dunkelheit) durch die Strassen der Stadt umhergeführt. 
Sie tragen eine Schelle an dem Halse, durch welche die Familien von ihrem 
Eintreffen avisirt werden. Letztere schicken dann ihre Dienstboten hinab auf 
die Strasse, welche beim Melken behülflich sind und daraut die Milch in Em¬ 
pfang nehmen. Die Ziegen werden selbst über die Treppen hinauf bis in die 
Wohräume geführt, wo von ihnen die Milch gemolken wird vor den Augen der 
Familienangehörigen. Nur eine geringere Anzahl von Kühen wird nicht umher¬ 
geführt, sondern verbleibt in den Ställen; dorthin müssen sich die Milchkäufer 
begeben, wo sie zu jeder Tageszeit Irische Milch haben können Die Ziegen¬ 
milch ist nur Morgens und Abends zu haben, weil die Ziegen nach dem mor¬ 
gendlichen Rundgang auf’s Land geführt werden. 

Montefusco rechnet, dass täglich ca. 1000 Kühe, 3000 Ziegen und HX) 
Eselinnen zur Milchabgabe herumgetiihrt werden, denen ca. 110 hl Milch ent¬ 
nommen würden. Indess bringen es diese so primitiv-patriarchalischen Verhält¬ 
nisse wohl mit sich, dass der Milchkousum in N. ein so ausserordentlich ge¬ 
ringer ist. Der Preis der Milch ist so hoch, dass das gewöhnliche Volk dieselbe 
als Nahrungsmittel nicht verwendet, sondern nur in Krankheitsfällen verbraucht. 
Während (nach Schiefferdecker und Mayer) der tägliche Durchschnitts¬ 
konsum an Milch für jeden Einwohner 

von London sich auf 107 g, 

„ Paris „ „ 228 „ 

„ Müuchen „ „ 562 „ 

beläuft, beträgt der tägliche Durchschmttskonsum in Neapel nur 24 g pro Kopf. 

Bei Besprechung der Fütterung der milchgebenden Thiere, resp. der 
Futterarten und deren Einfluss auf die Milch, wird erwähnt, dass die Mais- 
ftitterung eine absolut weiss gefärbte Milch giebt. Einige Myosotisarten, 
Mercurialis perennis, Fagopyrus, Polygonum und noch andere Pflanzen der 
italienischen Wiesen geben der Milch eine blaue Farbe; einige Euphorbiaceen, 
die hauptsächlich von Ziegen gefressen werden, verleihen ihr eine drastische 
Wirkung. 


*) Dass die Vorschläge des Prof. v. Esmarch doch schon unter den 
jetzigen Verhältnissen durchführbar sind, hat ein Kreis im hiesigen Regierungs¬ 
bezirk (Höxter) bewiesen. Hier sind aus Kreismitteln feststehende doppelthürige 
Budenberg’sche Dampfdesinfektionsapparate von 3 Kubikmeter Inhalt ange¬ 
schafft und in den 7 kleinen Städten des Kreises in besonders dazu errichteten 
Gebäuden, deren Baukosten die betreffenden Städte getragen haben, aufgestellt. 
Für jeden Apparat sind zwei zweckmässig eingerichtete, fahrbare Transport¬ 
wagen beschafft, einer für die desinüzirten und einer tür die zu desinfiziremlen 
Gegenstände. Die Desinfektionsanstalten werden sowohl von den Einwohnern 
jener Städte, als von der Bevölkerung der anliegenden Dörfer ausgiebig benutzt 
und zwar nicht nur beim Auftreten solcher ansteckenden Krankheiten, bei denen 
im diesseitigen Bezirk die Desinfektion obligatorisch vorgeschrieben ist, wie Typhus, 
Scharlach, Diphtherie u. s. w., sondern auch bei anderen Krankheiten; insbe¬ 
sondere hat sich die Desinfektion der von schwindsüchtigen Personen benutzten 
Betten, Kleider tl s. w. sehr schnell eingebürgert. Rpd. 



Kleinere Mittheilungen und Referate aus Zeitschriften. 


629 


Auffallend gering ist die Zahl des tuberkulös befundenen Rindviehes in 
Neapel. Von 43 852 im Jahre 1892 geschlachteten Stück Rindvieh zeigten sich nur 
12 tuberkulös, also nur 0,03 %, während nach Sonnenberger cs in Deutsch¬ 
land Gegenden giebt mit 40—60 "/ 0 Tuberkulose unter dem Rindvieh. 

Von den zahlreichen Milchanalysen, die auf 9 Tafeln in Bezug auf chemische 
Reaktion, spec. Gewicht, Wasser* und Fettgehalt, TrockenrUckstand und Asche 
der verschiedenen Milcharten dargestellt, und nach den gewöhnlichen Methoden 
ausgeführt sind, sei nur erwähnt, dass die Eselinnenmilch ein höheres spec. 
Gewicht, dagegen erheblich geringeren Fettgehalt zeigte, als Kuhmilch und bedeu¬ 
tend geringer als Ziegenmilch sowie dass die Abendmilch mehr Fett, als die Mor¬ 
genmilch enthielt. Die Milch der auf den Strassen umhergeführten Kühe ergab einen 
höheren Gehalt an Fett und festen Substanzen, als die Milch der in ihren 
Ställen gemolkenen Kühe; die letztere Milch war auch wasserreicher. Ver¬ 
fälschungen durch Zusätze von Borsäure und Salicylsäure wurden ebenfalls bei 
der Milch aus Milchanstalten nachgewiesen. 

Interessanter als die chemischen Tabellen sind die bakteriologischen. Von 
pathogenen Bakterien fand sich einmal in der Milch das Bacterium coli vor, 
dessen Uebergang in dieselbe aus den Faeces vermittelst der dasselbe über¬ 
tragenden äusseren Fläche der Mammae leicht erklärbar ist. Injektionen dieser 
Milch in die Peritonealhöhle erzeugte den Tod des Versuchsthieres. — Der 
Keimgehalt der Milch — nach Flügge gilt als zulässige Maximalzahl in 1 ccm 
die A nzahl von 10000 — differirte bedeutend: Die geringste Zahl von Keimen 
(784—9524) fand sich bei den Kühen vor, die umhergeführt wurden, während 
die Milch der Milchwirthschaften erheblich mehr Keime (von 17000 bis zu 2 bis 
3 Millionen) aufwiesen. Im Allgemeinen zeigte die Kuhmilch die meisten Bak¬ 
terienkeime, die Ziegen- und Eselinnenmilch weniger zahlreiche. Das rapide 
Wachsthum der Bakterien in der Milch erläutert eine Tabelle, welche die Zahl 
der Keime nach verschiedenen Zeiten aufftthrt: Während die Keime unmittelbar 
nach dem Melken in einem ccm Milch 1200 betrugen, stieg die Zahl nach 
2 Stunden auf 430980 und nach 12 Stunden auf 3635000. 

Eine andere Tabelle weist nach, wie die Milch fast frei von Mikroorganismen 
(nur 44—142 Keimen in 1 ccm) blieb, wenn sie in vorher sterilisirten Gefässen 
aufgefangen wurde, nachdem die Zitzen der Thiere zuvor mit lauwarmem Wasser 
und Seife gereinigt worden waren. Ferner werden noch die Beobachtungen 
von Hoffmann und Schultz bestätigt, nach denen die zuerst gemolkene 
Milch den höchsten Kcimgehalt hat. 

Montefusco glaubt zum Schluss, dass die Uebclstände, welche mit dem 
Umherführen der Milchthiere durch die Strassen (die Verunreinigung der letzteren 
und das wenig ästhetische Schauspiel des Melkens) reichlich ausgeglichen würden 
durch die Vortheile einer gesunden, unverfälschten Milch; auch sei die hygienische 
Kontrole bei diesen umhergeführten Thieren leichter zu bewerkstelligen. 

Dr. Hensgen-Siegen. 


Ergebnisse der Fleischschau in den öffentlichen Schlachthäusern 
des Königreichs Preussen. Vom 1. April 1892 bis 31. März 1893 sind in 243 
öffentlichen Schlachthäusern 22487 Pferde, 600500 Rinder, 914216 Kälber, 
916 962 Schafe, 4726 Ziegen und 1873266 Schweine geschlachtet, ausserdem 
in 313 Rossschlächtereien noch 30056 Pferde; so dass die Gesammtzahl 
der geschlachteten Pferde 52543 beträgt. Von den geschlachteten Thieren 
waren behaftet mit Rotz: 9 = 0,017"/ 0 ; mit Tuberkulose: 112 Pferde 
(0,21 °/ 0 ), 52136 Rinder (8,7 %), 446 Kälber (0,049 %), 884 Schafe (0,096 °/ 0 ), 
2 Ziegen (0,04 %), 14 287 Schweine (0,76 %); mit Finnen: 567 Rinder (0,094 %), 
103 Schafe (0,011 °/ 0 ), 7705 Schweine (0,41%); mit Trichinen: 786 Schweine 
(0,042 °/ 0 ). 

Zur menschlichen Nahrung ungeignet wurden befunden und 
zwar ganz: 152 Pferde (0,3%), 4067 Rinder (0,68%), 1171 Kälber (0,13%), 
603 Schafe (0,066%), 32 Ziegen (0,64%), 6297 Schweine (0,34%); theilweise: 
581 Pferde (1,1 %)) 65891 Rinder (10,98%), 2412 Kälber (0,26 %), 39 682 Schafe 
(4,3%), 79 Ziegen (1,6 %), 59267 Schweine (3,1%). 


Das Irren wesen in Schottland. 34. und 35. Jahresbericht des König!. 
Irrenamts für Schottland. 1892 u. 1893. 



63U 


Kleinere Mittheilnngen and Beferato ans Zeitschriften. 


Mit stets neuer Freude muss der geradezu klassische Bericht des „General 
Board of Commissionen in lun&cy“ begrüsst werden, den dieselbe jährlich dem 
Staatssekretär für Schottland abstattet. 

Die ca. 180 meist kleingedruckte Seiten starken Berichte (Preis 1,3 M.) 
geben eine fortlaufende Statistik des dortigen Irrenwesens seit Errichtung des 
Amts, im Jahre 1852, seit welcher Zeit die Zahl der demselben angezeigten 
Irren von 5824 auf 18058, also um 124 °/ 0 gestiegen ist, während der Zuwachs 
der Bevölkerung nur 35°/ 8 betrug. 

Die Statistik beziigl. Aufnahmen, Entlassungen, Vertheilung, Art der 
Krankheit beztigl. der einzelnen Anstalten, der Kolonien (um die sich einer der 
bedeutendsten lebenden Psychiater, Dr. Sibbald, die grössten Verdienste er¬ 
worben hat), der Privatpflege, der gerichtlichen Fälle, ist in prägnanter, durch 
zahlreiche Tabellen erläuterter Form dargestellt. Die Eintragungen der Kom¬ 
missäre beweisen die eingehende Beaufsichtigung der verschiedentlich unterge¬ 
brachten Kranken; die zahlreichen Beobachtungen bilden eine werthvolle Be¬ 
reicherung der Literatur und zunächst eine überaus willkommene praktische 
Illustration für das, was die Unterbringung von Irren in Kolonien und in Privat¬ 
pflege leisten kann. 

Aus dem Berichte für 1892 ist zu entnehmen: 

Am 1. Januar 1893 ezistirten in Schottland 2034 Pensionäre und 11125 
auf öffentliche (55 auf Staats-) Kosten verpflegte, zusammen 13058 Irre, und 
zwar 256 mehr als 1891. Von freiwilligen Patienten, d. h. solchen, die mit Er¬ 
laubnis* des Amts sich aufnehmen lassen, ohne wegen ihres Geisteszustandes 
gesetzlich für gestört erklärt werden zu können, gab es 56. Dieselben werden 
nicht als Irre registrirt und dürfen nach ihrem Antrag auf Entlassung höchstens 
noch 3 Tage festgehalten werden. In den Anstalten wurden 40,9 °/ 0 der Auf¬ 
genommenen geheilt und starben 9 °/ 0 im Verhältnis zur Gesammtmortalität. 
Es fanden 176 Entweichungen statt, bei denen nur 19 Kranke nicht wieder 
zurückkamen, darunter 1 ungeheilter, die übrigen gebesserte Fälle. Neun Selbst¬ 
mordversuche endeten tödlich und ebensoviele Unglücksfälle (Epileptische etc.). 
Die Kosten in den öffentlichen Anstalten betrugen pro Kopf und Woche ca. 11 M. 
gegen 11 */« in England. 

Die Anhänge, welche diesmal u. A. auch die hohe Anerkennung des in 
Schottland (bekanntlich im Gegensatz zu England) ausgebildeten familiären Ver¬ 
pflegungs-Systems seitens kompetenter auswärtiger Irrenärzte (z. B. Peeter- 
S e h 1) enthalten, seien besonders allen Denen empfohlen, welchen die Entlastung 
unserer Irren-Kasernen am Herzen liegt. 

Wie dringend erwünscht es ist, dasä bei uns ein solcher Bericht möglich 
wäre, wie sehr uns ein solches Zeugniss über den Fortschritt des Irrenwesens 
anderwärts anspornen müsste, ebensoweit und hoffentlich noch weiter zu kommen, 
hatte Referent schon an verschiedenen Orten Gelegenheit zu äussern und auch 
zu begründen. Dr. Kornfeld-Grottkau. 


Ergebnisse der Schutzpockenimpfang im Königreiche Bayern im 
Jahre 1892. Vom Königlichen Zentralimpfarzt Dr. Ludwig Stumpf-München. 
Münchener medizinische Wochenschrift 1893; Nr. 43, 44 und 45. 

Das Gesammtergebniss stellt sich wie folgt: Es sind von 100 Impfpflich- 


tigen bei den 

Erstimpfungen. 

Wiederimpfungen. 


1892 

gegen 

1891: 

1892 

gegen 

1891: 

im Laufe des Geschäftsjahres 
ungeimpft gestorben . . 

9,0 

» 

10,3 

0,12 

n 

0,15 

verzogen. 

6,3 

n 

6,9 

1.45 

n 

1,50 

impfpflichtig geblieben . . . 

84,7 

V 

82,8 

98,43 

n 

98,35 

Von 100 impfpflichtig Geblie¬ 
benen sind geimpft . . . 

93,5 

V 

92,75 

98,97 

» 

98,75 

ungeimpft geblieben .... 

6,5 

» 

7,25 

1,03 

7? 

1,25 

und zwar weil 

wegen Krankheit zurückgestellt 

5,3 

n 

5,50 

0,70 

n 

0,75 

aus der Schulpflicht entlassen 

— 

n 

— 

0,03 

r> 

0,08 

nicht aufzufinden. 

0,7 

n 

0,95 

0,10 

V 

0,12 

vorschriftswidrig entzogen . . 

0,5 

n 

0,80 

0,20 

7t 

0,30 





Kleinere Mittheilungen and Referate ans Zeitschriften. 


631 


Erstimpfangen. Wiederimpfangen. 

1892 gegen 1891: 1892 gegen 1891: 


Von 100 Geimpften sind geimpft 




mit Erfolg. 

99,4 „ 

98,7 

97,8 

„ 06,7 

ohne Erfolg . . , . 
Die Zahl der Fehlimpfungen 

0,6 „ 

1,3 

2,2 

, 3,3 

betrug bei der Impfung mit 
Menschenlymphe: 




n 3,0 

a) von Körper zu Körper 

0,5 „ 

0,1 

2,7 

b) anders aufbewahrter . 
Impfung mit Thierlymphe: 

— rt 

0,95 

— 

V 

* 3,5 

a) mit Glycerinlymphe . 

0,6 „ 

1,2 

2,2 

b) anders aufbewahrter . 

2,1 , 

1,6 

2,7 

. 2,2 


Fast sämmtliche Impfangen worden mit Thierlymphe aasgeführt 
(98,1 °/o der Erstimpfungen und 98,4°/ 0 der Wiederimpfungen). Die Lymphe 
ist fast aasschliesslich von der Königl. Zentralimpfanstalt geliefert, die 460 978 
Portionen Lymphe (8051 Portionen weniger als im Vorjahre) von 138 Kälbern 
produzirt hat. Von diesen Portionen sind 416257 versandt, 11526 an der 
Zentralstelle selbst verbraucht, 22 250 Portionen wegen nachträglicher Erkrankung 
der Impfthiere vernichtet und 10945 in Bestand geblieben. Die Austheilang 
der Lymphe geschah ebenso wie früher in summarischer Weise, d. h. die Impf¬ 
ärzte erhielten ihren Lymphebedarf in einmaliger Sendung. Obwohl sich das 
öffentliche Impfgeschäft fast allgemein in der kurzen Zeit von 6 Wochen (letzte 
Aprilwoche bis Mitte Juni) abwickelte, konnte die Impfanstalt doch stets den 
Wünschen der Besteller gerecht werden. 

Als Impfmethode kam fast ausschliesslich der einfache Quer- und 
Sagittalschnitt zur Anwendung, und zwar bei Erstimpflingen 5 Schnitte auf 
jedem Arm, bei Wiederimpfungen 5—6 auf dem linken Arm. Mit Kreuz- und 
Querschnitten wurde nur selten geimpft; die Zahl der Impfschnitte war dann 
eine geringere (drei auf jedem Arm). Auf die Reinigung der Impfinstrumente 
ist von den meisten Impfärzten die grösste Sorgfalt verwendet. Vielfach sind 
die Impflanzetten vor jeder Impfung mit Lysol-, Karbolsäure- u. s. w. Lösung 
desinfizirt; ein Impfarzt behauptet allerdings, dass der Erfolg der Impfung bei 
Verwendung desinfizirter Lanzetten nicht so gut sei, als wenn diese nur gereinigt 
und nicht desinfizirt würden. 

Betreffs der Autorevaccinationen kehrt die schon früher gemachte 
Beobachtung wieder, dass sich hierbei meist nur abortive Bläschen entwickelten. 
Ebenso war bei Wiederimpflingen mit sichtbar und gut entwickelten, von der 
ersten Impfung herrührenden Impfnarben der Impferfolg meist ein viel schlech¬ 
terer, als bei solchen mit schwachen, kaum sichtbaren Narben. 

Allgemeine Reizerscheinungen der Haut (Urticaria, Erythem) 
kamen nach der Impfung wiederholt vor, besonders bei unreinlich gehaltenen, 
mit schmutziger Wäsche bekleideten Kindern, die mit ihren Fingernägeln die 
Impfpusteln zerkratzten und die Haut reizten. Ebenso sind auch mehrfach 
charakteristische Impfpusteln an anderen Körpertheilen beobachtet worden, deren 
Entstehung zweifellos auf Uebertragungen des Pustelvirus durch die Fingernägel 
zurückzuführen war. Erysipelatöse von der Impfstelle ausgehende Ent¬ 
zündungen gelangten im Berichtsjahre sehr spärlich zur Beobachtung und ver¬ 
liefen meist sehr rasch und ausschliesslich günstig. Todesfälle von Geimpften 
in dem zwischen Impfung und Nachschau liegenden Zeiträume sind mehrfach 
beobachtet, die aber nicht auf die Impfung, sondern auf andere interkurrente 
Krankheiten, Bronchopneumonie, Brechdurchfälle, Eklampsie u. s. w. zuriiek- 
geführt werden konnten. 

Die Zahl der Impfversäumnisse hat gegen die Vorjahre eine Ab¬ 
nahme erfahren; die überwiegende Mehrzahl der Fälle beruhte auf Nachlässigkeit, 
absichtliche Verweigerung der Impfung ist nur vereinzelt vorgekommen. Rpd. 


Bewegung der Bevölkerung des Deutschen Reichs im Jahre 1892. 

Die im Kaiserl. Statistischen Amt zusammengestellten Nachweise über die Be¬ 
wegung der Bevölkerung im Jahre 1892 ergeben, dass im Deutschen Reich statt¬ 
gefunden haben: 



632 


Besprechungen. 


Eheschliessungen. 

Geburten \ einschl. Todt- 
Sterbefälle / gebürten 
Mehr Geburten als Sterbefälle 


im Jahre 
1892 

im Dnrchhnitt 
von 

auf 1000 der 
Bevölkerung 

1883/92 

1892 

1883/92 

398 775 

378 672 

7,93 

7,89 

1856 999 

1 822 976 

36,93 

37,98 

1 272 430 

1 250 761 

25,31 

26,06 

584 569 

572 215 

11,62 

11.92 


Die Zahl der Eheschliessungen war demnach im vergangenen Jahre absolut 
wie relativ grösser als im Durchschnitt der zehnjährigen Periode von 1883 bis 
1892; bei den Geburten und Sterbefällen sowie beim Geburtenüberschuss stellte 


sich nur die absolute Zahl höher. — Unter den Geborenen waren: 


im Jahre 
1892 

Unehelich Geborene .... 169668 
Todtgeborene . 61 028 


im Durchschnitt Prozent 

von der Geborenen 

1883/92 1892 1883/92 

169 419 9,14 9,29 

65 796 3,29 3,61 


Besprechungen. 


Dr. Carl Günther, Privatdozent und Assistent am hygienischen In¬ 
stitut in Berlin: Einführung in das Studium der Bak¬ 
teriologie mit besonderer Berücksichtigung der 
mikroskopischen Technik. Für Aerzte und Studirende. 
Dritte vermehrte u. verbesserte Aufl. Mit 12 nach eigenen Prä¬ 
paraten vom Verfasser hergestellten Photogrammen. Leipzig 
1893. Verlag von Georg Thieme. Gross 8°, 376 S. 

Den zahlreichen Freunden des Gttnther’schen Leitfadens wird das Er¬ 
scheinen dieser neuen Auflage (der dritten seit 1890) gewiss willkommen sein; 
denn die dem Arzte leider nur zu bekannte Thatsache, dass ältere Auflagen 
medizinischer Werke so gut wie werthlos sind, gilt vor Allem — und zwar hier 
mit Fug und Recht — von der Bakteriologie! Ist doch hier Alles erst im 
Werden begriffen und wird doch hier derart mit Hochdruck gearbeitet, dass 
täglich neue und wichtige Fortschritte zu verzeichnen sind. Wer, wie der Me- 
dizinalbeamte, Veranlassung hat, auf diesem weiten Gebiete orientirt zu bleiben, 
wird sich entschliessen müssen, von Zeit zu Zeit einen der kleinen Leitfäden 
zur Hand zu nehmen, in welchem das Wichtigste aus der vielfältig zerstreuten 
Tagesliteratur zusammengestellt und dadurch der augenblickliche Stand unseres 
Wissens skizzirt wird. Es giebt ja speziell in der deutschen Literatur dergleichen 
Bücher mehrere, von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehend und verschiedenen 
Zwecken dienend. Unter diesen erfreut sich der „kleine Günther“ einer beson¬ 
deren und, wie Referenten scheinen will, stetig zunehmenden Beliebtheit, welche 
ihren Grund findet in den bedeutenden und eigenartigen Vorzügen des Buches. 
Denn, wenn schon der zweiten Auflage an dieser Stelle eine warme Empfehlung 
zu Theil werden konnte, so gilt dies in noch viel höherem Grade von der vor¬ 
liegenden dritten Auflage. Die „Vermehrung und Verbesserung“, welche auf 
dem Titelblatt in Aussicht gestellt wird, ist — sehr im Gegensatz zu manchem 
bekannten Werk erster Autoritäten! — auch im Text vorhanden und zwar gleich- 
massig über alle Theile des Werkes sich erstreckend. Und zwar hat Verfasser 
sich nicht darauf beschränkt, neue Forschungsresultate iu den alten Text ein¬ 
fach einzuflickon — eine Gewohnheit, durch welche häufig die Deutlichkeit der 
Darstellung, sicher aber die Abrundung des Ganzen Schaden leidet — im Gegen- 
theil ist die Schilderung an vielen Stellen viel freier und einheitlicher. 

Dem vorwiegend praktischen Zweck des Buches entsprechend, sind die 
theoretischen, ihrem Wesen nach eigentlich in die allgemeine Pathologie ge¬ 
hörenden Fragen, namentlich die Immunitätsfrage etwas kurz behandelt. Da¬ 
gegen werden die zahlreichen kleinen Handgriffe und Kniffe der mikroskopischen 
Technik mit grosser Sorgfalt beschrieben. Zahlreiche neue Rezepte, häufig mit 
dem ausgesprochenen Zweck, komplizirte Methoden zu vereinfachen, sind in diese 
Auflage ueu aufgenommen, so dass das Werk als Nachschlagebuch auf dem 
Tisch des selbstständig bakteriologisch arbeitenden Praktikers warme Empfehlung 
verdient. Ungemein einfach gestaltet sich beispielweise die Geisselfärbung an der 



Besprechungen. 


633 


Hand eines einzigen Günther’schen Rezeptes, welches bestimmt ist, die 
Löffler 'scheu Vorschriften, die für jedes einzelne Bakterinm einen anderen 
Zusatz von Alkali oder Säure verlangten, zu ersetzen. Auch im Uebrigen zeigt 
der allgemeinere Theil vielfache Verbesserungen; namentlich hat auch das Thier¬ 
experiment und seine Methode die uöthige Würdigung nunmehr gefunden. 

Im speziellen Theil verdient vor Allem der Abschnitt über den Tuberkel¬ 
bacillus und über den Cholera-Vibrio hervorgehoben zu werden. Die Schil¬ 
derung des Koch’schen Vibrio und seiner immer wieder von Neuem auftauchen¬ 
den Nebenbuhler, des Fi nkler-Prior’schen, des Metschnikoff und 
Denike’schen Vibrio, zu denen sich nunmehr der von Günther entdeckte 
Vibrio aquatilis, der Neisser-Rubner’sche Vibrio Berolinensis hinzugesellen, 
ist durch seltene Klarheit und Objektivität ausgezeichnet und bildet, durch vor¬ 
zügliche Lichtbilder unterstüzt, den Glanzpunkt des Ganzen. Auch in dieser 
Auflage ist der Diphtherie-Bacillus merkwürdig stiefmütterlich behandelt. 

Unter den Photogrammen finden sich viele neue, und zwar ganz vorzüg¬ 
liche, wodurch die Brauchbarkeit des Werkes gerade bei praktischen Arbeiten 
erheblich gewonnen hat. Dr. Langerhans-Celle. 


V. Magnan: Psychiatrische Vorlesungen. Deutsch von 
P. J. Möbius, IV. und V. Heft. Leipzig 1893. Verlag von 
G. Thieme. Gross 8°. 

Das Heft enthält in mehreren, meist schon früher vom Verfasser ge¬ 
legentlich veröffentlichten Aufsätzen und Vorlesungen weitere Beiträge zur Lehre 
von den Geistesstörungen der Entarteten. Sie zeigen die früher be¬ 
reits hervorgehobenen Vorzüge der Darstellung und sind illustrirt mit ausser¬ 
ordentlich instruktiven Krankengeschichten. 

Wir finden zunächst Ausführungen über die Onomatomanie, jene häufig 
beobachtete Art der Zwangsideen bei gebildeten Leuten, welche in dem ängst¬ 
lichen Suchen nach einem Namen oder nach einem Wort besteht, oder in dem 
Zwange, ein bestimmtes Wort oder gewisse unanständige Worte auszustossen 
und zu wiederholen, oder in einer verrückten Furcht vor dem Gebrauch be¬ 
stimmter Wörter, denen eine Art von bösem Zauber, eine unheilvolle Bedeutung 
beigelegt wird. — Weniger Qual als die schlimmen Wörter bereiten den Kranken 
die Schutzwörter, doch führen auch sie oft genug zu Unruhe und Angst, da 
die Kranken genöthigt sind, solche Worte sehr oft zu wiederholen oder auch sie 
mit allerlei Symbolen und Bewegungen zu begleiten. Meist besteht dabei noch 
Berührungsfurcht,Zweifelsucht und andere Tic’s, auch die Idee, Worte und Geräusche 
zu verschlucken, im Magen zu haben, sie wieder auswerfen zu müssen u. s. w. 

Aus „kleinen Sonde; barkeiten“ können sich bei Disponirten diese Zwangs¬ 
ideen schliesslich in’« Ungeheuerliche fortentwickeln, eine Qual für die Kranken, 
welche sich der Sache bewusst sind, und für die Umgebung. — Die Kranken 
müssen heraus aus der Familie und in eine andere Umgebung, in eine Heilanstalt. 

Ein weiterer Aufsatz handelt von der konträrenSexualempfiudung 
und anderen geschlechtlichen Abnormitäten. Sie sind alle nicht eine Krankheit 
für sich, sondern wachsen auf dem Boden eines allgemeinen krankhaften Zu¬ 
standes, sind ein Symptom im Bilde der vererbten Entartung. Es sind zwingende 
Triebe, die Kranken kämpfen gegen den Zwang, empfinden Angst, unterliegen 
und empfinden dann Erleichterung. Von gleicher Art sind die krankhaften Antriebe 
zu verschiedenen bestimmten Verbrechen. Auch hier gilt es, das Krankhafte der 
ganzen Persönlichkeit nachzuweisen, welche diesen verbrecherischen Antrieben unter¬ 
liegt. Kauflust und Spielsucht kommen auch in dieser krankhaften Weise vor. 

Das intermittirende Irresein, von welchem der VI. Aufsatz 
handelt, ist auch eine Form der Degeneratiouspsychose und besteht in wieder¬ 
holten, sich meist rasch entwickelnden Anfällen von Melancholie oder Manie 
(periodische, cvklische Formen). Zwischen den Anfällen ist der Geisteszustand 
Anfangs noch äusscrlieh normal, im späteren Verlauf treten freilich auch hier 
allmählich krankhafte Veränderungen zu Tage. 

Für das Zusammenbestehen mehrerer verschiedener Zustandsformen geistiger 
Störung bei demselben verschiedentlich belasteten Individuum werden daun noch 
einige interessante Beispiele angeführt und analysirt; andere stellen mehr Misch¬ 
formen dar. Auch Halluzinationen, die rechts und links verschieden sind, 
kommen bei gewissen Kranken vor. Siemens-Lauenburg. 



634 


Tagesnachrichten. 


Tagesnachrichten. 

In (len kürzlich im ungarischen Abgeordnetenhause stattgehabten Ver¬ 
handlungen über die Organisation der staatlichen Gesundheitspflege in 
Ungarn wurde von dem Minister des Innern, Hicronymi das in der Gesetz¬ 
vorlage vorgesehene Verbot der Ausübung ärztlicher Privatpraxis 
seitens der Bezirksärzte in folgender Weise begründet: 

„Wir begegnen immer dem Einwurfe, dass die Verfügung, wonach den 
Bezirksärzten die private Praxis untersagt wird, nicht richtig sei, weil die Aerzte 
dann in ihrem Fache nicht fortschreiteu und ihrem Eide untreu sein werden, 
welcher sie verpflichtet, den Kranken auf ihren Wunsch Hülfe zu bieten. Meines 
Erachtens muss der Physikus ein Sanitätsbeamter sein. Die Physici haben dieser 
ihrer Aufgabe bis in die jüngste Vergangenheit sehr unvollkommen entsprochen. 
Es giebt in der Hauptstadt sehr zahlreiche, selbst den bescheidensten sanitären 
Ansprüchen nicht genügende Wohnungen und Gegenden. Diese sanitären Schäden 
sind bisher niemals systematisch sanirt und in Evidenz gehalten worden, weil 
kein Organ dazu da war. Dieses Organ soll der Physikus sein, der in seinem 
Bezirke genug zu thun hat Wenn er nichts anders thut, als dass er sieh mit 
der Abstellung dir sanitären Schäden beschäftigt, wird ihm für die Priv&t- 
praxis keine Zeit übrig bleiben. Wenn es richtig wäre, dass zu den Aufgaben 
des Physikus die Heilpraxis uothwendig sei, dann könnte man mit demselben 
Beeilt sagen, dass jedem, der ein Amt bekleidet, zu welchem eine juridische 
Bildung notlnwndig ist, die Advokaturpraxis gestattet werden muss, weil er 
sonst die juridische Fachbil iuug einbüsst. Dasselbe könnte man auch von den 
Ingenieuren sagen. Die Hauptschwierigkeit ist die, dass der Physikus, der auch 
eine private Praxis betreibt, in der Verseilung seiner behördlichen Aufgaben 
oft in Kollision gerathen kann mit seinen privaten Interessen. Auch die Ein¬ 
wendung ist nicht stichhaltig, dass so dio Physici geuöthigt sein werden, jenen 
Eid zu brechen, welchen sie bei Erlangung ihres Diploms abiegen. Die Be¬ 
stimmung, dass sie keine private Praxis ausüben dürfen, bedeutet doch nicht, 
dass, wenn auf der Strasse ein Unglück sich ereignet, der betreffende Arzt nicht 
soll die erste Hülfe bieten dürfen. Der Gesetzentwurf kann nur so aufgefasst 
werden, dass diese Physici zura Zwecke des Broterwerbes systematisch keine 
private Praxis ausüben dürfen. Wenn wir unseren administrativen Uebeln ab¬ 
helfen wollen, müssen wir nicht bloss in der Hauptstadt, sondern im ganzen 
Lande den behördlichen Aerzten die zum Broterwerb betriebene Privatpraxis 
untersagen. So viele Oberphysici im Laude ihren diesfälligen Pflichten ent¬ 
sprechen — ich könnte sie einzeln benennen — kein einziger unter ihnen 
übt die private Praxis aus. Diejenigen hingegen, welche mit einer privaten 
Praxis sich beschäftigen — ich könnte sie ebenfalls einzeln benennen — ent¬ 
sprechen nicht ihren Pflichten als Oberphysici. Diese zwei Aufgaben sind un¬ 
vereinbar. Wir müssen Sanitäts-Verwaltungsbeamte erziehen und diese fallen 
unter eine andere Beurtkeilung als jene Aerzte, welche die private Heilpraxis 
als ihre Lebensaufgabe anseheu. Ich bitte demnach das geehrte Haus, jene 
Verfügung des Gesetzentwurfes, wonach die private Praxis mit der Stelle eines 
Physikus unvereinbar ist, aufrecht zu erhalten. Dass neben diesem Physikus 
im Bezirke auch ein solcher Arzt nothwendig ist, der sich mit der Armen-Heil- 
praxis beschäftigt, aber mit sanitätsbehördlichen Aufgaben nicht betraut sein 
wird, ergiebt sieh aus der Natur der Sache. Dies ist der Armenarzt, und der 
Verwaltungs-Ausschuss hat da nichts anderes geändert, als dass er den Ausdruck 
„Armenarzt“ in „behandelnden Arzt u umgewandelt hat.“ 

Die Verhandlung führte zur unveränderten Annahme der Regierungs¬ 
vorlage und die geplante Reorganisation dürfte am 1. Januar 1894 ins Leben 
treten. — Wann wird Preussen diesem gegebenen Beispiele nachfolgen? 


Das Landes -Medizinalkollegium des Königreichs Sachsen hat am 
2 7. November d. J. seiue diesjährige Plenarversammlung unter Vorsitz seines 
Präsidenten Dr. Günther abgehalten. Den Hauptgegenstand der Berathung 
bildete ein Entwurf einer Disziplinarordnung und einer ärztlichen 
Standesordnung für die Aerzte des Königreichs Sachsen. Ausser¬ 
dem gelangte ein Antrag des Bezirksarztes Dr. H a n k e 1 - Glauchau, betreffend 
die staatliche Unterstützung der für arme Lungenkranke zu errich¬ 
tenden Heilanstalten, zur Verhandlung und Annahme. 



Tagesnachrichten. 


636 


Die diesjährige Plenarsitzung des verstärkten Obermedizinal - Aus¬ 
schusses für das Königreich Bayern wird am 28. d. M. stattfinden. Auf 
der Tagesordnung stehen die Vorlagen der Aerztekaminerberatlmngen über die 
Verhütung der Weiterverbreitung der Tuberkulose und über die 
Bildung ärztlicher Kollegien zur Erstattung von Outachten 
in streitigen Unfallversicherungssachen. 


Der bisher mit dem Kreisphysikat Teltow vereinigt gewesene Stadt¬ 
kreis Charlottenburg soll nunmehr von jenem abgetrennt und als beson¬ 
deres Kreisphysikat eingerichtet werden. Das betreffende Physikat war bisher, 
wenigstens in Bezug auf die Einwohnerzahl, (circa 300000) das grösste im 
ganzen preussischen Staate. 

Für die 66. Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher 
und Aerzte, die im nächsten Jahre in Wien abgehalten werden wird, ist von 
den Geschäftsführern (Prof. Dr. Exner und Hofrath Prof. Dr. v. Kerner) 
die letzte Woche im September (23.-29.) in Aussicht genommen. Die Bildung 
der Vorstände für die einzelnen Sektionen hat bereits begonnen; mit der 
Versammlung soll auch eine Fachausstellung verbunden werden. 


Zu den bereits gebildeten 20 Sektionen des VIII. Kongresses für 
Hygiene und Demographie (s. Nr. 11 der Zeitschrift, S. 280), der in der 
ersten Hälfte des September 1894 in Budapest tagen wird, ist noch eine neue 
Sektion für Tropenhygiene hinzugetreten, die alles umfassen soll, was sich sowohl 
auf die Hygiene, wie auf die Aetiologie der Krankheiten der Tropenländer be¬ 
zieht: Dysenterie, Malaria, gelbes Fieber, Beriberi u. s. w. 


Der XXII. Deutsche Aerztetag wird am 29. und 30. Juni 1894 
in Eisenach stattfinden. Als Gegenstände der Tagesordnung sind in Aussicht 
genommen: Die Beziehungen der Aerzte zu den Berufsgenossenschaften (Referent: 
Dr. B u s c h - Krefeld) und „das Verhältnis der Aerzte zu den Lebensver¬ 
sicherungsgesellschaften (Referent: Prof. Dr. K r a b 1 e r - Greifswald.) 


Vom Generalsekretär des VI. internationalen medizinischen Kon¬ 
gresses in Rom sind nunmehr die in Folge der Verschiebung des Kongresses 
erfolgten Abänderungen des Statuts bekannt gegeben. Dauach wird der Kon¬ 
gress am 29. März 1894 eröffnet und am 5. April geschlossen werden. Die für 
den Kongress bestimmten Vorträge sind vor dem 31. Januar 1894 anzumelden; 
die Anmeldung muss von einem kurzgefassten Auszuge und den Schlussfolge¬ 
rungen begleitet sein; letztere werden gedruckt und an die Kongressmitglieder 
vertheilt. In das Programm werden auch die früher angemeldeten und in¬ 
zwischen ganz oder theilweise in wissenschaftlichen Blättern bereits veröffent¬ 
lichten Vorträge aufgenommen und die nach dem 31 August d. J. angemeldcten 
Vorträge mit einem Stern (*) versehen werden. 

Die Eisenbahnverwaltungen haben die vor der Verlegung des Kongresses 
eingeräumten Ermässigungen auch für die Zeit vom 1. März bis 30. April. 1894 
aufrecht erhalten. Um möglichst baldige, an das General-Sekretariat in 
Genua zu richtende Anmeldung der Theilnahme wird gebeten. 


In Berlin hat sich vor Kurzem ein Verein für gesundheitsgemiisse 
Erziehung der Jngend gebildet, dessen Vorstand (Direktor Dr. Schwalbe, Dr. 
Jacusiel, Lehrer Siegert, 1., 2. u. 3. Vorsitzender, Lehrer Janke und Dr. 
Sommerfeld, 1. u. 2. Schriftführer, Taubstummenlehrer A. Gutzmann, 
Schatzmeister) durch folgenden Aufruf zum Beitritt auffordert: 

„Die Verhältnisse der Grossstadt sind der Erziehung eines geistig frischen 
und körperlich tüchtigen Geschlechtes wenig günstig. Nur die gemeinsame Arbeit 
Aller, denen das Gedeihen der Jugend am Herzen liegt, kann hier Wandel 
schaffen. Eltern, Aerzte und Lehrer müssen Hand in Hand gehen, um eine 
bessere körperliche und geistige Ausbildung unserer Kinder in Haus und Schule 
zu erreichen. Zu diesem Zwecke hat sich der „Verein für gesundlieits- 
gemässe Erziehung der Jugend gebildet, der alle Stände und Berufs¬ 
kreise und für alle dasselbe Ziel verfolgenden Einzelbestrebungen der Mittelpunkt 
werden soll. Der Verein will seine Aufgabe erreichen durch geeignete Verbrei- 



636 


Tagesnachrichten. 


tung von Kenntnissen über die gesundheitsgemässe Erziehung der Kinder, zu 
welchem Zwecke grössere, für jedermann berechnete Versammlungen mit volks- 
thüinlichen Vorträgen veranstaltet, öffentliche Lehr- und Uebungskur 3 e ein¬ 
gerichtet und in der Presse, in Flugblättern, in Broschüren bezügliche Fragen 
erörtert werden sollen, durch Mitwirkung zur Verbesserung der hygienischen 
Zustände in der Familie und in allen Bildungs- und Erziehungsanstalten; durch 
die Förderung der Hygiene des Kindes und der Schule als Wissenschaft. 

Da zur Erfüllung dieser Aufgaben die Mitarbeit Aller erforderlich ist, 
so richten wir an unsere Mitbürger, insbesondere auch an die Frauen als die 
eigentlichen Trägerinnen der häusslichen Erziehung, die dringende Bitte, dem 
Vereine beizutreten und die Mitgliedschaft einem der obenbezeichneten Vor¬ 
standsmitglieder anzuzeigen. 

Die Mitgliedschaft des Vereins wird schon durch einen Jahresbeitrag von 
einer Mark erworben. Wohlhabende aber bitten wir, die Ziele des Vereins 
durch einen höheren Beitrag oder durch besondere Zuwendungen zu fördern. 41 

In der ersten, am 5. d. M. stattgehabten Sitzung sprach Professor Dr. 
Angerstein über die körperlichen Mängel der Jugend. 


Cholera. In der Zeit vom 22. Novbr. bis 7. Dezbr. sind im Deutschen 
Reiche nur noch 19 Cholerafälle angemeldet, darunter 6 nur mit Cholera¬ 
bakterien-Nachweis, ohne irgend welche Krankheitserscheinnngen. Von jenen 
Erkrankungen kamen 12 mit 3 Todesfällen im 0 d e r gebiet (in Gartza.0., Goll- 
now und in je einem Orte der Kreise Naugard, Ueckermtinde, Angermünde und 
Gleiwitz Ob.-Schl.) und 7 mit 2 Todesfällen im Elbegebiet vor (auf 2 Flussfahr- 
zcugen im Kreise Niederbarnim und in einem Landorte des Kreises Neuruppin, 
sowie ein vereinzelter Fall in Hamburg). In Stettin ist die Seuche vollständig 
erloschen, dasselbe gilt vom Weichsel- und Memelgebiete; die gesundheits¬ 
polizeiliche Ueberwachung dieser Wasserläufe ist in Folge dessen aufgehoben. 

In Oesterreich hat die Cholera während der letzten Wochen sowohl 
in Galizien als in Ungarn eine erhebliche Abnahme erfahren. In Galizien 
betrug die Zahl der Cholera - Erkrankungen in den Wochen vom 21.—28. Nov. 
und vom 29. Novbr. bis 6. Dezbr. nur noch 23 bezw. 18 mit 15 bezw. 8 Todes¬ 
fällen, diejenigen der verseuchten Gemeinden 8 bezw. 6; in der Buckowina 
sind Cholerafälle nicht mehr vorgekommen. In Ungarn ist die Zahl der Er¬ 
krankungen und Todesfälle an Cholera in der Woche vom 8.—14. Nov. auf 52 
(37), in der Woche vom 15.—21. Nov. auf 37 (21) gesunken, gegenüber 237 (44) 
und 64 (31) in den Vorwochen. Von diesen Erkrankungen wurden 14 (12) in 
Budapest, 4 (2) in Teinesvar beobachtet. Auch in Bosnien und in der Her¬ 
zegowina ist die Cholera im Rückgänge begriffen; die Zahl der Erkrankungen 
stellte sich in den Wochen vom 1.—7. u. 8.—15. Nov. auf 50 bezw. 61 mit 30 bezw. 
27 Todesfällen; also um die Hälfte niedriger als in der vorhergehenden Woche. 

In Rumänien scheint die Cholera im Erlöschen begriffen zu sein; in und 
um Konstantinopel dagegen an Ausbreitung zugenommen zu haben (vom 19. Nov. 
bis 7. Dezbr. sind 718 Erkrankungen und 294 Todesfälle gemeldet); auch in 
Salonichi soll die Seuche aufgetreten sein, bisher allerdings nur vereinzelt. 

In Spanien ist die Cholera vollständig erloschen, jedoch scheint die 
Krankheit von hier aus nach den kanarischen Inseln, besonders nach 
Teneriffa verschleppt zu sein, wo vom 14. Oktober bis 25. November 827 
Cholera-Erkrankungen mit 192 Todesfällen vorgekommen sind, davon 706 bezw. 
167 in Santa Cruz. 

Aus Frankreich uml den Niederlanden sind nur noch vereinzelte 
Choleiaiälle gemeldet; in Belgien ist seit dem 29. November überhaupt kein 
Fall mehr zur Anzeige gelangt. 

Ein bedeutender Rückgang der Seuche hat sich auch in Russland wäh¬ 
rend der Bericlitswuehen bemerkbar gemacht und zwar nicht nur in den west¬ 
lichen, sondern auch in den noch infizirten südöstlichen Gouvernements. Die Zahl 
der Erkrankungen und Todesfälle betrug in der Stadt Petersburg vom 24. Nov. 
bis 7. Dezbr. 28 (18), vom 13. Nov. bis 1. Dezbr. in den Gouvernements Warschau 
34 (15), Flock 35 (18), Siedlce 24 (12), Radom 57 (21), Lublin 10 (7), Lomsha 
13 (9), Suwalski 47 (27), Kowno 53 (29) Minsk 18 (11), St. Petersburg 16 (4), 
Wolhynien 178 (65), Kiew 276 (156), Tschernigow 141 (47). In den Gouverne- 
ments Kalisch und Riga ist die Krankheit vollständig erloschen. _ 

Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rapmund, Reg.- u. Med.-Rath in Minden i. W* 

J. C. 0. Bruns, Buchdruckerei, Minden.