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Full text of "Zeitschrift für Psychologie - Ergänzungsband 4.1909"

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Princeton University, 
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Zeitschrift 
für 


Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 


begründet von 
Herm. Ebbinghaus und Arthur König 
herausgegeben von 


F. Schumann und J. Rich. Ewald. 


I. Abteilung. 


Zeitschrift für Psychologie. 


In Gemeinschaft mit 


S. Exner, J. v. Kries, Th. Lipps, A. Meinong, 
G.E. Müller, W.A. Nagel, C. Pelman, A. v.Strümpell, 
C. Stumpf, A. Tschermak, Th. Ziehen 


herausgegeben von 


F. Schumann. 


Ergänzungsband 4. 


Zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. 
Von E. BR. Jaensch. 


Leipzig. 
Verlag von Johann Ambrosius Barth. 
1909. 


N 


N 


Zur Analyse 


der 


Gesichtswahrnehmungen. 


Experimentell-psychologische Untersuchungen 
nebst 


Anwendung auf die Pathologie des Sehens 


E. R. Jaensch. 





Leipzig. 
Verlag von Johann Ambrosius Barth. 
1909. 


Seinen hochverehrten Lehrern 


Herrn Professor Hermann Ebbinghausf 


und 


Herrn Professor Georg Elias Müller 


in tiefer Verehrung und herzlicher Dankbarkeit 


gewidmet. 


Vorwort. 


Die vorliegende Arbeit, welche in etwas ungewöhnlichem 
Malfse auf medizinisches Gebiet hinübergreift, ist in psycho- 
logischer Absicht unternommen. 

Wohl ist die Philosophie Hüterin der abstraktesten und all- 
gemeinsten Aufgaben der Erkenntnis, und das Wort, der Mantel 
des Philosophen zeige mit dem Kleide des Priesters Verwandt- 
schaft, wird für manche Zweige der Grundwissenschaft Berechti- 
gung besitzen. Man kann dem rückhaltlos zustimmen und 
braucht trotzdem seine Augen nicht vor der Tatsache zu ver- 
schliefsen, dafs in der Gegenwart auf den mannigfachsten Ge- 
bieten theoretische und angewandte Disziplinen, zum Vorteil der 
Wissenschaft selbst, in fruchtbare Wechselwirkung treten. Es 
liegt gleich sehr im Interesse der Theorie wie in dem der Praxis, 
dafs sich die experimentelle Psychologie dort, wo es die Natur 
ihrer Gegenstände zulälst, jener frischen und kräftigen Be- 
wegung anschliefst. Durch das Ineinandergreifen von physio- 
logischer und klinischer Forschung hat nicht nur die Physiologie 
mannigfache Impulse erfahren, sondern auch die klinische 
Wissenschaft verdankt dieser Arbeitsmethode in weiten Gebieten 
— es sei nur an die Lehre von den Kreislauf- und Stoffwechsel- 
störungen erinnert — einen unerwarteten Aufschwung. Die ex- 
perimentelle Psychologie ist zweifellos berufen, für Psychiatrie 
und Neurologie, wahrscheinlich noch für eine Reihe weiterer 
praktischer Disziplinen, Ähnliches zu leisten. Sie braucht hier 
um so weniger abseits zu stehen, als ihr von medizinischer Seite 
ein freundliches Entgegenkommen bezeigt wird. 

Wie zwingend die sachliche Nötigung zum Ineinandergreifen 
von Psychologie und Pathologie ist, dafür liefert die Lehre von 
den Sehstörungen ein sprechendes Beispiel. Wenn man es unter- 
nimmt, Sehstörungen zu deuten, oder gar auf die Deutung hirn- 


VII Vorwort. 


physiologische Schlüsse zu gründen, wenn man also untersucht, 
worin die Abweichung von der normalen Funktion be- 
steht, so darf man nicht verabsäumen, Methoden aufzusuchen, 
welche geeignet sind, die unerlüfslichen Vorfragen zu beantworten, 
d. h. Methoden, die über den normalen Ablauf des zentralen 
Sehaktes Aufschluls geben. Zahlreiche Paradoxien jenes Zweiges 
der Pathologie, welche zur Aufstellung einander widerstreitender 
Theorien und zur Spaltung der Ansichten geführt haben, finden 
dann in einfacher Weise weitgehende Aufklärung. Eine un- 
mittelbar praktische Bedeutung besitzt das richtige Verständnis 
der Sehstörungen besonders wegen der so wichtigen und viel- 
umstrittenen Simulationsfragen. Auch die anatomisch -physio- 
logischen Untersuchungen, welche sich mit der Funktion der 
Sehsphäre beschäftigen, bedürfen — zu diesem Urteil nötigen 
mich die Ergebnisse der Arbeit — als Unterbau einer rein den 
wirklichen Tatsachen zugewandten Untersuchung des Sehaktes, 
welche zunächst von allen anatomisch-physiologischen Hypothesen 
absieht. 

Mich selbst leiteten nicht die Gesichtspunkte der Praxis, 
sondern die rein theoretischen Interessen des Psychologen, im 
Grunde diejenigen der Philosophie. In Deutschland hat sich die 
Psychologie fast ausschliefslich in Laboratorien entwickelt, in 
Frankreich ist sie vorwiegend in Kliniken, oder wenigstens auf 
Grund klinischen Materials erwachsen. Zu den zahlreichen Mög- 
lichkeiten des Fortschritts, welche der Psychologie offen stehen, 
gehört auch die Synthese dieser beiden Arbeitsmethoden. So 
gelingt es erst durch Heranziehung der klinischen Erscheinungen, 
durch ihre Verarbeitung unter unausgesetzter Fühlungnahme mit 
dem normalpsychologischen Experiment, die Bedeutung und 
Tragweite des AUBERT-FoErRSTERschen Phänomens für den zen- 
tralen Sehakt richtig einzuschätzen und damit die Aufklärungen, 
welche das Experiment über das Verhältnis von Aufmerksamkeit 
und Gesichtsempfindungen zu liefern vermag, zu erweitern und 
zu vertiefen. Zum Studium des zentralen Sehaktes aber, und 
insbesondere zu einer möglichst allseitigen und eindringenden 
Analyse des AUBERT-FoOERSTERschen Gesetzes, nötigten den Ver- 
fasser raumpsychologische Untersuchungen. In anderem Zu- 
sammenhang, in raumpsychologischen Arbeiten, werde ich mich 
an entscheidenden Stellen der experimentellen Untersuchung ge- 
nötigt sehen, auf jene Gesetzmälsigkeit zurückzugreifen. Die 


Vorwort. IX 


Raumpsychologie hinwiederum besitzt im Kreise der philosophi- 
schen Disziplinen eine ganz eigenartige Stellung. Sie liefert 
denjenigen, welchen exakte Behandlung philosophischer Probleme 
am Herzen liegt, einen besonders geeigneten Angriffspunkt der 
Untersuchung. Mitten im Gebiete der Psychologie, kommt man 
hier gleichwohl innerhalb weiter Strecken mit Methoden aus, 
welche denen der exakten Naturwissenschaften an Strenge nicht 
erheblich nachstehen. Da nun aber am Zustandekommen der 
raumpsychologischen Phänomene wichtige seelische Funktionen 
allgemeinerer Art beteiligt sind, — es sei nur an diejenige der 
Aufmerksamkeit erinnert — Funktionen, welche auf anderen 
Gebieten einem exakten Studium weit schwerer zugänglich sind, 
so gewinnt die Raumpsychologie für den Psychologen eine 
prinzipiellere, über das ursprüngliche Gebiet hinausreichende Be- 
deutung. Die vorliegende Arbeit z. B. steht ganz im Dienste der 
Lehre von der Aufmerksamkeit, jener sehr umstrittenen Disziplin, 
in welcher wichtige psychologische Gegensätze und Spaltungen 
der Gegenwart ihren Ursprung nehmen. Prinzipielle Bedeutung 
besitzt die Raumpsychologie.noch aus einem anderen Grunde. 
Seit den ältesten Tagen der Philosophie bis hinauf zu den ein- 
dringenden Bestrebungen der modernen Mathematik und Physik 
spielt die Frage nach dem Wesen des Raumes in der Philosophie 
der äulseren Natur und in der Erkenntnistheorie eine entscheidende 
Rolle. Philosophische Wissenschaft, soweit sie die Einzelforschung 
ihrer Orientierung zugrunde legt, erblickt in Psychologie einer- 
seits, in Mathematik und Physik andererseits, zwei ihrer mäch- 
tigsten Fundamente. Beide Wege kreuzen sich in der Lehre 
vom Raum. Sie stellt eine Warte dar, welche einen Überblick 
über weite Gebiete der Wirklichkeit verheifst. Sie gestattet selbst 
einen Ausblick in das Nachbarland der Ideale; auch für den 
Künstler gibt es Probleme des Raums. — 


Die primitive Beschaffenheit der Hilfsmittel, auf die ich 
mich anfangs angewiesen sah, nötigte zuweilen zur ausführlichen 
Besprechung von Fehlerquellen und zu mancherlei technischen 
Erörterungen, woraus sich in den experimentellen Teilen eine 
gewisse Schwerfälligkeit der Darstellung ergab. 

Den Versuchspersonen, welche sich mir freundlichst zur Ver- 
fügung stellten, sage ich auch an dieser Stelle meinen herz- 
lichsten Dank. 


XxX Vorwort. 


Die Widmung ist nur ein unzureichender Ausdruck des 
Dankes für die reiche Anregung und Förderung, welche ich 
während vierjähriger Arbeitszeit im Göttinger Institut von Herrn 
Professor G. E. MÜLLER, meinem hochverehrten Lehrer, erfuhr; 
für das wohlwollende Interesse an den von mir unternommenen 
Arbeiten und die tatkräftige Förderung derselben durch Be- 
schaffung von Hilfsmitteln. — Dem Dank gegen HERMANN EBBING- 
Haus Ausdruck zu geben, bot sich schon andernorts schmerzlicher 
Anlafs. Möchte uns sein verklärtes Bild wie ein freundlicher 
Berater bei jedem in Zukunft zu unternehmenden Schritte zur 
Seite schweben ! 


Göttingen, Psychologisches Institut, im Juli 1909. 


Vorwort 


Inhaltsverzeichnis. 


Einleitung 


I. Abschnitt. 


Experimentelle ee des AuBERT-Forksterschen Ge- 
setzes 


81. 


$ 2. 


83. 


86. 


87. 
88. 


iiiad des 2. naa N Harink pit 
Widerlegung der Deutung des AuserT-FoersTERSChen Gesetzes 
durch AUBERT 

a) Ein methodisches Prinzip 

b) Grundgedanke der eigenen each 

c) Ein Zwischenversuch . 

d) Der Hauptversuch 

Kritik von HEınrıcHs dioptrischer Taterprotation, dé nn 
Forrsterschen Gesetzes und seiner Lehre von der Art des 
Einflusses der Aufmerksamkeit auf die Gesichtswahrneh- 
mungen überhaupt . 

Experimenteller Nachweis der Nicht-Allgemeingültigkeit v von 
Voraussetzungen, welche dem Snzrrenschen System zur Be- 
stimmung der Sehschärfe zugrunde liegen. Darlegung und 
Zurückweisung einer hierauf gegründeten naheliegenden Inter- 
pretation des AusBERT-Forrsterschen Gesetzes 


. Versuche bei instantaner Exposition . 5 
. Beobachtungen und Versuche bei Et g 


a) bei Linsenmikropsie 5 š 

b) beim Koivertonkplatlenversačh/ von Baar 

Resumé der bisherigen Versuche. Darauf Kogrhndkte Er. 
klärung des AusBErT - Forrsterschen Gesetzes. Zweikompo- 
nentensatz. Gesichtsempfindungen und Aufmerksamkeit . 
Weitere Versuche. Scheinbare Gültigkeitsgrenze des AUBERT- 
Forrsterschen Gesetzes ET g 
Das Kostersche Gesetz. Sein Zusammenhang mit dem AUBERT- 
Foersterschen Gesetz. Tiefere Begründung und Erweiterung 
des Zweikomponentensatze . . . 2 2 2 22 nenne 


Seite 


. VII 


13 


13 
13 
17 
19 


67 
74 
74 


94 


117 


129 


XII 


Inhaltsverzeichnis. 


a) Fremde und eigene Beobachtungen. Darauf gegründeter 
Deutungsversuch 

b) Kritik der vom Entdecker selpak berihrenden ER 
pretation des Kosterschen Gesetzes 


II. Abschnitt. 


Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen Interpre- 
tation des AUBERT-Forrsterschen Gesetzes durch 
anderweitige Tatsachen 


I. Kapitel. Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung der 


II. 


konzentrischen Gesichtsfeldeinengung (k. G. E.) bei funktionellen 
Nervenleiden nur unter ES des AUBERT-FOERSTERSchen 
Gesetzes gelingt 


$1. Die Bedeutung der Maoin A für die Auf- 

fassung vom Wesen der Hysterie. Jaxers Lehre vom Wesen 

der Empfindung und seine Theorie der Hysterie. Die Lehre 

Bısswangers. Formulierung der Aufgabe nachfolgender 

Untersuchung . s s 

Die grundlegenden Erechelnhkgen bei ddr k. G. E. sind 

nur bei Heranziehung des Zweikomponentensatzes zu ver- 

stehen . 

a) Auflösung den v. arhan Paradoxne Eag 

b) Erklärung der paradoxen Tatsache der uneingeschränkten 

Orientierungsfähigkeit von Patienten mit k. G. E. 

c) Auflösung des OPPENHEIM-WOLLENBERGSChen Paradoxons 

$3. Der Rest der Tatsachen fügt sich der auf dem Zwei- 

komponentensatz fufsenden Deutung besser und voll- 

kommener als anderen Erklärungsversuchen 

Beseitigung einiger Einwände < 

Rückblick auf die Analyse der k.G.E. — Berk. zur 

Auffassung vom Wesen der Hysterie 

$ 6. Die Bedeutung der Analyse der koizentrischen Gosichtä. 
feldeinengung für diejenige des AUBERT - FOERSTERschen 
Gesetzes . 


Un 
Ss 


un un 
a 


Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem Zwei- 
komponentensatz und den Sehstörungen bei organischen Hirn- 
erkrankungen 
$1. Die Seelonlähmüng dei Schatens € 
§ 2. Nachweis der Beziehung zwischen der Seeleniihiung déa 
Schauens und anderen Krankheitsbildern . . 
a) Homonyme Hemianopsie (Analyse eines bisla ken 
Falles) 
b) Alexie 
c) Wortblindheit 
d) Apperzeptive Kbiyopin, abhanfahtiee: Blindheit und 
Seelenblindheit . 
e) Homonyme Hemianopsie (im allgemeinen Falle) 


Seite 


129 


146 


150 


165 
165 


167 
177 
182 


202 


211 


216 


219 
219 


225 


225 


237 


239 
243 


Inhaltsverzeichnis. 


III. Kapitel. Bedeutung der Analyse des vorigen Kapitels für die 
Lehre von den funktionellen Sehstörungen ; ge der A 
schen Blindheit eh ti 


81. 


82. 
83. 


Über die Bedeutung der Sehälirangen bei era 
Hirnkrankheiten für die Auffassung der Sehstörungen bei 
funktionellen Nervenleiden . . . 2 2 2 22.0. 
Normalpsychologische Versuche, angestellt im Interesse 
der Analyse der hysterischen Blindheit 


Zur Analyse der hysterischen Blindheit 


IV. Kapitel. Die Übung im N Sehen und der Zwei- 
komponentensatz . Fe 


V. Kapitel. Anwendung des ihre auf die Lehre 
vom Sehen der Schielenden, insbesondere Erklärung der Schiel- 
augenamblyopie v S 


81. 


82. 


Beziehungen dieses Tatsachengebietes zum AUBERT-FOERSTER- 

schen Gesetz . . . 2 2 2 2 220. 

a) Erklärung von Beobachtungen v. Gxrarres und BEL- 
SCHOWSKYS über die exzentrische Sehschärfe in gewissen 
Schielfällen 

b) Erklärung der Šchielaugenambiyóni únter Headsiohang 
des Zweikomponentensatzes. Kritik der Lehre von 
TSCHERMAK und BIELSCHOWSKY r 

c) Monokulare Diplopie und Ayadan Fonlisrainahan Geieie 

d) Weitere Folgerungen aus der TscHERMAK - BIELSCHOWSKY- 
schen und aus der auf den Zweikomponentensatz be- 
gründeten Ansicht. Das Verhältnis der Tatsachen zu 
diesen Folgerungen à x 

e) Erklärung einer von RE Hersirgelisheiisn 
Paradoxie 


Beziehungen zum Kosterschen Gesetz 


III. Abschnitt. 


Zur Psychophysik des Sehraums (Theoretische Be- 
deutung des Zweikomponentensatzes) i P 


81. 
82 


83. 


84. 
85. 
86. 


87. 


Die psychophysische Repräsentation der Sehgrölfse . 

Die Psychophysik der Sehgröfse und die Ergebnisse der 
Hirnanatomie . z 

Die Psychophysik der Sehgrorso ün "die Theorie de Auf- 
merksamkeit 

Beseitigung eines Einwande . aus der Nérvonphyaiológie 
Die Psychophysik und die Psychologie der Sehgröfse . 
Beseitigung eines auf Versuche des I. Abschnitts ge- 
gründeten Einwands . . . BEL ER 
Zur Psychophysik der senkraien Makscheiene, Fe 


Seite 


252 


252 


254 
257 


276 


276 


278 


288 


g 


S 8 


321 
321 


342 
343 


349 


XIV Inhaltsverzeichnis. 


IV. Abschnitt. Seite 
Über die psychologische Fundierung des Gröflsenurteils 
(Bedeutung des Zweikomponentensatzes für den Ver- 
gleichsvorgang). 353 
$ 1. Eigene Beobachtungen 5 353 
$ 2. Versuche mit anderen Vermielspstsonen änd deren Deutung 358 
§ 3. Fortsetzung des Deutungsversuchs . ar tn ne e OOG 
§ 4. Beantwortung naheliegender Einwände . 369 
& 5. Bedeutung der Ergebnisse dieses Abschnittes für die Psycho- 
physik des Sehraums . . . 375 
§ 6. Ausblick auf die Möglichkeit e einer ‘durch die Tatsachen und 
Erörterungen dieses Abschnittes nahegelegten rein psycho- 
logischen Deutung des Zweikomponentensatzes und Beant- 
wortung eines gegen unsere eigene Interpretation zu er- 
hebenden Einwandes . . » s. 2 2 2 2 nn nn nn. 876 


V. Abschnitt. 
Über die psychischen Elemente der Gesichtswahr- 
DChMUNEERn-+. >s aaan et rn DR 


Einleitung. 


Obwohl die vorliegende Arbeit in psychologischem Interesse 
unternommen ist und auf psychologische Fragen Antwort gibt, 
so spielen doch darin gewisse Phänomene eine nicht unerheb- 
liche Rolle, welche auf den ersten Blick nur für die Physiologie 
der Sinnesorgane wichtig zu sein scheinen. Wir werden uns 
nämlich ziemlich eingehend mit dem Sehen der Netzhautperipherie 
zu befassen haben. 

Die historische Entwicklung der Lehre von der Sehschärfe 
der Netzhautperipherie läfst auf engem Gebiete einige Charakter- 
züge erkennen, denen man in der Geschichte der induktiven 
Wissenschaften immer wieder begegnet. Die Aufdeckung einer 
überraschenden, den herkömmlichen Anschauungen zuwider- 
laufenden Tatsache pflegt das menschliche Denken zu einer un- 
gewöhnlich lebhaften Phantasietätigkeit anzuregen. Die neue 
Entdeckung wird dann oft zur Erklärung von allem Möglichen 
benutzt, was, wie sich später herausstellt, nur in sehr losem Zu- 
sammenhang damit steht. 

Zu den Errungenschaften, die den Zeitgenossen gewaltig 
imponierten, gehört auch die Entdeckung des blinden Fleckes 
durch MaArıotte. Uns Heutigen ist die Lehre von der subjek- 
tiven Natur der Sinnesempfindungen in Fleisch und Blut über- 
gegangen. Den naiven Realisten dagegen — und das ist der 
Mensch von Haus aus — mufs es höchlichst überraschen, wenn 
bei sehendem Auge an einer Stelle im Gesichtsfeld plötzlich etwas 
unsichtbar wird. MArIıoTTE wurde bekanntlich sogar an den eng- 
lischen Hof berufen, um dem König und seinen Kavalieren das 
Wunder zu zeigen. 

So tat denn auch der blinde Fleck das Merkwürdige, was 
viel bestaunte Erscheinungen nicht selten tun: er erklärte Dinge, 


die er rechtmälsigerweise unmöglich erklären kann. Die, wie es 
Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. 1V. 1 


2 Einleitung. 


scheint, schon lange bekannte Tatsache, ! dafs wir niemals soviel 
sehen, wie sich auf der Netzhaut nach optischen Gesetzen ab- 
bilden mufs, wurde nun allgemein unter Zuhilfenahme der Ma- 
rıorreschen Entdeckung erklärt.” Dies, obwohl Mar1oTTE die 
Stelle der Netzhaut, an welcher das Phänomen auftritt, aus ana- 
tomischen Gründen schon richtig vermutet, D. BERxoULLI diese 
Vermutung durch physikalische Versuche bestätigt und gleich- 
zeitig die Gröfse des blinden Fleckes berechnet hatte,? wobei er 
freilich einen zu grofsen Wert erhielt. 

Jene Ansicht widerlegte erst im Jahre 1804 TroxLer, indem 
er nachwies, dafs 1. die Peripherie der Netzhaut nicht eigentlich 
blind ist, dafs wir zwar mit ihr nicht sehen, „wenn Sehen nicht 
blofs ein unbestimmtes Erscheinen, sondern eine bestimmte Er- 
kenntnifs des Sichtbaren seyn soll“, aber doch das Objekt „seinen 
Umrissen und seinem Inhalt nach“ undeutlich wahrnehmen und 
dafs 2. „diese Art des Verschwindens“ auch dann eintritt, wenn 
es durch die Versuchsumstände ausgeschlossen ist, dafs das peri- 
phere Objekt in das Gebiet des MarıoTTEschen Fleckes fällt. 

Purkınse nahm dann, nachdem er die Wichtigkeit des indi- 
rekten Sehens für die Orientierung durch einen einfachen Ver- 
such erkannt hatte, die Aufgabe einer Messung der peripheren 
Sehschärfe, wie es scheint als Erster, in Angriff, worin er in 
Hvuerck, Vorkmann und Marié Davy Nachfolger fand. 

Es ist wiederum eine in den induktiven Wissenschaften 
häufige Erscheinung, dafs die wichtigsten Entdeckungen oftmals 
nicht durch einen Akt glänzender Intuition, sondern durch höchst 
anspruchsloses Probieren, durch eine scheinbar geringfügige 
Modifikation bereits vorliegender Versuchsanordnungen gemacht 
werden. AUBERT und FOERSTER> erstrebten gleich ihren Vor- 


! Schon Evkuiıp soll das periphere Sehen für schwächer erklärt haben. 

2 Vgl. TRoxLer, Über das Verschwinden gegebener Gegenstände inner- 
halb unseres Gesichtskreises. Ophthalm. Bibliothek. Jena 1804. 

3 D. BersovLL, Experimenta circum nervum opticum. Comment. acad. 
scient. Petropolit. T. I, 1728. 

* Beiträge zur Physiologie der Sinne. 1825, II. 

5 AUBERT und FoERSTER, Über den Raumsinn der Netzhaut. Jahresber. 
d. schlesischen Gesellsch. 1856. — AusEert und FoERSTER, Beiträge zur 
Kenntnis des indirekten Sehens. Arch. f. Ophthalm. 3, Abt.2, S.1. 1857. — 
AvserT, Beiträge zur Kenntnis des indirekten Sehens. MorescHorts Unter- 
suchungen usw. 4, S. 16, 1858. — Auserr, Physiologie der Netzhaut, Breslau 
1865, S. 237ff. Im folgenden zit. als „I“, „II“, „III“, „IV“. 


Einleitung. 3 


gängern im Beginn ihrer Untersuchungen nichts anderes, als die 
Ermittlung eines Zahlenwertes für die Sehschärfe der Netzhaut- 
peripherie. Indem sie die Versuchsanordnung gegenüber der- 
jenigen ihrer Vorgänger um ein scheinbar geringfügiges Moment 
erweiterten, machten sie eine Entdeckung, welche man wohl als 
eine der wichtigsten auf diesem Gebiete ansprechen darf. 

Die Versuchsanordnung („I“, „II“, „III“) war im wesentlichen 
die folgende: 

Der Beobachter blickte durch eine geschwärzte Röhre, welche 
fest aufgestellt war, dadurch die Stellung des Auges sicherte und 
dasselbe vor blendendem Seitenlicht schützte, nach einem mit 
Buchstaben und Zahlen bedruckten Bogen. Die ganz willkürlich 
durcheinandergestellten Buchstaben und Zahlen waren durch 
gleiche Zwischenräume voneinander getrennt. Der Bogen war 
auf zwei horizontale Walzen aufgerollt, so dafs der vom Beob- 
achter gesehene Teil nach jedem Versuch schnell gewechselt 
werden konnte. Vor dem Bogen stand eine durch eine „kolos- 
sale“ Elektrisiermaschine des Physikalischen Instituts geladene 
Rızss’sche Flasche, welche sich von Zeit zu Zeit entlud und 
dadurch den Bogen auf einen Moment erhellte, während es 
in den Zwischenzeiten so dunkel war, dals der Beobachter eben 
nur den Ort der Buchstaben, aber nicht ihre Form erkennen 
konnte. Der Beobachter (AUBERT abwechselnd mit FOERSTER) gab 
sofort, nachdem der Funke übergesprungen war, die erkannten 
Zahlen oder Buchstaben an, der andere prüfte deren Richtigkeit 
und notierte Anzahl und Lage derselben. 

Der wesentliche Fortschritt bestand in der einfachen Mals- 
nahme, dafs Bogen mit Buchstaben und Zahlen von verschie- 
dener Gröfse zur Verwendung kamen, und dals diese Bogen in 
verschiedenen Entfernungen vom Auge aufgestellt wurden. Ins- 
besondere wurde der Fall untersucht, in welchem die Gröfse 
der Buchstaben und Zahlen, sowie diejenige ihrer gegenseitigen 
Abstände und der Seitenlängen der Bogen den Entfernungen 
proportional war, in denen die Bogen, vom Auge des Beobachters 
aus gemessen, aufgestellt waren. Da in diesem Falle die Zeichen 
und ihre gegenseitigen Abstände in den Versuchskonstellationen 
unter demselben Gesichtswinkel erschienen, und die Netzhaut- 
bilder daher in allen für das Erkennen in Betracht kommenden 
Beziehungen einander glichen — eine etwaige verschiedene Deut- 


lichkeit der Körnung des Papieres käme, selbst wenn sie zu den 
1* 


4 Einleitung. 


malsgebenden Faktoren zu rechnen wäre, nur bei den kleinsten 
Distanzen in Betracht — so war auch zu erwarten, dafs der 
Winkel, um welchen der Buchstabe, um erkannt zu werden, vom 
Zentrum abstehen dürfe, in allen Fällen der gleiche sein würde. 
Allein es zeigte sich, dals bei konstantem Gesichtswinkel 
der Zahlen und Buchstaben kleine nahe Zahlen und 
Buchstaben auf einem grö[seren Teil der Netzhaut 
erkannt werden als grofse ferne. 

Zur Verwendung kamen vier Bogen, von denen drei mit 
Zahlen und Buchstaben vom Durchmesser 26, bzw. 13 und 7 mm 
bedruckt waren; die Bogen wurden in zehn verschiedenen 
Distanzen, deren Grölse zwischen 0,1 und 1,0 m lag, aufgestellt. 
Um eine Vorstellung von der Gröfsenordnung der gefundenen 
Differenzen zu geben, seien einige Werte mitgeteilt. Die Winkel- 
ausdrücke beziehen sich auf die Winkel, innerhalb deren die 
Zeichen im Mittel erkannt wurden; der erste Winkelwert jeder 
Horizontalreihe wurde durch Versuche mit kleinen nahen, der 
zweite durch solche mit grofsen fernen Bogen gewonnen; in 
beiden Fällen aber erschienen die Zeichen unter gleichem oder 
annähernd gleichem (letzte Reihe) Gesichtswinkel, wie aus den 
in Klammern hinzugefügten Angaben über Zahlendurchmesser 
und Entfernung hervorgeht. 


si jg f ehlendurchmeaser 13 mm | 180 Bi 26 mm \ 

\Entfernung d. Bogens 0,3 mj E. d. B. 0,6 m f 

iage 13 mm 1005617 26 mm | 
lE. d. B. 0,5 mf lE. d. B. 1 m 

go >|, 26 mm: \ 

20038, 13 mm \ E. d. B. 0,96 mf 

E. d. B. 04 mf [Z. 26 mm l 


ar a Boo] 

Diesen Versuchen hafteten noch einige Mängel an. Das 
Behalten der Zahlen im Gedächtnis gelang, wie hervorgehoben 
wird, nur dann, wenn die Zwischenräume zwischen den Zahlen 
hinreichend grofs waren. Es wäre also, so führt AuBErT aus („IV“) 
denkbar, dafs die erhaltenen Winkelgröfsen sämtlich zu klein 
sind, lediglich, weil sich an der Stelle, die den kritischen Punkt 
enthält, überhaupt keine Zahl befindet. Jedoch macht sich, wenn 
nur die gegenseitigen Entfernungen der Buchstaben eine der 
Gröfsenänderung derselben genau entsprechende Änderung er- 


Einleitung. 5 


fahren, dieser Umstand bei sämtlichen Konstellationen in gleicher 
Weise geltend. Da die genannte Vorsichtsmafsregel beobachtet 
worden war, und die Versuche hinreichend gehäuft wurden, so 
dürfte diese Fehlerquelle nicht allzu schwer ins Gewicht fallen. 

Dasselbe gilt von einigen anderen Fehlerquellen: ungleiche 
Erkennbarkeit verschiedener Buchstaben und Zahlen, Unaufmerk- 
samkeit, Gedächtnisfehler. Diese Umstände waren nur darum 
als Mängel anzusehen, weil es den Autoren auch auf die Ge- 
winnung absoluter Werte der Sehschärfe ankam. 

Bedenklicher könnte ein anderes Moment erscheinen, welches 
von den Autoren mit dem erstgenannten in eine Linie gestellt 
wird: die Möglichkeit ungenauer Akkomodation. Da es in den 
Zwischenzeiten zwischen den Expositionen im Beobachtungsraum 
so dunkel war, dafs die Vp. eben nur den Ort der Buchstaben, 
aber nicht ihre Form, erkennen konnte, so besteht keine unbe- 
dingte Gewähr dafür, dafs das Auge im Moment der Belichtung 
genau akkomodiert war. Nähme man an, dafs sich auch dieser 
Fehler bei allen Konstellationen in gleicher Weise geltend machen 
werde, so vergäfse man, dafs nicht alle Grade der Akkomodation 
gleich bequem sind, dafs es vielmehr eine Ruhestellung der Ak- 
komodation gibt, die sie einzunehmen trachtet, sobald von aufsen 
keine eindeutig-bestimmenden Momente wirken. Da nun aber 
die Ruhestellung der Akkomodation mit deren Ferneinstellung 
zusammenfällt, so werden die dargebotenen Objekte beim AUBERT- 
Forrstegschen Versuche von dieser Fehlerquelle vermutlich um 
so stärker getroffen werden, je näher sie sind.! Diese Fehler- 
quelle hätte also höchstens eine dem von A. u. F. gefundenen 
Phänomen entgegengesetzte Erscheinung hervorzubringen ver- 
mocht. 

Auch fällt dieser Umstand gleich den erstgenannten Fehler- 
quellen hinweg bei einer erneuten, noch genaueren Untersuchung, 
welche AuBERT dem gleichen Gegenstande widmete („III“). 

In diesen bei Dauerbeleuchtung angestellten Versuchen wird 
ein ursprünglich stark peripher erscheinendes Gesichtsobjekt in 
verschiedenen Meridianen dem streng und anhaltend fixierten 


! Dieser Schlufs würde nicht mehr zu ziehen sein, wenn auch Ob- 
jekte in solcher Entfernung dargeboten worden wären, dafs eine scharfe 
Akkommodation aus dioptrischen Gründen, also etwa wegen Hypermetropie, 
überhaupt nicht mehr stattfinden konnte. Ein so elementares Versehen 
darf als ausgeschlossen betrachtet werden. 


6 Einleitung. 


Zentrum genähert. Als Objekt dienen zwei schwarze Quadrate 
auf weilsem Grund, deren Entfernung voneinander gleich der 
Seite des Quadrates ist; die Seitenlängen betragen in den drei 
Vergleichskonstellationen 4, bzw. 8 und 20 mm; entsprechend 
ist die Grölse des weilsen Papieres. Das Objekt wird an der 
Stelle arretiert, an welcher die beiden Quadrate eben als distinkt 
wahrgenommen werden. Da die Quadrate von 4, 8, 20 mm 
Seitenlänge in Entfernungen von 200 bzw. 400 und 1000 mm vom 
Auge aufgestellt werden, so erscheinen die kleinen, mittleren 
und grolsen Objekte unter gleichem Gesichtswinkel. Das Ergeb- 
nis der ersten Untersuchung bestätigte sich. 

Wir führen ein Zahlenbeispiel an. Die angegebene Zahl 
bezeichnet den ganzen Winkel, innerhalb dessen die Quadrate, 
sowohl oberhalb wie unterhalb des Fixierpunktes, wahrgenommen 
werden; die nach dem kritischen Punkt — in welchem die 
Quadrate gerade eben distinkt erscheinen — gehende Richtungs- 
linie bildet mit der Gesichtslinie einen annähernd halb so grofsen 
Winkel. Die übereinander stehenden Werte beziehen sich auf 
zwei verschiedene Versuchsreihen derselben Art. 


67° z 46° 7 
65° (Seitenl. d. Qu. 4 mm) — 3g0 (Seitenl. d. Qu. 20 mm) 
(l. c. 5. 23 Tabelle I.) 


Es ist wegen der Verschiedenheit der Darbietungsarten nicht 
möglich, die Gröfse der hier gefundenen Differenz mit der bei 
der ersten Versuchsanordnung zutage getretenen zahlenmälsig 
zu vergleichen; doch läfst sich aus den in den Abhandlungen 
enthaltenen Tabellen erkennen, dafs der Betrag der Erscheinung 
in beiden Fällen von ungefähr gleicher Grölsenordnung ist. 

Diese Versuchsanordnung ist von den früher genannten 
Mängeln frei, doch läfst sich im Gegensatz zur ersten Versuchs- 
anordnung die Frage nicht völlig unterdrücken, ob nicht trotz 
peinlichsten Strebens nach strenger Fixation seitens der Vp. 
unbewulsterweise Augenbewegungen ins Spiel gekommen seien. 
Liefse sich mit Sicherheit behaupten, dafs die hieraus ent- 
springende Fehlerquelle alle Konstellationen in gleicher Weise 
betrifft, so mülste sie in Anbetracht der Häufung der Versuche, 
welche auch hier wieder stattfand, für unschädlich erklärt werden. 
Allein eine solche Annahme wäre voreilig. Zwar liegt in der 
Literatur keine Angabe darüber vor, dafs bei Einstellung der 





Einleitung. 7 


Augenachsen für die Nähe die Bewegung der Augen in allen 
Richtungen erleichtert sei. Wer das AuBERT-FoErsTErsche Ergeb- 
nis auf die Wirksamkeit der gekennzeichneten Fehlerquelle zu- 
rückführen wollte, müfste ja diese Annahme machen; denn die 
Prüfung erstreckte sich auf verschiedene Netzhautmeridiane und 
ergab im wesentlichen stets das gleiche Resultat. Trotzdem 
bleibt zu bedenken, dafs sich für einzelne spezielle Bewegungen 
eine solche Abhängigkeit zwischen Konvergenzgrad und Leichtig- 
keit der Bewegung — oder, mechanisch ausgedrückt, Betrag des 
Drehungsmomentes — tatsächlich herausgestellt hat. Auch mit 
dem Hinweis, dafs die Beobachtungen immer nur mit einem 
Auge vorgenommen wurden, lälst sich dieses Bedenken nicht 
zum Schweigen bringen, da eine enge Assoziation zwischen den 
verschiedenen Akkommodationszuständen und den entsprechenden 
Konvergenzgraden besteht. Allein die Resultate sind trotzdem 
dem gekennzeichneten Einwand nicht ausgesetzt. Erstens macht 
schon das Wenige, was über die Erleichterung, bzw. Erschwerung 
gewisser Augenbewegungen bei bestimmten Konvergenzgraden 
bekannt ist, eine Erklärung des AUBERT-FoERSTERschen Gesetzes 
(A.F.G.) mit Hilfe von Augenbewegungen unmöglich. Auf 
Grund der Tatsache 1, dafs Verkleinerung des Konvergenzwinkels 
die Hebung, Vergröfserung des Konvergenzwinkels die Senkung 
der Blicklinie begünstigt, und umgekehrt, hätte man zwar ein 
dem A.F.G. gemälses Verhalten zu erwarten, wenn die Prüfung 
sich auf die untere Hälfte des Vertikalmeridians beschränkte, 
dagegen mülste bei der Untersuchung im oberen Halbmeridian 
das dem tatsächlich konstatierbaren genau entgegengesetzte Er- 
gebnis eintreten. 


Zweitens verbietet sich diese Erklärung für den ersten Ver- 
such von A. und F. ganz von selbst. ? 


Drittens werden wir im Laufe unserer eigenen Untersuchung 
Gelegenheit haben, jene Deutung zu widerlegen. Aufserdem 


1 Diese Tatsache wurde angeblich zuerst von Jom. MüLLerR beobachtet. 
HeıLnHoLrz, Wuxpr und ZorH machten von diesem Satze ausgedehnten Ge- 
brauch. Durch Berechnung der Drehungsmomente gelangte Zoru zu dem 
gleichen Ergebnis (Sitzungsber. d. Wiener Akad. Math.-naturwissenschaftl. 
Klasse 109, 3. Abt. 1900). 


® Wir sprechen künftighin der Kürze wegen vom „ersten“ und vom 
„zweiten“ Ausertschen Versuche. 


8 Einleitung. 


rühren diese Beobachtungen nicht von einer in der Beherrschung 
ihrer Augenbewegungen wenig geschulten Versuchsperson her, 
sondern von demjenigen Forscher, der nach einem Ausspruch 
von HermHoLtz unter allen Zeitgenossen wohl die gröfste Übung 
im peripheren Sehen besals. 


Neuerdings begegnet man vielfach einer irrigen Ansicht über elemen- 
tare physikalische Verhältnisse, deren, wie es scheint, weite Verbreitung 
für die geringe Beachtung des A. F. G., sowie gewisser pathologischer Er- 
scheinungen, zum Teil wohl verantwortlich sein dürfte. So urteilt z. B. 
Kuıen (Über die psychisch bedingten Einengungen des Gesichtsfeldes, Arch. 
f. Psychiatrie u. Nervenkrankheiten 42, 1907, S. 404) über die Aufnahme des 
Gesichtsfeldes in verschiedenen Entfernungen: „... wollte man den glei- 
chen Winkel fordern, so müfste nicht nur das Objekt soweit vergröflsert 
werden, dafs der Netzhautreiz die gleiche Ausdehnung erreicht, wie beim 
Fixieren aus der Nähe, sondern man müfste auch noch die Lichtintensität 
des Objekts entsprechend dem Quadrat der Entfernung verstärken.“ In 
ähnlicher Weise WeıpLicn (Über quantitative Beziehungen zwischen den 
Pupillenweiten, den Akkommodationsleistungen usw. Arch. f. Augenheilk. 57, 
1907, S. 201), welcher darzulegen sucht, dafs wir in der Nähe nicht nur 
wegen der gröfseren Ausdehnung der Netzhautbilder relativ besser sehen 
als in der Ferne, sondern auch, weil die proportional dem Quadrat der 
Entfernung erfolgende Herabsetzung der Helligkeit des Netzhautbildes durch 
die Änderung des Pupillendurchmessers, welche die Änderung des Akkom- 
modationszustandes begleitet, nur teilweise kompensiert würde. 

Träfe diese Ansicht zu, so wäre an dem von A. und F. beobachteten 
Phänomene überhaupt nichts Bemerkenswertes; und, so kann man hinzu- 
fügen, eine unübersehbare Menge physiologisch-optischer Untersuchungen, 
z. B. ein grofser Teil der „Physiologie der Netzhaut“ von AuBErT, würde 
auf einem Irrtum beruhen. Jene beiden hervorragenden und in allen ein- 
schlägigen physikalischen Fragen bestens orientierten Forscher hätten sich 
mit dem von ihnen entdeckten Phänomene schwerlich in so ausgedehnten 
und immer von neuem wieder aufgenommenen Untersuchungen abgemüht. 

Übrigens hebt schon Avzerr selbst durchaus zutreffend hervor (S. 17), 
dafs bei seinen Versuchen eine Verschiedenheit der Helligkeit der Netz- 
hautbilder in den Vergleichskonstellationen nicht vorlag, wenn nur, wofür 
ausdrücklich Sorge getragen wurde, das Objekt immer in gleicher Weise 
beleuchtet war. „Wenn wir uns aber von einem Objekte entfernen, so sind 
wir in der glücklichen Lage, dadurch nur die Grölse, dagegen nichts in der 
Helligkeit unseres Retinabildes von dem Objekte zu verändern“ („IV“ 8. 85). 
— Historisch wird angeführt, dafs sich dieser Satz schon bei Smıra (Lehrb. 
der Optik, übersetzt von Käisrtxer 1755, S. 25), dann bei HerscheL (Vom 
Lichte S. 18) und Araco (Astronomie I, S. 139 u. 186) findet. 

Über diesen einfachen Satz und seine Begründung kann man sich in 
fast jedem Lehr- und Handbuche der Ophthalmologie orientieren. Beson- 
ders hingewiesen sei auf die Ausführungen von Hess (Handb. d. Augenheilk. 
3. Aufl. Bd. 8, II. S. 93. 1903). 


Einleitung. 9 


Da der Pupillendurchmesser im Falle der Nahakkommodation kleiner 
ist, so könnte man eher beim Sehen in der Nähe eine geringere Sehschärfe 
erwarten, als bei demjenigen in der Ferne. Auch ist die Linse bei Nah- 
akkommodation dicker. 

Dafs aber die Absorption in den Luftschichten bei den für unsere Ver- 
suche in Betracht kommenden Entfernungsunterschieden so geringfügig ist, 
dafs hieraus für die Wahrnehmung gar kein Unterschied entsteht, geschweige 
denn eine erhebliche Beeinflussung der Sehschärfe resultiert, davon konnte 
ich mich durch eine einfache Beobachtung überzeugen. An einem bedeckten 
Tage stellte ich im Freien zwei auf fester Grundlage glatt aufgezogene 
Bogen grauen Papieres in verschiedenen Entfernungen so auf, dafs ein 
Teil des hinteren Bogens unmittelbar neben dem vorderen erschien, wenn 
der Rand des letzteren fixiert wurde. Die Entfernung des vorderen klei- 
neren Bogens vom Auge betrug 50 cm, die des hinteren gröfseren 500 cm. 
Beide Bogen standen senkrecht zur Blicklinie des Beobachters und waren 
in gleicher Weise beleuchtet. Einen Unterschied der Helligkeit in irgend 
einer Richtung konnte ich bei Fixation des Randes, ebenso aber auch bei 
Akkommodation auf den hinteren Bogen, nicht mit Sicherheit wahr- 
nehmen. — Man sieht hier den einen der beiden Bogen immer in Zer- 
streuungskreisen. Das Resultat der Beobachtung ändert sich, wie wir sehen 
werden, nicht, wenn auf beide Objekte gleichzeitig akkommodirt werden 
kann. — Nach der oben zurückgewiesenen irrtümlichen Ansicht mülste 
sich hier die Helligkeit der Netzhautbilder wie 1: 100 verhalten, also sicher- 
lich deutlich merkbar sein. 


Wie ist nun aber die Erscheinung, von welcher die Autoren 
selbst sagen, dals sie sie so gern auf Fehlerquellen zurückgeführt 
hätten, zu erklären ? 


Es sind, so führt AUBERT aus („III“), nur zwei Organe, deren 
Veränderungen wir zu überlegen haben, nämlich die Linse und 
die Netzhaut. 

Dafs durch die Krümmungsveränderung der Linse und die 
damit verbundene Erweiterung der Pupille bei der Akkommodation 
für die Ferne ein Einflufs auf die Strahlenbrechung der seitlich 
gelegenen Objekte ausgeübt werde, der für die Erscheinung ver- 
antwortlich wäre, hält jener in Peripheriebeobachtungen hervor- 
ragend geübte Forscher darum für ausgeschlossen, weil alsdann 
die Quadrate mit Zerstreuungskreisen erscheinen mülsten, was 
nicht der Fall sei. Einen grauen Rand um die Quadrate, der 
doch in der Mitte zwischen ihnen hätte auffallend sein müssen, 
habe er nie bemerken können. So mufs sich denn ein Er- 
klärungsversuch seiner Ansicht nach an die Netzhaut halten. 

Er macht zur Erklärung der „rätselhaften Erscheinung“ die 
Annahme, dals bei der Akkommodation eine Verschiebung der 


10 Einleitung. 


Stäbcehenschicht stattfände, fügt aber hinzu, dafs er diese Er- 
klärung nur als eine Vermutung ausspreche, gegen deren Mög- 
lichkeit er wenigstens nichts einzuwenden wisse. 


CzERMAK beruft sich bei seiner Erklärung des Akkommodationsphos- 
phens (Über das Akkommodationsphosphen, Arch. f. Ophthalm. 7, 1. Abt., 
S. 152) auf die Versuche AuseErts und die von ihm gegebene Deutung. Es 
braucht kaum hervorgehoben zu werden, dafs die Theorie Czermaks nicht 
notwendig mitgetroffen wird, wenn wir etwa genötigt sein sollten, die von 
AUBERT seinen ‘Versuchen gegebene Deutung abzulehnen. 

Eine Zerrung der äufsersten Netzhautgebiete und damit eine momen- 
tane Lichterscheinung könnte beim Akkommodationsakt immerhin statt- 
finden, wenn sie vielleicht auch nicht so andauernde und so weit nach 
der Fovea reichende Wirkungen hervorzubringen vermag, wie AUBERT an- 
nimmt. — 


Auf dem allgemeinen Boden der Hypothese von der Verschiebung der 
Netzhautelemente sind immer noch zwei verschiedene Erklärungsmöglich- 
keiten denkbar. Die Erscheinung könnte nämlich einmal darauf beruhen, 
dals die Netzhautelemente infolge der Zerrung eine Ortsveränderung inner- 
halb des Auges erfahren, und dafs dieselben Lichtstrahlen, welche soeben 
auf die undeutlich perzipierenden Organe der Netzhautperipherie fielen, 
nun leistungsfähigere Aufnahmeapparate vorfinden. Zweitens ist aber auch 
die andere Vorstellung möglich, dafs unter dem Einflufs jener Zerrung 
zwar kein Ortswechsel der Netzhautelemente stattfinde, keine Vertauschung 
weniger leistungsfähiger Apparate durch leistungsfähigere, wohl aber eine 
Drehung derselben, durch welche die Stäbchen und Zapfen eine andere, 
der Perzeption des sie treffenden Lichtreizes günstigere Orientierung er- 
halten. Versuche von Ausert und von EnmMERT lassen die erstgenannte 
Form der Zerrungshypothese als undurchführbar erscheinen. Man würde 
sich daher im Falle der Beibehaltung des allgemeinen Grundgedankens 
wohl für die zweite Möglichkeit zu entscheiden haben. 


AUBERT untersuchte („III“ S. 32), wiederum in verschiedenen Ent- 
fernungen, wie weit ein rotes Quadrat auf weilsem Grunde nach der Peri- 
pherie entfernt werden muls, damit es ganz schwarz erscheint, und wie 
weit dasselbe Objekt von einem jenseits dieser Zone gelegenen Punkte aus 
dem Fixierzeichen angenähert werden muls, damit gerade eben etwas von 
Rötlichkeit wahrnehmbar ist. Das Ergebnis war gänzlich unabhängig davon, 
ob die Prüfung in der Entfernung von 20, 40 oder 100 cm stattfand, wäh- 
rend sich bei eben denselben Entfernungen die gröfsten Unterschiede in 
der peripheren Sehschärfe herausgestellt hatten. Das Ergebnis ist mit 
der ersten, nicht aber mit der zweiten Form der Zerrungshypothese un- 
verträglich. 

Eunerr (Die Gesichtsfelder in Beziehung zur Akkommodation. Arch. 
f. Augenheilk. 11, S. 303, 1882) untersuchte dann am Perimeter die Gröfse 
des Gesichtsfeldes bei verschiedenen Akkommodationszuständen, indem er 
an der gewöhnlichen Stelle des Fixierpunktes ein Loch anbrachte, durch 


Einleitung. 11 


welches ein in verschiedenen Entfernungen aufgestelltes Fixierzeichen 
sichtbar war. Bei starker Akkommodationsanspannung für die Nähe (15 cm) 
war das Gesichtsfeld zwar etwas weiter als beim Sehen in die Ferne (6 m); 
aber der Unterschied war aufserordentlich geringfügig; er betrug in der 
Regel 1° bis 2°, im Höchstfalle 2,5%. EmmerT glaubt diese Erscheinung, 
ähnlich wie Ausert das von ihm beobachtete Phänomen, auf eine Ver- 
schiebung der Retina zurückführen zu müssen. Trifft diese Erklärung zu, 
und beruht die Erscheinung nicht einfach darauf, dafs das Netzhautbild 
des 5 cm vom Auge entfernten Testobjektes bei Akkommodation auf 6 m 
allzu undeutlich geworden ist, so kommt jedenfalls nur die zweite Form 
der Zerrungshypothese, nicht aber die erste, in Betracht. 


Macht Ausgerr die Netzhaut für die Erscheiuung verantwort- 
lich, so knüpft eine neuere Theorie des A. F. G., diejenige von 
W. Henrica (Die Aufmerksamkeit und die Funktion der Sinnes- 
organe. 2. Beitrag, Zeitschr. f. Psych. 11, 1896, S. 410) an Eigen- 
tümlichkeiten der Linse an. Aus gewissen Versuchen, auf deren 
Einzelheiten wir an späterer Stelle zurückkommen werden, glaubt 
Heinrich schliefsen zu müssen, dafs wir bei Fixation eines be- 
stimmten Punktes auf ein in die Peripherie des Gesichtsfeldes 
eingeführtes Objekt dadurch akkommodieren, dafs wir die Linse 
abflachen, ihren Krümmungsradius vergrölsern. Damit ein seit- 
liches Objekt das Maximum seiner Deutlichkeit besitze, müsse die 
Linse stets flacher sein als bei Betrachtung des in gleicher Ent- 
fernung vom Auge befindlichen, direkt gesehenen Objektes. 

Da demzufolge die Akkommodation für die Peripherie stets auf 
einer Abflachung der Linse beruht, so muls die Akkommodations- 
breite für paraxiale Objekte um so grölser sein, je kleiner der 
Krümmungsradius der Linse ist. Werden nämlich einerseits von 
einem relativ fernen, andererseits von einem relativ nahen par- 
axialen Objekt gleiche und gleichgelegene Netzhautbilder er- 
zeugt, so vermag das Auge wohl auf das nahe, nicht aber, oder 
nur in unzureichender Weise, auf das ferne Objekt zu akkommo- 
dieren. Die Krümmung der Linse bei Nahakkommodation ist ja 
einer sehr weitreichenden Abnahme fähig; befindet sich hingegen 
die Linse schon bei Beachtung des Fixierpunktes, entsprechend 
einer grölseren Entfernung desselben, im Zustande erheblicher 
Abflachung, so wird der Fall eintreten können, dafs sie einen 
solchen Grad von Abflachung, wie ihn die Akkommodation auf 
das paraxiale Objekt erfordert, nicht mehr zuläfst. Je weiter die 
paraxialen Objekte vom Auge entfernt sind, um so geringer 
ist — im übrigen gleiche Umstände vorausgesetzt — der Winkel- 


10 Einleitung. 


Stäbchenschicht stattfände, fügt aber hinzu, dafs er diese Er- 
klärung nur als eine Vermutung ausspreche, gegen deren Mög- 
lichkeit er wenigstens nichts einzuwenden wisse. 


CzeryaK beruft sich bei seiner Erklärung des Akkommodationsphos- 
phens (Über das Akkommodationsphosphen, Arch. f. Ophthalm. 7, 1. Abt., 
S. 152) auf die Versuche Auserts und die von ihm gegebene Deutung. Es 
braucht kaum hervorgehoben zu werden, dafs die Theorie Czermaks nicht 
notwendig mitgetroffen wird, wenn wir etwa genötigt sein sollten, die von 
AUBERT seinen ‘Versuchen gegebene Deutung abzulehnen. 

Eine Zerrung der äulsersten Netzhautgebiete und damit eine momen- 
tane Lichterscheinung könnte beim Akkommodationsakt immerhin statt- 
finden, wenn sie vielleicht auch nicht so andauernde und so weit nach 
der Fovea reichende Wirkungen hervorzubringen vermag, wie AUBERT an- 
nimmt. — 


Auf dem allgemeinen Boden der Hypothese von der Verschiebung der 
Netzhautelemente sind immer noch zwei verschiedene Erklärungsmöglich- 
keiten denkbar. Die Erscheinung könnte nämlich einmal darauf beruhen, 
dafs die Netzhautelemente infolge der Zerrung eine Ortsveränderung inner- 
halb des Auges erfahren, und dafs dieselben Lichtstrahlen, welche soeben 
auf die undeutlich perzipierenden Organe der Netzhautperipherie fielen, 
nun leistungsfähigere Aufnahmeapparate vorfinden. Zweitens ist aber auch 
die andere Vorstellung möglich, dafs unter dem Einflufs jener Zerrung 
zwar kein Ortswechsel der Netzhautelemente stattfinde, keine Vertauschung 
weniger leistungsfähiger Apparate durch leistungsfähigere, wohl aber eine 
Drehung derselben, durch welche die Stäbchen und Zapfen eine andere, 
der Perzeption des sie treffenden Lichtreizes günstigere Orientierung er- 
halten. Versuche von AuBERT und von EMMERT lassen die erstgenannte 
Form der Zerrungshypothese als undurchführbar erscheinen. Man würde 
sich daher im Falle der Beibehaltung des allgemeinen Grundgedankens 
wohl für die zweite Möglichkeit zu entscheiden haben. 


AUBERT untersuchte („III* S. 32), wiederum in verschiedenen Ent- 
fernungen, wie weit ein rotes Quadrat auf weilsem Grunde nach der Peri- 
pherie entfernt werden mufs, damit es ganz schwarz erscheint, und wie 
weit dasselbe Objekt von einem jenseits dieser Zone gelegenen Punkte aus 
dem Fixierzeichen angenähert werden mufs, damit gerade eben etwas von 
Rötlichkeit wahrnehmbar ist. Das Ergebnis war gänzlich unabhängig davon, 
ob die Prüfung in der Entfernung von 20, 40 oder 100 cm stattfand, wäh- 
rend sich bei eben denselben Entfernungen die grölsten Unterschiede in 
der peripheren Sehschärfe herausgestellt hatten. Das Ergebnis ist mit 
der ersten, nicht aber mit der zweiten Form der Zerrungshypothese un- 
verträglich. 

Eunerr (Die Gesichtsfelder in Beziehung zur Akkommodation. Arch. 
f. Augenheilk. 11, S. 303, 1882) untersuchte dann am Perimeter die Gröfse 
des Gesichtsfeldes bei verschiedenen Akkommodationszuständen, indem er 
an der gewöhnlichen Stelle des Fixierpunktes ein Loch anbrachte, durch 


Einleitung. 11 


welches ein in verschiedenen Entfernungen aufgestelltes Fixierzeichen 
sichtbar war. Bei starker Akkommodationsanspannung für die Nähe (15 cm) 
war das Gesichtsfeld zwar etwas weiter als beim Sehen in die Ferne (6 m); 
aber der Unterschied war aufserordentlich geringfügig; er betrug in der 
Regel 1° bis 2°, im Höchstfalle 2,5°. Emmert glaubt diese Erscheinung, 
ähnlich wie AuBErT das von ihm beobachtete Phänomen, auf eine Ver- 
schiebung der Retina zurückführen zu müssen. Trifft diese Erklärung zu, 
und beruht die Erscheinung nicht einfach darauf, dafs das Netzhautbild 
des 5 cm vom Auge entfernten Testobjektes bei Akkommodation auf 6 m 
allzu undeutlich geworden ist, so kommt jedenfalls nur die zweite Form 
der Zerrungshypothese, nicht aber die erste, in Betracht. 


Macht Ausgerr die Netzhaut für die Erscheiuung verantwort- 
lich, so knüpft eine neuere Theorie des A. F. G., diejenige von 
W. Hemnrıica (Die Aufmerksamkeit und die Funktion der Sinnes- 
organe. 2. Beitrag, Zeitschr. f. Psych. 11, 1896, S. 410) an Eigen- 
tümlichkeiten der Linse an. Aus gewissen Versuchen, auf deren 
Einzelheiten wir an späterer Stelle zurückkommen werden, glaubt 
Heinrich schliefsen zu müssen, dafs wir þei Fixation eines be- 
stimmten Punktes auf ein in die Peripherie des Gesichtsfeldes 
eingeführtes Objekt dadurch akkommodieren, dafs wir die Linse 
abflachen, ihren Krümmungsradius vergrölsern. Damit ein seit- 
liches Objekt das Maximum seiner Deutlichkeit besitze, müsse die 
Linse stets flacher sein als bei Betrachtung des in gleicher Ent- 
fernung vom Auge befindlichen, direkt gesehenen Objektes. 

Da demzufolge die Akkommodation für die Peripherie stets auf 
einer Abflachung der Linse beruht, so muls die Akkommodations- 
breite für paraxiale Objekte um so grölser sein, je kleiner der 
Krümmungsradius der Linse ist. Werden nämlich einerseits von 
einem relativ fernen, andererseits von einem relativ nahen par- 
axialen Objekt gleiche und gleichgelegene Netzhautbilder er- 
zeugt, so vermag das Auge wohl auf das nahe, nicht aber, oder 
nur in unzureichender Weise, auf das ferne Objekt zu akkommo- 
dieren. Die Krümmung der Linse bei Nahakkommodation ist ja 
einer sehr weitreichenden Abnahme fähig; befindet sich hingegen 
die Linse schon bei Beachtung des Fixierpunktes, entsprechend 
einer gröfseren Entfernung desselben, im Zustande erheblicher 
Abflachung, so wird der Fall eintreten können, dafs sie einen 
solchen Grad von Abflachung, wie ihn die Akkommodation auf 
das paraxiale Objekt erfordert, nicht mehr zuläfst. Je weiter die 
paraxialen Objekte vom Auge entfernt sind, um so geringer 
ist — im übrigen gleiche Umstände vorausgesetzt — der Winkel- 


12 Einleitung. 


abstand, der zwischen ihnen und dem Fixierpunkt bestehen darf, 
damit sie noch deutlich im Auge abgebildet werden können. 

Wir möchten darauf hinweisen, dals man, an Verhältnisse 
des dioptrischen Apparates anknüpfend, vielleicht noch eine an- 
dere Erklärung der Erscheinung versuchen könnte. Bei der 
Akkommodation für die Nähe ist die Pupille bekanntlich enger 
als bei derjenigen für die Ferne. Jeder Amateurphotograph 
weils, wie sehr man unter Umständen die Schärfe in den Seiten- 
teilen eines Bildes durch Benutzung einer engeren Blende er- 
höhen kann. Die Verdeutlichung kommt dadurch zustande, dafs 
die Basis aller Zerstreuungskegel an Grölse abnimmt. 

Netzhaut, Linse und Pupille sind jetzt in Erwägung gezogen 
worden; jede physiologische Erklärung mülfste wohl, selbst wenn 
sie in einer noch anderen Form auftreten sollte, an die Verän- 
derung von einem dieser drei Organe anknüpfen. 


13 


I. Abschnitt. 


Experimentelle Analyse des AuBERT-FOERSTERSchen 
Gesetzes. 


81. 
a) Wir leiten die experimentelle Analyse der Erscheinung 
ein mit der 


Formulierung eines methodischen Prinzipes, 


durch welche wir die eigentliche Untersuchung von allzuweit 
ausgreifenden methodologischen Erörterungen zu entlasten hoffen. 
Auch möchten wir dem Leser von vornherein das Kriterium in 
die Hand geben, durch welches er abschätzen kann, welche Teile 
unserer Untersuchung methodologisch bestimmt einwandfrei sind, 
und welche anderen nur einen relativ hohen Wahrscheinlich- 
keitsgrad für sich in Anspruch zu nehmen vermögen. 

Dieses Prinzip lautet: Bei Untersuchungen im Gebiete der 
psychologischen und physiologischen Optik ist die Verwendung 
dioptrischer und katoptrischer Instrumente zur Betrachtung eines 
Objektes im Interesse der vollkommenen Klarheit und Durch- 
sichtigkeit der Versuchsbedingungen im allgemeinen verboten. 
In jedem Einzelfalle, in welchem dieses Prinzip durchbrochen 
wird, ist die Berechtigung zu einem solchen Vorgehen in unzwei- 
deutiger Weise und mit Evidenz nachzuweisen; d. h. es ist zu 
zeigen, dals durch die Einführung dioptrischer oder katoptrischer 
Instrumente, welche bei einem Versuch etwa stattgefunden hat, 
das Resultat unmöglich vorgetäucht worden sein kann. 


Wir wissen uns hier im Einklang mit Hrrıng, welcher bereits in seinen 
„Beiträgen zur Physiologie“ die energische Forderung aufstellt, dafs „alle 
Gläser und Instrumente“ — es handelt sich hier um stereoskopische Ver- 
suche — womöglich zu vermeiden sind. Selbst HermHorrz liefs sich, wie 
Hırregrann (Zeitschr. f. Psychol. 5) gezeigt hat, in einem wichtigen Falle 
durch eine dioptrische Vorrichtung täuschen. 


14 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Allein auch Herme und seine Schüler konnten die Einführung eines 
katroptrischen Hilfsmittels nicht umgehen, als sich subtilere stereoskopische 
Probleme erhoben. Es läfst sich aber zeigen, dafs die durch Versilberung 
hergestellten Spiegel, welche beim Haploskop zur Verwendung kommen, 
eine Verzeichnung nicht hervorbringen können. Aber schon, wenn man 
diese Spiegel nur darch gewöhnliche Glasspiegel ersetzen wollte, würden 
die Versuchsbedingungen erheblich an Durchsichtigkeit verlieren. Die 
Dicke des vorderen Mediums des Spiegels und die inneren Reflexionen bei 
schief einfallenden Strahlen können hier nicht mehr vernachlässigt werden. 
Jeder schief auffallende Strahl wird in mehrere reflektierte zerlegt, und die 
Größe der hieraus resultierenden Verzeichnung ändert sich mit der Neigung 
des Auges gegen die Spiegelebene einerseits, mit dem Winkel der ein- 
fallenden Strahlen andererseits. Es ist offenbar, dafs man bei der Inter- 
pretation von Versuchen, namentlich dann, wenn mit verschiedenen Kon- 
vergenzzuständen beobachtet wird, immer an die Möglichkeit einer Mit- 
wirkung jener Fehlerquelle denken mülste; die Querdisparation ist ja so 
empfindlich, dafs uns das Stereoskop in der Gegenwart auf weiten Gebieten 
gewissermalsen als Mikroskop für untermerkliche Unterschiede dient; 
zur Enthüllung von Fälschungen, zur Ermittlung von Wandelsternen auf 
Himmelsphotographien, zum Studium der Veränderung von Sonnenflecken, 
zur Feststellung der Verschiebung von Spektrallinien usw. 


Indes der Verwendungskreis so einfacher katoptrischer In- 
strumente dürfte nur ein beschränkter sein. Die Einführung 
dioptrischer Hilfsmittel läfst sich, wie es scheint, in gewissen Ge- 
bieten schwer umgehen. Die Einstimmigkeit der gewonnenen 
Resultate kann unter Umständen genügen, eine solche Methode 
nachträglich zu rechtfertigen. 

Allein in gewissen Untersuchungsgebieten lassen sich doch 
Methoden von einer solchen Beschaffenheit ausfindig machen, 
dafs man nicht erst auf das nachträgliche Kriterium der Ein- 
stimmigkeit angewiesen ist, sondern dafs man von vornherein, 
und zwar ohne Konstruktion des Strahlengangs,! versichert sein 
kann, dafs die Einführung eines dioptrischen Hilfsmittels in einer 
von zwei Konstellationen für die in beiden Konstellationen auf- 
tretenden Unterschiede nicht verantwortlich zu machen sei. 

Ein solcher Fall liegt bei unserer Untersuchung vor. 

Wir befassen uns also nun mit der Rechtfertigung der Ab- 
weichung von dem eingangs aufgestellten Prinzip bei Unter- 
suchungen, deren Experimente sich mit Prüfung der Sehschärfe 
unter verschiedenen Umständen beschäftigen. 

! Diese kann zwar fast stets ausgeführt werden, ist aber auch nicht 


sehr befriedigend, wenn, wie in unserem Gebiete zumeist geschieht, mit 
approximativen Formeln gearbeitet wird. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 15 


Gegeben sei ein Objekt, welches zunächst mit unbewaffnetem 
Auge betrachtet wird. Wir bringen nun vor das Auge ein so- 
gleich näher zu charakterisierendes optisches System. Es genügt 
zu wissen, dafs das Instrument eine Steigerung der Helligkeit 
des Netzhautbildes in allen seinen Teilen nicht hervorbringt. 
Diese Frage läfst sich in gewissen Fällen mit Bestimmtheit be- 
antworten. Ferner ist noch erforderlich, dals die Gröfsenände- 
rung, welche das Instrument etwa hervorbringt, so geringfügig 
sei, dals sie von der Vp., wenn sie in die Lage versetzt wird, 
die Netzhautbilder direkt miteinander zu vergleichen, ! nicht be- 
merkt wird — ein Nachweis, der übrigens in vielen Fällen gar 
nicht vonnöten sein wird. 


Zeigt sich nun, dafs bei derjenigen. der beiden Konstel- 
lationen, bei welcher das System vorgesetzt wird, wobei der Vor- 
aussetzung nach die Helligkeit des Netzhautbildes nicht ge- 
steigert, seine Grölse nicht geändert wird, die Sehschärfe stets, 
und in ausgedehnten Bezirken des Sehfeldes bzw. der Netzhaut, 
erhöht ist, dann läfst sich mit Stringenz der Schluls ziehen, dafs 
diese Steigerung der Sehschärfe nicht auf rein physikalischem 
Wege, durch eine physikalische Änderung des reellen Bildes im 
Auge, zustande gekommen sei. Würde sich freilich eine Er- 
höhung der Sehschärfe nicht in ausgedehnten Bezirken, sondern 
nur an einer einzelnen Stelle des Gesichtsfeldes finden, so könnte 
dies auch bei unveränderter Helligkeit und im allgemeinen un- 
veränderter Bildgröfse lediglich in geometrisch-optischen Verhält- 
nissen begründet sein, etwa in einer lokalen Verzeichnung, durch 
welche der Abstand zweier Punkte vergröfsert wird. 


Im erstgenannten Falle dagegen muls die bei Vorsetzung 
des Glases eintretende Steigerung der Sehschärfe auf die Wirk- 
samkeit eines psychologischen oder eines physiologischen Faktors 
— die von AUBERT angenommene Netzhautzerrung würde ja ein 
solcher sein — zurückgeführt werden. Welcher Art dieser Faktor 
ist, wäre dann besonders zu untersuchen. 


Vorausgesetzt ist hierbei natürlich, dafs das Auge in beiden 
Konstellationen, also auch bei Betrachtung ohne Vorsetzung eines 


! Wie eine solche direkte Vergleichung der Netzhautbilder möglich 
ist, werden wir unten sehen. Hier setzen wir diese Möglichkeit einfach 
voraus. 


16 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


optischen Systems richtig akkommodiert, nötigenfalls mittels einer 
Brille korrigiert! sei. 

Ganz anders steht es mit der Sicherheit unserer Schlüsse in 
dem Falle, in welchem bei Vorsetzung eines Systems die Seh- 
schärfe herabgesetzt wird. 


In dem vorigen Falle beruhte die Stringenz unserer Schlüsse 
darauf, dafs bei Vorsetzung eines Systems die Sehschärfe nur 
durch eine begrenzte und bekannte Zahl von Faktoren — näm- 
lich durch deren zwei, durch Änderung von Helligkeit oder Netz- 
hautbildgröfse — eine auf das ganze Sehfeld bezügliche Erhöhung 
erfahren kann. Ist es dem Experimentator möglich, die beiden 
Fragen nach einer etwaigen Helligkeits- oder Gröfsenänderung 
des Netzhautbildes in befriedigender Weise zu beantworten, so 
kann er versichert sein, dafs die Erhöhung der Sehschärfe nicht 
auf eine physikalische Änderung des reellen Bildes im Auge 
zurückzuführen ist.? 


Liegt hingegen der umgekehrte Fall vor, ist die Sehschärfe 
bei vorgesetztem System herabgesetzt, so läfst sich, auch wenn 
experimentell gezeigt werden kann, dafs die von dem System 
bewirkte Helligkeits- und Gröfsenänderung unmerklich ist, doch 
niemals mit gleicher Stringenz schlielsen, dafs nicht doch eine 
Änderung des reellen Bildes für die Veränderung der Sehschärfe 
verantwortlich sei. War das Auge zuvor richtig akkommodiert, 
so kann eine Erhöhung der Sehschärfe durch Beeinflussung des 
reellen Bildes nur auf zweifache Weise stattfinden. Die Zahl 
der Faktoren, welche eine Herabsetzung der Sehschärfe bewirken 
können, ist prinzipiell unbegrenzt. Leichte diffuse Trübungen 
des Mediums, zu gering, als dals sie sich durch eine merkliche 
Herabsetzung der Helligkeit verrieten, nur durch die Beein- 
flussung der Sehschärfe konstatierbar, minimale, gleichfalls nur 
auf diesem Wege feststellbare Verzeichnung des gesamten Seh- 
feldes, seien nur als Beispiele genannt. Um daran zu erinnern, 





! Die bisherigen Erörterungen lassen sich natürlich sämtlich auf diesen 
Fall übertragen; es ist nur an Stelle des Ausdrucks „Betrachtung mit un- 
bewaffnetem Auge“ „Betrachtung mit der Brille* und an Stelle von „Vor- 
setzung eines Systems“ „Hinzufügung eines Systems zur Brille“ zu setzen. 

®2 Wir bevorzugen mit Absicht den Ausdruck „das reelle Bild im Auge“, 
Die Behauptung, dafs in dem genannten Falle das „Netzhautbild“ unver- 
ändert bleibe, könnte einem naheliegenden Mifsverständnis begegnen. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-F'oersterschen Gesetzes. 17 


dals auch Faktoren ganz anderer Art wirksam sein können,! sei 
noch betont, dafs der Apparat dem Auge eine so bedeutende 
Akkommodationsanstrengung zumuten oder die Korrespondenz 
zwischen Akkommodation und Konvergenz in so hohem Malse 
stören kann, dafs die Akkommodation etwas von ihrer Genauig- 
keit einbülst. 

Freilich wird man auch in diesem zweiten Falle durch vor- 
sichtige Erwägung aller möglichen Fehlerquellen zu Schlüssen 
von sehr hoher Wahrscheinlichkeit, wenn auch im allgemeinen 
kaum zu solchen von absoluter Stringenz, wie im ersten Falle, 
gelangen können. 

Falls diese Erörterungen wirklichkeitsfremd und haarspaltend 
erscheinen, so möge zur Entschuldigung dienen, dafs ich mit 
Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, welche derartige, dem Autor 
selbst nicht angenehme, Erwägungen nötig machen. 

Bei der Erweisung unserer Hauptthese werden wir uns nur solcher 
Methoden bedienen, welche den ersten der beiden hier bezeichneten Fälle 
verwirklichen. Eine Methode, welche der zweiten Klasse zuzurechnen ist, 
wird erst an sehr viel späterer Stelle zur Verwendung kommen, wenn zu 


untersuchen sein wird, welchen Einschränkungen der Gültigkeitsbereich des 
A.F.G. etwa unterworfen ist. 


b) Nachdem wir uns über die allgemeinsten Vorsichtsmals- 
regeln, die bei unseren Versuchen einzuhalten sind, orientiert 
haben, können wir die experimentelle Analyse des A. F. G. be- 
ginnen. 

Der einzige primäre physiologische Unterschied, welcher sieh 
in den so verschiedene Resultate liefernden Versuchsbedingungen 
findet, ist in der Tat der verschiedene Akkommodationszustand 
des Auges. Er ist die Ursache für ein angeblich verschiedenes 
Verhalten der peripheren Akkommodation, für die behauptete 
Netzhautverschiebung und die Gröfsenänderung der Pupille. 

Ein einfacher Versuch gestattet, den gemeinsamen Grund- 
gedanken der genannten drei Hypothesen auf seine Haltbarkeit 
zu prüfen. Ist der verschiedene Zustand der Linse in den Ver- 
gleichsfällen die Ursache des Phänomens, so mufs dasselbe aus- 


1 Ich selbst habe mit allen diesen Schwierigkeiten bei anderer Ge- 
legenheit sattsam zu kämpfen gehabt. Aus diesem Grunde suchte ich bei 
dieser Untersuchung mein Vorgehen durch eine feste Maxime, das obige 
Prinzip, zu regeln. 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. 1V. 2 


18 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


bleiben, wenn sich bei einer Wiederholung der Versuche auf 
irgend eine Weise erreichen läfst, dafs die Linse in den Vergleichs- 
fällen die gleiche Gestalt besitzt. 

Besitzt die Linse des Auges in den Vergleichsfällen die 
gleiche Gestalt, so fällt der einzige Umstand hinweg, welcher 
Dehnung der Netzhaut bewirken könnte; ebenso vermag sich 
die Linse in einem der Vergleichsfülle nicht stärker abzuflachen 
als in einem anderen, wenn sie in allen diesen Fällen vor Ein- 
tritt der peripheren Akkommodation die gleiche Gestalt besitzt. 
Ferner kann man sich bei gleichen Akkommodationszuständen 
nicht mehr auf die Gröfse des Pupillendurchmessers berufen. 
Endlich kommt hier wegen der Gleichheit des Zustandes der 
Augenlinse in den verglichenen Konstellationen der gegenüber 
dem „2. Auserrtschen Versuche“ (vgl. S. 7) noch mögliche 
Einwand in Wegfall, die physiologischen Bedingungen für das 
Auftreten einer Augenbewegung könnten bei Konvergenz für die 
Nähe günstiger sein als bei Konvergenz für die Ferne, nun seien 
aber auch bei einäugiger Beobachtung den verschiedenen Ak- 
kommodationsgraden die entsprechenden Konvergenzzustände 
assoziiert. 

Zeigt sich das von A. und F. entdeckte Phänomen auch bei 
dieser Modifikation der Versuche, und läfst sich — ein Umstand, 
der von Wichtigkeit ist — aufserdem zeigen, dafs jenes Phänomen 
nicht etwa durch eine mit der neuen Versuchsanordnung ein- 
geführte Fehlerquelle nur vorgetäuscht werde, so ist die Unhalt- 
barkeit jener drei Hypothesen erwiesen. 

Wir werden nun bei der Wiederholung jener Versuche das 
grofse Objekt in einer 440 cm,! das kleine in einer 44 cm vom 
Auge entfernten Ebene aufstellen. 

Erfolgt die Fixation des 440 cm entfernten Fixierzeichens 
mit unbewaffnetem Auge, so mufs bei der Fixation des 44 cm 
entfernten ein solches Brillenglas vorgesetzt werden, dals der 
Akkommodationszustand der Linse des Auges derselbe ist, wie 


! Dies ist die gröfste Distanz, welche die mir zur Verfügung stehenden 
Raumverhältnisse zulassen. Je gröfser die Zahl ist, welche das Verhältnis 
des größeren Abstandes zum kleineren angibt, um so ausgeprägter erwies 
sich ja bei der bisherigen Untersuchungsmethode das AUBERT-FOERSTERSChe 
Phänomen, und um so beweiskräftiger wird voraussichtlich auch der Aus- 
fall der modifizierten Versuche sein, gleichgültig, ob sich hierbei die Er- 
scheinung gleichfalls zeigt, oder ob sie ausbleibt. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 19 


bei Betrachtung eines 440 cm entfernten Punktes mit unbewaff- 
netem Sehorgan. Unsere nächste Aufgabe besteht also in der 
Ermittlung der Linse, welche diese Forderung erfüllt. 


c) Die Methode, deren wir uns bei der Wahl der Linse be- 
dienen werden, fulst auf der Tatsache, dafs der Akkommodations- 
zustand in beiden Augen stets der gleiche ist, natürlich unter 
der Voraussetzung, dafs nicht gerade ein Fall von Anisome- 
tropie vorliegt. 

An der Sicherheit dieses Ausgangspunktes besteht kein Zweifel. Der 
angeführte Satz wurde auf Grund gewisser Beobachtungen zuerst von Dox- 
DERS! und Herme? aufgestellt. Wurde dieser Satz in der Folgezeit auch 
mehrfach bezweifelt, so richteten sich doch die Angriffe nicht gegen die 
Behauptung, dafs die Akkommodation natürlicherweise symmetrisch inner- 
viert werde, sondern nur gegen die weitergehende These, dafs dieser sym- 
metrische Zusammenhang auch auf dem Wege des Zwanges durch Ein- 
führung von Versuchsbedingungen, welche zum Zwecke des Deutlichsehens 
eine Verschiedenheit der Akkommodation beider Augen nötig machen 
würde, nicht gelöst werden könne. Da bei unserer Methode lediglich das 
ungezwungene Verhalten benutzt werden wird, eine äulsere Nötigung nicht 
stattfindet, so ist der Ausgang der Kontroverse für uns eigentlich von ge- 
ringem Interesse. Indes dürfte die Bemerkung nicht ganz überflüssig sein, 
dafs die strenge Allgemeingültigkeit des Satzes, dem zuerst von Womow 
und SCHNELLER, neuerdings besonders eifrig von A. E. Fıck ° widersprochen 
wurde, jetzt von Hess* in einwandfreier Weise erwiesen worden ist. 


Das Prinzip der Methode, deren wir uns bedienen wollen, 
besteht in folgendem. 


Zwei Spiegel werden in einem spitzen Winkel, gegeneinander 
symmetrisch in bezug auf die Medianebene, aufgestellt; jeder 
derselben wendet seine polierte Fläche einem Auge der davor- 
sitzenden Versuchsperson zu. Rechts von der Medianebene steht 
eine Sehprobe, deren Spiegelbild der Beobachter mit dem rechten 
Auge betrachtet. Bei der Aufstellung der Sehprobe ist die 
Forderung mafsgebend, dafs die Entfernung des virtuellen Bildes 
vom Knotenpunkte des rechten Auges 44 cm beträgt. Ebenso 
betrachtet das linke Auge mit Hilfe des anderen Spiegels eine 


ı Donpers, Anomalien der Refraktion und Akkommodation, 1866. 

® Hering, Die Lehre vom binokularen Sehen. Lpz. 1868. 

3 Arch. f. Augenheilk. 19, S. 123. 1888. Arch. f. Ophthalm. 38, S. 204. 
1892. Festschr. f. Rıcuarn FOERSTER. 


4 Arch. f. Ophthalm. 41 u. Handb. d. Augenheilk. 1. c. S. 460f. 
2* 


20 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-F'oersterschen Gesetzes. 


links von der Medianebene aufgestellte Sehprobe, deren Spiegel- 
bild 440 cm vom linken Auge entfernt ist. Der leichteren Ver- 
gleichbarkeit wegen wurde dafür Sorge getragen, dafs beide Seh- 
proben unmittelbar nebeneinander im Gesichtsfeld erschienen. 
Aus dem gleichen Grunde wurden geometrisch ähnliche Sehproben 
verwandt, deren Gröfse sich annähernd wie 1:10 verhielt, und 
die also, weil im Gesichtsfeld unmittelbar aneinanderstofsend, 
auch grölsengleich erschienen. 


Beide Sehproben befinden sich auf weilsem Grund. Infolge 
des Sieges der Konturen über einen neutralen Grund erscheinen 
die Buchstaben, vorausgesetzt, dafs für richtige Akkommodation 
gesorgt wird, deutlich. Die Bogen sind von je einer Lampe be- 
leuchtet, deren direkte Strahlen von den Spiegeln, bzw. vom 
‚Auge der Vp., durch einen dazwischen gestellten Schirm abge- 
halten werden. 

Ich stellte nun der Vp. die Aufgabe, auf die linksbefindliche 
ferne Ziffer (eine „5“) zu akkommodieren. Da die Akkommodation 
in beiden Augen die gleiche ist, so erscheint alsdann das Spiegel- 
bild der rechtsbefindlichen nahen Ziffer in Zerstreuungskreisen. 
Der Forderung konnte von sämtlichen Versuchspersonen mit 
normalen Augen mühelos entsprochen werden. 


Setzt man nun vor das rechte Auge eine sehr schwache 
Konvexlinse, so wird die Deutlichkeit der rechtsgelegenen Ziffer 
ein wenig erhöht, während die links befindliche nach wie vor 
in voller Klarheit erscheint, da die Vp. das Bestreben, die linke 
Zahl deutlich zu sehen, während des ganzen Versuches beizu- 
behalten hat. Auch dieser Aufgabe wurde mühelos entsprochen. 
Ich verschaffte mir nun die Kollektion der Konvexlinsen inner- 
halb des Intervalles von 0,25 bis 2,75 D. Ich hielt nun eines 
der Gläser dicht vor das rechte Auge der Vp. und forderte von 
ihr möglichste Einprägung des Bildes, wozu ich ihr hinreichend 
Zeit liefs. Nach der Wiederentfernung des Glases vom Auge 
wurde so rasch wie möglich eine andere Linse des Intervalls 
vorgesetzt, und die Frage gestellt, in welchem der beiden Fälle 
die rechtsstehende Ziffer deutlicher gewesen sei. Schon nach 
wenigen dieser paarweisen Darbietungen zeigte sich die Lage des 
kritischen Punktes, indem eine ganz bestimmte Linse stets als 
die günstigere gegenüber allen mit ihr verglichenen bezeichnet 
wurde; dieses etwas primitive Verfahren erwies sich darum als 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 21 


völlig ausreichend, weil sich von den vier Vpn.! drei (H. Prof. 
MÜLLER, JAENSCH, K. ScHAPER) bei noch so häufiger Darbietung 
in den verschiedensten Kombinationen stets, und zwar von An- 
fang an, für eine einzige Linse entschieden, während die Vp. 
Herıne im Anfang von zwei in der Kollektion benachbarten 
Linsen bald die eine, bald die andere für die günstigere er- 
klärte, bei weiteren Vorführungen aber, innerhalb welcher auch 
das Paar der strittigen Gläser unwissentlicherweise immer wieder- 
kehrte, mit ausnahmsloser Konstanz ein bestimmtes Glas bevor- 
zugte. Die Linse nun, für welche sich die Vpn. entschieden, 
war in allen vier Fällen die gleiche; ihre Stärke betrug 1,75 D. 
Diese Uebereinstimmung erklärt sich, gleich der grolsen Konstanz 
der Urteile, daraus, dafs es sich um eine Ermittelung wesentlich 
physikalischer Natur handelt. Einige Einzelheiten der Versuchs- 
anordnung mögen noch Erwähnung finden. 

Die Vp. nimmt vor einem Tische Platz. Für gleichbleibende 
Kopfhaltung wird Sorge getragen einerseits durch eine Kinn- 
stütze; da diese auch bei festaufgelegtem Kinn noch Drehungen 
des Kopfes in sagittaler Richtung gestattet, so wird seitlich von 
der Vp. eine Spitze aufgestellt, welche ein- für allemal mit dem 
Irisrand scheinbar zusammenfallen muls, wenn der seitlich stehende 
Versuchsleiter das Auge der Vp. von einem Punkte aus be- 
trachtet, der in der Ebene der Iris der Vp. liegt. Von dem 
(stets zuverlässigeren) Schellackgaumen wird darum hier abge- 
sehen, weil aufserordentlich geringe Kopfbewegungen, welche 


! Die Vpn. Herıns (Kandidat des höheren Lehramts), JAEnscH, K. SCHAPER 
sind Emmetropen. Herr Prof. MüLLer, der Myop ist, trug seine „Fernbrille“. 
Auch seine Augen waren also für die ferne Ziffer akkommodiert. — Was die 
Isometropie betrifft, so läfst sich ihr Vorhandensein mittels der gleichen 
Versuchsanordnung leicht feststellen. Ist die Entfernung der rechten Ziffer 
vom rechten Auge dieselbe wie die der linken Ziffer vom linken Auge, so 
sieht der Isometrop beide Ziffern gleich deutlich; der Anisometrop nimmt 
einen Unterschied in der Schärfe wahr, welcher durch Vorsetzen eines 
Glases vor ein Auge verringert bzw. aufgehoben wird. Zwei Versuchs- 
personen mufsten wegen Anisometropie ausgeschieden werden. Eine der- 
selben wurde auf diesem Wege zum ersten Male auf ihre Anomalie auf- 
merksam. — Herma, JaEnscH, K. ScHarEr sind Isometropen und Emme- 
tropen, was bei J. auch durch augenärztliche Untersuchung bestätigt ist. 
Bei Herrn Prof. M. ist die Anisometropie, falls überhaupt vorhanden, nur 
geringfügig; er trägt, entsprechend dem Ergebnisse einer vor relativ nicht 
langer Zeit geschehenen augenärztlichen Untersuchung, gleiche Brillengläser. 


22 I. Abschnilt. Experimentelle Analyse des Aubert-F'oersterschen Gesetzes. 


keine der beiden in Betracht kommenden Entfernungen merk- 
lich ändern, zuweilen sehr dienlich sind, um die beiden Spiegel- 
bilder im Gesichtsfeld zur unmittelbaren räumlichen Benach- 
barung zu bringen. Denn um die Geduld der Vp. nicht auf 
eine zu harte Probe zu stellen, hatte der Vl. die Objekte zuvor 
so eingestellt, dafs sie für seine Augen im Gesichtsfeld unmittel- 
bar aneinanderstiefsen. Die Einstellung gilt dann für jede andere 
Vp. nur nahezu; denn kleine Differenzen ergeben sich mit 
geometrischer Notwendigkeit aus dem Umstand, dafs die Pupillen- 
distanz bei verschiedenen Individuen nicht gleich ist.! 

Da aufser der Benachbarung der beiden Spiegelbilder nur 
eine bestimmte Entfernung derselben von den bezüglichen Augen 
gefordert wird, so muls über den Ort, an welchem das Objekt 
erscheinen soll, zum Zwecke der Konstruktion eine willkürliche 
Festsetzung getroffen werden. Die Vp. wird die Objekte am 
ungezwungensten betrachten und vergleichen können, wenn die- 
selben in unmittelbarer Nachbarschaft der Medianebene er- 
scheinen. Da kleine Verschiebungen durch sehr geringfügige 
Kopfbewegungen immer auftreten, der Fall, dafs sich die virtuellen 
Bilder bei einer bestimmten Aufstellung dauernd decken werden, 
also nicht zu befürchten ist, so treffen wir die Festsetzung, dafs 
beide Bilder in der Medianebene erscheinen sollen. 

Damit die Spiegel auf einem über der Tischplatte in Augen- 
höhe der Vp. angebrachten Podium stehen konnten, wurden auf 
der Rückseite der Spiegel an ihrem unteren Ende Klötzchen 
aufgeleimt. 


P' 


` 
` 
` 


I / ! 

1, 4: 

Fi ` i 

Fig. 1. Ë N 
Fig. 2. 


Die Linie, in weleher die Medianebene das Podium, weiter- 
hin die Tischplatte, dann den Fufsboden schneidet, wurde auf 
dem Podium durch einen kleinen Bleistiftstrich, ferner auf Tisch- 


1 Bei Strabismus gilt natürlich diese Einstellung nicht einmal an- 
nähernd. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 23 


platte und Fu/sboden durch einen Kreidestrich bezeichnet (s, in 
Fig. 2). Zunächst wird der linke Spiegel in einem spitzen, 
übrigens beliebigen Winkel zu der soeben gezogenen Bleistift- 
linie so aufgestellt, dals sein vorderes Ende in diese Linie fällt. 
Hierauf deuten wir die Verlängerung des unteren horizontalen 
Spiegelrandes auf Tisch und Fu/sboden abermals durch einen 
Kreidestrich an (8). 

Das virtuelle Bild des linken Objektes soll in der Median- 
ebene in einer Entfernung von 440 cm von der Vp. liegen. 
Diese Stelle liegt demnach auf einem auf dem Fufsboden er- 
richteten Lote, dessen Fulspunkt P! von dem durch den Schnitt- 
punkt der unteren Spiegelkanten bestimmten Anfang der Linie s, 
440 cm entfernt ist. Wo muls das Objekt P liegen, damit sein 
Bild in das über P! errichtete Lot falle? Die Antwort lautet: 
in den in bezug auf die Verlängerung der Spiegelebene zum 
Bildpunkt symmetrischen Punkt. Wir ziehen also in der Ebene 
des Fufsbodens von P! aus das Lot auf die Linie s, und ver- 
längern dasselbe über den Schnittpunkt hinaus um sich selbst. 
So gelangen wir zum Punkte P, den wir gleichfalls bezeichnen. 
Senkrecht über diesem, in Augenhöhe der Vp., muls das Objekt 
angebracht werden, soll sein Spiegelbild die vorgeschriebene Lage 
besitzen. 

Die Genauigkeit der Konstruktion prüfte ich, indem ich den 
Spiegel durch eine im übrigen ganz gleichartige unbelegte Glas- 
platte ersetzte. Wurde die dem Auge abgewandte Seite der 
Glasplatte leicht behaucht, so fiel das Spiegelbild des schmalen 
senkrecht über P angebrachten Objektes mit einem in P’ vertikal 
aufgestellten, durch die Platte hindurch gesehenen Stabes zu- 
sammen. 

Die Aufstellung des rechts gelegenen Objektes konnte auch 
mittels des entsprechenden Versuches erfolgen. Eine zweite un- 
belegte Glasplatte wird in bezug auf die Medianebene zur ersten 
Platte symmetrisch aufgestellt. Nehmen wir einen Augenblick 
an — wir werden das Recht zu dieser Annahme erweisen (S. 24) — 
das rechte Auge sei der Oberfläche des rechten m 
Spiegels nicht nur sehr nahe, sondern falle mit 
einem Punkte derselben zusammen, so wird der 
Forderung, dafs das Spiegelbild 44 cm vom Auge 
entfernt erscheine, stets dann genügt, wenn das <2 
Objekt auf einem um das Auge (4) mit dem Fig. 3. 





24 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-F'oersterschen Gesetzes. 


Radius 44 cm geschlagenen Kreise liegt. Der Kreis wurde auf 
dem Podium konstruiert. Das an einem Ständer angebrachte 
Objekt wurde senkrecht über dem Kreise und längs desselben 
verschoben, bis das Objekt mit dem Stabe und dem Spiegelbilde 
des linken Objektes zusammenfiel. Nun lag auch das Spiegel- 
bild des rechten Objektes annähernd in der Medianebene. Die 
unbelegten Glasplatten konnten jetzt wieder durch die Spiegel- 
scheiben ersetzt werden. 

Ermittelte ich nun die Lage der Spiegelbilder, indem ich in 
. der obigen Weise vom Fufspunkte des Objektes aus ein Lot auf 
die Verlängerung des Spiegels fällte und dasselbe um sich selbst 
verlängerte, so war der so erhaltene Punkt nur um wenige 
Millimeter von der Medianebene entfernt, und seine Entfernung 
vom Auge des Beobachters betrug etwa 45 em anstatt 44 cm. 
Dafs diese Differenz, an der unsere vereinfachende Annahme 
vom Hineinfallen des Auges in die Spiegeloberfläche mit Schuld 
trägt, keine Fehlerquelle darstellt, wird sich zeigen. Die Differenz 
ist darum klein, weil ich die Augen so nahe wie möglich an die 
Spiegeloberfläiche herangebracht hatte. Sehr annähernd die 
gleiche Stellung nahmen die Augen der anderen Vpn. ein, da 
bei ihnen der seitlich aufgestellten oben erwähnten Spitze der 
gleiche Standort zugewiesen worden war. Die Differenz wurde 
übrigens bei allen Vpn., mit Ausnahme des Herrn Prof. M., nach 
Vollzug der (etwas umständlichen) Kontrolle durch entsprechen- 
des Näherrücken des rechten Objektes ausgeglichen. Hierauf 
wurde die Linsenwahl nochmals auf ihre Richtigkeit geprüft. 


War die Linse bei bestimmter fester Aufstellung der Objekte gewählt 
worden, so wurde noch ermittelt, wie weit das rechts gelegene Objekt, unter 
andauernder Fixation des links gelegenen, dem Spiegel genähert, und wie 
weit es von ihm entfernt werden konnte, ohne unscharf zu werden. Es 
ergab sich, dafs die Grenzpunkte folgende Abstände von der Vp. hatten. 
Bei Annäherung: 

421), (H. Prof. MüLuer), 41 (Hering, K. ScHArer), 40 (JaeNscH); 
bei Entfernung: 

47 (Jaensch), 47'/; (H. Prof. Mürrer), 48 (K. Scmarer), 49 (Herme). 
Auch wenn die Differenz nicht ausgeglichen worden wäre, so würde also 
der Zustand der Linse doch derselbe sein, wie in dem eigentlich zu unter- 
suchenden Falle. 


Unsere Versuchsanordnung nötigt zu dem ganz bestimmten 
Akkommodationsaufwand für die Entfernung von 440 cm; ebenso 
ist durch die feste Aufstellung beider Objekte ein ganz bestimmter 


—ı I —_NıIcT l m Ti ! 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 25 


Konvergenzaufwand vorgeschrieben. Aus den Beobachtungen 
mittels der unbelegten Glasplatten geht hervor, dafs, wenn die 
Augen nach dem in der Entfernung von 440 cm aufgestellten 
Stabe konvergierten — dieser selbe Konvergenzaufwand ist ja 
bei dem eigentlichen Versuch mit der durch die Versuchsum- 
stände geforderten Akkommodation assoziiert — dafs alsdann das 
Spiegelbild des linken Objektes auf die Richtungslinie des linken 
Auges, das des rechten Objektes auf die Richtungslinie des 
rechten Auges fiel. Es besteht also keine Diskrepanz zwischen 
der durch die Versuchsumstände direkt geforderten Konvergenz 
und derjenigen, welche mit der direkt geforderten Akkommo- 
dation assoziiert ist. 

Dieser Umstand ist darum von Wichtigkeit, weil die Lösung des natür- 
lichen Zusammenhangs zwischen Akkommodation und Konvergenz manchen 
Individuen nur innerhalb enger Grenzen gelingt, oder doch wenigstens 
unangenehme Empfindungen verursacht, welche den Urteilsvorgang un- 
günstig beeinflussen können. Die letzte Art der Störung machte sich bei 
mir bei zu grofser Diskrepanz geltend. Um für den Vergleichsvorgang die 
möglichst günstigen Bedingungen herzustellen, wurde die eben geschilderte 
Versuchsanordnung gewählt, welche sonst, namentlich was die Aufstellung 
des näheren Objektes betrifft, etwas umständlich erscheinen könnte. Hierzu 
kam freilich noch ein anderer, sogleich zu erwähnender Grund. 


Diese Versuchsanordnung gestattete mit einer geringen 
Modifikation auch die Linsenwahl bei Herrn Prof. M., für den 
die Sehproben wegen seines bei gewissen Blickrichtungen hervor- 
tretenden Strabismus durch einen weiten Abstand getrennt er- 
schienen, wenn sie für normale Augen zur unmittelbaren Nach- 
barschaft gebracht worden waren. War die Sehprobe der rechten 
Seite in der Regel fest aufgestellt, so wurde sie nun an einem 
kleinen Ständer befestigt, welcher von dem Beobachter selbst 
längs des für die Lage der Sehprobe geforderten geometrischen 
Ortes, des um das Auge mit einem Radius von 44 em ge- 
schlagenen Kreises, solange bewegt werden konnte, bis der 
horizontale Abstand hinreichend klein geworden war. Wurde 
rechts, wie auch sonst stets, nur eine Sehprobe angebracht, so 
war die rechte Sehprobe von der der linken Seite nun immer noch 
durch einen erheblichen Abstand in vertikaler Richtung getrennt. 
Dieser Übelstand liefs sich dadurch beseitigen, dafs an dem ver- 
schiebbaren Ständer nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe 
senkrecht übereinander stehender gleicher Sehproben angebracht 
wurde. Irgend eine dieser Sehproben erschien dann in gleicher 


96 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Höhe wie die Sehprobe der rechten Seite und konnte mit ihr 
verglichen werden. 

Die Versuchsanordnung wurde auch dazu benutzt, um den Satz von 
der Unabhängigkeit der Helligkeit des Gegenstandes von der Entfernung 
des Objektes nochmals nachzuprüfen. Anstatt der Sehproben befand sich 
rechts und links je eine mit schwarzem Papier überzogene Ebene. Diese 
Ebenen waren so aufgestellt, dafs ihre Verlängerungen mit denen der Spiegel 
dieselben Winkel bildeten. Auf jeder dieser Ebenen befand sich ein graues 
Quadrat; die Seiten der beiden Quadrate, welche im Gesichtsfelde neben- 
einander erschienen, verhielten sich wie 1:10. Die Beleuchtung war bei 
beiden die gleiche und erfolgte durch je eine Auerlampe, deren Lage relativ 
zu dem Quadrate in beiden Fällen die gleiche war. Auf gleichmäfsiges 
Brennen beider Lampen wurde geachtet. Direkt das Auge treffende 
Strahlen wurden durch je einen Schirm abgehalten. Beobachtete ich nun 
in derselben Weise wie zuvor, indem ich das rechte Auge mit 1,75 D be- 
waffnete, so konnte ich bei den unmittelbar nebeneinander erscheinenden 
Quadraten einen Helligkeitsunterschied in irgend einer Richtung nicht mit 
Sicherheit bemerken. In diesem Falle war für jedes der beiden Quadrate 
akkommodiert. 


d) Wir wiederholen nun den zweiten AuBErTschen Versuch 
mit der einen wesentlichen Modifikation, dafs wir im Falle des 
grolsen fernen Prüfungsobjektes zwar mit unbewaffnetem Auge 
betrachten, bei der kleinen, in der Nähe aufgestellten Versuchs- 
anordnung hingegen das beobachtende Auge mit der Linse 1,75 D 
versehen, welche bewirkt, dafs sich der Krümmungszustand der 
Linse gegenüber dem erstgenannten Falle nicht ändert. Dals 
wir nicht genau dieselben Entfernungen wählen, wie AUBERT, ist 
für den Ausfall der Versuche belanglos. 


Das Prüfungsobjekt — zwei schwarze Quadrate von der 
Seitenlänge 4,5 bzw. 45 mm und mit ebenso 
grolsem Abstand — ist auf einem grauen 
Karton (c) angebracht, welcher in vertikaler 
Richtung gegen die senkrecht unter der 
Mitte des Prüfungsobjektes angebrachte und 
während des Versuches zu fixierende Spitze (f) 
längs einer Stange (s) verschiebbar ist; die 
Verschiebung wird von der Vp. durch Ziehen 
an einer Schnur bewirkt; mittels der an dem 
Vorsprung (v) des den Karton tragenden 
Teiles angreifenden und über die Rolle (r,) 
laufenden Schnur wird der Abstand zwischen 


+ 





I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 27 


Prüfungsobjekt und Fixierpunkt verkleinert. Der Vergröfserung 
des Abstandes dient eine von v aus zur Rolle (r,) emporsteigende 
und von dort zur Rolle (r,) hinablaufende Schnur. 

Damit der Karton (c) dem Zuge in gleichmäfsiger Weise Folge leistete, 
mufste bei der grofsen Versuchsanordnung an der oberen freien Ecke 
mittels einer über die Rolle (r,) laufenden Schnur ein Gegengewicht an- 
greifen. 

Da nach dem A. F. G. das kleine nahe Objekt in betreff der 
peripheren Sehschärfe günstiger gestellt ist, als das grofse ferne, 
und da andererseits die periphere Sehschärfe mit Verstärkung 
der Beleuchtung zunimmt, so mufs bei unseren Versuchen die 
Beleuchtung des grofsen Kartons entweder gleich intensiv oder 
intensiver sein als die des kleinen nahen. Ergibt sich dann eine 
Differenz im Sinne unseres Satzes, so kann dieselbe nicht durch 
die Verschiedenheit der Beleuchtungsstärken hervorgerufen sein. 
Aus dem genannten Grunde wurde die grofse Versuchsanordnung 
in gröfserer Nähe des Fensters angebracht, während der die 
kleine Versuchsanordnung tragende Tisch unmittelbar daneben, 
aber vom Fenster etwas weiter entfernt aufgestellt wurde. Dafs 
die Beleuchtung des grolsen Kartons in allen seinen Teilen zu 
den in Betracht kommenden Tageszeiten mindestens ebenso 
intensiv war, wie die des kleinen Kartons, davon überzeugte ich 
mich, indem ich die Felder mittels zweier durchlochter Kartons 
betrachtete, deren Öffnung nur einen kleinen Teil des betreffen- 
den Feldes freigab.' Die Herstellung der Bogen in Breiten, 
welche sich gleichfalls wie 1:10 verhielten, stiefs auf technische 
Schwierigkeiten, weil hierbei entweder die Dimensionen der 
kleinen Versuchsanordnung zu winzig, oder die der grolsen zu 
schwerfällig wurden. Obwohl nun der kleine Karton in einer 
Breite von 15 cm, der grolse in einer Breite von 22,5 cm her- 
gestellt wurde, so wurde doch etwaigen auf die Verschiedenheit 
der Lichtzerstreuung in den Vergleichsfällen fulsenden Einwänden 
dadurch vorgebeugt, dals ein erheblicher Teil der ohnehin nur 
sehr wenig kontrastierenden Wand eine Einkleidung mit Papier 
von der Helligkeit des Kartons erfuhr. 


! Betrachtet man zwei an einer Wand in etwas verschiedener Ent- 
fernung vom Fenster angebrachte Papierstreifen, so läuft man infolge des 
ausgleichenden Einflusses der Gedächtnisfarbe Gefahr, den Unterschied 
ihrer Helligkeiten zu unterschätzen. 


98 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Die Kopfhaltung wurde bei H. Prof. M. und K. ScHAPER 
durch eine Kinnstütze, bei Hering und JaEnscH durch ein Gebils 
fixiert; vor jeder Runde und nach jeder Pause innerhalb der 
einzelnen Runden prüfte ich bei der kleinen Versuchsanordnung 
die Konstanz der Kopfhaltung, indem ich den Abstand zwischen 
dem Karton und der Ebene der Iris durch Anlegen eines Lineals 
und Beobachtung in der Ebene der Iris mafs!, eine Mafsnahme, 
die sich bei der fernen Versuchsanordnung wegen der Grölse 
aller hier in Betracht kommenden Dimensionen erübrigte. 


Selbstbeobachtungen der Vpn. H. Prof. MüLLer, Herıns und 
JaEnscu ergaben übereinstimmend, dafs die Zeit der Darbietung 
von wesentlichem Einfluls auf den Charakter des von den 
Quadraten erzeugten Eindrucks ist. Es war also nötig, die Zeit 
der Betrachtung festzulegen. 


Für jede Vp. wurde eine ihr bequem erscheinende Zeitdauer 
ermittelt, d. h. eine Zeit, die zur Aufnahme des Eindrucks und 
zur Fällung des Urteils ausreichte, ohne durch übergrolse Länge 
ermüdend zu wirken. Schlug das Metronom annähernd Sekunden, 
so war diese Zeit bei H. Prof. MÜLLER, JAEnSCH, SCHAPER gleich 
dem von vier Schlägen, bei Herme gleich dem von drei Schlägen 
begrenzten Intervall. Da die Quadrate infolge der erhöhten 
Empfindlichkeit der Netzhautperipherie für Bewegungen während 
der Bewegung erheblich früher erscheinen, und da andererseits 
der Vp. bei ihrer ohnehin nicht ganz leichten Aufgabe nicht 
noch die Mühe des Signalisierens aufgebürdet werden konnte, 
so achtete der Vl. auf den Moment, in welchem die Vp. eine 
Verschiebung beendet hatte, signalisierte zunächst den Beginn 
des Versuches durch Zuruf des Wortes „nun“ und begleitete 
alsdann vier bzw. drei Schläge des Metronoms durch lautes Mit- 
zählen. 

Um den Einflufs der Dauer der Darbietung etwas näher 
hervortreten zu lassen, seien einige Beobachtungen der Vpn. 
mitgeteilt. Bei „l“, sagt z. B. Herr Prof. MÜLLER aus, wird der 
Blick auf das Fixierzeichen geworfen; hierbei ist die Getrennt- 
heit noch deutlich. Beim zweiten Signal, bei welchem der Blick 
schon zur Ruhe gekommen ist, ist sie gleichfalls immer noch, 
bei „3“ fast immer noch unverkennbar; erst bei „4“ ist die Ge- 


1 Wo ich selbst als Vp. diente, erreichte ich die Konstanz durch 
Hinzufügung einer Stirnstütze. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 29 


trenntheit verschwunden. (Die Beobachtung bezieht sich auf den 
Fall, in welchem der Abstand zwischen dem Fixierpunkt und 
den Quadraten vergrölsert wird.) Das Urteil erfolgt nach dem 
bei „4“ erhaltenen Eindruck“.! 

Auch Vp. Herme hob spontan die starke Abhängigkeit der 
Erscheinung von der Darbietungszeit hervor. Beim ersten Auf- 
treten der Getrenntheit verschwände dieselbe im nächsten Augen- 
blicke wieder. Man müsse die Quadrate dem Fixierzeichen er- 
heblich nähern, bis sie von Bestand sei. Ich selbst hatte mir 
schon vorher Ähnliches notiert. 

Bei schwierigen Versuchen — Peripheriebeobachtungen sind 
stets hierzu zu rechnen — muls durch eine genaue Instruktion 
dafür Sorge getragen werden, dafs das innere Verhalten der Vp. 
ein eindeutig bestimmtes und konstantes ist. Die Instruktion 
kann in vielen Fällen endgültig erst dann gegeben werden, 
wenn man sich in Vorversuchen über die möglichen inneren 
Verhaltungsweisen orientiert hat. So machte z. B. Herr HERING, 
während der Vorversuche danach befragt, welches Bild sich ihm 
in dem Augenblicke, in welchem er das Urteil „soeben getrennt“ 
abgäbe, eigentlich darbiete, die Angabe, er sähe einen von 
dunklen Partien begrenzten weilsen Strich; ob aber diese dunklen 
Partien Punkte seien, d. h. ob jenseits der dunklen Stellen wieder 
heller Hintergrund liege, diese Frage sei nicht mit Bestimmtheit 
zu beantworten. Der Eindruck könnte auch von zwei schwarzen 
Flächen herrühren, die sich von dem Strich aus nach oben und 
nach den Seiten in unübersehbare Ferne erstrecken. 

Als nach einer anderen Einstellung innerhalb der Vorver- 
suche die Frage wiederholt wurde, war der Anblick dem zweier 
Halbinseln vergleichbar. Hier waren die seitlichen Teile des 
Hintergrundes schon deutlich sichtbar, aber oberhalb der Quadrate 
überwog der Eindruck der dunklen Masse. Freilich dürfte es 
nicht allzuviel ausmachen, ob sich die Vp. des einen oder des 
anderen, wenn sie sich nur stets des gleichen Kriteriums bedient. 
Allein aus den angeführten Beobachtungen sieht man bereits, 
dafs dieser Fall nicht notwendigerweise eintritt, wenn sich die 


! Wir kommen auf diese Beobachtungen später ausführlicher zurück. 
Schon hier sei hervorgehoben, dafs der rasche zeitliche Abfall nicht allein 
auf die erhöhte Empfindlichkeit für Bewegungen zurückgeführt werden 
kann, da der steilste Abfall nicht zwischen „1“ und „2“, sondern zwischen 
„3“ und „4“ zu liegen scheint. 


30 1. Abschnitt. E.cperimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Instruktion auf die Forderung der „Getrenntheit“ beschränkt, 
ohne das Bild, welches sich in allen Fällen darbieten soll, näher 
zu determinieren. Denn das zweitgenannte Kriterium war offen- 
bar strenger als das erste. 

Die Möglichkeit weiterer Eigentümlichkeiten des sich dar- 
bietenden Eindrucks geht aus Beobachtungen von Herrn Prof. 
MÜLLER hervor. Die Deutlichkeit und Eindeutigkeit der Er- 
scheinung ist nicht im entferntesten zu vergleichen mit der- 
jenigen bei direkter Betrachtung. Die Punkte brauchen durch- 
aus nicht gleich grofs zu erscheinen, auch können sie eine Höhen- 
differenz aufweisen. Ferner kommen Fülle vor, in denen ge- 
schwankt wird, ob nur zwei Punkte vorliegen, ob der eine der- 
selben noch einen eng benachbarten neben sich hat; einer der 
Punkte könnte auch, wie sich Herr Prof. MÜLLER ausdrückt, 
„ein Zwilling“ sein. 

Ich selbst endlich erblickte bei den ersten Versuchen im 
folgenden Umstande eine gewisse Schwierigkeit. Wenn ich die 
Punkte deutlich getrennt wahrnahm, so sah ich wohl den Zwischen- 
raum zwischen den beiden Quadraten als eine ununterbrochene 
Fläche, mulste aber die Möglichkeit offenlassen, dals eine feine 
Verbindung, wie z. B. ein Bleistiftstrich, den ich bei direkter 
Betrachtung sehr wohl bemerkt hätte, trotzdem vorhanden sei 
und übersehen worden sein könne. Wennin der Instruktion nur 
die subjektive Sicherheit betreffs der scheinbaren Getrenntheit 
gefordert, diejenige betreffs der wirklichen Getrenntheit da- 
gegen ausdrücklich als überflüssig bezeichnet wurde, so wird diese 
Malfsregel an späterer Stelle gerechtfertigt werden. 

Auf Grund dieser Beobachtungen wurde folgende Instruktion 
festgesetzt. Die gesuchte Stellung gilt als erreicht, wenn zwei 
getrennte Punkte eben gerade bzw. eben nicht mehr sichtbar 
sind. Gefordert wird, dafs sich die Punkte wirklich als Punkte, 
d. h. als kleine begrenzte Flächenstücke darstellen, welche all- 
seitig von hellerem Hintergrund begrenzt sind, sowie, dafs der 
trennende Streifen sicher nicht von irgend welchen Verbindungen 
unterbrochen erscheine. Gleichgültig aber ist, ob die Punkte als 
Quadrate erscheinen, und ob der von ihnen hervorgerufene Ein- 
druck überhaupt ihrer sonstigen objektiven Beschaffenheit ent- 
spricht. Abzusehen ist auch von allen Reflexionen darüber, ob 
der trennende Streifen nicht nur scheinbar, sondern auch in 
Wirklichkeit ununterbrochen ist. 


1. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 31 


Eine Häufung der Versuche besälse wenig Zweck, wenn sich 
die Vp. bei den späteren Einstellungen nicht von dem vorge- 
schriebenen Kriterium leiten liefse, sondern sich die Grölse des 
Abstandes zwischen Testobjekt und Fixierpunkt einfach merkte 
und den kritischen Punkt immer an derselben Stelle erwartete. 
Vp. Hermes und K. ScmarerR wurden in den Vorversuchen be- 
fragt, ob es ihnen möglich sei, hiervon abzusehen und sich wirk- 
lich nur von dem vorgeschriebenen Kriterium leiten zu lassen. 
Ihre Aussage, dafs dies sehr wohl möglich ist, stimmt auch 
durchaus mit meinen eigenen Beobachtungen überein. Das Gebot, 
von solchen sekundären Hilfen zu abstrahieren, wurde darauf 
auch in die Instruktion aufgenommen. 


Wir geben nun die Resultate. Die Zahlen bezeichnen den 
Abstand des unteren Randes der beiden Quadrate vom Fixier- 
zeichen nach Vollendung der Einstellung. Die Einstellungen der 
kleinen und der grofsen Versuchsanordnung, sowie die Ein- 
stellungen auf „Erscheinen“ und auf „Verschwinden“ der Ge- 
trenntheit erhalten die Bezeichnungen „I“ und „II“ bzw. „a“ und „b“. 


Herr Prof. MÜLLER: 


I. 

a) 11,2 cm b) 9,6 cm 
II. 

a) 63,8 cm b) 53,7 cm 

In einer zweiten Runde: 

I. 

a) 12,1 cm b) 10,4 cm 
II. 

a) 70,0 cm b) 64,2 cm. 


Nehmen wir das Mittel aus den Einstellungen bei der kleinen und 
aus denen bei der grofsen Versuchsanordnung, so ergibt sich 


I. 10,8 cm II. 62,9 cm. 


Bei den übrigen Vpn. wurden die Versuche mehr gehäuft. 
Die Einstellungen von Jarnsch und K. SCHAPER erstrecken sich 
über 5, diejenigen von Herına über 4 Versuchstage, mit Aus- 
schlufs der Vorversuche. Wir geben bei jeder Vp. die Resultate 
eines beliebig herausgegriffenen Versuchstages ausführlich, die 
der übrigen im Durchschnitt. 


32 JI. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Vp. JarnscH: 


I. II. I. u. 
a) 6,8 cm 25,2 cm 6,7 cm 25,0 cm 
b)61 „ 238 „ 69 „ 21 „ 
a) 76 „ 236 „ 78 „ 249 „ 
b) 5,9 „ 29 „ 64 n 240 „ 


Durchschnitt aus den 4 Abteilungen: 
I. 6,7 cm (mittl. Abweich. 0,4 cm) 


II. 239 p ( » n 09.) 
An den übrigen Versuchstagen (mittl. Abweich. in Kiammern): 
I. 6,8 cm (0,5 cm) II. 24,7 cm (0,9 cm) 
1. 58 „ (08 „) 11. .21.8- „151. ;%) 
1.56 „ (06 „) II. 211 „ (08 „) 
I. 69 „ (05 „) IL 231 „ (08 ,„) 


Vp. Here. Die Vp. erklärte die Einstellungen mittels Entfernung 
der Quadrate vom Fixierpunkt für unsicherer. Es wurde darum nur auf 
„Erscheinen“ der Getrenntheit eingestellt. 


I. lI. 5 i II. 

4,6 cm 27,0 cm 4,0 cm 30,6 cm 

4 265 „ 43 „ 33,0 „ 

4,7 „ 307 „ 42 „ 310 „ 
Im Durchschnitt: 

I. 4,4 cm (0,2 cm) II. 29,8 cm (1,5 cm) 
An den anderen Versuchstagen: 

I. 3,9 cm (0,2 cm) II. 31,6 cm (1,0 cm) 

I. 46 „ (03 „) I. 302 „ OS 

I 41 „ (03 „) II. 31,5 „ (0,7 „) 


Bei der Vp. Herına zeigt sich die AUBERT-ForrstErsche Erscheinung, 
wie aus den Zahlen hervorgeht, in erheblich schwächerem Mafse. Dafs 
aber auch bei dieser Vp. die Erscheinung nicht auf die Vorsetzung der 
Linse bei der kleinen Versuchsanordnung zurückzuführen ist, geht daraus 
hervor, dafs einige ohne Linse gelegentlich vorgenommene Einstellungen 
im Gegenteil Werte lieferten, die die höchsten der bei dem in der gewöhn- 
lichen Weise angestellten Versuche auftretenden Werte noch um einige 
Millimeter übertrafen. 

Eine Erscheinung, die sich bei Herme zeigte, ist zu merkwürdig, als 
dafs sie an dieser Stelle übergangen werden könnte. Am 5. Versuchstage 
ergaben die ersten beiden an der kleinen Versuchsanordnung vorgenommenen 
Einstellungen die dem Durchschnitt durchaus entsprechenden Werte 4,2 
und 3,9. Plötzlich nach der dritten Einstellung erklärte Vp., aufs höchste 
überrascht: „Ich weils nicht, was mit mir vorgegangen ist; es ist jetzt 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 33 


„plötzlich ganz anders wie zuvor; ich mu/s jetzt die Quadrate viel tiefer 
„herunterziehen.“ In der Tat hatte Vp. die Quadrate so weit herabgezogen, 
dals dieselben mit ihrem unteren Rande das Fixierzeichen berührten. — 
Oft wiederholte Versuche und Beobachtungen bei verschiedener Kopf- 
haltung führten zu keiner Änderung der rätselhaften Erscheinung und er- 
gaben auch keinen Fingerzeig zur Aufklärung. Ebensowenig konnte die- 
selbe durch Selbstbeobachtung von seiten der Vp. gegeben werden. Sollte 
es sich, was wohl das Wahrscheinlichste ist, um eine plötzliche Änderung 
der Urteilsmalsstäbe handeln, so ist hieran jedenfalls auffällig, dafs die 
Erscheinung mitten in einer Versuchsreihe auftritt, dafs die Vp. davon 
aufs äufserste überrascht wird, und sie wie ein naturgegebenes Ereignis 
hinnimmt, und dafs die Selbstbeobachtung keinerlei Aufklärung zu geben 
vermag. 


Vp. K. SCHAPER: 


I. II. I. II. 
a) 11,5 cm a) 56,3 cm a) 11,2 cm a) 50,7 cm 
b) 99 „ b) 47,5 „ b) 11,9 „ b) 57,2 „ 
a) 109 „ a) 55,5 „ a) 109 „ a) 59,6 „ 
b) 96 „ b) 60,5 „ b) 128 „ b) 57,1 „ 
Im Durchschnitt: 
I. 11,1 cm (0,8 cm) II. 55,6 cm (3,2 cm) 
An den übrigen Versuchstagen: 
I. 11,2 cm (1,2 cm) II. 70,3 cm (5,1 cm) 
I. 104 „ (06 „) I. 585 „ (40 „) 
T: 120: „ (09...) 1.553 „ 29 „) 
Il. 114 „ Ai ,„) UI. 583 „ (34 „) 


Es ist also keine Rede davon, dafs die Werte „II* das Zehnfache der 
Werte „I“ betragen. Wir haben jetzt nur noch zu zeigen, dafs das Versuchs- 
ergebnis nicht auf einer Fehlerquelle beruhen kann. Die Sehschärfe ist 
also bei der kleinen Versuchsanordnung grölser. Dafs das Ergebnis von 
der Wahl des Netzhautmeridians unabhängig ist, hat schon AUBERT gezeigt. 
Durch rohere Versuche in verschiedenen Meridianen konnte ich mich von 
der Richtigkeit dieser Angabe überzeugen.! 

Dafs die Helligkeit der Netzhautbilder im Falle der kleinen nahen 
Konstellation eher schwächer, jedenfalls nicht stärker ist, als in dem Falle 
der grolsen fernen, haben wir schon gesehen. Wie steht es aber mit der 
Gröfse der Netzhautbilder? Ist die Stelle der Netzhaut, auf welcher sich 
die Doppelquadrate in beiden Konstellationen abbilden, wirklich gleich weit 
von der Fovea entfernt, wenn die nach dem Testobjekt gezogene Richtungs- 


! Sollten die Einstellungen genau gemacht und in der obigen Weise 
vorgenommen werden, so wäre die Konstruktion eines besonderen Apparates 
erforderlich. 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 3 


34 1. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


linie in beiden Konstellationen mit der Gesichtslinie denselben Winkel 
bildet? 

Erwägen wir diese Frage zunächst für den Fall des von Auserr selbst 
verwandten Versuchsmodus'’, so ist sie unbedenklich zu bejahen. Auch in 
der Ophthalmologie, in der es bei gewissen Fragen mit der Bestimmung 
der Netzhautbildgröfse sehr genau genommen wird, pflegt man die An- 
nahme zu machen, dafs die für eine akkommodationslose Linse geltende 
Proportion zwischen der Gegenstandsgröfse und Bildgröfse einerseits, der 
Gegenstandsweite und Bildweite andererseits, trotz der Änderung des 
Krümmungsradius der Augenlinse, auch hier ihre Gültigkeit behält. 
Streng genommen würde sie nur dann gelten, wenn die Achsenlänge 
des reduzierten Auges bei allen Akkommodationsbeträgen genau die gleiche 
wäre. „Bei der Akkommodation verschiebt sich der zweite Hauptpunkt 
des reduzierten Auges ein klein wenig nach hinten; diese Verschiebung 
ist aber so gering, dafs sie den Werten der Achsenlänge des redu- 
zierten Auges gegenüber vernachlässigt werden kann: bei Akkommodation 
des emmetropischen Auges auf 13 cm Abstand, also um ca. 8 Dioptrien, 
beträgt sie nur 0,146 mm, das ist 0,7%, der Achsenlänge.“! (Hess, Die 
Anomalien der Refraktion und Akkommodation; GRAEFE-SAEMISCH, Handbuch 
d. Augenheilk. VIII, 2, 1903, S. 182.) 

Bei Achsenametropie ist das Bild eines in bestimmter Entfernung 
befindlichen Gegenstandes ebenso grols, wie im emmetropischen Auge, 
wenn die Ametropie optisch korrigiert ist. (Vgl. z. B. Hkss l. c.) 


! In unserem Falle ist der Unterschied natürlich noch erheblich ge- 
ringer, weil die bei der grofsen Konstellation auftretende Fernakkommoda- 
tion noch keineswegs die maximale Abflachung der Linse erfordert, und 
weil andererseits bei den kleinen Konstellationen durchaus nicht für den 
Nahepunkt akkommodiert wird. — 

Wenn Auszerr (Physiol. der Netzhaut S. 244) bemerkt, die Resultate 
liefsen sich nicht durch die mit der Akkommodation verbundene Verrückung 
des Knotenpunktes erklären, da der hintere Knotenpunkt bei der Akkommo- 
dation für die Ferne gerade nach vorn rücke, das Netzhautbild somit gröfser 
werde, so ist hierauf zu erwidern, dafs jene Verrückung zwar wegen ihres 
geringen Betrages vernachlässigt werden kann, dafs sich aber ihre Unschäd- 
lichkeit durch das von AuBERT hervorgehobene Moment nicht dartun läfst. 
Auserr denkt hier an die Tatsache, dafs die Deutlichkeit eines peripheren 
Objektes, und somit auch die des Doppelquadrates mit der Gröfse des von 
ihm gelieferten Netzhautbildes wächst. Mit demselben Rechte aber könnte 
man aus der Zunahme der Netzhautbilder folgern, dafs die Erkennbarkeit 
des Doppelquadrates abnehmen müsse; denn nicht nur das Netzhautbild 
des peripheren Objektes nimmt an Gröfse zu, sondern auch der Abstand 
dieses Netzhautbildchens von der Fovea. Es fällt somit auf peripherere, 
weniger fein empfindende Teile der Netzhaut. Welche der beiden entgegen- 
gesetzten Wirkungen überwiegen würde, falls die Änderung der Achsen- 
länge einen erheblichen Betrag besäfse, läfst sich von vornherein, und viel- 
leicht in dieser Allgemeinheit überhaupt nicht sagen. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 35 


Bei dem Avsertschen Versuch in der obigen modifizierten Form tritt 
ein neues Moment durch die Einführung der Linse auf. Das Netzhautbild 
ist hier wieder nicht im strengen Sinne demjenigen gleich, welches unter 
den gleichen Umständen auf Grund der natürlichen Akkommodation ent- 
stehen würde. Aber der hieraus erwachsende Fehler ist einerseits wieder 
von so niederer Gröfsenordnung, dal[s er selbst dann vernachlässigt werden 
könnte, wenn die Resultate des Augertschen Versuches weniger ausgeprägt 
und grob wären, als sie tatsächlich sind; andererseits wirkt der hieraus 
erwachsende geringe Fehler dem soeben besprochenen, aus der geringen 
Verschiebung des zweiten Hauptpunktes resultierenden, mit dem er unge- 
fähr dieselbe Gröfsenordnung besitzt, entgegen. Bei Vorsetzung einer Konvex- 
linse nimmt das Netzhautbild ein wenig zu. Das Verhältnis des vergrölserten 
zum unvergröfserten Netzhautbilde wird ausgedrückt durch die Formel: 





_ æ _1+dA 
Q= a =I} aD (vgl. Hess 1. c. 8. 183 f.) 


(d Abstand des zweiten Hauptpunktes der Augenlinse vom Linsenscheitel; 
A= 25 a Abstand des Objektes vom ersten Hauptpunkt der vorgesetzten 


Linse; D Dioptrienzahl derselben. Alles übrige in Meter ausgedrückt). 

Die Formel lehrt, dafs sich Q durch Verkleinerung von d dem Werte 
„1“ beliebig nähern läfst. 

Auf experimentellem Wege konnte ich mich von der Richtigkeit dieser 
Erwägungen mit Hilfe der Versuchsanordnung überzeugen, deren wir uns 
bei der Linsenwahl bedient hatten. Beobachtete ich, nachdem ich das eine 
Auge wieder mit 1,75 D bewaffnet hatte, in dieser Versuchsanordnung Gegen- 
stände, welche in den beiden bei unserer Modifikation des zweiten AUBERT- 
schen Versuches verwandten Entfernungen aufgestellt waren, und deren 
Höhen diesen Entfernungen proportional waren, so schienen sich diese in 
den Spiegeln erscheinenden Gegenstände zu decken. 

GRrornouw!, der sich in einer früheren Arbeit mit der Berechnung der 
prismatischen Wirkung der Brillengläser beschäftigt hatte, mufste bei seinen 
Untersuchungen über die Gröfse eingeengter Gesichtsfelder bei Änderung 
der Akkommodation durch vorgesetzte Brillengläser der Gedanke naheliegen, 
diese Fehlerquelle auszuschalten. In der Tat wirkt für die schräg, z. B. 
von obenher, einfallenden Strahlen der obere Rand der Linse, vom Zentrum 
an zunehmend, prinzipiell betrachtet, als ein Prisma. Wie man sich mittels 
der bekannten Konstruktion des Strahlenganges (vgl. z. B. Rırcke, Lehrb. 
d. Physik, 3. Aufl, 1905, I. Bd. 8. 376f.) beim Prisma leicht überzeugt, 
könnte diese Fehlerquelle höchstens zur Folge haben, dafs die Quadrate 
noch höher über dem Fixierpunkt erscheinen, also auf noch mehr peripher 
gelegenen Netzhautstellen abgebildet werden. Nur wenn — im Gegensatz 
zu dem tatsächlichen Verhalten — die kleine Versuchsanordnung die peri- 
phere Sehschärfe ungünstiger erscheinen liefse, als die grofse Versuchs- 
anordnung, könnte man daran denken, jene Fehlerquelle für das Ergebnis ver- 


1 Beiträge zur Kenntnis der konzentrischen Gesichtsfeldverengerung. 


Arch. f. Ophthalm. 40, 2. Abt. S. 176 ff. 
3* 


36 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


antwortlich zu machen. (Aber auch dann würde dies, wie wir später sehen 
werden, kaum mit Recht geschehen.) 

Der Zweck unserer Untersuchung läfst somit die Vorsichtsmafsregel 
Geozxorws entbehrlich erscheinen. Wir werden daher mit um so gröfserem 
Rechte von diesem Verfahren absehen können, als dasselbe andererseits 
vom psychologischen Standpunkt als undurchsichtig bezeichnet werden 
mufs. Wenn die Linse, wie hier geschieht, nicht unmittelbar vor dem Auge 
angebracht wird, sondern in einiger Entfernung von demselben, damit die 
Vp. an dem Glase seitlich vorbeisehen kann, so wirkt auf mich wenigstens 
der Umstand, dafs ich zwischen Fixierpunkt und Testobjekt nicht nur 
gleichförmigen Grund, sondern noch etwas anderes, die obere Hälfte der 
Linse, sehe, störend. Psychologische Faktoren dürfen aber bei Gesichts- 
felduntersuchungen nicht geringgeachtet werden. 


Dafs weder die durch die Linse bewirkte Gröfsenänderung, 
noch die Prismenwirkung ihres Randes für die gröfsere periphere 
Sehschärfe im Falle der kleinen nahen Konstellation verantwort- 
lich ist, geht daraus hervor, dafs ein deutlich erkennbarer Unter- 
schied nicht auftritt, wenn man in dieser Konstellation Ein- 
stellungen mit, und solche ohne Linse ausführt. An je zwei Ver- 
suchstagen, an denen in der kleinen Konstellation Einstellungen 
ohne Brillenglas vorgenommen wurden, lieferten Jaexsca und 
K. ScHArER folgende Werte (jede Zahl Mittel aus 16 Einstellungen): 


J. K. Sc#. 

6,6 (mittl. Abw. 0,5) 12,6 (0,7) 

62 ( > » 0,4) 12,1 (0,9) 
82. 


Diejenigen meiner Leser, welche die Arbeiten von W. HEIskIcH 
über „die Aufmerksamkeit und die Funktion der Sinnesorgane“ 
(Zeitschr. f. Psych. 9, 1896, S. 352ff. und 11, 1896, S. 410ff.), so- 
wie St. Lors „Untersuchungen über das periphere Sehen“, (ibidem 
40, 1906, S. 160 ff.) kennen, haben vielleicht gegen die bisherigen 
Ausführungen einen Einwand in Bereitschaft. 

Eine etwas gröfsere Ausführlichkeit wird man um so eher entschul- 
digen, als die Hrısrıcuschen Untersuchungen, abgesehen von der Bedeutung 
für unseren speziellen Gegenstand, eines der wichtigsten und allgemeinsten 
Probleme der Psychologie in ein neues Licht zu rücken beanspruchen.! 


1 Den anregenden Charakter der Heısrıcaschen Arbeiten wird auch 
derjenige anerkennen, welcher die Schlüsse jenes Autors nicht für aus- 
reichend begründet hält. Dies möge darum ausdrücklich hervorgehoben 
werden, weil längere kritische Ausführungen so leicht — in diesem Falle 
aber zu Unrecht — den Eindruck von Animosität erwecken. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 37 


Die allgemein verbreitete Ansicht, so führt Heinrich aus, in 
bezug auf die Tätigkeit der Sinnesorgane bei der Aufmerksam- 
keit ist die, dafs die Erscheinungen der Aufmerksamkeit von den 
Sinnesorganen gewissermalsen unabhängig sind. Wohl gibt man 
zu, dals die günstige Akkommodation der Sinnesorgane die Ein- 
wirkung der Reize begünstigt. Man nimmt aber auch an, dafs 
die Aufmerksamkeit sich von dem Eindruck abwenden kann, 
ohne dafs sich an den Sinnesorganen etwas geändert hat. Als 
ein Hauptvertreter dieser Ansicht wird HELMHOoLTZ genannt, 
dessen grundlegender Versuch in diesem Gebiete uns noch an 
späterer Stelle eingehender beschäftigen wird, weshalb wir ihn 
kurz skizzieren müssen. 

HermHorrz (Handb. d. phys. Optik II. Aufl., 1896, S. 506) 
blickte durch zwei Löcher in das Innere eines völlig dunklen 
Kastens. Den Augen gegenüber war ein mit Buchstaben be- 
druckter Karton angebracht, welcher mittels eines in dem Kasten 
überspringenden elektrischen Funkens für aulserordentlich kurze 
Zeit erleuchtet wurde; vor der elektrischen Entladung erblickt 
der Beobachter nichts als einen mälsig erhellten Nadelstich, der 
den gegenüberliegenden Karton durchbohrt. Dieser wurde fest 
fixiert und diente zur ungeführen Orientierung über die Richtungen 
in dem dunklen Felde HeumHuoLtz fand es möglich, sich vor- 
zunehmen, welchen Teil des dunklen Feldes seitlich von dem fort- 
dauernd fest fixierten hellen Nadelstich er im indirekten Sehen 
wahrnehmen wollte, und er erkannte bei der elektrischen Be- 
leuchtung dann wirklich einige Buchstabengruppen jener Gegend 
des Feldes, meist aber mit dazwischen bleibenden Lücken, die 
leer blieben. „Die Buchstaben des bei weitem gröfsten Teiles 
„des Feldes waren dagegen nicht zur Wahrnehmung gekommen, 
„auch nicht immer die in der Nähe des Fixationspunktes. Bei 
„einer folgenden elektrischen Entladung konnte ich, immer den 
„Nadelstich fixierend, meine Wahrnehmung auf eine andere Gegend 
„des Feldes richten und dann dort eine Gruppe von Buchstaben 
„lesen. Diese Beobachtungen erweisen, wie mir scheint, dafs man 
„durch eine willkürliche Art von Intention, auch ohne Augen- 
„bewegungen, ohne Änderung der Akkommodation, die Aufmerk- 
„samkeit auf die Empfindungen eines bestimmten Teiles unseres 
„peripheren Nervensystems konzentrieren und sie gleichzeitig von 
„allen anderen Teilen desselben ausschliefsen kann.“ 

Henrica erhebt nun die Frage, ob nicht vielleicht bei den 


38 41. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


geschilderten Versuchen in dem Augenblicke, in welchem sich 
die Aufmerksamkeit der Peripherie zuwandte, doch eine Änderung 
der Akkommodation eingetreten sei, auf deren Rechnung die 
Deutlichkeitszunahme des Eindrucks gesetzt werden müsse. Man 
würde in diesem Falle der Aufmerksamkeit die rätselhafte Fähig- 
keit, Sinnesempfindungen auf einen höheren Grad von Deutlich- 
keit zu bringen, nicht mehr zuzuschreiben brauchen. — Diese 
Frage ist in der Tat von grolser Bedeutung, weil die weiteren 
Erörterungen über das Wesen der Aufmerksamkeit vornehmlich 
an den Henmnortzschen Versuch angeknüpft haben. — 

Hemnics stellte seine eigenen Untersuchungen nach folgen- 
der Methode an. Die Vp. fixierte während der ganzen Unter- 
suchung einen mit einem Fixierzeichen versehenen Punkt. Mittels 
des Ophthalmometers wurde nun zunächst die Gröfse des Pupillen- l 
durchmessers bestimmt, und zwar einmal, wenn der Beobachter 
seine Aufmerksamkeit dem Fixierpunkte, ein andermal, wenn er 
sie einem peripheren Objekte zuwandte. Der Winkel, den hier- 
bei die nach dem peripheren Objekte gezogene Richtungslinie 
mit der Gesichtslinie einschlofs, wurde hierbei zwischen 30° und 
70° variiert. Das allgemeine Ergebnis der Untersuchung war, 
dafs sich die Pupille vergröfsert, wenn sich die Aufmerksamkeit 
von dem zentralen Objekte ab- und einem peripheren zuwendet. 
Auf weitere Einzelheiten müssen wir an späterer Stelle zurück- 
kommen. 

Da bekanntlich Änderungen des Akkommodationszustandes 
stets von solchen des Pupillendurchmessers begleitet sind, so lag 
die Vermutung nahe, dafs das ursprüngliche Phänomen in einer 
Abflachung der Linse bestehe, und dafs die Vergröfserung der 
Pupille nur als Begleiterscheinung dieser primären Änderung 
aufzufassen sei. Die Bestimmung des Krümmungshalbmessers 
mit Hilfe des Ophthalmometers ergab in der Tat, dafs sich die 
Linse bei Wendung der Aufmerksamkeit nach der Peripherie 
etwas abflacht. 

Zur Erklärung der Erscheinung stellt Heısrıch folgende 
Überlegung an. 

Besteht ein brechendes System aus einer beliebigen Anzahl 
von zentrierten kugeligen Flächen, und befindet sich der Objekt- 
punkt auf der optischen Achse, so werden die von dem Punkte 
ausgehenden Strahlen wiederum in einem Punkte vereinigt. Ist 
hingegen eine der Begrenzungsflächen von zylindrischer Gestalt, 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 39 


so schneiden sich die von einem Punkte ausgehenden Strahlen 
in zwei hintereinander gelegenen und aufeinander senkrecht 
stehenden Linien; das System ist ein astigmatisches. 


Eine solche astigmatische Abbildung liefern nun auch die 
seitlich einfallenden Strahlen bei Medien, welche durch kugelige 
zentrierte Flächen getrennt sind.! 


Zieht man nur ein unendlich dünnes Strahlenbündel in Be- 
tracht, und berücksichtigt man nur Strahlen, die durch das 
optische Zentrum der Linse gehen, so steht die erste Brennlinie 
senkrecht zur Einfallsebene der Strahlen, die zweite hingegen 
liegt in der Einfallsebene und ist, wenn man die erste Annähe- 
rung betrachtet, zum Leitstrahl senkrecht. Nach den Berechnungen 
von Rasmus und Waver (Math. Theorie der Periskopie der 
Kristalllinse, Pflügers Archiv 20), liegt die erste Brennlinie vor, 
die zweite hinter der Netzhaut.? 


HErsrichs weiteren Ausführungen liegt nun offenbar die 
Voraussetzung zugrunde, dals ein peripher gesehenes Objekt die 
grölstmögliche Deutlichkeit besitzt, wenn es nicht in Zerstreuungs- 
kreisen oder Zerstreuungsellipsen auf der Netzhaut erscheint, 
sondern wenn die von den einzelnen Punkten erzeugten Brenn- 
linien in die Fläche der perzipierenden Elemente fallen. Er 
schlielst nämlich (Zeitschr. f. Psychol. 11, S. 184) folgendermalsen: 
„Kommen wir jetzt auf die Ergebnisse unserer Untersuchungen 


ı Ch. Sturm, Mémoire sur l'optique. Journ. d. Mathém. pures et appl. 
1888. — L. Hermans, Über schiefen Durchgang von Strahlenbündeln durch 
Linsen und eine darauf bezügliche Eigenschaft der Kristalllinse. Gratula- 
tionsschrift der med. Fak. in Zürich an C. Lupwie 1874. — Neumann, Über 
die Brechung eines unendlich dünnen Strahlenbündels. Ber. der sächs. 
Ges. 1880. 

2 PescHeL (Experimentelle Untersuchungen über die Periskopie der 
Kristalllinse. Pflügers Arch. 20) bestimmte an Kristalllinsen, welche Tier- 
augen entnommen waren, die Lage der Brennlinien mittels Mikroskops. 
Der tatsächliche Ort der ersten Brennlinie stimmt nach diesen Beobach- 
tungen mit dem berechneten nahezu völlig überein, während die zweite 
Brennlinie der Netzhaut in Wirklichkeit ein wenig näher liegt. Unter- 
suchungen desselben Autors am menschlichen Auge, bei denen einerseits 
horizontale, andererseits vertikale Liniensysteme so nahe an das Auge heran- 
gebracht wurden, dafs diese Objekte eben gerade noch in ihre Elemente 
aufgelöst werden konnten, lassen die tatsächliche Entfernung der beiden 
Brennlinien, die sog. Brennstrecke, kürzer erscheinen als die berechnete 
(Über den Astigmatismus des indirekten Sehens, Pflügers Arch. 18). 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 41 


zontalen Brennlinie, so sind zwar alle horizontalen Striche der 
Schriftzeichen durchaus deutlich und scharf begrenzt, schärfer 
als im vorigen Falle; die vertikalen Striche hingegen sind nur 
ganz schattenhaft angedeutet und verschwinden stellenweise gänz- 
lich. Die Deutlichkeit der schrägen Linien nimmt eine Mittel- 
stellung zwischen der der vertikalen und horizontalen Strecken 
ein. Hieraus folgt natürlich, dafs die Buchstaben fast unkenntlich 
werden. Wird auf die vertikale Brennlinie eingestellt, so ergibt 
sich ein analoges Resultat; es tauschen hier nur vertikale und 
horizontale Strecken ihre Rollen. 

Dieses Verhalten erscheint übrigens von vornherein als sehr 
wahrscheinlich. 

Durch weitere Versuche, betreffs deren auf die Originalarbeit 
verwiesen werden mufs, zeigte Hess, dafs das Sehorgan, sowohl 
das von Natur astigmatische, wie das künstlich astigmatisch ge- 
machte, sehr annähernd für diejenige Stelle der Brennstrecke 
akkommodiert, an der nach der Rechnung der Brennkreis 
liegen muls.! 

Die eingangs erwähnte Voraussetzung ist demnach unhaltbar. 
Auch bei Hzınkıch bestand ja, wie bei H&ss, das Objekt in 
Buchstaben. 

Allein die bisherigen Erörterungen würden nur zu einer 
Modifikation der Theorie, nicht zu einer Aufgabe derselben 
nötigen. Die Brennlinien stehen aufeinander senkrecht. Nach 
der Sturm-Hrrmansschen Theorie, welche HrEısrıch seinen Aus- 
führungen zugrunde legt, bilden die beiden Brennlinien bei 
Astigmatismus infolge von schiefer Inzidenz auch mit dem Leit- 
strahl rechte Winkel. Alsdann ist der Ort des Brennkreises da- 
durch bestimmt, dafs sich die Abstände des Brennkreismittel- 
punktes von der vorderen bzw. hinteren Brennlinie verhalten, wie 
diese Brennlinien selbst (vgl. Hxss, GraErE-SAENIScH, 1l. c. S. 407). 

Nach der Berechnung von Hrısrıcn ist nun, wofern die 
Strahlen nicht unter sehr schiefem Winkel einfallen, die erste 
Brennlinie nahezu ebenso lang wie die zweite (Zeitschr. f. 

! Auf Grund der neueren Forschungen im Gebiete der Dioptrik des 
Auges ist Hess jetzt zu der Ansicht gelangt, dafs diese Versuche über das 
Sehen beim pathologischen Astigmatismus höchstens in roher und schema- 
tischer Weise Aufschlufs zu geben vermögen (GrAEFE-SaENIıscH Bd. 8, 2. 
1903, S. 413). Das Problem der ophthalmologischen Deutung der Versuche 
kommt für uns an dieser Stelle gar nicht in Betracht. 


42 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-F'oersterschen Gesetzes. 


Psychol. 11, S. 424). Der Brennkreis würde demnach ungefähr 
in der Mitte zwischen beiden Brennlinien liegen. 

Da nun aus der von HemrıcH benutzten, der Arbeit von 
Rasmus und WAUER entnommenen, Tabelle hervorgeht, dafs die 
zweite Brennlinie, aufser im Falle sehr grofser und sehr kleiner 
Einfallswinkel, der Netzhaut nicht unerheblich näher liegt als die 
erste (l. c. S. 416), so folgt hieraus, dafs der Brennkreis, gleich 
der ersten Brennlinie, vor die perzipierenden Organe fällt. Findet 
eine periphere Akkommodation auf den Brennkreis statt, so 
würde also, ebenso wie bei der Akkommodation auf die erste 
Brennlinie, eine Abflachung der Linse zu erwarten sein.! Es be- 
stände immer noch die Möglichkeit, die Abflachung als einen 
Akkommodationsvorgang zu deuten. 

Dieser Tatsachenkreis scheint also die Anschauungen Hen- 
RICHS nicht in zwingender Weise zu widerlegen. Durch eine 
kleine, den Kern der Anschauungen nicht betreffende, Abänderung 
läfst sich die Lehre von der peripheren Akkommodation auch 
jetzt noch retten. 

Allein dieselben Erwägungen, welche wir soeben angestellt 
haben, hätten Hemrıch dazu führen können, seine Vermutung 
in unbedingt scharfer Weise auf ihrer Richtigkeit zu prüfen. 
Die Brennlinien stehen nach den jener Abhandlung zugrunde ge- 
legten Anschauungen senkrecht aufeinander und senkrecht zum 
Leitstrahl. Hiermit sind aber die Bedingungen des Hess’schen 


! Bei den Versuchen Henricus, in denen der Einfallswinkel variiert 
wurde, stand das Fixierzeichen in der konstanten Entfernung von 40 cm. 
Es kommt also nur die „Tabelle A“ (l. c.; Fall der Nahakkommodation) in 
Frage. Nach dieser fällt die Mitte der Brennstrecke bei Einfallswinkeln 
zwischen 20° nnd 60° vor die Netzhaut. Zwar ändert sich dieses Verhalten 
von 70° ab; indes sind bei so grofsem Einfallswinkel die Beobachtungen 
bereits so schwierig und unsicher, dafs sich durch einen hierauf gegrün- 
deten Einwand niemand für widerlegt zu erklären braucht. Ebenso wird 
— dieser Fall ist nicht untersucht — die Änderung des Krümmungsradius 
bei den kleinsten Einfallswinkeln nur gering und schwerlich mit unbe- 
dingter Sicherheit konstatierbar sein. Bei den genaueren Untersuchungen, 
in denen auch die Entfernung des Fixierpunktes geändert wurde, hatte der 
Einfallswinkel den konstanten Wert von 45°. Wie durch Interpolation aus 
den in den Tabellen angegebenen Werten für 40° und 50° ersichtlich, ist 
hier — immer bei Zugrundelegung der von R. und W. ermittelten Werte 
— die Entfernung des Brennkreises von der Netzhaut gerade ziemlich be- 
trächtlich, und zwar (vgl. Tabelle B) auch im Falle der fernen Akkommo- 
dation, bei welcher der Umschlag bereits bei 60° stattfindet. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 43 


Versuches gegeben. Man hätte nun bei dem Hemeıcaschen Ver- 
such die mit Buchstaben bedeckten Quadrate durch ein anderes 
Objekt ersetzen können, durch eine nur aus parallelen Linie be- 
stehende Figur. Die Beobachtungen mögen im vertikalen 
Meridian des Auges stattfinden. Die Figur sei drehbar, so dafs 
die Striche in horizontale und vertikale Lage, sowie in da- 
zwischen liegende Stellungen gebracht werden können. Befinden 
sich sämtliche Linien in horizontaler Lage, so wird das Auge auf 
die horizontale, in diesem Fall also auf die erste, Brennlinie 
akkommodieren; hingegen haben wir Akkommodation auf die 
zweite Brennlinie zu erwarten, wenn die Linien vertikal stehen. 
Ist die Lage der Linien eine geneigte, so wird das Auge auf 
eimen zwischen den Brennlinien gelegenen Punkt der Brennstrecke 
einstellen. Entspricht die Theorie von der peripheren Akkom- 
modation den Tatsachen, so mu/s bei horizontaler Stellung der 
Linien Zunahme, bei vertikaler Stellung Abnahme des Krümmungs- 
radius eintreten. Denn solange wir die Grundanschauungen 
Heınrıcas beibehalten, sind wir ja unbedingt zu der Annahme 
genötigt, dals die Ungleichheit der Netzhautbilder, welche von 
dem vertikalen Striche an der Stelle der horizontalen und der ver- 
tikalen Brennlinie entstehen, hinreicht, um die Akkommodations- 
änderung auszulösen. Nach Heisrıch genügt ja hierzu bereits 
die Verschiedenheit der Netzhautbilder, welche an dem Ort der 
einen Brennlinie und an einem mittleren Punkte der Brennstrecke 
erzeugt werden. Diese Verschiedenheit ist aber offenbar von 
geringerem Betrag. 

Wir haben bisher mit Absicht ausschliefslich immanente 
Kritik geübt, indem wir die Gültigkeit der von HEINRICH seiner 
Arbeit zugrunde gelegten dioptrischen Anschauungen voraus- 
setzten. Diese Anschauungen bedürfen aber nach dem neuesten 
Stande der Forschung einer Korrektur. 

STURM (l. c.) hat in der Entwicklung der Gleichungen der 
Normale unendlich kleine Gröfsen zweiter Ordnung weggeworfen, 
was mit einer Vernachlässigung der Differentialquotienten und 
unendlich kleinen Gröfsen dritter Ordnung in der Gleichung der 
Wellenfläche gleichbedeutend ist. Hermann (l. c.) ist ihm hierin 
gefolgt. Nachdem MarrHızssex ! in der Gleichung der Wellen- 


! Die Brennlinien eines unendlich dünnen astigmatischen Strahlen- 
bündels nach schiefer Inzidenz eines homozentrischen Strahlenbündels in 


44 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


fläche bereits die Differentialquotienten dritter Ordnung berück- 
sichtigt hatte, trieb GuLLstranp! die Annäherung noch weiter. 

Hierbei ergab die Rechnung eine ziemlich erhebliche Ab- 
weichung von den Resultaten der Srurm-Hrrmanxschen Theorie. 
Für uns kommt von den neuen Ergebnissen lediglich die Tat- 
sache in Betracht, dafs der Winkel zwischen zweiter Brennlinie 
und Leitstrahl bei schiefer Inzidenz im allgemeinen keineswegs 
gleich einem rechten ist; die übrigen Annahmen behalten ihre 
Gültigkeit nach wie vor.” So wird auch an der Tatsache, dafs die 
dünnsten Querschnitte des Strahlenbündels, die Brennlinien, auf- 
einander senkrecht stehen, durch die neueren Untersuchungen 
nichts geändert. Horizontale Linien werden am schärfsten er- 
scheinen, Systeme solcher Linien werden am vollkommensten in 
ihre Elemente aufgelöst werden können, wenn das Auge auf die 
erste Brennlinie akkommodiert. Damit vertikale Linien den höchst- 
möglichen Grad der Schärfe besitzen, wird die zweite Brennlinie 
in die perzipierende Schicht hineinfallen, bzw. sie schneiden 
müssen. 

Ferner dürfte auch nach diesen neueren Anschauungen die An- 
nahme am plausibelsten erscheinen, dals ein paraxiales, aus Linien 
der verschiedensten Richtung zusammengesetztes Objekt bei 
Akkommodation auf einen zwischen den Brennlinien gelegenen 
Punkt die maximale Deutlichkeit besitzt. 

Im Hinblick auf die Ergebnisse der neueren Berechnungen 
hält man vielleicht Versuche mit parallelen Liniensystemen nicht 
mehr für entscheidend. Der Winkel zwischen zweiter Brennlinie 
und Leitstrahl ist im allgemeinen kein rechter, sondern ein 
spitzer. Angenommen, der Akkommodationszustand sei in einem 
bestimmten Moment derartig, dals die zweite Brennlinie von der 
perzipierenden Schicht geschnitten wird, und dafs der Schnitt- 
punkt ungefähr in der Mitte der Brennlinie liegt, so können 
wir das im Auge erzeugte Strahlensytem, welches auch die Brenn- 
linien enthält, sowohl nach aulfsen, wie nach innen zu verschieben, 
ohne dals die zweite Brennlinie aufhört, die Netzhaut zu schneiden. 


eine krumme Oberfläche usw. Arch. f. Ophihalm. 30, 2, 1884. — Ferner 
Sitzungsber. d. bayr. Akad. d. Wissensch. Math.-phys. Klasse 1883, 1. 

! Beitrag zur Theorie des Astigmatismus. Skand. Arch. f. Physiol. 2, 
1891. — Ferner Nov. Act. Reg. Soc. Scient. Ups. 1904. 

® Genau genommen handelt es sich nicht um eine erste Brennlinie, 
sondern um einen ersten dünnsten Querschnitt. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 45 


Die Gröfse des Spielraumes ist abhängig von der Länge der 
Brennstrecke und dem Betrage des Neigungswinkels. Durch die 
Forderung, dafs die zweite Brennlinie auf die Netzhaut fallen 
soll, ist also der Akkommodationszustand nicht notwendig ein- 
deutig bestimmt; solange der Krümmungsradius zwischen zwei 
bestimmten Grenzwerten liegt, ist der Forderung Genüge geleistet. 
Wir wissen nun aber nicht, welche Länge der Brennstrecke und 
welche Gröfse dem Neigungswinkel bei den verschiedenen Werten 
des Inzidenzwinkels zukommt.! Der Wert der älteren Rechnung 
ist problematisch. 

Es ist jedenfalls nicht unmöglich, dafs die zweite Brennlinie 
länger ist, als man auf Grund der bisherigen Rechnungen an- 
nahm. Legen wir nun durch die erste Brennlinie eine auf dem 
Leitstrahl senkrecht stehende Ebene, so kann, namentlich wenn 
der Neigungswinkel zwischen zweiter Brennlinie und Leitstrahl 
ziemlich spitz ist, sehr wohl der Fall eintreten, dafs das vordere 
Ende der zweiten Brennlinie jener Ebene sehr nahe kommt. Die 
zweite Brennlinie wird also die perzipierende Schicht unter Um- 
ständen selbst dann noch schneiden können, wenn die Akkom- 
modation eine derartige ist, dafs die erste Brennlinie entweder 
auf die Retina fällt oder relativ zur Länge der Brennstrecke nur 
einen sehr geringen Abstand von der Retina besitzt. Legen wir 
dem Auge ein Objekt vor, bei welchem die Einstellung auf die 
erste Brennlinie überflüssig ist, dagegen die auf die zweite Brenn- 
linie gefordert wird, und zeigt sich in diesem Falle etwa die 
gleiche Zunahme des Krümmungsradius, wie bei Darbietung eines 
Objektes, bei welchem es auf den horizontalen Krümmungsradius 
und nur auf diesen ankommt, so könnte trotzdem, falls gerade 
die gekennzeichneten Bedingungen vorliegen, auf die zweite 
Brennlinie eingestellt sein. Solange man aber dann nicht in ein- 
wandfreier Weise nachweist, dafs dieser Punkt unter allen Punkten 
der zweiten Brennlinie die günstigsten Bedingungen für das 
Erkennen darbietet, müfste es als ganz zufällig erscheinen, dafs 
gerade auf diesen Punkt akkommodiert wird. Würde sich also 
etwa bei den verschiedenen Stellungen des Striches jedesmal der 
gleiche Krümmungsradius ergeben, so würde dies, wenn man 
die Lehre aufrecht zu erhalten gedächte, für den Fall der 


1 Nur den zum Inzidenzwinkel 5° gehörigen Neigungswinkel hat GULL- 
STRAND berechnet (Skand. Arch. 2 1. e.). 


46 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Geseizes. 


Akkommodation auf die erste Brennlinie jedesmal durch die 
Theorie zu erklären sein, während es im Falle der Akkommodation 
auf die zweite Brennlinie auf einen unberechenbaren Zufall zurück- 
geführt werden mülste.. Besonders merkwürdig wäre hierbei, 
dafs die Wirkungen dieses Zufalls mit denen der im anderen 
Falle angeblich vorhandenen Ursache genau Schritt halten mülsten, 
da sich ja die Gröfse des Krümmungsradius je nach der Schiefe 
der Inzidenz um einen verschiedenen Betrag ändert. Eine regel- 
mälsig eintretende Änderung des Krümmungsradius je nach der 
Verwendung horizotaler oder vertikaler Liniensysteme mülste also, 
wenn man dem Zufall nicht eine ganz wunderbare Rolle zu- 
schreiben wollte, auf jeden Fall erwartet werden, wenn die 
Hemriıcasche Theorie den Tatsachen entspräche. Dies wäre zwar 
eine notwendige, aber noch nicht eine hinreichende Bedingung 
für die Annahme jener Theorie. 

Wir wollten mit diesen Ausführungen die Lehre Hemriıchs 
nicht widerlegen, sondern nur zeigen, dafs sie der festeren 
Fundamentierung noch sehr bedürftig ist und keinesfalls gegen 
Tatsachen ins Feld geführt werden kann. 

Andererseits scheint mir nun aber ein so komplizierter Apparat 
von Erwägungen gar nicht erforderlich zu sein, um die Tatsache 
der Abflachung zu erklären. 

AUBERT hat in seiner Sorgsamkeit selbst schon an die Möglich- 
keit gedacht, dafs die Akkommodation für die peripheren Regionen 
beim Sehen in die Ferne ungünstiger sei, als bei dem in die 
Nähe. Die Versuche, welche er zur Entscheidung dieser Frage 
anstellte, hatten zur Folge, dafs er diesen Gedanken wieder fallen 
liefs. „... Die Akkommodation für die mehr peripherischen 
„Teile der Netzhaut ist so unvollkommen, dafs, wenn z. B. die 
„Richtungslinie von Quadraten, welche 10 mm Seite und Distanz 
„haben und 200 mm vom Auge entfernt sind, 15° von der Ge- 
„sichtslinie abweicht, es kaum einen Unterschiede in der Deutlich- 
„keit macht, ob man auf 200 oder auf 600 mm akkommodiert; erst 
„bei der Akkommodation für gröfsere Fernen werden die Objekte 
„merklich undeutlicher.“ (Physiol. der Netzhaut, S. 244.) 

Nun ist die Fernakkommodation der Linse deren Ruhezustand, 
den sie, wepn sie nicht durch äufsere Objekte zu einem anderen 
Verhalten genötigt ist, einzunehmen trachtet. Die Sehschärfe 
der Peripherie ist nun aber nach jenen Beobachtungen AUBERTS 
so gering, dafs der Akkommodationszustand ziemlich gleichgültig 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-F'oersterschen Gesetzes. 47 


ist. Was liegt näher, als die Annahme, dafs sich die Linse dem 
Ruhezustand so viel wie möglich nähern wird, wenn die Auf- 
merksamkeit der Peripherie zugewandt ist? 

Hierzu kommt noch ein anderer Umstand, auf den ich 
durch eine gelegentlich angestellte und dann oft wiederholte 
Beobachtung aufmerksam wurde. Eine Linse von — 4,5D ver- 
mag ich bei guter Beleuchtung soeben gerade noch zu „über- 
winden“. Ich sehe hierbei noch alles vollkommen scharf und 
bemerke keinen Unterschied in der Schärfe bei der Betrachtung 
mit der Linse und dem unbewaffneten Auge. Beobachte ich 
unter denselben Umständen, aber bei schwächerer Beleuchtung, 
schraube ich etwa das Docht der Lampe herab, so sehe ich nun 
mit unbewaffnetem Auge die Gegenstände schärfer, als mit der 
Linse; ich überwinde sie nicht mehr. Freilich kann ich die Klar- 
heit des Bildes erhöhen, indem ich die Akkommodation durch 
eine eigens darauf gerichtete Intention stark anspanne. Auf 
reflektorischem Wege aber wird die maximale Deutlichkeit nicht 
mehr hervorgebracht. 

Die Psychologie der Akkommodation ist ein noch fast unan- 
geschnittenes Gebiet. Es liegt aber die Vermutung nahe, dafs 
die Akkommodation, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine 
gewisse „Trägheit“ besitzt, dafs sie nur dann Anstrengungen 
macht, wenn es sich lohnt, d. h. wenn dadurch das Bild auf 
einen ziemlich beträchtlich höheren Grad von Klarheit gebracht 
werden kann. Bei schwachem Licht ist die Deutlichkeit der 
Gegenstände an sich schon so gering, dals die Akkommodation 
für die Erkenntnis der Dinge nicht allzuviel hinzufügen kann. 
In ähnlicher Weise undeutlich sind aber auch bei guter Be- 
leuchtung die peripheren Wahrnehmungen. Selbst wenn also 
die Sehschärfe der Netzhautperipherie noch hinreichte, um zu 
bemerken, dafs bei zwei verschiedenen Akkommodationszuständen 
a und b.die Deutlichkeit der Peripheriewahrnehmungen ver- 
schieden ist, — so wie ich bei schlechtem Licht einen Unterschied 
mit und ohne Vorsetzung der Konkavlinse bemerke — so ist, wie 
jene Beobachtungen lehren, immer noch fraglich, ob der hier- 
durch gegebene Anreiz hinreichen würde, um die Akkommodation 
zu veranlassen, den ungünstigeren Akkommodationszustand b auf 
reflektorischem Wege in den günstigeren a zu verwandeln. Sie 
wird vielleicht infolge ihrer „Trägheit* den dem Ruhezustand 
näher liegenden Akkommodationszustand wählen. — Der ange- 


48 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


führten Beobachtung kann man nicht entgegenhalten, dafs wir 
doch unter gewöhnlichen Umständen auch in der Dämmerung 
die maximale Deutlichkeit herzustellen suchen. Hansen GRUT 
und ALFRED GRAEFE haben in verschiedenen Arbeiten darauf 
hingewiesen !, dafs der Antrieb zur Erhöhung der Deutlichkeit 
nicht das Einzige ist, was die Akkommodation in Bewegung setzt, 
dafs vielmehr das „Nahebewulstsein* hierbei eine bedeutende 
Rolle spielt. 


Wenn ich für Herrn stud. phil. MorLter diejenige Linse bestimmte, 
welche er bei guter Beleuchtung soeben gerade noch überwinden konnte, 
und wenn ich alsdann die Beleuchtung herabsetzte, so schien die Linse 
auch in diesem Falle noch überwindbar zu sein. Herr M. glaubte nämlich 
auch bei herabgesetzter Beleuchtung die Gegenstände noch ganz scharf zu 
sehen; ebenso scharf wie mit unbewaffnetem Auge. 

Ich verfuhr darauf mit ihm in etwas anderer Weise. Es wurde bei 
guter Beleuchtung, und zunächst mit unbewaffnetem Auge, diejenige Schrift 
des Snerıenschen Heftes bestimmt, welche eben gerade noch entziffert 
werden konnte. Auch mit der Linse konnte alsdann diese Schrift eben 
gerade noch entziffert werden. Jetzt wurde derselbe Versuch bei herab- 
gesetzter Beleuchtung wiederholt. Nun war die Schrift, welche bei dieser 
herabgesetzten Beleuchtung und mit unbewaffnetem Auge eben noch gelesen 
werden konnte, bei Vorsetzung derselben Linse nicht mehr zu ent- 
ziffern. — Die Erscheinung zeigt sich also unter Umständen bei Verwendung 
feinerer Kriterien auch dann noch, wenn sie bei Verwendung gröberer 
Kriterien auszubleiben scheint. 

Dafs wir eine Tendenz haben, Nahakkommodation nach Möglichkeit 
zu vermeiden, geht auch aus der folgenden Beobachtung hervor. Ich nähere 
langsam ein Objekt, z. B. ein mit einer Teilung versehenes Lineal, meinem mit 
einer starken Lupe bewaffneten Auge. Das anfangs undeutliche Objekt 
erscheint innerhalb eines gewissen Intervalles der (ganz langsamen) Be- 
wegung deutlich, um bei weiterer Annäherung wieder an Klarheit zu ver- 
lieren. Ich vermag nun aber den schon ganz verschwommenen Eindruck 
dadurch wiederum auf die Stufe voller Deutlichkeit zu erheben, dafs ich 
durch einen eigens auf meine Akkommodation gerichteten Willensakt das 
Auge auf den Nahepunkt einstelle. 


Es bleibt noch ein Umstand übrig, welcher für die Hern- 
RICHsche Theorie zu sprechen scheint. Die Berechnungen von 
Rasmus und Waver ergeben, dafs der Abstand der 1. Brennlinie 
von der Netzhaut zwar ständig zunimmt, wenn die Schiefe des 
einfallenden Strahlenbündels wächst, hingegen nicht weiter zu-, 
sondern im Gegenteil wieder ein wenig abnimmt, wenn der 


1 Betreffs der Literatur siehe ALFRED GRAEFE, Akkommodation und 
Konvergenz. Arch. f. Ophthalm. 40. 1894. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 49 


Winkel, unter welchem das Objekt erscheint, 70° überschreitet. — 
Hiermit scheint es zu stimmen, wenn HEısrıcH jenseits 50° keine 
weitere Zunahme, sondern eine — allerdings nur sehr schwache — 
Wiederabnahme des Krümmungsradius fand. 

Ich muls gestehen, dafs mir nach meinen Beobachtungen bei 
so ungeheuer stark peripher gesehenen Objekten (über 50°!) ein 
Unterschied in der Deutlichkeit überhaupt nicht zu bestehen 
scheint, wenn ich einmal auf das Fixierzeichen akkommodiere, 
das anderemal meine Akkommodation durch eine hierauf ge- 
richtete Intention völlig entspanne. — Hierzu kommt noch, dafs 
der Wert aller älteren Berechnungen problematisch geworden ist. 


Nicht selten habe ich den Eindruck, dafs mir die sichere Fixation 
leichter fällt, wenn ich einen sehr peripheren Gegenstand betrachte, als 
dann, wenn derselbe dem Zentrum näher liegt.! Im letzteren Falle besteht 
oft eine viel stärkere Tendenz, den Blick auf das Objekt hinzuwenden, mit 
welcher immer gleichzeitig lästige Spannungsempfindungen in der Umgebung 
des Augapfels auftreten. Diese lästigen Empfindungen, verbunden mit dem 
Bewufstsein der Unsicherheit, ob denn auch richtig fixiert werde, treten 
besonders dann auf, wenn ich mir vornehme, an dem nicht sehr peripheren 
Gegenstande möglichst viele Einzelheiten zu unterscheiden. Niemals hat 
sich mir diese Erscheinung aufgedrängt, wenn ich nur festzustellen suchte, 
ob sich an der äufsersten Peripherie ein bestimmter Gegenstand im Gesichts- 
feld befindet oder in dasselbe eintritt. Es scheint mir bei solchen Beob- 
achtungen stets, dafs das mehr zentral gelegene Objekt einen stärkeren An- 
reiz für die Aufmerksamkeit darstelle, als das sehr periphere; wahrschein- 
lich, weil die lokale Konzentration der Aufmerksamkeit auf ein Objekt von 
der ersteren Art noch einen merkbaren Erfolg hat, da dasselbe dadurch 
noch etwas deutlicher werden kann, während dieses Verhalten bei sehr 
peripheren Objekten doch vergeblich wäre und darum überhaupt nicht erst 


eingeschlagen wird. — Es wäre dann verständlich, dafs bei stark peripheren 
Objekten wieder der Fixierpunkt in höherem Grade für die Akkommodation 
mafsgebend wird. — Dies nur eine Vermutung, welche man jedenfalls in 


Erwägung ziehen könnte, wenn sich die Hrisricnschen Resultate bestätigen. 


Auch der Befund von Sr. Lora (l. c.), dafs sich der Krüm- 
mungsradius nicht stets um denselben Betrag ändert, wenn der 
Winkel zwischen Fixierpunkt, Auge und Testobjekt, sowie die 
Entfernung des Fixierzeichens vom Auge, gleich bleibt, und nur 
die Entfernung des paraxialen Objektes, immer unter Konstant- 


! Lange, nachdem ich dieses niedergeschrieben, lese ich bei Do»ro- 
woLsKkyY und Game (Pflügers Archiv 12): „Diese Schwierigkeit (sc. der ge- 
nauen Fixation) tritt besonders bei unbedeutendem Abstand (sc. des zu be- 
obachtenden Objektes) vom Zentrum hervor.“ 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 4 


50 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


haltung des eben genannten Winkels, geändert wird, ist ohne 
weiteres verständlich. Ist das paraxiale Objekt nahe, und er- 
scheint es nicht allzu stark peripher, so wird es eben bei allzu 
starker Abflachung der Linse doch einmal in merkbarer Weise 
undeutlicher werden. Im Falle eines fernen paraxialen Objektes 
kann sich die Linse noch stärker abflachen. 

Es wäre unstatthaft, gegen diese Ausführungen den Ein- 
wand zu erheben, dafs auch wir das Stattfinden einer peripheren 
Akkommodation annähmen, und somit von der These HEmRIcHs 
nicht so weit abwichen. Unsere Ausführungen richten sich ja 
nicht gegen die allgemeine Annahme, dafs auch die Netzhaut- 
bilder der Peripherie den Akkommodationsakt auszulösen ver- 
mögen — diese Annahme wird man in Anbetracht der Klein- 
heit des Makulabezirkes einerseits, der im Laufe unserer Unter- 
suchung noch mehrfach hervorzuhebenden praktischen Wichtig- 
keit des indirekten Sehens andererseits, ohne weiteres machen 
dürfen — sie betreffen vielmehr nur jene spezielle, von HEINRICH 
angenommene Form des Akkommodationsmechanismus. Aber 
mit jener speziellen Form der Akkommodation auf die Netzhaut- 
peripherie steht und fällt die von Hrırrıca aufgestellte dioptrische 
Theorie des AUBERT-FoERSTERschen Phänomens. 

Nehmen wir nun für einen Augenblick an, Hrmrichs Den- 
tung der Linsenabflachung sei richtig. Es erhebt sich dann 
immer noch die Frage, ob hierdurch die herkömmliche An- 
schauung über die Beziehung der Aufmerksamkeit zu den Funk- 
tionen der Sinnesorgane erschüttert würde. Wir können an 
diesem Problem nicht mit Stillschweigen vorübergehen; denn wer 
jene herkömmliche Lehre für erschüttert hält, wird an einigen 
Punkten unserer späteren Erörterungen Anstols nehmen. Da 
nun das HeLmHoLtzsche Experiment ein Hauptstützpunkt dieser 
Lehre ist, so spitzt sich das genannte Problem auf die Frage zu, 
ob die Henmuorrzsche Beobachtung mit Hilfe der Lehre von 
der peripheren Akkommodation, ihre Richtigkeit zugegeben, er- 
klärt werden könne. 

Betrachten wir das auf der Mattscheibe einer photographischen 
Kamera von einem Gegenstand entworfene Bild, so bemerken 
wir eine Abnahme der Deutlichkeit nach dem Rande der Matt- 
scheibe hin; die Abnahme ist verschieden deutlich, je nach der 
Gröfse der Blende und nach der Konstruktion des Objektivs. 
Den Astigmatismus für die schräg einfallenden Strahlen, auf 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 51 


welchem diese Abnahme zum Teil sicher beruht, wollen wir un- 
korrigiert lassen. Die Undeutlichkeit ist aber im allgemeinen 
nicht allein auf den Astigmatismus zurückzuführen, sondern zu- 
gleich auf den Umstand, dafs die Ebene der Mattscheibe die 
Brennstrecke nicht in demjenigen ihrer Punkte schneidet, in 
welchem das entworfene Bild das Maximum seiner Klarheit be- 
sitzt, oder dals die Mattscheibe überhaupt nicht zwischen den 
beiden Brennlinien, sondern aufserhalb derselben liegt. Die 
Vorsetzung einer Konkavlinse bewirkt stets, dafs sich die Strahlen 
an Orten schneiden, welche dem Objektiv näher liegen; Vor- 
setzung einer Sammellinse hat den umgekehrten Erfolg. Wir 
nehmen an, die Linse sei so gewählt, dafs an einer bestimmten 
Stelle der Platte die Brennstrecke in ihrem Optimalpunkt — 
dieser durchsichtigen Abkürzung wollen wir uns bedienen — 
geschnitten werde. Dafs das Bild in einem bestimmten Punkte 
der Brennstrecke im menschlichen Auge merklich deutlicher ist, 
als die Bilder in allen davor und dahinter gelegenen Punkten, 
mufs Hrınrıca notwendigerweise annehmen; anderenfalls hätte 
ja das Auge keinen Grund, seinen Akkommodationszustand zu 
ändern. Wir machen nun auch hier die Annahme, dafs ein 
wirklicher Optimalpunkt vorhanden sei. Das Bild soll also in 
diesem Punkte gröfsere Deutlichkeit besitzen als in der nächsten 
Umgebung. Schlagen wir aber durch jene relativ deutlichere 
Stelle auf der Mattscheibe einen Kreis, dessen Zentrum in der 
Achse des Objektivs liegt, so liegt wegen der Symmetrie der Kamera 
um die optische Achse in jedem Punkte der Peripherie ein solches 
Maximum der Deutlichkeit. 

Benutzen wir statt der ebenen Mattscheibe eine solche von 
der Gestalt einer Kugelfläche, und wiederholen wir den Versuch, 
so ist, falls sich nur der Mittelpunkt der Kugelfläche auf der 
optischen Achse befindet, der geometrische Ort des relativen Deut- 
lichkeitsmaximums abermals ein in der Kugelfläche gezogener 
Kreis, dessen Zentrum in der optischen Achse liegt. Ist die Vor- 
richtung nur annähernd symmetrisch um die optische Achse, ist 
etwa das Objektiv kein vollkommener Rotationskörper, oder ist 
die Mattscheibe keine vollkommene Rotationsfläche, so wird jener 
Kreis einige Verzerrungen erleiden. Auf jeden Fall wird der 
geometrische Ort des relativen Deutlichkeitsmaximums durch 
eine geschlossene Kurve repräsentiert. 


Da nun der Augenhintergrund annähernd eine Rotations- 
4* 


52 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


fläche um die Augenachse ist, so gelten diese Verhältnisse auch 
vom Auge. Die Vorsetzung der Linse vor das Objektiv wirkt 
so, wie wenn dessen Krümmungsradius geändert worden wäre. 
Dies ist aber grade die mit der Linse bei der sog. peripheren 
Akkommodation vorgehende Änderung. Diese soll zur Folge 
haben, dafs an einer bestimmten Stelle der Netzhaut der Optimal- 
punkt der Brennstrecke mit den perzipierenden Organen zusammen- 
fällt. Wie mülste also die von HEeLmHoLTZz beobachtete Erschei- 
nung aussehen, wenn sie auf peripherer Akkomodation beruhte? 
Wurde, so etwa hätte der Bericht von HEeLmHoLTz gelautet, 
die Aufmerksamkeit vor dem Versuch auf eine bestimmte Stelle 
des dunklen Gesichtsfeldes gelenkt, so wurden im Moment der 
Belichtung alle auf der Peripherie einer geschlossenen Kurve 
gelegenen Buchstaben deutlich gesehen. Diese Kurve glich an- 
nähernd einem Kreise, dessen Zentrum der Fixierpunkt ist, und 
dessen Peripherie die Stelle trifft, auf welche vor dem Versuch 
die Aufmerksamkeit gerichtet wurde. — HeELmHoLtz sah nur 
die an jener letzteren Stelle befindlichen Buchstaben deutlich. 


Die soeben gezogene Folgerung erscheint vielleicht nicht durchaus 
unvermeidlich. 

Das Vorkommen einer partiellen Akkommodation, das heifst einer 
Akkommodation für einzelne Meridiane der Netzhaut durch partielle Kon- 
traktion des Ziliarmuskels, ist vielfach behauptet worden." Wenn nun die 
genannte Lehre richtig ist, und wenn andererseits, wie ja Heinrich annimmt, 
auch in der Peripherie jederzeit der grölstmögliche auf Grund der Berech- 
nungen bestimmte Deutlichkeitsgrad hergestellt wird, so erscheint es 
nicht ausgeschlossen, dafs bei Richtung der Aufmerksamkeit auf einen be- 
stimmten Punkt der Peripherie für den betreffenden Meridian partiell akkom- 
modiert wird. 

Die allgemeine Abflachung, welche Heinrich mit dem Ophthalmometer 
allein feststellte, würde dann trotz jener partiellen Akkommodation mit 
grofser Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Die partielle Ziliarmuskel- 
kontraktion wurde nämlich stets als sehr anstrengend bezeichnet. Wird 
sie zur Gewohnheit, wie angeblich bei Astigmatikern, so soll sie nicht nur 
erhebliche Beschwerden verursachen, sondern sie stellt nach der Ansicht 
jener Autoren sogar ein ätiologisches Moment für zum Teil sehr schwere 
Erkrankungen dar. In jedem Falle wird also die Linse den zur Herstellung 
des gröfstmöglichen Klarheitsgrades erforderlichen Akkommodationsaufwand 


1 DOBROWOLSKY, Über verschiedene Veränderungen des Astigmatismus 
unter dem Einflufs der Akkommodation. Arch. f. Ophthalm. 14, S. 51. — 
Womow, Zur Frage über die Akkommodation. Ibid. 15, S. 165. — Fuchs, 
Lehrb. der Augenheilk. 5. Aufl. 1895. u.a. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-F'oersterschen Gesetzes. 53 


nicht mit Hilfe der partiellen Ziliarmuskelkontraktion allein bewältigen, 
sondern sie wird soviel wie möglich durch allgemeine Abflachung zu er- 
reichen suchen, um möglichst wenig partiell akkommodieren zu müssen. 
Wenn nun etwa bei dem HermHoLzzschen Versuch gleichzeitig eine allge- 
meine Abflachung und eine partielle Ziliarmuskelkontraktion stattgefunden 
hätte, so mülste allerdings die Stelle, auf die die Aufmerksamkeit gerichtet 
war, deutlicher erscheinen, als alle Punkte des Feldes, deutlicher auch, als 
die Punkte des Kreises. Jene Stelle ist ja der Schnittpunkt des Meridians, 
auf den akkommodiert wurde, mit dem Kreise. Kommt, wie wir voraus- 
setzten, in jenem Schnittpunkt die maximale Deutlichkeit dadurch zustande, 
dafs Abflachung und partielle Ziliarmuskelkontraktion zusammenwirken, so 
wird dieser Klarheitsgrad von allen den Punkten nicht erreicht, die ent- 
weder nur durch Abflachung oder nur durch partielle Akkommodation 
etwas gewinnen, d. h. die entweder nur auf dem Kreise oder nur in dem 
Meridian liegen. 

Hierauf ist zu erwidern, dafs die Annahme des Vorkommens von par- 
tieller Ziliarmuskelkontraktion gegenwärtig der Begründung entbehrt. Hzss! 
hat die früheren sehr zahlreichen Arbeiten über partielle Akkommodation 
auf ihre Fehlerquellen geprüft; er konnte die angeblich auf partieller Ak- 
kommodation beruhenden Erscheinungen stets auf die Wirksamkeit von 
Fehlerquellen zurückführen. Nach Eliminierung dieser Fehlerquellen zeigte 
sich niemals eine Erscheinung, die auf das Vorkommen partieller Ziliar- 
muskelkontraktion hinwies. 


83. 


Der Gang unserer Untersuchung erfordert es, dafs wir uns 
nun mit einem Gegenstand beschäftigen müssen, der auf den 
ersten Blick zu dem vorliegenden Problem keine unmittelbare 
Beziehung zu haben scheint. 

In neuerer Zeit haben sich mehrere Forscher, in Deutschland 
besonders ausführlich GvILLErY, mit der Kritik und Reform der 
üblichen, von SneLLEN herrührenden Methode zur Bestimmung 
der Sehschärfe beschäftigt. Wir brauchen hier nur einige Mark- 
steine des bisher in diesem Gebiete zurückgelegten Weges her- 
vorzuheben. 

Wenn, so setzt SNELLEN fest, von zwei Proben, deren Seiten 
sich verhalten wie 2:1, von einem Individuum die erste in einer 
bestimmten Distanz gelesen wird, von einem anderen Individuum 
die zweite, so verhalten sich die Sehschärfen wie 1:2. Die 
Gröfse des Netzhautbildes, so wird hier angenommen, ist der 





! Arbeiten aus dem Gebiete der Akkommodationslehre II, Archiv f. 
Ophthalm. 42, 1896. 


54 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


beim Erkennen von Formen wesentlichste, ja der einzig wesent- 
liche Faktor. 

Diese Annahme nun ist nach GUILLERY grundverfehlt. Dieser 
Autor beginnt mit Untersuchungen ! deren Resultate fast trivial 
anmuten, was freilich für den einleuchtenden Charakter seiner 
Gründe kein schlechtes Zeugnis ist. Er ermittelt z. B. die ge- 
ringste Knickung, welche eine in bestimmter Entfernung darge- 
botene Linie haben darf, damit die Abweichung von der geraden 
Richtung erkannt wird. Während die Schwelle für die Wahr- 
nehmung der Knickung bei einer bestimmten Länge der Schenkel 
ermittelt wurde, gewann der Beobachter ohne weitere experimen- 
telle Vorrichtungen den Eindruck, dafs die Schenkel erheblich 
kürzer sein könnten, ohne dafs der Wert der Schwelle eine Än- 
derung erfahren würde, dafs also das Erkennen der Form in dem 
vorliegenden Falle von der Gröfse des Netzhautbildes innerhalb 
weiter Grenzen unabhängig sei. Wurde freilich die Schenkel- 
länge aufserordentlich stark verkürzt, so ergab sich eine gewisse 
Abhängigkeit der Schwelle der Knickung von der Schenkellänge. 

Ganz ähnliche Resultate ergaben sich beim Erkennen anderer 
einfacher Formverhältnisse. Es zeigt sich also, dafs das Erkennen 
der Form von der Grölse des Netzhautbildes innerhalb weiter 
Grenzen unabhängig ist. Wesentlich von der Gröfse des Winkels, 
also von der wechselseitigen Lage der gereizten Sehzellen hängt 
es z. B. ab, ob eine Knickung erkannt wird oder nicht. Dies 
ist aber ein Faktor, welcher sich nicht in einfacher Weise durch 
Zahlen bewerten lälst. 


Die Geringfügigkeit des Einflusses der Netzhautbildgröfse auf das Er- 
kennen von Formen hatte sich auch schon bei früheren Versuchen Gum- 
LERYS ? herausgestellt. Die Sehschärfe wurde auf künstlichem Wege durch 
Vorsetzen von Linsen so weit herabgesetzt, daľs eine Form von n-fachen 
Dimensionen (gemäfs dem SxeLLENschen System) eben anfing, kenntlich zu 
werden. Alsdann wurde geprüft, ob eine Verminderung dieser Dimensionen 
in der einen oder anderen Richtüng statthaft ist, ohne dafs das Erkennen 
unmöglich wird. Besteht wirklich der von SNELLEN angenommene erheb- 
liche Einflufs der Gröfse auf die Erkennbarkeit, so wird eine solche Ver- 
änderung nur innerhalb sehr enger Grenzen zulässig sein. Als Objekt 
diente ein in dicken Strichen ausgeführter zweizackiger Haken, welcher aus 
einem Quadrat durch Weglassung der oberen Seite entsteht. Daneben 
wurden andere Haken benutzt, deren Seiten dieselbe Dicke besafsen, die 


1 Messende Untersuchungen über den Formensinn, Pflügers Arch. 75, 189. 
? Einiges über den Formensinn, Arch. f. Augenheilk. 28. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 55 


aber in einem Falle nur halb so breit, in einem anderen nur halb so hoch 
waren wie der ursprüngliche Haken. Selbst wenn die ursprüngliche Figur 
an der Grenze des Wahrnehmbaren stand, liefs sich die halb so breite und 
die halb so hohe Figur nicht weniger deutlich erkennen. 


Bis hierher dürfte die Frage mehr den Ophthalmologen und 
Physiologen als den Psychologen interessieren. In einigen neueren 
Arbeiten von PERGEns! und GuiszerY? erhielt die Frage ein 
mehr psychologisches Gesicht. Neben anderen interessanten Er- 
gebnissen wurde folgende merkwürdige Erscheinung beobachtet. 
Obwohl der obere Teil der Fig. b der Fig. a genau gleicht, also 


=m EEE 
a 


ő 


Fig. 5. 


dasselbe Netzhautbild liefert, wie diese, so wurde doch bei all- 
mählicher Annäherung die Lücke in Fig. b früher erkannt als 
in Fig. a. Eine Verstärkung der unteren horizontalen Seite in 
Fig. b machte die Lücke noch deutlicher; eine relatiy sehr be- 
deutende Verstärkung hatte aber keinen anderen Erfolg, wie eine 
solche geringeren Grades. Zur Erklärung verweist P. wohl mit 
Recht auf den Umstand, dafs Fig. b eine bekannte Figur, näm- 
lich ein Quadrat darstellt, in welchem der Vergleich mit den 
ununterbrochenen Seiten das Erkennen der Lücke erleichtert. 
Es ist aber klar, dafs sich diese unterstützende Wirkung des 
basalen Striches auch auf um so gröfsere Entfernungen geltend 
macht, je weiter derselbe deutlich gesehen wird, d. h. je dicker 
er ist. Doch existiert für dieses Verhalten eine gewisse Grenze. 
Wächst die Verdickung immer weiter, so kann zwar die Figur 
immer weiter vom Auge entfernt sein, ohne dafs die Deutlich- 
keit der Basis leidet; das Netzhautbild des oberen Striches ist 
aber nun doch zu klein geworden, als dals die unterstützende 
Wirkung des unteren Teiles noch den Erfolg der Deutlichkeit 
herbeiführen könnte. Die Lücke wird daher nicht auf weitere 


1 Arch. f. Augenheilk. 43, S. 144. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 1902, 1903 
und Zeitschr.f. Augenheilk. © (4). 

® Weitere Unters. z. Physiol. d. Formensinns. Arch. f. Augenheilk. 
51. 1905. 


56 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Entfernung erkannt, als dann, wenn die Verstärkung der Basis 
nur einen geringeren Grad besitzt. 

In den zitierten Arbeiten von PErGens und GviILLeRy findet man zahl- 
reiche ähnliche Beispiele. 

Die beiden behandelten Figuren gleichen einander in den- 
jenigen Partien, auf welche sich das Deutlichkeitsurteil bezieht, 
völlig. Es gilt also nicht nur der Satz, dafs die Deutlichkeit 
eines Objektes keine eindeutige Funktion der Netzhautbildgröfse 
ist; wir können vielmehr nun erweiternd und verallgemeinernd 
hinzufügen, dafs der Deutlichkeitsgrad durch das Netzhautbild 
mitsamt allen seinen Eigenschaften überhaupt nicht eindeutig 
bestimmt sei. Die von den beiden Figuren herrührenden Netz- 
hautbilder waren, gleiche Entfernung vorausgesetzt, in den auf 
ihre Deutlichkeit zu beurteilenden Partien ununterscheidbar; in 
in anderen Partien wiesen die Netzhautbilder freilich eine Ver- 
schiedenheit auf, und diese Verschiedenheit ist es eben, auf die 
die Ungleichheit im psychologischen Verhalten mit Recht zurück- 
geführt wird. 

Ist aber eine solche Ungleichheit der Konstellationen in 
psychologischer Hinsicht auf das Deutlichkeitsurteil überhaupt 
von Einflufs, so erscheint es von vornherein nicht sehr wahr- 
scheinlich, dafs eine psychologische Verschiedenheit der Kon- 
stellationen nur durch eine Ungleichheit der benachbarten Netz- 
hautbilder hervorgebracht werden kann. Es erhebt sich vielmehr 
nun die Frage, ob eine solche das Deutlichkeitsurteil beeinflus- 
sende Ungleichheit der Konstellationen nicht auch in Fällen vor- 
handen sein kann, in welchen die Netzhautbilder in allen wesent- 
lichen Momenten einander gleichen. Werden also z. B. in zwei 
Fällen dieselben Netzhautbilder dadurch hervorgerufen, dafs 
zwei geometrisch ähnliche, in verschiedenem Malsstabe gezeichnete 
Prüfungsobjekte in entsprechenden Entfernungen vom Auge auf- 
gestellt werden, so ist es nach dem gegenwärtigen Stande der 
Forschung durchaus nicht von vornherein als selbstverständlich 
zu bezeichnen, dafs in beiden Fällen das gleiche Urteil abgegeben 
werden müsse. Es könnte ja, um nur an eine Möglichkeit zu 
erinnern, das fernere objektiv gröfsere Objekt, welches ja trotz 
der gleichen Gesichtswinkel und der gleichen Netzhautbilder 
grölser erscheint als das kleine nahe, eben infolge dieser beträcht- 
lichen scheinbaren Gröfse auf weitere Entfernung deutlich sein, 
als es nach der lediglich den Gesichtswinkel berücksichtigenden 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 57 


Konstruktion der Fall sein mülste. Natürlich ist aber nicht aus- 
geschlossen, dals sich gerade eine Abweichung im entgegen- 
gesetzten Sinne ergibt. 

Die Beantwortung der vorliegenden Frage scheint nun für 
die Analyse des A.F.G. von hoher Wichtigkeit zu sein. Wir 
wollen den AUBERT-FOERSTERschen Satz einmal etwas anders aus- 
drücken, indem wir nur die Worte ändern. Wır nehmen an, 
zwei geometrisch ähnliche, mit der Netzhautperipherie zu be- 
trachtende Prüfungsobjekte werden nacheinander in solchen Ent- 
fernungen vom Auge aufgestellt, dafs sie gleich grolse Netzhaut- 
bilder liefern, und dafs die nach beiden Objekteu gezogenen 
Richtungslinien zusammenfallen ; die im Auge entstehenden reellen 
Bilder sollen also nicht nur von gleicher Grölse sein, sondern 
auch denselben Ort auf der Netzhautperipherie einnehmen. In 
diesem Falle ist, so können wir ja den Inhalt des A. F. G. aus- 
drücken, das grolse ferne Objekt undeutlicher als das kleine nahe. 
Denn gesetzt, ein grofses fernes und ein ihm geometrisch ähn- 
liches kleines nahes Objekt — beide in solchen Entfernungen 
aufgestellt, dafs die resultierenden Netzhautbilder gleiche Gröfse 
besitzen — werden von sehr exzentrischer Lage aus dem Fixier- 
punkt soweit genähert, dals sie eben deutlich erkannt werden, so 
schlielst die nach einer Stelle, z. B. nach dem unteren oder oberen 
Rande, des ferneren Objektes gezogene Richtungslinie mit der 
Blicklinie einen kleineren Winkel ein, als die nach der ent- 
sprechenden Stelle des kleinen Buchstaben gezogene Richtungs- 
linie. 

Versehieben wir nun das grolse ferne Objekt noch weiter 
nach der Peripherie hin, so dafs die Winkel zwischen Richtungs- 
linie und Blicklinie beim fernen und beim nahen Objekte gleiche 
Gröfse erhalten, so wird das ferne Objekt, da eine solche Ver- 
schiebung infolge der stetigen Abnahme der Empfindlichkeit der 
Netzhautperipherie die Deutlichkeit vermindert, nun undeutlicher 
erscheinen als das nahe Objekt; Objekte, die, in verschiedener 
Entfernung aufgestellt, die gleichen Netzhautbilder liefern, sind 
verschieden deutlich. 

Es ist also der Widerspruch gegenüber den SneLLexschen 
Voraussetzungen von der ausschliefslichen Mafsgeblichkeit des 
Netzhautbildes, weshalb das A. F. G. so paradox erscheinen mulste. 
ÄAUBERT und Heısrıca suchten das Paradoxon dadurch aufzu- 
lösen, dafs sie, wie sie wenigstens meinten, die Annahme von 


58 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


einer tatsächlichen Gleichheit der Netzhautbilder in den beiden 
Konstellationen zerstörten. Das Paradoxon wäre aber auch dann 
gelöst, oder vielmehr, der Widerspruch des A. F. G. gegenüber 
jener SNELLENschen Annahme würde uns nicht mehr beunruhigen, 
wenn diese Annahme eben irrig wäre. Oder noch genauer: das 
A. F.G. würde gar nichts Auffälliges aussagen, vielmehr eine 
triviale Erscheinung bezeichnen, wenn ganz allgemein, also auch 
für das direkte Sehen, gälte, dafs von zwei verschieden grofsen, 
aber geometrisch ähnlichen Objekten, welche so aufgestellt sind, 
dafs gleiche Netzhautbilder resultieren, das grolse ferne weniger 
deutlich ist als das kleine nahe, dafs also z. B. das letztere be- 
reits mit Sicherheit erkannt wird, während dies bei dem grolsen 
fernen Objekte nicht der Fall ist. Das A. F. G., welches wir ja 
soeben (S. 57) in der Weise ausdrückten, dafs das grofse ferne 
Objekt auf der Peripherie undeutlicher sei als das kleine nahe, 
wäre dann nur ein Spezialfall des allgemeineren Gesetzes, welches 
vielleicht an die Stelle der SneLLenschen Annahme zu setzen ist. 

Nehmen wir also an, die SnenLLensche Annahme mülfste tat- 
sächlich durch die soeben (zunächst nur als möglich hingestellte) 
Gesetzmälsigkeit ersetzt werden. Stellen wir dann zwei geomet- 
risch ähnliche Buchstaben so auf, dals die von dem Knotenpunkt 
des Auges nach beiden gezogenen Richtungslinien zusammen- 
fallen — die Exposition beider Buchstaben darf also wegen sonst 
eintretender Verdeckung nicht simultan erfolgen — und nehmen 
wir ferner an, dals gleiche Netzhautbilder resultieren, so wird, 
falls bei dieser Stellung der Buchstaben der kleine nahe eben 
gerade deutlich erkennbar ist, dies bei dem grolsen fernen noch 
nicht der Fall sein. Geht die gemeinsame Richtungslinie durch 
die Fovea, findet also die Prüfung im direkten Sehen statt, so 
ist nur eine Art von Verschiebung des grofsen fernen Objektes 
möglich, durch welche auch dieses auf die Stufe eben deutlicher 
Erkennbarkeit gebracht werden kann. Das grofse ferne Objekt 
mufs dem Auge einfach genähert werden. Dagegen hätte die 
Verbringung des Objektes auf eine andere Richtungslinie, wo- 
durch ja das Netzhautbild auf exzentrischere Stellen der Retina 
gebracht würde, gerade den nicht gewünschten Erfolg einer 
Herabsetzung der Deutlichkeit. Geht dagegen die gemeinsame, 
nach beiden Buchstaben gezogene Richtungslinie von vornherein — 
also bei Aufstellung der Objekte in solchen Entfernungen, dafs 
gleich grofse Netzhautbilder resultieren — durch eine exzentrische 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 59 


Netzhautstelle, und ist der kleine Buchstabe wiederum gerade 
eben deutlich erkennbar, so gibt es nunmehr nicht eine, son- 
dern zwei Arten von Verschiebungen des grolsen fernen Buch- 
staben, durch welche auch dieser auf die Stufe des soeben sicher 
Erkanntwerdens gebracht werden kann. Einmal nämlich können 
wir den grolsen fernen Buchstaben, während wir ihn auf der- 
selben Richtungslinie belassen, dem Auge einfach nähern. Dies 
ist ja der Weg, welcher bei Anstellung der Untersuchung in 
direktem Sehen der allein gangbare ist. Zweitens aber können 
wir die Deutlichkeit des grolsen fernen Buchstaben auch dadurch 
erhöhen, dafs wir denselben, ohne ihn dem Auge zu nähern, auf 
eine andere, durch eine weniger stark exzentrische und darum 
mit gröfserer Sehschärfe ausgestattete Netzhautstelle gehende 
Richtungslinie bringen. Wäre also die Snenuensche Annahme 
durch die mehrfach erwähnte Gesetzmälsigkeit, welche wir kurz 
als „Gesetzmälsigkeit g“ bezeichnen wollen, zu ersetzen, so würde 
sich als eine einfache Folgerung aus der „Gesetzmälsigkeit g“ 
ergeben, dals von zwei geometrisch ähnlichen, verschieden grofsen 
und verschieden entfernten, aber gleich grofse Netzhautbilder 
liefernden Buchstaben der grofse ferne, um eben gerade erkenn- 
bar zu sein, sich auf einer weniger stark exzentrischen Netzhaut- 
stelle abbilden muls, als der gleichfalls eben gerade deutlich er- 
kennbare kleine nahe Buchstabe. Der Inhalt dieser Folgerung 
stimmt aber gerade mit demjenigen des A. F. G. überein. Ist 
also die SNELLENsche Annahme tatsächlich durch die „Gesetz- 
mäfsigkeit g“ zu ersetzen, so brauchen wir, wie es wenigstens 
scheint, nach den Gründen des A. F. G. nicht weiter zu suchen. 

Bei einem ganz methodischen Vorgehen wäre zunächst zu 
prüfen gewesen, ob die Snerzensche Annahme nicht vielleicht 
tatsächlich durch die „Gesetzmälsigkeit 9“ zu ersetzeu ist. 

Da sich die Folgerungen in dem Gedankengang von AUBERT 
und Henrica, nämlich die besonderen Abbildungs- oder Auf- 
nahmeverhältnisse der Peripherie, nicht bestätigten, so liegt viel- 
leicht der Irrtum in den als selbstverständlich angenommenen 
und bisher für keiner Prüfung bedürftig gehaltenen Voraus- 
setzungen. 

Hierdurch ist der weiteren Untersuchung folgender Weg 
vorgeschrieben: Geometrisch ähnliche Sehproben werden zu un- 
gezwungener, d. h. nicht peripherer, sondern vorwiegend zen- 
traler Betrachtung dargeboten. Sie werden der Vp. soweit ge- 


60 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


nähert, bis die Form eben deutlich ist. Es fragt sich, ob sich 
die so ermittelten Abstände der Sehproben vom Auge zuein- 
ander ebenso verhalten, wie die linearen Dimensionen der be- 
nutzten Sehproben. 

Die zur Untersuchung verwendeten Buchstaben wurden aus 
einer nach SnELLEN konstruierten Sehschärfentafel ausgeschnitten 
und auf weilse Kärtchen aufgeklebt, deren Grölsenverhältnisse 
denen der Buchstaben entsprachen. Die Gröfsenverhältnisse der 
Buchstaben waren durch Messung der Höhe des reellen Bildes. 
bestimmt worden, welches auf der Mattscheibe einer zu diesem 
Zwecke improvisierten Vergrölserungskamera von den nachein- 
ander an die genau gleiche Stelle gebrachten Buchstaben ent- 
worfen worden war. 

Die Höhen der sehr annähernd geometrisch ähnlichen (mittel- 
zeiligen) Buchstaben betrugen im vergröfserten Bilde auf der 
Mattscheibe 4,4, bzw. 6,9 und 10,8 mm, so dafs sich ihre linearen. 
Dimensionen wie 1:1,57:2,45 verhalten. 

Direkte Messung mit Malsstab und Lupe, mit Schätzung der Zehntel, 
hatte im Durchschnitt aus mehreren Messungen das nahezu überein- 
stimmende Verhältnis 1:1,59:2,47 ergeben. 

Die kleinen Buchstaben sind auf diesen Tafeln etwas blasser 
gedruckt als die gröfseren, so dafs die letzteren also eigentlich in 
noch relativ weiteren Entfernungen erkannt werden mülsten. 

Die Vp. sals — der Kopf war durch Kinnstütze fixiert — 
neben einer langen Bank. Auf dieser Bank konnte von der Vp. 
durch Ziehen an einer Schnur ein Brett verschoben werden, 
welches einerseits eine auf der Seite des Auges mit einem Schirm 
versehene Glühlampe trug, andrerseits eine von dieser beleuchtete, 
etwas seitlich angebrachte schwarze Wand, auf der, dem Auge 
der Vp. gerade gegenüber, der Karton mit dem jeweilig darzu- 
bietenden Buchstaben befestigt wurde. 

Die Instruktion verlangte die Näherung des Buchstabens bis 
auf solche Entfernung, dafs derselbe mit Sicherheit erkannt wird. 
Vp. Dr. v. Sysen erläuterte sein Verhalten näher dahin, dafs er 
diese Sicherheit für erreicht halte, wenn er mit Bestimmtheit 
sagen könne, dafs kein anderer Buchstabe des Alphabets in Be- 
tracht kommt. 

An jedem Versuchstage wurden 33 Buchstaben dargeboten ; 
aulser den in der Tabelle angeführten, an jedem Versuchstage, 
und zwar in jeder Grölsenklasse einmal, regelmälsig wieder- 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 61 


kehrenden Buchstaben kamen jedesmal, um eine Mechanisierung 
des Verhaltens möglichst hintanzuhalten, immer noch einige an- 
dere, neue zur Verwendung. Die Tabelle berichtet über einen 
Teil der in Wirklichkeit zahlreicheren Versuche und bezieht sich 
auf sechs mit Herrn Dr. phil. v. Syeen als Vp. absolvierte Ver- 
suchstage. Die Tabelle enthält die Entfernungen der Buchstaben 
vom Auge, die mittlere Abweichung (in Klammern) und das 
Verhältnis der Entfernungen. Die Werte lassen erkennen, dafs 
die Buchstaben der grolsen und mittleren Klasse stets näher an 
‚das Auge herangebracht werden müssen, als man auf Grund der 
Gröfsenverhältnisse erwarten sollte. 











a e | i 
—— — —— MMM 
klein mittel grofs klein mittel grofs | klein mittel grofs 

1 | 
60,7 76,2 98,0 64,5 79,2 96,5 | 62,2 103,3 
m. Abw. | m. Abw.| m. Abw. | m. Abw. | m. Abw.! m. Abw. |m. Abw. | m. T m. Abw. 
| 
I 





(3,8) | (5,2) | (4,7) (4,0) | (5,2) | (2,5) (42) | (5,7) (7,1) 
1 : 1,255 : 1614 1 : 1228 : 1,496 1 : 1886 : 1,645 











m n |l o 
p A | e 
71,8 100 | 113,2 63,8 81,2 1120 | 698 | | 842 92,7 
(2,5) | 7) | (8,2) B82) | e9 | 40 | 89 | 83 | 48) 

1 : 1393 : 1,577 1 : 1273 : 1,755 1 : 1222 : 1,328 


r u | ä 


1 ——— | — 


620 | 878 | %3 | 635 | 788 | 106,2 | 687 | 875 | 1073 
(3,0) | 48) | (7,7) (3,3) (5,5) | (8,2) | (4,3) (4,3) | (3,4) 


1 : 1416 : 1,553 1 : 1,241 : 1,672 1 : 1,274 : 1,562 




















Wir geben jetzt einige Selbstbeobachtungen der Vp. v. S. 
wieder. 

Es hängt gar nicht wesentlich von der Gröfse eines Buch- 
stabens ab, wie früh man ihn erkennen kann. Ausschlaggebend 
ist dafür seine Form. Diese relativ bedeutende Unabhängigkeit 
des Erkennens von der Gröfse zeigt sich besonders bei den 
beiden grofsen Klassen. Eher spielt die Gröfse noch bei der 
kleinsten Klasse mit. — Eine nähere Erläuterung dieser Aussagen 
enthalten die folgenden Beobachtungen. 


62 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Sieht ein Buchstabe, sobald er eben anfängt, etwas deut- 
licher zu werden, einem „u“ und einem „n“ ähnlich, so achtet 
Vp. von nun ab einfach darauf, ob er oben offen oder durch 
einen Querstrich geschlossen ist. Könnte ein Buchstabe, aus der 
Ferne gesehen, vielleicht ein „o“ sein, so mu[s man sich noch 
Gewilsheit darüber verschaffen, ob nicht vielleicht oben noch 
etwas „dransitzt“, wie beim „d“.! Ähnliche Kriterien sind nun 
auch bei der Mehrzahl der anderen Buchstaben mafsgebend. 
Fast immer besteht zunächst eine Alternative zwischen zwei oder 
mehr Buchstaben, die dann durch ein solches Kriterium ent- 
schieden wird. Der Umstand, dafs man die Buchstaben des 
Alphabetes kennt und weils, welche Formen überhaupt vor- 
kommen können, ist für diese Versuche von wesentlicher Be- 
deutung. 

Ist der Buchstabe noch sehr fern, so findet zunächst eine 
Einordnung in allgemeine Kategorien statt. Es ist etwa „ein 
kleiner breiter“ oder „ein hoher schmaler“ Buchstabe. Rückt 
der Buchstabe näher, so findet eine Spezialisierung statt; es 
handelt sich z. B. um einen kleinen Buchstaben „mit einer Ver- 
diekung oben“. Schliefslich treten dann in der Mehrzahl der 
Fälle die geschilderten ganz speziellen Alternativen auf. 

Diese Selbstbeobachtungen, welche mit den vom Verfasser 
angestellten in allen wesentlichen Punkten übereinstimmen, 
scheinen den Schlüssel für das Verständnis der befremdlichen 
Resultate zu enthalten. Nehmen wir als Beispiel den Fall, der 
dargebotene Buchstabe sei ein „u“. Um zu entscheiden, ob ein 
„u“ oder ein „n“ vorliegt, richtet die Vp., sobald die Formen 
nur einigermalsen deutlich zu werden anfangen, ihr Augenmerk 
darauf, ob der Buchstabe oben durch einen Querstrich geschlossen 
ist oder nicht. 

Wenn ein „n“ vorläge, so würde allerdings der obere Teil 
dieses Buchstabens und damit der Querstrich in den verschiedenen 
Konstellationen gleichgrofse Netzhautbilder liefern, wenn sich die 
Entfernungen wie 1:1,57:2,45 verhalten. Aber dieser Umstand 
ist für das Urteil der Vp. gar nicht malsgebend; da sich der 
Vorgang des Erkennens von Anfang an, wie wir sahen, in der 
Mehrzahl der Fälle in Alternativen vollzieht, welche mit zu- 
nehmender Deutlichkeit nur eine immer weitergehende Speziali- 





! Es handelte sich um gotische Buchstaben. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 63 


sierung erfahren, so sind für das Erkennen nicht nur diejenigen 
Elemente der Buchstaben wesentlich, die vorhanden sind, sondern 
auch, vielleicht sogar in erster Linie, diejenigen, welche nicht 
vorhanden sind. Bei dem Erkennen — gemeint ist immer das- 
jenige spezielle „Erkennen“, welches durch die Instruktion ge- 
fordert ist — spielt tatsächlich, wie man sich durch Selbst- 
beobachtung überzeugt, die Konstatierung des Nichtvorhanden- 
seins gewisser Elemente eine aulserordentlich grofse Rolle. Dieses 
runde Gebilde ist ein „o“, weil oben nicht noch etwas dran- 
sitzt, weil es somit kein „d“ ist; dies ist ein „u“, weil es oben, 
das ein „n“, weil es unten nicht geschlossen ist. 


Nun würden sich allerdings diese vermifsten Gebilde, falls 
sie wirklich vorhanden wären, um gleich grofse Netzhautbilder 
zu liefern, in Entfernungen befinden müssen, die sich zueinander 
verhalten wie die Gröfse der Buchstaben. Aber die Vp. denkt 
gar nicht daran, dafs und in welchem Verhältnis sich die Netz- 
hautbildgröfse mit der Entfernung ändert, und sie läfst sich 
durch derartige Erwägungen auch nicht in ihrem Urteil be- 
stimmen. Ein Buchstabe der grofsen Klasse, der dreimal so weit 
entfernt ist, sieht ja nicht ebenso aus, wie derselbe Buchstabe 
der kleinen Klasse, sondern er erscheint annähernd dreimal so 
grofs. Ferner denkt die Vp. gar nicht daran, dafs der Haar- 
strich bei den Buchstaben der grofsen Klasse dreimal so dick 
sein müfste, wie bei denen der kleinen Klasse, und erst recht 
befalst sie sich nicht mit Spekulationen, unter welchen Umständen 
jene Elemente, die gar nicht vorhanden sind, gleiche Netzhaut- 
bilder liefern würden, wenn sie wirklich da wären. Die Vp. er- 
wartet in den drei Konstellationen nicht etwas so ganz Ver- 
schiedenes, sondern annähernd dasselbe, eben einen Haarstrich. 
Sie weils ungefähr, wie ein Haarstrich in der Mehrzahl der Fälle 
auszusehen pflegt, und sie weils ferner, bei welcher Entfernung 
des Papieres vom Auge sie einen Haarstrich, falls er vorhanden 
wäre, wahrnehmen würde. Nicht eine für jede der Konstellationen 
besonders konstruierte, durch Reflexion erzeugte Vorstellung von 
einem Haarstrich wird dem Urteil zugrunde gelegt; sondern 
diese Vorstellung besitzt in allen Konstellationen im wesentlichen 
die gleiche Beschaffenheit; überall schwebt die Durchschnitts- 
vorstellung von einem Haarstrich vor, die wir durch zahlreiche 
Erfahrungen in der Praxis des Lebens gebildet haben. — In 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 65 


das A.F.G. scheint somit gemäls unseren auf S. 58 angestellten 
Überlegungen völlig erklärt zu sein. Ein grofses psychologisches 
Interesse dürfte das A. F.G. hiernach schwerlich beanspruchen. 

Die Erklärung, welche wir vom A.F.G. soeben gegeben 
haben, und auf die man bei methodischem Vorgehen nach Ein- 
sicht in die Unhaltbarkeit der physiologischen Hypothesen mit 
Notwendigkeit geführt wird, ist nun aber grundverkehrt, 

Die Voraussetzungen unserer Schlulsweise treffen zwar bei 
Buchstaben zu, nicht aber bei anderen Objekten. Beim zweiten - 
AvsgeErtschen Versuch besteht nun das Kriterium nicht in dem 
Erkennen von Buchstaben, sondern in der Angabe des Momentes, 
in dem zwei Quadrate eben gerade, bzw. eben nicht mehr ge- 
trennt erscheinen. Die Voraussetzungen für unsere Schlufsweise 
wären nur dann gegeben, und nur dann könnte diese Schlufs- 
weise zur Erklärung des A. F. G. benutzt werden, wenn auch bei 
Zugrundelegung dieses Objektes schon im direkten Sehen der 
Effekt nicht eindeutig von den Gesichtswinkeln bestimmt wäre, 
sondern gleichzeitig von der Entfernung abhinge. Es mulste 
also untersucht werden, wie sich das Erkennen eines Doppel- 
quadrates bei Prüfung in verschiedenen Entfernungen verhält. 


Sxerenschen Voraussetzungen das entscheidende Wort noch nicht ge- 
sprochen. Denn die Einstellungen, welche die Vp. liefert, sind, wie wir 
sahen, eben sehr wesentlich durch ihr inneres Verhalten bestimmt, durch 
die Art der von der Vp. verwandten Kriterien, durch die Instruktion, 
welche sie sich — innerhalb des Spielraums der ihr vom Versuchsleiter 
erteilten — selbst gibt. Aber ob das innere Verhalten und die Art der 
Kriterien im Sprechzimmer des Ophthalmologen im Durchschnitt das gleiche 
ist, wie im psychologischen Laboratorium, darüber könnten nur Massen- 
untersuchungen Aufschlufs geben. Uns interessiert nur die Verhaltungs- 
weise unbedingt gewissenhafter Versuchepersonen; denn wir gingen ja auf 
dieses uns ferner liegende Gebiet lediglich im Interesse der Aufklärung 
einer gleichfalls im Laboratorium beobachteten Erscheinung ein. In die 
ophthalmologische Diskussion über die zweckmälsigste Wahl der Sehproben 
einzugreifen, haben wir um so weniger Anlals, als ja bei der Behandlung 
dieser Fragen aufser den oben berührten theoretischen Gesichtspunkten 
noch Umstände ganz anderer Art in Erwägung zu ziehen sind; z.B. die 
Frage, wie man seine Forderung auch dem Ungebildeten am leichtesten ver- 
ständlich macht, wie man die Anforderungen an die Konzentration der 
Aufmerksamkeit möglichst herabsetzt (Prüfung durch Ebenmerkbarwerden 
und Ebenverschwinden von Punkten u. a.) usw., alles Fragen, die unserem 
Gegenstande und dem Interesse des theoretischen Psychologen gänzlich 
fernliegen. 
Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 5 


66 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Es wurden, wie bei der Untersuchung des $ 1, schwarze 
Quadrate auf grauem Grunde verwandt; die Länge der Quadrat- 
seiten betrug 3 bzw. 6 und 9 mm, der Abstand der Quadrate 
war jedesmal gleich der halben Seitenlänge.! Die Seitenlängen 
der grauen Kärtchen, auf die die Quadrate aufgeklebt waren, 
verhielten sich wie die Längendimensionen der letzteren. Die 
Kärtchen wurden vor einem ausgedehnteren Hintergrund von der- 
selben grauen Farbe dargeboten. Die Versuche mufsten im 
Freien angestellt werden, da sich die Vp. in Innenräumen vom 
Objekte nicht weit genug entfernen kann. Es wurde darauf 
Wert gelegt, dafs immer nur in solchen Augenblicken beobachtet 
wurde, in denen die Beleuchtung nach Schätzung annähernd 
gleichartig war. Die sich hieraus ergebende Abhängigkeit war 
ein grolses Hindernis und liefs nur kürzere Versuchsreihen zu. 

Die Richtung, in welcher sich die Vp. von dem in Augen- 
höhe angebrachten Doppelquadrat zu entfernen, bzw. sich ihm 
zu nähern hatte, war durch einen am Boden senkrecht zu der 
Ebene der Darbietung ausgespannten Faden bezeichnet. Der- 
selbe diente dem Vl. gleichzeitig zur gröberen Messung der Ent- 
fernung und trug zu diesem Zwecke im Abstand von je 3 m 
Marken, welche jedoch nur bei genauerem Zusehen sichtbar 
waren und der Vp. daher nicht als Orientierungsmittel dienen 
konnten. Die drei Doppelquadrate wurden immer hintereinander 
in einer bestimmten Reihenfolge dargeboten; einmal hatte sich 
die Vp. dem Objekt zu nähern, ein andermal sich von ihm zu 
entfernen. Die Reihenfolge der Darbietung der Doppelquadrate 
wurde permutiert. 


Herr Herınc. 














Im. Mittel. 
kleine Quadrate i mittlere Quadrate groľse Quadrate 
N 
a | b | a | b i a b 
558 489 1149 ; 1022 1682 1701 


a) | © se) | aœ $ 6 (60) 


1 Wäre, wie bei den Versuchen des § 1, die Distanz der Quadrate 
gleich ihrer ganzen Seitenlänge, so müfste sich die Vp. allzuweit entfernen, 
um die Quadrate nicht mehr als getrennt wahrzunehmen. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 67 














u 


K. ScHAPER. 
- 
kleine Quadrate | mittlere Quadrate | grolse Quadrate 
a b | a | b | a | b 
= i 1 
676 808° 1314 1587 | 2093 2547 
(29) (43) i (59) (80) | (46) (62) 
I 


a enthält, in Zentimetern gemessen, die Entfernungen, bei denen die 
Quadrate soeben getrennt erscheinen; b, bei denen sie soeben aufhören ge- 
trennt zu erscheinen. 


Die Entfernungen verhalten sich demnach annähernd wie 
1:2:3. 


$4. f 
Vielleicht kommen wir unserem Ziele näher, wenn wir die 
Versuchsbedingungen des AusErtschen Versuches ein wenig va- 
riieren. Eine solche naheliegende und offenbar geringfügige Ab- 
änderung ist z. B. die instantane Darbietung des Objektes. 


Bei Versuchen mit instantaner Darbietung eines Objektes bieten sich 
stets drei Möglichkeiten dar. Man kann den Verschlufs, welcher während 
des Versuches für einen Augenblick geöffnet wird, entweder vor dem Ob- 
jekt oder vor dem Auge, bzw. an einem vor dem Auge befindlichen Instru- 
mente, z. B. einem Fernrohr, oder endlich vor der Lichtquelle anbringen. 
Die erste Möglichkeit scheidet wegen der Gröfse des Objektes aus. Von 
den beiden anderen Möglichkeiten kommt nur die letzte in Betracht. 


Bringt man den Verschlufs in unmittelbarer Nähe des Auges an, so 
kann man zwar mittels eines Spiegels dem Auge als Fixierzeichen das Bild 
eines leuchtenden Punktes darbieten, welches in der Ebene des bei der 
Exposition darzubietenden Objektes liegt. Es ist nicht allzu schwierig, den 
Spiegel mittels gewisser Vorrichtungen gleichzeitig mit der Öffnung des 
Verschlusses zu entfernen. Allein dieses Verfahren bietet nach meinen 
Beobachtungen durchaus nicht immer sichere Gewähr für richtige Akkom- 
modation. Ist der Raum, und besonders die Umgebung des leuchtenden 
Punktes, welcher durch eine kleine, Licht aussendende Öffnung in einem 
dunklen Karton dargestellt wird, gut verdunkelt, so dafs im Spiegel wirklich 
nur ein Punkt sichtbar ist, so akkommodiere ich, wenn mein Auge sich 
selbst überlassen ist, oftmals nicht auf den Punkt. Wenn ich nämlich 
dann den Akkommodationszustand durch eine eigens darauf gerichtete 
Intention ändere, so werden die Ränder der kleinen leuchtenden Öffnung 
häufig erst schärfer. Die Eigenschaft der Akkommodation, welche wir oben 
als ihre „Trägheit“ bezeichneten, dürfte hierbei mitwirken. Befindet sich 
der Spiegel in unmittelbarer Nähe vor meinem Auge, aber nicht so nahe, 
dafs die Wahrnehmung des Spiegels und seiner Einzelheiten ganz unmög- 

5* 


68 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


lich wird, und ist ferner das Versuchszimmer noch hell genug, um den 
Spiegel als solchen zu bemerken, so akkommodiere ich bei sich selbst über- 
lassenem Auge häufig einfach auf den Spiegel, während der Punkt in Zer- 
streuungskreisen erscheint. Aber auch wenn ich den Spiegel dem Auge 
so weit nähere, dafs sich sein Feld nur wie ein Schatten vor das Auge legt, 
stellt sich das Auge nicht stets von selbst auf das virtuelle Bild des leuch- 
tenden Punktes ein. 

Man wird darum bei Untersuchungen, die eine scharfe Akkommodation 
erforderlich machen, den Verschlufs vor der Lichtquelle anzubringen haben. 
Dieser Weg ist auch vom psychologischen Standpunkt aus der durch- 
sichtigere. Herrscht in dem Versuchsraum eine so geringe Helligkeit, dals 
die Testobjekte keineswegs erkannt werden können, so bieten sich doch 
meist immer noch genügend Anhaltspunkte, um ihre Entfernung und damit 
auch die scheinbare Gröfse zu erkennen. Betrachtete ich hingegen Objekte 
durch einen unmittelbar vor das Auge gebrachten Momentverschlufs hin- 
durch, so habe ich bei gewissen Entfernungen der Objekte vom Auge stets 
die Beobachtung gemacht, dafs mir dieselben verkleinert erschienen. 


Der Axscaürzsche Momentverschlufs, unmittelbar vor der Lichtquelle 
angebracht, ist keineswegs die idealste Vorrichtung zu einer solchen instan- 
tanen Exposition. Indes machte sich der Mangel eines besseren Hilfs- 
mittels in Anbetracht der besonderen Natur meiner Testobjekte nicht geltend. 
Der Fehler des Axscmürzschen Verschlusses, bei welchem bekanntlich ein 
in undurchsichtigem Stoff angebrachter Schlitz in schnelle Bewegung ver- 
setzt wird, besteht darin, dafs das Maximum der Helligkeit gleichzeitig mit 
der Bewegung des Spaltes über das Objekt wandert, woraus sich eine suk- 
zessive Darbietung an Stelle der gewünschten simultanen ergibt. Dieser 
Fehler kommt nicht in Betracht, wenn das Objekt, wie in unserem Falle, 
sehr schmal und lang ist, und wenn der Spalt bei seiner Bewegung sowohl 
dem Objekt als auch der Lichtquelle (Aversche Glühstrümpfe) parallel 
bleibt. Es war also gestattet, den Axscmürzschen Verschlufs unmittelbar 
vor der Lichtquelle — einen zwei Auerlampen und einen Reflektor enthalten- 
den Blechkasten — anzubringen.! Beiden Versuchen zeigte sich auch, dals 
aus diesem Verfahren eine Störung nicht erwuchs. 


1 Das Aufziehen des Anschürzschen Verschlusses erfolgt bekanntlich, 
wie bei der Remontoiruhr, durch Drehen an einem mit Einkerbungen ver- 
sehenen Knopfe und erfordert darum ziemlich viel Zeit. Durch wenige 
Handgriffe läfst sich der viel gebrauchte Verschlufs so abändern, dafs die 
Expositionen in kürzeren Zwischenräumen erfolgen können. Die drehende 
Bewegung muls in eine ziehende verwandelt werden. Der Knopf ist durch 
eine Rolle zu ersetzen, auf der eine Schnur aufgewickelt werden kann. 
Da die Rolle, um eine Verringerung der Geschwindigkeit zu vermeiden, 
leicht und darum klein sein mufs, so verstrickt sich die Schnur bei der 
Aufwicklung leicht in das unmittelbar darunter gelegene Zahnrad und die 
Hebel. — Ich sägte von einer kleinen, mit konischen Enden versehenen 
Zwirnrolle das eine Ende derselben ab, füllte die Durchbohrung an der 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 69 


Es ist stets schwierig, eine, wenn auch, wie in unserem Falle, nur 
nach einer Dimension sehr ausgedehnte Fläche gleichförmig zu beleuchten. 

Ich half mir durch die Einführung dreier Fehlerquellen, von denen 
die beiden schwächeren die stärkere, aber durch die Natur meiner Hilfs- 
mittel fest gegebene, bei geeigneter Kombination neutralisierten. Ich be- 
nutzte den Umstand, dafs infolge der besonderen Malsverhältnisse der mir 
zu Gebote stehenden Apparate — die Lage der Strümpfe im Kasten brachte 
es mit sich, dafs die oberen Partien des gegenüberliegenden Teiles der 
Wand mehr Strahlen empfingen, als die unteren — die Helligkeit jenes 
gegenüberliegenden Wandteiles von unten nach oben zu abnimmt. Es ist 
dies eine erste, festgegebene Fehlerquelle. Die zweite einzuführende Fehler- 
quelle mufste also eine Abnahme der Helligkeit in umgekehrter Richtung 
zur Folge haben. Dies erreichte ich dadurch, dafs ich die Lichtquelle sehr 
hoch, in annähernd gleicher Höhe mit den höchsten für die Beobachtung 
in Betracht kommenden Partien des Objektes, aufstellte.e Diese Partien 
besafsen also von allen Teilen des Streifens den geringsten Abstand, und 
die Entfernung irgendeiner Partie von der Lichtquelle war um so grölser, 
je tiefer dieselbe lag. Allein hierdurch wurde nur eine Abschwächung, 
keine Kompensation der ersten Fehlerquelle erreicht. Es mufste noch eine 
zweite, im selben Sinne wirkende, und zwar in ihrer Stärke möglichst 
variierbare, eingeführt werden. Dies bewirkte die Einführung eines Re- 
flektors, welcher gleichzeitig die Lichtstärke erhöhte. 


Von einem Reflektor wird im allgemeinen verlangt, dafs er die Strahlen 
der in seinem Brennpunkte aufgestellten Lichtquelle in einem scharf gegen 
die Umgebung abgegrenzten und durchweg ziemlich gleich lichtstarken 
Strahlenbündel zurückwirft. Ein wenig idealer und in bezug auf die Licht- 
quelle ungenau aufgestellter Reflektor, wie der meinige, liefert kein scharf 
begrenztes Strahlenbündel. In einem Punkte der gegenüberliegenden Wand 
entsteht ein Helligkeitsmaximum, von dem aus die Helligkeit nach allen 
Seiten mehr oder weniger gleichmäfsig abfällt. Durch Drehung des Reflek- 
tors um seinen horizontalen Durchmesser konnte das Helligkeitsmaximum 
in beliebige Höhe verlegt werden. Natürlich mufste die Symmetrieachse 
des Reflektors die Wand stets in einem Punkte schneiden, der oberhalb 
der höchsten noch in Betracht kommenden Teile des Objektes lag. Anderen- 
falls würde ja der Reflektor auf. der Wand eine symmetrische Helligkeits- 
verteilung bewirken, während dieselbe ja gerade nur nach einer Richtung 
eine Abstufung aufweisen soll. 


Sägestelle mit Siegellack und stülpte die so vorbereitete Rolle 

über den Knopf. Führte ich nun die an ihrem freien Ende 

mit einem kleinen Gewichte versehene Schnur durch eine Öse 

von oben her nach der Rolle, so verhinderte der nach oben 

ausgeübte Zug die Verwicklung in die unteren Teile, während Fig. 6. 
andererseits der Konus die Schnur immer wieder nach unten 

drängt und ein Abgleiten von der Rolle verhindert. — Um die Kautschuk- 
teile des Verschlusses vor übermäfsiger Wärme zu bewahren, wurde vor 
dem Kasten ein Doppelfenster angebracht. 


70 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-F'oersterschen Gesetzes, 


Je nach der Höhe des Helligkeitsmaximums wurde aber der Streifen 
der Wand, auf welchem die Untersuchung stattfinden sollte, von verschie- 
denen, mehr oder weniger hellen Bezirken des Strahlenbündels getroffen. 
Durch Drehung des Spiegels um seinen (ursprünglich vertikalen) Durch- 
messer konnte dann die Stärke des Helligkeitsabfalls innerhalb des be- 
treffenden Streifens der Wand geändert werden (wobei freilich gleichzeitig 
eine Herabsetzung der absoluten Helligkeit eintritt). Durch diese beiden 
Umstände war es möglich, die erste Fehlerquelle noch weiter zu kompensieren. 

Mittels einiger in den Kasten hineingebrachter Klumpen von Glaser- 
kitt wurde dem an der Rückwand nur lose befestigten Reflektor die geeig- 
nete Orientierung gegeben. 

Durch längeres Herumprobieren erreichte ich es, dafs ich, sowohl bei 
gewöhnlicher Betrachtung, wie auch bei Beobachtung mittels durchlochter 
Kartons, eine Ungleichmälsigkeit der Beleuchtungsstärke in den verschie- 
denen Bezirken der Wand nicht mehr wahrnahm. Bei wiederholter Ver- 
gleichung derselben Stellen erschien bald die eine, bald die andere etwas 
heller. Bei der Nachprüfung an anderen Tagen ergaben sich dann einige 
Male kleine Ungleichmäfsigkeiten, freilich immer nur solche von sehr 
geringem Betrag; niemals vor allem besafsen sie eine regelmälsige Be- 
schaffenheit, so dals etwa gröfsere Bezirke eine Abweichung vom Helligkeits- 
durchschnitt gezeigt hätten. 

Der in dem Vergleichsfall bei den Versuchen der kleinen nahen Kon- 
stellation auftretende kleine Streifen war unmittelbar neben dem grofsen 
angebracht und besafls die gleiche Helligkeit. Das von ihm bedeckte Feld 
der — zu diesem Zwecke mit gleichföürmig grauem Papier bedeckten — 
Wand war natürlich in die Helligkeitsprüfung mit einbezogen worden. 

Obwohl die Vp. in diesem Falle in unmittelbarer Nähe des Objektes 
sa[ls, so wurde doch eine Beschattung der fraglichen Teile vermieden, da 
das Licht aus beträchtlicher Höhe kam. 


Im übrigen wurde dieselbe Anordnung benutzt wie in unserer ersten 
Versuchsreihe ($ 1d). Als neu kommt nur die Forderung hinzu, das 
Fixierzeichen, eine dunkle, unmittelbar vor dem verschiebbaren Streifen 
angebrachte Spitze, zu beleuchten, und zwar so, dafs alles oberhalb davon 
Gelegene völlig dunkel bleibt. Zu dem Zwecke befestigte ich an einer 
photographischen Kamera an der Stelle, die sonst die Platte einnimmt, 
eine kleine Glühbirne mit U-förmigem Leuchtfaden. Es entsteht dann im 
Aufsenraum ein umgekehrtes, vergrölsertes Bild des Leuchtfadens, welches 
man auffangen kann. Die Kamera wurde so aufgestellt, dafs der Kulminations- 
punkt des reellen Bildes mit der zu fixierenden Spitze zusammenfiel und 
dieselbe beleuchtete, während alles übrige dunkel blieb. Bei der kleinen 
Versuchsanordnung wurde auch das reelle Bild durch Näherrücken der 
Kamera verkleinert. Die Breite des Fadens reguliert man durch Verschie- 
bung der Mattscheibe gegen das Objektiv. 


Die Exposition wurde durch ein Signal angekündigt. Die 
Vp. verschob den Streifen in den Intervallen zwischen den 
Expositionen. Zu diesem Zwecke wurde der Verschluls in den 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 71 


Zwischenzeiten geöffnet. Konnte auf Grund einer Exposition 
kein sicheres Urteil abgegeben werden, so wurde dieselbe bei 
der gleichen Stellung wiederholt. 

Wir geben nun die Resultate; die Bezeichnungen sind die- 
selben wie in unserer ersten Versuchsreihe. 

Vp. Herr Prof. MürnLer. Die Vp. machte während der Ver- 
suche die Beobachtung, dals zwei Verhaltungsweisen der Auf- 
merksamkeit möglich sind. Entweder wird die Aufmerksamkeit 
vor dem Versuche auf die Gegend gerichtet, in der der Punkt 
ungefähr zu erwarten ist, oder diese Einstellung unterbleibt. Im 
zweiten Falle ist der Versuch subjektiv unbefriedigend, weil die 
getrennten Quadrate hier nach Überschreitung einer bestimmten 
Stelle ganz plötzlich und ohne vermittelnden Übergang erscheinen. 
Hingegen ist bei der anderen Verhaltungsweise der Aufmerk- 
samkeit die subjektive Sicherheit grofs. Vp. entscheidet sich 
darum für diese Verhaltungsweise (nur beim ersten Versuch der 
Tabelle war die vorherige Direktion der Aufmerksamkeit unter- 
blieben). 


Ia Ib Ila IIb 
12,8 cm 14,0 cm (120 cm)! 137 cm 
133 „ 152 p 135 „ 131 „ 
138 „ 15,7 „ 138 „ 137 „ 

139 „ 
Im Mittel: 
I II 
14,1 cm 136,2 cm 


Bei beiden Versuchsanordnungen erschien der Vp. der Abstand der 
beiden Quadrate grölser als bei direkter Betrachtung. Zum Zwecke einer 
ungefähren Abschätzung der Vergröfserung wurden die Quadrate in den 
beiden Anordnungen in entsprechende Stellungen gebracht, d.h. in Stellungen, 
in welchen das ferne Doppelquadrat gleich grofse und gleich gelegene 
Netzhautbilder lieferte, wie das nahe. Die kleinen Quadrate befanden sich 
8 cm, die grofsen 80 cm über dem Fixierpunkt; in beiden Fällen erschienen 
die Quadrate noch deutlich getrennt. Der Abstand d der kleinen Quadrate 
erschien hierbei um ?/;, d bis °/, d vergröfsert; bei der grofsen Anordnung 
war die Vergröfserung weniger deutlich und schwächer. Über eine etwaige 


! Bei diesem Versuche machte es sich bemerkbar, dafs die mittels des 
AxscHürzschen Verschlusses vorgenommene Exposition keine streng simul- 
tane ist. Da die Quadrate sukzessiv auftauchten, so ist diese Einstellung 
mit den übrigen, bei denen der Eindruck stets simultanen Charakter besals, 
nicht vergleichbar. 


72 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Vergröfserung der Quadrate selbst läfst sich nichts aussagen, weil ihre 
Form ungleich schwankend und vielfach verzerrt erschien.! 


Vp. K. Scuarer. Da die Vp. psychologisch ungeschult ist, wird, um 
Verwirrung zu vermeiden, von einer näheren Instruktion bezüglich der 
Einstellung der Aufmerksamkeit Abstand genommen. 

Wir geben wieder die Resultate eines Versuchstages ausführlich, die 
der übrigen im Durchschnitt. Vorversuche waren, wie stets, voraus- 
gegangen. 


I. II. I. II. 
a) 11,9 cm 121 cm 13,7 cm 118 cm 
b) 127 „ 122 „ 151 „ 125 „ 
a) 129 „ 116 „ 129. „ 133 „ 
b) 13,5 „ 110 , 15,1 ,„ 170 , 
Im Mittel: 
I. 13,5 cm II. 121,8 cm 


An den übrigen drei Versuchstagen im Durchschnitt: 


I. 12,1 cm (0,9 cm) II. 121,5 cm (4,8 cm) 
IL 11 „ (12 „) II. 121,9 » (42 „) 
1.126 „ (07 „) 0.1105 „ 87 „) 


Vp. Jaensch. Die Aufmerksamkeit stellte ich ebenso, wie Herr Prof. 
MÜLLER, vor Beginn des Versuches auf die Stelle ein, an der die Quadrate 
ungefähr zu erwarten waren. 


I. II. I. Il. 
a) 7,9 cm 64 cm 6,6 cm 68 cm 
b) 6,9 » 70 » 7,0 » 65 » 
a) 75 „ 72 „ 69 „ 67 „ 
b) 7,4 » 68 ” 6,8 » 61 ” 
Im Mittel: 
I. 71 cm TI. 66,9 cm 


An den übrigen drei Versuchstagen: 


I. 6,7 cm (0,6 cm) II. 70,5 cm (2,7 cm) 
I. 7,3 cm (0,4 cm) II. 69,9 cm (3,1 cm) 
I. 7,1 cm (0,4 cm) II. 67,9 cm (2,1 cm) 


Die Versuche zeigen, dafs die vom AuBErTschen Satze be- 
hauptete Begünstigung des kleinen nahen Objektes bei instantaner 
Darbietung ausbleibt. Die in der Rubrik „II“ stehenden Werte 
sind sehr annähernd zehnmal so grols wie die unter „I“. 


I Auch DoBROwoLskY und Gase (l. c.) heben hervor, dafs die Form 
der Verzerrung schwer zu bezeichnen ist. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 73 


Vp. Herr Prof. Mürrer, erklärte, er sei überrascht, die beiden 
getrennten Quadrate bei der grofsen Konstellation bereits in so 
beträchtlichem Abstand vom Fixierpunkte zu sehen. Die Ein- 
stellungen sind also jedenfalls nicht das Resultat von Vor- 
eingenommenheit. 

An der gänzlichen Naivität der Vp. K. Sc#. ist nicht zu 
zweifeln. Ich selbst war bei diesen Einstellungen weniger unbe- 
fangen, als sonst, weil ich die Versuche diesmal nicht, wie in 
allen anderen Fällen, vor den anderen Vpn., sondern erst nach 
Herrn Prof. MÜLLER vornahm. Da das Sehorgan von Herrn 
Prof. MüLLEeR und die Art seiner Verwendung einige Besonder- 
heiten aufweist, welche ein von der Norm abweichendes Ergebnis 
gerade bei Peripheriebeobachtungen stets in den Bereich der 
Möglichkeit rücken, so hatte dieses Wissen bei mir lediglich die 
eine Folge, dafs ich mich bemühte, bei der grolsen Konstellation 
im Urteil eher strenger zu sein als bei der kleinen. Wenn eine 
Voreingenommenheit bestand, so hätte sie nicht im Sinne des 
Ergebnisses gewirkt. 

Dieser Versuch hat also, so scheint es wenigstens vorläufig, 
zur Klärung unserer Frage nichts beigetragen. Der Gegenstand 
hat lediglich ein verwickelteres Aussehen angenommen. Die 
soeben gefundene Tatsache erscheint noch unverständlicher, wenn 
man sich daran erinnert, dafs sich ja die Begünstigung der 
kleinen nahen Objekte gerade zum erstenmale bei instantaner 
Darbietung, nämlich bei der von uns als „I. Augerrsche“ be- 
zeichneten Versuchsanordnung zeigte. 

Obwohl der wesentliche Fortschritt, den unsere Analyse durch 
die geschilderten Versuche gemacht hat, an dieser Stelle noch 
verborgen bleibt, so läfst sich doch ein kleiner positiver Ertrag 
unserer Bemühungen schon hier erkennen. 

Die Einstellungen wurden ja in dieser letzten Versuchsreihe 
so vorgenommen, wie es auf Grund einfacher geometrischer 
Überlegung zu erwarten war. Alle Hypothesen, welche an- 
nehmen, dafs bei Abbildung auf der Peripherie und bei ver- 
schiedenen Akkommodationsgraden dioptrische Verwicklungen auf- 
treten, denen jene einfache Überlegung nicht Rechnung trägt, 
werden hierdurch — in Übereinstimmung mit dem Ergebnis der 
ersten Versuchsreihe — nochmals aufs schärfste widerlegt. Dort 
zeigte sich das AUBERT-FoErsTErsche Phänomen trotz Gleichheit 
des Akkommodationsaufwandes; hier bleibt es aus, obwohl die 


74 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-F'oersterschen Gesetzes. 


Linse in den Vergleichsfällen sehr verschiedene Krümmungs- 
radien besitzt. Denn die Akkommodation war auch hier eine 
scharfe. 


Einerseits war das Zimmer auch vor dem Versuch nicht so absolut 
verdunkelt, dafs eine gröbere Täuschung über die Entfernung der Objekte 
möglich gewesen wäre; andererseits hatte das Fixierzeichen eine so helle 
Beleuchtung erfahren, dafs es deutlich gesehen werden konnte (der schein- 
bar einfachste Weg, Bestreichung des Fixierzeichens mit Leuchtfarbe, war 
aus diesem Grunde nicht gangbar). 

Ferner weist der Versuch nochmals nach, dafs nicht die 
spezielle Natur des bei den Doppelquadraten zur Verwendung 
gelangenden Kriteriums für den Ausfall der Versuche bei Dauer- 
beleuchtung verantwortlich sein kann. Denn sonst mülste sich 
hier dasselbe ergeben. 

Schliefslieh konnte mit Hilfe dieser Versuche nochmals ge- 
zeigt werden, dafs die Einführung der Linse in unserer ersten 
Versuchsreihe keine physikalischen Verwicklungen einzuführen 
imstande ist. Auch hier wurde nämlich bei der letzten Runde 
sowohl von JAEnSCH wie von K. ScHAPER, bei der nahen Kon- 
stellation durch das Brillenglas 1,75 D beobachtet, während alle 
übrigen Umstände die gleichen blieben; eine Änderung trat 
hierdurch, wie man sieht, nicht ein. 


$5. 

a) Es ist eine bekannte und schon nach verschiedenen Seiten 
hin untersuchte Tatsache, dafs die scheinbare Grölse der Seh- 
dinge abnimmt, wenn man ein Konkavglas unmittelbar vor das 
Auge bringt. Die objektive Verkleinerung besitzt, wenn nur 
die Entfernung zwischen dem Hornhautscheitel und dem zweiten 
Hauptpunkt der Linse (d. h. in praxi der Linse selbst) hin- 
reichend klein ist, nur einen aufserordentlich geringfügigen Be- 
trag und ist jedenfalls, namentlich bei nicht zu hoher Dioptrien- 
zahl, von ganz anderer Grölsenordnung wie der Grad der gleich- 
zeitig auftretenden subjektiven Verkleinerung. — Es besteht über 
diesen Gegenstand eine ausgedehnte Literatur. 

Während ich nun lediglich im Interesse der Untersuchung 
der Linsenmikropsie derartige Versuche oft und unter ver- 
schiedenen Bedingungen anstellte, bot sich mir eine Beobachtung 
dar, die mich durch ihre grolse Deutlichkeit in hohem Malse 
überraschte. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-F'oersterschen Gesetzes. 75 


Wenn man irgendeinen Punkt des von verschiedenen 
Gegenständen ausgefüllten Gesichtsfeldes fixiert, so ist bekannt- 
lich die Deutlichkeit der gesehenen Objekte um so geringer, je 
seitlicher sie sich auf der Netzhaut abbilden, je gröfser der 
Winkel ist, den die nach ihnen gezogene Richtungslinie mit der 
Gesichtslinie einschliefst. Überschreitet dieser Winkel eine gewisse 
Grölse, so tritt schlielslich der Fall ein, dafs der Gegenstand 
überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird. Ich fixierte in einem 
grölseren Wohnraum einen Punkt der Wand von einem etwa 
3 m entfernten Standort aus. Die Wand besals nur wenig kahle 
Flächen, und nur solche von geringer Ausdehnung. Unmittelbar 
vor der Wand und an derselben waren mancherlei Gegenstände 
angebracht: Möbelstücke, Bilder, Draperien. 


Die Möbelstücke waren jedoch nur flach, so dafs die Akkommodation 
bei Betrachtung der Wand und der daran, bzw. davor angebrachten Gegen- 
stände, wohl konstant gewesen sein dürfte. 


Ich öffnete das rechte Auge nur für kurze Zeit, etwa für die 
Dauer einer Sekunde; der Blick wurde schnell nach dem vorher 
ausersehenen und durch eine Marke bezeichneten Punkte ge- 
worfen. Solange das Auge geöffnet war, suchte ich zweierlei zu 
erfassen; erstens einen wie grolsen Teil der Wand, bzw. der 
daran befindlichen Gegenstände, ich wahrnahm, zweitens, wie 
deutlich die seitlichen .Zonen des Gesichtsfeldes erschienen. Ich 
achtete aber lediglich auf das „Bild“, welches sich mir darbot, 
und fafste den Eindruck nicht in Worte. Ich prägte mir also 
nicht die Namen der Gegenstände ein, welche ich gesehen hatte, 
sondern gab mich ganz allein dem bildmäfsigen Eindruck hin, 
ohne einen Versuch zu machen, denselben zu analysieren.' Als- 
dann setzte ich ein Konkavglas so nahe wie, möglich vor das 
inzwischen wieder geschlossene rechte Auge. Das Glas brauchte 
keineswegs von hoher Dioptrienzahl zu sein, um den zu schildern- 
den Erfolg hervorzubringen; ich benutzte in der Regel ein Glas 
von der Stärke — 3 D, konnte aber auch bei einem Glase von — 
2,5 D noch keine sehr bedeutende Schwächung der Erscheinung 
beobachten; selbst.bei — 1 D war der Erfolg noch vorhanden, 


! Dieses Verhalten wurde damals ganz von selbst eingeschlagen, ohne 
eine besonders darauf gerichtete Reflexion. Erst nachträglich erkannte ich, 
dafs man sich bei derartigen Beobachtungen noch in anderer Weise ver- 
halten kann. 


76 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


wenn auch nicht so ausgesprochen. So oft ich den Versuch 
wiederholte — ich machte die Beobachtung während einer 
Krankheit und habe sie während der Zeit dieser unfreiwilligen 
Mulse Hunderte von Malen an sehr verschiedenen Gegenständen, 
und stets mit dem gleichen Erfolge wiederholt — immer von 
neuem hat mich der Anblick überrascht, der sich mir bot, wenn 
ich nun das Auge für die gleiche kurze Zeitdauer und nach Ein- 
stellung der Aufmerksamkeit in der vorhin angegebenen Weise 
öffnete. Nicht nur an irgend einer einzelnen, von der Aufmerk- 
samkeit vielleicht bevorzugten Stelle, auf allen Radien des Ge- 
sichtsfeldes zugleich tauchten Gegenstände auf, welche im vorigen 
Falle ihrer peripheren Lage wegen überhaupt nicht bemerkt 
worden waren. Soweit bei dem (späterhin absichtlich) passiven 
Verhalten eine Schätzung möglich war, mu/ste sich nach meinem 
Dafürhalten der Durchmesser desjenigen Bezirkes der Wand, 
der überhaupt wahrgenommen wurde, in vielen Fällen etwa ver- 
doppelt haben. 

Das Ergebnis erfuhr keine Änderung, wenn die Beobachtung 
mit unbewaffnetem Auge an zweiter Stelle vorgenommen wurde. 

Aber hiermit nicht genug. Auch diejenigen Gegenstände, 
welche bereits beim erstgenannten Versuche gesehen worden 
waren, zeigten nun ein verändertes Aussehen. Jedem, der sich 
mit Peripherieversuchen beschäftigt hat, ist die eigentümliche, 
skizzenhafte Natur der peripheren Gesichtseindrücke bekannt.! 
Der Eindruck gibt nur die rohesten Umrisse der Gegenstände 
wieder; Einzelheiten fehlen; die Konturen sind verwaschen. Das 
Bild ist noch mangelhafter als eine Skizze; denn bei einer solchen 
sieht man doch die Striche der Schraffierung, welche die von 
den Konturen eingerahmten Felder bedecken; hier hingegen 
weils man oft gar nicht mit Bestimmtheit zu sagen, was sich 
zwischen den Konturen befindet. Zonen, welche bei der Be- 
obachtung mit unbewaffneteın Auge durchaus diesen Charakter 
trugen, füllen sich nun mit fein ausgeführten, detailreichen 
Bildern; eben noch mit rohen Skizzen bedeckt, erscheinen sie 
jetzt in einem Deutlichkeitsgrad, der sich von dem des zentralen 
Sehens nicht allzusehr unterscheidet. 

Ich habe den Versuch von mehreren anderen Individuen 





ı Eine schöne Beschreibung dieser Wahrnehmungen findet sich bei 
PurkısJe (l. c.). Er vergleicht sie mit den Erinnerungsbildern. 


I. Abschnitt. E.cperimenlelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 77 


wiederholen lassen. Die Beobachtungen wurden oftmals und an 
verschiedenen Objekten angestellt. Ich stellte, um Suggestion 
möglichst zu vermeiden, die Frage in der disjunktiven Form: 
„Sehen Sie mit dem Glase einen gleich grolsen, kleineren oder 
grölseren Teil des Feldes deutlich, wie mit unbewaffnetem Auge, 
wenn Sie in beiden Fällen den markierten Punkt genau fixieren ?* 

(Schon früh hatte ich die Beobachtung gemacht, dafs es für 
die Deutlichkeit der Erscheinung günstig war, wenn ich vermied, 
meine Aufmerksamkeit an einzelne Stellen des Gesichtsfeldes zu 
konzentrieren, wenn ich sie vielmehr in beiden Konstellationen 
möglichst fest auf den Fixierpunkt heftete und die Seitenteile 
nur nebenher zu beachten suchte. Ich verbot daher auch den 
anderen Beobachtern, die Aufmerksamkeit an einzelne Stellen 
des Gesichtsfeldes festzuheften, und schrieb ihnen das eben be- 
zeichnete Verhalten vor.) 


Die Antwort lautete bei denjenigen, welche überhaupt deut- 
liche Mikropsie hatten!, übereinstimmend dahin, dafs mit dem 
Brillenglase ein gröfserer Teil des Feldes gesehen werde, und 
dals alle seitlichen Teile in diesem Fall erheblich deutlicher seien. 
(Mit einer gewissen, sogleich zu berührenden Beschränkung! 
Die Deutlichkeit des Phänomens ist in gewissen Fällen abhängig 
von der Beschaffenheit des Objektes. Doch tritt der betreffende 
Fall, solange man sehr komplizierte Gegenstände betrachtet, 
wie die Wand eines eingerichteten Zimmers, nur selten ein.) 


Natürlich erhebt sich zunächst die Frage, ob die Erscheinung 
vielleicht lediglich auf physikalischen Faktoren beruht. Da sich 
diese Frage an späterer Stelle in einfachster Weise entscheiden 
wird, so kann ich meine anfänglichen Bemühungen, die Un- 
schädlichkeit der einzelnen, möglicherweise in Betracht kommen- 
den physikalischen Faktoren nachzuweisen, in aller Kürze be- 
handeln. 


Dals die geringfügige objektive Verkleinerung des Netzhautbildes nicht 
für die Erscheinung verantwortlich sein kann, davon überzeugte ich mich 
durch eine an späterer Stelle ($ 8a) zu besprechende Methode. Die 
Verkleinerung einer unmittelbar vor das Auge gesetzten Linse von — 3D 
ist von einer ganz anderen Gröfsenordnung und würde uns wegen ihres 


! Dies ist nach meinen (in dieser Hinsicht rohen Erfahrungen) im all- 
gemeinen nur bei jüngeren Individuen der Fall. Bei Myopen, die Brillen 
benützen, scheint die Mikropsie nur in sehr geringem Mafse aufzutreten, 


78 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


geringen Betrages unmöglich in Gestalt einer, noch dazu erheblichen, Ge- 
sichtsfelderweiterung zum Bewufstsein kommen. 


Der prismatischen Linsenwirkung wird man schwerlich eine erheb- 
liche Bedeutung zuschreiben, wenn man bedenkt, dafs in unserem Falle, 
in welchem die Linse so nahe wie möglich vor das Auge gebracht wird, 
in welchem die Pupille aufserdem noch eng ist, nur solche Strahlen auf 
die Netzhaut gelangen, welche die Linse in nicht sehr gro[ser Entfernung 
von ihrem Zentrum durchsetzen. 

An der photographischen Kamera vermochte ich durch Änderung der 
Blendenöffnung eine Verschiebung der seitlichen Partien des reellen Bildes 
niemals wahrzunehmen. Je nach der Gröfse der Blende erscheint ein am 
Rande abgebildeter Punkt verschieden scharf und mehr oder weniger ver- 
breitert;; aber die schärfste Stelle des Bildes befindet sich während der Gröfsen- 
änderung der Blende stets an der gleichen Stelle der Mattscheibe. 

Es läfst sich jedoch noch an einen anderen Faktor physikalischer Art 
denken. Gleichzeitig mit der Akkommodation für die Nähe verengt sich 
die Pupille. Man könnte nun daran denken, diesen Vorgang zur Erklärung 
der von uns beobachteten Erscheinung zu benutzen. In beiden Vergleichs- 
fällen ist die Linse für die gesehenen Objekte akkommodiert. Soweit die 
Schärfe von dem Akkommodationszustande abhängt, mufs dieselbe in beiden 
Fällen als maximale bezeichnet werden. Trotzdem könnte, prinzipiell be- 
trachtet, die Deutlichkeit, insbesondere diejenige der peripheren Teile, im 
Falle der Verwendung der Linse grölser sein; denn in diesem Falle ist die 
Abblendung der Randstrahlen eine stärkere. Da sich nun die Wirkung 
der Randstrahlen um so stärker geltend macht, je peripherer ein Objekt 
abgebildet wird, so mufs diese Begünstigung besonders den seitlichen 
Teilen des Netzhautbildes zugute kommen. Hiermit ist natürlich nur gesagt, 
dafs die genannten Vorgänge bei dem Zustandekommen unserer Erscheinung 
möglicherweise eine Rolle spielen können, keineswegs aber folgt hieraus 
schon, dafs dies der Fall sein müsse. Denn die auf dioptrischem Wege 
hervorgebrachte Erhöhung der Deutlichkeit in der Peripherie könnte hier 
so geringfügig sein, dafs sie allein nie und nimmer imstande wäre, den 
eklatanten Unterschied beider Konstellationen hervorzubringen. Das letztere 
ist nun tatsächlich der Fall. — Obwohl sich an späterer Stelle alle diese 
Fragen mit einem Schlage entscheiden werden, so kann es doch nicht 
schaden, wenn mehrere Beweise gegeben werden. 


Läfst man jemand durch ein Konkavglas blicken, so verengt sich die 
Pupille bei Intensitätszunahme des einfallenden Lichtes. Nun erfolgt aber 
die Innervation beider Pupillen symmetrisch. Man ist also in der Lage, 
den Pupillendurchmesser jedes der beiden Augen auch durch Einwirkung 
auf das andere Auge zu beeinflussen. 


Ich liefs nun die Vp. in einem nicht allzu bellen Zimmer mittels einer 
unmittelbar vor das rechte Auge gebrachten Linse von — 3 D beobachten. 
Dicht vor dem gleichfalls geöffneten linken Auge befand sich in geneigter 
Stellung, an einem Ständer befestigt, ein Spiegel, der jedoch vorläufig mit 
einem Stück schwarzen Papieres bedeckt war. Die Vp. kehrte den Rücken 
dem Fenster zu, und der Spiegel war so aufgestellt, dafs das durch den 


4. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 79 


oberen Teil des Fensters eindringende helle, jedoch nicht blendende Himmels- 
licht eines klaren Sommertages in das linke Auge reflektiert wurde. Ent- 
fernte ich nun mittels einer raschen, vorher eingeübten Bewegung gleich- 
zeitig die Linse und das den Spiegel bedeckende Papier, so geriet die Pu- 
pille in dem darauf folgenden Augenblick deutlich in Bewegung, sie ver- 
engerte sich. Der verengernde Einflufs der Helligkeitssteigerung überwog 
denjenigen der Akkommodationsanstrengung. (Da die Rückwirkung der 
Akkommodation auf die Pupille eine verhältnismäfsig sehr beträchtliche 
ist, empfiehlt es sich, die Beobachtung an einem hellen Tage, aber in einem 
nicht allzu hellen Raume vorzunehmen. Es tritt sonst nämlich, wie sich 
bei einer Wiederholung des Versuches an einem hellen Tage im Freien 
zeigte, leicht der Fall ein, dafs die Pupille in derjenigen Konstellation, in 
welcher das Brillenglas und der verdeckte Spiegel benutzt wird, bereits so 
eng ist, dafs die Einspiegelung von Licht bei gleichzeitiger Entfernung der 
Linse eine deutliche Verengung nicht mehr hervorzubringen vermag.) 

Der hierauf gegründete Versuch wurde an mehreren Beobachtern 
angestellt. Vor allem galt es, die beiden Hauptbeobachter der in diesem 
Paragraphen zu schildernden Erscheinungen, Herrn cand. phil. WESTPHAL 
und mich selbst, nach jener Methode zu kontrollieren. Dafs die Verengung 
unter den genannten günstigen Umständen auch bei mir eintrat, konnte 
ein Gehilfe bestätigen. 

Es erhielt also z. B. Herr WestpHaL vor das eine Auge dasselbe Brillen- 
glas, mit dem er bei dem Mikropsieversuch beobachtet hatte. Er prägte 
sich zunächst den Grad der durch das Glas hervorgebrachten Gesichtsfeld- 
erweiterung ein. Nun wurde vor das bisher geschlossen gewesene, jetzt 
‚aber geöffnete andere Auge der verdeckte Spiegel gebracht, während das 
rechte Auge wiederum mit dem Konkavglas beobachtete. Alsdann entfernte 
ich gleichzeitig das Glas und die Verkleidung des Spiegels. Die Vp. wurde 
befragt, ob sie auch bei dieser Modifikation des Versuches einen Unter- 
schied in der Weite des Gesichtsfeldes wahrnähme. Die Antwort lautete, 
dafs der in den beiden Konstellationen hervortretende Unterschied in der 
Weite des Gesichtsfeldes auch unter diesen, etwas abgeänderten Verhält- 
nissen noch in voller Deutlichkeit vorhanden sei. 


Das Gesichtsfeld erfuhr bei der zweiten Konstellation eine deutliche 
Einengung, obwohl die Pupille in diesem Falle den kleineren Durchmesser 
besitzen mufste. Dafs aber diese Verengung des Gesichtsfeldes nicht etwa 
durch die Freilegung des Spiegels hervorgebracht worden war, folgt aus 
der daneben angestellten Vergleichsbeobachtung. Die Vp. beobachtet ohne 
Brillenglas. Vor dem linken Auge befindet sich zuerst der verdeckte, dann 
der unbedeckte Spiegel. Die Vp. sagt aus, dafs eine Änderung der Grenzen 
des Gesichtsfeldes nicht eintrete. Bei dieser Konstellation ist auch der 
Unterschied der Pupillendurchmesser keineswegs kleiner, sondern erheblich 
gröfser als in der vorigen. 


Das Urteil erfuhr nach meinem Dafürhalten durch die Vorsetzung des 
Spiegels, sowohl des unverdeckten wie des verdeckten, keine sehr wesent- 
liche Beeinträchtigung seiner Sicherheit. Dafs der verdeckte Spiegel gar 
nicht als besonderes Objekt aufgefalst wurde, sondern nur wie ein Schatten 


80 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-F'oersterschen Gesetzes. 


vor dem Auge erschien, erreichte ich eben dadurch, dafs ich den Spiegel 
möglichst nahe an das Auge heranbrachte, so nahe, dafs auf die Bedeckung 
des Spiegels nicht mehr akkommodiert werden konnte. Dafs dieser vor 
dem linken Auge entworfene Schatten den scharfen Konturen des dem 
rechten Auge dargebotenen Bildes im Wettstreit unterlag, ist verständlich. 
Nahezu gleich günstige Bedingungen für den Sieg der Konturen liefsen 
sich aber auch im Falle des unverdeckten Spiegels herstellen. Hier war 
darauf zu achten, dafs lediglich die gleichförmige Färbung des Himmels 
im Spiegel erschien, dagegen keinerlei auffällige Konturen sichtbar wurden. 
Da ich die viel näheren Objekte, die sich im rechten Auge abbildeten, 
scharf sehen mulste, so war ich auch auf das dem linken Auge dargebotene 
Objekt, in diesem Falle das Bild des Himmels, nicht akkommodiert. Wurde 
vorhin dem linken Auge nichts anderes als ein düsterer Schatten dar- 
geboten, so sieht es hier lediglich einen hellen Schein. Es zeigte sich, dafs 
derselbe im Wettstreit kaum minder leicht unterlag. 


(Ein weiteres Bedenken ist hier gleichzeitig miterledigt. Benutzt man 
als Beobachtungsobjekt eine Zimmerwand mit den davor und daran ange- 
brachten Gegenständen, so sind die Entfernungen der gesehenen Gegen- 
stände, wenngleich ich (späterhin) darauf achtete, dafs nur Gegenstände 
von geringerer Tiefenerstreckung verwendet wurden, doch etwas ungleich. 
Jeder Amateurphotograph weils, dafs er mit Benutzung einer kleinen Blende 
eine gleichmäfsigere Schärfe in verschiedenen Tiefen erzielt, da ją gleich- 
zeitig mit dem Durchmesser der Blende auch der aller Zerstreuungskreise 
verkleinert wird. Es hat sich aber soeben herausgestellt, dals die Gröfse 
des Durchmessers der Pupille keinen merkbaren Einflufs besitzt.) 


Hingegen bedarf ein anderes Bedenken einer besonderen Erledigung. 
Wir mufsten schon früher einmal (S. 7 u. 18) die Frage aufwerfen, ob die ver- 
schiedene Deutlichkeit in zwei Konstellationen vielleicht dadurch zustande 
komme, dafs der Beobachter entgegen der Instruktion unbewulsterweise 
Augenbewegungen ausführe, und dafs die Umstände zum Auftreten solcher 
Augenbewegungen in dem einen der zu vergleichenden Fälle günstiger 
seien als im anderen. Diese letztere Möglichkeit konnte damals ausge- 
schlossen werden, da die Akkommodation und die damit assoziierten Kon- 
vergenzgrade in beiden Fällen die gleichen waren. Hier hingegen sind die 
Akkommodationsgrade in den Vergleiclisfällen verschieden. 


Allein es ist aus einem anderen Grunde schwerlich angängig, die Er- 
weiterung des Gesichtsfeldes auf die Erleichterung der Augenbewegungen 
im Falle der Verwendung der Linse zurückzuführen. Auch wenn man das 
Auge bei dem Versuch nur für ganz kurze Zeit öffnet, merkt man, dafs 
sich die Erweiterung der Grenzen des Gesichtsfeldes auf alle Radien des- 
selben bezieht. Ich z. B. hatte gerade bei möglichst kurzen Expositionen 
den Eindruck der Erweiterung und zwar der allseitigen Erweiterung am 
deutlichsten. Fände die Erweiterung des Gesichtsfeldes nur in einer 
bestimmten Richtung statt, so könnte man sich mit mehr Recht auf den 
vielleicht vorhandenen Einflufs der Augenbewegungen berufen, da in diesem 
Falle nur eine einzige, in einem Bruchteil einer Sekunde zu vollendende 
Augenbewegung nötig wäre. Ist die Erweiterung eine allseitige, so könnte 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 81 


man zur Not auch noch an eine einzige in ununterbrochenem Zuge aus- 
geführte Augenbewegung denken, da es nämlich von vornherein nicht aus- 
geschlossen ist, dafs die Vp. den Fixierpunkt mit dem Auge umkreist. 
Eine solche Ansicht liefse sich, wie auch sonstige aus der Luft gegriffene 
und jeder tatsächlichen Unterlage entbehrende Möglichkeiten, auf direktem 
Wege schwerlich zwingend widerlegen; doch erscheint sie sehr unwahr- 
scheinlich, wenn man bedenkt, dafs sich der Beobachter doch bemüht, 
entsprechend der Instruktion den bezeichneten Punkt wirklich zu fixieren, 
Es ist also sehr wahrscheinlich, dafs während des gröfsten Teiles der 
Expositionsdauer wirklich fixiert wird. Wenn Abweichungen vorkommen, 
so dürfte es sich — ein strenger Gegenbeweis ist, wie gesagt, an dieser 
Stelle unmöglich — nur um diejenigen Abweichungen handeln, welche, . 
wie auch die Selbstbeobachtung bei solchen Versuchen lehrte, gegen unseren 
Willen am leichtesten unterlaufen, d. h. ein Abirren der Augenachse nach 
einer bestimmten Richtung hin und ein Wiederzurückschwanken derselben, 
sobald sich der Beobachter der Pflicht des Fixierens erinnert. Ein Umher- 
wandern der Augenachse aber längs einer den Blickpunkt umschliefsenden 
Kurve erscheint sehr unwahrscheinlich, solange der Gedanke an die Pflicht 
der Fixation dem Beobachter mit einiger Lebhaftigkeit vorschwebt. Falls 
aber nur ein einfaches Abschweifen und Wiederzurückschwanken der Augen- 
achse vorkommen sollte, mülste man wohl zur Erklärung einer allseitigen 
Erweiterung eine ganze Anzahl von Bewegungen annehmen, deren jede 
die Augenachse vom Fixierpunkt entfernt, um sie darauf demselben wieder 
zu nähern. 

Auch ist nicht einzusehen, weshalb sich eine solche Augenbewegung 
mit der gröfsten Konstanz stets von neuem wiederholt, wie oft man auch 
den Versuch vornimmt. 


Ferner findet bei Akkommodation (und Konvergenz) für die Nähe zwar 
eine Erleichterung der Senkung, aber keine Erleichterung der Hebung der 
Augenachse statt. Man dürfte hiernach auf keinen Fall eine allseitige 
Erweiterung erwarten. 

Vor allem aber ist zu beachten, dafs die Erscheinung um so deutlicher 
ist, je fester man seine Aufmerksamkeit in beiden Konstellationen auf den 
Fixierpunkt richtet, und je mehr man sich bestrebt, auf die seitlichen Teile 
nur nebenher zu achten. 

Mit unbedingter Strenge wird die Frage nach der etwaigen Verant- 
wortlichkeit der Augenbewegungen im $ 8 gelöst werden. 


Bei der wissenschaftlichen Arbeit gelangen wir oft auf dem 
Umwege über Irrtümer zu tieferen Einsichten. Experimente, 
zur Entscheidung einer falsch gestellten Frage unternommen, 
können zuweilen in ganz anderer Richtung eine unvermutete 
Entscheidung bringen. Der geneigte Leser wolle die Geduld 
nicht verlieren, wenn er in dem jetzt zu gehenden Wege vorerst 
nur den Irrtum sieht. 

Es lag der Gedanke nahe, auch demjenigen, welcher sich 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV, 6 


82 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


aus den oben genannten Gründen von der Grölse des Unter- 
schiedes beider Konstellationen nicht selbst überzeugen kann, 
eine zahlenmälsige Vorstellung hiervon zu verschaffen. 

Hierbei leitete mich die folgende Überlegung. 

Angenommen die Vp. beobachtet eine Wand mit dem Brillen- 
glase aus der Entfernung e, wobei die Verbindungslinie ihres 
Auges mit dem Fixierpunkt auf der Wand senkrecht steht. Sie 
übersieht alsdann einen gewissen Teil der Wand; das Netzhaut- 
bild dieses Teiles der Wand besitze den Flächeninhalt a?. Wird 
das Glas abgenommen, so wird ja nach dem oben Angeführten 
ein erheblich kleinerer Teil der Wand gesehen. Soll derselbe 
Teil der Wand übersehen werden, wie zuvor, so mufs das Netz- 
hautbild mit sich selbst proportional verkleinert werden, z. B. 


auf die Flächengrölse (Z). Erklärt die Vp. nach dieser Ver- 


kleinerung, sie übersehe jetzt dieselben Gegenstände, den gleichen 
Teil der Wand, wie bei der Konstellation, in der sie das Brillen- 
glas benutzte, so verhalten sich die mit Brillenglas und ohne 
dasselbe übersehenen Netzhautflächen wie n?:1. 

Eine solche mit sich selbst proportionale Verkleinerung des 
Netzhautbildes entsteht dadurch, dafs sich die Vp. von der Wand 
entfernt und aus einer n-mal so grofsen Entfernung beobachtet, 
wie anfangs. Macht sie in dieser Entfernung die soeben be- 
zeichnete Aussage, so ist das ein Beweis dafür, dafs das Netz- 
hautbild im Verhältnis n?:1 verkleinert werden mufste, sollte 
mit unbewaffnetem Auge ein ebenso grofser Bezirk übersehen 
werden, wie mit dem Glase. 


(Schon bei den oben geschilderten Beobachtungen wird dem Leser 
eine Frage auf den Lippen geschwebt haben. Wir verlangen von jedem 
Experimentator, da[s er seine Versuche unter Bedingungen anstelle, welche 
genau rekonstruierbar sind. Eine mit den verschiedensten, in einer Ebene 
angeordneten Gegenständen besetzte Wandfläche scheint für eine wissen- 
schaftliche Untersuchung durchaus kein ideales Beobachtungsobjekt zu 
sein. Vielmehr erwartet der geneigte Leser wohl von uns, dafs wir uns 
einer mit bestimmt angebbaren und genau rekonstruierbaren Zeichen be- 
deckten Fläche bedienen und in den beiden zu vergleichenden Fällen die 
Zeichen von der Vp. angeben lassen, welche sie gesehen hat. Eine Recht- 
fertigung unseres Verfahrens wird sich an späterer Stelle ganz von selbst 
ergeben. Im Anfang durften wir bei der weiteren Analyse der bisherigen 
Beobachtung schon darum von der allgemeinen Form der Versuchsanord- 
nung nicht abweichen, weil eine sehr geringfügige Modifikation der äulseren 
Versuchsumstände das psychische Verhalten oft sehr wesentlich ändert.) 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 83 


Schon an dieser Stelle scheint sich ein anderes, ermsteres 
Bedenken gegen den Versuch einer wirklich exakten Ermittlung 
des genannten Zahlenverhältnisses zu erheben. Die beiden ver- 
glichenen Konstellationen unterscheiden sich nämlich nicht nur 
in demjenigen Umstand, dessen Einflufs untersucht werden soll, 
sondern auch noch in anderer Hinsicht. Zwar haben wir ge- 
sehen, dafs der verschiedene Akkommodationszustand in den 
beiden Vergleichsfällen eine wesentliche Änderung des physi- 
kalischen Abbildungsvorganges nicht hervorzubrigen vermag. 
Allein die Beobachtungen findet aus verschiedenen Entfernungen 
statt; zu der zu beobachtenden Erscheinung kommt also das 
AUBERTsche Phänomen noch hinzu. 

Angenommen, wir müssen, nachdem wir mit dem Brillen- 
glas beobachtet haben, ein bestimmtes Stück zurücktreten, um 
mit unbewaffnetem Auge den gleichen Eindruck zu erhalten. 
Wir brauchten nur weniger weit zurückzutreten, wenn das A. F. G. 
nicht gälte. Nach diesem Satze muls ja ein peripher beobachtetes 
Objekt, um bei der Beobachtung von einem nahen und von 
einem fernen Standort aus gleich deutlich zu sein, bei letzterem 
Standort auf eine dem Zentrum nähere Zone der Netzhaut ge- 
bracht werden. Dals wir überhaupt zurücktreten müssen, hat 
seinen Grund lediglich in dem Unterschied zwischen dem Ein- 
druck bei Beobachtung mit Linse einerseits, ohne Linse anderer- 
seits; dafs wir gerade so weit zurücktreten mulsten, hat nicht 
lediglich hierin seinen Grund, sondern gleichzeitig darin, dals 
wir das durch das Zurücktreten bedingte AUBERT-FOERSTERSche 
Phänomen zu kompensieren haben, indem wir eben durch weiteres 
Zurücktreten das periphere Objekt dem Zentrum nähern. Der 
Zahlenwert, welchen wir so erhalten, ist also kein eindeutiger. 

Obwohl demnach diese Versuche, gemessen an ihrem ur- 
sprünglichen Zweck, die Vergröfserung des Gesichtsfeldes bei 
Linsenmikropsie auch zahlenmälsig zu formulieren, unbedenklich 
als verfehlt bezeichnet werden müssen, so hatten sie doch ein 
für den Fortgang unserer Untersuchung nicht unwichtiges Er- 
gebnis. 

Da nun eine exakte Durchführung der Untersuchung in jedem 
Falle nötig ist, gleichgültig, ob es sich um die Beantwortung der 
ursprünglichen oder einer späterhin erst hervortretenden Frage- 
stellung handelt, so erlaube ich mir, diese, wenn man so will, 


verfehlten Versuche, etwas eingehender zu schildern. Es war 
6* 


84 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


schon einmal hervorgehoben worden, dafs die Schwierigkeit, die 
Aufmerksamkeit, während sie auf dem Fixierpunkt festgehalten 
wird, über die anstolsenden Teile des Gesichtsfeldes gleichmäflsig 
zu verteilen, anstatt sie auf eine bestimmte Stelle der Peripherie 
zu konzentrieren, mit der Länge der Expositionszeit zu wachsen 
scheine; hingegen scheint die gleichmälsige Beachtung des ganzen 
anstolsenden Feldes, nach meinen Selbstbeobachtungen wenigstens, 
bei kurzen Expositionen das naturgegebene Verhalten zu sein. 
Verlangen wir nun von dem Beobachter eine möglichst gleich- 
förmige Verteilung der Aufmerksamkeit, so werden wir ihm die 
Aufgabe erleichtern, wenn wir die Beobachtungszeiten sehr kurz 
wählen. 


Allein wir dürfen hierbei eine gewisse untere Grenze nicht über- 
schreiten. Ich hatte nämlich in dem Falle der Beobachtung mit unbe- 
waffnetem Auge bemerkt, dafs das Gesichtsfeld in den ersen Augenblicken, 
nicht allseitig zwar, aber um ein in einer bestimmten Richtung liegendes, 
übrigens nicht sehr ausgedehntes Stück gröfser war, als unmittelbar darauf, 
während alsdann seine Ausdehnung bis zum Schlusse auch bei längerer 
Expositionszeit konstant blieb, vorausgesetzt, dafs ich der Versuchung 
solange widerstehen konnte, die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Ort 
zu konzentrieren. Nach sehr häufiger Wiederholung der Beobachtung be- 
merkte ich hierbei stets, dafs ich im ersten Augenblicke den zu fixierenden 
Punkt nicht sofort getroffen hatte. Vermutlich wird also zu dem im ersten 
Augenblicke der Fixation Wahrgenommenen noch dasjenige Stück hinzu- 
gefügt, welches sich in der unmittelbar vorher eingenommenen Augen- - 
stellung noch in hinreichend zentraler Lage abbildete, um noch eine gewisse 
Deutlichkeit zu besitzen. Bei Benutzung des Brillenglases habe ich übrigens 
einen ähnlichen Unterschied zwischen dem ersten Moment und der darauf- 
folgenden Zeit nie beobachtet. 


Das Metronom machte 94 Schläge in der Minute. Der Ver- 
suchsleiter begleitete dieselben durch Mitzählen. Bei „I“ wurde 
das Auge geöffnet und auf den durch eine Marke bezeichneten 
Fixierpunkt gerichtet, bei „2“ und „3“ beobachtet, bei „4“ wurde 
das Auge geschlossen. 


Dieses Verhalten wurde vor den Versuchen eingeübt; die Innehaltung 
desselben während der Versuche blieb der Vp. überlassen. Es wäre störend 
gewesen, hätte die Vp. neben ihrer ohnehin nicht leichten Aufgabe noch 
auf die Kommandos zu achten. Der Takt wurde vor Beginn jedes Versuchs- 
tages der Vp. ins Gedächtnis zurückgerufen. 


Die Linie, längs welcher sich die Vp. von der betrachteten 


Ebene zu entfernen hatte, war durch eine auf dem Fufsboden 
aufgespannte Schnur bezeichnet. In einer ersten Konstellation (A) 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 85 


war der Standort gegeben, von welchem aus die Beobachtungen 
mittels des Glases erfolgen sollten. Gesucht war der Punkt, von 
dem aus das Gesichtsfeld bei unbewaffnetem Auge denselben 
Umfang zu haben schien. Die Vp. trat nun einige Dezimeter 
zurück und machte, im übrigen in derselben Weise, eine Anzahl 
von Beobachtungen mit unbewaffnetem Auge, und zwar deren 
etwa 6—8. Der Punkt, von welchem aus sie beobachtet hatte, 
wurde durch eine Stuhllehne bezeichnet. Nun kehrte sie wieder 
in die Ausgangsstellung zurück und stellte etwa eben soviel Be- 
obachtungen mit der Linse an; hierauf beobachtete sie wieder 
mit unbewaffnetem Auge von einem etwas hinter der Stuhllehne 
gelegenen Standort aus. Jetzt wird dieser Standort mittels der 
Stuhllehne bezeichnet; die Vp. begibt sich wieder nach vorn usw. 
War das Urteil nicht sicher, so kehrt die Vp., nachdem sie vorn 
beobachtet hat, noch einmal, nötigenfalls ein drittes und viertes 
Mal, in dieselbe hintere Stellung zurück. Der Vorgang wieder- 
holt sich so lange, bis derjenige Ort erreicht ist, bei welchem das 
Gesichtsfeld gerade ebenso grols erscheint, wie bei der Beob- 
achtung mit der Linse in der vorderen Stellung. 

Alsdann wurde umgekehrt die mit unbewaffnetem Auge ein- 
zunehmende Stellung in der Weise ermittelt, dafs von einem 
sicher zu fernen Standort aus, welcher das Gesichtsfeld deutlich 
zu weit erscheinen liefs, in derselben Weise allmählich nach vor- 
wärts gegangen wurde, in der der Beobachter beim vorigen Ver- 
Versuch nach rückwärts geschritten war. Diese Konstellation 
heifse A, b, die vorige A, a. 

Bisher war der Standort für die Beobachtung mit der Linse 
vorgeschrieben. Es folgten Beobachtungen, bei denen umgekehrt 
die Beobachtungen mit unbewaffnetem Auge von einem vor- 
gegebenen Punkt aus erfolgten. Je nachdem sich die Vp. bei 
der Wahl der zweiten Stellung dem Fixierpunkt nähert, oder 
sich von ihm entfernt, nennen wir diese Konstellation B, a 
oder B, b. 


Es mag noch auf einige fast selbstverständliche Punkte hingewiesen 
werden. Voraussetzung ist natürlich, dafs die Vp. sicher ist, in beiden 
Konstellationen völlig scharf zu fixieren. Ferner mufste auch darauf ge- 
achtet werden, dafs die Linse bei dem betreffenden Beobachter ganz dicht 
an den Augapfel herangebracht werden kann, dafs sich keine anatomischen 
Hindernisse erheben. — Das Netzhautbild darf durch das Vor- und Zurück- 
schreiten lediglich vergröfsert bzw. verkleinert werden, mufs sich selbst 
aber stets geometrisch ähnlich bleiben. Da wir uns längs einer zu der 


86 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Ebene, in welcher die Objekte angebracht sind, senkrecht stehenden Schnur 
bewegten, so ist diese Bedingung erfüllt. Zu beachten bleibt nur noch, 
dafs in den ferneren Stellungen keine neue, der Beobachtungsebene nicht 
angehörende, sondern seitlich vom Beobachter befindliche Objekte ins 
Gesichtsfeld eintreten. 

Das Eintreten neuer seitlicher Gegenstände kann dem Beobachter 
eine Vergrölserung des Gesichtsfeldes vortäuschen; es kann aber auch die 
umgekehrte Wirkung haben, wenn nämlich durch die neuen Gegenstände 
Objekte der zu beobachtenden Ebene verdeckt werden. Gegenstände, 
welche sich zwischen der Beobachtungsebene und dem Auge der Vp. etwa 
befinden, müssen demnach von der Schnur einen grölseren seitlichen Ab- 
stand besitzen. Ferner mufs die Beobachtung an verschiedenen Objekten 
vorgenommen werden. Man glaubt einen bekannten Gegenstand bei Peripherie- 
versuchen zuweilen scharf zu sehen, wenn man nur irgendeinen charakte- 
ristischen Teil desselben deutlich sieht; würde nur ein Objekt immer wieder 
verwendet, so wäre die Möglichkeit, dafs dieser Fall in der Nahestellung, 
d. h. im Falle der Mikropsie stets eintritt, nicht abzuweisen. 


Wir geben nun die Resultate von vier Versuchstagen. Eine 
gröfsere Häufung erschien wegen der aulserordentlichen Deut- 
lichkeit des Phänomens kaum erforderlich. Die Einstellungen 
nehmen auch, wenn mit Sorgfalt ausgeführt, wegen ihrer langen 
Dauer und Schwierigkeit die Geduld der Vp. im hohen Malfse 
in Anspruch. 


Die Zahlen bezeichnen die in Zentimetern gemessene Ent- 
fernung des Auges der Vp. von dem in Augenhöhe angebrachten 
Fixierzeichen. War der Punkt erreicht, in welchem das Gesichts- 
feld bei unbewaffnetem Auge dieselbe Ausdehnung zu besitzen 
schien, wie im Falle der Beobachtung mit Linse, so besals es 
einige Male in den peripheren Zonen noch nicht die gleiche 
Deutlichkeit. Die Entfernungen, bei denen auch in dieser Be- 
ziehung Gleichheit herrschte, sind in Klammern beigefügt. Als 
Ausgangsstellung bei den Versuchen von der Gattung B wurde 
der Standort genommen, für welchen sich die Vp. bei den Ver- 
suchen von der Gattung A entschieden hatte. 


Selbstverständlich wurde der Vp. eingeschäft, dafs sie bei der Wahl 
ihrer Stellung nur das ihr vorgeschriebene Kriterium, nämlich die Weite 
des Gesichtsfeldes, zu benutzen habe, und dafs sie insbesondere nicht auf 
die Gröl[se ihres Abstandes vom Objekte achten solle. Es ist einer gewissen- 
haften Vp. sehr wohl möglich, von solchen unerlaubten Hilfsmitteln zu ab- 
strahieren. 

Mit Absicht wurde den gegebenen Entfernungen an den einzelnen 
Versuchstagen nicht der gleiche Grölsenwert erteilt. Eine Variierung 
innerhalb weiterer Grenzen verbot sich, einmal durch die Natur der Raum- 


1. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 87 


verhältnisse; andererseits wollte ich mich innerhalb des Gebietes halten, in 
welchem mir die Linsenmikropsie und auch die neu beobachtete Erschei- 
nung am ausgesprochensten erschien. 

















1723|. er N 48 | Ba | Bb 
1. Runde! | 250 | 520 S h e 
Be | 273 | 480 486 | 483 | 303 | 324 

| (607) | 

| | 
gea 185 | 353 332 | 33 | 19 | au 

| (364) 

| 

| 


4: y | 225 312 322 | 317 247 236 


A gegebener Standort (Beobachtung mit Linse). B gegebener Standort 
(Beobachtung ohne Linse). Aa u. AB gewählter Standort (Beobachtung 
ohne Linse). Ba u. Bb gewählter Standort (Beobachtung mit Linse). 


Dafs zwischen dem 4. und den anderen Versuchstagen ein 
erheblicher Unterschied besteht, zeigt sich in geringerem Malse 
schon in den Zahlenwerten, geht aber mit voller Deutlichkeit 
erst aus den Selbstbeobachtungen der Vp. hervor. 

Im allgemeinen war das Gesichtsfeld ziemlich gleichmäfsig 
mit Gegenständen angefüllt gewesen. Bei der im Hofe des 
Psychologischen Instituts angestellten vierten Beobachtungsreihe 
liefs sich ein gleichmäfsig ausgefülltes Gesichtsfeld weder finden 
noch herstellen. Als Objekt diente eine Hauswand. In der Mitte 
befand sich eine verhältnismäfsig kleine Gruppe von Gegenständen, 
im wesentlichen bestehend aus zwei Fässern. Rechts und links 
davon, sowie darüber war in weitem Umkreis nichts anderes 
sichtbar, als die gleichförmige Wand. Noch weiter nach rechts 
befand sich eine Tür, die sich von der Wand, besonders im in- 
direkten Sehen, gleichfalls nicht stark abhob. Auf der linken 
Seite hingegen war ein geöffnetes Fenster mit leuchtend weilsem 
Rahmen zu sehen. 

! Die Versuche B mulsten in der ersten Runde unterbleiben. Die Vp. 
konnte sich nicht so weit entfernen, dafs der wahrgenommene Bezirk mit 
unbewaffnetem Auge deutlich gröfser erschien, da die Dimensionen des 
Zimmers, in welchem diese Beobachtungen angestellt wurden, hierzu nicht 
hinreichten. Bei „550“ erschien das Gesichtsfeld „gröfser“, aber noch nicht 
„deutlich gröfser“. 

Die viel zahlreicheren Beobachtungen von JarxscH wurden hier nicht 
aufgeführt, da sie bezüglich des an dieser Stelle allein wichtigen Punktes 
kein besonderes Interesse besitzen. 


88 1. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Die Vp. gab bei einer der ersten Beobachtungen zu Protokoll, 
sie sei diesmal in ihrem Urteil sehr unsicher; es störe sie, dafs 
so wenig Gegenstände da sind. Nachdem die Beobachtungen 
eine Zeitlang fortgesetzt worden waren, erklärte die Vp., eigent- 
lich seien doch genug Objekte da. Aber der seitliche Fenster- 
rahmen habe eine so leuchtende Helligkeit. „Wenn ich auf ihn 
„achte, merke ich gar keinen Unterschied, ob ich das Glas vor- 
„nehme oder nicht“. Vp. bemühte sich auf Geheifs des V]. bei 
der durch die Methode geforderten Wahl des Standortes die Auf- 
merksamkeit von dem Fensterrahmen soviel wie möglich ab- 
zulenken. 

Die beiden Aussagen scheinen einander nicht zu widersprechen. Weil 
das Gesichtsfeld nicht gleichmäfsig ausgefüllt war, darum zog der auf- 


fallende Gegenstand inmitten einer einförmigen Umgebung die Aufmerk- 
samkeit auf sich. 


Diese Beobachtungen wurden im Juli 1907 angestellt. Ich 
gestatte mir, eine Auslassung wörtlich wiederzugeben, die ich im 
Februar auf Grund sehr häufig wiederholter Beobachtungen in 
meiner Notizmappe niedergelegt hatte: 

„Es scheinen zwei verschiedene Verhaltungsweisen der Auf- 
„merksamkeit möglich zu sein. Einmal nämlich kann ich meine 
„Aufmerksamkeit bei strenger Fixation [des Zeichens (nachträg- 
„licher Zusatz)] über das ganze Gesichtsfeld gleichmälsig ver- 
„teilen. „Verteilen“, dieser Ausdruck mittels eines Verbums, 
„welches eine Tätigkeit bezeichnet, ist hierbei nicht ganz treffend; 
„denn das genannte Verhalten stellt sich, wenigstens bei kurzen 
„Expositionen, ganz von selbst, naturgegebenerweise, ohne be- 
„sonderes Zutun, d. h. ohne vorherige Einstellung der Aufmerk- 
„samkeit, ein. Das zweite Verhalten hingegen scheint das natur- 
„gemälsere und lälst sich nur schwer unterdrücken, wenn sich 
„die Exposition über längere Zeit erstreckt. Hier ertappe ich 
„mich fast stets dabei, dafs ich nach einiger Zeit die Aufmerk- 
„samkeit nacheinander auf einzelne Teile des Gesichtsfeldes kon- 
„zentriere, anstatt ein simultanes Bild in mich aufzunehmen; dafs 
„ich die Gegenstände des Gesichtsfeldes sowohl auf ihr Vor- 
„handensein, als auch auf ihren Deutlichkeitsgrad hin nach- 
„einander durchgehe. Diese lokale periphere Konzentration der 
„Aufmerksamkeit, von deren Eintreten ich ein, allerdings schwer 
„weiter analysierbares Bewulstsein habe, läfst sich am leichtesten 
„vermeiden, der merkbar simultane Charakter des Bildes bleibt 





I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 89 


„am besten gewahrt, wenn ich die Aufmerksamkeit in beiden 
„Konstellationen ganz fest auf den Fixierpunkt, den Mittelpunkt 
„des Gesichtsfeldes, hefte und alles andere nur so nebenher 
„beachte. 

„Für meine Beobachtung scheint es gleichgültig zu sein, 
„welche der beiden Verhaltungsweisen der Aufmerksamkeit ich 
„einschlage. In beiden Fällen nehme ich in einem bestimmten 
„Augenblick nicht nur den Fixierpunkt wahr, bzw. den Fixier- 
„punkt und den Punkt, auf den ich aufserdem noch meine Auf- 
„merksamkeit konzentriere, sondern ich erhalte stets von den 
„Dingen des Aufsenraums, soweit sie dem Fixierpunkt nicht zu 
„fern liegen, ein Bild von bestimmter Ausdehnung und von einer 
„bestimmten Verteilung der Deutlichkeit, ein Bild, welches ich 
„als ein simultanes wahrnehme, oder doch wenigstens als ein 
„simultanes wahrzunehmen glaube. Soweit ist die Sache trivial. 

„Ich kann nun aber schwören, dafs dieses Bild sehr viel 
„mehr Gegenstände enthält, also erheblich weiter ist bei der Be- 
„obachtung mit Konkavglas!, wie bei der Beobachtung mit un- 
„bewaffnetem Auge, und dafs von bestimmten Gegenständen ge- 
„bildete Zonen des Gesichtsfeldes bei der erstgenannten Kon- 
„Stellation noch sehr schön scharf und klar erscheinen, die bei 
„der zweiten schon ganz schemenhaft und wie in Nebel ge- 
„taucht sind. Ganz unerklärlich und närrisch wird aber die 
„Sache durch den folgenden Umstand °: Begnüge ich mich nicht 
„mit diesem passiven Verhalten, diesem Aufmichwirkenlassen des 
„bildmäfsigen Eindrucks, sondern nehme ich mir ganz bestimmt 
„vor, meine Aufmerksamkeit nach den periphersten noch sicht- 
„baren Objekten zu richten, und zwar zu dem bestimmten Zwecke 
„der Feststellung, welches diese periphersten noch sichtbaren 
„Gegenstände sind, so gelange ich zu dem Urteil, dafs das Ge- 
„sichtsfeld in beiden Fällen, bei Beobachtung mit und ohne Linse, 
„von den gleichen Gegenständen begrenzt wird. Ob hierbei auch 
„der vorhin vorhandene Unterschied in der Deutlichkeit der 
„peripheren Zone ausgeglichen wird, vermag ich nicht mit der- 
„selben Sicherheit anzugeben.“ 


! Das Glas — 3 D wurde auch hier schon stets so nahe wie möglich 
ans Auge gebracht. 

® Bisher liefs ich das Gesamtbild ganz passiv auf mich wirken, ohne 
mir bestimmte Fragen vorzulegen, ob ich diesen oder jenen Gegenstand 
noch sehe, und welche Einzelheiten ich an ihm unterscheiden kann. 


90 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


In dieser Darstellung, an der ich trotz immer wiederholter 
Beobachtungen auch gegenwärtig nichts zu ändern habe, ist, wie 
es scheint, nur mit etwas mehr Worten dasselbe gesagt, was dann 
auch Herr WestpHaun zu Protokoll gab. Auch er findet keinen 
Unterschied in den Grenzen der Gesichtsfelder, wenn er seine 
Aufmerksamkeit auf ein an der Grenze der Sichtbarkeit stehendes 
Objekt konzentriert und die Ausdehnung der Gesichtsfelder 
danach vergleicht, ob und wie er dieses Objekt im anderen 
Falle noch wahrnimmt. 


Obwohl die Messungsmethode, durch die hier der erweiternde Einfluls 
festgestellt werden sollte, auf einer fehlerhaften Voraussetzung beruht, so 
ist doch die quantitative Bestimmung durch die Vp. vermöge des Zwanges 
zu gröfserer Genauigkeit ganz anders dazu angetan, die möglichen Selbst- 
beobachtungen ans Tageslicht zu ziehen, als die blofse qualitative Konsta- 
tierung. Je nachdem sich die Vp. in der einen oder der anderen Weise 
verhält, mu{s sie ihren Standort verschieden wählen; durch den Konflikt, 
in den sie hierdurch gerät, wird sie auf die Gründe aufmerksam. 

Man darf einen Umweg nicht als vergeblich betrachten, wenn er eine 
Bestätigung von Selbstbeobachtungen bringt, auf die der Untersuchende 
selbst erst nach langem und vertrautem Umgange mit den betreffenden 
Beobachtungen aufmerksam wurde, und welche durch eine dem Gegenstand 
ferner stehende Vp. von selbst sonst wohl nicht so leicht angestellt werden 
würden. 


Daraus, dafs für die beschriebene Erscheinung ein ganz be- 
stimmtes Verhalten der Aufmerksamkeit Voraussetzung ist, dafs 
sie ausbleibt, wenn diese rein psychische Bedingung nicht erfüllt 
ist, erkennen wir nochmals, und zwar am sichersten, ihre Un- 
abhängigkeit von den physikalischen Faktoren, an die man bei 
der Erklärung des Phänomens vielleicht zunächst denken könnte. 

Ich habe dann auch Herrn Westruau dieselben Einstellungen 
(Getrenntheit der Quadrate) machen lassen, über die wir bei der 
Schilderung der ersten Versuchsreihe berichteten ($ 1d), je- 
doch nur an der „grofsen“ Versuchsanordnung und einmal mit, 
einmal ohne Mikropsie. Hierbei mufste für die Ausschaltung 
einer Fehlerquelle Sorge getragen werden. Da die Vergleichs- 
versuche in diesem Falle an derselben Anordnung vorgenommen 
werden, so könnte die Vp. darauf kommen, sich einfach den Ort 
des Doppelquadrates zu merken und diesen Umstand als Kriterium 
zu benutzen. Träte in den Vergleichskonstellationen keine 
Differenz zutage, so wäre an die Mitwirkung dieser Fehlerquelle 
zu denken. Ich schaltete darum nach jeder Einstellung einen 





I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 91 


Vexierversuch ein, bei welchem die Vp. die gleiche Aufgabe zu 
erfüllen hatte, wobei das Glas aber nicht unmittelbar vor dem 
Auge, sondern einige Zentimeter von demselben entfernt ange- 
bracht wurde. In diesem Falle tritt gleichfalls eine Verkleinerung 
ein, die aber nun zu einem nicht unbeträchtlichen Teil objektiv 
ist. Obwohl die Netzhautbilder beim Mikropsieversuch und bei 
Einstellung mit unbewaffnetem Auge nahezu völlig gleich, bei 
Vorsetzung der Linse in einiger Entfernung dagegen nicht un- 
erheblich kleiner sind, so erscheinen doch die Wahrnehmungen, 
welche man in den beiden Fällen erhält, in denen die Linse an- 
gewendet wird, einander erheblich ähnlicher, und ganz anders 
als iin Falle der Beobachtung mit unbewaffnetem Auge. Wenn 
also eine Tendenz vorhanden ist, einfach den Ort als Kriterium 
zu benützen, so wird diese Tendenz vor allem da zutage treten, 
wo die Versuchsanordnung ganz ähnlich aussieht, wie bei der 
soeben vorangegangenen Einstellung; auf Grund dieser Tendenz 
werden dann gerade in den Fällen der Beobachtung mit der 
Linse ähnliche Einstellungen geliefert werden, was ja wegen der 
Verschiedenheit der Netzhautbilder nicht der Fall sein dürfte, 
wenn allein die in der Empfindung liegenden Bestimmungsgründe 
auf das Urteil Einfluls besessen hätten. 

In der Tat lassen die Einstellungen bei reiner Mikropsie und 
bei unbewaffnetem Auge einen Unterschied nicht erkennen!, 
während bei der teils subjektiven, teils objektiven Verkleinerung 
die Getrenntheit schon in weiterer Entfernung vom Fixierzeichen 
deutlich ist. Der Mittelwert der Einstellungen beträgt bei un- 
bewaffnetem Auge 43,3 cm, bei reiner Mikropsie 45,0 cm (m. Abw. 
4,3 cm bzw. 3,2 cm), an einem anderen Versuchstage 44,4 cm 
(m. Abw. 2,9 cm) bzw. 41,2 cm (m. Abw. 2,4 cm). 

Vp. hatte bei diesen Einstellungen durchweg den Eindruck, 
dafs in beiden Fällen, in denen mit Linse beobachtet wurde, das 
Doppelquadrat sogleich beim Auftreten der Getrenntheit viel 
tiefer schwarz, viel weniger grau sei, als bei der Einstellung mit 
unbewaffnetem Auge. Vp. empfand diesen Umstand störend, 
da das Bild der Doppelquadrate in den beiden Konstellationen 
infolge hiervon so verschieden sei, dafs die Entwicklung eines 


! Der Grund dieses Verhaltens ist, wie wir bei Gelegenheit der Be- 
handlung des Kosterschen Gesetzes sehen werden, darin zu suchen, dafs 
die durch die Linse erzeugte Mikropsie nicht hochgradig genug ist, um 
Einstellungen im Sinne des 2. Ausertschen Versuches zu bedingen. 


92 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


in den verschiedenen Fällen gleichen Urteilsmafsstabes unmöglich 
gemacht, oder wenigstens sehr erschwert würde. 


Ich selbst habe während 6 Versuchstagen eine sehr viel 
gröfsere Reihe von Einstellungen vorgenommen. Während 
anfangs das Doppelquadrat bei reiner Mikropsie im Falle der 
Erreichung des Punktes der Getrenntheit etwas weiter vom 
Fixierpunkt entfernt war, als bei Einstellung mit unbewaffnetem 
Auge, trat bald, wie bei Herrn WestpnAr, ein regelloses Auf- 
und Abschwanken um den bei unbewaffnetem Auge gelieferten 
Wert herum auf. 


Es zeigt sich hierin nochmals die Einflufslosigkeit der physi- 
kalischen Faktoren und andererseits die Wirkung der lokalen 
Konzentration der Aufmerksamkeit auf das periphere Objekt. 
Behalte ich meinen Standort, von dem aus ich die Einstellungen 
gemacht habe, bei, und betrachte ich, ohne Einstellungen zu machen, 
die Versuchsanordnung, indem ich meine Aufmerksamkeit auf 
den fixierten Punkt konzentriere und alles übrige nur nebenher 
beachte, so sehe ich wiederum bei Benutzung der Linse einen 
gröfseren Bezirk der an der Wandfläche angebrachten Versuchs- 
anordnung simultan deutlich. 


Es sei noch bemerkt, dafs ich über den geringen Grad der 
Erscheinung in Verwunderung geriet, als ich unter denselben 
Bedingungen anstatt einer Gruppe mannigfacher Gegenstände, 
eine mit weilsem Papier überzogene Wandfläche betrachtete, auf 
der in regelmäfsigen Abständen einfache schwarze Figuren auf- 
geklebt waren. Diese Beobachtung bewog mich auch dazu, im 
allgemeinen mit den komplizierteren Objekten des gewöhnlichen 
Lebens zu operieren. 


b) Lange vor der systematischen Beschäftigung mit dem 
A.F.G. hatte ich von mehreren Vpn. Einstellungen von folgen- 
der Art vornehmen lassen. 

Auf einer Drehscheibe befand sich ein Paar Rouu£rtscher 
Konvergenzplatten. ! 


! Die Wirkung der dicken planparallelen Glasplatten, welche zuerst 
von Rorrerr (Sitzungsber. d. Wiener Akad. mathem.-naturw. Kl. 42, 1860) 
verwendet wurden, ist aus der Figur ersichtlich. „Ohne die Platten würde 
ein Punkt A des Objektes unter dem Konvergenzwinkel « gesehen werden; 
durch die Platten gesehen, erscheint er in der Stellung I unter dem gröfseren 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 93 


Wurde die Drehscheibe um 180° gedreht, so verwandelte sich 
die Konvergenzstellung der Platten in Divergenzstellung, und 
die subjektive Verkleinerung in subjektive Vergrölserung. Den 
Augen des Beobachters gegenüber wurde während fester Fixation 
eines in Augenhöhe befindlichen Zeichens von oben her in der zur 
Medianebene parallelen Richtung mittels einer von der Vp. selbst zu 
bedienenden Einrichtung ein Doppelquadrat eingeführt; arretiert 
wurde an dem Punkte, an welchem die Getrenntheit eben deut- 
lich war. Fixierzeichen und Testobjekt befanden sich ungefähr 
in Leseweite. Die Wirkung der Platten ist ja aus physikalischen 
Gründen nur bei nahen Objekten erheblich. 

Hierbei ergab sich bei mehreren Beobachtern übereinstimmend 
ein allerdings nur geringfügiger Unterschied bei Konvergenz- 
und Divergenzstellung der Platten, — im Sinne einer Begünstigung 
des Falles der scheinbaren Kleinheit — der jedoch nach einer 
Reihe von Versuchstagen (4—6) schwand. Es mag dahingestellt 
bleiben, ob für die geringfügige Differenz physikalische Fehler- 
quellen verantwortlich sind. 

Reopvıscıug (Das sensomotorische Sehwerkzeug, Leipzig 1898) hat mit 


Recht hervorgehoben, dafs die Platten nicht nur eine Parallelverschiebung, 
sondern stets auch eine geringe objektive Vergröfserung hervorbringen. 


Bemerkenswert ist einzig und allein der Umstand, dals ich 
mich bei diesen Versuchen nicht beruhigen konnte, vielmehr die 
Anordnung immer von neuem und in verschiedener Weise modi- 


Konvergenzwinkel 3, also näher (in B) und kleiner, in der Stellung II 
unter dem kleineren Konvergenzwinkel >, also entfernter (in C) und gröfser.* 
(Zora, NaseLs Handb. d. Physiol. III. 1905. 6. 419.) 








Konvergenzplattenversuch von ROLLET. 


94 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


fizierte; denn wenn ich bei Konvergenz der Platten nur qualitativ 
beobachtete, ohne Einstellungen vorzunehmen, so sah ich stets 
einen grölseren Bezirk des betrachteten Objektes deutlich als bei 
Divergenzstellung oder bei Betrachtung mit unbewaffnetem Auge. 
Dafs bei den Einstellungen, auch bei den von mir selbst aus- 
geführten, ein erheblicher Unterschied nicht zutage trat, schien 
mir ganz unbegreiflich. — Ich wulste mir darum keinen Rat 
und liefs die Frage als zu schwierig liegen. Der Parallelismus 
mit den oben geschilderten Erscheinungen bei Linsenmikropsie 
liegt auf der Hand. 


§ 6. 

Halten wir uns bei der Interpretation aller dieser Erscheinungen 
zunächst an die Tatsache, dafs bei Linsenmikropsie, aufser bei 
einem gewissen Verhalten der Aufmerksamkeit, eine.Erweiterung 
des deutlichen Gesichtsfeldes eintritt! Eine solche Erweiterung 
zeigt sich ja nach AuseRT und ForrstER ebenfalls, wenn man 
von der Betrachtung ferner peripherer Gegenstände zu der Be- 
trachtung naher Objekte übergebt. Liegt der Gedanke nicht 
nahe, dafs beide Erscheinungen ein und derselben Ursache ent- 
springen ? 

Bei Vorsetzung eines Konkavglases ändert sich die Augen- 
linse im selben Sinne, wie beim Übergang von der Betrachtung 
eines ferneren zu der eines näheren Gegenstandes. Die gleich- 
sinnige Änderung des Akkommodationszustandes bei beiden Ver- 
suchen ist die zunächst in die Augen springende Gemeinsamkeit. 
Würde einer der Autoren, welche das A. F. G. auf dioptrischem 
oder mechanischem Wege aus der Verschiedenheit der Linsen- 
zustände herleiten, die analoge Erscheinung bei Linsenmikropsie 
beobachtet haben, so hätte er, und offenbar mit einem Schein 
des Rechtes, diese Übereinstimmung als einen starken Beweis 
für die Richtigkeit seiner Anschauungen anführen können. 

Allein dieser Weg kann nach den oben gelieferten Gegen- 
beweisen nicht mehr beschritten werden. Soeben haben wir noch 
einen neuen, kaum weniger zwingenden Gegenbeweis gegen jede 
physikalische Theorie kennen gelernt. Wir haben ja gesehen, 
dafs die geschilderte, dem AuBERT-FoErstErschen Phänomen 
durchaus parallele Erscheinung bei Mikropsie das eine Mal ein- 
treten, das andere Mal unterbleiben kann, wenn der Versuch 
unter den gleichen physikalischen und physiologischen, aber unter 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 95 


abweichenden psychologischen Bedingungen vorgenommen wird. 
Dieses Verhalten ist auf dem Boden der dioptrischen und mecha- 
nischen Theorien vollkommen unverständlich; es legt vielmehr 
den Gedanken an eine psychische Wurzel der Erscheinung nahe. 

Nach weiteren physiologischen Gemeinsamkeiten zu suchen, 
wäre eine vergebliche Arbeit. Wir haben alle Organe, an die 
eine physiologische Erklärung anknüpfen könnte, in Erwägung 
gezogen; keiner jener Erklärungsversuche hat die Probe bestan- 
den. Entweder die Vp. beobachtet wirklich, der Instruktion ge- 
mäls, unter strenger Fixation. Der Erklärungsgrund kann dann 
nur in jenen Teilen des Auges gesucht werden, welche zu dem 
Abbildungsvorgang in Beziehung stehen: entweder der Akkom- 
modationsunterschied selbst, oder ein mit der Akkommodation 
verknüpfter Vorgang muls dann die Ursache sein. Wollte nun 
jemand einwenden, dafs die Änderung der Akkommodation und 
die mit ihr teils nervös, teils mechanisch assoziierten Vorgänge 
möglicherweise nicht die einzigen Veränderungen seien, welche 
bei Beobachtung von Gegenständen in verschiedenen Entfernungen 
im Auge eintreten, dafs vielmehr in solchen Fällen vielleicht 
noch unbekannte innerretinale Vorgänge innerviert werden könnten, 
welche die Erscheinung hervorrufen, so werden wir antworten, 
dals zwar die Beweiskraft der ersten Versuchsreihe alsdann fällt, 
dals hingegen die Beweiskraft der zuletzt angestellten Beobach- 
tungen unerschüttert bleibt, welche Vorgänge solcher Art man 
auch entdecken mag. — So bleibt innerhalb des physiologischen 
Gebietes lediglich die Möglichkeit, dafs die Vp. nur zu fixieren 
glaubt, in Wirklichkeit aber Augenbewegungen ausführt. Die 
physiologische Erklärung kann sich dann lediglich darauf stützen, 
dafs die mechanischen Bedingungen für die Augenbewegungen 
in den Vergleichsfällen verschieden sind. Schon an dem Aus- 
fall des ersten Augertschen Versuches scheitert diese Annahme. 
Für den zweiten Augertschen Versuch konnten wir bei unserer 
Modifikation für die Ausschliefsung dieser Fehlerquelle sorgen. — 
Wir werden noch einen Fall kennen lernen, in welchem das AUBERT- 
Foerstersche Phänomen gerade bei bewegtem Blick besonders 
deutlich ist. 

Physikalische und physiologische! Theorien, welcher Art sie 
sein mögen, kommen für uns nicht mehr in Betracht. 


! Wenn hier von physiologischen Theorien die Rede ist, so sind Theo- 
rien gemeint, welche den Grund der Erscheinung am peripheren Sinnes- 


96 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Da aber die Analogie der Ausertschen Versuche mit dem 
Mikropsieversuch unverkennbar ist, so werden wir die Bemühungen 
um die Aufsuchung einer gemeinsamen Wurzel nicht so leicht 
aufgeben. Eingedenk des grolsen Einflusses eines psychologischen 
Faktors auf den Charakter der Erscheinung, wollen wir uns nun 
einmal die Frage vorlegen, ob jenes Gemeinsame nicht vielleicht 
auf psychologischem Gebiete zu suchen ist. 

Eine solche psychologische Gemeinsamkeit besteht nun in der 
Tat. Sowohl bei den beiden Ausertschen Versuchen, wie bei der 
Linsenmikropsie, ist in den Vergleichsfällen die scheinbare Grölse 
der Objekte trotz Gleichheit der Netzhautbilder verschieden; und 
zwar findet eine Erweiterung des Gesichtsfeldes gleichzeitig mit 
der Herabsetzung der scheinbaren Gröfse statt. 

Sollte nicht vielleicht die Änderung der scheinbaren Gröfse 
die Ursache für die Änderung des Gesichtsfeldes sein ? 

Geben wir diese Möglichkeit vorläufig zu, so erhebt sich so- 
fort die weitere Frage, wodurch denn die scheinbare Gröfse be- 
fähigt sein könnte, auf einem Gebiete, mit dem sie anscheinend 
gar nichts zu tun hat, so merkwürdige Wirkungen hervorzu- 
bringen. 

Vergegenwärtigen wir uns nochmals die an früherer Stelle 
geschilderten Versuche von HELMHOLTZ. 

Diese Versuche demonstrieren nicht nur den Einfluls der 
Aufmerksamkeit! auf die Deutlichkeit unserer Gesichtswahrneh- 
mung überhaupt. Sie lassen zugleich erkennen, dafs sich dieser 
verdeutlichende Einflufs der Aufmerksamkeit immer nur für 
einen beschränkten Teil der Netzhaut geltend macht. Immer 
bleibt der weitaus grölste Teil des Gesichtsfeldes dunkel; obwohl 
der Beobachter das Bestreben hat, in der Gegend, auf welche 


organ, am Augapfel suchen; ihnen setzen wir unsere psychologische Theorie 
des Phänomens entgegen. 

! Ausdrücklich sei hervorgehoben, dafs die nachfolgenden Ausführungen 
ganz unabhängig davon sind, welche Vorstellung man sich vom Wesen der 
Aufmerksamkeit bildet. Es ist insbesondere für uns ganz gleichgültig, ob 
die Aufmerksamkeitserscheinungen Äufserungen einer besonderen psy- 
chischen Funktion sind, oder ob die Aufmerksamkeitsphänomene, wie EBBInG- 
HAUS annimmt, aus einer gegenseitigen Beeinflussung der psychophysischen 
Prozesse (hier der Empfindung) entspringen. Auch bei unseren Aus- 
führungen über die pathologischen Erscheinungen können jene Fragen, 
wie wir seinerzeit noch besonders hervorheben werden, ganz dahingestellt 
bleiben. 


I. Abschnilt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 97 


er seine Aufmerksamkeit richtet, möglichst viele Buchstaben zu 
erkennen, also einen möglichst grolsen, an jenen Punkt an- 
schliefsenden Bezirk deutlich zu sehen, erscheint immer nur ein 
relativ sehr kleines Gebiet in deutlicher Klarheit. 

Dieser fördernde Einflufs der Aufmerksamkeit wird sich 
natürlich stets geltend machen, wenn wir unter irgendwelchen 
Umständen Peripheriebeobachtungen ausführen. Gänzliche Un- 
aufmerksamkeit ist ja bei solchen Versuchen schon durch deren 
Schwierigkeit ausgeschlossen. Bedeckt das vom Objekt im Auge 
entworfene reelle Bild nur einen sehr kleinen Teil der Netzhaut, 
so wird es, ebenso wie im Hermsortzschen Versuch, möglich 
sein, durch lokale Konzentration der Aufmerksamkeit das ganze 
Bild zu verdeutlichen. Wenn hingegen das Bild weite Bezirke 
der Netzhaut bedeckt, so werden immer nur einzelne Partien 
des Objektes gleichzeitig klar sein, während weite Gebiete des- 
selben nicht zur Wahrnehmung gelangen. Hiervon werden wir 
unter gewöhnlichen Umständen, d. h. bei nicht instantaner Dar- 
bietung, natürlich nichts bemerken, da wir die Aufmerksamkeit 
im Gesichtsfeld wandern lassen und nacheinander verschiedene 
Punkte der Peripherie deutlich sehen können. Die Ausdehnung 
der vom Bilde bedeckten Netzhautflächen denken wir uns hier- 
bei in der Weise variiert, dafs man in gleicher Entfernung 
vom Auge Objekte von verschiedener Grölse aufstellt. — Diese 
Erörterungen ergeben sich als eine wohl selbstverständliche Folge- 
rung aus den HrrmHortzschen Beobachtungen. 

Allein man kann die Gröfse der Netzhautbilder auch da- 
durch variieren, dafs man einen und denselben Gegenstand in 
verschiedenen Entfernungen vom Auge aufstellt. Beträgt z. B. 
der Abstand nach der Verschiebung nur die Hälfte der ursprüng- 
lichen, so steht der zweite Flächeninhalt zum ersten im Verhält- 
nis 4:1, während sich die scheinbare Grölse des Objektes nicht, 
oder nur sehr wenig geändert hat. Bei der ersteren Anordnung 
der Versuche läfst sich nun von vornherein gar nichts darüber 
aussagen, in welcher Weise sich der verdeutlichende Einfluls der 
Aufmerksamkeit geltend machen wird. Wenn wir verschieden 
grofse Objekte in denselben Entfernungen benutzen, so variieren 
wir ja die scheinbare Grölse stets gleichzeitig mit der Netzhaut- 
bildgröfse, und zwar erfolgen die beiden Änderungen stets im 
gleichen Verhältnis. Wenn nun in diesem Falle ein kleineres 
Netzhautbild günstiger gestellt ist als ein grolses, so wissen wir 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 7 


98 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


nicht, ob das betreffende Netzhautbild diesen Vorzug seiner wirk- 
lichen Kleinheit oder der scheinbaren Kleinheit des ihm 
entsprechenden Gegenstandes verdankt. Wir wissen mit anderen 
Worten nicht, ob der verdeutlichende Einflufs der Aufmerksam- 
keit eine Funktion der wirklichen Gröfse der Netzhautbilder 
oder der scheinbaren Grölse der Gegenstände ist; die Funktion 
könnte auch beide Parameter enthalten. 

Es muls sich nun ein einfaches experimentum crucis finden 
lassen, welches zwischen der ersten dieser Möglichkeiten und den 
beiden anderen entscheide. Angenommen ein Objekt ist so 
grols, dafs wir es bei Fixation seiner Mitte, also bei peripherer 
Betrachtung des grölsten Teils seines Flächeninhalts, gerade noch 
in allen seinen Partien deutlich sehen: wenn wir nun ein dem 
ersten geometrisch ähnliches, aber gröfseres Objekt in einer 
solchen Entfernung aufstellen, dafs es dasselbe Netzhautbild 
liefert, wie das erste, so muls dieses zweite Objekt, falls jene 
Funktion nur die Netzhautbildgrölse als Parameter enthält, gleich- 
falls eben gerade noch in allen Partien deutlich sein ; insbesondere 
dürfen nicht Teile des Objektes gänzlich verschwinden, welche 
im ersten Falle noch ins Gesichtsfeld fielen. 

Ist aber jene Funktion entweder lediglich von der schein- 
baren Gröfse des Objektes abhängig, oder enthält sie beide Para- 
meter, so muls das grolse ferne Objekt gegenüber dem kleinen 
nahen im Nachteil sein. Genau dasselbe mufs eintreten, wenn 
nach irgendeiner anderen Methode allein die scheinbare Grölse, 
also unter Konstanterhaltung der Netzhautbilder, geändert wird. 

Wir brauchen diese Versuche nicht erst zu postulieren. Es 
sind alte Bekannte: die Auzertschen Versuche und der Mikropsie- 
versuch. 

Sie lehren übereinstimmend, dafs die Ausdehnung des deut- 
lich wahrgenommenen Teiles des Gesichtsfeldes auch, und zwar 
in sehr hohem Malse, von der scheinbaren Ausdehnung desselben, 
nicht nur von der Netzhautbildgröfse abhängt. 

Wir haben nun zu prüfen, ob diese Annahme den näheren 
Einzelheiten der Erscheinungen gerecht zu werden vermag. 

Sowohl bei den beiden Ausertschen, wie beim Mikropsie- 
versuch, wird ja zweierlei in seiner scheinbaren Gröfse geändert: 
1. Die peripher betrachteten Objekte selbst, 2. ihre Entfernung 
vom Fixierpunkt. Folgen wir für einen Augenblick der Annahme 
von HELMHoLTZ, welcher ja ganz allgemein die Vermutung aus- 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes, 99 


spricht, dafs man durch eine willkürliche Art von Intention die 
Aufmerksamkeit auf die Eindrücke eines bestimmten Teiles des 
peripheren Nervensystems konzentrieren und sie gleichzeitig von 
allen anderen Teilen desselben ausschliefsen könne, so werden 
wir z. B. beim zweiten Augertschen Versuch geneigt sein, die 
in den Vergleichskonstellationen hervortretende Differenz auf die 
verschiedene scheinbare Gröfse der Testobjekte, also der 
Doppelquadrate zurückzuführen. Denn, so sollte man meinen, 
hat die Erscheinung ihren Grund in der Verschiedenheit des 
Verhaltens der Aufmerksamkeit gegenüber Objekten von ver- 
schiedener scheinbarer Grölse, so wird die Erscheinung auch durch 
diejenigen Objekte des Gesichtsfeldes hervorgerufen sein, auf 
welche sich die Aufmerksamkeit nach HeLmHorL1z’ Vermutung 
allein konzentriert; hingegen werden diejenigen Partien des Ge- 
sichtsfeldes, von denen sich die Aufmerksamkeit nach jener An- 
schauung abwendet, für das Zustandekommen des Phänomens 
nicht verantwortlich gemacht werden können. 


Allein diese so nahe liegende Auffassung stöfst auf unüber- 
windliche Schwierigkeiten. 


Zunächst erscheint es schon sehr unwahrscheinlich, dafs sich 
das relative Versagen der Aufmerksamkeit gegenüber scheinbar 
ausgedehnten Flächen bereits bei Objekten geltend machen sollte, 
die, wie die Quadrate von der Seitenlänge 4,5 cm, im Vergleich 
zu der überwiegenden Mehrzahl der uns umgebenden Dinge 
sicherlich als klein bezeichnet werden müssen; und dies bei einer 
Betrachtung aus nahezu hundertmal so grolser Entfernung, also 
bei Darbietung unter kleinem Gesichtswinkel. 


Allein diese Argumentation ist mehr plausibel als zwingend. 


Sehen wir aber zu, welche Erscheinung auf Grund der ge- 
kennzeichneten Annahme bei Linsenmikropsie zu erwarten wäre. 
Die Hypothese, dafs nicht der scheinbare Abstand der peripheren 
Objekte vom Fixierpunkt, sondern ihre eigene (scheinbare) Grölse 
das Wesentliche bei der Erscheinung sei, vermag in keiner Weise 
zu erklären, weshalb die Erscheinung bei Hinlenkung der Auf- 
merksamkeit nach diesen Objekten verschwindet, dagegen am 
beträchtlichsten ist, wenn die Aufmerksamkeit den seitlichen 
Teilen nur ganz nebenher zugewandt wird. Man könnte sich 
auf dem Boden dieser Anschauung nur durch die weitere, mehr 


als zweifelhafte, Hypothese helfen, dafs die Differenz des Ver- 
7* 


100 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Auberl-Foersterschen Gesetzes. 


haltens der Aufmerksamket gegenüber Gegenständen von ver- 
schiedener scheinbarer Grölse um so geringer wird, je intensiver 
man die Aufmerksamkeit diesen Gegenständen zuwendet. Von 
einer solchen, und zwar mehr als fraglichen, Hilfshypothese 
würde man nur im äulfsersten Notfalle Gebrauch machen. 

Ein solcher Notfall liegt hier keineswegs vor. Es ist nicht 
einmal bei den Versuchen mit instantaner Beleuchtung erwiesen — 
HermHoLtz will und braucht dies an dieser Stelle nicht zu er- 
weisen — dafs die Aufmerksamkeit sich wirklich ausschliefs- 
lich auf die Peripherie konzentriere; noch viel weniger gilt dies 
von den Versuchen mit Dauerexposition. Dagegen lehrt bei 
diesen letzteren Versuchen die Selbstbeobachtung unzweifelhaft, 
dafs wir unsere Aufmerksamkeit dem Fixierpunkt sogar sehr 
energisch zuwenden müssen, um Augenbewegungen zu vermeiden. 
Bei den Mikropsieversuchen war die subjektive Sicherheit des 
Urteilens sogar um so grölser, je intensiver die Aufmerksamkeit 
dem Fixierpunkt zugewandt wurde, so dals wir wenigstens beim 
Mikropsieversuch sicherlich allen Grund hatten, die Aufmerksam- 
keit vorwiegend auf die Mitte des Gesichtsfeldes zu konzentrieren. 
Beim Mikropsieversuch ist dann ohne weiteres klar, dals sich 
die Aufmerksamkeit vom Zentrum aus gleichmäfsig nach allen 
Seiten erstreckt. Wir nahmen uns ja ausdrücklich vor, die Auf- 
merksamkeit nicht auf seitliche Partien zu konzentrieren, und 
wir sahen auch, dafs es tatsächlich möglich war, eine solche 
lokale Konzentration der Aufmerksamkeit zu vermeiden. Denn 
sowie wir uns bei einer solchen Verfehlung ertappten, blieb die 
Erscheinung aus. In der weitaus überwiegenden Mehrzahl der 
Beobachtungen aber war es möglich gewesen, den Fehler zu ver- 
meiden und die Erscheinung in ausgeprägter Form zu be- 
obachten. 

Eher schon könnte man beim zweiten Augerrtschen Versuch 
daran denken, dafs sich die Aufmerksamkeit zugleich auf die 
durch einen weiten Zwischenraum getrennten Stellen des Fixier- 
punktes und des Doppelquadrates richte, ohne dem dazwischen- 
liegenden Felde Einlafs in die Wahrnehmung zu gestatten. Die 
Selbstbeobachtung widerlegt diese von vornherein sehr wenig 
plausible Ansicht. Niemals konnte ich bemerken, dafs ich, auch 
nur für Augenblicke, zwar den Fixierpunkt und das Testobjekt 
deutlich wahrnahm, das dazwischenliegende grolse Feld hingegen 
gar nicht beachtete. Wohl kann sich für Augenblicke die Auf- 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 101 


merksamkeit vom Fixierpunkt ab- und ganz dem Testobjekt zu- 
wenden. Es wird dann wohl auch nur ein kleinerer Teil des 
zwischenliegenden Feldes beachtet, und es kommen wohl die 
Gebiete in unmittelbarer Nähe des Fixierpunktes in Wegfall. 
Ein solches Abschweifen der Aufmerksamkeit vom Fixierpunkt 
erweckt aber, bei mir wenigstens, stets ein Gefühl der Unbe- 
friedigung und kann darum, namentlich in stärkerem Malse, nur 
für Augenblicke vorkommen. Man besitzt in solchen Augenblicken 
keine Sicherheit darüber, ob man wirklich fixiert hat, und man sus- 
pendiert darum das Urteil. Die grölstmögliche subjektive Sicher- 
heit betreffs richtigen Fixierens besitze ich nur dann, wenn ich 
die Aufmerksamkeit, ähnlich wie beim Mikropsieversuch, un- 
unterbrochen auf den Fixierpunkt richte und von dort ab einen 
sich möglichst weit nach oben zu erstreckenden Bezirk mit der 
Aufmerksamkeit zu erfassen suche. 

Man wird also kaum fehlgehen mit der Annahme, dafs nicht 
die Differenz in der scheinbaren Gröfse der Testobjekte das 
AUBERT-FOERSTERsche Phänomen auslöst, sondern vielmehr 
die Differenz in den scheinbaren Abständen zwischen Fixierpunkt 
und Testobjekt. 


Angenommen, es sei die Einstellung an der kleinen (2. AUBERT- 
schen) Versuchsanordnung vollzogen, und an der grolsen Anordnung 
werde nun das Testobjekt so eingestellt, dals der Winkel zwischen 
Richtungslinie und Gesichtslinie dieselbe Gröfse besitzt, wie bei 
der kleinen Anordnung. Hier beträgt nun die scheinbare Grölse 
des zwischen Testobjekt und Fixierpunkt gelegenen Feldes an- 
nähernd das Zehnfache. Ein Feld von so bedeutender schein- 
barer Ausdehnung vermögen wir eben offenbar nicht mehr simul- 
tan deutlich zu sehen. Wir müssen darum die Testobjekte der 
grofsen Versuchsanordnung näher an den Fixierpunkt heran- 
bringen, um sie als getrennte Quadrate zu erkennen. 

Dals die scheinbaren Gröfsen von 17 und 170 cm eine Ver- 
schiedenheit des psychologischen Verhaltens bedingen könnten, 
erscheint auch von vornherein eher glaublich, als dafs dies bei 
Strecken von 1,35 und 13,5 em! der Fall sei; denn es kommt 
offenbar nicht darauf an, dafs in beiden Fällen die eine Strecke 
das Zehnfache der anderen beträgt, sondern dafs in dem einen 


! Wir nehmen den grölsten Durchmesser der Testobjekte. 


102 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Falle nur eine Strecke von 12,15, im anderen Fall dagegen eine 
sehr grolse (153 cm) hinzutritt, wenn man von der kleinen Kon- 
stellation zur grolsen übergeht. 

Diese Anschauungen werden zur Gewilsheit, wenn wir sehen, 
wie leicht sich mit ihrer Hilfe die näheren Einzelheiten unserer 
Versuche erklären. Dafs das Phänomen bei Linsenmikropsie 
nachläfst bzw. ausbleibt, falls die Aufmerksamkeit auf ein Objekt 
am Rande des Gesichtsfeldes konzentriert wird, erscheint nun 
selbstverständlich. 

Vor diesem Abschweifen der Aufmerksamkeit, bei möglichst 
gleichmäfsiger Verteilung derselben, lag das Zentrum des von 
der Aufmerksamkeit umfafsten Feldes im Fixierpunkt. Dieses 
Feld glich in sehr hoher Annäherung einer Kreisfläche, mit dem 
Fixierpunkt als Zentrum. Aus unserer Annahme folgt, dafs 
irgendein peripheres Objekt, z. B. eine an der Wand hängende 
kleine Photographie, welche bei Betrachtung mit unbewaffnetem 
Auge in den Kreis des deutlichen Sehens nicht mehr hineinfällt, 
sehr wohl in denselben eintreten kann, wenn durch Mikropsie 
alle linearen Dimensionen der Wand etwa auf die Hälfte, alle 
Flächendimensionen somit auf den vierten Teil ihres ursprüng- 
lichen scheinbaren Betrages reduziert werden. Auch die kleine 
Photographie ändert ihre scheinbaren Dimensionen hierbei im 
selben Verhältnis. Wird nun aber der „innere Deutlichkeits- 
kreis“, wie wir kurz sagen können, innerhalb der Fläche der 
Wand verschoben, so dafs sich sein Zentrum in der neuen Lage 
innerhalb der kleinen Photographie befindet, so wird das kleine 
Objekt sowohl bei Mikropsie wie ohne Mikropsie ganz in den 
Deutlichkeitskreis hineinfallen, weil eben selbst in dem Falle, in 
welchem keine Mikropsie vorliegt, der grölste Durchmesser des 
Objektes immer noch kleiner ist als der Durchmesser des „inneren 
Deutlichkeitskreises“. Es ergibt sich also hier kein Unterschied 
der Konstellationen. Der Anreiz zu einer solchen Verschiebung 
ist um so stärker, je auffallendere Gegenstände sich im seitlichen 
Gesichtsfelde befinden, und je gleichförmiger der Grund ist, von 
dem sie sich abheben (wir erinnern an die Beobachtung der Vp. 
WESTPHAL). 

Was für Ergebnisse haben wir nun beim zweiten AUBERT- 
schen Versuche zu erwarten? s 

Bei diesem Versuche sind die Bedingungen zu einer Ver- 
schiebung des Aufmerksamkeitszentrums nach dem Testobjekt 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 103 


oder in der Richtung auf dasselbe ziemlich günstig. Denn auch 
hier haben wir ein einigermalsen auffallendes Objekt inmitten 
eines gleichförmigen Grundes. Man könnte hiernach erwarten, 
dafs das Phänomen infolge der besonders günstigen Bedingungen 
für das Auftreten einer lokalen Konzentration der Aufmerksam- 
keit hier ausbleiben werde. Wenn jenes Phänomen trotzdem in 
grolser Deutlichkeit in Erscheinung tritt, so ist dies offenbar 
einem dem Anreiz zur lokalen Aufmerksamkeitskonzentration 
entgegenwirkenden Umstand zuzuschreiben. Ein solcher Um- 
stand ist nun aber in der Tat vorhanden. Bei einigermalsen 
ausgesprochener lokaler Konzentration der Aufmerksamkeit auf 
die Peripherie erwacht in einer halbwegs gewissenhaften Vp. 
der Zweifel, ob denn auch jede Blickbewegung vermieden worden 
sei. Man suspendiert in solchen Momenten das Urteil; die Ein- 
stellungen schildern den Eindruck, welchen man in solchen 
Augenblicken erhält, in denen man sicher ist, die Aufmerksam- 
keit fest auf den Fixierpunkt zu heften. Dies ist sicherlich 
wenigstens das von mir beobachtete Verhalten. — Wir werden 
aber nicht mit Unrecht jene lokale Konzentration der Aufmerk- 
samkeit dafür verantwortlich machen, dafs bei den einerseits 
mit unbewaffnetem Auge, anderseits mit einer durch — 3 D 
hervorgebrachten Mikropsie ausgeführten Einstellungen ein in 
bestimmter Richtung liegender Unterschied nicht in Erscheinung 
trat, obwohl bei Einhaltung des rein passiven Verhaltens, 
welches wir im allgemeinen bei den Mikropsiebeobachtungen zu- 
grunde legten, der Unterschied in der Gröfse des simultan über- 
sehbaren Bezirkes aulserordentlich deutlich war. 

Der scheinbare Widerspruch mit der Tatsache, dafs das 
AUBERT-FOERSTERsche Phänomen beim zweiten Augertschen Ver- 
suche so deutlich auftritt, erklärt sich durch die Tatsache, ! dafs 
wir mittels Linsen so bedeutende Unterschiede der scheinbaren 
Gröfse nicht hervorzubringen vermögen, wie wir sie unter ge- 
wöhnlichen Umständen, d. h. durch Aufstellung der Objekte in 
verschiedener Entfernung, erzeugen können. In unserem Falle 
handelte es sich zudem um einen relativ geringen Grad von 
Mikropsie. Bei dem relativ kleinen Unterschied der scheinbaren 
Gröfse, welcher hier besteht, dürfte eben bei lokaler Konzen- 
tration der Aufmerksamkeit auf das Doppelquadrat die Deutlich- 


! Wir gedenken in anderem Zusammenhange hierauf zurückzukommen. 


104 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


keit dieser peripheren Wahrnehmungen in den beiden Konstel- 
lationen noch hinreichend gleich oder ähnlich sein, um annähernd 
dieselben Einstellungen zu ermöglichen. Ob sich aber nicht viel- 
leicht in dem Umstand, dafs die Quadrate im Falle der Mikrop- 
sie gleich beim Auftreten der Getrenntheit erheblich schwärzer 
und schärfer begrenzt erscheinen, wie bei Betrachtung mit un- 
bewaffnetem Auge, ein Rest jenes Unterschieds verrät? Diese 
Frage wird uns an späterer Stelle eingehender beschäftigen (§ 8). 
Wenn mir die Erweiterung der Gesichtsfeldgrenzen weniger 
deutlich erschien bei Betrachtung einer gleichförmigen, mit ein- 
zelnen Zeichen in regelmälsigen Abständen bedeckten Wand- 
fläche, als bei Zugrundelegung von Sehfeldern, welche mit den 
mannigfachsten und durchweg „interessanten“ Gegenständen ge- 
wissermalsen nicht „diskret“, sondern „kontinuierlich“ erfüllt sind, 
so ist wohl darauf hinzuweisen, dafs die Beobachtung des rein 
passiven Verhaltens, die Vermeidung des Bestrebens, sich von 
der Sichtbarkeit bestimmter Gegenstände zu überzeugen, und 
die Aufmerksamkeit sukzessiv auf verschiedene periphere Punkte 
zu konzentrieren, viel schwieriger ist, wenn das Gesichtsfeld nur 
in diskreter Weise, und zwar durch eindringliche Objekte (schwarze 
Figuren auf weilsem Grund), ausgefüllt ist. 

Da nun zu erwarten ist, dals sich beim zweiten AUBERTschen 
Versuch die eine Vp. mehr zum Abschweifen des „Aufmerk- 
samkeitsmittelpunktes“ bestimmen läfst, während sich bei einer 
anderen das Motiv zur Festhaltung der Aufmerksamkeit auf dem 
Fixierpunkt stärker erweist, so wird sich das AUBERT-FOERSTER- 
sche Phänomen bei verschiedenen Vpn. mit verschiedener Deut- 
lichkeit zeigen. So war die Erscheinung bei der Vp. HERING 
sehr viel weniger ausgesprochen als bei den anderen. Wir müssen 
sogar darauf gefalst sein, dals einmal bei einer Vp., welche sich 
von dem Antrieb zum Abschweifen des Aufmerksamkeitszentrums 
sehr stark bestimmen läfst, die Erscheinung mittels des zweiten 
Ausertschen Versuches überhaupt nicht nachgewiesen werden 
kann. 

Zeigt jemand durch sein ganzes Verhalten bei den Ver- 
suchen, dals er es mit der Aufgabe der Fixation sehr ernst 
nimmt, fühlt er sich, wie Herr Prof. MÜLLER, unbefriedigt, weil 
er nicht völlig sicher ist, trotz besten Wissens und Gewissens 
jedwede Augenbewegung vermieden zu haben, so wird man das 
Phänomen in deutlicher Ausprägung erhalten. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 105 


Der zweite Augertsche Versuch wird also das der AUBERT- 
FoeErsterschen Erscheinung in jeder Form zugrunde liegende 
Elementarphänomen nicht in reiner Gestalt zutage treten lassen. 
Das Ergebnis ist eine Abschwächung, ein Rudiment des Grund- 
phänomens, wobei wir in das Wort „Abschwächung“ den unteren 
und den oberen Grenzwert einbegreifen. Es muls die Möglich- 
keit offen gelassen werden, dafs die Abschwächung gelegentlich 
den Betrag „Null“ besitzt, sowie andererseits, dafs die Ab- 
schwächung eine totale ist, d. h. also eigentlich den Namen 
„Aufhebung“ verdiente. 

Der zweite Augertsche Versuch ist eine Reduktion, ein Rudi- 
ment des Grundphänomens. Sollte es nicht möglich sein, den 
zweiten AugErtschen Versuch so zu modifizieren, dals bei ein- 
und derselben Vp. eine noch viel stärkere Reduktion des Grund- 
phänomens, vielleicht in allen Fällen eine Aufhebung desselben 
eintritt? Dies mülste in der Tat erwartet werden, falls sich Ver- 
suchsbedingungen finden liefsen, welche die Konzentration der 
Aufmerksamkeit auf den Ort des Testobjektes in noch höherem 
Malse begünstigen, als dies beim zweiten Augertschen Versuch 
bereits der Fall ist, und wenn somit die von der Vp. gelieferten 
Einstellungen die Erscheinung in derjenigen Form darstellen, in 
der sie sich in den Augenblicken einer seitlichen Konzentration 
der Aufmerksamkeit darstellt. 

Hätten wir den zweiten Augertschen Versuch noch nicht 
bei instantaner Exposition angestellt, so könnten wir wohl an 
dieser Stelle aus theoretischen Gesichtspunkten auf den Gedanken 
kommen, es mit dieser Modifikation einmal zu probieren. Da 
die Vp. weils, dafs der Eindruck nur für einen sehr kurzen 
Moment dargeboten wird, so wird sie — wie die Selbstbeobach- 
tung des Herrn Prof. MüLLer und die eigene des Verfassers 
lehrt — ihre Aufmerksamkeit für diesen kurzen Augenblick so 
stark wie möglich auf die Stelle konzentrieren, an welcher das 
Testobjekt ungefähr zu erwarten ist. Diese Stelle ist ihr ja auf 
Grund der jedesmaligen vorhergegangenen Exposition bekannt. 

Mit dieser widernatürlichen, stark peripheren Richtung der 
Aufmerksamkeit, unter gleichzeitiger Festhaltung des Fixier- 
punktes, dürfte es auch zusammenhängen, wenn Herr Prof. 
MÜLLER die Versuche schon nach wenigen Einstellungen als sehr 
anstrengend und ermüdend bezeichnet. Bemerkenswert ist hier- 
bei, dafs sich dieser hohe Grad von Ermüdung einstellt, obwohl 


106 T. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


der Beobachter immer nur während aufserordentlich kurzer Zeiten 
beschäftigt ist. Die Summe der Beobachtungszeiten ist hierbei 
verschwindend klein gegenüber dem Zeitraum, währenddessen 
die Vp. bei den entsprechenden Einstellungen unter konstanter 
Beleuchtung in Anspruch genommen wird. 

Ist unsere Deutung der starken, beim instantanen Versuch 
eintretenden Ermüdung richtig, so werden wir beim Dauerversuch 
die gleiche lokale Konzentration der Aufmerksamkeit, und damit 
eine entsprechende Reduktion der Erscheinung, schon darum 
nicht erwarten dürfen, weil in diesem Falle die Beibehaltung 
des genannten Verhaltens unsere Kräfte übersteigen würde. 

Die Hinwendung der Aufmerksamkeit nach der Peripherie 
dürfte, wenigstens bei psychologisch geschulten Vpn., auch da- 
durch erleichtert werden, dafs man bei dieser Anordnung nicht 
mehr so sehr zu befürchten braucht Augenbewegungen auszu- 
führen, und dafs man darum während des Versuches die Auf- 
merksamkeit nicht mehr mit so starker Anspannung auf das 
Fixierzeichen zu richten genötigt ist. In dieser Weise erklärt 
sich auch die auf den ersten Blick befremdende Tatsache, dafs 
die Erscheinung beim ersten Augertschen Versuch!, durch den 
sie ja entdeckt wurde, trotz instantaner Beleuchtung beobachtet 
wird. Der Beobachter ist hier eben bestrebt, in dem Moment 
der Exposition von den in einer Ebene gleichmälsig verteilten 
Zeichen möglichst viele zu erkennen. Er wird also seine Auf- 
merksamkeit nicht auf eine bestimmte Stelle der Peripherie kon- 
zentrieren, sondern er wird dasjenige Verhalten einschlagen, 
welches wir als das für das Hervortreten der Augertschen Er- 
scheinung beim Mikropsieversuch günstigste erkannten: er wird 


! Den ersten Augrrtschen Versuch mulfste ich von der Untersuchung 
ausschlie/sen, da uns die hierzu erforderlichen Hilfsmittel zurzeit nicht zu 
Gebote standen. Der Anscnürzsche Momentverschlufs ist aus den oben 
angegebenen Gründen nicht verwendbar. Ein Versuch, die gleichförmige 
momentane Beleuchtung einer gröfseren Fläche durch Magnesiumblitzlicht 
herzustellen, scheiterte an dem Umstand, dafs sich nach jeder Exposition 
ein heftiger Qualm und Geruch einstellt, last not least auch an der Kost- 
spieligkeit. — Der Gedanke, den Mikropsieversuch auch in dieser Weise 
bei instantaner Exposition durchzuführen, läge ja nahe. Es würden aber 
hierzu umfangreiche Voruntersuchungen nötig werden. Die Lehre von den 
zeitlichen Verhältnissen der Gröfsenänderung bei Mikropsie hat, wie ich 
späterhin darzulegen hoffe, über Tatsachen zu berichten, welche hier nicht 
übergangen werden dürfen. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 107 


seine Aufmerksamkeit über das ganze Feld möglichst gleich- 
mäfsig verteilen. 

Begreiflich ist ferner, dafs bei denjenigen Versuchen AuBErTs, 
welche zur Bestimmung derjenigen peripheren Stellung dienten, 
bei welcher ein farbiges Objekt farblos erscheint, die Entfernung, 
in welcher die Prüfung vorgenommen wurde, gleichgültig zu 
sein schien. Die Aufgabe, welche die Vp. bei derartigen Ver- 
suchen zu erfüllen hat, wird von AUBERT, wie auch von DoBro- 
wOLSKY und GAmE, als eine aufserordentlich schwierige ge- 
schildert. Schon aus diesem Grunde ist es verständlich, dafs 
hier eine relativ starke seitliche lokale Konzentration der Auf- 
merksamkeit vollzogen werden wird. 

Vor allem aber ist zu berücksichtigen, dafs infolge der be- 
sonderen Schwierigkeiten, mit welchen diese Beobachtungen be- 
haftet sind, eigentümliche Verhaltungsweisen eingeschlagen werden 
mufsten, welche nach unseren eigenen Erfahrungen den Neben- 
erfolg haben, das Auftreten einer seitlichen lokalen Konzentration 
der Aufmerksamkeit in hohem Malse zu begünstigen. 

AÄUBERT, sowie DoBROWoLSkY und GAINE, heben überein- 
stimmend hervor, dafs ein farbiges Objekt, welches, im peripheren 
Sehen dargeboten, anfangs deutlich farbig erschien, seine Farben 
nicht selten schon nach einer Betrachtung von wenigen Sekunden 
verliert. D. und G. beobachten daher immer nur für einen kurzen 
Moment, und während eines solchen ist, wie wir annehmen 
mulsten, eine seitliche lokale Konzentration der Aufmerksamkeit 
möglich. AUuBERT selbst bediente sich aufser kurzer Betrachtung 
noch einer besonderen Verfahrungsweise, welche gleichfalls den 
Nebenerfolg hat, das genannte Verhalten der Aufmerksamkeit zu 
begünstigen. Hatte Auserr z. B. ein rotes Quadrat so weit nach 
aulsen geschoben, bis es schwarz erschien, so erweckte es bei der 
Ausführung kleiner Bewegungen, z. B. nach oben und unten, 
wieder den Eindruck „dunkelrot“. Ausert schob daher das 
Quadrat so weit vom Fixierpunkt fort, dafs auch während der 
Ausführung kleiner Bewegungen keine Farbigkeit mehr 
bemerkt wurde; erst diese Stellung notierte er als Grenzpunkt. 
Wir haben nun aber gesehen, dafs auch unsere beiden Quadrate, 
solange sie sich in Bewegung befanden, in viel exzentrischerer 
Stellung getrennt erschienen, als im Falle der Ruhe, und wir 
glaubten dies durch die Annahme erklären zu müssen, dafs die 
an einer Netzhautstelle ausgelöste Bewegungsempfindung das 


108 Z. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Auftreten seitlicher lokaler Aufmerksamkeitskonzentration auf 
diese Stelle begünstigt. 

Wenden wir uns nach diesen Erörterungen noch einmal zu- 
rück zum zweiten AuBErRTschen Versuch, zum Versuch bei Dauer- 
exposition. Eine auffallende Tatsache ist sicherlich die starke 
Deutlichkeitsabnahme innerhalb der ersten Augenblicke der Dar- 
bietung. Zwar ist es nicht verwunderlich, dafs die Deutlichkeit der 
Quadrate grölser ist, solange die Vp. den Streifen bewegt. Dafs 
Gegenstände, deren Bild sich auf der Peripherie bewegt, leichter 
wahrgenommen und erkannt werden als ruhende, ist ja eine 
bekannte Tatsache. Wäre die Erscheinung allein auf diesen 
Umstand zurückzuführen, so wäre bei Herrn Prof. MÜLLER z. B. 
zwischen dem 1. und 2. Signal das starke Nachlassen der Deut- 
lichkeit zu erwarten. Statt dessen erfahren wir, dafs bei „2“ die 
getrennten Quadrate immer noch, bei „3“ fast immer noch deut- 
lich sind, während sie beim 4. Signal verschwinden. 

Wer diese Tatsache auf die leichtere Ermüdbarkeit der Netz- 
hautperipherie zurückführen will, kann zurzeit kaum mit unbe- 
dingt zwingenden Gründen widerlegt werden. Nichtsdestoweniger 
will mir diese Ansicht als ein ziemlich verzweifeltes Auskunfts- 
mittel erscheinen. Wir benützen die Wahrnehmungen der Netz- 
hautperipherie nicht erst dann, wenn wir zu wissenschaftlichen 
Zwecken Peripheriebeobachtungen anstellen. Jeder Sehende be- 
dient sich der von der Peripherie herrührenden Wahrnehmungen 
fortwährend. Der von ForkstTEr ! beschriebene Rindenblinde, 
welcher nur noch mit der Fovea, und zwar mit leidlich guter 
Sehschärfe sah, war ebenso hilflos wie ein total Erblindeter; und 
die Entdeckung, dafs dieser Kranke überhaupt noch sah, ver- 
setzte FOERSTER in grolse Überraschung. Hierin gehört auch der 
schon erwähnte von PurkınsEe herrührende Versuch mit den 
Sehröhrchen. Diese kontinuierliche Leistung der Peripherie er- 
scheint jedenfalls schwer verständlich, wenn die Ermüdbarkeit 
dieser Regionen so bedeutend ist, dals eine ursprünglich deut- 
liche Wahrnehmung innerhalb eines Zeitraumes von 3 Sek., und 
zwar ziemlich plötzlich, verschwindet. 

Das Objekt befindet sich bei unseren Versuchen auch noch 
lange nicht auf der äufsersten Zone der Netzhaut, die überhaupt 
noch Wahrnehmungen vermittelt; denn die Objekte waren, be- 





! Über Rindenblindheit Arch. f. Ophth. 36, 8. 9. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 109 


vor sie beim Signal „1“ als getrennte Quadrate erschienen, schon 
lange als dunkle undifferenzierte Masse sichtbar. 

Nach den bisherigen Erörterungen dürfte wohl die folgende 
Deutung näher liegen. 

Ein bewegter Gesichtseindruck lenkt, wie bekannt, die Auf- 
merksamkeit in stärkerer Weise auf sich, als ein ruhender. Beim 
Signal „l“ richtet sich die Aufmerksamkeit relativ stark auf das 
Testobjekt. Ist diese erste Phase vorüber, so erinnert sich die 
Vp. wieder lebhafter daran, dafs sie fest fixieren muls. Wahr- 
scheinlich befindet sich erst im Moment des 4. Signals, in welchem 
ja die getrennten Quadrate nicht mehr deutlich sind, der Ort 
der stärksten Aufmerksamkeit wieder auf dem Fixierpunkt. 
Durch viele Selbstbeobachtungen bin ich zu der Überzeugung 
gelangt, dals sich, bei mir wenigstens, der Vorgang sehr oft in 
der geschilderten Weise abspielt. 

Aulserdem ist vielleicht an der raschen Abnahme der Deut- 
lichkeit auch der Umstand beteiligt, dafs die Vp. im ersten 
Augenblick ihre Aufmerksamkeit auf den peripheren Gegenstand 
konzentriert, wegen des anstrengenden Charakters dieser Ver- 
haltungsweise aber sehr bald davon Abstand nimmt. Auf Grund 
von Selbstbeobachtungen vermag ich diese Frage nicht mit Sicher- 
heit zu entscheiden. — Doch brechen wir diese unsicheren Er- 
örterungen ab. Sie hatten lediglich den Zweck, zu zeigen, dafs 
man nicht notwendig auf die unbefriedigende Annahme einer 
so hohen peripheren Ermüdbarkeit angewiesen sei. Jedenfalls 
wird man zugeben, dafs die anderen Umstände, welche wir an- 
führten, mit unseren allgemeinen Anschauungen im guten Ein- 
klang sind. i 

Wir gelangen also schon auf Grund der bisherigen 
Versuche zu der Ansicht, dafs diescheinbare Gröfse 
beim Zustandekommen des AUBERT-FOERSTERSChen 
Phänomens das Wesentliche ist. Wir werden noch einige 
weitere Tatsachen kennen lernen, die im gleichen Sinne sprechen. 

Allein jene Behauptung bedarf noch einer weiteren Erläute- 
rung. Zugegeben, eine Differenz der scheinbaren Gröfse ist die 
Vorbedingung für den Eintritt des Phänomens, so ist zunächst 
lediglich eine rein funktionale Abhängigkeit festgestellt. Die 
Differenz der scheinbaren Gröfse ist vielleicht nicht die direkte, 
sondern nur eine indirekte Ursache der Erscheinung. Vielleicht 
beruht sie auf einem von uns bis jetzt nicht in Erwägung ge- 


110 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-F'oersterschen Gesetzes. 


zogenen Faktor ganz anderer Art, der freilich die besondere 
Eigentümlichkeit haben mülste, dafs sein Eintreten an die Diffe- 
renz der scheinbaren Gröfse gebunden ist. Dieses letztere wenig- 
stens, glauben wir, steht nach unseren bisherigen Untersuch- 
ungen fest. 

Die Frage nach dem Umfang der Aufmerksamkeit ist oft 
aufgeworfen worden. Man fragte, wieviel Eindrücke die Seele 
gleichzeitig aufzufassen vermöge. Bei den älteren Bestrebungen 
dieser Art hat man sich zweifellos vielfach von unzutreffenden 
Voraussetzungen leiten lassen. Bietet man Punkte, Zahlen, 
Linien u. dgl. dem Blick auf ganz kurze Zeit dar, und stellt 
man fest, bei wie vielen von diesen Dingen noch richtige An- 
gaben über ihre Zahl und Beschaffenheit möglich waren, so lassen 
sich aus solchen Ergebnissen, wie EsBınaHaus (Grundzüge der 
‚Psychologie, S. 591), mit Recht hervorhebt, sichere Schlüsse auf 
den Umfang der Aufmerksamkeit nicht ziehen. „Man erkennt 
„einen Dominostein 5/6 bei der kürzest möglichen Expositionszeit, 
„nicht, weil man sich seiner einzelnen 11 Augen gleichzeitig be- 
„wulst geworden ist, sondern weil man von ihm ein einheit- 
„liches und charakteristisches Bild erhält und nun aus früheren 
„Erfahrungen weils, dafs dieses Bild aus 11 Punkten besteht. 
„Ähnlich bei beliebigen Gruppierungen einiger Linien oder ein- 
„facher Gegenstände, oder auch bei mehrstelligen Zahlen, wie 
„zZ. B. 1850, sinnvollen Worten usw.“ Wir brauchen hier nicht 
zu untersuchen, ob bei den neueren derartigen Versuchen alle 
unerlaubten Voraussetzungen vermieden sind, und ob eine solche 
Vermeidung überhaupt möglich ist. 

Die Bestimmung des Aufmerksamkeitsumfanges durch An- 
gabe der Maximalzahl gleichzeitig wahrnehmbarer Eindrücke 
steht auch hier im Mittelpunkte des Interesses." Dafs der Auf- 
merksamkeitsumfang nicht nur mit der scheinbaren Ausdehnung 
der gesehenen Objekte, sondern auch mit der Menge, also der 
Zehl der daran zu unterscheidenden Details, etwas zu tun hat, 
folgtschon aus den allergewöhnlichsten Erfahrungen. Wir brauchen 
zum blofsen Lesen einer kleinen engbedruckten Buchseite, selbst 
wenn wir auf das Verständnis des Gelesenen verzichten, eine un- 
vergleichlich längere Zeit, wie zum Lesen einer jener modernen 


! Eine Ausnahme bilden die neuesten Arbeiten von WırTrH, deren Frage- 
stellung mit dem hier aufgeworfenem Problem enge Verwandtschaft zeigt. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 111 


Anpreisungen, die, in Riesenlettern ausgeführt, zuweilen eine 
ganze Hauswand einnehmen. Der Umfang der Aufmerksamkeit 
kann, so scheint es, wenn überhaupt, nur arithmetisch, nicht geo- 
metrisch gemessen werden. 

Betrachten wir dieselbe, mit Gegenständen bedeckte Wand- 
fläche zuerst aus der Nähe, dann aus der Ferne, so ist nach 
dem A. F. G. das Netzhautbild, welches dem im zweiten Falle 
deutlich gesehenen Teile der Wand entspricht, kleiner als das 
Netzhautbild des klaren Bezirkes bei Betrachtung aus der Nähe. 

Man könnte nun versuchen, das AUBERT-FOERSTERSsche 
Phänomen in dem genannten Falle auf die rein arithmetische 
Begrenztheit der Aufmerksamkeit zurückzuführen. 

An den uns umgebenden Gegenständen interessieren uns die 
Details bald mehr, bald weniger. Fällt mein Blick auf einen 
Kupferstich, so interessieren mich im allgemeinen nicht die 
letzten erkennbaren Einzelheiten, nicht die Linien der Schraffie- 
rung. Allein auf den Inhalt des Dargestellten kommt es mir 
an. Zwar kann ich jene Einzelheiten beachten, tue es aber in 
der Regel nicht; es ist nicht mein Durchschnittsverhalten gegen- 
über dem Bilde. Wir alle legen so wohl den verschiedenen 
Gegenständen der Aulsenwelt gegenüber ein bestimmtes Durch- 
schnittsverhalten an den Tag. Zwei unter gleichem Gesichts- 
winkel erscheinende Gegenstände können so eine sehr verschiedene 
Menge, eine sehr verschieden grolse Zahl von für die Auf- 
merksamkeit in Betracht kommenden Einzelheiten enthalten. 
Ich bin mir bewufst, heute während dieser Überlegungen zum 
ersten Male auf die Einzelheiten des gegenüberliegenden Roh- 
baues zu achten, auf die Gestalt der Ziegel, auf die Ungleich- 
heiten in ihrer und des Mörtels Färbung. Sogar einen vor dem 
Hause befindlichen Anbau bemerke ich heute zum ersten Male. 
Steht man hingegen andererseits etwa vor einem mit Photo- 
graphien gefüllten Sammelrahmen, der unter demselben Gesichts- 
winkel erscheint, wie mir jetzt der Rohbau, wie wichtig können 
dann Einzelheiten sein, die unter einem eben nicht grölseren 
Gesichtswinkel erscheinen, wie die Ziegel des gegenüberliegenden 
Hauses! Wie sehr fühlen wir uns bei der Betrachtung des 
Porträts eines uns Nahestehenden gestört, wenn sich an jenen so 
winzigen Einzelheiten eine Unkorrektheit der Zeichnung findet! 

Welches Durchschnittsverhalten wir einem Gegenstande gegen- 
über an den Tag legen, das ist mit der Natur des Gegenstandes 


112 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


gegeben, das hängt davon ab, bis zu welchem Grade seine Details 
für uns Wichtigkeit und Interesse besitzen. Insbesondere ist das 
Durchschnittsverhalten innerhalb gewisser Grenzen unabhängig 
von der Entfernung, in welcher sich der Gegenstand befindet. 
Halten wir eine Photographie zuerst in einer Entfernung von 15, 
dann in einer solchen von 10 cm, so sind es im wesentlichen 
dieselben Einzelheiten des Bildes, auf die wir unsere Aufmerk- 
samkeit richten. Diese selben Einzelheiten des Porträts, die 
Augen, die Strähnen des Haares, erscheinen aber im zweiten 
Falle unter annähernd halb so grolsen Gesichtswinkeln wie an- 
fangs. Wenn wir den Abstand zwischen uns und einem Objekte 
vergrölsern, so ist es also keineswegs so, dals die Einzelheiten 
für uns bis zu einer ein für allemal festen unteren Grenze des 
Gesichtswinkels Interesse besälsen. 

Obwohl also ein Gegenstand unter recht verschiedenen Ge- 
sichtswinkeln erscheinen kann, so ist doch die Menge der von der 
Aufmerksamkeit zu erfassenden Einzelheiten, ihre Zahl, in den 
beiden Vergleichsfällen annähernd dieselbe, wenu auch ein kleiner 
Überschuls zugunsten des nahen Objektes übrig bleibt. Dasselbe 
Verhalten schlagen wir aber nicht nur bei einer Photographie, 
sondern gegenüber den meisten Gegenständen der uns umgeben- 
den Aufsenwelt ein. Entfernen wir uns von einer mit Objekten, 
z. B. mit Bildern, bedeckten Wand, und grenzen wir auf der- 
selben einen kleinen und einen diesen einschlielsenden grölseren 
Bezirk ab, so dafs der grölsere Bezirk vom fernen Standort aus 
unter demselben Gesichtswinkel erscheint, wie der kleine vom 
nahen Standort! Von den beiden unter gleichem Gesichtswinkel 
erscheinenden Wanddistrikten bietet der ausgedehntere der Auf- 
merksamkeit eine grölsere Anzahl von zu erfassenden Eindrücken 
dar. Sollte die Anzahl der zu erfassenden Eindrücke in beiden 
Fällen dieselbe sein, so mülsten wir den grolsen Distrikt ver- 
kleinern. Er braucht aber nicht ebenso klein zu werden wie im 
Falle der Betrachtung aus gröfserer Nähe, weil sich erstens der 
Umstand geltend macht, dafs dieselben Objekte bei Betrachtung 
aus gröfserer Entfernung auf mehr zentral gelegene Netzhaut- 
stellen fallen, und weil zweitens bei Annäherung an den Gegen- 
stand doch noch einzelne neue interessierende Einzelheiten hin- 
zukommen. 

Wer nun annehmen wollte, dafs die Grölse des deutlich ge- 
sehenen Feldes von der Zahl der aufgefalsten Eindrücke ab- 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 113 


hängt, der mülste also erwarten, dafs der bei Betrachtung der 
Wand aus der Ferne deutlich gesehene Bezirk einen kleineren 
Gesichtswinkel umfalst, als dies bei Betrachtung von dem nahen 
Standort aus der Fall ist. Dies ist ja aber gerade die Behaup- 
tung des AUBERT-FOERSTERSchen Satzes. 


Allein bei eingehenderer Erwägung müssen wir diese Deutung 
mit Entschiedenheit ablehnen. 


Unanwendbar sind diese Betrachtungen zunächst beim 
Mikropsieversuch. Denn da das Netzhautbild in den Vergleichs- 
fällen im wesentlichen unverändert bleibt, so fällt hier eine für 
die Argumentation unerläflsliche Voraussetzung hinweg. Zwar 
könnte man mit einem gewissen Scheine des Rechtes darauf 
hinweisen, dals beim Mikropsieversuch der Gegenstand angeblich 
stets näher erscheint, und dafs es unserer Aufmerksamkeit 
vielleicht zur Gewohnheit geworden sei, sich gegenüber einem 
Netzhautbild von gleicher Gröfse verschieden zu verhalten, falls 
es in verschiedene Entfernungen projiziert wird. Wenn eine im 
Leben häufig vorkommende Folge sukzessiv einander ablösender 
Eindrücke (a, &%, 2, ...), entsprechend der Änderung der 
Netzhautbilder beiım Zurücktreten von einem Gegenstand, stets 
mit einer anderen Folge von Wahrnehmungen (b, ba b . . .) 
verknüpft ist — entsprechend der Wahrnehmung zunehmenden 
Abstands — so erscheint es nicht prinzipiell ausgeschlossen, dafs 
man ein bestimmtes Verhalten der Aufmerksamkeit, welches 
durch die Folge (a, &, a, .. ..) aus Zweckmälsigkeitsrücksichten 
gefordert wird, auch dann einschlägt, wenn in einem Falle 
nur (b, b, b, ... .), aber nicht (a, a, a, ... .) gegeben ist. Dafs 
selbst für diese, natürlich gänzlich aus der Luft gegriffene An- 
nahme, die unerlälsliche Voraussetzung nicht erfüllt ist, werden 
wir an späterer Stelle sehen. 


Aber es ist beim Mikropsieversuch noch eine zweite wesent- 
liche Voraussetzung für die Anwendbarkeit des gekennzeichneten 
Gedankens nicht erfüllt. 


Vor allem müssen wir uns davor hüten, im Begriff des Er- 
kennens oder des deutlichen Wahrnehmens ganz heterogene Dinge 
zusammenzufassen. Freilich brauche ich selbst zum verständnis- 


! Ähnliche Unterscheidungen macht Wirtz (Zur Theorie des Bewulstseins- 
umfangs und seiner Messung. Philos. Stud. 20, 1902, S. 487 ff.) und im An- 
Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 8 


114 Z. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


losen Lesen der kleinen Druckseite immer noch eine längere 
Zeit, wie bei dem grolsen Firmenschild. Allein fassen wir die 
Druckseite, wenn ich mich so ausdrücken darf, nicht als etwas 
zu Entzifferndes, sondern lediglich als Bild auf, so besitzen wir 
von ihr bereits nach einem kurzen Augenblick eine deutliche 
Wahrnehmung. Im ersten Moment können wir entscheiden, ob 
es sich um einen kürzeren oder längeren Papierstreifen handelt. 
Sofort sehen wir, ob er allenthalben bedruckt ist, oder ob er 
grölsere leere Stellen aufweist. Auch wenn die Druckschrift 
innerhalb eines gröfseren Teiles des Bogens infolge mangelhafter 
Ausführung erheblich unklarer erschiene, so würden wir dies im 
ersten Augenblick bemerken, vorausgesetzt, dals unsere Auf- 
merksamkeit dem bildmälsigen Eindruck des Blattes zuge- 
wandt ist. 

Allein um die Entscheidung solcher Fragen, oder vielmehr 
um unmittelbar in die Augen fallende Unterschiede von dieser 
Art handelt es sich stets bei den Mikropsieversuchen. Wir nehmen 
bei Mikropsie ein ausgedehnteres Bild wahr, und zwar mit der- 
selben Unmittelbarkeit, mit der wir ein Papierblatt von 20 cm 
Länge von einem 10 cm langen unterscheiden. Der deutlich 
gesehene Bezirk erstreckt sich weiter nach der Peripherie hin; 
dem entspricht in unserem obigen Vergleich die Wahrnehmung, 
innerhalb welcher gröfserer Bezirke die Druckschrift etwa unklar 
ist. Ohne uns über alle Einzelheiten der Wahrnehmung Rechen- 
schaft abzulegen, erkennen wir sofort und unmittelbar, ob das 
Bild in einem Falle gröfser, und ob es deutlicher ist. Versucht 
man sich von den Einzelheiten eingehender Rechenschaft abzu- 
legen, so kommt man in Gefahr, das „Aufmerksamkeitszentrum“ 
nach dem betreffenden Gegenstand zu verlegen, wodurch das 
Gelingen des Versuches, wie wir sahen, schon in Frage ge- 
stellt wird. 

Aber auch bei den Augrrtschen Versuchen ist die auf die 
„arithmetische“ Begrenztheit des Umfangs der Aufmerksamkeit 
begründete Hypothese undurchführbar. Alle diejenigen Objekte, 
auf deren Betrachtung es bei den Versuchen ankommt, werden 
ja in solchen Grölsenverhältnissen dargeboten, dals die Netzhaut- 


schlufs hieran auch Dürr (Die Lehre von der Aufmerksamkeit. 1%7. 8S. 19). 
Doch müssen wir, wie wir sehen werden, in unseren Unterscheidungen 
noch etwas weiter gehen als der letztere Autor. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 115 


bilder in den Vergleichsfällen dieselben sind. Freilich ist das 
für manche der aufserdem noch sichtbaren Teile aus praktischen 
Gründen oft nicht angängig. Um diesem Einwand vorzubeugen, 
habe ich die Beobachtung qualitativ in der Weise wiederholt, 
dafs ich die Doppelquadrate auf einer ganz gleichförmig mit 
weilsem Papier bedeckten Wand befestigte und als Fixierzeichen 
lediglich einen Punkt anbrachte. Hier sieht man dann wirklich 
nur, wenn ich so sagen darf, die „intentionalen Objekte“. Der 
Unterschied war auch hier nicht minder deutlich. 


Höchstens könnte man noch darauf hinweisen, dafs das Korn und die 
etwa sichtbaren Einzelheiten des Papieres in den Vergleichsfällen nicht, 
wie die „intentionalen“ Objekte, eine Gröfsenverschiedenheit besitzen. Die 
Beobachtung fiel auch dann im gleichen Sinne aus, wenn ich in dem der 
kleinen Anordnung entsprechenden Falle nicht so nahe an das Objekt 
heranging, dafs ich noch viel von seinen Einzelheiten erkannt hätte. 


Den Hauptgrund, welcher gegen die arithmetische Deutung 
spricht und sie völlig unmöglich macht, werden wir erst an späterer 
Stelle kennen lernen ($ 8). 

Allein noch in einem anderen Punkte müssen wir unseren 
bisherigen Erörterungen eine Erläuterung hinzufügen. 

Wir haben wiederholt hervorgehoben, dafs der Umfang des 
simultan übersehbaren Feldes offenbar auch von dessen schein- 
barer Grölse, nicht nur von der Grölse der Netzhautbilder ab- 
hängt. Dieser Schlufs ist berechtigt, aber wir haben im folgenden 
noch dafür Sorge zu tragen, dafs die Prämissen dieses Schlusses 
auch restlos hervorgehoben werden. 

Beginnen wir mit dem Mikropsieversuch. Hier glaubten 
wir ja, wenn der Versuch der Instruktion gemäls gemacht wurde, 
d. h. wenn der Beobachter eine lokale periphere Konzentration 
der Aufmerksamkeit vermied, in beiden Vergleichsfällen je ein 
simultanes Bild zu sehen, welches sich das eine Mal weiter er- 
streckte als das andere Mal, und auch in den periphereren 
Regionen noch deutlicher war. Ich sagte soeben mit Absicht 
„wir glaubten“ ein simultanes Bild zu sehen, und nicht „wir 
sahen“ ein simultanes Bild. Denn in diesem Punkte setzt die 
Bedeutung der von L. W. Sterx ! treffend hervorgehobenen Tat- 
sache ein, dafs die Zeit, welche uns als Gegenwart erscheint, 
keineswegs ein Moment im mathematischen Sinne, ein Differential 


1 Psychische Präsenzzeit, Zeitschr. f. Psychol. 18, S. 325. 
g+ 


116 ZI. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


sein muls, sondern bereits Ausdehnung besitzen kann, also durch 
ein Integral darzustellen ist. 


Es besteht also jedenfalls die Möglichkeit, dafs auch in 
solchen Fällen, in denen wir von einem Komplex von Gegen- 
ständen ein simultanes Bild zu erhalten glauben, die den einzelnen 
Teilwahrnehmungen entsprechenden psychophysischen Prozesse 
nicht streng simultan stattfinden, sondern sich bereits über einen 
gewissen, wenn auch sehr kleinen Zeitraum erstrecken. Wenn 
aber nun in den beiden Konstellationen des Mikropsieversuches 
die Gröfse des scheinbar simultan wahrgenommenen Feldes stets 
im selben Sinne erheblich verschieden ist, und wenn diese Tat- 
sache zudem unabhängig von der Wahl der Objekte ist!, so 
können wir dies unmöglich darauf zurückführen, dafs wir etwa 
in einem der Vergleichsfälle stets eine objektiv längere Zeit für 
die Gegenwart halten als in dem anderen. Es liegt nicht der 
geringste Grund vor zu der Annahme, dafs unser Kriterium, 
wonach wir eine Zeitdauer als Gegenwart ansehen, in den Ver- 
gleichsfällen ein verschiedenes sei. Unser Schlufs bleibt vielmehr 
zu Recht bestehen. Wir haben nur eine bisher nicht klar hervor- 
gehobene Prämisse ausdrücklich herausgestellt. Einen weiteren, 
unbedingt strengen Beweis werden wir an späterer Stelle kennen 
lernen. 


Es ist also erstens möglich, dafs wir ein Objekt wirklich 
simultan wahrnehmen, wenn wir es simultan wahrzunehmen 
glauben. Auch die psychophysischen Prozesse würden dann 
simultan stattfinden. Es wäre ferner denkbar, dafs unser Wahr- 
nehmungsvorgang, wenn wir etwas simultan zu sehen glauben, 
nicht in einem Schritt, sondern in mehreren, aber in einer be- 
grenzten, also endlichen Anzahl von Schritten vollzogen wird. 
Vielleicht verfahren wir innerhalb der scheinbaren Gegenwart in 
der Weise, dafs sich unsere Aufmerksamkeit an einem Punkte 
festsetzt und von dort aus dann wirklich einen gewissen Bezirk 
streng simultan übersieht. Dann würde sie in derselben Weise 
ein zweites Mal Station machen. Die dritte, aber offenbar auch 
letzte Möglichkeit besteht darin, dafs innerhalb eines Zeit- 
differentials wirklich nur ein Flächendifferential gesehen wird, 
dafs sich also die Aufmerksamkeit während der Präsenzzeit in 


! Mit der mehrfach erwähnten Ausnahme (S. 87£f.). 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 117 


einer kontinuierlichen Wanderung über die Fläche des dar- 
gebotenen Eindrucks befindet. 

Es ist für uns gleichgültig, welche der drei Möglichkeiten 
in Wirklichkeit zutrifft; da in zwei gleichen Zeiten, nämlich in 
solchen von der (natürlich unbekannten) Gröfse der Präsenzzeit 
ungleich viel übersehen wird, so ist das ein Anzeichen dafür, 
dafs, falls die Präsenzzeit noch Teile hat, auch in jeder dieser 
Teilzeiten — sagen wir in jedem Moment — ungleich viel über- 
sehen wird. 

Wie wir kaum ausdrücklich hervorzuheben brauchen, darf 
man andererseits nicht erwarten, dafs die Vp. nun wirklich immer 
nur einen Bezirk von gleicher scheinbarer Gröfse übersehen 
werde, in welcher Entfernung sich das Objekt auch befindet. 
Denn erstens sind die physiologischen Faktoren der peripheren 
Sehschärfe, die nach dem Rande zu abnehmende Empfindlichkeit 
der Netzhautelemente, für das Erkennen natürlich auch von Be- 
deutung. Ein ferneres Feld ist in dieser Hinsicht stets günstiger 
gestellt, wie ein nahes von gleicher scheinbarer Gröfse. Anderer- 
seits aber wird die normale Vp. ein gewisses, undeutliches Per- 
zeptionsvermögen wohl für alle Objekte besitzen, welche über- 
haupt noch auf lichtempfindliche Teile der Netzhaut fallen. 
Dieses geringe Perzeptionsvermögen wird oft hinreichen, um eine 
gewisse lokale Konzentration der Aufmerksamkeit nach der 
Peripherie einzuleiten, soweit dies mit der Forderung und dem 
Bewulstsein, sicher zu fixieren, verträglich ist. 


87. 


Aber hüten wir uns auch davor zuviel zu behaupten! Wenn der 
Physiker ein Gesetz eruiert zu haben glaubt, betrachtet er es im 
allgemeinen als seine nächste Aufgabe, den Gültigkeitsbereich 
dieses Gesetzes zu bestimmen. Dem entsprechend muls es unsere 
nächste Sorge sein zu ermitteln, ob das A. F. G. auf allen Stufen 
der scheinbaren Grölse gilt, ob insbesondere der scheinbar kleinere 
Gegenstand auch dann noch deutlicher wahrgenommen wird als 
ein ausgedehnterer, der dasselbe Netzhautbild liefert, wenn der 
kleinere Gegenstand im Vergleich zu der überwiegenden Mehr- 
zahl der uns umgebenden Objekte als „sehr klein“ bezeichnet 
werden muls, während dem anderen eine mittlere Grölse zu- 
kommt. 


118 I Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Eine derartige Untersuchung erfordert grolse Vorsicht. Auch 
wenn sich bei einem Experiment herausstellen sollte, dafs der 
scheinbar kleinere Gegenstand undeutlicher erscheint, so wäre 
ein solcher Versuch im allgemeinen dann nicht beweisend, wenn 
die scheinbare Verkleinerung durch Einschaltung eines dioptrischen 
Instrumentes bewirkt wird, während eine solche bei der Be- 
trachtung des gröfseren Gegenstandes nicht stattfindet. Beweis- 
kräftig wäre ein solcher Versuch nur dann, wenn die Grölsen- 
differenz entweder, wie bei dem Auvusertschen Versuche, ohne 
Instrumente irgendwelcher Art erzeugt werden könnte, oder 
wenn ein solches Instrument nicht zur Erzeugung des scheinbar 
kleineren, sondern zu der des scheinbar grölseren Objektes ver- 
wendet würde. Der erstere Weg ist darum ausgeschlossen, weil 
die genaue Herstellung sehr kleiner Objekte mit primitiven Hilfs- 
mitteln unmöglich ist; der zweite Weg verbietet sich durch die 
Tatsache, dals wir zwar eine ganze Reihe von Methoden kennen, 
um bei konstantem Netzhautbild einen scheinbar grofsen Gegen- 
stand in einen scheinbar kleineren zu verwandeln, dafs sich aber 
der umgekehrte Erfolg nur innerhalb sehr viel beschränkterer 
Grenzen und mit erheblich geringerer Sicherheit herstellen läfst, 
obwohl uns die überaus einfachen Instrumente jederzeit zu 
Gebote stehen, welche den Strahlengang im entgegengesetzten 
Sinne beeinflussen wie diejenigen, welche eine scheinbare Ver- 
kleinerung eines vorgelegten Gegenstandes bewirken.! 


Bei Gelegenheit einer ganz andersartigen Untersuchung er- 
gab sich ein Weg, durch welchen jenes Ziel in einwandfreier 
Weise erreicht wird, obwohl zum Zwecke der scheinbaren Ver- 
kleinerung ein dioptrisches Instrument eingeführt worden war. 


LaxvorLt? suchte den geringsten Exkursionswinkel zu er- 
mitteln, um welchen sich das Auge zu drehen vermag. Es leiteten 
ihn hierbei folgende Erwägungen: 


„Versucht man,“ so schreibt jener Autor, „eine Reihe nebeneinander- 
„liegender gleicher Gegenstände, z. B. die Balken eines Blockhauses, die 
„Brettchen eines Fensterladens, die Stufen einer Treppe usw. zu zählen, 
„so findet man, dafs es in gewisser Entfernung leichter wird, je einen (ja 


! Auf diese Verhältnisse hoffen wir später in anderem Zusammenhang 
zurückzukommen. 

® Beitrag zur Physiologie der Augenbewegungen. Festschrift zum 
70. Geburtstag von H. v. Heımmorzz. 1891. S. 65. 





I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 119 


„wohl zwei) derselben zu überspringen, als einen nach dem anderen ins 
„Auge zu fassen. 

„Diese Erscheinung beruht offenbar darauf, dafs dem Auge ein grölserer 
„Sprung leichter wird als ein kleinerer. In der Tat, entfernt man sich noch 
„weiter von den Versuchsobjekten, so gelangt man an einen Punkt, wo die- 
„selben unmöglich mehr einzeln, später sogar überhaupt nicht mehr gezählt 
„werden können, während sie lange vollkommen scharf gesehen werden. 
„Es schien mir nun von Interesse zu sein, den kleinsten Winkel zu be- 
„stimmen, um welchen sich ein Auge noch zu drehen vermag-- +. Wir 
„stellten uns zwei Skalen her von je 12 schwarzen Punkten und von eben 
„solchen Strichen auf weilsem Grunde; die ersteren hatten 3 mm, die letz- 
„teren 2 mm Durchmesser; der Abstand der Mittelpunkte bzw. Mittellinien f 
„voneinander betrug in beiden Fällen 13 mm. Diese Objekte wurden--- von 
„hellem Tageslicht beleuchtet, aufgestellt und die gröfste Entfernung gesucht, 
„in welcher sie gerade noch gezählt werden konnten. Aus der Division 
„der 13 mm durch die gefundene Entfernung ergab sich dann der gesuchte 
„Winkel.“ 

Es kam mir anfangs lediglich auf eine Prüfung der 
Lınportschen Theorie an. Ist es lediglich von der Grölse des 
Exkursionswinkels abhängig, ob gleichartige Gegenstände der ge- 
nannten Art gezählt werden können oder nicht, so muls eine 
Reihe von eben noch zählbaren Gegenständen stets auch dann 
noch gezählt werden können, wenn man bei konstantem Netz- 
hautbild die scheinbare Grölse der Reihe und der darin ent- 
haltenen Gegenstände herabsetzt. Kann aber die Reihe in diesem 
Falle nicht mehr gezählt werden, so folgt hieraus, vorausgesetzt, 
dafs das Resultat nicht durch Fehlerquellen vorgetäuscht wird, 
dafs zur Zählbarkeit auch eine bestimmte scheinbare Gröfse und 
nicht nur ein bestimmter Wert der Exkursionswinkel erforder- 
lich ist. 

Aber auch in dem gegenwärtigen Zusammenhange ist die 
Beantwortung dieser Frage von Interesse. 


Fiele der Versuch in dem Sinne aus, dafs das scheinbar 
kleine Objekt nicht mehr gezählt werden kann, so wäre es ja 
ungünstiger gestellt, undeutlicher als das scheinbar grölsere; un- 
deutlicher, wie wir sogleich hinzufügen müssen, freilich nur in 
einer ganz bestimmten Hinsicht; denn es ist von vornherein 
keineswegs ausgeschlossen, dafs die einzelnen Objekte hierbei, 
entsprechend der Lanpou,tschen Beobachtung, vollständig deutlich 
erscheinen. Allein dieselbe Schwierigkeit erhebt sich ja bei allen 
Untersuchungen, in die die Frage der Sehschärfe hineinspielt. 
Wenn man bei irgendwelchen Versuchen dieser Art findet, dals 


120 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


ein Objekt bei einer der Konstellationen undeutlicher ist, so kann 
man nie wissen, ob der Unterschied nur in der besonderen Natur 
des verwandten Testobjektes und der durch dasselbe bedingten 
Kriterien begründet ist, oder allgemein bei jedem Objekte er- 
wartet werden muls. Deutlichkeit ist ein zu relativer, aus der 
Praxis des gewöhnlichen Lebens übernommener Begriff, und die 
Bestrebungen derjenigen Männer, welche die Frage der Sehschärfe 
im ophthalmologischen Interesse studieren, laufen hauptsächlich 
darauf hinaus, diesen vieldeutigen Begriff durch einen eindeutigen 
zu ersetzen. Man mufs daher jederzeit die Deutlichkeit in 
verschiedener Hinsicht untersuchen. Erst am Schlusse 
der Untersuchung kann man entscheiden, ob ein so gewonnenes 
Resultat in einer allen Sehobjekten gemeinsamen Eigenschaft be- 
gründet ist, oder ob dasselbe in der speziellen Natur der durch 
die zufällig gewählten Objekte geforderten Kriterien seine Wurzel 
hat. So mulsten wir ja auch bereits bei den der Erklärung des 
A. F. G. gewidmeten Versuchen eine spezielle Klasse von Test- 
objekten, nämlich Buchstaben, ausscheiden (vgl. $ 3), weil wir 
bei Verwendung dieser Objekte in Gefahr gekommen wären, für 
ein Resultat, welches lediglich durch die hier gerade wirksamen 
Kriterien gefordert wird, eine allen Sehdingen gemeinsame Eigen- 
schaft verantwortlich zu machen. 

Wir betrachten es also als einen ersten Fortschritt, wenn in 
einem bestimmten Spezialfalle, der uns über etwaige Gültigkeits- 
grenzen des AUBERT-FOERSTERschen Gesetzes Aufschlufs zu geben 
scheint, die technischen Schwierigkeiten einer exakten Behand- 
lung nicht unüberwindliche sind. Ob dieser Fall wirklich eine 
Antwort auf unsere Frage gibt, das kann, ebenso wie in dem 
früheren analogen Falle, erst nach Anstellung der betreffenden 
Versuche entschieden werden. 

Als Objekt diente eine Reihe von 12 quadratischen Punkten 
schwarz auf weilsem Grunde gezeichnet. Jedes der 12 Quadrate, 
deren Seitenlänge 3 mm betrug, war von dem benachbarten durch 
einen Zwischenraum von 6 mm getrennt. Aulserdem stellte ich 
mir einige andere Reihen her, welche der ersten geometrisch 
ähnlich waren, und zwar teils gröfsere, teils etwas kleinere. Das 
Resultat beansprucht kein besonderes Interesse; die verschiedenen 
Reihen wurden soeben gezählt, wenn die Darbietung unter an- 
nähernd gleichem Gesichtswinkel stattfand. 

Es erhebt sich die Frage, ob in diesem Verhalten eine 


| 
\ 
H 
i 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foerstierschen Gesetzes. 121 


Änderung eintritt, wenn man zu „sehr kleinen“ Reihen über- 
geht. Die direkte Herstellung einer solchen Punktreihe durch 
Zeichnung oder durch Aufkleben ausgeschnittener Quadrate wäre 
nicht nur äulfserst schwierig, sondern im allgemeinen, falls sie 
nämlich nicht mit Hilfe besonderer Präzisionsinstrumente auf 
mechanischem Wege bewerkstelligt wird, geradezu unzulässig. 
Selbst bei sorgfältigster Herstellung werden die sehr kleinen Ob- 
jekte den grölseren niemals in allen ihren Teilen genau pro- 
portional sein. Die aufserordentlich feinen Ungleichmäfsigkeiten 
in der Begrenzung eines gezeichneten Quadrates, welche sich mit 
einer guten Reifsfeder zwar bei der Zeichnung einer längeren 
Linie, nicht aber bei der Herstellung eines nahezu punktförmigen 
Objektes, in ausreichender Weise vermeiden lassen, das Relief, 
in welchem die aufgeklebten Papierstückchen notwendig er- 
scheinen, alle diese unvermeidlichen, für den Versuchszweck 
nicht wesentlichen Teile der Zeichnung besitzen beim kleinen 
Objekt wenigstens eben solche, eher grölsere Dimensionen, als 
beim grofsen; keinesfalls sind ihre Dimensionen im selben Ver- 
hältnis verkleinert wie die Länge der Reihen und die Seiten der 
Quadrate. Da nun die kleinen Objekte nur aus verhältnismälsig 
sehr geringer Entfernung gezählt werden können, und da sich 
die Grölse der Gesichtswinkel, unter denen jene Fehler erscheinen, 
umgekehrt verhält wie die Entfernungen der Objekte vom Auge, 
so wirken diese Fehlerquellen beim kleinen Objekte störend, 
während sie bei dem grofsen und fernen nahezu völlig in Weg- 
fall kommen. Würde es sich nur darum handeln, zwei geometrisch 
ähnliche Objekte von beliebiger, aber den linearen Dimensionen 
der Objekte proportionaler Entfernung aufzustellen, so liefse sich 
die Entfernung des kleineren Objektes immer so grofs wählen, 
dafs die Fehlerquellen bereits bei ihm nicht bemerkbar sind; 
gegen die direkte Herstellung wäre dann nichts einzuwenden. 
In unserem Falle soll ja aber das Objekt, welches unter dem- 
selben Gesichtswinkel dargeboten wird, wie das gröfsere, „sehr 
klein“ erscheinen; ohne besondere optische Hilfsmittel ist das 
nur durch Aufstellung in beträchtlicher Nähe zu erreichen. Die 
Fehler waren bei den kleinsten Punktreihen, deren Herstellung 
mir gelang, so bedeutend, dafs man sie mit Recht dafür verant- 
wortlich machen könnte, falls etwa die scheinbar kleinere Punkt- 
reihe nur unter gröfserem Gesichtswinkel zählbar wäre. 


122 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


An eine Herstellung der Objekte auf photographischem Wege traute 
ich mich nicht heran. Die Erzielung unbedingt scharfer und in Helligkeit 
und Tönung wirklich gleicher Bilder ist, wie jeder Amateurphotograph 
weils, ein überaus dornenvolles Geschäft, welches nur mit den besten Hilfs- 
mitteln und bei grofseı Übung mit Aussicht auf Erfolg in Angriff genommen 
werden kann. 


Diese Übelstände vermeidet eine äufserst einfache, in unserem 
Gebiet zuerst von A. W. VoLkMmann! zur Verkleinerung von Ob- 
jekten verwandte Vorrichtung, die er, da sie dem entgegen- 
gesetzten Zwecke dient, wie das Mikroskop, als Makroskop be- 
zeichnet. Zwischen dem Objekt und dem Beobachter wird eine 
Konvexlinse aufgestellt. In den Raume zwischen Linse und 
Auge wird dann ein umgekehrtes und verkleinertes reelles Bild 
von dem Objekte entworfen. 


Das Bild scheint dem Beobachter, wie schon HELMHOLTZ bemerkt 
(Phys. Optik, 2. Aufl., S. 769), nicht vor, sondern hinter der Linse zu liegen. 


Das Objekt, bestehend aus einer Reihe von 12 Quadraten mit 
der Seitenlänge 3 mm, war wiederum mit der Lichtquelle, welche 
auf der dem Auge zugewandten Seite zur Abhaltung direkter 
Strahlen mit einem Schirm versehen war, fest verbunden. Wurde 
nun das Objekt samt der Lichtquelle in der früher (S. 60) ge- 
schilderten Weise längs einer Bank verschoben, so änderte das 
von der fest aufgestellten Linse entworfene Bild seine Gröfse. 
Aus naheliegenden Gründen zog ich es vor, die Länge des reellen 
Bildes direkt zu messen, anstatt dieselbe nach Bestimmung der 
Brennweite der Linse zu berechnen. Man bringt zu diesem 
Zwecke zwischen sich und der Linse eine verschiebbare Matt- 
scheibe an, deren matte Seite der Linse zugekehrt ist, und stellt 
sie so ein, dafs das Bild auf der Mattscheibe scharf erscheint. Die 
Länge der Punktreihe wurde durch Anhalten eines Malsstabes 
an die polierte Scheibe der Mattscheibe gemessen. Da der Mals- 
stab dem auf der matten Seite entworfenen reellen Bild nicht 
unmittelbar anliegt, sondern von demselben durch eine, wenn 
auch dünne Glasschicht getrennt ist, so mufs man zur Ver- 
meidung von Parallaxe bei der Messung senkrecht auf die Matt- 
scheibe blicken. 


Da die Messung des reellen Bildes in Anbetracht seiner Kleinheit 
eine sehr rohe war, so wurde innerhalb des zweifelhaften Intervalls der- 


! Physiol. Unters. im Gebiete der Optik. 1863. 8. 5ff. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-F'oersterschen Gesetzes. 123 


jenige Wert notiert, von dem soeben mit Sicherheit behauptet werden 
konnte, dafs er nicht zu grofs war. 


Bei den ersten Messungen hielt ich den durch Kinnstütze fixierten 
Kopf konstant in solcher Höhe, dafs ich bei geradeaus gerichteter Blick- 
linie die Mitte der Punktreihe mit dem Netzhautzentrum sah. Galt es nun, 
das obere Ende der Punktreihe auf den Mafsstab zu projizieren, so blickte 
ich, ohne den Kopf zu bewegen, nach oben; zum Zwecke der Projektion 
des unteren Endes wurde ebenso nach unten geblickt. Die für die Länge 
der Punktreihe gefundene Zahl war also etwas zu klein, auf keinen Fall 
zu grofs. Wird der so ermittelte Wert der Berechnung des Gesichtswinkels 
zugrunde gelegt, und tritt der Fall ein, dafs man für den Gesichtswinkel, 
unter dem das kleine Objekt eben gerade gezählt wurde, einen gröfseren 
Wert als im Vergleichsfalle erhält, so ist der Unterschied der beiden 
wahren Werte eher noch gröfser, keinesfalls kleiner als der der berechneten. 

Auch die Verzeichnung, welche bei der Entwerfung eines reellen Bildes 
ganz allgemein auftritt, darf nicht unberücksichtigt bleiben. Wären z. B. 
die Abstände der Quadrate nicht konstant, sondern würden sie infolge der 
Verzeichnung um so kleiner, je weiter die betreffenden Quadrate vom Zen- 
trum entfernt sind, so erhielten wir für den Winkel, unter dem die Punkte 
eben gerade gezählt werden, einen der Wirklichkeit nicht entsprechenden, 
einen zu grolsen Wert. 

Bei der grofsen fernen Punktreihe, die ohne Makroskop durchgezählt 
wird, sind die Abstände aller Quadrate einander gleich. Wenn nun die 
kleine Punktreihe, um zählbar zu sein, unter einem gröfseren Gesichts- 
winkel dargeboten werden muls, so könnten trotzdem die einzelnen 
Exkursionswinkel ebenso grofs, selbst kleiner sein, als bei der grofsen 
Punktreihe, wenn nämlich die Abstände zwischen je zwei Punkten der 
kleinen Reihe nicht von konstanter Gröfse sind. Um zu entscheiden, ob 
das Resultat nur durch diese Fehlerquelle vorgetäuscht wird, hat man den 
Maximalbetrag, welchen sie annehmen kann, also die Differenz zwischen 
dem gröfsten und dem kleinsten aller einzelnen Abstände, zu bestimmen. 

Nun sind diese Abstände im reellen Bild selbst zu klein, um bequem 
und sicher mef[sbar zu sein. Das reelle Bild mufs also vergröfsert werden. 
Die hierbei wiederum auftretende Verzeichnung mu/s im selben Sinne 
wirken, wie die ursprüngliche; diejenigen Abstände, welche in dem ur- 
sprünglichen reellen Bild unter allen die kleinsten waren, müssen jetzt 
wiederum am schwächsten vergröfsert werden. Findet man dann, dafs die 
Differenz zwischen dem gröfsten und dem kleinsten Abstand in dem ver- 
gröfserten Bilde sicher kleiner ist, als eine bestimmte Zahl, ausgedrückt 
etwa in Prozenten des gröfsten Abstandes, so repräsentiert jene Zahl sicher 
gleichzeitig einen Maximalwert jener selben Differenz in dem ursprünglichen 
reellen Bilde; denn jene Differenz, ausgedrückt in Prozenten des gröfsten 
Abstandes, wurde ja durch den neu hinzutretenden Abbildungsvorgang 
noch vergrölsert. 

Die erforderliche Vergröfserung stellte ich mir dadurch her, dafs ich 
von dem reellen Bild mittels einer photographischen Kamera ein vergröfsertes 
reelles Bild entwarf. Da sich, vom Objektiv der Kamera aus gemessen, 


124 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


die Bildweite zur Gegenstandsweite verhält wie die Bildgröfse zur Gegen- 
standsgröl[se, so muls, wenn ein vergröfsertes Bild entstehen soll, der Ab- 
stand des Objektivs vom Gegenstand, hier also von dem reellen Bilde, 
relativ klein, die Auszugslänge der Kamera relativ grofs sein. Eine solche 
Vergröfserungskamera konnte ich mit Hilfe des kleinen, mir zur Verfügung 
stehenden Apparates mit leichter Mühe improvisieren, indem ich von einer 
dem Institut gehörigen, zur Erzeugung reiner Schwarzempfindung dienenden 
Dunkeltonne den Deckel abnahm, die Röhre an den Balg der Kamera an- 
setzte und beide lichtdicht verband. 

Zuvor jedoch mulste geprüft werden, ob das Objektiv im gleichen 
Sinne verzeichnete wie das Makroskop. Bei Projektionssystemen, welche 
aus kugeligen Flächen zusammengesetzt sind, besteht die Verzeichnung 
darin, dafs die Vergröfserung nach dem Rande entweder zu- oder abnimmt. 
Wie anschaulich unmittelbar klar ist (vgl. auch Czarskı, Theorie der optischen 
Instrumente. Wınkermanns Handb.), nimmt im erstgenannten Falle die Fig. a 


EB H B 


Fig. 7. 


eine der Fig. b ähnliche Form an, während sie im zweiten Falle eine Ab- 
änderung im Sinne der Fig. c erfährt. Die erste Art der Verzeichnung 
pflegt man in der optischen Industrie als „kissenförmig“, die zweite als 
„tonnenförmig“ zu bezeichnen. An dem ursprünglichen, vom Makroskop 
gelieferten Bilde konnte ich wenigstens wegen der Kleinheit der von den 
Punkten begrenzten Distanzen die Richtung der Verzeichnung nicht mit 
Sicherheit erkennen; wurde hingegen ein Quadrat von erheblicherer Gröfse 
mittels des Makroskops betrachtet, so war die tonnenförmige Verzeichnung 
unverkennbar. Aber auch die Verzeichnung durch das Objektiv der Kamera 
erwies sich bei der gleichen Prüfung als tonnenförmig. Beide Instrumente 
verzeichneten also in gleichsinniger Weise. Makroskop und Objektiv waren 
möglichst genau zu zentrieren. Das von dem Objektiv gelieferte vergrölserte 
Bild wurde nun auf eine photographische Platte geworfen. Die (beiderseits 
offene) Dunkeltonne besitzt an dem einen Ende eine zur Röhre senkrecht 
stehende, mit schwarzem Samt ausgekleidete Wand. An dieser Wand 
konnte nun — das Objektiv befand sich an dem anderen Ende der Röhre — 
eine Kassette ohne Mühe lichtdicht befestigt werden. 


Schliefslich mufste geprüft werden, ob das von dem Makroskop er- 
zeugte Bild etwa wesentlich lichtschwächer war als das ursprüngliche Objekt. 
An die Stelle des Objektes wurde ein Farbenkreisel gebracht, dessen Scheibe 
hellgrau, beinahe weifs erschien. Von ihm entwarf das Makroskop ein 
reelles Bild. Über dem Farbenkreisel befand sich ein zweiter, der eine 
Scheibe von derselben Helligkeit bot. Die Lichtquelle, dieselbe wie bei den 
anzustellenden Versuchen, befand sich seitlich von den beiden Scheiben 
in der Mitte zwischen beiden, so dafs beide gleich stark beleuchtet waren. 
Betrachtete ich, hinter dem Makroskop stehend, die beiden Scheiben durch 


1. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 125 


zwei in einen schwarzen Karton eingeschnittene und gleich grofse kreis- 
förmige Öffnungen, so erschien bei einer bestimmten Stellung des Kartons 
bald das eine, bald das andere der nahe beieinander liegenden Felder etwas 
heller. Hieran änderte sich nichts, wenn ich durch eine geringe Ver- 
schiebung des Kartons, bzw. auch durch Benutzung eines Kartons mit 
anderem Abstand der Löcher, verschiedene Bezirke des reellen Bildes mit 
verschiedenen Bezirken des ohne Makroskop gesehenen Feldes verglich. 
Die geringe Abschwächung der Helligkeit, welche durch Absorption seitens 
der Linse auf jeden Fall eintrat, war wegen der Geringfügigkeit der absor- 
bierten Lichtmenge im Vergleich zu der beträchtlichen Helligkeit unmerk- 
lich. Ein etwa hervortretender Unterschied in der Sehschärfe ist also nicht 
auf einen Unterschied der Helligkeiten zurückzuführen. 


Der Kopf war fixiert; bei mir selbst durch einen Schellack- 
gaumen, bei den beiden anderen Beobachtern durch eine Kinn- 
stütze. Die Gröfse des reellen Bildes wurde von der Vp. selbst 
geändert, indem sie den Abstand des Objektes von der Linse in 
der früher geschilderten Weise (S. 60) durch Ziehen an einer 
Schnur änderte. Bei jedem Versuch durfte das Objekt immer 
nur in einem Sinne verschoben werden. Nach Beendigung 
einer Runde wurde das Objekt in diejenige Stellung gebracht, 
welche dem Mittelwert aus den Einstellungen entsprach. Bei 
dieser Stellung des Objektes bestimmte ich die Länge des reellen 
Bildes und seine Entfernung von dem Scheitel der Linse, d. h. 
die Distanz zwischen diesem und dem Belag der Mattscheibe. 
Durch Subtraktion dieses Wertes von der bei jeder Runde ge- 
messenen Entfernung zwischen Auge und Linse ergab sich die 
Entfernung des reellen Bildes vom Auge. Der Malsstab wurde 
bei der letzteren Messung mit seinem Nullpunkt so an das Auge 
angelegt, dafs derselbe dem Beobachter, dessen Blicklinie in der 
Ebene der Iris der Vp. liegt, mit dem Rande der Iris zu- 
sammenzufallen schien. 


Beim Zählen der grofsen Punkte näherte sich die Vp. 
einfach dem Objekt, bzw. entfernte sich von demselben. Die 
Zählung erfolgte nach dem Takte eines Metronoms in einem 
der Vp. bequemen Tempo, welches vorher ausprobiert, dann 
aber festgesetzt worden war. Aus denselben Gründen, aus denen 
man bei Gedächtnisversuchen ein zweimaliges Aufsagen der Reihe 
gefordert hat, galt die gewünschte Stellung erst dann als erreicht, 
wenn die Reihe unter Einhaltung des vorgeschriebenen Tempos 
zweimal durchgezählt werden konnte, bzw. wenn dieses eben 
gerade nicht mehr möglich war. Die Zeitlage der beiden Kon- 


126 J. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


stellationen wurde von Runde zu Runde gewechselt. Wir geben 
jetzt die Resultate: d ist die Entfernung des Auges von dem 
durchgezählten Objekt, der Punktreihe, bzw. dem reellen Bilde 


derselben; l die halbe Länge dieses Objektes. Da das durch- 


gezählte Objekt so angebracht war, dafs sich seine Mitte möglichst 


enau in Augenhöhe befand, so ist tg 2 = A wenn p den Winkel 
g g J əd P 


bezeichnet, unter welchem die Punktdistanz gerade durchgezählt 


werden kann. Hieraus ergibt sich 2. 


Die Werte der kleinen Konstellation sind durch den Index 
„1“, diejenigen der grolsen durch den Index „2“ gekennzeichnet. 
Längeneinheit: mm. 


Vp. H. cand. math. Kroo. 


1. Versuchstag: Ad d = 146 Fi — gy 3“ 
Ba nt z 2 
G € Fe i Qu 
za dą = 3940 a~ 44' 30 
2 ” hen Zehn Jp a Al ARN 
y = 36 d = 144 3 — 85‘ 56 
l 
ZH dei Bary 
3. n = 5 Fi — i Qa 
z 7 86 di = 149 2 = 833 
lb a OF fı Lo i “ 
z 75l d, = 3550 g aman 23 
4. n L = >m FIR a 
p 7 82 d = 144 u 40 
BG, s F2 __ 49i gu 
z= ől dą = 4160 z T49 
5. 5 ipai a ER I _ ngi ggu 
2 = 3 d = 154 2 = %6' 23 
ae = 6) N u aru 
gF 5,1 ds = 4320 z 7o 35 
6. n b Pi z Fi _rgunu 
z7 38 d = 154 Ds 187 
h _ _., kai FH i 4A” 
za d, = 420 ze 45 


J. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 127 


Vp. JAENSCH. 


1. Versuchstag: Ih _ sg da = 142 7i — 91’ 58” 
aen H F 
ke5 de = 3530 T = 49 40“ 

2. > hes a= 142 Dome 
Losi d =3810 Door 
27o’, 2 

3 n Di ua TI 4 u 
+=35 da= 12 Bes 
Bed d =380 Mass 

4. n WLO Ti i 4 u 
ge h= u2 = 
Bel d = 3880 = so 

pana pi = Be uoaa 
gu Am Semi 
Date ” Fa 1 Qu 
Zell da=30 Bei? 

6. » A = 9 Pr, i u 
7-3 d4=-1e2 B=D 
ee: ee N 4‘ “u 
2-51 4=-Ww B =46 52 


Auf die Verzeichnung kann der Unterschied nicht zurück- 
geführt werden. Der Mittelwert von ! aus den Werten von K. 
und J. zusammen beträgt 7,0. Auf der vergrölserten Photo- 
graphie besals die Punktstrecke eine Länge von 29,8 mm; hier- 
bei war der grölste Unterschied des Abstandes zweier Nachbar- 
punkte sicher kleiner als !/;, mm; da hier die Distanz zweier 
Punkte durchschnittlich die Gröfse 1,5 besitzt, also sicher kleiner 
als 22°,; dasselbe gilt von dem möglichen Fehler bei 5 Da 
die Winkel sehr klein sind und sich daher annähernd wie ihre 


Tangenten, d. h. — bei konstantem d — wie die Werte 2 ver- 


halten, so ist der bei der Bestimmung von 2 gemachte Fehler 


sehr viel kleiner als 22°%,, während in Wirklichkeit der Winkel 


128 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


bei der kleinen Konstellation nahezu doppelt so grols ist wie 
bei der grolsen, die beiden Winkel sich also um fast 100%, 
unterscheiden. 

Man könnte noch einwenden, dafs vielleicht die Augen- 
bewegungen im Falle der kleinen nahen Konstellation im Ver- 
gleich zu dem Falle der grofsen fernen Konstellation erschwert 
seien. Man könnte versuchen, diese Fehlerquelle dadurch aus- 
zuschalten, dafs man diejenige Linse unmittelbar vor das Auge 
setzt, welche bewirkt, dafs der Akkommodationszustand und damit 
der mit ihm assoziierte Konvergenzgrad derselbe ist wie bei der 
grofsen fernen Konstellation. Ein solches Verfahren würde 
jedoch physikalische Verwicklungen herbeiführen, da nun infolge 
der Blickbewegungen die Randteile der Linse mit ihrer prisma- 
tischen Wirkung zur Geltung kommen. Man kann die Fehler- 
quelle aber auch durch Heranziehung des mehrfach erwähnten 
Satzes beseitigen, wonach beim Blick in die Nähe die Senkung, 
beim Blick in die Ferne die Hebung der Augenachse begünstigt 
ist. Ich traf also die Anordnung nun so, dals sich genau in der 
Höhe des Auges nicht die Mitte der Punktdistanz befand, sondern 
deren oberster Punkt. Bezüglich der Augenbewegungen befindet 
sich hier die kleine Konstellation gegenüber der grolsen im Vor- 
teil. An zwei Versuchstagen erhielt ich hierbei im Mittel: 


gı = 156' 42% fa = 80' 24° 
yı = 159 10“ ga = 79' 21“ 


Ein in derselben Weise wie oben bestimmter Maximalbetrag des physi- 
kalischen Fehlers ergab wieder den Wert 22°. 


Dafs die von K. und J. gelieferten Werte so merkwürdig 
genau übereinstimmen, ist nur Zufall. Wie grofse individuelle 
Differenzen hier stattfinden, ergibt sich aus den Einstellungen 
von Herrn Prof. MÜLLER: 

Yı ER i gyu Ta ae “ 
ag 54‘ 37 3 7 51’ 34 
Bei Herrn Prof. MüLurR hat also der Unterschied der schein- 


baren Grölse auf die Zählbarkeit keinen, oder nur verschwindend 
geringen Einfluls. 


Gleichzeitig wird hierdurch nochmals bestätigt, dafs die An- 
ordnung physikalisch einwandfrei war. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 129 


Von Beobachtungen ist noch zu erwähnen, dals es Herr Prof. 
MÜLLER beim Zählen natürlicher findet, den Blick nacheinander 
auf die in der Mitte zwischen je zwei Punkten gelegenen Stellen 
zu heften, als auf diese Punkte selbst, und zwar richtet er den 
Blick zunächst auf die Mitte zwischen dem ersten und zweiten, 
dann auf diejenige zwischen dem dritten und vierten Punkt usw. 
Dieses Verhalten entspringt wohl der mit seinem unter 
gewissen Verhältnissen hervortretenden Strabismus zusammen- 
hängenden Tendenz, Blickbewegungen soviel als möglich zu 
meiden. — Dafs die Blickbewegungen beim Durchzählen eine 
erhebliche Rolle spielen, hob Herr Prof. MüLLER auf Grund von 
Selbstbeobachtung hervor. 

Zu bemerken ist noch, dafs mir die Punkte der kleinen 
Konstellation, selbst als sie noch nicht gezählt werden konnten, 
keineswegs unscharf erschienen; sie hoben sich eher schärfer 
vom Grunde ab und erschienen eher schwärzer als diejenigen 
der grofsen Konstellation in der Entfernung, in der sie eben 
durchgezählt werden konnten. 

Das allgemeine Endergebnis der in vorstehendem geschilderten 
Versuche besteht darin, dafs es für die Frage, ob eine unter þe- 
stimmtem kleinem Gesichtswinkel dargebotene Punktreihe durch- 
gezählt werden kann oder nicht, nicht bei allen Individuen gleich- 
gültig ist, welche scheinbare Gröfse die Punktreihe bei dem be- 
treffenden Gesichtswinkel besitzt. Bei einigen Individuen, freilich 
nicht bei allen, kommt der Fall vor, dafs von zwei unter gleichem 
Gesichtswinkel dargebotenen Punktreihen die scheinbar gröfsere 
durchgezählt werden kann, die scheinbar kleinere dagegen nicht. 


88! 
a) Es sei gestattet, zum Schlufs über einige eigene und 
fremde Beobachtungen zu berichten, die, obwohl scheinbar einem 
ganz anderen Gebiet angehörend, bei der Behandlung des A. F.G. 


ı Da Herr Prof. MüLter in gütigem Entgegenkommen das Herısssche 
Haploskop angeschafft hat, ist es mir inzwischen möglich geworden, die 
hier zu schildernde Analyse noch genauer und eingehender durchzuführen. 
Dabei hat sich herausgestellt, dafs die hier gegebene Analyse zwar keines- 
wegs einer Korrektur, wohl aber einer wichtigen Ergänzung bedarf. In der 
vorliegenden Untersuchung besteht kein Anlafs, auf diese Ergänzung ein- 
zugehen; dagegen werde ich in einem anderen Zusammenhange genötigt 
sein, darüber zu berichten. 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 9 


130 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


nicht übergangen werden können, vielmehr erst den Weg zu 
einem tieferen Verständnis desselben eröffnen dürften. 

Verf. hat sich früher längere Zeit hindurch vergeblich mit 
der Frage beschäftigt, ob die scheinbare Grölsenänderung, die 
eine Fläche und damit jedes einzelne ihrer Elemente, beim 
Mikropsieversuch erfährt, irgend einen Einfluls auf die Farbe 
besitzt, sei es in Hinsicht auf Helligkeit, Sättigung oder Farben- 
ton. Als Beobachtungsobjekt dienten teils graue und farbige 
Flächen von solcher Gröfse, dals sich auf der Netzhaut gar nichts 
anderes abbilden konnte, teils Scheiben von der Grölse, in der 
sie bei Untersuchungen über Farbenempfindungen in der Regel 
zur Verwendung kommen. Auch das von den letzteren Objekten 
herrührende Netzhautbild füllte, da der Beobachter den Kreisel 
vor sich auf dem Tische stehen hatte, einen grolsen Bezirk der 
Netzhaut aus. — Das Resultat dieser Bemühungen schien zunächst 
kein besonderes Interesse zu beanspruchen. In Sättigung und 
Farbenton konnte trotz sehr zahlreicher Beobachtungen an ganz 
verschiedenen Farbflächen, trotz mannigfachster Variation des 
Beobachtungsobjektes, von mir und noch einigen anderen zuge- 
zogenen Beobachtern eine Änderung mit Sicherheit und Be- 
stimmtheit niemals wahrgenommen werden. Die sehr gering- 
fügige und keineswegs immer auftretende Verdunkelung ge- 
stattet keine Schlüsse, weil sich beim Mikropsieversuch die Pupille 
verengert.! 

Eine auffallende Erscheinung ergab sich aber, als ich zu- 
fällig einmal kleine graue Felder auf gleichmälsigem Grund von 
anderer Helligkeit auiklebte. War das kleine aufgeklebte Feld 
dunkler als der Grund, so erscheint es bei Mikropsie noch dunkler 
als zuvor; umgekehrt schien eine Aufhellung des kleinen Feldes 
aufzutreten, wenn es heller war als der Grund. Die Erscheinung 
war weniger deutlich, wenn die Helligkeitsdifferenz zwischen dem 
aufgeklebten Felde und dem Grunde entweder sehr klein oder 
sehr grols war.? 

1 Der geringe, meist nicht mit völliger Sicherheit konstatierbare Grad 
der Verdunklung, sowie die nicht sehr grofse Häufigkeit ihres Vorkommens 
überhaupt, überraschte mich, da ein daneben stehender Beobachter die Be- 
wegung der Pupille fast stets ganz deutlich wahrnehmen konnte. Mit der 
Eliminierung etwaiger Fehlerquellen und dem Erklärungsversuch können 
wir uns hier nicht befassen. 


2? Recht deutlich war die Erscheinung, wenn der Grund, bzw. das auf- 
geklebte Feld, die Farbe besals, welche am Farbenkreisel durch 182° 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes, 131 


Wenn ich jedoch meine Aufmerksamkeit entweder nur dem 
Feld oder nur dem Grund zuwandte, und auf die benachbarte 
andere Farbe nicht zu achten suchte, so trat bei dem jeweilig 
beachteten Grau eine deutliche Helligkeitsänderung ebensowenig 
ein, wie dann, wenn ich ausgedehnte graue Flächen von der 
betreffenden Helligkeit einmal mit unbewaffnetem Auge und ein- 
mal unter den Bedingungen des Mikropsieversuchs betrachtete. 

Die Wirkung blieb auch dann aus, wenn ich meine Auf- 
merksamkeit auf den Rand des Feldes, in welchem die ver- 
schieden hellen Flächen aneinander stiefsen, heftete und mir an 
dieser Stelle die Gröfse des Helligkeitsunterschiedes in den beiden 
Vergleichskonstellationen einzuprägen suchte. Es war vielmehr 
eines der wichtigsten Erfordernisse für ein deutliches Zustande- 
kommen der Erscheinung, dafs ich Blick und Aufmerksamkeit 
nirgends festheftete, sondern über das Feld hinwegschweifen 
liefs, und immer nur auf die Grölse des Helligkeitsunter- 
schiedes der beiden Flächen, nicht auf deren absoluten Betrag 
achtete. Ich erteilte darum auch den zugezogenen Beobachtern 
die Instruktion ausdrücklich in diesem Sinne. 

Ferner nahm die Deutlichkeit der Erscheinung sehr erheb- 
lich ab, wenn das aufgeklebte Feld einen mannigfache Details 
aufweisenden, „interessanten“ Rand besals; auf diesen Umstand 
wurde ich aufmerksam, als ich die Papierstücke, anstatt sie sauber 
auszuschneiden und sorgfältig aufzukleben, nur abrils und ein- 
fach auf den Grund hinlegte. Ebenso wirkt es, wenn das kleine 
Feld dem Grund nicht unmittelbar aufliegt, sondern sich in 
einiger Höhe über demselben befindet. 


Die Erscheinung kann auch nicht auf die geringfügige objektive Ver- 
kleinerung bei Mikropsie und die dadurch hervorgerufene Verstärkung des 
Kontrastes zurückgeführt werden. In der Entfernung vom Auge, in welcher 
sich bei jenen Versuchen das Beobachtungsobjekt befand, wurde auf weilsem 
Untergrunde ein schmaler, schwarzer 8 cm langer Streifen aufgeklebt. 
Brachte ich nun vor das rechte Auge ein Glas von der Stärke — 3,5 D, 
hielt aber das linke Auge gleichfalls offen, so brachte ich es nach einiger 
Übung dahin, dafs ich den Streifen in nebeneinderliegenden, ungleich 
scharfen Doppelbildern sah. In praxi war die Vergleichung dann leichter 


Weifs und 178° Tuchschwarz bzw. durch 95° Weils und 265° Tuchschwarz 
hergestellt werden kann. Auch die Gröfse des aufgeklebten Feldes war nicht 
ganz gleichgültig. Besonders günstige Bedingungen schien ein Quadrat von 


der Seitenlänge 2—3 cm zu bieten. 
gr 


132 I. Abschnitt, Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


durchführbar, wenn neben dem ersten Streifen noch ein zweiter gleich- 
artiger angebracht wurde, an welchen das eine der von dem ersten Streifen 
herrührenden Doppelbilder zum Zwecke des Vergleiches herangebracht 
werden konnte. Die Streifen lagen zur Meridianebene des Beobachters sym- 
metrisch. Man konnte nun entweder mit dem rechten bewaffneten Auge 
auf den rechts gelegenen, oder mit dem linken, unbewaffneten Auge auf 
den links gelegenen Streifen akkommodieren. Auch wenn wir mit dem 
rechten Auge scharf sahen, war für mich und Herrn Dr. phil. Wırker die 
Gröfsendifferenz zwischen dem scharfen Doppelbild des rechten und dem 
unscharfen des linken Streifens sicher kleiner als 4 mm; zuweilen wurde 
eine Grölsendifferenz überhaupt nicht bemerkt. Da hier das prinzipiell 
vergröfserte, und nicht das prinzipiell verkleinerte Bild in Zerstreuungs- 
kreisen erscheint, so könnte die Differenz infolge der Zerstreuungskreise 
höchstens zu grols, nicht aber zu klein erscheinen. 

Besafs nun, wenn ich mit bewaffnetem Auge beobachtete, das aufge- 
klebte Quadrat die Seitenlänge 20 mm, und ersetzte ich bei der Beobachtung 
mittels Mikropsie das Beobachtungsobjekt durch ein gleichartiges, bei 
welchem nur die Seitenläinge um 1 mm gröfser war, so fand ich die Er- 
scheinung nicht merkbar schwächer als dann, wenn ich in beiden Vergleichs- 
konstellationen dasselbe Beobachtungsobjekt benutzt hatte. 


Diese Beobachtungen sind sehr alt; sie gehen bis auf 
Doxpers zurück. Da jene Beobachtungen aber noch keine 
systematische Behandlung fanden, und da bisher noch kein 
Autor zu einer ihn selbst durchweg befriedigenden Deutung ge- 
langte, so sind die bereits vorliegenden Mitteilungen in Ab- 
handlungen verstreut, deren Hauptgegenstand in ganz anderen 
Dingen besteht. So wurde ich denn auf diese älteren Angaben 
erst sehr viel später, bei der Vorbereitung für andere Unter- 
suchungen, aufmerksam, und ich konnte darum nicht wissen, 
dafs es Koster bereits gelungen ist, die Fehlerquellen in viel 
eleganterer und einfacherer Weise auszuschliefsen, als mir dies, 
zum Teil auch wegen der primitiven Beschaffenheit meiner da- 
maligen Hilfsmittel, gelungen war.! Er hat auch, wie wir sehen 
werden, den Einwand bereits beseitigt, dafs die Veränderung der 
Pupille beim Sehen durch das Konkavglas möglicherweise für 
die Erscheinung verantwortlich sei. 


Ich meinerseits suchte mir bei den genaueren, sogleich zu schildernden 
Beobachtungen in folgender Weise zu helfen. Wenn die Verengung der 
Pupille einen Einflufs hat, so kann sie ihn nur dem Umstand verdanken, 


! Da das Institut jetzt ein Haploskop besitzt, hoffe ich auf diese Er- 
scheinungen, welche durch die Beobachtungen Kosters noch nicht in all- 
seitiger Weise erledigt sind, späterhin zurückzukommen. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 133 


dafs diese Verengung eine Herabsetzung der Helligkeit bewirkt. Ich be- 
leuchtete die Versuchsanordnung bei derjenigen Konstellation, bei welcher 
die Beobachtung mit unbewaffnetem Auge vorgenommen wurde, schwächer, 
und zwar so viel schwächer, dafs sowohl mir, wie dem anderen Beobachter, 
Herrn Wiker, der Grund sehr viel dunkler erschien, als bei dem anderen 
Beleuchtungsgrad, bei welchem durch die Linse beobachtet wurde. (Auch 
bei diesem Kontrollversuch war das Auge in dem letzteren Falle mit der 
Linse bewaffnet.) 

Prägten wir uns dann in den beiden Fällen die Helligkeitsdifferenz 
ein, indem wir in der oben geschilderten Weise beobachteten, so erschien 
die Helligkeitsdifferenz zwischen Quadrat und Grund im Falle der Mikropsie 
wiederum erheblich deutlicher und gröfser als bei Beobachtung mit 
unbewaffnetem ! Auge, obwohl bei diesem Modus im letzteren Falle die 
absolute Helligkeit geringer war. Dasselbe ergab sich, als weiterhin die 
Beobachtung mit unbewaffnetem Auge auch bei solchen Helligkeiten erfolgte, 
die zwischen der soeben gewählten und derjenigen, welche im Fall der 
Mikropsiebeobachtungen herrschte, dazwischen lag. Die Helligkeitsänderung 
erfolgte teils durch ein sehr rasches Abrücken der Lampe zwischen den 
Versuchen, teils durch Herabdrehen derselben (bei der gröfsten Helligkeits- 
änderung). 

Ich habe dann auch während einiger Zeit mit Herrn WILkEr quanti- 
tative Versuche angestellt. Eine Hauptschwierigkeit derselben war, wie 
wir sahen, dafs das kleine Feld keinen für sich „interessanten“ Rand zeigen 
durfte, und dem Grunde aufliegen mulste. Dieser Forderung konnte ich 
dadurch gerecht werden, dafs ich den Grund auf einen Holzrahmen auf- 
spannte und an der Stelle, an welcher das kleine Feld erscheinen sollte, 
in dem Papier einen quadratförmigen Ausschnitt anbrachte. Stellte ich 
nun hinter dieser papierenen Wand den Marseschen Apparat auf, und zwar 
so nahe, dafs seine Scheibe auf der Rückseite des Papieres, welches den 
Grund bildete, schleifte, so war der Eindruck von vorn derselbe, als ob das 
kleine andersfarbige (und nun in seiner Helligkeit variierbare) Feld mit 
seinen Rändern unmittelbar auf der Rückseite des Grundes angeklebt ge- 
wesen wäre. 

Der V]l. variierte, indem auf gleichmäfsige Geschwindigkeit der Be- 
wegung geachtet wurde, abwechselnd in einer der beiden Konstellationen 
in auf- und absteigendem Verfahren die Helligkeit des mit Hilfe des 
Marpeschen Apparates dargebotenen kleinen Feldes und wies die Vp. an, 
durch ein verabredetes Signal die Bewegung seitens des Vl. zu sistieren, 
wenn die Differenz der Helligkeiten, welche der anderen Helligkeitsdifferenz 
gleich erschien, eben erreicht war. Ich unterlasse den Bericht über die 
quantitativen Ergebnisse der Einstellung. Sie lehrten gegenüber den un- 
mittelbaren Beobachtungen nichts Neues, sind aber auch aus einem anderen 
Grunde, wie sich bald herausstellte, von geringem Wert. 


! Das Auge war, um die Absorption durch das Konkavglas unschädlich 
zu machen, mit einem Planglas vom selben Material (aus der gleichen Kol- 
lektion) bewaffnet, welches sich bei Messung mit der Mikrometerschraube 
stärker erwies als die Linse an der Stelle ihres Zentrums. 


134 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Herr Wiırker hatte, gleich den anderen unbefangenen Beobachtern, 
bei den qualitativen Beobachtungen nicht ein Urteil über die „Helligkeits- 
differenz“ abgegeben, sondern einfach konstatiert, dafs das kleine Quadrat 
bei Mikropsie heller bzw. dunkler erschien. Auf die Frage nach der Be- 
schaffenheit des Grundes lautete die Antwort fast stets, dafs derselbe eine 
mit irgendwelcher Deutlichkeit konstatierbare Änderung nicht erfahren 
habe. Nachdem aber einige Runden solcher quantitativer Versuche gemacht 
waren, fühlte sich Vp. aufserordentlich unbefriedigt. Er müsse zwar seine 
Äufserung durchaus aufrecht erhalten, dafs es im wesentlichen nur das 
kleine Feld sei, welches eine Änderung erleide. Wenn aber nun mit Hilfe 
des Marzeschen Apparates die Helligkeit desselben objektiv geändert würde, 
so würde hierdurch doch niemals erreicht, dafs der Eindruck in beiden 
Konstellationen der gleiche wäre. Eine Angabe, worin dann der Unter- 
schied noch bestehe, war nicht möglich. Der Wert quantitativer Versuche 
erschien aber hierdurch illusorisch. 


Ich habe ferner auch derartige kleine Felder auf gleich- 
förmigem Grund in verschiedener Entfernung vom Auge auf- 
gestellt, wobei sich die linearen Dimensionen des Grundes und 
diejenigen des aufgeklebten Feldes den Entfernungen proportional 
waren. Einen irgendwie ebenso ausgeprägten Unterschied in 
der Helligkeitsdifferenz in den Vergleichskonstellationen konnte 
ich hier — es handelt sich um Beobachtungen im direkten 
Sehen — niemals konstatieren. 


Von Herrn WesrtpHau liefs ich einige Einstellungen machen, die sich 
aus Zeitmangel nicht zu einer abgeschlossenen Versuchsreihe auswachsen 
konnten. Benutzt wurde dieselbe Versuchsanordnung, welche uns zur Prü- 
fung der Erkennbarkeit von verschieden entfernten Buchstaben im direkten 
Sehen gedient hatte. Auf der verschiebbaren Tafel, an welcher sich die 
Buchstaben befunden hatten, wurde nun ein kleines Doppelquadrat ange- 
bracht, schwarz auf weilsem Grunde gezeichnet. Beobachtet wurde teils 
mit, teils ohne Mikropsie. Die Linse (— 3 D) wurde hierbei wieder ganz 
dicht an das Auge herangebracht. Die Instruktion verlangte jetzt von der 
Vp. eine solche Einstellung des Doppelquadrates, dafs sie das Vorhanden- 
sein einer, wenn auch nur ganz geringfügigen Verbindung zwischen den 
beiden Quadraten mit Bestimmtheit in Abrede stellen könne, und dafs 
zweitens diese Sicherheit sowohl ınit, wie ohne Mikropsie, gleich grofs sei. 
Dieser letztere Punkt wurde besonders betont. — Bei mir selbst mulste 
nun das Doppelquadrat im Falle der Mikropsie im Durchnitt etwas, wenn 
auch nur sehr wenig, näher an das Auge herangebracht werden, als bei 
unbewaffinetem Sehorgan. Mein inneres Verhalten bestand hierbei darin, 
dafs ich mir stets die Frage vorlegte, ob ich eine sehr schwache Ver- 
bindungslinie zwischen den Quadraten, falls sie vorhanden wäre, noch 
würde sehen können. Bei Herrn WestPHAL mulste das Objekt umgekehrt 
bei den Beobachtungen mit unbewaffnetem Auge etwas näher an das Auge 
herangebracht werden. Freilich wurden nur 20 Einstellungen vorgenommen. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 135 


Aber nur zweimal war hierbei das Doppelquadrat bei Mikropsie ein wenig 
näher als in dem (immer unmittelbar darauf folgenden) Vergleichsfalle. 
Vp. sagte aus, dafs er, um der Forderung der „Gleichheit, der Sicherheit“ 
zu genügen, auch die Quadrate selbst gleich deutlich zu sehen bemüht sei. 
Sein Kriterium sei hierhei die Schärfe des Randes. Auch ich kann be- 
stätigen, dafs sich das Objekt bei Mikropsie schärfer vom Grunde abhebt, 
und dafs auch der Rand schärfer erscheint. Gleichzeitig erscheint mir auch 
hier die Helligkeitsdifferenz deutlicher. Wir gehen vielleicht nicht fehl 
mit der Annahme, dafs sich das Objekt eben darum besser vom Grunde 
abhebt und schärfer umrandet erscheint, weil die scheinbare Helligkeits- 
differenz zunimmt. 


Bevor wir weiter gehen, möchte ich noch bemerken, dals 
ich die vorhin beschriebene Erscheinung bei den aufgeklebten 
Quadraten gegenwärtig lange nicht mehr mit so frappierender 
Deutlichkeit wahrzunehmen vermag, wie damals. 

Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir die Bemerkung des 
Herrn Westraar (vgl. S. 91), dafs die schwarzen Quadrate der 
zweiten Augertschen Anordnung gleich beim Auftreten der Ge- 
trenntheit — die Stelle dieses Auftretens war ja dieselbe wie in 
der Vergleichkonstellation — viel tiefer schwarz, weniger grau, 
erscheinen, als bei unbewaffnetem Auge, in den Kreis der soeben 
geschilderten Beobachtungen mit einrechnen. Ich kann diese 
Beobachtung des Herrn WestrH4AL durchaus bestätigen. 


Dieses Schwarz ist nach meiner Beobachtung noch viel reiner und 
tiefer als dasjenige bei der direkten Betrachtung desselben Objektes vom 
gleichen Standort aus. Es läfst sich nur mit demjenigen Schwarz ver- 
gleichen, welches man erhält, wenn man vor der Dunkeltonne ein mit einem 
Loch versehenes weifses Papier anbringt. 


Die an dem aufgeklebten Felde beobachtete Erscheinung, 
deren Schilderung wir soeben verlassen haben, besals einen ge- 
wissen schwankenden Charakter, insofern als sie nur bei einer 
bestimmten Beschaffenheit und Begrenzung dieses Feldes deutlich 
in Erscheinung trat und beim Verf., der jene Beobachtung sehr 
oft anstellte, zweifellos an Deutlichkeit erheblich zurückgegangen 
ist. Dafs die Helligkeitsdifferenz zwischen einem peripher 
beobachteten Objekt und seiner unmittelbaren Umgebung bei 
Mikropsie zunimmt, diese Beobachtung vermag ich an jedem 
beliebigen Objekt zu bestätigen. Es ist hierbei ganz gleichgültig, 
ob das Objekt in einer Ebene mit dem Grunde liegt oder nicht, 
und die Erscheinung ist unabhängig von der Art der Begrenzung. 
Auch habe ich, so oft ich das Phänomen seither unter den 


136 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


mannigfachsten Umständen beobachtete, keine Andeutung von 
einem Rückgang desselben wahrgenommen. — Wie ein dunkler 
Gegenstand an Dunkelheit, so nimmt unter den gleichen Um- 
ständen ein heller Gegenstand an Helligkeit zu. Ein farbiges 
Objekt scheint gesättigter und gleichzeitig entweder dunkler oder 
heller zu werden, je nachdem es schon ursprünglich dunkler 
oder heller ist als seine Umgebung. Die Beobachtungen über 
die Änderung der Sättigung scheinen indes nicht denselben Grad 
von Sicherheit zu besitzen, wie diejenigen betreffs der Änderung 
der Helligkeitsdifferenz. 


Dafs man — von der Aufhellung eines peripheren Objektes ganz zu 
schweigen — auch das reinere Schwarz nicht auf physikalischem Wege, 
durch Berufung auf die mit der Pupillenverengung eintretende Helligkeits- 
abnahme zurückführen kann, geht u.a. aus einer Arbeit von ©. L. Morcax! 
hervor. Dieser Autor fand, dafs sich das mittlere Grau auf einer Scheibe, 
deren Helligkeit abgestuft ist, bei Herabsetzung der Beleuchtung verschiebt. 
Diese Tatsache kann nur dadurch erklärt werden, dafs die Verminderung 
der Beleuchtung den schwarzen Sektor nicht viel schwärzer machen kann, 
den weilsen Sektor hingegen beträchtlich verdunkelt. Es mülste also auch 
hier die Verdunkelung des hellen Grundes eher stärker in Erscheinung 
treten als das Tieferwerden des Schwarzes; in jedem Fall mülste die 
Helligkeitsdifferenz abnehmen. Tatsächlich nimmt sie nun aber ganz sicher 
und zwar sehr erheblich zu. Soll ich über die absolute Helligkeit des 
Grundes ein Urteil abgeben, was mir viel schwerer wird, wie die Beur- 
teilung der Helligkeitsdifferenz und die der absoluten Helligkeit des 
Quadrates, so mülste ich sagen, dafs sie auf keinen Fall abgenommen, 
dagegen wahrscheinlich zugenommen hat. 


Noch vor den Beobachtungen an dem aufgeklebten Quadrat 
hatte ich eine andere Erscheinung wahrgenommen, welche gleich- 
falls von grolser Stärke und überraschender Deutlichkeit ist. 

Brachte ich eine glänzende Münze an einen gut beleuchteten 
Ort, so schien ihr Glanz bei Linsenmikropsie eine erhebliche Zu- 
nahme zu erfahren. Mehreren anderen Beobachtern fiel die Er- 
scheinung ebenfalls ganz von selbst auf. Ich habe dann auch 
versucht, ob sich eine Art von Gleichung herstellen läfst zwischen 
dieser subjektiven und einer objektiven Zunahme des Glanzes. 


Ich befestigte an einem hohen Stativ eine in vertikaler Richtung 
verschiebbare Glühbirne; unter dieser senkrecht lag die Münze, von dem 


! Further Notes on the Relation of Stimulus to Sensation in Visual 
Impressions. Psychol. Rev. 8 (5) 1901, zit. nach dem Ref. von Max MEYER. 
Zeitschr. f. Psychol. 80. 


1. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 137 


Raum, in welchem die Glühbirne verschoben wurde, durch einen Schirm 
von Pergamentpapier getrennt. Die — in allen Teilen möglichst gleichmälsig 
und nur matt glänzende — Münze wurde in einer solchen Neigung aufgestellt, 
dafs das Licht, unabhängig von der Höhe der Birne, immer annähernd in 
der Richtung auf das Auge der Vp. zu reflektiert wurde. Auch hier fand 
es die Vp. (Herr Wırker) bald unmöglich, eine genaue Gleichung her- 
zustellen, und er fühlte sich sehr unbefriedigt. Die Entfernung der Lampe 
mufste aber bei der Mikropsiekonstellation im Mittel um ungefähr ein Drittel 
ihrer ursprünglichen Entfernung zunehmen, um so etwas von der Art 
einer Gleichung zu haben. — Auch mir selbst ist es ganz unmöglich, eine 
Gleichung herzustellen, obgleich ich das Phänomen qualitativ in grofser 
Deutlichkeit und durchaus sicher beobachte. 


Schliefslich fiel mir häufig, und gleichfalls mit grofser Deut- 
lichkeit, folgendes auf. Betrachte ich eine Gruppe von Gegen- 
ständen unter Mikropsie, so erscheinen diese weder im allge- 
meinen heller, d. h. von gröfserer Weilslichkeit, noch im allge- 
meinen dunkler, sondern was heller ist als seine Umgebung, 
scheint an Helligkeit, was dunkler ist, an Dunkelheit zuzunehmen. 
Aber wenn auch die Weilslichkeit keineswegs in allen Teilen des 
Gesichtsfeldes zunimmt, so habe ich doch oft den ganz be- 
stimmten Eindruck, dafs alle Gegenstände in einem anderen 
Sinne „heller“, nämlich stärker „be“-leuchtet sind. Die Er- 
scheinung ist nur dann deutlich, wenn ich der Beobachtung 
einigermalsen komplizierte Gegenstände” zugrunde lege, etwa 
einen Teil der Einrichtung meines Zimmers. Bei einem homogenen, 
nur mit gleichfalls homogenen kleinen Feldern bedeckten Grund 
konnte ich das Phänomen nie mit Sicherheit konstatieren. Am 
deutlichsten fand ich die Erscheinung, wenn ich des Abends 
beim Lichte der Lampe irgend einen, nicht allzuhell beleuchteten 
Teil der Einrichtung meines Zimmers beobachtete. Wenn sich 
auch die Lampe hinter meinem Rücken befindet, so habe ich, 
lediglich auf Grund der Wahrnehmung der beschienenen Gegen- 
stände, bei Linsenmikropsie doch den sehr bestimmten Eindruck, 
dafs die Lampe erheblich heller brenne, als bei der Betrachtung 
mit unbewaffnetem Auge. Will ich im letzteren Falle einen mög- 
lichst ähnlichen Eindruck erhalten, so mufs ich den Docht herauf- 
schrauben. 

Wir haben mit Absicht ausführlicher über diese Beobach- 
tungen berichtet, obwohl, wie ich sehr viel später bemerkte, 
dieselben zum grolsen Teile bereits schon von anderer Seite 
angestellt sind. Nachentdeckungen sind in unserem Gebiete 
darum nie ganz überflüssig, weil durch jede neue und von der 


138 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Literaturkenntnis unbeeinflulste Beobachtung die Sicherheit der 
Ergebnisse älterer Autoren erhöht wird. Es ist der Hauptzweck 
der Ausführungen dieses Paragraphen, jenen älteren, ganz ver- 
streuten und gelegentlichen Beobachtungen die ihnen gebührende 
Beachtung zu verschaffen. 


Die eine jener Beobachtungen findet sich bereits bei Doxpers, 
Nachdem das Auftreten von Mikropsie bei Atropinisierung des 
Auges hervorgehoben ist, heilst es (Die Anomalien der Refraktion 
und Akkommodation des Auges, deutsch von BECKER, Wien 1866 
S. 496): „Dem atropinisierten Auge erscheinen die Gegenstände 
viel stärker beleuchtet.“ Die entsprechenden Beobachtungen für 
die Peripherie machte dann Emnerr!, der die Grölse seines Ge- 
sichtsfeldes am Perimeter auch unter Atropinwirkung bestimmte. 
Eine Verschiebung der Gesichtsfeldgrenzen zeigte sich hier- 
bei nicht, aber das Objekt erschien bei seinem Auftauchen 
sogleich „viel heller und deutlicher“. 


Die relativ eingehendsten Angaben und die sauberste 
Beobachtungstechnik finden wir dann in einer Arbeit von W. 
Koster ?, welche sich hauptsächlich mit dem Studium der Grölse 
der Mikropsie bei isolierter Akkommodations- und Konvergenz- 
änderung beschäftigt. » 


Doxvers glaubte, wie aus seinen Ausführungen hervorzu- 
gehen scheint, die bei der Atropinisierung eintretende Pupillen- 
erweiterung für die scheinbare Zunahme der Beleuchtungsstärke 
verantwortlich machen zu müssen. Diese Erklärungsmöglichkeit 
kommt nach den Versuchen von Koster nicht mehr in Frage. 
Die Erscheinung ist nämlich auch bei Vorsetzung eines engen 
Diaphragmas vor das Auge noch durchaus deutlich. „Auch 
„nimmt die scheinbare Helligkeit zu im Verhältnis zu der Mikropie, 
„während dabei die Weite der Pupille schon ziemlich unveränder- 
„lich geworden ist“ (l. ec. S. 145). 

Dafs sich bei Mikropie durch Akkommodationsparese die Gröfse des 
Netzhautbildes gar nicht geändert hat, wies K. nach, indem er in dem Nahe- 
punkt des normalen und in dem jetzigen Nahepunkt des homatropinisierten 


Auges ähnliche Dreiecke aufstellte, deren Seiten sich verhielten wie ihre 
Abstände von den beiden Augen. 


! Die Gröfse des Gesichtsfeldes in Beziehung zur Akkommodation. 
Arch. f. Augenheilk. 11, 1882. 
® Zur Kenntnis der Mikropie und Makropie. Arch. f. Ophthalm. 42, 1896. 


J. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 139 


Auch findet sich bei Koster schon eine eingehendere 
Schilderung der Wahrnehmungen. „Hat man als Objekte auf 
„die Arme des Haploskops weilse Dreiecke von Pappe aufgestellt, 
„so scheint, wenn das Vereinigungsbild klein gesehen wird, die 
„Beleuchtung stärker geworden zu sein... . sehen wir dagegen 
„ein (scheinbar; d. Verf.) vergröfsertes Bild, so scheint die Be- 
„leuchtung schwächer, als wenn das Bild in seiner wirklichen 
„Grölse gesehen wird. Ebenso erschien mir, wenn schwarze 
„Dreiecke benutzt wurden, das scheinbar kleinere Objekt dunkler 
„schwarz, das scheinbar gröfsere mehr graulich. Bei diesen Ver- 
„suchen wurde die beleuchtende Lampe über dem Kopf des 
„Beobachters aufgestellt und zwar ein wenig hinter der Mitte der 
„Basallinie der beiden Augen: Die objektive Beleuchtung der 
„Dreiecke bleibt bei dieser Anordnung des Versuches konstant“ 
(l. e. S. 138). 


Wir sehen also wiederum: ein helles Objekt erscheint bei 
Mikropsie heller, ein dunkles dunkler, und die Beleuchtung scheint 
zuzunehmen. Auch hier handelt es sich, wie bei unseren Be- 
obachtungen an den auf gleichmäfsigem Grund aufgeklebten 
kleinen Feldern, um Beobachtungen, an denen vorwiegend das 
direkte Sehen beteiligt ist. Wir fanden, dals in diesem Falle die 
Erscheinung nicht mit unbedingter Sicherheit und Konstanz auf- 
tritt, dafs es vielmehr scheine, als ob gewisse besondere Vor- 
bedingungen erfüllt sein müssen, damit sie beobachtet werden 
könne. Auf denselben Umstand scheint die Bemerkung von 
Koster hinzuweisen : „Übrigens muls ich hierbei erwähnen, dals 
„die Erscheinung der scheinbaren Helligkeit individuell verschieden 
„zu sein scheint, da ein Kollege keinen Unterschied in der Be- 
„leuchtung wahrnehmen konnte.“ 


Diese Beobachtungen waren angestellt bei isolierter, durch 
Verschiebung der Arme des Haploskops bewirkter Konvergenz- 
änderung, ohne begleitende Änderung der Akkommodation und 
der Pupille. 


K. beobachtete, dafs bei stärkeren Konvergenzgraden trotz des Konstant- 
bleibens der Akkommodation doch eine geringfügige Verkleinerung des 
Pupillendurchmessers auftritt; doch ist dieselbe nur „sehr unbedeutend“. 
Diese (äufserst geringfügige) Änderung hat aber gerade zur Folge, dafs die 
Helligkeit des Netzhautbildes in der Konstellation, in welcher das Objekt 
„stärker beleuchtet“ erscheint, gerade ein wenig herabgesetzt ist, kann also 
wohl schwerlich für das Phänomen verantwortlich gemacht werden. 


140 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Erinnern wir uns der oben geschilderten Beobachtungen bei 
Linsenmikropsie, bei welcher sich ja die Pupille verengt, so 
können wir jetzt die völlige Unabhängigkeit der Erscheinung von 
der Grölse des Pupillendurchmessers mit Bestimmtheit behaupten. 
Die Erscheinung tritt ein, gleichgültig, ob sich unter den be- 
treffenden Versuchsumständen die Pupille erweitert, verengt, oder 
ob sie endlich annähernd gleich bleibt. 


An einer anderen Stelle hebt Koster hervor, dafs Druck- 
schrift bei Mikropsie viel tiefer schwarz erscheine; dabei habe 
man aber den Eindruck „stärkerer Leuchtkraft“, einer Erhöhung 
der „Beleuchtung“. Diese Stelle läfst nochmals deutlich erkennen, 
dafs Koster die Objekte bei Mikropsie durchweg „heller“, d. h. 
stärker „be“-leuchtet gesehen hat, obwohl die Weilslichkeit der 
Objekte hierbei keineswegs durchweg zunahm, sondern die weilsen 
Partien weilser, die schwarzen schwärzer geworden waren. 


Überblieken wir die Gesamtheit dieser Tatsachen, wobei wir 
die Erscheinung der stärkeren „Be“-leuchtung zunächst aufser 
acht lassen und uns allein an die scheinbar stärkere Helligkeits- 
differenz halten, so springt die Ähnlichkeit dieser Erscheinungen 
mit dem A.F.G. in die Augen. Das Objekt taucht bei dem 
Versuche Exmerts bei Atropinmikropsie zwar nicht eher am 
Perimeter auf, aber es war sofort deutlicher, es hob sich stärker 
vom Hintergrunde ab. Dasselbe war bei den unter Linsen- 
mikropsie an der fernen Konstellation der zweiten AuBERTschen 
Anordnung vorgenommenen Einstellungen der Fall. Auch hier 
trat, wenngleich das objektive Ergebnis der Einstellungen hiervon 
nichts verriet, die Helligkeitsdifferenz im Momente der Getrennt- 
heit klarer zutage (vgl. S. 90£.). 

Wolıl erscheint die grofse ferne Versuchsanordnung, die bei 
dem zweiten AuBErTschen Versuch Verwendung findet, unter Linsen- 
mikropsie kleiner. Aber noch viel kleiner erscheint, auch wenn 
wir unter gewöhnlichen Umständen beobachten, die kleine nahe 
Versuchsanordnung. So erhebliche Unterschiede der scheinbaren 
Gröfse vermögen wir durch Linsenmikropsie nicht hervorzu- 
bringen, wenn wir die Verwendung allzu starker Linsen, durch 
welche Fehlerquellen eingeführt werden, ausschliefsen. Denken 
wir uns aber, wir könnten durch Mikropsie eben so bedeutende 
Unterschiede der scheinbaren Gröfse erzeugen, wie sie sich unter 
den gewöhnlichen Bedingungen der Wahrnehmungen tatsächlich 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 141 


darbieten! Die von Doxpers, EmmeErT und Koster beobachtete 
Erscheinung nimmt mit der scheinbaren Gröfsenänderung, wie 
Koster am Ätropinversuch gezeigt hat, immer weiter zu; jedes 
Objekt des Gesichtsfeldes erscheint immer deutlich, da die hellen 
Teile immer heller, die dunklen immer dunkler werden. Ange- 
nommen, wir sollen nun wieder den zweiten Ausertschen Ver- 
such anstellen, einerseits mit, andererseits ohne Mikropsie. An- 
fänglich erhalten wir, wie wir in Übereinstimmung mit EMMERT 
sahen, zwar dieselben Einstellungen, aber das Objekt erscheint 
bei Mikropsie doch deutlicher und schärfer. Diese Deutlichkeits- 
zunahme reicht zunächst noch nicht hin, um an der objektiven 
Einstellung etwas zu ändern. Schreitet aber die Mikropsie fort, 
wird die Helligkeitsdifferenz zwischen Objekt und Grund immer 
grölser, das Objekt immer deutlicher und schärfer, so liegt die 
Annahme nahe, dals ein Punkt kommen wird, wo auch die Ge- 
trenntheit der Quadrate schon an einer periphereren Stelle er- 
kannt wird im Falle der scheinbaren Kleinheit, als in dem der 
scheinbaren Grölse. 

Wir dürfen also wohl die Behauptung wagen: Es ist im 
Grunde dieselbe Tatsache, von der das AUBERT- 
Forrsterscheund das Kostersche Gesetz (K. G.) — so 
können wir dieses Gesetz nach dem Autor der genauesten Unter- 
suchung nennen — Rechenschaft gibt. Aber die Bedingungen 
für das Auftreten der Erscheinung sind im ersten Falle günstiger, 
die Erscheinung selbst ist ausgesprochener. 


Aber das Kostersche Gesetz behauptet noch eine andere 
Tatsache, für die beim Augerr-ForrsTERschen Gesetz ein Analogon 
zu fehlen scheint. Es nimmt nicht nur der Charakter der ein- 
zelnen Helligkeiten an Ausprägung zu, nicht nur wird das Helle 
heller, das Dunkle dunkler; es scheinen vielmehr nun auch alle 
Gegenstände stärker „beleuchtet“ zu sein. Diese letztgenannte 
Erscheinung ist wohl nicht schwer zu erklären. 


Wann nehmen unter gewöhnlichen Umständen die Hellig- 
keitsdifferenzen der Objekte zu, wann hebt sich eine Druck- 
schrift am stärksten vom Papier ab? Es geschieht dies bei guter 
Beleuchtung. Schrauben wir hingegen das Docht der Lampe 
herab, so nähert sich das Schwarz des Druckes und das Weifs 
des Papieres immer mehr einem mittleren Grau. Das Schwarz 
kann nicht mehr sehr viel dunkler werden, wohl aber das Weifs. 


142 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Liegt der Gedanke nicht nahe, dafs auf Grund der Wahr- 
nehmung ausgeprägterer Helligkeitsdifferenzen die Vorstellung 
stärkerer Beleuchtung auf assoziativem Wege wachgerufen wird? 
Hiermit stimmt auch die Tatsache überein, dafs ich bei Be- 
trachtung homogener Flächen von einer solchen Zunahme der 
Beleuchtung nichts merke. Vielleicht wirkt auch der Umstand 
mit, dafs wir bei Mikropsie mit periphereren Regionen der Netz- 
haut noch leidlich deutlich sehen. Eine solche Hinausschiebung 
des deutlichen Bezirkes nach der Peripherie findet unter gewöhn- 
lichen Umständen ja dann statt, wenn die Beleuchtungsstärke 
zunimmt; denn mit ihr nimmt die Sehschärfe, auch die der 
Peripherie, zu. 

Andererseits ist es begreiflich, wenn diese Assoziation bei 
den Ausertschen Versuchen nicht in Wirksamkeit zu treten 
scheint. Diese Versuche finden unter den gewöhnlichen Be- 
obachtungsbedingungen statt. Hier kommt nun eine andere 
Assoziation zur Geltung, die nicht minder fest und nicht weniger 
eingeübt ist als die vorher besprochene. Tausendfältige Er- 
fahrung hat uns gelehrt, dafs sich die Helligkeit unserer Lampe, 
die Intensität des Sonnenlichtes oder die Bewölkung des Himmels 
dadurch nicht ändert, dafs wir von der Betrachtung eines fernen 
zu der eines nahen Gegenstandes übergehen. Bei Mikropsie aber 
erscheint der Gegenstand nur deutlich kleiner, nicht aber deut- 
lich näher. 


Eher könnte man an einem anderen Punkte Anstols nehmen. 
Selbst wenn man zugibt, dafs bei Peripheriebeobachtungen die 
Fähigkeit des „Überschauens“ in Frage kommt, und selbst wenn 
man darum für die Emmertschen und für die Augerrschen Be- 
obachtungen die Erklärung mit Hilfe der scheinbaren Gröfse 
gelten läfst, so erscheint doch schwer begreiflich, wieso die schein- 
bare Grölse auf die Beschaffenheit der Helligkeitsdifferenzen 
einen Einflufs ausüben soll, wenn bei den Beobachtungen nur 
das direkte Sehen Verwendung findet, das „Überschauen“ eines 
Bezirkes also gar nicht in Frage kommt. 

Könnten uns daher die oben mitgeteilten Beobachtungen an 
den kleinen aufgeklebten Feldern vielleicht in Verlegenheit setzen, 
da ja hier, wie es scheint, nur das direkte Sehen zur Verwen- 
dung kommt, so dals wegen der Kleinheit des hier in Betracht 
kommenden Bezirkes von einem „Überschauen“ offenbar schwer- 


1. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-F'oersterschen Gesetzes. 143 


lich die Rede sein kann, so enthalten andererseits, wie wir 
glauben, die näheren Einzelheiten jener Beobachtungen den 
Schlüssel zur Auflösung des Widerspruches. 

Während nämlich die Erscheinungen im indirekten Sehen 
von grolser Konstanz waren, zeigten diejenigen im direkten 
Sehen einen aulserordentlich flüchtigen Charakter und konnten 
leicht verdrängt werden. Die Umstände, welche dem Auftreten 
jener Erscheinung förderlich, bzw. hinderlich zu sein schienen, 
fallen aber gerade mit denjenigen Umständen zusammen, welche 
die Mitverwendung des indirekten Sehens, und damit das In- 
krafttreten der Fähigkeit des „Überschauens“ eines ausgedehnteren 
Bezirkes, notwendig machen. Heftet man seine Aufmerksamkeit 
fest auf den Rand, und prägt man sich hier die Differenz der 
unmittelbar aneinander stolsenden Helligkeiten ein, so konnte 
die Erscheinung fast nie beobachtet werden. Je „interessanter“ 
der Rand ist, je mehr er die Aufmerksamkeit auf sich zieht, 
um so eher wird dieses Verhalten ganz von selbst auftreten. Am 
deutlichsten war die Erscheinung, wie wir auf Grund unserer 
Beobachtung hervorheben mulfsten, wenn man den Blick über 
das Feld und den anstolsenden Grund hinwegschweifen liels, 
Augenbewegungen ausführte und die Aufmerksamkeit nicht auf 
dem Rande festheftete.e Wenn man aber in dieser Weise ver- 
fährt, so kommt nicht nur das direkte Sehen zur Verwendung, 
sondern es sind zweifellos auch Wahrnehmungen des indirekten 
Sehens für unser Urteil über die Gröfse der Helligkeitsdifferenz 
mafsgebend. Bildet sich z. B. etwa gerade die Mitte des kleinen 
Feldes auf der Fovea ab, so erscheinen alle diejenigen Partien, 
wo die verschiedenen Helligkeiten zusammenstolsen, im indirekten 
Sehen. Wo immer die Augenachse die Fläche des Papieres 
schneiden mag, stets wird sich die Mehrzahl der Punkte, in denen 
das Zusammenstolsen stattfindet, im indirekten Sehen abbilden. 
Wir benutzen eben, wie ja PURKINJE mittels des mehrfach er- 
wähnten Sehröhrchenversuches gezeigt hat, bei unseren Wahr- 
nehmungen das indirekte Sehen fortwährend; so auch hier wohl 
bei unserem Urteil über die Differenz der Helligkeiten, aufser 
wenn wir — ein Verfahren, das hier allerdings nahe liegt und 
absichtlich ferngehalten werden mufste — die Aufmerksamkeit 
fest auf den Rand heften und so tatsächlich das direkte Sehen 
annähernd allein zur Geltung kommen lassen. Alles soeben 
Gesagte gilt aber auch von den Bedingungen, unter denen 


144 ZI. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Doxpers und KosSTEr beobachteten. Beim ungezwungenen Sehen 
findet niemals ausschlielslich der relativ aufserordentlich kleine 
und darum unter normalen Umständen wohl unschwer zu über- 
schauende Makulabezirk Verwendung. Immer wird das indirekte 
Sehen mitbenutzt, und immer ist somit, die, wie es scheint, not- 
wendige Vorbedingung für das Inkrafttreten des Kosterschen 
Gesetzes, bestehend im „Überschauen“ eines relativ ausgedehnten 
Bezirkes, gegeben.! 

Durch die Tatsachen, von welchen das Kostersche Gesetz 
berichtet, erhalten nun aber unsere Untersuchungen über das 
A.F.G. eine weitere Sicherung und Ergänzung. 

Eine Sicherung aus folgenden Gründen. 


Beim A. F.G. mulsten wir uns immer erst vergewissern, ob 
die Vp. auch nicht unerlaubte Blickbewegungen ausgeführt hat. 
Wenn nach den Beobachtungen Kosters bei einer Druckschrift 
unter Mikropsie der Druck schwärzer, das Papier heller er- 
scheint — ähnlich in analogen Fällen —, so kommt hierbei von 
Augenbewegungen nichts vor. Man kann die Druckschrift ebenso 
mit bewegtem Blick wie unter Fixation betrachten. 


Ferner schien die „arithmetische“ Anschauung vom Umfang 
der Aufmerksamkeit gegen unsere Deutung des A. F.G. Ein- 
spruch zu erheben. Auch dieser Einwand mu/s verstummen 
gegenüber einer Erscheinung, die auch an so eminent einfachen 
Beobachtungsgegenständen auftritt, wie es ein homogenes Feld 


! Seit dem Bekanntwerden einer Reihe wesentlicher funktioneller 
Unterschiede zwischen Zapfen und Stäbchen spielen Untersuchungen, die 
sich mit den Unterschieden zwischen direktem und indirektem Sehen be- 
fassen, in der Psychophysik der Farbenempfindungen eine bedeutende 
Rolle. Um Mifsverständnissen, welche unter diesen Umständen nicht fern- 
liegen, vorzubeugen, sei ausdrücklich hervorgehoben, dafs die oben ange- 
führten Beobachtungen mit einem funktionellen Unterschied zwischen Ma- 
kula und Peripherie nicht das geringste zu tun haben. Wenn die Beteiligung 
des indirekten Sehens, wie wir annehmen zu müssen glaubten, für das 
Auftreten des Kosterschen Phänomens wesentlich ist, so kann dies seineu 
Grund nur darin haben, dafs erst im Falle der Beteiligung des indirekten 
Sehens an die Fähigkeit des „Überschauens“ einigermafsen gröfsere An- 
forderungen herantreten. Ist aber hierdurch mit dem Inkrafttreten des 
„Überschauens“ die notwendige Vorbedingung für das Auftreten des Koster- 
schen Phänomens einmal gegeben, so verhalten sich Zentrum und Peripherie 
hinsichtlich jener Erscheinung gleichartig. Jedenfalls liegt zur entgegen- 
gesetzten Annahme kein Grund vor. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 145 


ist, in welchem sich ein zweites kleineres, gleichfalls homogenes 
Feld befindet. 

Wir sahen ferner, dafs man kein Recht haben würde, die 
Gültigkeit des A. F. G. von allen Sehdingen zu behaupten, wenn 
die von jenem Gesetz ausgedrückte Tatsache etwa nur bei Ver- 
wendung von Buchstabenproben ermittelt worden wäre. Für ein 
solches Verhalten könnte, wie wir sahen, die spezielle Natur des 
hier verwendeten Kriteriums verantwortlich sein. Die Versuche 
mit dem Doppelquadrat waren allerdings diesem Einwand nicht 
ausgesetzt. Aber haben wir damit wirklich schon in strenger 
Allgemeinheit den Beweis geliefert, dafs die Gestalt und die Be- 
schaffenheit des Testobjektes, sowie die etwaige besondere Natur 
der hierdurch geforderten speziellen Kriterien mit dem A.F.G. 
nichts zu tun haben ? 

Diese Unabhängigkeit der Erscheinungen von der Form des 
Objektes ist erst durch die Zurückführung des A. F.G. auf das 
K.G. dargetan. Denn es ist hierdurch gezeigt, dafs es sich auch 
beim A. F. G. nicht eigentlich um eine Gesetzmäfsigkeit des 
Formensinns handelt, sondern um eine Gesetzmälsigkeit im 
Gebiete der letzten Elemente, aus denen sich alle Formen zu- 
sammensetzen, dafs im Grunde hier eine Gesetzmälsigkeit des 
Lichtsinns vorliegt. 

Das A.F.G. erfährt ferner durch die Zurückführung auf das 
K.G. eine Erweiterung. 

Nach dem A. F. G. sieht es so aus, als ob die Differenz der 
scheinbaren Gröfse erst einen erheblichen Betrag erreichen müsse, 
damit eine Änderung in den Wahrnehmungen eintritt. Vom 
K. G. wird das hier noch fehlende Glied geliefert. Ist die Ver- 
änderung der Wahrnehmung infolge des Wachsens der schein- 
baren Gröfse auch noch nicht so bedeutend, dafs die Form da- 
durch unkenntlich, und eine andere Einstellung am Perimeter 
notwendig wird, so lehrt nun das K. G., dafs auch schon bei 
geringerer Änderung der scheinbaren Gröfse eine Änderung. in 
den Wahrnehmungen eintritt, nämlich in Gestalt einer Herab- 
setzung der Helligkeitsdifferenz zwischen Objekt und Grund. 
Erst wenn diese einen höheren Grad erreicht hat, fängt die 
Form an unkenntlich zu werden, und das K.G. wird abgelöst 
durch das A. F. G. 


Beiläufig sei bemerkt, dafs das K. G. wohl eine Nötigung enthalten 
dürfte, die Ansicht nochmals auf ihre Richtigkeit nachzuprüfen, wonach 
Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 10 


146 I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert- Foersterschen Gesetzes. 


die Zunahme des Helligkeitskontrastes bei Abnahme der Gröfse des kontrast- 
leidenden Feldes ausschliefslich auf Rechnung der Netzhautprozesse zu 
setzen sei, während das nervöse Zentralorgan am Zustandekommen dieser 
Erscheinung unbeteiligt sei. 


Der Gedanke lag nahe, zu untersuchen, ob die Unterschieds- 
schwelle bei Mikropsie eine andere ist als bei Makropsie. Die 
auf dem Marpeschen Apparat angebrachte, aus zwei grauen 
Sektoren zusammengeklebte Scheibe besals eine Helligkeit, die 
einer Mischung aus 160,25° Weils und 199,75° Tuchschwarz ent- 
spricht. Der verschiebbare Kreisring besafs die Helligkeit: 95° 
Weifs, 265° Tuchschwarz. Der Unterschied gegenüber der Hellig- 
keit des Grundes war mit Absicht nicht zu grofs gewählt, damit 
die Werte der Unterschiedsschwellen und ihre etwaigen Unter- 
schiede am Apparate deutlich in Erscheinung träten. Die Ver- 
suchsreihe erstreckte sich bei mir und bei Herrn WıLkEr über 
je sechs Tage. Es wurden dieselben Linsen verwandt, wie bei 
der Beobachtung der Helligkeitsdifferenzen (Abschn. I, $ 8a). Die 
Einstellungen erfolgten auf- und absteigend; die Veränderung des 
Kreisrings am Mars&schen Apparat wurde langsam vorgenommen. 
Um die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Stelle der Scheibe 
zu fixieren, war dieselbe durch einen Schirm, der einen sektor- 
förmigen Ausschnitt besals, zum gröfsten Teile verdeckt. 

Das Ergebnis liefs sich dahin aussprechen, dafs die Unter- 
schiedsschwelle bei Mikropsie sicher nicht niedriger ist. 

Schob ich den Kreisring weiter heraus, so erschien bei 
Mikropsie die Helligkeitsdifferenz, wenn ich die ganze Scheibe 
betrachtete, wieder meist gröfser. 

Man sieht hieraus, wie verwickelt sich eine allseitige Erörterung des 
scheinbar so einfachen Problems, das Verhältnis der ebenmerklichen zu 
den übermerklichen Unterschieden zu bestimmen, gestalten würde. Wir 
verweisen an dieser Stelie auch auf die (S. 10) mitgeteilten Versuche von 
AUBERT. 


b) Ein anderer Erklärungsversuch, der freilich nach der aus 
drücklichen Bemerkung des Autors nur als eine Vermutung auf- 
gefafst werden soll, rührt von Koster her. KosTEr hebt zunächst 
treffend hervor, wie rätselhaft der Zusammenhang zwischen schein- 
barer Beleuchtung und scheinbarer Grölse und Distanz sei; denn 
die Helligkeit des Netzhautbildes bleibe ja bei Änderung der 
Distanz zwischen Objekt und Auge konstant. Die Frage, woher 
das von den Mikropsieversuchen erwiesene Abhängigkeitsverhält- 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 147 


nis zwischen scheinbarer Gröfse und Helligkeit komme, scheimt 
ihm schwer lösbar zu sein, könne vielleicht aber in folgender 
Weise beantwortet werden. „Durch die konstante Erregung eines 
einzelnen perzipierenden Elementes bekommen wir eine Vor- 
stellung über die Leuchtkraft von sozusagen jedem mathematischen 
Punkte der Oberfläche eines Gegenstandes. Aus welcher Ent- 
fernung wir die leuchtenden Punkte der Oberfläche auch be- 
trachten, immer geben sie uns die Vorstellung derselben Leucht- 
kraft. Wenn nun aber bei der Mikropsie die leuchtenden Punkte 
der Oberfläche viel gedrängter zu liegen scheinen, wie aus der 
Betrachtung der sog. Körnung der Oberfläche hervorgeht, ent- 
steht dadurch auch die Vorstellung der gröfseren Helligkeit.“ 

Dafs aber die Erscheinung nicht auch dann auftrete, wenn 
wir unter gewöhnlichen Beobachtungsumständen ein Objekt dem 
Auge wirklich nähern — bei Annäherung der Objekte an das 
Auge ändert sich ja der subjektive Mafsstab, welchen wir der 
Auffassung oder Ausdeutung unserer Netzhautbilder zugrunde 
legen, im selben Sinne wie bei Mikropsie — diese Tatsache habe 
ihren Grund in dem Umstande, dals hier die Vorstellung einer 
gröfseren Zusammendrängung der einzelnen leuchtenden Punkte 
des Objektes nicht auftrete. „Ein Blatt Papier, das scheinbar 
näher liegt, sieht ganz anders aus als ein solches Blatt, das 
wirklich näher steht; ersteres scheint von viel feinerer Qualität, 
weil natürlich auch alle Unebenheiten und Fasern im Verhältnis 
verkleinert gesehen werden.“ 

Diese Ansicht erscheint uns unhaltbar. 

Wir sahen, dafs die Erscheinung besonders deutlich im 
peripheren Sehen ist. Nun beruht sie nach Koster, z. B. in 
dem Falle, in welchem Papiere als Beobachtungsobjekt dienen, 
darauf, dafs die Körnung, also die feinste Detailzeichnung des 
Papieres, bei Mikropsie anders zu werden scheint. Findet ein 
solches Anderswerden dieser feinsten Elemente nicht statt, wie 
z. B. in dem Falle, in welchem das Papier dem Auge wirklich 
genähert wird, so bleibt auch das Helligkeitsphänomen aus. 

Wir haben nun aber über Einstellungen berichtet (8. 91), 
welche an der fernen Konstellation der zweiten AußErrtschen 
Versuchsanordnung teils mit, teils ohne Mikropsie gemacht‘ 
wurden, bei denen das Phänomen der grölseren Helligkeits- 
differenz im Falle der Mikropsie äulserst deutlich war, und zwar 


sogleich, als die Getrenntheit der Quadrate eben merkbar wurde. 
10* 


148 I. Abschnitt. Experimentelle. Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 


Es ist kein Gedanke daran, dafs wir an diesem fernen und so 
stark peripher gesehenen Objekt einen scheinbaren Unterschied 
in der Körnung des Papieres wahrnehmen konnten. 

Ferner glauben wir erwiesen zu haben, dafs zwischen dem 
A.F.G. und dem K.G. ein enger Zusammenhang besteht, dals 
sich jene beiden Reihen von Tatsachen nur graduell voneinander 
unterscheiden. Nun liegt aber gerade bei den Auzertschen Ver- 
suchen der Fall vor, in dem die scheinbare Kleinheit durch wirk- 
liches „Näherstehen“ hervorgerufen wird, also der Fall, in dem 
nach Kosters Theorie das Helligkeitsphänomen ausbleiben muls. 
Ferner erscheinen die beiden Versuchsanordnungen nicht ver- 
schieden „hell“, nicht verschieden stark „beleuchtet“. Auch diese 
Tatsache weist darauf hin, dafs die scheinbare Änderung der 
„Beleuchtung“ nicht das primäre Phänomen ist im Vergleich 
zu dem Phänomen der Änderung der Helligkeitsdifferenzen. 


Endlich noch ein prinzipiellerer Punkt. 


Koster führt die Erscheinung auf Erfahrungseinflüsse zurück. 
Das AUBERT-FoERSTERsche Phänomen läfst sich, wie wir sahen, 
auf das Kosrtersche zurückführen. Es ist dieselbe Erscheinung, 
nur beobachtet unter besonders günstigen Versuchsbedingungen, 
und darum von besonders ausgeprägtem Charakter. Die Hellig- 
keitsdifferenz nahm bei der grofsen Konstellation so stark ab, 
die Formen wurden infolgedessen so undeutlich!, dafs die 
Quadrate nicht mehr als getrennt wahrgenommen werden 





! Dals bei Abnahme der Helligkeitsdifferenz zwischen Objekt und 
Grund die Formen im indirekten Sehen tatsächlich undeutlicher werden, 
zeigte sich bei folgenden Beobachtungen. — Auf einem gleichmälsigen 
grauen Grunde befinden sich in gleicher Höhe über dem Fufsboden, un- 
gefähr der Augenhöhe des Beobachters entsprechend, etwa 0,5 m vonein- 
ander entfernt, zwei Fixierzeichen. Das Auge des Beobachters war von 
beiden Fixierzeichen gleich weit entfernt. Lotrecht über jedem der beiden 
Fixierzeichen, in einem Abstande von 27 cm über demselben, befand sich je 
ein Doppelquadrat. Die Quadrate des einen Doppelquadrats waren aus 
Tuchschwarz hergestellt, die des anderen aus einem erheblich weniger 
stark vom Grunde kontrastierenden dunkelgrauen Papier; die Gröfsenver- 
hältnisse waren dieselben wie die der in der ersten Versuchsreihe (S. 26) 
verwandten Doppelquadrate. Die Beobachtungszeit wurde durch die Schläge 
des Metronoms in beiden Konstellationen in übereinstimmender Weise ge- 
regelt. Der Beobachter (Herr Prof. M.) erklärte, man könne wohl sagen, 
dafs die Formen des grauen Doppelquadrates undeutlicher erschienen als 
diejenigen des schwarzen. 


I. Abschnitt. Experimentelle Analyse des Aubert-Foersterschen Gesetzes. 149 


konnten, wenn sie sich an derselben Stelle der Netzhaut ab- 
bilden, wie die kleineren, näheren. Aus diesem Grunde mülste 
auch das A.F.G. auf Residuen beruhen. Man mülste also an- 
nehmen, dafs die assoziativ wachgerufene Vorstellung 
einer höheren Intensität der Lichtquelle die Sehschärfe in ähn- 
licher Weise zu steigern vermöge, wie eine wirkliche Ver- 
stärkung der Beleuchtung. Solange die tatsächliche Gültigkeit 
dieser unwahrscheinlichen Annahme nicht direkt auf experi- 
mentellem Wege erwiesen ist — die Entscheidung dieser Frage 
würde in das Gebiet der Gedächtnisfarben gehören — wird man 
sich ihr gegenüber unbedingt skeptisch verhalten. 

Schon diese letztere Überlegung weist auf einen weit elemen- 
tareren Mechanismus hin. Im III. Abschnitt werden wir den 
Versuch machen, in das Verständnis desselben etwas weiter ein- 
zudringen. 


150 


II. Abschnitt. 


Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen 
Interpretation des AuBERT -FOERSTERScChen Gesetzes 
durch anderweitige Tatsachen. 





I. Kapitel. 


Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung der konzen- 

trischen Gesichtsfeldeinengung (k. G. E.) bei funktionellen 

Nervenleiden nur unter Heranziehung des AUBERT -FOERSTER- 
schen Gesetzes gelingt. 


§ 1. 

Von den objektiv nachweisbaren Symptomen der Hysterie 
hat besonders die konzentrische Gesichtsfeldeinengung (k. G. E.) 
das Interesse der Forscher stets in hohem Mafse erregt. Diese 
ausgezeichnete Stellung verdankt jenes Symptom einerseits der 
Häufigkeit seines Vorkommens, andererseits dem Umstande, dafs 
es unter den mannigfachen Erscheinungen des vielgestaltigen 
Krankheitsbildes einer exakten und zahlenmäfsigen Formulierung, 
ferner einer experimentellen Erforschung, einem Studium unter 
verschiedenen äufseren und inneren Bedingungen, relativ am 
leichtesten zugänglich zu sein scheint. 

Es ist begreiflich, dafs die gegnerischen Ansichten vom 
Wesen der hysterischen Primärveränderung in der Lehre von 
der k. G. E. und in derjenigen von den kutanen Anästhesien 
besonders hart aufeinander stolsen. Man befindet sich hier noch 
auf relativ festem Boden, auf welchem ein streng methodischer 
und den Forderungen des psychophysischen Denkens Genüge 
leistender Austrag der Ansichten noch möglich erscheint. 

Diese Verhältnisse treten deutlich zutage, wenn man die 
eingehendsten Gesamtdarstellungen, die in Frankreich einerseits 


I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 151 


und in Deutschland andererseits hervorgetreten sind, miteinander 
vergleicht. 

Für Janet!, der die Lehre Cmarcors namentlich auf dem 
Wege des psychologischen Experimentes weiterbildet und aus- 
baut, ist die Hysterie eine „Geisteskrankheit“. Zwar ordnet sie 
sich jener grölseren Gruppe von Krankheiten ein, denen Schwäche 
oder Erschöpfung zugrunde liegt. Es ist aber die wesentliche 
und immer von neuem betonte These JAnFTs, dafs es sich nicht 
um eine allgemeine nervöse oder zerebrale Schwäche handelt. 
Die vielgestaltigen Symptome der Hysterie entspringen vielmehr 
der Abänderung einer einzigen, ganz speziellen Geistestätigkeit. 
Die Hysterie besteht in einer Schwäche der „Ich“*-Wahrnehmung, 
des „Ich“-Bewulstseins.. Aus dieser „Ich“-Schwäche sind insbe- 
sondere auch die Anästhesien und die k.G.E. abzuleiten. „Die 
hysterische Anästhesie ist eine Krankheit des „Ich“-Bewulstseins.“ 
„Sie (die Hysterie) liegt... im Geist. Wir halten ein für alle- 
mal daran fest, dals das Wort „Geist“ die höchsten Tätigkeiten 
des Gehirns, bzw. der Hirnrinde ausdrückt. ... . Im Geiste 
selbst erstreckt sich die Krankheit nur auf bestimmte Vorgänge. 
Sie ist nur selten eine Störung der Elementarempfindungen, die 
in ihrem Wesen und ihren Eigentümlichkeiten unverändert 
bleiben. Sie erstreckt sich auf eine ganz besondere Geistestätig- 
keit, auf die „Ich“-Wahrnehmung, die uns in jedem Momente 
des Lebens befähigt, neu aufgenommene Empfindungen unter- 
einander und mit dem „Ich“-Bewulstsein zu verknüpfen. Sie 
beruht auf einer Schwäche in der Verknüpfung der psychologischen 
Elemente, welche ich früher einmal als psychologischen Zerfalls- 
vorgang bezeichnet habe“ (Janer, l. c. S. 47). 

Das Wesen der Empfindung, so führt JANET aus, wurde stets 
sehr unklar definiert. Die Empfindungen sollen primäre Be- 
wulstseinszustände sein, die man nicht in weitere Elemente zer- 
legen kann; mit einem Worte, die Empfindungen seien in der 
Psychologie dasselbe, was die Atome in der Chemie sind. 

Nach Janets Ansicht ist die Empfindung nicht das letzte 
Element, bis zu welchem die psychologische Analyse vordringen 


1 Etat mental des Hysteriques, Paris 1894 (Der Geisteszustand der Hyste- 
rischen. Bd.I. Übers. v. M. Kamane, Leipzig und Wien 1894. Seitenangaben 
im folgenden beziehen sich auf dieses Werk). — Névroses et idées fixes, 
Paris 1898. 


152 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


kann. „Die Empfindung ist dasjenige, was im „Ich“ vorgeht, 
wenn ich sage „Ich fühle“, „Ich sehe“.“ „....Die Ausdrücke 
„Ich fühle“, „Ich sehe“, sind ganz und gar nicht einer elemen- 
taren Erscheinung angepalst, sondern bezeichnen im Gegenteil 
einen komplizierten Vorgang. Das eine der beiden Worte, näm- 
lich „fühlen“, „sehen“, kann streng genommen auf einen ein- 
fachen Vorgang, auf ein psychologisches Atom bezogen werden. 
Der Physiologe Herzen sagte, dafs man das Gehirn mit einem 
grolsen, von unzähligen Gaslampen erfüllten Saal vergleichen 
kann. Von Zeit zu Zeit entzünden sich bestimmte kleine Lampen, 
von verschiedenen Seiten, und das ist es, was das Wort „fühlen“, 
„sehen“ an und für sich bezeichnet. Ganz anders verhält es 
sich mit den Worten, die den „Ich“-Begriff ausdrücken; es sind 
dies äufserst zusammengesetzte Ausdrücke. Es ist das die Vor- 
stellung des Persönlichen, d. h. die Vereinigung aller gegen- 
wärtigen Empfindungen, die Erinnerung an alle vergangenen 
Eindrücke und die Fähigkeit, die zukünftigen Erscheinungen sich 
vorzustellen. Es ist dies die Kenntnis des eigenen Körpers, der 
eigenen Fähigkeiten, der gesellschaftlichen Stellung, der Be- 
deutung, kurz, eine Vereinigung moralischer, politischer und 
religiöser Ideen. Es ist dies eine Welt von Ideen, vielleicht die 
bedeutendste, die wir je kennen lernen werden; denn wir sind 
noch weit von ihrer Durchforschung entfernt. Es gibt also in 
dem Ausdruck „Ich fühle“ zwei Dinge, die darin gegenwärtig 
sind. Eine kleine neue psychologische Tatsache, eine kleine 
Lampe, die sich entzündet, das „Fühlen“, und eine riesige Menge 
von bereits geordneten Gedanken, das „Ich“. Diese beiden Dinge 
mischen und kombinieren sich, und wenn ich sage „Ich fühle“, 
so heifst das, dafs der mächtige Persönlichkeitsbegriff diese kleine 
neue, eben entstandene Empfindung ergriffen und in sich auf- 
genommen hat. Ich möchte wagen, den nicht ganz widersinnigen 
Vergleich anzustellen, dafs das „Ich“ ein äulserst gefräfsiges 
lebendes Wesen ist, eine Art „Amoebe“ die einen Fortsatz aus- 
sendet, um ein ganz kleines Wesen, die winzige Empfindung, 
die an ihrer Seite entstanden ist, zu ergreifen und in sich auf- 
zunehmen“ (l. c. S. 31£.). 

Diese Arbeit der Einverleibung und Angliederung wiederholt 
sich bei jeder Empfindung, die in uns entsteht, und vollzieht 
sich daher während der Dauer des Wachens ununterbrochen, 
Jeder Empfindungsvorgang spielt sich in zwei, auch zeitlich von- 


I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 153 


einander getrennten Stadien ab. Zunächst entstehen, jedoch 
stets unterhalb der Bewulstseinsschwelle, die „Elementarempfin- 
dungen“. „Zweiter Zeitraum: Es vollzieht sich eine Vereinigung 
„und Zusammensetzung der Elementarphänomene; sie werden 
„untereinander und mit dem weiten vorhandenen „Ich“-Bewulst- 
„sein verknüpft. Nach dieser Arbeit, nach dieser Einverleibungs- 
„tätigkeit können wir erst den Satz aussprechen: „Ich fühle.“ 

Liegt nun, wie bei der Hysterie, eine Schwäche des „Ich“- 
Bewulstseins vor, so nimmt die Zahl der „Elementarempfindungen“, 
welche dem „Ich“-Bewulstsein gleichzeitig einverleibt werden 
können, ab. 

Zunächst zwar tritt kein Ausfall in Erscheinung. Denn das 
Individuum vermag die verschiedenen Eindrücke noch sehr schnell 
nacheinander seinem „Ich“-Bewulstsein einzuverleiben. Erst wenn 
die seelische Veränderung im engeren Sinne, der Zerfall der 
Persönlichkeit, schon erhebliche Fortschritte gemacht hat, können 
Empfindungsstörungen auftreten. Ist das „Bewulstseinsfeld“ sehr 
eng geworden, so kann der Kranke nur noch die wichtigsten 
Elementarempfindungen seinem „Ich“-Bewulstsein einverleiben, 
wenn anders er nicht fortwährend hinter dem Lauf der Dinge 
zurückbleiben soll. Er gewöhnt sich immer mehr daran, Tast- 
und Muskelsinnsempfindungen, sowie die Empfindungen der 
Netzhautperipherie, welche ihm entbehrlicher erscheinen, nicht 
mehr ins „Ich“-Bewulstsein aufzunehmen. Hätte er auch anfangs 
jene Empfindungen noch ins Bewulstseinsfeld aufnehmen können, 
so weisen doch die Anforderungen des praktischen Lebens fort- 
während in anderer Richtung, indem sie den Kranken zwingen, 
sein enges Bewulstseinsfeld für die praktisch wichtigeren Ein- 
drücke zu reservieren. Hieraus entwickelt sich mit der Zeit eine 
feste Gewohnheit, unter deren Herrschaft der Kranke schlielslich 
überhaupt nicht mehr imstande ist, jene so lange und so stark 
vernachlässigten Eindrücke seinem „Ich“-Bewulstsein einzuver- 
leiben. Die Zerstreutheit hat sich in Anästhesie verwandelt. 

JANET macht den Versuch, aus der Betrachtung des Ent- 
wicklungsganges der Hysterie die Beweise für die Richtigkeit 
dieser Konstruktion zu schöpfen. Im Anfang sollen Empfindungs- 
störungen nicht vorhanden sein. Auffallend sei hier nur die 
Gleichgültigkeit und Zerstreutheit gegenüber allem, was in den 
Bereich des Empfindungslebens gehört. In der zweiten Periode 
(bei den Spitalskranken 18.—25. Lebensjahr) seien die Anästhesien 


154 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


noch veränderlich und durch Suggestion und Erregung um- 
zugestalten. Erst nachdem der psychologische „Zerfallsvorgang“, 
die Krankheit des „Ich“-Bewulstseins, seine Höhe erreicht hat, 
nehmen die Empfindungsstörungen ausgeprägtere und konstantere 
Formen an. 

Dies ist der Punkt, an welehem Bınswanger! den Hebel 
seiner Kritik ansetzt. Nach seinen Erfahrungen entspricht diese 
schematische Gliederung der Empfindungsstörungen nach den 
Entwicklungsstadien der Hysterie nicht der Wirklichkeit. Jene 
Stigmata gelangen auch bei infantiler Hysterie zur Beobachtung 
(l. ec. S. 787), und sie sind ferner, gleichgültig in welchem Lebens- 
alter die Erkrankung ausbrechen mag, oft eines der am frühesten 
nachweisbaren Symptome, ja sie können das einzige zurzeit 
nachweisbare hysterische Symptom sein.” Sie finden sich bei 
ganz leichten und mittelschweren Fällen, bei denen kein Grund 
vorliegt, das Bestehen einer tiefgreifenden seelischen Veränderung, 
einen Zerfall der Persönlichkeit im Sinne JAnETs, anzunehmen. 

Hauptsächlich auf Grund derartiger Erfahrungen gelangt 
BinswanGER zu einer Auffassung vom Wesen der Hysterie, welche 
von derjenigen Janets wesentlich abweicht. Gibt es „elementare 
hysterische Krankheitssymptome, die „ganz für sich allein, ge- 
wissermassen losgelöst von jedem psychischen Elemente, bestehen 
können“ (l. e. S. 11), so läfst sich die Konstruktion, welche alle 
Erscheinungen aus der Abänderung einer hypothetisch ange- 
nommenen Funktion des höchsten Seelenlebens ableitet, nicht 
aufrecht erhalten. Jener mehr oder weniger vollständige Aus- 


! Die Hysterie. Spec. Path. u. Ther. 12. Bd. 1. Hälfte, 2. Abt. Wien 
1904. Von anderen Autoren, welche ähnliche Anschauungen vertreten, bzw. 
der Bmswangerschen Lehre zustimmen, seien CRAMER und ZIEHEN genannt. 

® So berichtet BiwswanGer (l. c. S. 812) u. a. über folgenden Fall: Es 
wird ihm eine junge Dame zugeführt, die angeblich durch eine an- 
strengende Ballsaison und gemütserschütternde Ereignisse nach Mitteilung 
des Hausarztes ganz akut an Hysterie erkrankt ist. Aufser ticartigen 
Zuckungen im linken Facialisgebiet, Tremor, choreiformen Bewegungs- 
störungen, bestanden ausgeprägte psychische Symptome, wie motivloser 
Stimmungswechsel, Weinausbrüche usw. Zufälligerweise hatte BınswangER 
Gelegenheit gehabt, das junge Mädchen vier Jahre früher zu untersuchen, 
zu einer Zeit, da noch niemand an das Bestehen einer Hysterie dachte. 
Die junge Dame klagte bei Gelegenheit eines Besuches ihrer damals in 
klinischer Behandlung befindlichen Tante über migräneartigen Kopfschmerz. 
Die Untersuchung ergab bei bilateral-symmetrischer Prüfung schon damals 
eine ausgesprochene, linksseitge kutane Hypästhesie und Hypalgesie. 


I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 155 


fall im Gebiete Empfindungen läfst sich, wenn man künstliche 
Umdeutungen vermeidet, nicht anders auffassen, als ein Symptom 
einer „A- bzw. Hypofunktion in bestimmten funktionellen Rinden- 
zentren“. Die Hysterie kann schwerlich den Geisteskrankheiten 
im engeren Sinne zugerechnet werden; auf keinen Fall handelt 
es sich bei ihr um eine „isolierte Veränderung einer ganz be- 
sonderen Geistestätigkeit“. Die hysterische Veränderung ist 
gleich der neurasthenischen von sehr viel allgemeinerer Art: 
sie kann sich auf sehr verschiedenartige Gebiete und Funktionen 
der Rinde erstrecken, und sie hat es keineswegs ausschlielslieh 
mit den Vorgängen im höchsten Seelenleben zu tun. 

Einer der kräftigsten Stützpunkte der Lehre JanEts scheint 
noch der Tatsachenkreis der konzentrischen Gesichtsfeldeinengung 
zu sein. Auf diesem Gebiete — wir heben nur das später ein- 
gehender zu erörternde Orientierungsproblem hervor — vermag 
die Janersche Lehre — so scheint es beim ersten Anblick — den 
Einzelheiten leichter gerecht zu werden als die Deutung der Er- 
scheinungen als Symptom einer „A- bzw. Hypofunktion der 
Sinneszentren“. In der Tat wird die zu erwartende Orientierungs- 
störung ausbleiben, wenn die „Elementarempfindungen“, ent- 
sprechend der Annahme Jaxers, zur Regelung der Bewegungen 
auch dann ausreichen, wenn sie infolge der Störung jener syn- 
thetischen Funktion nicht mehr zur bewufsten Wahrnehmung 
gelangen. Allein dieser Vorzug der Janetschen Theorie dürfte sich, 
wie wir glauben, nur als ein scheinbarer herausstellen. 


Alle Erklärungsversuche der k. G. E. zeigen, wie mir scheint, — 
mit einer sogleich zu nennenden Ausnahme — entweder mit der 
einen oder der anderen dieser beiden Ansichten eine enge Ver- 
wandtschaft. 

Die Theorien, welche den Sitz der Störung in das periphere 
Sinnesorgan verlegen, und die die einzigen sind, welche sich 
diesem Schema nicht fügen, begegnen wohl gegenwärtig all- 
seitigem Widerspruch. Sowohl die Anschauung von GRAEFES!, 
welcher eine Erkrankung der äufseren Schichten der Netzhaut 
annahm, wie die Theorie von WıLsRAnD?, der eine durch zentri- 


! Vorträge aus der v. Grarreschen Klinik, zusammengestellt von 
EngerHarpr. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 1865, S. 265. 

2 WILBRAND und SAENGER, Über Sehstörungen bei funktionellem Nerven- 
leiden. Leipzig 1892. Wırsranp: Die Erholungsausdehnung des Gesichts- 


156 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


fugale Einflüsse eintretende Herabsetzung der Assimilations- 
prozesse in der Netzhaut behauptet, ist nur an einzelnen Er- 
scheinungen orientiert; der Mehrzahl der Einzelheiten, welche 
an dem Symptom der k.G.E. zu beobachten sind, werden diese 
beiden Theorien nicht gerecht. Dasselbe gilt von der Vermutung 
v. BECHTEREWS 1, der auf Grund allgemeinerer Erwägungen die 
k. G. E. auf eine durch sensible Hypästhesie bedingte Anämie 
der Netzhaut zurückführen zu können glaubt. 

Die Autoren, welche die k. G. E. auf A.- bzw. Hypofunktion 
von nervösen Zentren oder Leitungsbahnen zurückführen, gehen 
bei der näheren Durchführung dieser Grundansicht in ihren An- 
schauungen auseinander. Wir werden innerhalb dieser grölseren 
Gruppe zwei kleinere zu unterscheiden haben, von denen die 
eine positive Behauptungen aufstellt, während die andere diese 
Behauptungen als unzureichend nachzuweisen sucht, ihrerseits 
aber auf die Aufstellung positiver Ansichten verzichtet, da das 
Wesen der einschlägigen Erscheinungen hierzu noch nicht in hin- 
reichender Weise geklärt sei. 

Die Anschauung, welche die k. G. E. bei Hysterie nicht als 
eine primäre Störung der Empfindung, sondern als einen Aus- 
fluls einer krankhaften Abänderung höherer psychischer Funktionen 
ansieht, hat gleichfalls zwei wesentlich verschiedene Ausprägungen 
erfahren. Die zugrunde liegende Störung ist nach der einen 
Ansicht formaler Art. Hierher gehört die Lehre Janets von der 
Schwäche der „Ich“-Wahrnehmung und dem dadurch herbei- 
geführten „Mangel an psychologischer Synthese“. Aulser dieser 
speziellen Ausprägung der formalen Ansicht ist noch diejenige 
von FR. ScHuLtzE? zu nennen, welcher die k. G.E. lediglich als 
ein Symptom einer Aufmerksamkeitsstörung ansieht, als einen 
Ausfluls der Unfähigkeit, sich auf eine vorgelegte Aufgabe zu 
konzentrieren. Diese Ansicht wird in der Gegenwart, soviel ich 
sehe, nur in sporadischer und fragmentarischer Weise von einzelnen 
Autoren vertreten, insofern, als man bei der Besprechung ein- 
zelner Seiten der k. G. E. zuweilen auf die Möglichkeit ihrer Er- 


feldes usw. Wiesbaden 1896. Wırsrann: Über die Gesichtsfeldmessung am 
Dunkelperimeter. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurolog. 1. 

1 Über die Wechselbeziehung usw. Neurologisches Zentralbl. 1894. S. 252 
u. 297. 

2? Weiteres über Nervenkrankheiten nach Trauma. Deutsche Zeitschr. f. 
Nervenheilk. 1891, 8. 445. 


I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 157 


klärung mit Hilfe von Aufmerksamkeitsstörungen hinweist. Eine 
allgemeine und wesentliche Bedeutung für das Zustandekommen 
dem Symptoms wird dieser Ansicht gegenwärtig, soviel ich sehe, 
von keiner Seite zuerkannt. 

Die Herabsetzung der Fähigkeit, sich auf eine vorgelegte 
Aufgabe zu konzentrieren, ist sicherlich kein hervortretenderes 
Symptom der Hysterie, als der Neurasthenie. BInswanGEr z. B. 
beobachtet Aufmerksamkeitsstörungen vorwiegend bei Hystero- 
Neurasthenie und schreibt diese Erscheinungen in erster Linie 
den mit der Hysterie oft vergesellschafteten neurasthenischen 
Elementen zu (l. ce S. 307ff.). v. Fraser-Hochwart und 
ToroLanskı! konnten nun aber in ihren ausgedehnten und ein- 
gehenden Untersuchungen über die k. G. E. dieses Phänomen 
bei reiner Neurasthenie niemals entdecken, während es von sehr 
vielen Autoren als eines der konstantesten, von manchen vielleicht 
geradezu als das konstanteste Symptom der Hysterie angesehen 
wird. Hierzu kommt, dafs Kuırx ? neuerdings die Gesichtsfelder 
bei solchen Psychosen untersucht hat, bei denen die Herabsetzung 
der Aufmerksamkeit ein besonders hervortretendes Symptom dar- 
stellt. Kranke, welche infolge von epileptischen Dämmer- 
zuständen, epileptischer Demenz, alkoholischem Delirium an 
Aufmerksamkeitsstörungen litten, boten begreiflicherweise auch 
eine Einengung des Gesichtsfeldes dar; doch stellten sich bei 
dieser Form der k. G. E. gegenüber der bei Hysterie beobachteten 
typische Unterschiede heraus. Vor allem sei hervorgehoben, dafs 
die Gesichtsfelder dieser Patienten, entsprechend der stark 
wechselnden Intensität ihrer Aufmerksamkeit, im Gegensatz zu 
den Gesichtsfeldern bei hysterischer Einengung eine sehr zackige 
Begrenzung aufwiesen. Ganz ähnliche Gesichtsbilder ergaben sich 
bei Normalen, bei denen die Aufnahmen im Zustande absicht- 
licher Unaufmerksamkeit vorgenommen worden waren. 


Neben dieser formalen begegnen wir auch einer materialen 
Ausprägung der (im engeren Sinne) psychogenen Theorie. In 
dieser Weise wird man ja eine Anschauung charakterisieren 
können, welcher den Grund der k. G. E. nicht in einer Störung 


1 Zur Kenntnis der Augensymptome bei Neurosen. Beitr. zur Augen- 
heilkunde, herausgeg. von DEUTSCHMANN, Bd. 2. 1893. 

2 Über die psychisch bedingten Einengungen des Gesichtsfeldes. Arch. 
f. Psychiatrie 42. 1907. 


158 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


des formalen Ablaufes gewisser psychischer Prozesse erblickt, 
sondern in der Herrschaft einer ganz bestimmten Vorstellung. 
Diese Anschauung wird vertreten von Kuren (l. c.) Dieser 
Autor fühlt sich durch seine experimentellen Untersuchungen zu 
der Hypothese gedrängt, dafs beim Hysterischen die Vorstellung 
des „Krankseins“ vorherrscht, und dals sich diese Vorstellung in 
dem Augenblick, in welchem der Kranke vor das Perimeter ge- 
setzt wird, zu der Vorstellung des „Schlechtsehenkönnens“* 
spezialisiert. Wir kommen auf die Ausführungen des genannten 
Autors an späterer Stelle zurück. 


Der Gang der Untersuchung zwingt den Verfasser, sehr 
gegen seinen Willen, zu einer Grenzüberschreitung des engeren 
Fachgebietes. Wenn im Folgenden eine Ansicht über das Wesen 
der k. G. E. entwickelt werden wird, so sei von vornherein be- 
merkt, dals dies nur mit derjenigen Zurückhaltung geschehen 
soll, welche in solchen Fällen geboten ist. In weiten Gebieten 
der psychiatrischen Forschung macht sich das Bestreben bemerk- 
bar, zum Verständnis der psychischen Krankheiten das normal- 
psychologische Experiment heranzuziehen. In einer solchen Zeit 
werden gelegentliche Grenzüberschreitungen auch von psycho- 
logischer Seite her wohl nicht ungerechtfertigt erscheinen. — Vor 
allem aber handelt es sich um eine Sache, die wir nicht tun 
oder lassen können. Die rein theoretischen Gesichtspunkte der 
Sinnespsychologie, von denen wir uns bei unseren Bestrebungen 
leiten lassen, enthalten einen Zwang zur Inangriffnahme jenes 
Problems. — 

Wer als Grund des Symptoms nicht mit Janet eine Er- 
krankung des „Ich“-Bewulstseins, sondern mit BmswAnGER eine 
„A- bzw. Hypofunktion“ des Sinneszentrums ansieht, kann sich die 
Genese der Erscheinung immer noch in zweifacher, fundamental 
verschiedener Weise vorstellen. 


Dafs der Patient nur mit der Fovea in einer dieselbe an- 
nähernd konzentrisch umgebenden Zone sieht, könnte man erstens 
durch die Annahme erklären, dafs die Herabstimmung der 
Funktion innerhalb des Sinneszentrums keine allgemeine, sondern 
nur eine lokale ist, und lediglich diejenigen Verbände von 
Nervenorganen betrifft, welche dem unempfindlichen Bezirk der 
Netzhautperipherie zugeordnet sind. 

Die k. G. E. würde nach dieser Anschauungsweise auf einer 


I. Kapitel. Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung usw. 159 


temporären funktionellen Herabstimmung oder Ausschaltung ganz 
bestimmter, örtlich begrenzter Bezirke der den optischen 
Funktionen dienenden Hirnteile, wahrscheinlich der Sehsphäre, 
beruhen. Die von der Peripherie her ausgelösten Wahrnehmungen 
sind nach dieser Anschauung gegenüber den von der Fovea 
und ihrer nächsten Umgebung herrührenden einfach unter- 
wertig, in stärkerem Malse, als diese unter normalen Verhält- 
nissen wohl auch der Fall ist. 

Das Charakteristische und Unterscheidende besteht in der 
Annahme, dafs gewisse — nur wegen der unvermeidlichen Fehler- 
quellen der Perimetriermethoden nicht mit unbedingter Sicher- 
heit angebbare, prinzipiell aber jedenfalls bestimmte — Ge- 
biete der Netzhaut ihre Empfindlichkeit einbüssen. Als Ursache 
der Störung kann man eine lokale Funktionsstörung der der 
Netzhautperipherie zugeordneten Rindengebiete annehmen. 


Jedoch ist die letztere Annahme durch die gekennzeichnete Ansicht 
nicht notwendig gefordert. Man könnte sehr wohl auch an einen über die 
ganze Sehsphäre diffus ausgebreiteten funktionellen Krankheitsprozef[s 
denken, wenn man die einigermalsen plausible Annahme 'hinzufügt, dafs 
die von der Peripherie herrührenden Wahrnehmungen, welche auch im 
normalen Zustande undeutlicher sind, als die durch die Fovea vermittelten, 
durch jenen Krankheitsproze[s auf einen noch viel tieferen Grad der Deut- 
Hehkeit herabgedrückt werden, als die von der Fovea oder den ihr benach- 
barten Partien ausgelösten Wahrnehmungen. Da aber die Sehschärfe der 
Fovea nicht in allen Fällen, sondern nur in einem Teil derselben herab- 
gesetzt ist (Anaesthesia retinae), so mülste man es auf dem Boden dieser 
Anschauung doch wenigstens als wahrscheinlich bezeichnen, dafs die 
zugrundeliegende Funktionsstörung nicht diffuser, sondern lokaler Art ist. 


Die Anschauung, dafs es sich bei der k. G. E. um eine 
primäre Aufhebung der Empfindlichkeit der Netzhautperipherie 


handele, — mag nun die zugrundeliegende Störung im Zentral- 
organ lokaler oder diffuser Art sein — tritt zuweilen, nament- 


lich in der ophthalmologischen Literatur, in Gestalt einer der 
Diskussion gar nicht bedürftigen Voraussetzung auf. 

Wenn man nur — so pflegt ohne weiteres angenommen zu 
werden — darauf achtet, dals im Auge des Patienten jederzeit 
gleiche, d. h. gleichgestaltete, gleichgrofse und gleichhelle Netz- 
hautbilder entstehen, so mufs sich immer dieselbe Kurve inner- 
halb der Netzhaut als Trennungslinie zwischen dem empfindenden 
und nichtempfindenden Gebiet ergeben, wie auch immer die Peri- 
metriermethoden in ihren sonstigen, sekundären Eigenschaften von- 


160 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


einander abweichen mögen. Ergeben sich jedoch bei Variierung 
dieser sekundären Faktoren ungeheure und konstante Differenzen 
zwischen den am selben Individuum und annähernd zur selben Zeit 
ermittelten Gesichtsfeldgrenzen, so ist, wenn der Einflufs von Er- 
müdung ausgeschlossen werden kann, diese Erscheinung allzu- 
dunkel, als dafs man nicht an die Erklärung denken mülste, dafs das 
untersuchte Individuum einfach lügt. „Um aber der Objektivität der 
„Gesichtsfeldverengung sicher zu sein, muls diese eben den 
„sonstigen physikalischen Gesetzen folgen: vor allem also bei 
„kampimetrischen Messungen je nach der Entfernung des Auges 
„vom Fixationspunkt eine entsprechende Anderung der Aus- 
„dehnung zeigen.“' Die k.G. E. kann unmöglich den elementarsten 
Naturgesetzen widersprechen. 

Dieser Auffassung wird nun von einer grolsen Anzahl von 
Autoren, namentlich von solchen, welche dem neurologischen 
und psychiatrischen Spezialgebiet angehören, aufs eifrigste wider- 
sprochen. Unter Hervorhebung des fragmentarischen Charakters 
unseres psychologischen Wissens im allgemeinen, mit dem Hin- 
weis auf unzweifelhaft festgestellte, mit jener Theorie unverträg- 
liche Tatsachen im besonderen, wird vor voreiligen Schlufs- 
folgerungen gewarnt. Die Berufung auf die physikalischen Ver- 
suchsbedingungen sei nicht statthaft, weil bei der Genese der 
k. G. E. psychische Gesetze beteiligt sein könnten, von denen 
wir gegenwärtig keine Kenntnis besitzen. — 

Wir fühlen uns gedrängt, darauf hinzuweisen, dafs das 
A. F. G. eine Nötigung enthält, das Problem der k. G. E. von 
neuem in Angriff zu nehmen. 


Das A. F. G. lehrt ja, dafs ein- und dieselbe Netzhautstelle, 
wenn sie von ein- und demselben Netzhautbild betroffen wird, 
Empfindungen von sehr verschiedener Deutlichkeit liefert, je 
nachdem die scheinbare Entfernung des Testobjektes vom 
Fixierpunkt relativ grofs oder relativ klein ist. Dieser Einflufs 
der scheinbaren Gröfse machte sich aber nicht etwa erst bei sehr 
erheblichen Werten derselben geltend, sondern bereits in Fällen, 
wo die in Betracht kommende scheinbare Gröfse durchaus, oder 
noch nicht einmal, der bei den perimetrischen Untersuchungen 


! Scumipr-RınrLer, Über Gesichtsfeldermüdung und Gesichtsfeldein- 
engung, mit Berücksichtigung der Simulation (Wiener Med. Wochenschr. 
45. Jahrg. 1895, Nr. 43). 


I. Kapitel. Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung usw. 161 


in Betracht kommenden entsprach (Kostersches Gesetz). Dals 
wir ein Objekt undeutlicher wahrnehmen, wenn es sich auf der 
Peripherie abbildet, als dann, wenn der Lichtreiz die Fovea trifft, 
hängt, wie das A. F. G. und das K. G. lehrt, im allgemeinen 
nicht nur von der Beschaffenheit des Aufnahmeorgans ab, sondern 
es sind hieran auch die besonderen Eigentümlichkeiten des 
Zentralorgans beteiligt. Die Undeutlichkeit von Wahrnehmungen 
mittels der Netzhautperipherie setzt sich im allgemeinen aus 
zwei Komponenten zusammen. Die von der Netzhautperipherie 
gelieferten Wahrnehmungen wären wahrscheinlich auch dann 
undeutlicher, wenn sich jene zweite, sicher zentrale Komponente 
völlig ausschalten liefse. Denn die Undeutlichkeit der peripheren 
Wahrnehmungen dürfte sicher ihren Grund zum guten Teil in 
der relativen Armut und mangelhaften Entwicklung der Auf- 
nahmeapparate, sowie ihrer nervösen Fortsetzungen und End- 
stationen haben. Die „II. Komponente“ hat mit der individuellen 
Beschaffenheit der Aufnahmeapparate und ihrer Fortsetzungen 
gar nichts zu tun. 

Die Deutlichkeit der Wahrnehmungen konnte bei den Unter- 
suchungen über das A. F. G. innerhalb weiter Grenzen ver- 
ändert werden, wenn ganz allein Konstellationsverschiedenheiten 
eingeführt wurden, von denen allein die „II. Komponente“ be- 
troffen wurde, während die getroffenen Netzhautstellen dieselben 
und das Netzhautbild das gleiche war. 

Aus den Ergebnissen der experimentellen Untersuchung geht 
also hervor, dafs die Sehschärfe einer bestimmten Netzhautstelle 
eine Funktion nicht nur von einer, sondern von zwei 
unabhängigen Variabeln ist. Nach der herkömmlichen Ansicht 
ist sie eine Funktion nur von einer unabhängigen Variablen, 
der funktionellen Tüchtigkeit der an der betreffenden Netzhaut- 
stelle befindlichen Aufnahmeapparate, der zugehörigen nervösen 
Leitungsbahnen und zentralen Endstationen.! 

Auch wenn die funktionelle Tüchtigkeit der Aufnahmeapparate 
samt ihrer Fortsetzungen und zentralen Endstationen in allen 
Zonen der Netzhaut die gleiche wäre, würden die Wahrnehmungen 
der Peripherie hinter denen der Fovea unter dem Einflufs 


! Diese Komponente werden wir im folgenden im Gegensatz zu der 
anderen die „I.“ nennen. Wir können auch von der „virtuellen“ Sehschärfe 
der Netzhautperipherie sprechen (vgl. S. 162). 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 11 


162 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


jener „II.“, sicher zentralen Komponente an Deutlichkeit zurück- 
bleiben. 

Wenn nun in einem Falle nervöser Erkrankung die Fähig- 
keit der Netzhautperipherie, Wahrnehmungen zu vermitteln, 
herabgesezt ist, so erhebt sich für jeden, der mit dem Inhalt 
des A. F. G. vertraut ist, die gebieterische Frage: welche der 
beiden Komponenten ist für die Gesichtsfeldeinengung verant- 
wortlich zu machen? Einmal nämlich wäre es denkbar, dafs die 
Aufnahmeapparate, bezw. ihre Fortsetzungen und zentralen End- 
stationen, von einer bestimmten Zone der Peripherie an eine 
derartige Funktionsstörung erfahren haben, dafs sie nun aufser- 
stande sind, Erregungen in normaler Weise aufzunehmen und 
weiterzuleiten. Nur um den Inhalt dieser Hypothese ganz deut- 
lich hervortreten zu lassen, erlauben wir uns für einen Augen- 
blick die Fiktion, es wäre möglich, durch eine — natürlich un- 
ausführbare — Operation einen derartigen exzentrischen Auf- 
nahmeapparat in den Bereich der Makula zu verlegen, wobei 
der Aufnahmeapparat mit denselben Nervenfasern verbunden 
bleiben soll wie zuvor. Im Falle der Richtigkeit der genannten 
Hypothese würde jener Aufnahmeapparat seine Empfindlichkeit 
natürlich nicht wiedererlangen. Denn die Unempfindlichkeit 
dieses Apparates, bzw. dieses Systems, ist nach der in Rede 
stehenden Hypothese gegründet in seiner inneren Natur. Be- 
zeichnen wir die Sehschärfe, welche ein Netzhautelement im 
Falle der Transposition in den Bereich der Makula zeigen würde, 
als „virtuelle“ Sehschärfe, so ist nach jener Hypothese die 
„virtuelle“ Sehschärfe im wesentlichen der „wirklichen“ gleich; 
auch die erstere ist gleich Null oder nahezu gleich Null. Zweitens 
ist aber auch eine ganz andere Möglichkeit denkbar. Erinnern 
wir uns daran, dafs die Undeutlichkeit der von der Netzhaut- 
peripherie herrührenden Empfindungen nach dem A. F. G, 
namentlich bei beträchtlicher scheinbarer Gröfse des Objektes, 
schon beim Normalen z. T. daran liegt, dals nur ein relativ be- 
schränktes Gebiet gleichzeitig mit dem Fixierpunkt deutlich ge- 
sehen werden kann! Die k. G. E. könnte nun darauf beruhen, 


1 Völlige Gleichheit der beiden Werte wird man auch vom Standpunkt 
dieser Hypothese nicht voraussetzen dürfen, weil infolge der nach dem 
A.F.G. schon normalerweise bestehenden relativen Unüberschaubarkeit 
die wirkliche Sehschärfe hinter der virtuellen ein wenig zurückbleiben wird. 


I. Kapitel. Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung usw. 163 


dafs der Bezirk, welchen ein derartiger Kranker gleichzeitig mit 
dem Fixierpunkt deutlich sehen kann, noch geringer ist als beim 
Normalen. Die scheinbare Unempfindlichkeit gewisser Netzhaut- 
elemente, bzw. ihrer Fortsetzungen, wäre eine Folge der Lage 
der betreffenden Aufnahmeapparate, nicht aber eine Folge der 
inneren Beschaffenheit. Gelänge es, jene fingierte Operation 
auszuführen, oder auch nur eine lokale Konzentration der Auf- 
merksamkeit auf die exzentrischen Stellen vorzunehmen, wäre 
man m. a. W. in der Lage, die „virtuelle“ Sehschärfe zu prüfen, 
so könnte sich deren Wert von dem der „wirklichen“ Sehschärfe 
sehr wohl erheblich unterscheiden. Behalten wir unsere bisherige 
Terminologie bei, so könnte man im Falle der Richtigkeit dieser 
Annahme sagen, dafs nicht die „IL“, sondern die „II. Komponente“ 
der Sehschärfe für die Störung verantwortlich sei. Trifft die 
angedeutete Hypothese zu, beruht das Symptom darauf, dafs 
der Kranke nun weniger gleichzeitig zu überschauen vermag, 
wie der Normale, so brauchen wir darum keineswegs mit JANET 
die Annahme zu machen, dafs die k. G. E. einer zugrunde 
liegenden Psychose, einer Erkrankung der „Ich-Wahrnehmung“ 
entspringe. Wir mülsten vielmehr mit BrwswAngeEr eine „Hypo- 
funktion“ im Bereiche von Sinneszentren für die k. G. E. ver- 
antwortlich machen; denn es hat sich gezeigt, dafs der ganz 
Normale bei Prüfung mit entfernten und scheinbar ausgedehnten 
Objekten gleichfalls eine k. G. E. (im damals angegebenen Sinne) 
besitzt, und natürlich kann hier bei der Fernprüfung nicht plötz- 
lich eine „Ich“-Schwäche auftreten. 

Um Mifsverständnissen vorzubeugen, betonen wir mit be- 
sonderem Nachdruck, dafs im folgenden Ausdrücke wie „Be- 
einträchtigung des Überschauens“, „Abänderung der II. Kom- 
ponente der Sehschärfe* und dergl., immer nur besagen wollen, 
der Kranke könne weniger gleichzeitig deutlich sehen wie ein 
Normaler. Nur die Frage, ob das tatsächlich der Fall ist, soll 
uns hier beschäftigen. Ich lege aber ausdrücklich dagegen Ver- 
wahrung ein, dafs man in den genannten Bezeichnungen schon 
Hypothesen über den Ursprung der Beeinträchtigung des Über- 
schauens erblickt. Der erste der beiden Ausdrücke z. B. meint 
also keineswegs, dafs eine optische Aufmerksamkeitsstörung! vor- 
liege, ebensowenig wie der zweite die Voreingenommenheit er- 
ı vgl. $ 6. 

11* 


164 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


zeugen will, die Störung beruhe nicht auf der Abänderung eines 
besonderen Aufmerksamkeitsvorganges, sondern auf einer gegen- 
seitigen Beeinflussung der Empfindungen selbst. Der tiefere 
Grund für die Beeinträchtigung der Funktion des Überschauens 
kann in der nachfolgenden Untersuchung völlig dahingestellt 
bleiben. 

Die k. G. E. bei Hysterie wäre — die Richtigkeit der ge- 
nannten Hypothese vorausgesetzt — in einem gewissen Sinne 
ein Kunstprodukt. Die scheinbare Unempfindlichkeit der Netz- 
haut von einer gewissen Zone an würde darauf beruhen, dafs 
die Aufmerksamkeit des perimetrierten Kranken auf den Fixier- 
punkt gerichtet sein mufs, und dafs er wegen der „Abänderung 
der „I. Komponente“ das vom Fixierpunkt bis zum Testobjekt 
reichende Gebiet des Perimeters innerhalb der Präsenzzeit nicht 
mehr zu überschauen vermag. 

Wie der Entscheid ausfallen mag, der Inhalt des A. F. G. 
und des K. G. nötigt uns diese Frage aufzuwerfen. Man wird 
ferner nicht behaupten können, dals diese Untersuchung darum 
überflüssig wäre, weil die Richtigkeit der herkömmlichen An- 
schauung von dem alleinigen Beteiligtsein der „I. Komponente“ 
so selbstverständlich sei, dafs daran niemals gerüttelt werden 
könne. Die „Il. Komponente“ ist sicher zentralen Ursprungs. 
Warum soll sie bei einer Erkrankung, deren vorwiegend 
zentraler Charakter über jeden Zweifel erhaben ist, nicht 
affıziert sein ? 

Trotz der relativ geringen Zahl der Beobachter ergab sich 
im experimentellen Teil schon eine erhebliche Verschiedenheit 
in der Ausgeprägtheit des Augent-Foersterschen Phänomens bei 
verschiedenen Individuen. Warum also sollte diese Komponente, 
die wahrscheinlich schon auf ziemlich komplizierten psycho- 
physischen Prozessen beruht, nicht eine abnorme Grölsenänderung 
erfahren können, da doch schon der Versuch an wenigen nor- 
malen Individuen so erhebliche individuelle Differenzen zutage 
fördert? Man wird zugeben, dals vor Nachprüfung der Tatsachen 
das Beteiligtsein der „II. Komponente“ nicht für unwahrschein- 
licher erklärt werden darf als das der „I“. 

Wir wollen zunächst, um uns in der Folge kürzer aus- 
drücken zu können, eine Festsetzung treffen. Die Hypothesen 
über die k. G. E. sollen als „Hypothese I“ bzw. „Hypothese II“ 
bezeichnet werden, je nachdem die „I“. oder die „II“. Kompo- 


166 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Reiz direkt auf die Nervenfasern ein, und die Leitungsunter- 
brechung komme nicht zur Geltung. ! 

Gegen die periphere Bedingtheit der k. G. E. bei Hysterie 
sind so zahlreiche und so triftige Gründe ins Feld geführt worden, 
dafs man heute unmöglich auf die theoretischen Anschauungen 
von GRAEFES zurückgreifen kann. Aber die von ihm beobachtete 
Tatsache bleibt bestehen, und die Theorien, welche den zentralen 
Ursprung der k. G. E. behaupten, müssen sich mit ihr abfinden. 

Es ist schwer zu begreifen, wie dies der „Hypothese I“ ge- 
lingen soll. Man wird sich nur schwer zu der unwahrschein- 
lichen Annahme entschliefsen können, dafs das Druckphosphen 
heller sei, stärker vom Grunde kontrastiere und darum die Auf- 
merksamkeit im höheren Grade auf sich ziehe, als das weilse 
Testobjekt auf dem schwarzen Grunde des Perimeters. Pur- 
KINJE ?, dessen Aussagen in allen subjektive Beobachtungen be- 
treffenden Fragen so grolses Gewicht besitzen, bezeichnet die 
Druckbilder stets als „matt“-leuchtende Figuren. Ist die Hellig- 
keit der Bilder schon eine relativ geringe, wenn ein höchst er- 
fahrener und ganz speziell eingeübter Forscher die Erscheinung 
im Interesse wissenschaftlicher Beobachtung an seinem eigenen 
Auge mit möglichster Deutlichkeit hervorruft, so wird das um 
so eher dann der Fall sein, wenn der Arzt das Druckphosphen 
zum Zwecke der Untersuchung an einem — wirklich oder ver- 
meintlich — erkrankten und schonungsbedürftigen Sehorgan aus- 
löst, und wenn das Auge noch dazu unterempfindlich ist. So 
finden wir denn auch bei Schmipr-Rımpter (Die Erkrankungen usw. 
S. 263), welcher auf dem Boden der „Hypothese I“ steht, und 
die v. Grarresche Beobachtung auch anführt, für diese merk- 
würdige Tatsache keine Erklärung. 

Der „Hypothese II“ bereitet dieses Phänomen keine Schwie- 
rigkeiten. Das Abhandenkommen, bzw. die Verminderung der 
Fähigkeit, ein Feld von gewisser — wirklicher oder scheinbarer — 
Ausdehnung simultan zu überschauen, kann eben nur bei der 
perimetrischen Untersuchung in Erscheinung treten, bei welcher 
diese Aufgabe an den Kranken herantritt, weil er hier gleich- 
zeitig den Fixierpunkt festzuhalten und zu beachten hat. 


1 Vorträge aus d. v. Grarreschen Klinik, zusammengestellt von ExGEL- 
HARDT. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 8, 1865, S. 262 ff. 

2? Beobachtungen und Versuche zur Physiol. der Sinne, 2. Bändchen, 
1825, S. 111 ff. 





I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 167 


b) Wir kommen zu einem zweiten Punkt. Von jeher hat 
es die untersuchenden Ärzte in Erstaunen gesetzt, dafs Indivi- 
duen mit hochgradiger Gesichtsfeldeinengung keinerlei Störung 
im Gebiete des räumlichen Orientierungsvermögens darbieten, 
dafs sie sich nicht minder geschickt und unbehindert im Raume 
bewegen, wie der Gesunde, während Patienten mit anscheinend 
geringeren Gesichtsfelddefekten, aus peripherer oder anderweitiger 
organischer Ursache, eine sehr merkbare Beeinträchtigung dieser 
Fähigkeit erfahren. 

Diese Erscheinung wird von fast sämtlichen Autoren, die sich 
mit der k. G. E. beschäftigt haben — auch von den deutschen — 
als besonders überraschend und beachtenswert hervorgehoben. 
Hören wir, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Schilderung 
von Jaxer (l. c. S. 15 ff): 

„Es gibt eine den Augenärzten wohl bekannte Erkrankung, 
. „die Retinitis pigmentosa, die in einer fortschreitenden zentri- 
„petal vorrückenden Sklerose der Netzhaut besteht. Es ist selbst- 
„verständlich, dafs eine derartige Erkrankung eine fortschrei- 
„tende und konzentrische Einengung des Gesichtsfeldes erzeugt. 
„Die Kranken werden dadurch in eine furchtbare Lage versetzt. 
„Sie können sich nur mit Mühe auf der Strafse bewegen und 
„machen fortwährende Anstrengungen, das Auge, dessen Ge- 
„sichtsfeld eingeschränkt ist, nach allen Richtungen hin zu be- 
„wegen. Kommen derartige qualvolle Zustände auch bei Hyste- 
„rischen vor? Müssen auch sie ihre Gesichtsfeldeinschränkung 
„durch krampfhafte Bewegungen des Augapfels auszugleichen 
„trachten? Ganz im Gegenteil; ich habe oft junge Mädchen, die 
„ein auf 5° eingeengtes, nahezu punktförmiges Gesichtsfeld hatten, 
„ganz so wie Gesunde, im Hof Ball spielen gesehen. Sie ver- 
„folgen den Ball in der Luft und erhaschen ihn im Fluge, 
„während ein an Retinitis pigmentosa leidender Kranker mit 
„einem Gesichtsfeld von 15° sich kaum auf der Stralse halten 
„kann.“ 

WILBRAND (l. c.), der die k. G. E. nicht für ein rein zentrales 
Symptom hält, glaubt allerdings jene merkwürdige Tatsache er- 
klären zu können. Nach seiner Hypothese findet bei Hysterie 
ein hemmender Einflufs auf die Ursprungsstellen der zentrifugal- 
leitenden optischen Bahnen statt, unter dessen Herrschaft die 
Produktion der für die Netzhautprozesse erforderlichen chemischen 
Substanzen, sei es bezüglich der Menge oder der Qualität, unzu- 


168 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


reichend wird. Dalfs sich diese Unterwertigkeit nur am Perimeter 
zeigt, in den Handlungen der Kranken aber nicht merkbar wird, 
liegt nach Wınsranp an dem ständigen Wechsel zwischen Licht 
und Schatten, welcher bei der Bewegung im Raum auch für die 
„unterwertige Netzhaut“ jederzeit ausreichende Erholungsmomente 
herbeiführt. 

Nun ist freilich die Grundansicht von W., welche nur an 
einer kleinen Gruppe, noch dazu recht vieldeutiger Erscheinungen, 
gebildet ist, die überwiegende Mehrzahl der Einzelheiten aber 
nicht zu erklären vermag, nahezu einstimmig zurückgewiesen 
worden. Aber selbst wenn jene Theorie zu dem Gros der Er- 
scheinungen besser stimmte, als es in Wirklichkeit der Fall ist, 
so mülsten wir uns wohl der Ansicht DeuTscHmanns anschlielsen, 
welche BinswAnGer (l. c. S. 216) im zustimmenden Sinne zitiert: 
„Wenn eine Patientin mit allgemeiner Einengung bis auf 5° 
„trotzdem in einem Saale sich gut orientieren kann, so ist das 
„nicht auf den Wechsel von Licht und Schatten oder das Sehen 
„grolser Objekte zu beziehen, sondern es beruht auf der Eigen- 
„heit der hysterischen Erkrankung.“ 

Sehen wir noch etwas genauer zul 

Die Gesichtsfeldperimeter pflegen an der dem untersuchten 
Auge zugekehrten Seite geschwärzt zu sein. Als Testobjekt be- 
dient man sich einer hellen Marke (z. B. v. FRANKL-HOCHWART 
und TopoLanskı: weilses Quadrat von der Seitenlänge 1 cm) 
Nur selten werden sich unter den gewöhnlichen Verhältnissen 
des täglichen Lebens Gegenstände auf der Netzhautperipherie 
abbilden, welche ebenso stark vom Hintergrunde kontrastieren 
und darum gleich günstige Bedingungen für ihre Wahrnehm- 
barkeit darbieten. — Allerdings ist das Netzhautbild, welches 
von der Marke geliefert wird, in der Regel kein sehr grolses. 
Bei v. F.-H. u. T. z. B., denen wir eine besonders ausgedehnte 
und eingehende Untersuchung über die k. G. E. verdanken, er- 
schien die 1 qem grofse Marke in der Entfernung von 35 cm, 
da der Durchmesser des von jenen Forschern benutzten Peri- 
meters 70 cm betrug. Es muls zugegeben werden, dals im ge- 
wöhnlichen Leben oft gröfsere Bilder auf der Netzhautperipherie 
entworfen werden. 

Nun ist es allerdings eine seit langem bekannte Tatsache, 
dafs in der Fovea die Wahrnehmbarkeit von Lichtreizen nicht 
nur von ihrer absoluten Intensität und dem Kontrast gegenüber 


I. Kapitel. Nuchweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 169 


dem Hintergrunde abhängt, sondern auch von der räumlichen 
Ausdehnung des Lichtreizes. Dieser Satz gilt aber in dieser 
Allgemeinheit, wie PırEr! gezeigt hat, nicht für die Netzhaut- 
peripherie. Dieser Autor falst das Ergebnis seiner Unter- 
suchungen über die periphere Sichtbarkeit von hellen Quadraten 
verschiedener Grölse dahin zusammen, dafs der Reizwert eines 
Objektes für die dunkeladaptierte Netzhautperipherie nicht nur 
mit der ausgestrahlten Lichtintensität, sondern auch mit der 
Flächengröfse seines Netzhautbildes deutlich und nicht unerheb- 
lich? zu- resp. abnimmt, dafs dagegen im Falle der helladap- 
tierten Netzhautperipherie die absolute Unterschiedsschwelle nur 
eine Funktion der Lichtintensität ist, von einer Änderung der 
Flächengröfse des Objektes dagegen nicht betroffen wird.® 


I Abhängigheit des Reizwertes leuchtender Objekte von ihrer Flächen- 
bzw. Winkelgröfse. Zeitschr. f. Psychol. 32. Daselbst auch Bericht über 
die Literatur betreffs der entsprechenden Verhältnisse in der Fovea. 

® Der Reizwert eines Objektes für die dunkel adaptierte Netzhaut- 
peripherie wächst proportional mit der Quadratwurzel der Flächengröfse 
des Netzhautbildes an. 

® Im Widerspruch zu diesem Satze scheint ein Ergebnis von AUBERT 
und FoERSTER zu stehen, wonach die Gröfse der Zonen, innerhalb deren 
die Getrenntheit zweier Punkte wahrgenommen wird, nicht nur von der 
Distanz dieser Punkte, sondern auch von ihrer Gröfse abhängt. PIPER 
sucht den Widerspruch durch den Hinweis darauf zu lösen, dafs A. u. F. 
bei dieser Untersuchung von foveal abgebildeten Objekten allmählich zu 
solchen übergingen, deren Bilder mehr und mehr über das Gebiet der 
Fovea hinausgriffen. Allerdings sagt AuserT auf S. 245 seiner „Physiologie 
der Netzhaut“ bei der dem Bericht über die in Rede stehenden Versuche 
unmittelbar vorausgehenden Beschreibung des Perimeters, dafs man das 
Objekt vom Zentrum aus „allmählich nach der Peripherie schiebt“. In der 
Originalarbeit (A. und F., Untersuchungen über den Raumsinn der Retina. 
Arch. f. Ophth. 3, 2) wird aber auf S. 15 bemerkt, dafs die Objekte vom 
Rande aus nach dem Fixierpunkte hin bewegt wurden. — Die Untersuchungs- 
methoden von A. und F. einerseits, P. andererseits, unterscheiden sich aber 
in einer anderen wichtigen Hinsicht. Bei P. kommt es auf die blofse 
Wahrnehmung des „Erscheinens“ eines Objektes im Gesichtsfeld an, bei A. 
und F. dagegen auf das Erkennen einer bestimmten Einzelheit an dem be- 
reits als unzweifelhaft im Gesichtsfeld vorhanden wahrgenommenen Objekte, 
Vielleicht hängt mit dieser Verschiedenheit der Unterschied der Ergebnisse 
zusammen. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dafs sich das von P. be- 
nutzte Kriterium mit dem bei der klinischen Perimetriermethode benutzten 
genauer deckt, als das von A. und F. verwendete, und dafs somit für uns 
an dieser Stelle die Arbeit von P. mafsgeblicher sein mufs als diejenige 
von A. und F. 


170 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Eine Bestätigung erhalten unsere Überlegungen durch die 
erwähnte Beobachtung von Janet. Der Ball in der Luft liefert 
sicher kein so sehr ausgedehntes Netzhautbild, dals er lediglich 
wegen dieses Umstandes den Patientinnen, deren Gesichtsfeld 
am Perimeter eine so eminente Einengung aufweist, sichtbar 
werden könnte. 

Ferner ist zu beachten, dafs jene Kranken auch nicht ein- 
mal eine Andeutung einer Orientierungsstörung darbieten. 

Endlich liegt zu der Annahme kein Grund vor, dafs sich 
der Patient im Falle der perimetrischen Untersuchung und bei 
dem für die Orientierung in Betracht kommenden peripheren 
Sehen verschiedener Kriterien bediene. Ein solcher Einwand 
wäre berechtigt, wenn man am Perimeter die Bewegung erst in 
dem Zeitpunkt unterbräche, in welchem soeben deutlich die Emp- 
findung „Weifs“ hervorgerufen wird. Zum Zwecke der Orien- 
tierung hingegen kommt es nur auf das Bemerktwerden, nicht 
auf die Wahrnehmung der Qualitäten an. v. F.-H. und T. heben 
nun aber in ihrer Arbeit ausdrücklich hervor, dafs sie vom 
Patienten die Angabe verlangten, wenn er überhaupt zum ersten 
Male wahrnimmt, dafs sich am Rande des Gesichtsfeldes etwas 
bewegt, nicht aber, wenn ein „weilses“ Blättchen gesehen wird. 

Besteht aber das primäre Symptom der k. G.E. gar nicht 
in einer Hypofunktion der Netzhautperipherie (im Sinne einer 
Beeinträchtigung der ersten Komponente) oder der ihr ent- 
sprechenden Sehsphärenregion, so ist die gute Örientierungs- 
fähigkeit der Hysterischen sehr wohl verständlich. 

Diese Patienten mit hochgradig eingeengtem Gesichtsfeld 
sehen eben für gewöhnlich gar nicht wie durch eine mit dem 
Auge fest verbundene und durch ein kleines Diaphragma ab- 
geschlossene Röhre, sondern immer nur dann, wenn man sie vor 
das Perimeter setzt und sie zwingt, ihre Aufmerksamkeit während 
der Dauer des Versuches auf den Fixierpunkt zu konzentrieren. 
Nicht einmal zu dem abgeschwächten Vergleich haben wir einen 
Grund, dafs der Patient jederzeit wie durch eine im Zentrum 
klare, an den Rändern angelaufene Brille sieht. Es liegt über- 
haupt keine spezifische Störung der von der Peripherie zu ver- 
mittelnden Empfindungen vor. Die primäre Störung besteht nur 
darin, dafs der Kranke gleichzeitig immer nur einen kleinen Teil 
des Gesichtsfeldes deutlich sieht. Solange der Kranke am Peri- 
meter untersucht wird, ist seine Aufmerksamkeit dem Fixier- 


1. Kapitel. Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung usw. 171 


punkt zugewandt, den er ja nicht aus dem Auge verlieren darf. 
Es werden alsdann, prinzipiell genau wie beim normalen Indivi- 
duum in den Ausertschen Versuchen, nicht mehr von allen 
-denjenigen Netzhautelementen Empfindungen geliefert, welche 
unter anderen Umständen noch sehr wohl deutliche Wahrneh- 
mungen zu vermitteln imstande sind. Auch beim Normalen, so 
lehrte die experimentelle Analyse des A. F. G., kann ein peri- 
pheres Objekt lediglich darum undeutlich sein, weil seine schein- 
bare Entfernung vom Fixierpunkt zu grofs ist, weil die Fläche, 
der sich die Aufmerksamkeit gleichzeitig zuwenden muls, eine 
zu erhebliche scheinbare Ausdehnung besitzt. 

Ganz anders liegen die Dinge bei der Bewegung durch den 
Raum. Die strenge Fixation und die andauernde Konzentration 
der Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Feld entspricht nicht 
dem natürlichen Verhalten. Für gewöhnlich „wandert“ sozusagen 
unsere Aufmerksamkeit, sowohl die willkürliche wie die unwill- 
kürliche, auf der ganzen Netzhaut, bzw. im ganzen Sehfeld, 
herum. So oft wir einen Gegenstand, der sich zuvor auf der 
Netzhautperipherie abgebildet hatte, anblicken, ist das ein Zeichen 
dafür, dafs ein peripher gelegener Teil der Netzhautbilder unsere 
Aufmerksamkeit erregt hatte. Dort befand sich also momentan 
ein Maximum der Aufmerksamkeit. Wer die, allerdings unbe- 
wiesene und unwahrscheinliche Annahme macht, dals das Maxi- 
mum der Aufmerksamkeit in jedem kleinsten Zeitmomente auf 
dem zentral gesehenen Orte ruhe, muls für jene Netzhautstelle 
wenigstens ein relatives, ein zweites kleineres Maximum ein- 
räumen. Wir haben nun aber im experimentellen Teil bei der 
Schilderung des Mikropsieversuches gesehen, welchen Einfluls 
die Verlegung eines solchen Maximums oder eines relativen 
Maximums auf die Grölse des simultan übersehenen Feldes aus- 
zuüben vermag. 

Diese „Wanderung“ vollzieht sich nun während der Be- 
wegung im Raum fortwährend, und im buchstäblichen Sinne mit 
der Geschwindigkeit des Augenblicks. Ebenso rasch aber wechselt 
beim Hysterischen mit k.G.E. der relativ deutlich sehende Be- 
zirk auf der Netzhaut seinen Ort. Immer da, wo sich gerade 
ein Maximum der willkürlichen oder unwillkürlichen Aufmerk- 
samkeit befindet, wird deutlich perzipiert. Der Kranke wird sich 
nicht minder geschickt im Raume bewegen wie ein Gesunder. 
Er wird im schlimmsten Falle von den an die „Maxima“ an- 


172 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


grenzenden Regionen immer nur einen kleineren Teil relativ 
deutlich sehen, als der Normale. 


Ganz ähnlich stellt sich Janer von seinen, allerdings ganz anders gee 
arteten Anschauungen aus, gewisse Vorgänge im Anfangsstadium der 
Hysterie vor, in welchem die „Geisteskrankheit“ die Störung des „Ich- 
bewufstseins“, die Schwäche der „Ichwahrnehmung“ schon besteht, ohne 
jedoch äufserlich in Erscheinung zu treten: „Stellen wir uns nun ein Indi- 
„viduum vor, das in einem gegebenen Augenblick nur drei Elementar- 
„empfindungen in sich aufnehmen kann: z. B. V V'A und alles übrige 
„unterhalb der Bewufstseinsschwelle läfst. Man würde nun erwarten, dafs 
„in dem Bowulstsein desselben eine beträchtliche Lücke entsteht. Das 
„ist aber keineswegs der Fall; denn im nächsten Augenblick kann das Indi- 
„vriduum mit Leichtigkeit durch Lenkung der Aufmerksamkeit in eine 
„andere Bahn, die Wahrnehmung der bis dahin vernachlässigten Tast- 
„empfindungen, und wieder in einem anderen Moment auch die Muskel- 
„Sinnsempfindungen dem „Ich“-Bewulstsein einverleiben. Der Mensch wird 
„2. B. im ersten Augenblick eine mit ihm sprechende Person sehen und 
„hören, ohne sich um die gleichzeitig zuströmenden Tastempfindungen 
„zu bekümmern. Im zweiten Moment würde er einen Gegenstand, den er 
„berührt, wahrnehmen und die Tastempfindungen in sich aufnehmen, ohne 
„dals die umgebenden Geräusche ihm zum Bewulstsein gelangen. Im dritten 
„Moment wird er nach dem Diktat schreiben und dabei den Klang der 
„Stimmen, das Buchstabenbild und die Muskelbewegungen wahrnehmen. 
„In einem solchen Falle kann es, dank der Abwechslung der Wahrnehmungen, 
„nicht zu wirklichen Anästhesien kommen.“ 


Allerdings sollte man hiernach wenigstens erwarten, dafs die 
Kranken mit hochgradig eingeengtem Gesichtsfeld wegen der 
geringen Gröfse des von ihnen simultan übersehbaren Feldes 
wenigstens eine Einbulse an Schnelligkeit und Sicherheit ihres 
Orientierungsvermögens erleiden. 


Es ist jedoch zu beachten, dafs aufser dem eben genannten 
Moment noch ein zweiter Umstand vorhanden ist, welcher es be- 
greiflich erscheinen läfst, dafs die Kranken in Wirklichkeit nicht 
so günstig abschneiden, wie man auf Grund des Perimeter- 
befundes erwarten könnte. 


Dieses zweite Argument ergibt sich aus einer weiteren Eigen- 
schaft des hysterischen Gesichtsfeldes, welche darin besteht, dafs 
die Einengung um so stürker ist, je mehr die Aufmerksamkeit 
durch anderweitige Beschäftigung verhindert wird, sich auf die 
seitlichen Teile des Gesichtsfeldes zu konzentrieren. Diese Eigen- 
schaft kommt allerdings dem nicht eingeengten Gesichtsfeld 


1. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 173 


gleichfalls zu. Sante pe Saxcrıs! untersuchte, wie weit ein Ob- 
jekt von der Peripherie nach dem Zentrum vordringen muls, 
um bemerkt zu werden, wenn die Aufmerksamkeit auf das Seh- 
feld gerichtet ist, und wie die analogen Verhältnisse sich ge- 
stalten bei Ablenkung der Aufmerksamkeit vom Sehfeld. Das 
Ergebnis kann man sich annähernd veranschaulichen durch zwei 
konzentrische Kreise, von denen der innere den Bezirk andeutet, 
innerhalb dessen das Beobachtungsobjekt bei abgelenkter Auf- 
merksamkeit wahrgenommen wird, während der äulsere zeigt, 
wieviel eher der von der Peripherie des Sehfeldes dem Zentrum 
genäherte Gegenstand erkannt wird, wenn die Aufmerksamkeit 
dem Gesichtsfeld zugewandt ist. 

JAnET hat am Perimeter Versuche sehr ähnlicher Art an- 
gestellt, wobei er die Erscheinung bei Hysterischen mit Gesichts- 
feldeinengung aufserordentlich viel ausgeprägter fand als bei nor- 
malen Individuen. Bei diesen Versuchen wurde im Mittelpunkt 
des Perimeters ein Stückchen Papier befestigt, auf dem sich 
einige klein beschriebene Zeilen oder einige Zahlen befanden. 
Die Gesichtsfeldaufnahme erfolgte nun, während der Kranke ge- 
mäfs einer an ihn ergangenen Aufforderung die Zeilen las oder 
mit den aufgeschriebenen Zahlen im Kopfe eine arithmetische 
Operation ausführte Ein Gesichtsfeld von 40° wurde hierdurch 
auf 10° eingeengt, andere Gesichtsfelder entsprechend von 80° 
auf 20° von 65° auf 30°, von 30° auf 15° Bei der Mehrzahl 
der von JANET untersuchten gesunden Menschen trat unter diesen 
Umständen keine Änderung der Gesichtsfeldgrenzen ein; nur bei 
einzelnen zeigte sich eine Einschränkung von 5—10°. 

Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dafs auch bei diesen 
Versuchen die Aufmerksamkeit verhindert wird, sich mit der bei 
der gewöhnlichen Perimetriermethode verfügbaren Stärke auf 
die seitlichen Teile des Gesichtsfeldes zu konzentrieren. Die Auf- 
merksamkeit wird hier zum Teil vom Gesichtsfelde überhaupt 
abgelenkt, zum anderen Teil vom Fixierpunkt und den an ihm 
wahrzunehmenden Details absorbiert; bei der Ausführung arith- 
metischer Operationen dürfte wohl die erstere, beim Lesen der 
Zeilen die letztere Wirkung überwiegen. Dafs sich der Gesunde 
und der Hysterische solchen Versuchen gegenüber tatsächlich 


! Lo studio dell’ attenzione conativa. Atti della soc. romana di antro- 
pologia Bd. IV, Heft 2. 


174 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


verschieden verhalten müssen, ergibt sich aus unseren allgemeinen 
Anschauungen wieder auf natürliche Weise. Der Gesunde ver- 
mag an dem unmittelbar vor ihm aufgestellten Perimeter die 
wegen der geringen Entfernung klein erscheinende Distanz 
zwischen Fixierpunkt und Testobjekt leicht zu überschauen. Er 
wird hierzu selbst dann immer noch fähig sein, wenn die Auf- 
merksamkeit stärker als bei der gewöhnlichen Art des Fixierens 
von den seitlichen Gebieten des Sehfeldes abgelenkt wird. Feinere 
Unterschiede können auch bei der Roheit des Kriteriums, 
welches in der Anzeige des Auftauchens eines Gegenstandes im 
Gesichtsfelde besteht, nicht in Erscheinung treten. Der Ort des 
Auftauchens ist im wesentlichen von der „I. Komponente“ der 
peripheren Sehschärfe, der Empfindlichkeit der Netzhautelemente 
abhängig. Ganz anders bei dem eingeengten Gesichtsfeld. Hier 
ist der Ort des Auftauchens sogar schon bei der gewöhnlichen 
Art der Fixation nicht wesentlich von der „I.“, sondern von der 
„II.“ Komponente abhängig. Es ist aber verständlich, dafs die 
Fähigkeit des Simultanüberschauens die schon bei der gewöhnlichen 
Art des Perimetrierens im Gegensatz zum Fall des Gesunden 
aufs äulserste in Anspruch genommen ist, noch weiter ab- 
nehmen wird, wenn man Bedingungen einführt, welche geeignet 
sind, die Aufmerksamkeit von den seitlichen Teilen des Gesichts- 
feldes abzuziehen. Bei dem Versuche von Jaxer wird ja die 
Aufmerksamkeit teils vom Gesichtsfeld überhaupt abgelenkt, teils 
vorwiegend durch die am Orte des Fixierpunktes befindlichen 
Einzelheiten absorbiert. 

Dieses letztere Moment wird im weiteren Zusammenhang 
eine besondere Bedeutung besitzen. Ein anderer Versuch von 
JANET scheint mir nun dadurch bedeutsam zu sein, dafs in ihm 
dieses letztere Moment zu isolierterer Wirksamkeit gelangt. JANET 
konstatierte an einer Kranken ein Gesichtsfeld von 15°, während 
sein damaliger Chef das Gesichtsfeld für beinahe normal erklärt 
hatte. Es stellte sich heraus? dafs die Verschiedenheit der von 
beiden Ärzten benutzten Perimeter für den Unterschied der Re- 
sultate die Verantwortung trug. JAnET hatte ein tragbares, aus 
einem einfachen Kreisbogen von Holz bestehendes Perimeter 
benutzt, den er im Mittelpunkte mit der linken Hand festhielt. 
Er hatte diese Kranke schon oftmals hypnotisiert, und sie richtete 
daher, einer hierdurch erzeugten Gewohnheit folgend, ihre Auf- 
merksamkeit — wie gebannt — auf die Hand des Untersuchen- 


I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 175 


den. Wurde nun aber ein weniger einfacher, auf einem Träger 
festsitzender Apparat benutzt, so betrachtete das Individuum den 
Mittelpunkt mit geringerer Aufmerksamkeit und zeigte ein — 
wenn auch nicht normales — so doch wesentlich grölseres Ge- 
sichtsfeld (l. e. S. 62). Janer zieht aus dieser Beobachtung, 
welche ein ihm befreundeter Arzt in unabhängiger Weise gleich- 
falls gemacht hatte, wohl mit Recht den Schluls, dafs der Betrag 
der Einengung von der Intensität, mit welcher sich die Aufmerk- 
samkeit dem Fixierpunkt zuwendet, nicht unabhängig ist. 

Bei diesem Versuche war die Konzentration der Aufmerk- 
samkeit auf den Fixierpunkt stärker als bei der gewöhnlichen 
Art des Perimetrierens, und das Gesichtsfeld wurde gleichzeitig 
enger. Sollte es nicht umgekehrt Versuchsbedingungen geben, 
welche einerseits bewirken, dals sich die Aufmerksamkeit dem 
Fixierpunkt weniger stark zuwendet, als beim normalen 
Perimetrieren und die dabei andererseits vielleicht eine Er- 
weiterung der Gesichtsfeldgrenzen herbeiführen ? 


Jaxer teilt mit, dafs der Ätherrausch auf das Gesichtsfeld 
erweiternd wirkt (l. c. S. 61). Die Annahme liegt, wie mir 
scheint, wenigstens nicht fern, dafs die Kranke im berauschten 
Zustande ihre Aufmerksamkeit dem Fixierpunkt nicht mit 
solcher Intensität zuwendet wie zu Zeiten der Nüchternheit. 


Auf Grund derselben Prinzipien dürfte sich auch eine Be- 
obachtung von Börrıser! erklären. Dieser Autor findet, im 
Gegensatze wohl zu sämtlichen anderen Forschern, bei Hysterie 
beinahe niemals stärkere Gesichtsfeldeinengungen. Er vermeidet 
jedoch aus Furcht vor Suggestion die Anstellung gründlicher 
Untersuchungen und prüft das Gesichtsfeld nur mit der bewegten 
Hand. Ob der Kranke hierbei eine Instruktion erhält, oder ob 
auch die Erteilung einer solchen zur Vermeidung von Suggestion 
unterlassen wird, geht aus den Ausführungen nicht hervor. Mag 
nun der Kranke den Auftrag erhalten, sein Auge unbewegt zu 
lassen, oder mag sich der Untersuchende darauf beschränken, 
einen günstigen Moment abzupassen, in jedem Falle dürften die 
Versuchsbedingungen hier danach angetan sein, dafs nicht mit 
so konzentrierter Aufmerksamkeit beobachtet wird, wie am 


ı Wahre und falsche Stigmata der Hysterie. Vortr. im ärztl. Ver. 
Hamburg. Neurol. Zentralbl. 1904, S. 131. 


176 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Perimeter, zumal da der Autor ausdrücklich erklärt, eine genaue 
Untersuchung zu vermeiden. 


Auch eine von PAGENSTECHER ! angestellte und von GRoENoUW (l. c.) 
bestätigte Beobachtung dürfte vielleicht hierher gehören. Ein konzentrisch 
eingeengtes Gesichtsfeld erfährt hiernach bei Bewaffnung des Auges mit 
einer blauen Brille oft eine starke Erweiterung und zwar auch bei Kranken, 
die durchaus nicht lichtscheu sind (Grorxnouw). Der Effekt ist jedoch nicht 
konstant. Bei einzelnen Individuen vermag die dunkle Brille das Gesichts- 
feld sogar ein wenig zu verengern. 

Erstens hebt sich hier das Fixierzeichen nicht so scharf vom Hinter- 
grunde ab, wie bei der Beobachtung mit unbewaffnetem Auge; und man 
geht vielleicht nicht fehl mit der Annahme, dafs sich die Aufmerksamkeit 
dem Fixierzeichen wegen der geringeren Eindringlichkeit des von ihm er- 
zeugten Eindrucks nicht mit solcher Intensität zuwende, als dann, wenn 
sich dasselbe gut und scharf vom Hintergrunde abhebt und sich dem 
Kranken gewissermalsen aufdrängt. Zweitens kommt vielleicht auch der 
Umstand in Betracht, dafs etwaige am Perimeter sichtbare Details bei Be- 
nutzung der blauen Brille verschwinden, bzw. undeutlicher werden, oder 
wenigstens die Aufmerksamkeit in geringerem Malse auf sich ziehen. Die 
blaue Brille scheint also diejenigen Faktoren schwächen zu können, welche 
eine Absorption der Aufmerksamkeit herbeiführen. Dals sich bei diesem 
Versuche individuelle Differenzen ergeben, ist hiernach gleichfalls ver- 
ständlich. 


Diese Versuche, welche dartun, dafs beim eingeengten Ge- 
sichtsfeld der Grad der Einengung nicht unabhängig ist von der 
Intensität, mit der sich die Aufmerksamkeit dem Fixierpunkt zu- 
wendet, sind unserer Ansicht nach für die Frage der Orientierungs- 
fähigkeit bei eingeengtem Gesichtsfeld nicht bedeutungslos. 

Wenn wir im gewöhnlichen Leben den Blick ungezwungen 
im Raume umherschweifen lassen, so ist im allgemeinen die 
Intensität, mit der sich unsere Aufmerksamkeit dem jeweils ange- 
blickten Punkte zuwendet, — das Wort „fixieren“ bezeichnet 
schon einen hier ungewöhnlichen Zustand — stets geringer als 
bei all diesen Perimetriermethoden, bei denen doch immer 
wenigstens die genaue Fixierung des Punktes verlangt wird. 
Eine Ausnahme macht vielleicht, wie wir sahen, die Methode von 
BöTTIGER, welche aber eben gerade zur Leugnung der Existenz 
stark eingeengter Gesichtsfelder führte. Dals bei dieser Methode 
ein Widerspruch zwischen dem Gesichtsfeld und der Tatsache 
der guten Orientierungsfähigkeit nicht besteht, dürfte eben seinen 


! Ber. über die 9. Versammil. der Ophtalm. Ges. zu Heidelberg 1877. 


I. Kapitel. Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung usw. 177 


Grund darin haben, dafs sich diese Methode den Verhältnissen 
des gewöhnlichen Lebens stärker annähert. 

Ist die Intensität der dem jeweils angeblickten Punkte zuge- 
wandten Aufmerksamkeit schon bei unseren gewöhnlichen Be- 
schäftigungen und Arbeiten im allgemeinen geringer als am 
Perimeter, so gilt dies in noch höherem Mafse, wenn wir nicht, 
wie bei der Arbeit, genötigt sind, einem vor uns liegenden Gegen- 
stand die Aufmerksamkeit stärker zuzuwenden, sondern wenn 
wir uns olıne äufsere Beschäftigung durch den Raum bewegen. 
Beim Problem der Örientierungsfähigkeit handelt es sich ja 
zumeist um Fälle der letzteren Art. 

Für die Lösung des Rätsels der guten Orientierungsfähigkeit 
bei Hysterischen kommen also zwei Momente in Betracht. 

Erstens vermag der Kranke sein kleines, eingeengtes Ge- 
sichtsfeld durch eine Richtung der Aufmerksamkeit nacheinander 
gewissermalsen nach verschiedenen Orten der Netzhaut zu ver- 
legen. Zweitens ist aber auch die Gröfse des in einem Augen- 
blicke simultan übersehbaren Bezirkes, die Weite des jeweiligen 
instantanen Gesichtsfeldes, nicht so gering, wie es auf Grund 
des Perimeterbefundes erscheinen könnte. Der letztere Umstand 
ist darauf zurückzuführen, dafs sich die Aufmerksamkeit unter 
den Verhältnissen des gewöhnlichen Lebens dem jeweilig ange- 
blickten Punkte mit geringerer Intensität zuwendet, als dem 
Fixierpunkt am Perimeter. 


c) Wir wenden uns jetzt einem weiteren Kreise von Tat- 
sachen zu. — Überlegen wir vorerst, welchen Ausfall man bei 
Durchführung der Ausertschen Versuche an einem eingeengten 
Gesichtsfeld zu erwarten hat, je nachdem die „I.“ oder die „II.“ 
Hypothese ein richtiges Bild von den wirklichen Verhältnissen 
entwirft. Wir nehmen also versuchsweise zunächst im Sinne 
der „Hypothese I“ an, dafs ein tieferer Zusammenhang zwischen 
dem A. F. G. und der k. G. E. nicht bestehe. Von einer be- 
stimmten Zone der Netzhaut an werden die Erregungen einfach 
nicht mehr mit Empfindungen beantwortet; es handelt sich bei 
der k. G. E. um einen reinen, wenn auch zentral bedingten Aus- 
fall. Das Sehen des Kranken gleicht dem eines normalen 
Individuums, welches durch die Röhre mit dem Diaphragma 
blickt und dadurch die Lichtstrahlen von den jenseits einer 
gewissen Zone liegenden Netzhautelementen fernhält, mit dem 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 12 


178 1I. Abschnitt. Bestätigung der im 1. Abschnitt gegebenen usw. 


einen Unterschied, dafs der Kranke an den Stellen des Defektes 
nicht „schwarz“, sondern gleichwie am blinden Flecke „nichts“ 
empfindet, und dafs zuweilen, wenn auch keineswegs immer, 
gleichzeitig eine Herabsetzung der Sehschärfe in den perzipieren- 
den Teilen des Sehorgans vorliegt. Wenn die Störung in nichts 
anderem besteht, so ist mit Sicherheit jedenfalls das eine zu 
erwarten, dafs die bei dem AUBERT-FOERSTERSchen Phänomen 
auftretende Differenz keinen ungewöhnlich hohen, die an normalen 
Individuen ermittelten Werte wesentlich übersteigenden Betrag 
besitzen wird. 

Ja, wir können in unserer Voraussage sogar noch einen 
Schritt weiter gehen. Warum ist es uns beim RoLLETTschen 
Versuch nicht gelungen, das AUBERT-FOERSTERsche Phänomen auf 
dem Wege von Einstellungen in deutlicher Ausprägung zu er- 
zielen, obwohl die Konvergenzplatten eine recht erhebliche 
subjektive Verkleinerung gestatten? Wir konnten diese Tatsache 
nicht anders als in folgender Weise erklären. Die Differenz fiel 
bei diesem Versuche so gering aus, weil hier offenbar die 
psychologischen Grenzen der Wahrnehmbarkeit mit den durch 
die physiologischen Verhältnisse des Sinnesorgans gezogenen 
Grenzen, sei es völlig, sei es nahezu, zusammenfielen; auch bei 
Divergenzstellung der Platten, bei der ja die scheinbare Grölse 
des Objektes zunahm, war die scheinbare Ausdehnung des Ob- 
jektes noch sehr gering! und konnte darum mühelos simultan 
übersehen werden; der Umstand, welcher sonst die bei dem 
Ausgertschen Versuche auftretende Differenz auslöst, fällt hinweg 
oder sinkt auf ein Minimum herab. Nichts anderes trägt hieran 
Schuld, als die scheinbare Kleinheit auch des grölseren der beiden 
Objekte. 

Auch konnte ich bei Beobachtung verschieden entfernter 
Objekte durch eine Röhre mit engem Diaphragma bei dem 
ferneren, welches einen sechsmal so grolsen Abstand vom Auge 
besals als das andere, ein Unscharfwerden der peripheren Teile 
des Feldes nicht mit Sicherheit wahrnehmen. Beobachtete ich 
aber mit blofsem Auge, nachdem ich die kleinen, für die 


1 Die beim Rorrerrschen Versuch erzielte Änderung des Konvergenz- 
winkels ist um so geringer, je ferner ein Objekt ist; erhebliche subjektive 
Verkleinerung erhält man daher nur bei nahen Gegenständen, also bei 
Gegenständen, deren natürliche, d. h. in gewöhnlicher Weise wahrge- 
nommene, scheinbare Gröfse nicht sehr beträchtlich ist. 


I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 179 


Diaphragmabeobachtungen verwandten Objektfelder durch gröfsere 
ersetzt hatte, so waren die peripheren Teile des sechsmal so 
, weiten Objektfeldes, welches mitsamt seinem Inhalt dem kleineren 
geometrisch ähnlich war, aber in allen Teilen sechsfache Ver- 
grölserung aufwies, bei Fixation des Mittelpunktes in ganz unver- 
kennbarem Mafse undeutlicher als im Falle des nahen Feldes. 
Die Objekte bestanden in einfachen, aus schwarzem Papier aus- 
geschnittenen und auf glattem weilsem Hintergrund aufgeklebten 
Figuren. Die Beobachtungen waren freilich nur roh und ledig- 
lich qualitativer Art. 

Ebenso wird die Erscheinung wohl auch beim pathologisch 
eingeengten Gesichtsfeld um so mehr zurücktreten, je kleiner die 
Ausdehnung des sehenden Bezirkes auf der Netzhaut ist. Flächen 
von solcher Ausdehnung und Unübersehbarkeit, wie sie der 
Normale wahrnimmt, kommen ja für ein solches Sehorgan gar 
nicht in Betracht. 

Das gerade Gegenteil ist zu erwarten, wenn man sich auf 
den Boden der „Hypothese II“ stellt. Normalerweise kann nur 
ein kleiner Bezirk simultan, bzw. innerhalb der Präsenzzeit, deut- 
lich erscheinen. Nach der „Hypothese II“ beruht die k. G. E. 
auf einer noch weiteren Herabsetzung dieser Fähigkeit. Nun 
wirkt nach dem A. F. G. die scheinbare Vergröfserung in 
dieser Hinsicht ganz ähnlich, wie die wirkliche Gröfsenzu- 
nahme; wenn also das Individuum gegenüber der wirklichen 
Gröfse des Netzhautbildes so intolerant ist!, so wird es auch 
einer scheinbaren Vergrölserung gegenüber in höherem Malse 
intolerant sein wie der Gesunde. 

Ist ein kleines, aber in das enge Gesichtsfeld noch ganz 
hineinfallendes Feld gegeben, so wird nur eine sehr geringe 
objektive Vergrölserung dieses Feldes ohne allzustarke Beein- 
trächtigung der Deutlichkeit vertragen werden; ebenso nun wird 
die scheinbare Gröfse abnorm wenig gesteigert werden können, 
wenn anders von der Deutlichkeit nicht gar zu viel geopfert 
werden soll. Wir haben vom Standpunkt der „Hypothese II“ 
aus zu erwarten, dafs sich die im A. F. G. ausgesprochene Gesetz- 
mäfsigkeit bei k. G. E. in besonders deutlicher Ausprägung zeigen 
wird. 


1 Für diese Intoleranz sind ja nach der „Hypothese II“ die Ergebnisse 


der Perimeteruntersuchung ein Ausdruck. 
12* 


180 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Sehen wir zu, in welchem Sinne das Experiment entscheidet! 

Diese Frage wird beantwortet in einer viel zitierten Unter- 
suchung von WOLLENBERG, deren Ergebnis von OPPENHEIM ! mit- 
geteilt worden ist. Wir geben die oft diskutierte Stelle ihrer 
Wichtigkeit wegen im wörtlichen Auszug wieder: 

„Es ist als Beweis der Simulation angeführt worden, dals in 
„einzelnen Fällen dieser Art das Gesichtsfeld bei Prüfung in ver- 
„schiedenen Entfernungen nicht die scheinbare Veränderung zeigte, 
„welche der Öffnung des Sehwinkels entsprechend erwartet werden 
„mufste. Nun, auch diese Beweisführung beruht auf einer falschen 
„Voraussetzung; die Gesichtsfeldeinengung bei den funktionellen 
„Neurösen wird, wie die Symptome dieser überhaupt, von ganz 
„anderen Gesetzen beherrscht als die entsprechenden Störungen 
„bei organischen Hirnkrankheiten. Wer immer nur eine Hemiplegie 
„gewöhnlicher Art gesehen hat, wird bei der ersten Untersuchung 
„einer sog. hysterischen Hemiplegie immer zuerst an Simulation 
„denken. 


„Ich darf hier Bezug nehmen auf noch nicht veröffentlichte 
„Untersuchungen des Kollegen WoLLENBERG an Patienten der 
„Krampfabteilung der Charite, welche das Symptom der kon- 
„zentrischen Gesichtsfeldeinengungboten und keine Entschädigungs- 
„ansprüche zu stellen und keinerlei Grund zur Simulation ? hatten. 
„Da hat sich denn auch gezeigt, dafs in einem Teil der Fälle das 
„Gesichtsfeld, auf die Fläche projiziert, bei Prüfung in weiterer 
„Entfernung nicht die geringste Erweiterung zeigte. Herr WoLLEn- 


! Weitere Mitteilungen in bezug auf die traumatischen Neurosen, mit 
besonderer Berücksichtung der Simulationsfrage. Berlin 1891, S. 42 ff. 

® Anm.d. Verf.: Autoren, welche, wie z. B. Scuuipt-RınpLer, an der 
Richtigkeit der „Hypothese I“ nicht zweifeln, halten bekanntlich diese 
(„kampimetrische*) Methode für ein unbedingt sicheres Mittel zur Ent- 
larvung von Simulanten. Die k. G. E. müsse auch den sonstigen Natur- 
gesetzen folgen; wenn die Gröfse des Gesichtsefeldes in so hohem Mafse 
von der Entfernung abhängig sei, in der die Prüfung stattfindet, so sei 
ein solches Verhalten denn doch gar zu dunkel, als dafs man nicht die 
Erklärung heranziehen mülste, dafs das untersuchte Individuum lügt. Auch 
gelänge es durch kräftige Anwendung von Suggestion häufig, eine k. G. E. 
zum Schwinden zu bringen. (Die Erkrankungen des Auges usw. S. 280 ff.) 
Bei der grofsen Wichtigkeit und der geringen Zahl der objektiven Sym- 
ptome bei den so häufigen Unfallsneurosen ist demnach die Frage nach 
dem Wesen der k. G. E. auch von nicht unerheblicher praktischer Be- 
deutung. 


I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 181 


„BERG machte mir über diesen Punkt folgende Mitteilung: „Wenn 
„man bei Hysterischen mit k. G. E. an einer Tafel das Gesichts- 
„feld aufnimmt, und durch allmähliches Abrücken des Patienten 
„die Entfernung vom Fixierpunkt vergrölsert, so lälst sich zwar 
„in der Mehrzahl der Fälle ein deutliches, wenn auch langsames 
„und meist nicht in bestimmtem Verhältnis zur Entfernungszu- 
„nahme stehendes Anwachsen des Gesichtsfeldes nachweisen, in 
„einigen Fällen aber bleiben die Grenzen auch ganz unverändert.“ 

GREEF ! hat dann dieses Verhalten so häufig beobachtet, dafs 
er es als „fast typisch für Hysterie“ ansieht und als ein wert- 
volles Hilfsmittel betrachtet, um die Diagnose sicher zu machen. 

Auch Bruns ? sieht diese Tatsache als einen wichtigen Finger- 
zeig für die Diagnose der Hysterie an. 

Das Gesichtsfeld erfährt demnach eine Änderung, welche 
derjenigen ganz analog ist, welche wir beim Augertschen Ver- 
suche beobachten. Allerdings bedienten wir uns — wenn ich 
der Kürze halber so sagen darf — anderer Perimetriermethoden. 

Ob das A.F.G. für das normale Gesichtsfeld auch bei Ein- 
führung eines Objektes, also für die Wahrnehmung von Be- 
wegungen, noch Gültigkeit besitzt, darüber habe ich keine 
systematischen Untersuchungen angestellt. Auf Grund öfterer, 
aber nicht systematisch gemachter Einstellungen würde ich eher 
zu einer Verneinung als zu einer Bejahung der Frage neigen. 
Als Objekt dienten die im ersten Teil der Untersuchung ver- 
wandten schwarzen Quadrate auf hellgrauem Hintergrund; das 
Objekt kontrastierte also ziemlich erheblich vom Grunde. Die 
Abnahme der Bewegungsempfindlichkeit von der Fovea nach 
der Peripherie erfolgt bekanntlich wesentlich langsamer als die 
Verringerung der Sehschärfe für ruhende Objekte. Schon hier- 
durch ist das bewegte Objekt günstiger gestellt. Hierzu kommt, 
dafs das blofse „Sichtbarwerden“ ein viel roheres Kriterium dar- 
stellt, als etwa die Wahrnehmung der Getrenntheit zweier 
Quadrate, welches feinere Unterschiede der Deutlichkeit gar nicht 
festzustellen erlaubt. Auch wenn eine bestimmte periphere Zone 
eines fernen Gesichtsfeldes unter gewöhnlichen Umständen immer 


! Über das „röhrenförmige“ Gesichtsfeld bei Hysterie. Wiener klin, 
Wochenschr. 1902, Nr. 21. 

®? Die traumatischen Neurosen. Spez. Path. u. Ther. 12 Bd., 1. Teil, 
4. Abt., S. 52. 1901. 


182 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


undeutlicher erscheint als die entsprechende Zone eines nahen 
Gesichtsfeldes, so hat man doch keinen Grund zu der Erwartung, 
dafs dieser Unterschied auch bei Einführung eines Objektes 
in Erscheinung treten muls; wenn auch die Deutlichkeit der 
Peripherie des fernen Feldes im Vergleich zu der des nahen 
herabgesetzt sein mag, zur Wahrnehmung eines so groben und 
eindringlichen Vorgangs, wie sie das Erscheinen eines Ob- 
jektes ist, reicht sie bei normalen Individuen vielleicht noch 
immer aus. Auf ganz ähnliche Verhältnisse sind wir ja im 
Laufe unserer Untersuchung schon einmal gestolsen, als wir er- 
kannten, dafs die Wahrnehmung der „Getrenntheit* ein roheres 
Kriterium für Deutlichkeitsunterschiede ist, als die Wahrnehmung 
von Helligkeitsdifferenzen. Denn Helligkeitsdifferenzen änderten 
sich janach Obigem schon bei solchen Änderungen der scheinbaren 
Gröfse, die zu einer Änderung der Sehschärfe (gemessen durch 
die Wahrnehmung der Getrenntheit zweier Quadrate) nicht hin- 
reichten. Wir vermuteten als Grund dieses Verhaltens, dafs 
eine Herabsetzung der Sehschärfe erst dann eintritt, wenn die 
Herabsetzung der Helligkeitsdifferenz zwischen dem Objekte und 
dem Hintergrund noch einen erheblicheren Grad erreicht hat. 
Wenn nun aber unter pathologischen Umständen diejenige 
Komponente der peripheren Sehschärfe, welche wir als die „II“. 
bezeichneten, eine abnorme Änderung erfährt, so dafs die Un- 
deutlichkeit der Ränder des Gesichtsfeldes infolge der „Unüber- 
schaubarkeit“ sehr viel erheblicher wird, als beim Normalen !, so 
werden Gesichtserscheinungen, die vom Normalen infolge ihrer 
Eindringlichkeit noch wahrgenommen werden, für den Kranken 
schon nicht mehr merklich sein. 


$ 3. 

Wir gehen nun an die Besprechung derjenigen Tatsachen, 
welche mit „Hypothese I“ nicht gerade im Widerspruch stehen, 
aber durch sie auch keine Erklärung erhalten, vom Standpunkt 
der „Hypothese II“ hingegen durchaus begreiflich und natürlich 
erscheinen. 

Bei allen sehr eingeengten Gesichtsfeldern konnte JANET 
regelmäfsig konstatieren, dafs das Gesichtsfeld den Mittelpunkt 
in Kreisform umgab. „Das weniger eingeschränkte Gesichtsfeld 


! Dies ist ja eben der Inhalt der „II. Hypothese“. 


I. Kapitel. Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung usw. 183 


„ist — wie ich glaube — nicht kreisförmig, sondern mehr dem 
„ebenfalls nicht kreisförmigen Normalgesichtsfeld in der Form 
„ähnlich“ (Jaxer, l. c. S. 59). 

Diese Beobachtung ist vom Standpunkt der „Hypothese I“ 
unverständlich, auf Grund der „Hypothese II“ durchaus ein- 
leuchtend. Ist das Gesichtsfeld nur sehr wenig eingeengt, so ver- 
hält sich der Kranke eben annähernd wie ein Normaler, für den 
bei der Einstellung an dem nahen Perimeter ausschliefslich die 
erste Komponente mafsgebend ist, nämlich die („virtuelle“ 
[S. 162]) Empfindlichkeit der verschiedenen Netzhautelemente, 
während die zweite Komponente bei ihm darum überhaupt gar 
nicht zur Geltung kommt, weil er diese relativ kleinen Distanzen 
noch simultan überschauen kann. Dagegen ist ein kreisförmiges 
Gesichtsfeld dann zu erwarten, wenn schon dieses relativ kleine 
Feld nicht mehr überschaubar ist, und der kritische Punkt nicht 
durch die Grenzen der (virtuellen) Empfindlichkeit der Netzhaut- 
elemente, sondern durch die zweite Komponente bestimmt wird. 

Unverständlich bleibt es ferner vom Standpunkte der 
„Hypothese I“ aus, weshalb bei diesen Kranken das Gesichtsfeld 
stets konzentrisch ist, weshalb nicht auch ganz unregelmälsige 
und inselförmige Anästhesien der Netzhaut vorkommen. Man 
mülste dies um so eher erwarten, als doch inselförmige Anästhesien 
der Haut bei Hysterie eine alltägliche Erscheinung sind. Dieser 
Folgerung kann man auch nicht durch die Bemerkung aus- 
weichen, dafs die Anästhesie vielleicht stets zuerst die am 
wenigsten empfindlichen oder am schwächsten mit Nervenfasern 
versorgten Gebiete treffe, weshalb ihr auch die Peripherie der 
Netzhaut stets am ersten zum Opfer falle, und die Einengung 
nach Malsgabe der funktionellen Tüchtigkeit der Netzhaut- 
elemente, also in annähernd konzentrischer Form, gegen das 
Zentrum vorrücke. Die inselföürmigen oder fleckweisen Anästhe- 
sien der Haut lassen in ihrem Auftreten nicht die geringste 
Regelmäfsigkeit erkennen, ferner stehen „diese Inseln in keinem 
Zusammenhange mit der anatomischen Verteilung der Haut- 
nerven“ (BInswaAnGer, 1. c. S. 165). Warum sollte es der Hysterie, 
diesem so vielgestaltigen Krankheitsbilde, gerade niemals ge- 
lingen, inselförmige oder fleckweise Anästhesien der Netzhaut! 
hervorzubringen? — 


! Es braucht kaum hervorgehoben zu werden, dafs die „systematischen 
 Anästhesien“ Janers nicht hierher gehören. Bei ihnen wird im Gesichts- 


184 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Auch die Resultate, welche bei Prüfung der Erkennungs- 
grenzen für verschiedene Farben gefunden wurden, erklären sich 
nach „Hypothese II“ in natürlicher Weise, während „Hypothese I“ 
kaum eine Handhabe dazu liefern dürfte. 

Untersuchungen von CHARcCoT, PArRINAUD u. a. haben näm- 
lich ergeben, dals das Gesichtsfeld für diejenigen Farben am 
wenigsten eingeengt ist, welche auch beim Normalen nach der 
Peripherie hin am weitesten erkannt werden; die Reihenfolge, 
welche man für die einzelnen Farben bei der Prüfung des 
eingeengten Gesichtsfeldes bei einem Hysterischen erhält, deckt 
sich im allgemeinen mit der physiologischen Reihenfolge der 
Erkennungsgrenzen für Farben auf der normalen Netzhaut- 
peripherie. Dieses Gesetz gilt aber nur in einer Anzahl von 
Fällen; in einer nicht unerheblichen Quote erleidet es nämlich 
eine Ausnahme, und zwar ist es alsdann die rote Farbe, welche 
ein abweichendes Verhalten zeigt. Nach den Untersuchungen 
von CHARCOT, PARINAUD u. a. überragt in einer nicht unerheb- 
lichen Zahl von Fällen die Grenze für Rot diejenige für alle 
anderen Farben. 


Nach „Hypothese II“ stölst das Verständnis dieser Be- 
obachtungen auf keine Schwierigkeit. Dals sich die Reihenfolge 
der Farbengrenzen auch beim eingeengten Gesichtsfeld im allge- 
meinen mit der physiologischen Reihenfolge deckt, bedarf kaum 
der Erläuterung. Wir sahen bei der Behandlung des Kosrter- 
schen Gesetzes, dals die Sättigung exzentrisch gesehener Farb- 
flächen bei Mikropsie eine Zunahme zu erfahren scheint. Wir 
vermochten diese Tatsache nach dem Zweikomponentensatz zu 
verstehen. Die scheinbare Sättigungszunahme erfolgte, weil die 
Bedingungen für das „Überschauen“ bei Mikropsie günstiger 
sind als ohne dieselbe. Umgekehrt ist nach dem Zwei- 


feld alles gesehen, aufser einem ganz bestimmten Gegenstand, einer ganz 
bestimmten Person, auf welcher Stelle der Netzhaut das betreffende Objekt 
auch abgebildet werden mag. Diese Formen der Anästhesie sind mit jenen 
elementaren Empfindungsstörungen überhaupt nicht auf eine Stufe zu 
stellen (BinswAnGer l. c.) Sie kommen nur bei den schwersten degenera- 
tiven Formen vor, wie sie in den Pariser Hospitälern zur Beobachtung 
gelangen, sind aber den leichteren und mittelschweren Krankheitsbildern 
fremd. Diese Anästhesien können in der Tat nur auftreten, wenn tief ein- 
eingreifende Veränderungen im höheren Seelenleben vorliegen, von denen 
sie ein Symptom sind, eines unter vielen anderen. 


I. Kapitel. Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung usw. 185 


komponentensatz für den Fall eines eingeengten Gesichtsfeldes 
zu erwarten, dafs diejenigen farbigen Objekte, welche bei der 
perimetrischen Untersuchung überhaupt noch zur Wahrnehmung 
gelangen, wenigstens eine Einbulse an Sättigung erleiden werden. 
Erreicht die Einbufse an Sättigung einen sehr bedeutenden 
Grad, so wird der Charakter der Farbe überhaupt nicht mehr 
erkannt werden. Müssen also die farbigen Objekte, welche über- 
haupt noch gesehen werden, im Falle eines eingeengten Gesichts- 
feldes gegenüber demjenigen eines normalen eine Einbulfse an 
Sättigung erleiden, so ist es andererseits durchaus verständlich, 
dafs diejenige Farbe ihren Charakter beim eingeengten Gesichts- 
feld am frühesten einbüfst, den Nullwert der Sättigung am 
ehesten erreicht, welche auch beim normalen Sehorgan bei Ver- 
legung auf immer peripherere Netzhautgebiete am frühesten ver- 
schwindet, und dafs weiter die Reihenfolge des Verschwindens 
der einzelnen Farben beim eingeengten Gesichtsfeld dieselbe ist 
wie beim normalen. 

Aber auch die Sonderstellung der roten Farbe begreift man 
nach „Hypothese II“ unschwer, wenn man sich einen wichtigen 
Begriff der Psychophysik der Farbenempfindungen gegenwärtig 
hält. „Von der Empfindungsintensität.... ist die Eindring- 
„lichkeit der Empfindungen wohl zu unterscheiden. Die Ein- 
„Aringlichkeit betrifft die mehr psychologische Seite der Empfin- 
„dungen, sie scheint sich hauptsächlich nach der Macht zu be- 
„Stimmen, mit welcher die Sinneseindrücke unsere Aufmerksam- 
„keit auf sich ziehen und könnte daher in sachlicher Hinsicht 
„nicht unpassend auch als die Aufdringlichkeit der Sinnesein- 
„drücke bezeichnet werden. Sie ist schon von FECHNER gelegent- 
„lich (In Sachen der Psychophysik S. 126) als der „erregende Ein- 
„Aufs auf das Allgemeinbewulstsein, die anziehende Kraft auf die 
„Aufmerksamkeit“ charakterisiert worden.“! Neuerdings hat nun 
AMESEDER ? die „absolute Auffälligkeit der Farben“ in der Weise 
untersucht, dafs er — unter hier nicht näher darzulegenden Vor- 
sichtsmafsregeln — der Vp. jedesmal für einen Bruchteil einer 
Sekunde ein Farbenpaar darbot und ein Urteil darüber verlangte, 


1 G. E. MÜLLER, Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen. Zeitschr. 
f> Psychol. 10, S. 25. 

i * Über absolute Auffälligkeit der Farben. In den „Untersuchungen zur 
Gegenstandstheorie und Psychologie“, herausgeg. von Meinong. Leipzig 1904. 


186 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


„welche von beiden Farben sich zuerst ihrer Beachtung auf- 
„drängt“. ... „Bei ganz kurzer Einwirkung nämlich steht eine 
„Farbe deutlich im Vordergrunde der Aufmerksamkeit, während 
„die zweite kaum Beachtung erlangt.“ Aus den Urteilszahlen er- 
gibt sich, dafs die „Auffälligkeit“ in folgender Reihenfolge ab- 
nimmt: Rot, Blau, Grün, Gelb. Die „anziehende Kraft auf die 
Aufmerksamkeit“ ist also bei Rot am stärksten. Wir haben 
jedoch bei Gelegenheit unserer Mikropsieversuche gesehen, dafs 
die infolge der Mikropsie für gewöhnlich eintretende Erweiterung 
der Gesichtsfeldgrenze (in dem damals dargelegten Sinne) nicht 
in Erscheinung trat, wenn sich „auffallende“ „Gegenstände an 
der Grenze des Gesichtsfeldes befanden, Gegenstände von „an- 
ziehender Kraft auf die Aufmerksamkeit“, welche eine Ver- 
legung des Aufmerksamkeitszentrums nach der Peripherie hervor- 
riefen, so dals die im Falle weniger auffälliger Objekte bestehende - 
Verschiedenheit der Vergleichskonstellationen hinsichtlich ihres 
Einflusses auf die zweite Komponente hier in Wegfall kam. Es 
ist also nach „Hypothese II“ durchaus verständlich, dafs die 
Farbe Rot, welche nach den Ergebnissen AmEsEDERs von allen 
Farben die grölste „anziehende Kraft auf die Aufmerksamkeit“ 
besitzt, bei der Prüfung der Farbengrenzen eines eingeengten 
Gesichtsfeldes begünstigt erscheinen wird. „Hypothese I“ dagegen 
liefert zur Erklärung dieser Tatsache keine Handhabe. — Bms- 
WANGER zitiert die Sätze von CHAarcor und PArmAuD in zu- 
stimmendem Sinne. Die gelegentlich zu beobachtenden besonders 
starken Einschränkungen für Rot, welche BisswAnGeEr hervor- 
hebt, sind wohl den Fällen zuzurechnen, in denen die Farben in 
der normalen Reihenfolge verschwinden. 


Bei Behandlung dieser zweiten Klasse von Phänomenen 
müssen wir auch auf eine Erscheinung eingehen, welche einst 
das Interesse der Ophthalmologen und Nervenärzte in hohem 
Malse auf sich zog, während ihr gegenwärtig sehr häufig teils 
eine nähere Beziehung zu dem Symptom der Gesichtsfeldein- 
engung, teils überhaupt jede klinische Bedeutung abgesprochen 
wird. Im Jahre 1877 machte ForrstEr auf dem Ophthalmologen- 
kongrels zu Heidelberg eine kurze Mitteilung über eine an ein- 
geengten Gesichtsfeldern angestellte Beobachtung, welche in der 
Literatur eine lebhafte Diskussion hervorrief, und deren Rich ig- 
keit in den späteren Untersuchungen stets bestätigt werden konnte. 


I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 187 


Führt man das an dem Perimeter angebrachte Objekt ein- 
mal von der Schläfenseite zur Nasenseite durch das Gesichtsfeld, 
und nimmt man darauf die Prüfung in der umgekehrten Rich- 
tung vor, so erhält man bei beiden Arten der Bewegung nicht, 
wie man erwarten sollte, übereinstimmende Werte für die Aus- 
dehnung des Gesichtsfeldes. Später ergab sich, dafs diese Tat- 
sache, welche nach O. Könıe als „FoErsTERscher Verschiebungs- 
typus“ (V. T.) bezeichnet wird, allgemeinere Gültigkeit besitzt, 
insofern, als bei einer Prüfung in ganz beliebigen Meridianen 
die Eintrittsstellen des peripheren Objektes in dem Bereich der 
Sichtbarkeit jederzeit peripherer liegen als die entsprechenden 
Austrittsstellen, die man erhält, wenn man die Prüfung im selben 
Meridian, aber mittels einer Bewegung von entgegengesetztem 
Sinne, ausführt. 

Der reiche und viel umstrittene Tatsachenkreis des V. T. ist auch aus 
allgemeineren Gesichtspunkten der psychophysischen Methodik von hervor- 
ragendem Interesse. Er zeigt an einem besonders instruktiven Beispiel 
die zuerst von G. E. Mürrer (Zur Grundlegung der Psychophysik 1879) 


hervorgehobene, seitdem von psychologischer Seite immer wieder betonte 
Wichtigkeit des auf- und absteigenden Verfahrens. 


Als dann infolge der Unfallgesetzgebung die diagnostischen 
Merkmale der viel umstrittenen traumatischen Neurosen in den 
Brennpunkt der praktischen Interessen traten, und als O. Könıe ! 
den V.T. für ein objektives Krankheitszeichen der traumatischen 
Neurose erklärte, da wandte sich das Interesse der Erscheinung 
noch einmal mit grofser Lebhaftigkeit zu, als einem Symptom, 
welches dem Verdacht der Simulation nicht ausgesetzt sei. 

Gegenwärtig hat das einst so rege Interesse an dem Sym- 
ptom abgenommen. Wırsrann? beobachtete es auch bei Neu- 
rasthenikern, Alkoholikern, Morphinisten usw. und sah es als 
eine Ermüdungserscheinung an. Das Symptom gewann schliefs- 
lich den Anschein gänzlicher Bedeutungslosigkeit, als es SCHMIDT- 
Rımpter® gelang, den V.T. auch an ganz Gesunden nachzu- 


ı Ein objektives Krankheitszeichen der traumatischen Neurose. Berl. 
Klin. Wochenschr. 1891, Nr. 31. 

2 WILBRAND und SAENGER, Über Sehstörungen bei funktionellen Nerven- 
eiden, Leipzig 1802. Wırsrann, Über neurasthenische Asthenopie und sog. 
lAnaesthesia retinae. Arch. f. Augenheilk. 1882, 12, S. 263. 

3 Bemerkungen zu wirklicher und simulierter Sehschwäche und Gesichts- 
feldeinengung. Festschrift zur 100jähr. Stiftungsfeier des Med.-Chirurg. 


188 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


weisen, eine Beobachtung, welche PETERS und Vogzs! bestätigen 
konnten. 

Demgegenüber glaubte W. Könıe?® den V. T. auf Grund 
eingehender Untersuchungen wieder als ein hysterisches Stigma 
ansehen zu müssen. Zwar konnte er die Lehre von ScHMIDT- 
Rınpter, dals V.T. in geringem Grade auch bei Gesunden vor- 
komme, bestätigen, aber er fand sich unter 215 voraussichtlich 
nervengesunden Individuen nur in 25 Fällen? und besafs dann 
stets einen sehr geringen Betrag, während er bei den unter- 
suchten Hysterischen nur mit wenigen Ausnahmen durchweg 
vorkam. Die k. G. E. ist ein Stigma der Hysterie, und zwar 
z. Z. oft das einzig nachweisbare. Die „Untersuchungseinschrän- 
kung“ (so bezeichnet der Verf. den V.T.), ist nach W. Köxıss 
Ansicht eine der k. G. E. nahe verwandte Erscheinung, und wir 
haben wahrscheinlich in ihr eine leichtere Form derjenigen 
Affektion zu erblicken, die, wenn sie intensiver wird, zur k. G. E. 
führt. Neuerdings gelangte nun auch Kuren (l. c. S. 374) durch 
vergleichende Untersuchungen wiederum zu dem Satze, dals 
es sich beim normalen Gesichtsfelde „im allgemeinen um viel 
„schwächere Verschiebungen handelt, als beim konzentrisch ein- 
„geengten Gesichtsfeld.“ 


Die Frage nach dem Wesen des V.T. ist trotz der zahl- 
reichen über dieses Symptom erschienenen Arbeiten, selbst für 


Friedr.-Wilh.-Inst. Berlin 1895. — Über Gesichtsfeldermüdung u. Gesichts- 
feldeinengung mit Berücksichtigung der Simulation. Wiener Med. Wochenschr. 
1895, Nr. 43. Zur Simulation konzentrischer Gesichtsfeldeinengung mit 
besonderer Berücksichtigung der traumatischen Neurose. Deutsche Med. 
Wochenschr. 1892, Nr. 24. 

! Peters, Über das Vorkommen und die Bedeutung des sog. Ver- 
schiebungstypus des Gesichtsfeldes. Deutsche Zeitschr. für Nervenheilk. 5, 
S.302, 1894. — Voges, Die Ermüdung des Gesichtsfeldes. Diss. Göttingen 1895, 

® Weitere Mitteilungen über die funktionellen Gesichtsfeldeinengungen 
mit besonderer Berücksichtigung von Befunden an normalen Menschen. 
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 7, 1895. 

® Anm. des Verf.: Absolute Zahlenwerte besitzen bei einer Erscheinung, 
die ihrer Natur nach ganz von der Art des Perimetrierens, von der An- 
wendung oder Unterlassung von Suggestion, kurz von der individuellen 
Verfahrungsweise des Untersuchers abhängig sein dürfte, wohl nur einen 
zweifelhaften Wert. Die Resultate verdienen dann aber auf jeden Fall Be- 
achtung, wenn ein und derselbe Untersucher in ein und derselben Weise 
Normale und Kranke prüft. 


I. Kapitel. Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung usw. 189 


den Fall des normalen Gesichtsfeldes, auch heute noch ungelöst. 
Die bisher über den V.T. aufgestellten Theorien ordnen sich in 
zwei Hauptklassen, je nachdem die Erscheinung als ein Ermü- 
dungs-! oder als ein Aufmerksamkeitsphänomen? angesehen wird. 

Bei der Modifikation des Versuches durch WıLsrAnD, welcher 
das Objekt eine ganze Reihe von Malen in ununterbrochener 
Bewegung im selben Meridiane von der temporalen zur nasalen 
Seite führt, und umgekehrt, wobei die Gröfse des eingeengten 
Gesichtsfeldes immer weiter abnahm, mag Ermüdung im Spiel 
gewesen sein. Dagegen ist diese Erklärung abzuweisen, wenn 
sich die Prüfung nicht immer auf denselben Meridian erstreckt. 
„Wenn man“, bemerkt Schmipr-Rımpuer (Die Erkrankungen des 
Auges im Zusammenhang usw. S. 266), „als Ursache der Er- 
„scheinung eine Ermüdung der Netzhaut annehmen wollte, so 
„würde es... absolut unverständlich sein, warum, wenn ich, 
„beispielsweise von der temporalen Seite beginnend, das Objekt 
„durch den horizontalen Meridian zur nasalen Seite führe, dort 
„eine Ermüdung eingetreten sein soll, während bei der sich gleich 
„anschliefsenden Einführung des Objektes in den nächstfolgenden, 
„15° tieferliegenden Meridian auf der temporalen Seite bereits 
„wieder volle Erholung vorhanden ist. Es mülste denn gerade 
„die Netzhaut im Interesse des Perimetrierens so eingerichtet 
„sein, dafs sie immer hübsch meridianweise ermüdet.“ 

Als ein experimentum crucis gegenüber der Ermüdungs- 
theorie kann man einen Versuch von R. Sımox ® auffassen, welcher 
nachwies, dafs der V.T. auch dann eintritt, wenn man nur in 
Halbmeridianen perimetriert und dabei jedesmal mit der zentri- 
fugalen Bewegung, deren ungünstigere Stellung ja angeblich mit 
Ermüdung zusammenhängt, den Anfang macht. 

Ein anderer Versuch, den V. T. auf physiologischem Wege 


! WILDBRAND-SAENGER und WILDBRAND (l. c.). 

2 Um aus der gro[sen Zahl der Arbeiten vorläufig nur einige der wich- 
tigeren zu nennen: Saromoxsonn, Über die sog. pathol. Netzhautermüdung. 
Berl. Klinik. 1874. Heft 70. — Scumior-Rıuprer 1. c. — Voazs l.c. — 
W. Könıe l. c. — In den Einzelheiten abweichende, aber gleichfalls dieser 
allgemeinen Klasse einzuordnende Ansichten vertreten PLaczex, Berl. Klin. 
Wochenschr. 1892, S. 874 u. 902 und W. Könıe (l. c.). — Auch BINSWANGER 
(l. c.) hält eine Aufmerksamkeitsstörung für das Wesentlichste. 

3 Über die Entstehung der sog. Ermüdungseinschränkungen des Gesichts- 
feldes, Arch. f. Ophth. 40, Abt. 4, 1894, 8. 276. 


190 II. Abschnitt. Bestätigung der im 1. Abschnitt gegebenen usw. 


zu erklären, ist kürzlich von Kren (l. c.) gemacht worden. 
Kuren geht bei seinen theoretischen Erwägungen von der Tat- 
sache aus, dafs die Grenzen des Gesichtsfeldes bei etappenweiser 
Einführung des Objektes, also bei Einschaltung von Momenten 
des Stillstandes, weiter gefunden werden, als wenn die Einführung 
mittels einer kontinuierlichen langsamen ! Bewegung vollzogen 
wird. Diese Erscheinung führt Kuren darauf zurück, dals die 
Netzhautstellen, welche der Reiz in irgend einem Moment seiner 
Fortbewegung trifft, zum gröfsten Teil schon im unmittelbar 
vorhergehenden Moment jener Bewegung von demselben Reize 
getroffen worden waren, dafs also das kontinuierlich bewegte 
Objekt dem gröfsten Teile seiner Ausdehnung nach immer auf 
für den betreffenden Reiz schon ermüdete Netzhautstellen fällt. 
„Dazu kommt noch, dafs auch die Umgebung eines Reizes für 
„den betreffenden Reiz — wenigstens solange Kontrastwirkung 
„besteht — unterempfindlich ist. Auch der vorangehende Rand 
„des Objektes trifft also auf eine Stelle, welche... in ihrer Er- 
„regbarkeit für den betreffenden Reiz herabgesetzt ist.“ (Das 
letztere ist offenbar unrichtig.) Bei etappenweiser Einführung 
komme die aus diesen Verhältnissen resultierende Schwächung 
der Wirksamkeit des Reizes in Wegfall. 

Die Differenz zwischen den Grenzen bei zentripetaler und 
zentrifugaler Objektführung beruht dann nach Kriens Vermutung 
darauf, „dafs die Erregbarkeitsverschiebungen in der Umgebung 
„des Reizes um so stärker sind, je intensiver die Reize sind“, und 
dafs das gleiche Objekt „in den zentralen Teilen der Netzhaut 
„einen viel stärkeren Reiz bedeutet als in den peripheren. Es 
„muls also bei Ausführung des Objektes die Erregbarkeit für 
„dasselbe an der Gesichtsfeldgrenze stärker herabgesetzt sein, als 
„bei Einführung.“ 

Selbst wenn ich von dem bereits zurückgewiesenen Irrtum 
hinsichtlich der „Erregbarkeitsverschiebung in der Umgebung“ 
ganz absehe und mich nur an die Tatsache der Ermüdung der 
bereits vorher von dem gleichartigen Reiz affizierten Netzhaut- 
stellen halte, selbst dann vermag ich diese Schlufsweise nicht zu 
verstehen. Der peripher dargebotene Reiz, welcher als solcher 
angeblich schwächer perzipiert wird als ein mehr zentral dar- 
gebotener, soll dadurch nun wieder zu dem stärker perzipierten 


1 K, legt mit Recht auf die langsame Führung des Objektes Wert. 


I. Kapitel. Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung usw. 191 


werden, dafs die — von demselben Reiz in der vorhergehenden 
Bewegungsphase herrührende — Ermüdung der Netzhautstellen, - 
auf welche er fällt, bei dem peripherer dargebotenen Reiz ge- 
ringer ist wie bei dem zentraleren. Vor allem kommt doch wohl 
in Betracht, dafs der peripherer dargebotene Reiz der angeblich 
schwächer perzipierte sein soll; demgegenüber spielt offenbar der 
ihm auf Grund der Betrachtung der Ermüdungsverhältnisse wieder 
zugeschriebene Vorzug eine ganz untergeordnete Rolle. 

Derjenige, welcher durchaus die Netzhautprozesse heranziehen wollte, 
könnte höchstens mit einem gewissen Scheine des Rechtes darauf hin- 
weisen, dafs bei der Einführung des Objektes, bei der das Kriterium ja in 
der Wahrnehmung des Auftauchens besteht, vorwiegend der vorauslaufende, 
bei der Ausführung, wo das Verschwinden anzugeben ist, vermutlich vor- 
wiegend der nachfolgende Rand beachtet werden wird. Da nun aber, so 
könnte jemand argumentieren, der nachfolgende Reiz stets auf in gleich- 
artiger Weise ermüdete Netzhautstellen fällt, der vorauslaufende hingegen 
auf unermüdete und für die Perzeption des Reizes infolge des Simultan- 
kontrasts sogar in einem besonders günstigen Zustande befindliche Netz- 
hautstellen, so sind die Perzeptionsbedingungen für den Reiz im Falle der 
Einführung günstiger als in dem der Ausführung. 

Schon der gelegentlich beobachtete aufserordentlich grofse Betrag des 
V. T. wäre nach dieser Ansicht schwer verständlich. Vor allem aber werden 
wir sogleich sehen, dafs jede an die physiologischen Verhältnisse der Netz- 
haut anknüpfende Ansicht vom Wesen des V.T. den Tatsachen nicht ge- 
recht zu werden vermag. 


Das Unzutreffende der von Kuren entwickelten Ansicht über 
das Wesen des V.T. läfst sich auch noch auf einem anderen 
Wege deutlich machen. 

Die Annahme, dafs ein Unterschied in den physiologischen 
Wirkungen besteht, je nachdem derselbe Reiz die Fovea oder 
die Peripherie trifft, und dafs die Gröfse jenes Unterschieds mit 
dem Winkelabstand der betreffenden exzentrischen Netzhaut- 
stelle von der Fovea zunimmt, ist der Nery jener Theorie. Mit 
dieser Annahme steht und fällt sie. Betrachten wir jetzt den 
Fall der hysterischen k. G. E.. Dieses Symptom hat auch nach 
KLiıex seinen Grund nicht in einer Abänderung der Netzhaut- 
prozesse. Man muls uns also das Recht einräumen, die oben 
wiedergegebenen Schlüsse Kuırxs, deren Richtigkeit wir im Wider- 
spruch zu unserer tatsächlichen Überzeugung für einen Augen- 
blick zugeben wollen, auch in diesem Falle Schritt für Schritt 
zu wiederholen. Nun wird hier das Objekt auf den äufsersten 
Zonen der Netzhaut, welche beim Normalen noch Empfindungen 


192 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


vermitteln, gar nicht mehr wahrgenommen. Im Falle der hyste- 
rischen k. G. E. ist also der Abstand der periphersten Netzhaut- 
punkte, welche für die Wahrnehmung und darum auch für 
unsere Betrachtung über den V.T. noch in Frage kommen, ge- 
ringer als im Falle des normalen Beobachters. Gleichzeitig mit 
der Gröfse des Abstandes mu[s — der Annahme zufolge — die 
Grölse des oben hypostasierten funktionellen Unterschieds ab- 
nehmen; alles dies um so mehr, je erheblicher die Einengung 
ist. Bei der Gesichtsfeldeinengung infolge funktioneller Nerven- 
leiden mülste also, da, wie wir nochmals hervorheben, eine Än- 
derung der Netzhautprozesse hierbei nicht eintritt, der Betrag 
des V. T. im Durchschnitt geringer sein als bei normalen Indi- 
viduen. Das umgekehrte Verhalten findet, wie wir sahen, nach 
Kuiens eigenen Versuchen statt. 

Ebensowenig ist auf dem Boden dieser Theorie — wie auch 
vom Standpunkt jeder anderen auf den Netzhautprozessen fulsen- 
den Ansicht — die Beobachtung Schmior-Rımprees verständlich, 
dafs sich ein ausgeprägter V. T. im allgemeinen nur bei schlechten 
und unzuverlässigen Beobachtern findet. Handelte es sich beim 
V.T. um Unterschiede in den Netzhautprozessen, so mülste das 
Phänomen unter sonst gleichen Bedingungen um so deutlicher 
in Erscheinung treten, je sorgfältiger der Beobachter ist. Für 
Untersuchungen im Gebiete der Psychophysik der Gesichtsem- 
pfindungen sind die besten Beobachter gerade gut genug. 

Auch die von ihm gefundene Tatsache, dafs man bei etappen- 
weisem, plötzlichem Erscheinenlassen des Objektes einen weiteren 
Wert erhält als bei langsamer Ein- und Ausführung, sucht KLIEN 
mit Hilfe seiner Theorie zu erklären. 

Die Theorie scheint sogar hauptsächlich im Hinblick auf 
diese Tatsache entworfen zu sein. Beim plötzlichen Erscheinen- 
lassen des Objektes treten aber vermutlich neue Faktoren, nament- 
lich solche zentraler Art ins Spiel, so dals eine allein mit Netz- 
hautprozessen arbeitende Theorie, wenn ihr alle anderen Stützen 
entzogen sind, selbst im Falle wirklicher Übereinstimmung mit 
jener einen Tatsache nicht aufrecht erhalten werden könnte. 
Übrigens wird an einer anderen Stelle der Arbeit doch zuge 
geben, dafs die Aufmerksamkeit wohl eine gewisse Rolle spielen 
mag. 

Mit dieser einen soeben behandelten Ausnahme sprechen die 
neueren Arbeiten das Phänomen wohl durchweg als eine Auf- 


1. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 193 


merksamkeitserscheinung an. Begründet wurde diese Anschau- 
ung von SALOMONSOHN (l. c.) Das Argument war anfangs nur 
negativen Charakters. Es bestand in dem Hinweis auf den 
Bankerott der Ermüdungstheorie. 

Einen weiteren Stützpunkt erhielt diese Anschauung durch 
die Beobachtung von Voces, dafs das sog. Ermüdungsgesichts- 
feld, wie man unter der Herrschaft der Wırsranp’schen Ermü- 
dungstlieorie den von den Austrittsstellen begrenzten Netzhaut- 
bezirk bezeichnete, jederzeit weiter hinausrückt, wenn man die 
Vp. auffordert, recht scharf achtzugeben und das Verschwinden 
des Prüfungsobjektes ja nicht eher anzuzeigen, als bis es wirk- 
lich verschwunden ist; im selben Sinne spricht der Befund von 
SCHMIDT-RIMPLER, dafs man dem V. T. bei jüngeren Individuen 
und Weibern häufiger begegnet als bei Männern, die durch ihre 
verantwortungsvolle Berufstätigkeit ihre Gedanken mehr zusammen- 
zuhalten gewöhnt sind, und ihre Aufmerksamkeit ganz dem zu- 
zuwenden, was von ihnen verlangt wird. 

Obwohl diese Ansicht sicher einen Kern von Richtigem in 
sich birgt, so werden wir in einer so allgemein gehaltenen Hypo- 
these kaum eine ausreichende Erklärung für den Tatbestand er- 
blicken können. Wenn z. B. Schmipr-RimpLer (Die Erkrankungen 
des Auges usw. S. 267) die Erscheinung auf Grund jener Tat- 
sachen als eine Folge von „Schwankungen der Aufmerksamkeit“ 
bezeichnet, so bleibt immer noch die Frage zu beantworten, 
warum denn die Aufmerksamkeit immer gerade nur im Falle 
der zentrifugalen Bewegung erlahmt. Es ist nicht angängig, 
der Aufmerksamkeit eben denjenigen kapriziösen Charakter zuzu- 
schreiben, den man für die Ermüdung in Abrede stellen zu 
müssen glaubt. 

Auf Grund sehr zahlreicher Selbstbeobachtungen bei der- 
artigen Einstellungen ist Verf. zu der Ansicht gelangt, dals’ beim 
Zustandekommen des V. T. mehrere Umstände zusammen- 
wirken. 

Ich soll den Eintritt bzw. den Austritt des Objektes aus dem 
Gesichtsfeld angeben. Während mir die Erfüllung der ersten 
Aufgabe leicht wird, fühle ich mich beim umgekehrten Versuche 
oft recht unsicher. Während dieses Versuches mufs ich mir im 
Geiste immer wieder von neuem die Instruktion vergegenwärtigen. 
Unterlasse ich dies, so komme ich sehr leicht in Gefahr, das- 
jenige Kriterium, welches mir durch die Instruktion vorge- 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 13 


194 1I. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


schrieben ist, aufser acht zu lassen und mich statt dessen eines 
anderen zu bedienen, welches sich mir in verführerischer Weise 
aufdrängt. Wird das Testobjekt allmählich, aber der üblichen 
Methode entsprechend in steter Bewegung, vom Fixierzeichen 
entfernt, so vermag ich anfangs Fixierzeichen und Testobjekt 
durch einen einheitlichen Akt der Aufmerksamkeit zu umspannen ; 
d. h. ich meine, den von Fixierzeichen und Testobjekt begrenzten 
Teil des Gesichtsfeldes mitsamt diesen Grenzen als ein simul- 
tanes Bild zu überschauen. Entfernt sich das Testobjekt weiter 
vom Zentrum, so wird diese einheitliche Auffassung bald .un- 
möglich. Wohl sehe ich das Testobjekt immer noch, aber während 
ich ihm die Aufmerksamkeit energisch zuwende, glaube ich nun 
nicht mehr, das ganze vom Testobjekt bis zum Fixierzeichen 
reichende Feld simultan zu überschauen. Ich verliere sozusagen 
den Fixierpunkt aus den Augen; je weiter das Testobjekt vom 
Zentrum abrückt, und auf je seitlichere Punkte ich meine Auf- 
merksamkeit konzentrieren mufs, um so stärker tritt, hervor- 
gerufen durch das innerliche Verschwinden des Fixierzeichens, 
der Zweifel hervor, ob ich denn wirklich noch fixiere. Kon- 
zentriere ich hingegen meine Aufmerksamkeit sehr stark auf 
den Fixierpunkt, so entschwindet mir umgekehrt häufig das Test- 
objekt für Augenblicke, obwohl es, wenn ich meine Aufmerk- 
samkeit wieder stärker auf den Rand des Gesichtsfeldes sammle, 
dann nochmals auftauchen kann. 

Wenn ich bei dem Versuche Reflexionen unterdrücke, so 
fühle ich mich verführt in demjenigen Augenblicke das Ver- 
schwinden anzuzeigen, in welchem mir die simultane Auffassung 
von Fixierzeichen und Testobjekt nicht mehr möglich ist, und 
das Testobjekt, wenn ich die Aufmerksamkeit energisch auf dem 
Fixierzeichen sammle, zeitweise zu verschwinden anfängt. In 
dieser kritischen Zone mufs ich mir durch eine besondere Re- 
flexion iinmer wieder vor Augen führen, dafs ich über die simul- 
tane Sichtbarkeit der beiden Eindrücke gar kein Urteil abzu- 
geben habe. Das unrichtige Kriterium drängt sich vielfach so 
stark auf, und das richtige hat zuweilen so schwer zu kämpfen, 
um sich im Bewulfstsein durchzusetzen, dafs ich es sehr wohl 
begreifen könnte, wenn ein psychologisch nicht geschulter Be- 
obachter einfach den Augenblick bezeichnet, in welchem er 
Fixierzeichen und Testobjekt nicht mehr simultan überschaut. Bei 
der Prüfung des Eintrittsmomentes hingegen fehlt ein solches 


I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 195 


mit dem durch die Instruktion geforderten konkurriendes Kriterium. 
Selbst wenn ich meine Aufmerksamkeit ganz fest auf dem Fixier- 
punkt sammle, so vermag ich doch mit grolser subjektiver Sicher- 
heit den Augenblick anzugeben, in welchem sich zum ersten 
Male an der Peripherie etwas bewegt. Das Auftauchen eines 
Objektes im Gesichtsfeld ist ein sehr eindringlicher Vorgang. 

Es drängt sich mir im Falle der Ausführung aus dem Ge- 
sichtsfelde nicht minder leicht noch ein anderer falscher Urteils- 
malsstab auf, dessen Abweisung gleichfalls oft erhebliche Vor- 
sicht erfordert. Auf diesen Umstand hat schon R. Sımox (l. c.) 
die Erklärung des V. T. gegründet; doch haben seine Aus- 
führungen bisher keine erhebliche Beachtung gefunden. „Passiert 
das Objekt“, so führt dieser Autor aus (l. c. S. 290), „das Zentrum, 
„so kommt uns nicht allein seine Helligkeit zum Bewulstsein, 
„sondern ebenso seine Form; wir richten uns bei der weiteren 
„Verfolgung auch nach der Deutlichkeit seiner Begrenzung. Die 
„Empfindungsschärfe verschiebt sich bei zentrifugaler Führung 
„nun immer mehr zuungunsten des peripheren Objektes, ... 
„die durch dieses erzeugte Empfindung wird endlich so schwach, 
„dafs es vielen sehr schwer wird, anzugeben, ob sie das Objekt 
„noch sehen.“ 

Auf Grund zahlreicher Selbstbeobachtungen kann ich diese 
Ausführungen durchaus bestätigen. Wenn sich das Objekt vom 
Zentrum aus bis nahe an die Grenze des Gesichtsfeldes entfernt 
hat, so ist mit dem Objekt eine so gewaltige Änderung vor sich 
gegangen, und die Deutlichkeit hat gegenüber der anfänglichen 
eine so erhebliche Abnahme erfahren, dafs ich eine starke und 
nur durch eigens darauf gerichtete Reflexion zu bekämpfende 
Tendenz zur vorzeitigen Abgabe des Urteils wahrnehme Es 
liegt hier offenbar eine ähnliche Beeinflussung des Urteilsmals- 
stabes vor, wie wir sie nach den Lehren der psychophysischen 
Methodik auf verschiedenen anderen Versuchsgebieten als Folge 
vorausgegangener Versuche beobachten. 

Mit diesen Beobachtungen und der darauf gegründeten Auf- 
fassung vom Wesen des V. T. befindet sich auch ein von 
0. Könıs ! gefundenes Resultat in Einklang. Dieser Autor peri- 
metrierte nach der von FOERSTER angegebenen Methode, indem 


! Beobachtungen über Gesichtsfeldeinengung nach dem Forrsterschen 


Typus. Arch. f. Augenheilk. 22. 1891. S. 264. 
13* 


196 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


er das Testobjekt durch die ganze Länge des Meridianes, über 
den Fixierpunkt hinweg, hindurchführte. Bei einem der Patienten 
wurden jedoch die Grenzen aulserdem noch nach einer anderen 
Methode bestimmt, bei welcher die Ermittlung der differieren- 
den Gesichtsfelder nicht simultan, sondern sukzessiv erfolgte. 
Bei der ersten Aufnahme des Gesichtsfeldes wurde das Objekt 
stets von der Peripherie zum Zentrum, bei der zweiten stets 
vom Zentrum zur Peripherie geführt. Obwohl der V. T. bei 
dieser Patientin schon bei Anwendung der ersten Methode vor- 
handen war, so trat er bei dem sukzessiven Verfahren doch sehr 
viel deutlicher hervor (l. e. Fig. 51 u. 52). Das Eintrittsgesichts- 
feld, wie wir uns kurz ausdrücken wollen, hat keine weitere Ein- 
schränkung, sondern im Gegenteil eine schwache Ausdehnung 
erfahren; der Durchmesser des Austrittsgesichtsfeldes hingegen 
hat sich bei der sukzessiven Bestimmung aufserordentlich stark 
verkleinert, etwa um die Hälfte. 

Bei der Forrsterschen Methode können sich eben zwei ver- 
schiedene Urteilsfaktoren nicht so leicht und nicht in so aus- 
geprägter Weise ausbilden und erhalten, weil unmittelbar auf 
einen Eintritt ein Austritt folgt, und die Untersuchungsperson 
somit auf eine Verschiedenheit ihrer Verhaltungsweise leicht auf- 
merksam werden kann. Bei der sukzessiven Bestimmung der 
differenten Gesichtsfelder fällt dieses Korrektiv hinweg; und es 
erscheint begreiflich, wenn die Differenz der Urteilsmalsstäbe 
hier wesentlich ausgeprägter ist. 

Auch die vorgenannten Beobachtungen von Voces und 
ScumDT-RIMPLER ergeben sich aus dieser Auffassung in natür- 
licher Weise. 

Eine weitere Bestätigung erblicken wir in einer Beobachtung 
von Kurwe (l. c.) Wurde das Objekt langsam ausgeführt, so 
gaben die Untersuchten oft schon nach kurzer Zeit an, dafs es 
verschwunden sei. Wurde nun aber die Untersuchung in diesem 
Augenblicke des ersten Verschwindens nicht abgebrochen, führte 
man das Objekt vielmehr noch weiter nach der Peripherie, so 
wurde es sehr bald wieder gesehen, um kurz darauf wieder zu 
verschwinden usf. Solche Schwankungen kamen, ebenso wie bei 
der Ausführung, auch bei der Einführung vor. Bei hinterein- 
ander vorgenommenen Untersuchungen fanden sich die negativen 
Phasen immer an anderer Stelle, so dals organisch bedingte Un- 
regelmäfsigkeiten in der Netzhautempfindlichkeit nicht anzu- 


1. Kapitel. Nachweis, da/3 eine widerspruchsfreie Deutung usw. 197 


schuldigen sind. Verglich man die Stelle, an welcher das Ob- 
jekt bei zentripetaler Führung zum ersten Male sichtbar wurde, 
und wo es bei zentrifugaler Führung zum letzten Male schwand, 
so zeigte sich eine starke Reduktion, resp. völliges Verschwinden 
des V.T. 

Näher liegender als die mit Netzhautprozessen arbeitende Er- 
klärung, welche KLırn der von ihm beobachteten Erscheinung 
gibt, scheint mir folgende Deutung zu sein. 

Die Vp. erklärt bei Ausführung das Objekt zum ersten Male 
für verschwunden, wenn sie zum ersten Male Fixierpunkt und 
Objekt nicht mehr gleichzeitig mit ihrer Aufmerksamkeit zu um- 
fassen vermag, d. h. wenn das periphere Objekt anfängt, ihr für 
Augenblicke zu entschwinden. Einer erneuten Anspannung der 
Aufmerksamkeit, vielleicht auch einer relativen Abwendung der 
Aufmerksamkeit vom Fixierpunkt und einer lokalen Konzentration 
derselben auf das Testobjekt gelingt es dann eine Zeitlang immer 
wieder, das schon entschwundene Objekt nochmals in Erscheinung 
treten zu lassen. Für gewöhnlich wird ja nun aber die Unter- 
suchung im Moment des ersten Verschwindens, bzw. Erscheinens, 
abgebrochen; daher kann bei öfterem Neueinsetzen das angegebene 
Moment, die Unfähigkeit, einen Bezirk von gewisser Grölse 
simultan zu überschauen, nur in geringerem Mafse in Betracht 
kommen.! 


! Die Verhältnisse liegen nicht wesentlich anders, wenn man, wie 
Kuey in einer anderen Versuchsreihe verfuhr, nicht das Erscheinen und 
Verschwinden eines einfachen Objektes, sondern das Getrenntsehen zweier 
Quadrate bzw. der beiden Schenkel einer Hakenfigur prüfte. Alles, was 
das Auftauchen und Verschwinden befördert, befördert auch das Deutlich- 
sehen bzw. das Undeutlichsehen. Das erste Versagen der Aufmerksamkeit 
wird den Eindruck momentan undeutlicher erscheinen lassen; die darauf- 
folgende lokale Konzentration der Aufmerksamkeit wird seine Deutlichkeit 
nochmals steigern. — Da Scnumipr-Rıneter für gewöhnlich in einer dieser 
Methode sehr ähnlichen Weise vorgeht, so ist es nicht verwunderlich, dafs 
er den V. T. nur „aufserordentlich selten“ konstatiert. „Ich frage aller- 
„dings wiederholt, ob nicht doch die Bewegung des Quadrates in der 
„Gesichtsfeldperipherie wahrgenommen wurde. Dann wird sie auch wahr- 
genommen!“ (Scuamipr-RinpLer, Die Erkrankungen usw. 8. 267.) — Mit 
dieser Auffassung des Kuırxschen Versuche befindet sich die von GRoE- 
xouw (l. c.) beobachtete Tatsache durchaus im Einklang, dafs der V. T. 
nur in sehr mangelhafter Weise nachgewiesen werden kann, wenn man 
das Objekt nicht gleichmäfsig bewegt, sondern Intervalle des Stillstandes 
mit solchen der Bewegung abwechseln läfst. In diesem Falle ist die Auf- 


198 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Aber auch das zweite der oben angegebenen Momente wird 
in um so geringerem Malse in Betracht kommen, je öfter ein 
Neueinsetzen stattfindet. Denn je peripherer sich das Objekt im 
Augenblick eines solchen neuen Einsetzens schon befindet, um 
so geringer ist die „Verwöhnung“ des Urteils innerhalb dieser 
Abteilung des Versuches. 

Der Foerstersche Verschiebungstypus ist also keineswegs 
ein Symptom, welches für die bei funktionellen Nervenleiden 
auftretende k. G. E. pathognomisch ist. Jeder Versuch einer 
Erneuerung dieser überholten Lehre wird mit Recht entschieden 
zurückgewiesen werden. Eine Theorie des V. T muls aber, wenn 
anders sie das Erklärungsbedürfnis befriedigen soll, auch von der 
Tatsache Rechenschaft geben, dafs der V. T. bei k. G. E. im 
allgemeinen erheblich ausgesprochener ist als bei einem normalen 
Gesichtsfeld. 

Die oben erwähnten Selbstbeobachtungen liefern, wie ich 
glaube, in Verbindung mit den entwickelten Anschauungen vom 
Wesen der k. G. E. auch zum Verständnis dieses Satzes den 
Schlüssel. 

Besteht das Wesen der k. G. E. nicht in einer eigentlichen 
Aufhebung der durch die Netzhautperipherie vermittelten Emp- 
findungen, sondern in der Herabsetzung der Fähigkeit, einen 
Bezirk von gewisser, sei es wirklicher, sei es scheinbarer Aus- 
dehnung, simultan deutlich zu sehen, so wäre es verständlich, 
wenn sich bei derartigen Individuen die Fähigkeit, ein zentrales 
und ein peripheres Objekt simultan aufzufassen, — welchem 
Umstande wir ja beim Austrittsgesichtsfeld Bedeutung beimessen 
zu müssen glaubten — in erheblicherem Malse eingeschränkt 
erwiese, als es unter normalen Umständen zu erwarten ist. Er- 
innern wir uns hingegen an die Tatsache, dafs das ungestörte 
Orientierungsvermögen bei eingeengtem Gesichtsfeld von unserem 
Standpunkt aus sehr wohl verständlich war, weil wir ja der Netz- 
hautperipherie die Fähigkeit, zu empfinden, nicht absprechen zu 
dürfen glaubten, so ist es sehr wohl verständlich, wenn in dem 
Falle, wo es nur darauf ankommt, zu bemerken, dafs sich an 


merksamkeit immer nur für relativ kurze Augenblicke beschäftigt; die Be- 
dingungen für das Nachlassen derselben sind in viel geringerem Grade 
gegeben. Das Objekt wird erst an der Stelle, oder jedenfalls näher der- 
jenigen Stelle verschwinden, an welcher es bei der Krıznschen Methode 
der Führung zum letzten Male unsichtbar wird. 


I. Kapitel. Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung usw. 199 


der Peripherie etwas bewegt, die Einschränkung erheblich geringer 
erscheint, als in dem anderen Falle, in welchem der Geprüfte 
die Auffassung zu einem simultanen Bilde anstrebt. 

Ganz ähnlich liegen die Dinge bei dem zweiten der beiden 
Momente, welche nach der hier dargelegten Auffassung für das 
Zustandekommen des V. T. von Bedeutung sind. Wir über- 
zeugen uns hiervon durch folgende Überlegung. 

Wir haben früher (S. 145) festgestellt, dafs das Kostersche 
Phänomen ein feineres Kriterium! für die Wirksamkeit der 
„II. Komponente“ darstellt als das AUBERT-FOERSTERsche, insofern 
als das erstgenannte Phänomen schon bei geringeren Unter- 
schieden der scheinbaren Grölse auftritt als das letztgenannte. 
Ferner sahen wir, dafs die Wirksamkeit der „II. Komponente“, 
wenn überhaupt, sicherlich noch schwerer, also nur bei Ein- 
führung noch bedeutenderer Gröfsenunterschiede, nachzuweisen 
wäre, als bei Benutzung des Doppelquadrates, wenn wir allein 
auf das noch viel rohere, weil eindringlichere Kriterium der 
Wahrnehmung eines ins Gesichtsfeld eintretenden Objektes an- 
gewiesen wären. Als eine neue Bestätigung unserer damaligen 
Ausführungen ist es anzusehen, dafs bei den der Erklärung des 
V. T. gewidmeten Selbstbeobachtungen — wir reden hier zu- 
nächst nur vom V. T. des Normalen — eine relativ grolse Un- 
abhängigkeit der Wahrnehmung des Eintrittsobjektes von den 
Verhaltungsweisen der Aufmerksamkeit zutage trat. 

Wir können demnach die genannten drei Kriterien mit drei 
physikalischen Instrumenten vergleichen, welche, im übrigen 
gleichartig, einem relativ schwachen Reize gegenüber eine sehr 
ungleiche Empfindlichkeit zeigen, also verschieden grolse Aus- 
schläge liefern. Die „Instrumente“ dienen dazu, den Einfluls 
der „zweiten Komponente“ zu bestimmen. 

Es sollen nun mittels der drei Kriterien zwei Individuen 
untersucht werden, bei denen die „II. Komponente“ einen ver- 


! Hiermit ist keineswegs gesagt, dafs das Kostersche Phänomen sicherer 
konstatierbar und darum für die normalpsychologische experimentelle 
Untersuchung, die unser Wegweiser in diesem ganzen Gebiet ist, unter 
allen Umständen geeigneter und bequemer sein müsse. Wir sahen viel- 
mehr (vgl. I. Abschn.), dafs jenes Phänomen durch verschiedene Umstände, 
welche den Bedingungen seiner Entstehung entgegenarbeiten, leicht unter- 
drückt werden kann, und dafs es von einigen Versuchspersonen KostErs 
nicht beobachtet werden konnte. 


200 Il. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


schieden grofsen Einfluls auf die Grenzen des Gesichtsfeldes be- 
sitzt, nämlich ein normales und ein hysterisches. Benutzen wir 
das Kriterium des „Eintritts eines Objektes“, so erhalten wir 
wegen der Roheit dieses Kriteriums nur relativ wenig oder gar 
nicht verschiedene Werte. Die Gröfse des Unterschieds, die „Ver- 
schiedenheit der Ausschläge“ nimmt zu, wenn wir mittels des 
Kriteriums der „Getrenntheit der Quadrate“, und sie mufs, wie 
wir auf Grund unserer Befunde am Normalen zu schliefsen ge- 
nötigt sind!, noch mehr zunehmen, wenn wir uns des Kriteriums 
der Helligkeitsdifferenzen bedienen. 


Beide Individuen werden also, wenn der Unterschied des 
Einflusses der „II. Komponente“ bei beiden nur relativ gering 
ist, den Eintritt eines Objektes ins Gesichtsfeld beinahe im 
gleichen Moment wahrnehmen. Trotzdem wird ein näher dem 
Zentrum gelegenes Objekt, dessen Existenz von beiden Individuen 
ganz sicher und bestimmt wahrgenommen wird, beiden Individuen 
einen recht erheblich verschiedenen Anblick gewähren, eben weil 
das Kostessche Phänomen ein so viel feineres Kriterium für den 
Einflufs der „II. Komponente“ darstellt, als die Wahrnehmung 
des Eintritts eines Objektes in das Gesichtsfeld. Ist auch die 
Grenze für die Wahrnehmung des Eintritts gar nicht oder 
nur wenig verschieden, so fällt doch die Deutlichkeit, in welcher 
die sicher und unzweifelhaft als im Gesichtsfeld vorhanden wahr- 
genommenen Objekte erscheinen, beim Hysterischen sehr viel 
rascher ab als beim Normalen. Neigt man also — und das ist, 
wie wir sahen (S. 19), der Fall — zu dem Urteil „ver- 
schwunden“, wenn man eigentlich nur „sehr viel undeutlicher 
geworden“ urteilen sollte, so wird der Hysterische das Urteil 
„verschwunden“ erheblich früher abgeben als der Normale, eben 
weil die Deutlichkeit bei ihm einem viel steileren Abfall unter- 


! Konstellationen, welche in Anbetracht ihrer Beeinflussung der 
„II. Komponente“ nur geringe Verschiedenheit boten — wegen der relativ 
geringen Verschiedenhelt der scheinbaren Gröfse, — liefsen das Kostersche, 
nicht aber das AuBERT-Forrstersche Phänomen deutlich hervortreten 
(S. 91 u.145). Es ist nur eine selbstverständliche Folgerung aus dieser Tat- 
sache, dafs hinsichtlich der Gröfse des Kosterschen Phänomens ein relativ 
grofser Unterschied zutage treten wird, wenn man zwei Individuen unter- 
sucht, die sich hinsichtlich des Einflusses, welchen die „II. Kompenente“ 
bei ihnen hat, nur wenig unterscheiden, hinsichtlich des AuUBERT-FOERSTER- 
schen Phänomens dagegen nur ein relativ geringer Unterschied. 


I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 201 


. liegt. Der Unterschied zwischen der Gröfse des Austrittsgesichts- 
feldes beider Individuen kann also sehr bedeutend sein, obwohl 
sich die Eintrittsgesichtsfelder nur wenig oder gar nicht von- 
einander unterscheiden. 


Es dürfte ein besonderer Vorzug der vergleichenden Untersuchungen 
W. Könıss und Kriens über die Gröfse des V. T. bei Gesunden und Kranken 
sein, dafs die Aufnahme der normalen Gesichtsfelder nicht wesentlich an 
Fachgenossen, sondern am Anstaltspersonal erfolgte (Könıs: Dienstpersonal 
und Wärter; nur einige Ärzte und Beamte. Kren: Wärter). Da ein Be- 
obachter, der über die Erscheinungen reflektiert, leichter dahinkommt, 
falsche Kriterien, welche sich ihm aufdrängen, zu unterdrücken, so ist es 
erforderlich, zu den Vergleichsversuchen ebenfalls psychologisch ungeschulte 
Beobachter heranzuziehen, und zwar möglichst solche, die den Durchschnitt 
der Patienten an Bildungsgrad nicht überragen. Zur völligen Sicherstellung 
des Satzes über den Unterschied des V.T. bei Gesunden und Hysterischen 
müfsten freilich Massenuntersuchungen angestellt werden, wobei der eben 
berührte Gesichtspunkt möglichste Berücksichtigung zu erfahren hätte. 
Wir wollten nur zeigen, dafs sich dieser Satz, falls sich seine Richtigkeit 
weiterhin bestätigt, mit unseren allgemeinen Anschauungen sehr wohl 
vertragen würde. — Wenngleich ein exakter Beweis jenes Satzes nur durch 
Anstellung von Vergleichsversuchen erbracht werden kann, so ergibt sich 
ein Plausibilitätsbeweis schon aus der Betrachtung der Gesichtsfeldbilder, 
welche solchen Arbeiten beiliegen, und die den ungeheuren Betrag des 
V. T. in derartigen Fällen erkennen lassen. (Man vgl. z. B. O. Könte l. c. 
Fig. 49 u. 50, wo bei einer infolge von Diphtheritis an einzelnen Lähmungs- 
erscheinungen und anderen nervösen Störungen erkrankten Patientin das 
Einführungsgesichtsfeld nur sehr wenig eingeengt ist, während das Aus- 
führungsgesichtsfeld den Fixierpunkt nur um wenige Grade überschreitet.) 


Nur wenn die Erscheinung in den Fällen von Gesichtsfeldeinengung, 
als deren Attribut sie ja zunächst beschrieben wurde, einen besonders 
hohen Grad besitzt, ist auch verständlich, dafs der V. T. seine Entdecker 
als etwas ganz Aufserordentliches, Pathognomisches, in so hohem Mafse 
überraschte, und dafs die Erscheinung lange Zeit hindurch mit ungewöhn- 
lich regeın Interesse bearbeitet wurde. Die grundlegenden Arbeiten sind 
in der Schule Rıcuarp FoErsTErRs entstanden, unter den Augen des durch 
seine kritische Vorsicht und Zurückhaltung bekannten Forschers, in der- 
selben Schule, in der das Perimeter zum ersten Male konstruiert, das nor- 
male Gesichtsfeldschema entworfen, und die Lehre von der Empfindlich- 
keit der Nutzhautperipherie unter normalen und pathologischen Verhält- 
nissen nicht zum kleinsten Teile geschaffen worden ist. Es ist schwerlich 
anzunehmen, dafs jene Forscher niemals selbst vor dem Perimeter ge- 
sessen und die unter normalen Verhältnissen zu erwartenden Eindrücke 
gar nicht aus Erfahrung gekannt hätten. 

Es ist auch nicht angängig, den Unterschied lediglich darauf zurück- 
zuführen, dafs im allgemeinen der Gesunde mehr acht gibt als der 
Kranke. Voces (l. c.) fand bei 154 im übrigen gesunden Patienten der 


202 Il. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Göttinger Augenklinik den V.T. 67mal, bei 46 Insassen der Irrenanstalt, 
welche die allerverschiedensten psychischen Störungen und Defekte auf- 
wiesen, nur 13mal. Wäre nur ein Mangel an Konzentrationsfähigkeit 
schuld, so hätte man eher im letzteren Falle den gröfseren Prozentsatz 
erwartet. Auch W. Könıe hebt die ganz besondere Art der hier vorliegenden 
Aufmerksamkeitsstörung und die Unvergleichbarkeit derselben mit gewöhn- 
licher Unaufmerksamkeit eindringlich hervor. 


84. 


Wir wollen jetzt untersuchen, ob es nicht vielleicht doch 
Tatsachen gibt, welche mit der hier vertretenen Ansicht nicht zu 
vereinigen sind. 

Kuisy hat neuerdings (l. c.) zu beweisen versucht, dafs die 
hysterische Gesichtsfeldeinengung aus der „Vorstellung des Krank- 
seins“ resultiere. Er ist sich selbst der Schwierigkeiten, welche 
dieser Ansicht entgegenstehen, wohl bewufst. 


Es waren zu dieser Untersuchung mit Absicht zwei Patienten ausge- 
wählt worden, bei denen nicht nur jeder Verdacht auf Simulation gänzlich 
ausgeschlossen war, sondern bei denen ein Interesse am Kranksein über- 
haupt nicht vorlag. Die eine Patientin (reine Hysterie) drängte zur Ent- 
lassung aus der Klinik, „hatte also eher ein Interesse am Gesundsein als 
„am Kranksein. Auch sonst liefs sich irgendein Interesse am Kranksein 
„oder irgendwelches Motiv zur Simulation nicht nachweisen.“ Im zweiten 
Falle handelte es sich um einen intelligenten Werkführer, der, früher ge- 
sund, im Anschlufs an einen Unfall erkrankte. Neben einem nach Ansicht 
jenes Autors zweifellos vorhandenen, aber schwer zu rubrizierenden orga- 
nischen Nervenleiden diagnostizierte man eine traumatische Hysterie. Es 
bestand neben einzelnen Lähmungserscheinungen und Bewegungsstörungen 
eine totale Hemianästhesie der rechten Körperhälfte für alle Sinnesquali- 
täten auf Haut und Schleimhaut, ebendaselbst Aufhebung des Geruches 
und Geschmacks, sowie Hemihyperhidrosis und Hyperämie. Dem Patienten 
konnte nach dem Urteil des Autors die Einsicht nicht dafür fehlen, dafs 
er ein so schweres Nervenleiden hatte, dafs zu Übertreibung oder gar zu 
Simulation ein Anlafs nicht vorlag. Er macht nach Vorleben und Benehmen 
den Eindruck eines durchaus ehrenhaften Charakters, arbeitet trotz seines 
schweren Leidens in seiner Stellung, die man ihm wegen seiner bisherigen 
Verdienste und seiner speziellen Erfahrung beläfst, so gut es geht, weiter 
und will die Klinik unter ausdrücklichem Verzicht auf Rentenanspruch 
verlassen, blofs, um nicht Gefahr zu laufen, seine Stellung zu verlieren. 
An seiner Glaubwürdigkeit ist von keiner Seite gezweifelt worden. Ein 
objektives Symptom seiner Hemianästhesie bot er in Gestalt von Narben, 
die von Brandwunden herrührten, welche er sich dadurch zugezogen hatte, 
dafs er in einem Dampfbad den heifsen Dampfstrahl nicht spürte. Von 
irgend einer psychischen Veränderung scheint in diesem Falle nichts be- 
merkt worden zu sein. 


I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 203 


Die „Vorstellung des Krankseins“ wird vielmehr lediglich in 
hypothetischer Weise erschlossen, weil der Autor nur mit ihrer 
Hilfe einen auffälligen Befund am Perimeter erklären zu können 
glaubt. 

Nachdem das Gesichtsfeld zunächst in gewöhnlicher Weise 
bei geradeaus gerichtetem Blick untersucht worden war, wurde 
der Patient veranlafst, nach einem mit dem Testobjekt im gleichen 
Meridian, aber auf der anderen Seite vom Perimeterzentrum ge- 
legenen Punkte zu blicken. Wurde nun das Gesichtsfeld bei 
dieser neuen Blickrichtung untersucht, so war, obwohl in den 
vorliegenden Fällen an Simulation nicht gedacht werden konnte, 
eine, wenn auch nicht erhebliche, Erweiterung des Gesichtsfeldes 
zu konstatieren („Komplementärerweiterung* [Krıex|). Wurde 
umgekehrt der. Blick im selben Meridian auf das Testobjekt zu 
abgelenkt, so fand in einer Reihe von Fällen eine deutliche Ver- 
engung der Gesichtsfelder statt („Nachschleppen des Gesichts- 
feldes“). Das Gesichtsfeld „klebt“ zwar nicht absolut, aber doch 
bis zu einem gewissen Grade am Perimeter. Für ein deutliches 
Zustandekommen dieser Phänomene ist es wichtig, dals ab- 
wechselnd mit geradeaus gerichtetem und abgelenktem Blick 
beobachtet wird. 

Diese Erscheinung gestattet nach Kuıexs Ansicht keine andere 
Deutung als die, dafs der Patient eine „Vorstellung des Krank- 
seins“ hat, welche sich in dem Augenblick, in dem die 
perimetrische Untersuchung unternommen wird, zu der Vor- 
stellung des „Schlechtsehens“ spezialisiert; die Einengung des 
Gesichtsfeldes ist lediglich auf den suggestiven Einfluls jener 
Vorstellung, deren Vorhandensein hypothetisch angenommen 
werden muls, zurückzuführen. Nur wenn die k. G. E. suggeriert 
ist, erklärt sich der Einfluls, den anderweitige Suggestionen auf 
sie haben; denn die „Komplementärerweiterung“ und das „Nach- 
schleppen“ können nicht anders, als durch die Annahme einer 
Suggestion erklärt werden. Der Untersuchte kommt bei dem 
Fehlen physiologischer Vorstellungen auf die Idee, er müsse das 
Objekt immer an derselben Stelle des Perimeters sehen. Durch 
das starke Milsverhältnis zwischen dieser Annahme und dem 
tatsächlichen Eindruck wird die Vp. dann doch veranlalst, An- 
gaben im Sinne einer Mitverschiebung des Gesichtsfeldes mit 
der Augenachse zu machen. Aus dem Zusammenwirken dieser 
beiden Antriebe ergibt sich ein Mittelding zwischen einem mit- 


204 Il. Abschnitt. Bestätigung der im 1. Abschnitt gegebenen usw. 


wandernden und einem am Perimeter „klebenden“ Gesichtsfelde. 
Diese Überlegungen lagen um so näher, da sich jene beiden 
Phänomene auch, und zwar in besonders ausgeprägtem Malse, 
bei der zum Zwecke der Untersuchung absichtlich simulierten 
Gesichtsfeldeinengung seitens einer physiologisch nicht vorge- 
bildeten Person zeigten. 

Kuıex scheint die Schwierigkeit dieser Ansicht selbst zu 
empfinden; er betritt jenen Weg offenbar nur ungern und ledig- 
lich darum, weil seine Resultate eine andere Deutung nicht zu- 
zulassen scheinen. Das Verfahren, lediglich aus der Beschaffen- 
heit der Gesichtsfelder auf die Vorstellung „des Krankseins“ zu 
schlielsen, dürfte denn doch nicht ganz unbedenklich erscheinen.! 


! Die Schwierigkeit dieser Ansicht tritt besonders deutlich zutage, 
wenn man an den engen Zusammenhang zwischen der k. G. E. und den 
Sensibilitätsstörungen denkt. Der Hysterie ohne Sensibilitätsstörung fehlt 
im allgemeinen die k. G. E. (v. FraxkL-IochwArt und Tororasskt l. c.) Be- 
ruht die k. G. E. auf einer Hypofunktion von Sinneszentren, so hat dieser 
Zusammenhang nichts Überraschendes an sich. 

Schwer begreiflich erscheint dagegen diese Beziehung, wenn man die 
k. G. E. auf die Vorstellung des Krankseins zurückführt. Ein Zusammen- 
hang zwischen k. G. E. und Sensibilitätsstörung mufs zweifellos bestehen. 
Man wird daher wohl genötigt sein, auch die Sensibilitätsstörungen mittels 
der Vorstellung des Krankseins zu erklären. Zöge man nämlich für die 
Sensibilitätsstörungen eine ganz andersartige, etwa eine physiologische Er- 
klärung heran, so würde man, welchen Inhalt sie immer haben mag, das 
augenscheinlich Zusammengehörige in der Theorie nicht als zusammen- 
gehörig hervortreten lassen. Vielleicht sucht man aber der Zusammen- 
gehörigkeit dadurch gerecht zu werden, dafs man annimmt, dem hysterischen 
Krankheitsprozeľs liege eine noch allgemeinere abstraktere Vorstellung als 
die des Krankseins zugrunde. Diese abstrakte Vorstellung spezialisiert 
sich einerseits zu der Vorstellung des Krankseins, die sich bei der Augenunter- 
suchung weiter zur Vorstellung des „Schlechtsehens“ spezialisiert. Anderer- 
seits spezialisiert sich jene abstrakte Vorstellung zu einer Vorstellung x, 
deren Inhalt noch unbekannt ist. Der Sensibilitätsstörung liegt entweder 
die Vorstellung x zugrunde, oder eine weitere Spezialisierung derselben. 
Für jene abstrakte Obervorstellung liefse sich vielleicht im Notfalle ein 
Inhalt angeben. Jedermann kennt irgendein Exemplar jener zahllosen 
Nervenkranken, die immer auf der Schattenseite des Lebens zu stehen 
meinen. Sie haben nicht nur bald diese, bald jene Krankheit: alles was 
sie beginnen, mifslingt ihnen, alle Welt hat sich verschworen, sie zu ärgern 
und ihnen ein Bein zu stellen. Freilich wird hier wohl die Diagnose auf 
Neurasthenie sehr viel häufiger am Platze sein als diejenige auf Hysterie. 
Gleichgültig, welchen Inhalt die Obervorstellung hat, welchen möglichen 
Inhalt kann wohl die Vorstellung x haben, die der Sensibilitätsstörung 


I. Kapitel. Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung usw. 205 


Wir müssen darum ernstlich prüfen, ob jene hypothetische Kon- 
struktion denn auch wirklich unabweisbar notwendig ist. 
Denken wir an unsere Versuche über die Gröfse des simultan 
überschauten Feldes beim Mikropsieversuch zurück, so fanden 
wir daselbst einen erheblichen Einfluls der lokalen Richtung der 
Aufmerksamkeit auf die Grölse jenes Feldes. Wurde die Auf- 
merksamkeit auf die seitlichen Objekte konzentriert, so fiel der 
sonst so erhebliche Unterschied zwischen beiden Konstellationen 
fast völlig hinweg. Es liegt nun sicherlich die Annahme nahe, 
dafs auch die Komplementärerweiterung einfach darauf beruht, 
dafs der Untersuchte bei der Prüfung mit abgelenktem Blick 
seine Aufmerksamkeit relativ stark auf diejenige Stelle des 
Perimeters konzentriert, an welcher er bei der soeben voraus- 
gegangenen Prüfung bei geradeaus gerichtetem Blick das Auf- 
tauchen des Objektes bemerkt hatte. Denn infolge der Unkennt- 
nis der einschlägigen physiologischen Tatsachen, insbesondere 
der Empfindlichkeitsverhältnisse auf der Netzhautperipherie, wird 
der Patient dazu neigen, das Auftauchen an der gleichen Stelle 
des Perimeters zu erwarten. Dafs jene Erscheinungen nur dann 
deutlich auftreten, wenn man beide Prüfungsarten abwechseln 


zugrunde liegt? Sucht man diese Frage zu beantworten, so wird man 
wohl schwerlich einen anderen Inhalt ausfindig machen können als wiederum 
denjenigen des „Krankseins“. — Bei den. Sensibilitätsstörungen stölst nun 
aber diese Deutung auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Als das häufigste 
Stigma der Hysterie werden wohl nahezu allgemein die Anästhesien ange- 
sehen. Auch sind sie häufig Frühsymptom. Wie ist es zu erklären, dafs 
von den Individuen, die die Vorstellung des „Krankseins“ haben, ein so 
erheblicher Prozentsatz, und zwar sehr häufig sogleich im Beginne der 
Krankheit, gerade auf den Gedanken kommt, die Berührungsempfindlichkeit 
verloren zu haben, die Gehörprüfung hingegen meist bestens besteht? In 
der Vorstellung des grofsen Publikums ist „Kranksein“ gleich „Unwohlsein“. 
In erster Linie gehört hierhin der Schmerz, dann aber auch das Danieder- 
liegen solcher Funktionen, deren normaler Ablauf mit Lustgefühlen ver- 
bunden ist; krank ist auch, wer keinen Appetit hat. Die Berührungs 
empfindlichkeit gehört nicht zu diesen, den Menschen in so hohem Mafse 
interessierenden Dingen. Die Hyperästhesie und Hyperalgesie wäre wohl 
verständlich, die Hyp- und Anästhesie, sowie die Hyp- und Analgesie nicht. 
— Warum ferner sind gewisse Formen der Anästhesie, namentlich die 
Hemianästhesien, wieder so besonders häufig? Weiter haben die Patienten 
nicht nur selten eine Kenntnis von diesen Empfindungsstörungen, sondern 
sie sind geradezu „verblüfft“ (BinswAnGer l. c. S. 182), wenn ihnen durch 
die Untersuchung das Vorhandensein einer Anästhesie nachgewiesen wird. 


206 Il. Abschnitt. Bestätigung der im 1. Abschnitt gegebenen usw. 


lälst, ist auf dem Boden dieser Ansicht gleichfalls verständlich. 
Untersucht man zuerst mehrmals bei geradeaus gerichtetem, dann 
mehrmals bei abgelenktem Blick, so werden sich die Nach- 
wirkungen der ersten Konstellation bei den späteren Versuchen 
der zweiten vermutlich immer schwächer geltend machen. — In 
analoger Weise dürfte das Nachschleppen zu erklären sein. Der 
Patient konzentriert seine Aufmerksamkeit sehr stark auf den 
Punkt, an welchem er das Auftauchen des Objektes erwartet. 
Nun ist es aber, wie wir sahen (S. 173ff.), eine Eigentümlich- 
keit des Gesichtsfeldes der Hysterischen, dals bei Konzentration 
der Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Stelle die von den 
übrigen Punkten der Netzhaut aus hervorgerufenen Wahr- 
nehmungen undeutlicher ausfallen, als dann, wenn eine Kon- 
zentration der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt nicht 
vorliegt, ja dafs einzelne Netzhautelemente, welche von der dem 
Aufmerksamkeitszentrum entsprechenden Retinastelle weiter ent- 
fernt sind und die unter den Verhältnissen des ungezwungenen 
Umherblickens sehr wohl Empfindungen vermitteln, nun über- 
haupt keine Wahrnehmungen mehr liefern. Beim gewöhnlichen 
Perimetrieren konzentriert der Patient seine Aufmerksamkeit vor- 
wiegend auf den Fixierpunkt, daneben noch auf den äulsersten 
Rand des Gesichtsfeldee. Dagegen bringen es die Versuchs- 
bedingungen, unter denen Kırex das „Nachschleppen“ beob- 
achtete, mit sich, dafs das zweite Aufmerksamkeitszentrum nicht 
an der äufsersten Grenze des Gesichtsfeldes, sondern näher dem 
Fixierpunkt liegt. Während das beim gewöhnlichen Perimetrieren 
an der Grenze des Gesichtsfeldes auftretende Nebenmaximum 
der Aufmerksamkeit der Deutlichkeit der von dort her aus- 
gelösten Wahrnehmungen förderlich sein mufs, wird unter den 
Versuchsbedingungen KLiexs das jetzt mehr zentralwärts gelegene 
zweite Aufmerksamkeitszentrum die vom äufsersten Rande des 
Gesichtsfeldes aus erregten Wahrnehmungen nicht nur nicht 
fördern, sondern, wegen des soeben in Erinnerung gebrachten 
Einflusses eines lokalen Aufmerksamkeitszentrums auf die von 
demselben nicht betroffenen Netzhautstellen, eher schädigen. Das 
Gesichtsfeld wird unter den genannten Untersuchungsbedingungen 
noch stärker eingeengt erscheinen, als bei Innehaltung der ge- 
wöhnlichen Perimetriermethode. 

Abgesehen von den oben angestellten Erwägungen allge- 
meinerer Art muls eindringlich darauf hingewiesen werden, dafs 


EEE BEE 


I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 207 


Tatsachen bekannt sind, die mit jener Komplementärerweiterung 
eine unverkennbare Ähnlichkeit aufweisen, aus der Kuırxschen 
Theorie aber unmöglich abgeleitet werden können, während sie 
aus den oben skizzierten Anschauungen auf ganz natürlichem 
Wege folgen. 

Grorxovw (l. c.) verfuhr bei seinen Untersuchungen über 
den Einflufs der Akkommodation auf die Gesichtsfeldgrenzen oft 
in der Weise, dafs er das Gesichtsfeld zuerst bei Nahakkommodalion, 
dann bei Fernakkommodation, am Schlusse wieder, wie am An- 
fang, bei Nahakkommodation aufnahm. Das letzte Gesichtsfeld 
war hierbei in der Regel weiter als das erste, obwohl beide unter 
denselben äufseren Bedingungen erhalten worden waren. Nun 
ist das Gesichtsfeld unter den besonderen Bedingungen, welche 
bei den Grornouwschen Patienten vorlagen, bei Entspannung der 
Akkommodation weiter als bei starker Anspannung derselben, also 
bei Fernakkommodation weiter als bei Nahakkommodation. Die 
Gründe dieses Verhaltens werden wir alsbald kennen lernen. 
Es werden also hier, ebenso wie bei den zur Aufstellung der 
Lehre von der „Komplementärerweiterung“ Anlals gebenden 
Versuchen, Bedingungen eingeführt, welche die Aufmerksamkeit 
auf Stellen des Perimeters lenken, welche vorher — nämlich bei 
dem ersten der drei Grorxouwschen Versuche — aufserhalb 
des einigermalsen deutlich wahrgenommenen Bezirkes lagen. 
Durch den Wechsel der Akkommodation werden also hier hin- 
sichtlich der Funktionen der Aufmerksamkeit ganz gleichartige 
Versuchsbedingungen eingeführt, wie bei den Versuchen KLiExs 
mittels des Wechsels der Blickrichtung. Es besteht somit in den 
Versuchen Kriens und denjenigen Grorxouws bezüglich des in 
Rede stehenden Punktes Gleichheit. Da nun jene bezüglich 
ihrer Beschwerden ziemlich gleichartigen Patienten GROENOUWS 
zum Teil durch die einfache Verordnung einer Brille geheilt 
wurden!, und da auch sonst keinerlei Angaben vorliegen, welche 
auf eine psychische Alteration im Sinne der Hysterie schlielsen 
lassen, so mülste der Versuch, dieses der Komplementärerweiterung 
sehr verwandte Ergebnis aus der angeblichen „seelischen Primär- 
veränderung der Hysterie“ abzuleiten jedenfalls gekünstelt er- 
scheinen. Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir auch diese 
Tatsache in derselben Weise, wie die Komplementärerweiterung 


1 Wir kommen auf diese Fälle nochmals zu sprechen. 


208 II. Abschnitt. Bestätigung der im 1. Abschnitt gegebenen usw. 


und das Nachschleppen, durch die einfache Annahme erklären, 
dals die Vp. das Auftauchen des Objektes stets an derselben 
Stelle erwartet wie bei der unmittelbar vorhergegangenen Prüfung, 
und dafs sie daher ihre Aufmerksamkeit auf diese Stelle kon- 
zentriert. Mit Hysterie dürften diese Tatsachen schwerlich etwas 
zu tun haben. 


Auch wenn sich etwa bei späteren vergleichenden Untersuchungen 
über die Gröfse des Phänomens an hysterischen und normalen Personen 
desselben Bildungsgrades ergeben sollte, dafs jene Erscheinung im ersteren 
Falle ausgeprägter ist, so wäre ein solches Ergebnis mit unseren Grund- 
anschauungen sehr wohl verträglich. Die Grenzen des normalen Ge- 
sichtsfeldes sind eben relativ stärker durch die I. Komponente, die des 
eingeengten Gesichtsfeldes relativ stärker durch die II. Komponente be- 
stimmt. Nun sahen wir aber bei der Analyse des A. F. G., dafs die „II. Kom- 
ponente“ durch die Art der Aufmerksamkeitsrichtung sehr stark beeinflufst 
wird. Bezüglich der „I. Komponente“ ist Ähnliches nicht bekannt. 


Ernstere Bedenken scheinen sich gegen die hier skizzierte 
Auffassung vom Wesen der k. G. E. aus der mehrfach erwähnten 
Untersuchung von GROENOUW zu ergeben. 


Gemäfs dem A. F. G. erweitert sich beim Normalen der 
sirnaultan deutlich gesehene Bezirk auch bei Linsenmikropsie. 
Wir weisen bezüglich dieser Tatsache auf eigene Versuche hin, 
sowie auf die Beobachtungen von EMmMmERT. Wenn unsere Ab- 
leitung der k. G. E. aus dem A. F. G. richtig ist, so mülste das 
eingeengte Gesichtfeld dem gleichen Gesetze folgen. Es müfste 
sich gleichfalls bei Linsenmikropsie erweitern. Nun hat GRoOEnouw 
untersucht, wie sich die Grenzen des eingeengten Gesichtsfeldes 
verhalten, wenn durch Vorsetzung von Linsen der Akkommodations- 
zustand in verschiedener Weise beeinflulst wird. Es scheint, dafs 
durch derartige Untersuchungen ein experimentum crucis für die 
Richtigkeit jener Anschauungen gegeben ist. Das experimentum 
crucis fällt negativ aus. Die Grenzen des eingeengten Gesichts- 
feldes verengerten sich bei starker Anspannung der Akkommodation 
durch Vorsetzung einer starken Konkavlinse, sie erweiterten sich 
dagegen, wenn die Akkommodation mittels einer vorgesetzten 
Konvexlinse völlig entspannt wurde. Sehen wir uns indessen die 
Versuche von GROENnoUw etwas näher an! 

Wir nehmen zunächst Notiz von der Beobachtung, dals ge- 
ringe Änderung der Akkommodation die Gesichtsfeldgrenzen 
nicht wesentlich beeinflulsten. Um eine merkbare Verschiebung 


I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 209 


derselben zu erhalten, mufste die Akkommodation stark ange- 
spannt bzw. entspannt werden. Welcher Art waren ferner die 
Patienten, an denen diese in der Augenklinik angestellten Unter- 
suchungen durchgeführt wurden? Die Untersuchung wurde, so- 
weit sie uns hier interessiert, an 16 Fällen durchgeführt. Nicht 
die Gesichtsfeldeinengung oder andere spezifisch hysterische 
Symptome sind es, die im Vordergrunde des Krankheitsbildes 
stehen. Sämtliche dieser Patienten kommen im wesentlichen mit 
der gleichen Klage in die Augenklinik. Alle haben asthenopische 
Beschwerden; sie können nur ganz kurze Zeit lesen und arbeiten; 
nach Überschreitung dieser Zeit bemerkt der eine Kranke, dafs 
ihm schwarz vor den Augen wird, ein anderer, dals das ganze 
Gesichtsfeld flimmert, wieder ein anderer, dals die Objekte zu ver- 
schwimmen scheinen oder dafs die Augen zu tränen anfangen. 

In 11 Fällen lautet die Diagnose auf einfache „Anaesthesia retinae“, 
einmal auf Tabaksamblyopie, einmal steht die Erscheinung des Lidkrampfes 
im Vordergrunde, je einmal findet sich Myopia spastica und Hemeralopie; 
ein offenbar schwer zu rubrizierendes Krankheitsbild, bei welchem Druck- 


empfindungen in beiden Augen, sowie starke Blendung durch helles Licht 
die einzigen Symptome waren, wurde als Kopiopia hysterica angesprochen. 


Beachtenswert dürfte sein, dals von den 16 in dieser Weise 
geprüften Individuen 13 hypermetropisch, 3 myopisch sind. 
GROENOUW selbst milst in seinen therapeutischen Schlulsfolgerungen 
der Anstrengung beim Akkommodationsakt für das Zustande- 
kommen der Beschwerden seiner Patienten eine erhebliche Be- 
deutung bei. In einem dieser — anscheinend ziemlich gleich- 
artigen — Fälle (Fall 9) von Anästhesia retinae, und zwar in 
einem besonders schweren, konnte ganz allein durch Verordnung 
der korrigierenden Konvexbrille völlige Heilung erzielt werden, 
ohne dafs die Patientin, eine Schneiderin, ihre Arbeit auszusetzen 
brauchte; gleichzeitig erreichte das vorher eingeengte Gesichts- 
feld annähernd normale Grenzen. In dem mit Lidkrampf ver- 
bundenen Falle von Anaesthesia retinae schwanden die Be- 
schwerden bei Vorsetzung der korrigierenden Brille augenblicklich 
und „wie mit einem Zauberschlage“. 

Wir werden also kaum fehlgehen, wenn wir annehmen, dafs 
die untersuchten Individuen durch eine starke Anspannung der 
Akkommodation in abnormem Malse angestrengt werden, zum 
Teil wohl wegen ihrer Hypermetropie, zum Teil vielleicht aus 
unbekannten Günden. 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 14 


210 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Schon Foxrsrer hatte widerraten, die Anaesthesia retinae (Amblyopie) 
den hysterischen Affektionen im engeren Sinne zuzurechnen. In eine sehr 
enge Beziehung wurde dieses Symptom zur hysterischen Gesichtsfeld- 
einengung durch die Theorie von WıLBRAND gebracht, jedoch, wie man wohl 
jetzt fast allgemein zugibt, mit Unrecht. 


Nun wissen wir aus den Versuchen von SANTE DE SANcTIıs 
(l. ec.), dafs sich auch das normale Gesichtsfeld erheblich ein- 
engen kann, wenn die Aufmerksamkeit während der Untersuchung 
auch noch durch andere Dinge, als durch das Gesichtsfeld, in 
Anspruch genommen wird. Ganz Ähnliches ist, wie wir sahen, 
am eingeengten Gesichtsfeld festgestellt worden. 

Wenn es nun in einem Teil dieser recht gleichartigen Fälle 
völlig sicher gestellt ist, dafs den betreffenden Individuen schon 
der Akkommodationsaufwand bei der gewöhnlichen Naharbeit 
verhängnisvoll geworden ist, was liegt dann näher als die Annahme, 
dals ihre Aufmerksamkeit vom Gesichtsfeld abgelenkt werden 
wird, wenn man sie, wie es bei diesen Untersuchungen geschieht, 
zu einer starken Anspannung der Akkommodation zwingt? Viel- 
leicht kommt ihnen hierbei eine lästige Anstrengungsempfindung 
zum Bewaulstsein; vielleicht auch erfahren ihre Beschwerden eine 
momentane Steigerung; vielleicht schliefslich ist nur ein abnorm 
hoher Innervationsaufwand nötig. 

Selbst im letzten Falle könnte die Aufmerksamkeit vom Gesichtsfeld 
abgelenkt werden. Starke Innervationen beeinträchtigen die Aufmerksam- 


keit auch für Empfindungen (vgl. z. B. Espınguaus, Grundzüge der Psychol. 
1. Aufl. S. 572). 


Eine der genannten Möglichkeiten wird sicherlich zutreffen, 
vielleicht jedoch alle drei. 

Wenn in einem der Fälle die Beschwerden „wie mit einem 
Zauberschlage“ schwinden, sobald den Kranken die Akkommo- 
dationsanstrengung durch Vorsetzung der korrigierenden Konvex- 
brille erspart wird, was liegt da näher, als die Annahme, dafs 
die Untersuchungspersonen im Falle der Akkommodationsent- 
spannung unter günstigeren Versuchsbedingungen, unter erhöhter, 
bzw. weniger stark abgelenkter Aufmerksamkeit beobachten ? 

Die Versuche von GROENnouw sind also unter Bedingungen 
angestellt, welche der wegen der Linsenmikropsie erwarteten Ge- 
sichtsfelderweiterung in durchsichtiger Weise entgegenwirken 
müssen. Da der Abstand zwischen Auge und Fixierpunkt, bzw. 
Perimeterobjekt ein so geringer ist, und das Auge an sich schon 


1. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 211 


stark für die Nähe akkommodiert, so darf man von einer etwaigen 
infolge von Mikropsie eintretenden Erweiterung überhaupt nicht 
viel verlangen, wie ja auch unsere eigenen und die KosreRrschen 
Beobachtungen nur eine Veränderung der Deutlichkeit des Ob- 
jektes erkennen liefsen, nicht aber eine Änderung der objektiven 
Einstellung. — 


Die Tatsache, dafs in höchst seltenen Fällen eine k. G. E. mit 
allen sonstigen für diese Kategorie charakteristischen Symptomen 
durch ein zentrales Skotom abgelöst werden kann, vermag gleich- 
falls die hier dargelegten theoretischen Anschauungen nicht zu 
erschüttern. Der Fall, welcher in der deutschen Literatur hier- 
für als Beleg angeführt wird, ist von A. v. GRAEFE beobachtet 
und betrifft einen achtjährigen, von jeher zarten und nervösen 
Knaben, der sich in Rekonvaleszenz von Masern befand.! 

Dals toxische und infektiöse Einflüsse einerseits eine Exazer- 
bation einer bestehenden allgemeinen Neurose hervorrufen, 
andererseits lokale Symptome von seiten des Nervensystems, 
auch des peripheren, auslösen können, ist eine bekannte Er- 
scheinung. Allerdings nahm Pırrrs an, dafs zentrales Skotom 
bei reiner Hysterie — ohne Gehirnläsion — vorkomme. F£rf 
und andere Beobachter verneinen das Vorkommen solcher Formen, 
und Jaxer ist bei seinem grolsen Material niemals auf eine solche 
gestolsen. 


§ 5. 

Überblicken wir nochmals den bisher zurückgelegten Weg! 
Da wir uns genötigt sahen, eine Abänderung der „II. Kompo- 
nente“ der Sehschärfe der Peripherie, eine Verminderung der 
Fähigkeit des Überschauens für die k. G. E. verantwortlich zu 
machen, so könnte es den Anschein gewinnen, als ob wir auf 
die von Janet begründete Erklärung der k. G. E. und der 
Anästhesien durch eine Einengung des „Bewulstseinsfeldes“ zurück- 
gekommen seien. 

Wir glauben ganz im Gegenteil, vom experimentellen Stand- 
punkt aus diese Deutung abweisen zu müssen. Wenn Jaxer die 
k. G. E. auf „eine Einengung des Bewulstseinsfeldes“ zurück- 


1 Vorträge aus der von Grazreschen Klinik, Klin. Monatsbl. f. Augen- 
heilk. 3, 1865, S. 265 ff. 
14* 


212 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


führt, so besitzt dieser Begriff bei ihm eine ganz prägnante, nur 
aus seiner Psychologie verständliche Bedeutung. 

Wenn auch wir mit gewissem Rechte von dem oben ent- 
wickelten Standpunkt aus die k. G. E. als auf einer Einengung 
des Bewufstseinsfeldes beruhend bezeichnen könnten, so würden 
wir doch nur scheinbar und nur in Worten dasselbe wie JANET 
sagen, in Wirklichkeit aber einen anderen Sinn mit diesen Worten 
verbinden. 

Eine Übereinstimmung in den Worten ist richt mit einer 
Übereinstimmung in der Sache identisch, wenn der Eine der 
Redenden jene Worte in prägnantem, terminologischem Sinn 
gebraucht. 

Es ist eben gerade eine der wichtigsten Thesen Jaxers, dafs 
es sich bei der k.G.E. und den Anästhesien der Hysterischen 
nicht um Störungen der Empfindungen handelt, sondern um 
eine Schwäche der „Ich-Wahrnehmung‘“ um eine Krankheit des 
„Ich-Bewulstseins.“ „Sie liegt ... im Geist. Wir halten ein 
„für allemal daran fest, dafs das Wort „Geist“ die höchsten Tätig- 
„keiten des Gehirns bzw. der Hirnrinde ausdrückt - - -. Im 
„Geiste selbst erstreckt sich die Krankheit nur auf bestimmte Vor- 
„gänge. Sie ist nur selten eine Störung der Elementarempfin- 
„dungen, die in ihrem Wesen und ihren Eigentümlichkeiten un- 
„verändert bleiben. Sie erstreckt sich auf eine ganz besondere 
„Geistestätigkeit, auf die „Ich-Wahrnehmung‘“, die uns in jedem 
„Moment des Lebens befähigt, neu aufgenommene Empfindungen 
„untereinander und mit dem „Ich‘“-Bewulstsein zu verknüpfen.“ 

Jede k. G. E., jede Anästhesie hat ihre Wurzel in der zu- 
grundeliegenden Psychose. Niemals soll es gestattet sein, diese 
sensorischen Symptome auf eine Störung im Gebiete der Sinnes- 
zentren zurückzuführen. Dort spielen sich die Elementar- 
empfindungen ab, welche unverändert sind. Die Hysterie hat 
mit anderen Psychosen, z. B. mit der Paranoia, den Zug gemein- 
sam, dals nur die höhere psychische Verarbeitung der 
an sich unveränderten Empfindungen und Wahrnehmungen ein 
von der Norm abweichendes Verhalten zeigt. Die Hysterie ist stets, 
in der Terminologie WERNICKES gesprochen, eine Autopsychose. 

Ganz anders ist die Auffassung der k. G. E., auf die die 
experimentelle Analyse des A. F.G. hindrängt. Die Sehschärfe 
der Netzhautperipherie stellte sich heraus als eine Funktion 
zweier unabhängiger Variabeln. Jene zweite Variable tritt 


I. Kapitel. Nachweis, da/s eine widerspruchsfreie Deutung usw. 213 


auch beim ganz Normalen in Erscheinung, bei vergleichender 
Prüfung des (Gesichtsfeldes in der Nähe und in der Ferne; sie 
zeigt sich andererseits bei Vergleichung des Gesichtsfeldes eines 
Normalen mit dem unter gleichen Umständen aufgenommenen 
Gesichtsfelde eines Hysterischen. Im ersten Falle fand bei der 
Gesichtsfeldaufnahme in gröfserer Entfernung ein relatives Ver- 
sagen der „Il. Komponente“ statt, weil dieser hier eine zu grolse 
Leistung zugemutet wurde. Im zweiten Falle kam es zu einem 
solchen Versagen, wie wir gezeigt zu haben glauben, weil die 
„LI. Komponente“ bei dem betreffenden Individuum eine Ab- 
änderung erfahren hat, eine abnorme Schwäche besitzt. 

Es ist ganz ähnlich, wie auf anderen Gebieten der Sinnes- 
empfindungen. Setzen wir einem weilsen Licht nur ganz wenig 
farbiges Licht zu, so wird auch vom Normalen der Zusatz zu- 
nächst nicht empfunden. Liegt Farbenschwäche vor, so kann 
der Zusatz auch dann noch unbemerkt bleiben, wenn er dem 
Normalen längst merklich ist. Die k. G. E. ist nur die patholo- 
gische Steigerung einer Erscheinung, welche auch beim ganz 
Normalen besteht, nämlich in Gestalt des Ferngesichtsfeldes. 

Wie meine „Ich“-Wahrnehmung nicht relativ deutlich beim 
nahen Gesichtsfelde, relativ schwach beim Ferngesichtsfeld ist, 
so braucht auch bei zwei Individuen, die verschiedene Gesichts- 
feldgrenzen aufweisen, das „Ich‘-Bewulstsein nicht verschieden 
stark entwickelt zu sein. Wäre die k. G. E. lediglich aus der 
Pathologie bekannt, so wäre diese Deutung immerhin nicht ganz 
ausgeschlossen. Sie mufs ausgeschlossen werden, nachdem sich 
gezeigt hat, dafs die k. G. E. beim ganz Normalen vorkommt, 
ohne dafs bei ihm inzwischen irgend eine Änderung im ,„Ich“- 
Bewufstsein stattgefunden hat, und dals die Charakterzüge der 
pathologischen k. G. E. denen der normalen entsprechen. 

Mit dem angedeuteten Grundgegensatz zwischen den von 
JANET vertretenen und den hier dargelegten Anschauungen hängt 
eine weitere Differenz eng zusammen. Nach Jaxer hat der 
Kranke die Wahrnehmungen der Netzhautperipherie entweder 
dauernd „abgestolsen‘“, oder diese „Nichtberücksichtigung‘‘ erhält 
sich wenigstens während der Dauer einer gewissen Zeit ununter- 
brochen. Nach der hier vertretenen Ansicht wird die k. G. E. 
und die „Abstofsung“ der Wahrnehmungen des indirekten 
Sehens — wenn man sich so noch ausdrücken darf — jedesmal 
erst im Augenblick der perimetrischen Untersuchung hervor- 


214 IT. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


gerufen. Es handelt sich also keineswegs um eine dauernde 
Ablenkung der Aufmerksamkeit von jenen Wahrnehmungen. 

An keiner Stelle der Untersuchung waren wir genötigt, auf 
das „Ich“-Bewulstsein zurückzugreifen. Und wenn wir im 
folgenden den Versuch machen, eine Theorie des A. F. G. zu ent- 
wickeln, so wird sich wiederum alles in den der Empfindung 
dienenden Teilen des Gehirnes abspielen. Dieselben Vorgänge 
in den Organen der Empfindung, welche nach der dort dar- 
zulegenden Vermutung zur normalen k. G. E. führen, werden 
auch die pathologische k. G. E. hervorrufen. Diese Vorgänge 
werden dort wegen irgend einer unbekannten Besonderheit nur 
leichter ausgelöst werden als unter normalen Umständen. Worin 
diese besondere Beschaffenheit besteht, darüber werden wir keine 
Vermutung äulsern, weil wir es vermeiden möchten, eine Hypothese 
über der anderen aufzuschichten. 

Aber was auch immer spätere Forschungen über das Wesen 
der hysterischen Veränderung lehren mögen, so wird es doch 
dabei bleiben, dafs nicht alle hysterischen Veränderungen aus 
dem „Geiste“ ableitbar sind, wenn man mit diesem Worte 
JAnets nur die höchsten, nach der populären Terminologie die 
„Persönlichkeit‘‘ konstituierenden seelischen Funktionen bezeichnet, 

Nach der Ansicht BıxswAnGers gehört die Hysterie nicht 
zu denjenigen Psychosen, welche sich, wie die Paranoia „nur 
„auf eine ganz besondere Geistestätigkeit erstreckt“; die Hysterie 
ist gleich der Neurasthenie eine Allgemeinerkrankung, „im wesent- 
„lichen bestimmt durch pathologische Verschiebungen der Erreg- 
„barkeitszustände der Groflshirnrinde.“ 

Im allgemeinen bereiten die sensorischen und motorischen 
Störungen, welche jene Auffassung der Hysterie als einer relativ 
allgemeinen Erkrankung "als Erscheinungen von „Hypo- oder 
Afunktion“ ansieht, der Durchführung dieser Ansicht keine er- 
heblichen Schwierigkeiten. Am ehesten hätte man dieser Ansicht 
noch die k. G. E. entgegenhalten können; aber auch dies ge- 
schähe, wie wir dargelegt zu haben glauben, ohne Grund. 

Andererseits aber ist es kein Zufall, dafs wir uns genötigt 
sahen, vor einer Verwechslung der hier dargelegten Ansicht mit 
derjenigen von Janer zu warnen. Die k. G. E. zeigt in der Tat 
ein Janusantlitz; und nach dem gegenwärtigen Stand unserer 
Analyse scheint es in der Tat, dals sie Züge nicht nur von der 
Theorie BinswanGers, sondern auch von derjenigen JAnETs besitzt. 


I. Kapitel. Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung usw. 215 


Aus dieser Verlegenheit wird uns erst die Analyse der 
organisch bedingten Sehstörungen und die dadurch zu gewinnende 
Einsicht in die Funktionsweise der zentralen Sehsubstanz einen 
Ausweg zeigen. Wir werden daselbst zu der Annahme gedrängt, 
dafs die Sehsubstanz als Ganzes funktioniert, dafs sie tatsächlich 
auf eine Schädigung mit einer Beeinträchtigung der Funktion 
des Überschauens antwortet, und dals es darum durchaus nicht 
verwunderlich ist, wenn die k. G. E. Züge zeigt, welche sich auf 
den ersten Blick am leichtesten aus der Theorie JAnETs zu er- 
klären scheinen, während eine eindringendere Analyse dasSymptom 
als Äufserung eines Hypofunktionszustandes des Sinneszentrums 
anzusehen genötigt ist. 

Die Erkenntnis des Wesens der k. G. E. dürfte gerade darum 
eine gewisse prinzipielle Bedeutung besitzen, weil dieses Symptom 
mit den „Dissoziationserscheinungen“, die im höheren Seelen- 
leben der Hysterischen eine wesentliche Rolle spielen, tatsächlich 
eine gewisse Ähnlichkeit besitzt. Es rückt der Gedanke in den 
Bereich der Möglichkeit, dafs es dereinst gelingen werde, dem 
Wesen jener rätselhaften Krankheit durch eine mit dem Ein- 
fachsten beginnende Analyse, also gewissermalsen durch eine 
„Betrachtung von unten“ beizukommen. JAnET verfährt in 
anderer Weise. Dieser Forscher geht ja bei der Erklärung der 
gewöhnlichen und auch den leichtesten Fällen zukommenden 
Anästhesien von den „systematischen Anästhesien“ aus, welche 
zweifellos durch Vorgänge des höheren und höchsten Seelen- 
lebens ausgelöst sind, auf ganz anderer Stufe stehen, wie die 
gewöhnlichen Anästhesien, und zwar bei den schwer degenerativen 
Fällen der Pariser Hospitäler häufig vorkommen mögen, den 
leichteren und mittelschweren Krankheitsbildern dagegen fremd 
sind. „Er hat damit einen Weg beschritten, der bei der induktiven 
„Pphysio-psychologischen Forschungsmethode ungewöhnlich ist, in- 
„dem er aus den kompliziertesten seelischen Vorgängen die 
„elementarsten Empfindungsstörungen erschliefsen will“ (Brns- 
WANGER). Wenn in der normalen Psychologie auf die Ähnlich- 
keit der Bahnungserscheinungen bei den Reflexen mit gewissen 
Phänomenen der Aufmerksamkeit hingewiesen wird, so denkt 
niemand daran, dieses Phänomen des höheren Seelenlebens als 
die „Ursache“ jener primitiveren Erscheinung anzusehen. Ebenso 
fafst man den Umstand, dafs die Untersuchungen über die 
motorische Einstellung zu ähnlichen Ergebnissen führten wie 


216 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


diejenigen über das Gedächtnis, lediglich als einen Hinweis 
darauf auf, dafs die Funktionsweise der nervösen Substanz trotz 
vielfacher Verschiedenheiten doch gewisse gemeinsame Züge be- 
sitzt. Diese „Betrachtung von unten“ darf auch bei der Hysterie 
einsetzen, weil jener Erkrankung eben nicht eine isolierte Ver- 
änderung in einer ganz bestimmten Sphäre, „im Geiste“, zu- 
grunde liegt, sondern eine weit allgemeinere Funktionsstörung. 


§ 6. 


Nur ungern haben wir diese Abschweifung ins pathologische 
Gebiet unternommen. Sie war aber gefordert durch die rein 
theoretischen Interessen der Sinnespsychologie. Ist die An- 
schauung richtig, wonach die Sehschärfe der Netzhautperipherie 
eine Funktion zweier unabhängiger Variabeln ist, so war zu 
erwarten, dafs es auch zwei verschiedene Formen von Gesichts- 
feldeinengung geben werde, je nachdem die „erste“ oder die 
„zweite“ Komponente der peripheren Sehschärfe eine Abänderung 
bzw. Schwächung erfährt. 

Diese Vermutung hat sich bestätigt; und die Tatsache dieser 
Bestätigung ist eine neue Stütze für die Richtigkeit jener 
theoretischen Ansicht. 

Als Vorbild hat uns die besonders von G. E. MÜLLER in ihrer 
Fruchtbarkeit und Tragweite gründlicher erkannte Methode vor 
Augen geschwebt, in der Psychophysik der Farbenempfindungen 
die Zahl und Beschaffenheit der Netzhaut- bzw. der psycho- 
physischen Prozesse auf Grund der Zahl und Beschaffenheit der 
Ausfallsysteme zu ermitteln. — Zu Ende führen können wir die 
Analyse der k. G.E. erst, nachdem wir uns mit den Sehstörungen 
bei organischen Hirnkrankheiten beschäftigt haben werden. 

Auf eine Frage von prinzipieller Bedeutung werden wir 
allerdings die Antwort auch dann noch schuldig bleiben müssen. 
Wir haben im bisherigen lediglich die Tatsache ermittelt, dafs 
bei gewissen funktionellen Nervenleiden nur ein kleinerer Bezirk 
gleichzeitig überschaut werden kann, als unter normalen Ver- 
hältnissen. Zur positiven Beantwortung der Frage, welche 
psychischen ! oder physiologischen Veränderungen für das Ein- 
treten dieses Erfolges verantwortlich sind, bot die bisherige Unter- 


! Das Wort im weitesten Sinne gebraucht. 


I. Kapitel. Nachweis, dafs eine widerspruchsfreie Deutung usw. 9217 


suchung keine Handhabe. Bei den organischen Hirnkrankheiten 
werden wir wiederum der Tatsache begegnen, dafs ein Kranker 
gleichzeitig nur ein kleineres Feld deutlich sehen kann, als ein 
Normaler. Ebenso wie wir uns bei der k. G. E. ausdrücklich 
dagegen verwahrten (S. 163), dafs man in unseren Ausdrücken 
zur Bezeichnung des tatsächlichen Verhaltens schon Erklärungs- 
versuche erblicke, ebenso ersuchen wir jetzt, die im folgenden 
Kapitel vorkommenden Termini „Seelenläihmung des Schauens“, 
„Beeinträchtigung der II. Komponente“ u. dgl. wiederum nur 
als Bezeichnung einer Tatsache, nicht als einen Erklärungsver- 
such aufzufassen. 

Können wir somit die Frage nach der Ursache der Beein- 
trächtigung des Überschauens weder auf Grund der Analyse der 
funktionellen noch auf Grund derjenigen der organischen Seh- 
störungen im positiven Sinne beantworten, so vermögen wir doch 
‚gewisse naheliegende Erklärungsversuche auszuschliefsen. Wir 
sahen, dafs weder eine „Schwäche des Ich-Bewulstseins“ noch 
‚eine allgemeine Herabsetzung der Aufmerksamkeit, Unaufmerk- 
samkeit im gewöhnlichen Sinne, für die k. G. E. verantwortlich 
sein kann. Die Ausschliefsung der ersteren Hypothese gestaltete 
sich, um das Wesentliche kurz zu wiederholen, folgendermalsen. 
BinswangGer hat gezeigt, dals die hysterischen Stigmata, zu denen 
die k. G. E. gehört, nicht erst einem Zerfallvorgang der Persön- 
lichkeit nachfolgen, sondern dals sie demselben voraufgehen und 
selbst in jenen leichtesten Fällen vorkommen, in denen niemals 
eine Störung des höheren Seelenlebens merkbar wird. War somit 
Janets Lehre vom Wesen der k. G. E. eigentlich schon durch 
Tatsachen widerlegt, so bestand doch noch die Schwierigkeit, 
dafs die paradoxen Eigenschaften der k. G. E. anscheinend nur 
mit der Janetschen Deutung verträglich waren. Vorstehende 
Untersuchung vermochte nachzuweisen, dafs jene Eigenschaften 
nur die Steigerung von Eigenschaften der normalen optischen Wahr- 
nehmungsvorgänge darstellen. Wer die Tatsachen der k. G. E. 
nur mit der Annahme einer zugrunde liegenden „Ich“-Schwäche 
für vereinbar erklärt, der mufs, wie wir sahen, konsequenterweise 
auch das „Ich“ eines normalen Beobachters bald für stärker, 
bald für schwächer halten, je nachdem der Beobachter in die 
Nähe oder in die Ferne blickt. 

Die Hypothese einer allgem einen Aufmerksamkeitsstörung, 
der Unaufmerksamkeit im gewöhnlichen Sinne, war darum aus- 


218 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


zuschliefsen, weil gerade bei denjenigen Erkrankungen, in denen 
jene Störung besonders ausgeprägt ist, die k.G.E. zu fehlen 
pflegt. Wir mufsten ferner darauf hinweisen, dafs die allgemeine 
Aufmerksamkeitsstörung ein ganz anderes Gesichtsfeldbild be- 
dingt, dafs die Grenzen hier nicht abnorm eng sind, sondern 
dafs sie abnorm zackig verlaufen. Aber weit entfernt davon, 
dem abnorm zackigen Gesichtsfeld zu ähneln, zeigt das kon- 
zentrisch eingeengte Gesichtsfeld gerade abnorm glatte Grenzen, 
da es die mannigfachen Aus- und Einbuchtungen, durch welche 
‘sich das normale Gesichtsfeld von der Kreisform erheblich unter- 
scheidet, nicht oder nur in abgeschwächtem Mafse mitmacht. 
Endlich war der Verschiebungstypus bei Kranken mit k.G.E. 
besonders stark, bei Patienten mit allgemeiner Aufmerksamkeits- 
störung besonders schwach ausgesprochen (S. 202). Ebensowenig 
wie bei der k. G. E. werden bei den organischen Sehstörungen 
die Hypothesen der „Ich“-Schwäche und der allgemeinen Auf- 
merksamkeitsstörung in Betracht kommen. 

Welchen Grund nun aber die Beschränktheit des Über- 
schauens, sowohl beim Normalen, wie insbesondere auch in 
Krankheitsfällen, hat, das können wir z. Z. nicht mit Bestimmt- 
heit entscheiden. Drei Möglichkeiten scheinen sich darzubieten. 
Obwohl bei dem Kranken die allgemeine Aufmerksamkeit 
nicht gestört ist, so könnte es doch eine besondere Funktion 
der optischen Aufmerksamkeit geben, deren Leistungsfähigkeit 
bei den Patienten eingeschränkt sein könnte. Zweitens könnte 
man — das Vorhandensein eines besonderen, von den Empfin- 
dungen verschiedenen Aufmerksamkeitsprozesses ist hier wiederum 
vorausgesetzt — annehmen, dafs die Entwicklung der Empfin- 
dung bei diesen Kranken auf irgendwelche abnorme Widerstände 
stöfst, deren Überwindung nur durch eine abnorm starke Kon- 
zentration der Aufmerksamkeit auf die Gesichtseindrücke gelingt. 
Eben wegen dieser starken Aufmerksamkeitskonzentration ver- 
‚mögen die Kranken gleichzeitig nur einen kleinen Teil des Ge- 
sichtsfeldes über die Merkbarkeitsschwelle zu heben. 

Die dritte Möglichkeit wäre die, dafs es Aufmerksamkeit als 
eine von den Empfindungen verschiedene Funktion überhaupt 
nicht gibt. Die Unüberschaubarkeit — die normale wie die ge- 
steigerte pathologische — käme dadurch zustande, dafs sich die 
der Empfindung dienenden Nervenprozesse gegenseitig in 
'hemmender Weise beeinflussen. Dals die letztere Auffassung 


II. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 219 


nicht fernliegt, werde ich unten darlegen (III. Abschnitt), allerdings 
mit Reserve; denn die betreffenden Darlegungen haben nicht 
nur zur Voraussetzung, dafs unsere Hypothese über die psycho- 
physische Repräsentation der Sehgröfse wirklich das Richtige 
trifft, sondern es wird dabei auch auf den augenblicklichen Stand 
der Aufmerksamkeitsfrage verwiesen werden. Ich neige aber 
auf Grund noch unabgeschlossener Untersuchungen zu der An- 
sicht, dals der gegenwärtig sehr anerkannten Lehre vom Wesen 
der Aufmerksamkeit möglicherweise keine Allgemeingültigkeit zu- 
kommt.! 

Aber welche der drei Erklärungen auch zutreffen mag, auf 
jeden Fall handelt es sich bei der k. G. E. um eine Störung von 
Wahrnehmungsvorgängen, nicht um eine Beeinträchtigung des 
höheren Seelenlebens; denn die erste Erklärung statuiert eine 
Beeinträchtigung einer besonderen optischen Aufmerksam- 
keit, die zweite und ebenso die dritte Erklärung nimmt eine Ab- 
änderung des Empfindungsprozesses selbst an. 

Wäre es möglich, zwischen den drei genannten Erklärungen 
für das Wesen der Sehstörungen zu entscheiden, so wäre damit 
gleichzeitig auch die Frage beantwortet, ob Aufmerksamkeit als 
besondere Funktion existiert. Die vorliegende Untersuchung 
führt eine Lösung dieses wichtigen Problems nicht herbei. 


II. Kapitel. 


Nachweis der Beziehungen zwischen dem Zweikomponenten- 
satz und den Sehstörungen bei organischen Hirn- 
erkrankungen. ° 


§ 1 
Ist als Grund der k. G. E. ein Zustand der „Hypofunktion“ 
in den bei der Sinneswahrnehmung beteiligten Funktionen an- 


t Es sei ausdrücklich hervorgehoben, dafs die ganze Arbeit, mit Aus- 
nahme der Darlegungen im § 3 des III. Abschn. von der Bezugnahme auf 
eine bestimmte Aufmerksamkeitstheorie frei und darum auf keine derartige 
Theorie festgelegt ist. Übrigens neige ich für meine Person, obwohl die 
EspıxGHuaussche Aufmerksamkeitslehre m. E. nicht allen Aufmerksamkeits- 
erscheinungen gerecht wird, und darum der Ergänzung bedarf, doch der 
Ansicht zu, dafs ihr für weite Tatsachengebiete auch fürderhin Gültigkeit 
zugeschrieben werden dürfte, und dafs die Aufmerksamkeitsphänomene, mit 
denen wir es in vorliegender Arbeit gelegentlich zu tun haben, eben diesen 
Gebieten zuzurechnen sind. 

2 Zu diesem ganzen Kapitel ist S. 216ff. zu vergleichen. Anderen- 


220 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


zunehmen, nicht aber eine tiefere, lediglich der Hysterie eigen- 
tümliche Störung des „Ich-Bewulstseins“, so erhebt sich die Frage, 
ob nicht vielleicht verwandte Störungen auch bei organischen 
Hirnerkrankungen vorkommen. Diese Frage ist in bejahendem 
Sinne zu beantworten. 

Baur! hat kürzlich einen Symptomenkomplex beschrieben, 
welchen er als „Seelenläihmung des Schauens“ bezeichnet. Da 
es sich um einen intelligenten Kranken handelte, war eine ge- 
nauere Untersuchung der Sehstörung möglich. Dafs hier eine 
organische Erkrankung vorlag, ist über jeden Zweifel sicher ge- 
stellt. Nach sechsjährigem Bestehen der Erscheinungen trat der 
Tod ein. Im Marklager, darunter auch in demjenigen der Hinter- 
hauptslappen, befanden sich beiderseits ausgedehnte Herde. 

Bei der Prüfung der Sehschärfe fiel auf, dafs der Patient 
zuerst den am rechten Ende einer Zeile befindlichen Buchstaben 
las. Als man ihn auf die Eigentümlichkeit seines Verhaltens 
aufmerksam macht, fragt er erstaunt, ob denn noch etwas an- 
deres da sei. Dafs diese hochgradige Enge des Gesichtsfeldes 
nicht auf einer Beeinträchtigung der „I.“, sondern auf einer 
solchen der „II. Komponente“ beruht, geht aus folgender Tatsache 
hervor. Während das Gesichtsfeld im allgemeinen aufserordentlich 
klein ist, werden auch die auf anderen Teilen der Netzhaut 
sich abbildenden Eindrücke perzipiert, wenn die Aufmerksamkeit 
durch besondere Aufforderung nach der betreffenden Stelle des 
Sehraums eindringlich hingelenkt wird. Dieses Verhalten ist 
aber gerade bezeichnend für eine Gesichtsfeldeinengung durch 
Beeinträchtigung der „Il. Komponente“. 

BALmrT charakterisiert das Verhalten des Patienten gelegent- 
lich dahin: er überblicke „nicht ein Gesichtsfeld von bestimmter 
„Gröfse, sondern es hat in seinem Gesichtsfelde nur ein einziges 
„Bild Platz“. Man könnte hiernach denken, dafs es sich nicht 
um eine Beeinträchtigung des „geometrischen“, sondern um eine 
solche des „arithmetischen“ Umfangs der Aufmerksamkeit handele 
(vgl. S. 110), also um eine Sehstörung, welche mit der bei 
Hysterischen beobachteten nichts gemein hat. Dieses Be- 
denken wird aber bei näherer Betrachtung der Erscheinungen 


falls sind die hier zur Verwendung gelangenden Termini der Gefahr der 
Mifsdeutung ausgesetzt. 
1 Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurologie 25, 1909, S. 51. 





II. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 221 
hinfällig; denn die Störungen erweisen sich bei genauerer Ana- 
lyse wiederum nur als der Ausdruck einer Beschränkung der 
Fähigkeit, einen einigermafsen ausgedehnten Bezirk gleichzeitig 
deutlich zu sehen. 

„Dieses Bild (sc. das einzige, welches er gerade sieht), kann 
„beliebig grols sein, er sieht es vollkommen, nimmt hingegen 
„während der Fixation eines noch so kleinen Bildes von einem 
„anderen keine Kenntnis. Eine ganze menschliche Gestalt z. B. 
„sieht er mit einem Blick sofort, er kann die Grölse angeben, 
„die Farbe der Kleider usw., bei der Fixation einer Stecknadel 
„aber kann er die 5 cm von ihm stehende Kerzenflamme nicht 
„perzipieren.“ 

Es wird ein Dreieck an die Tafel geschrieben, und in eine 
Dreieckseite wird ein Buchstabe hineingezeichnet. Der Patient 
sah zunächst nur das Dreieck. Es entging ihm, dafs die eine 
Seite durch den Buchstaben unterbrochen war. 


„Diese Erscheinung mufs man jedenfalls mit der mangelhaften Auf- 
„merksamkeit des Kranken in Zusammenhang bringen. Bei jedem Sehakt 
„sah ich, dafs seine Aufmerksamkeit sehr oberflächlich ist. Wenn er auch 
„von dem gesehenen Gegenstand ein allgemeines Bild gewinnt und ihn im 
„grofsen und ganzen richtig erkennt, so liebt er es nicht, in die Details 
„einzudringen. Es wird dies übrigens bei gewissen Sehakten zur Ursache 
„wesentlicher Fehler. So sah er auch beim Dreieck im ersten Moment, 
„dafs es ein Dreieck ist; nachdem seine Neugier dadurch befriedigt war, 
„kümmert er sich, seiner oberflächlichen Aufmerksamkeit entsprechend, 
„nicht mehr um den in der einen Seite des Dreiecks stehenden Buchstaben. 
„Als ich ihn darauf aufmerksam machte, lächelte er und sagte: „Ach, das 
„habe ich gar nicht angeschaut!“ “ 


Da der Kranke dann, wenn es nicht auf genaueres Sehen 
ankommt, grölsere Bezirke überblickt, da er z. B. eine mensch- 
liehe Gestalt „mit einem Blicke sofort“ sieht, so ist anzunehmen, 
dafs die hochgradige Gesichtsfeldeinengung erst in dem Moment 
zutage tritt, in welchem er seine Aufmerksamkeit einem be- 
stimmten Gegenstande zuwendet. Ganz das gleiche ist, wie 
wir sahen (S. 173£f.), bei den Hysterischen der Fall. Konzentriert 
der Kranke seine Aufmerksamkeit nicht auf ein bestimmtes Ob- 
jekt oder auf einen bestimmten Punkt, so äufsert sich die Be- 
einträchtigung der „II. Komponente“ gemäls dem Kosterschen 
Phänomen nur in dem Undeutlicherwerden der Gesichtseindrücke. 
Der Kranke kann den Buchstaben nicht gleichzeitig mit dem 
ganzen Dreieck sehen, weil die Gesichtseindrücke bei Verteilung 


222 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


der Aufmerksamkeit über ein so grofses Gebiet zu undeutlich 
werden. Wir haben hier wieder nichts anderes vor uns als das 
Kostersche Phänomen. Auch bei der k. G. E. der Hysterischen 
ist, wie man auf Grund des Kosrerschen Gesetzes erwartet, die 
Deutlichkeit innerhalb des überhaupt wahrgenommenen seitlichen 
Teiles des Sehraums herabgesetzt. Freilich zeigt sich die Störung 
bei dem Bauıntschen Patienten ausgeprägter, als sie bei den 
Hysterischen zu sein pflegt. In dem Augenblick, in welchem 
eine Sehschärfenprüfung begonnen wird, ist ja die Aufmerksam- 
keit noch nicht auf einen bestimmten Punkt mit besonders hoher 
Intensität konzentriert. Wenn der Kranke also bei Darbietung 
der Prüfungstafel glaubt, es befände sich darauf nur ein Buch- 
stabe, so mufs das aulserhalb des „natürlichen Aufmerksamkeits- 
zentrums“ Gelegene auch bei noch nicht besonders angestrengter 
Aufmerksamkeitskonzentration — wie man sie etwa beim Peri- 
metrieren anzunehmen hat — unter dem Einflufs der KostEr- 
schen Gesetzmälsigkeit bereits so undeutlich werden, dals sich 
die Buchstaben überhaupt nicht mehr in erkennbarer Weise vom 
Grunde abheben. Der offenbar höhere Grad der Störung darf 
uns aber nicht daran hindern, sie mit der k. G. E. der Hysterischen 
auf eine qualitative Stufe zu stellen. In der Regel pflegen ja 
qualitativ gleichartige Symptome, die sowohl bei funktionellen, 
wie bei organischen Erkrankungen vorkommen, in Fällen der 
letzteren Art ausgeprägter zu sein. 

Die besonderen Eigentümlichkeiten, welche der Kranke beim 
Lesen zeigt, sind nach dem bisher Bemerkten durchaus verständ- 
lich. Während er nämlich für gewöhnlich beim Lesen Fehler 
macht, liest er stets richtig, wenn man das Wort vor ihm schreibt 
und er jeden einzelnen Buchstaben sogleich ablesen kann. BALINT 
selbst erklärt das, wohl mit Recht, damit, dafs ihn das Sehen 
der Kreide beim Richten seiner Aufmerksamkeit unterstützt. Das 
Vorhandensein der Kreide, eines relativ grolsen und sich gut 
vom Hintergrund abhebenden Gegenstandes, wird ihm auch dann 
nicht entgehen, wenn sie sich aulserhalb seines natürlichen Auf- 
merksamkeitszentrums befindet. Dadurch, dafs er nun eine lokale 
Konzentration der Aufmerksamkeit an die Stelle der Spitze der 
Kreide vornimmt, wird auch der dort befindliche Buchstabe hin- 
reichend deutlich, um erkannt werden zu können. 

Auch das Ergebnis, welches die Prüfung des Augenmalses 
bei dem Patienten liefert, ist begreiflich. Primitive Aufgaben, 


II. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 223 


wie z. B. die Beurteilung der Länge eines Bleistiftes oder Stockes, 
werden in der Regel ziemlich genau ausgeführt. Bei schwie- 
rigeren Aufgaben hingegen, wie beim Halbieren einer Strecke, 
versagt der Patient gänzlich. Er gibt selbst an, er könne die 
einzelnen Teile des Bildes nicht gleichzeitig sehen. Die schwie- 
rigere Aufgabe erfordert eben eine relativ starke Konzentration 
der Aufmerksamkeit auf die einzelnen Teile des Bildes, und hier- 
mit sind die Bedingungen für das Auftreten der Gesichtsfeld- 
einengung gegeben. 

Der von uns vertretenen Ansicht, dafs die hier beobachtete 
Störung mit der Gesichtsfeldeinengung der Hysterischen auf eine 
Stufe zu stellen sei, hält man vielleicht die Tatsache entgegen, 
dafs die Gesichtsfeldaufnahme bei dem Patienten normale Ver- 
hältnisse ergab. Gegenüber diesem Einwand ist aber darauf hin- 
zuweisen, dafs die Aufmerksamkeit des Patienten bei der Unter- 
suchung des Gesichtsfeldes offenbar ausdrücklich und nachhaltig 
auf das periphere Objekt hingelenkt wurde. Denn der Patient 
sieht ja, wenn er sich selbst überlassen ist, und seine Aufmerk- 
samkeit nicht fortwährend und immer von neuem angestachelt 
wird, nur den engen Bezirk, welcher sich im natürlichen Zentrum 
der Aufmerksamkeit befindet. Die Angaben von ScHmipT-RıiMPLER 
liefsen aber erkennen, dals auch die k. G. E. der Hysterischen 
bei ausdrücklicher und nachhaltiger Hinlenkung der Aufmerk- 
samkeit auf das Testobjekt zu verschwinden pflegt. 

„Wir haben oben dargelegt, dals der k. G. E. der Hysterischen 
lediglich eine Störung in den der Sinneswahrnehmung dienenden 
Funktionen, nicht aber eine tiefer in das Wesen der Persönlich- 
keit eingreifende Veränderung, zugrunde liegt. Dafs das gleiche 
von dem Patienten Baumrs gilt, ergibt sich aus folgenden Aus- 
führungen jenes Autors: „Mit Recht könnte man einwenden, 
„warum wir dies als Erkrankung der Sehsphäre bezeichnen, wenn 
„es sich um eine Störung der Aufmerksamkeit handelt. Bei 
„dem Kranken war aber die Aufmerksamkeit sonst nicht gestört, 
„er bemerkte nämlich den geringsten Reiz, wenn dieser seinen 
„anderen Sinnesorganen galt, und er hatte eine stets tadellose 
„Aufmerksamkeit für alles, was nicht mit dem Sehakt in Ver- 
„bindung stand.“ 

Barot gibt an, dafs er eine Beschreibung ähnlicher Er- 
scheinungen in der Literatur nur einmal gefunden habe, nämlich 
bei Hartmann. Dieser Autor schreibt von seinem Kranken Fol- 


224 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


gendes:! „Die auch später noch wiederholt vorgenommene Ge- 
„sichtsfeldprüfung ergab eine eigentümliche Sehstörung, indem 
„der Patient die Gegenstände erst sieht, wenn er auf dieselben 
„aufmerksam gemacht wird, obwohl er nicht wirklich hemi- 
„anopisch ist.“ Ich möchte dem hinzufügen, dafs auch ein von 
BIELSCHowsKY ? beschriebener Fall hierher zu rechnen ist. Nach 
einem kurzdauernden Anfall von Bewulstlosigkeit war aulser fast 
totaler optischer Asymbolie und hochgradiger Beeinträchtigung 
des Orientierungsvermögens folgende Störung zurückgeblieben: 
„Trotzdem bei der Gesichtsfeldprüfung gröbere Defekte nicht 
„festzustellen waren, trat für gewöhnlich nur das auf den Netz- 
„hautmitten gelegene Bild ins Bewulstsein. Es entschwand 
„dem Kranken, sobald es durch unabsichtliches Verlieren der 
„zentralen Einstellung oder vom Untersuchenden mittels pris- 
„matischer Verschiebung — auf exzentrische Netzhautteile 
„gebracht wurde. Infolgedessen fehlten auch alle unter normalen 
„Verhältnissen bei peripheren Netzhauterregungen gleichsam 
„automatisch erfolgenden gleich- und gegensinnigen Einstellungs- 
„bewegungen der Augen, obwohl der motoriche Apparat intakt 
„war und prompt reagierte, wenn die Aufmerksamkeit, und damit 
„die Fixationsabsicht förmlich gewaltsam auf das periphere Netz- 
„hautbild gelenkt wurde, wie das bei der Gesichtsfeldprüfung 
„der Fall ist.“® ... „Der Kranke selbst hatte... nie die Emp- 
„findung, als sähe er nur einen winzigen Ausschnitt von seiner 
„Umgebung, er erkannte z. B. im Moment des Vorbeigehens sein 
„Bild im Spiegel, umging auch Hindernisse ohne Zuhilfenahme 
„des Tastsinns“. Wahrscheinlich also ist auch hier, ganz wie 
bei den Hysterischen, erst der Akt der Fixation, bzw. die damit 
verbundene Konzentration der Aufmerksamkeit, die Ursache der 
hochgradigen Einengung. 





ı Die Orientierung. Leipzig 1902. 

2 Über ungewöhnliche Erscheinungen bei Seelenblindheit. Im „Be- 
richt üb. d. 35. Vers. d. Ophth. Ges.“. Wiesbaden 1909, S. 176 u. im Arch. 
f. Augenheilk. 61, S. 289. 

3 Wir kommen weiter unten noch auf die Störungen der Lokalisation 
zu sprechen, welche im Falle von Barıyr vorlagen. Die Analogie zwischen 
diesem Falle und demjenigen von BıeLschowsky zeigt sich auch darin, dafs 
auch in dem letzteren Störungen der Lokalisation — Scheinbewegungen 
beim Versuch, nach dem fixierten Objekt zu greifen, Unterschätzung der 
Entfernung und Mikropsie — vorhanden sind. 


Il. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 225 


82. 


a) Nach den Ausführungen der im Bisherigen zitierten Autoren 
gewinnt es den Anschein, dafs das Symptom der „Seelenlähmung 
des Schauens“ bei organischen Gehirnaffektionen nur sehr selten 
auftritt. Man darf jedoch nicht übersehen, dals die „Seelen- 
lähmung des Schauens“ nur bei relativ eingehender Untersuchung 
und sorgfältiger Variation der Versuchsbedingungen erkannt 
werden kann, und dals sie bei nicht hinreichend genauer Prüfung 
leicht andere Symptome vortäuscht. Es ist eine bedauerliche, 
aber nicht hinwegzuleugnende Tatsache, dafs die blofse Angabe 
des Perimeterbefundes und der Sehschärfe, worauf sich nament- 
lich die älteren Autoren zu beschränken pflegen, keineswegs aus- 
reicht, um die Natur der Sehstörung richtig zu diagnostizieren, 
und dafs sich somit zurzeit noch gar nicht absehen lälst, in wie 
zahlreichen Fällen, welche in der Literatur unter anderem Titel 
gehen, das hier in Rede stehende Symptom vorgelegen haben 
mag. Wenn vollends in aufserordentlich zahlreichen Fällen 
psychiatrischer Provenienz eine genaue Gesichtsfeldaufnahme 
wegen anderer Störungen, insbesondere solcher der Aufmerksam- 
keit, nicht vorgenommen werden konnte!, und wenn man die 
Diagnose des Symptoms der Hemianopsie nur auf die Tatsache 
gründete, dafs der Kranke Gegenstände in der einen Hälfte des 
Gesichtsfeldes nicht zu bemerken schien oder daran anstiels, so 
muls natürlich die Möglichkeit offen gelassen werden, dafs hier, 
ganz ähnlich wie bei dem Patienten von Harrtmany, Seelen- 
lähmung des Schauens vorlag. Es ist bezeichnend, dafs die 
wenigen, angeblich so seltenen Fälle von „Seelenläihmung des 
Schauens“ gerade aus der allerjüngsten Zeit stammen. 

Man wird jedoch zuweilen auch bei den unter anderem 
Titel gehenden älteren Fällen aus mehr zufällig und beiläufig 
angestellten Beobachtungen auf das Vorhandensein des Sym- 
ptoms schliefsen können. 

Unter den Fällen von doppelseitiger homonymer Hemi- 
anopsie — Ausfall beider Gesichtsfeldhälften mit Ausnahme eines 
kleinen Bezirkes um den Fixierpunkt — pflegt auch derjenige 


! z. B. in fast sämtlichen der 16 Fälle von ReısHarn (Arch. f. Psychiat. 
17 u. 18). 
Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 15 


236 IT. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


von GAFFRON! aufgezählt zu werden. Nach einem Sturz auf 
den Hinterkopf, der eine klaffende Schädelfraktur verursachte, 
konnte nach anfänglicher Amaurose beim Wiederauftreten des 
Sehvermögens folgender Befund erhoben werden. Das erhaltene 
Gesichtsfeld ist von aufserordentlich geringer Ausdehnung; sein 
Durchmesser besitzt, in Winkelgraden gemessen, im Mittel etwa 
die Gröfse von 15°. Die Bestimmung der Sehschärfe ergibt 
ein überraschendes Resultat. „Patientin hat volle Sehschärfe 
„für die Nähe und Ferne, wenn man ihr einzelne Buchstaben 
„isoliert auf gröfserer weilser Fläche präsentiert.“ Während 
der Prüfung waren alle Buchstaben der Snerzexschen Tafel, mit 
Ausnahme des vordersten jeder Zeile, verdeckt. Die vordersten 
Buchstaben konnten bei diesem Verfahren bis zu °, herunter 
ohne weiteres abgelesen werden. Wurde jedoch die Verdeckung 
unterlassen, waren somit auch die dem vordersten Buchstaben 
benachbarten Buchstaben sichtbar, so erwies sich die Sehschärfe 
als stark herabgesetzt. Wenn Garrron diese Erscheinung dahin 
deutet, dafs die Auffindung der Buchstaben wegen der Kleinheit 
des Gesichtsfeldes notwendig auf Schwierigkeiten stofsen müsse, 
und dals sie durch die isolierte Darbietung erleichtert werde, so 
wird man sich durch diese Erklärung wohl schwerlich befriedigt 
fühlen. Es ist schlechterdings kein Grund einzusehen, weshalb 
die Anwesenheit der ganzen Zeilen die Auffindung des vordersten 
Buchstabens erschweren soll. Die Auffindung muls im Gegen- 
teil bei Anwesenheit der ganzen Zeile eher leichter von statten 
gehen. Denn wenn die Kranke, nachdem sie den Anfangsbuch- 
staben der obersten Zeile gelesen hat, zu den kleineren Typen 
übergehen will, und wenn sie dabei den Anfangsbuchstaben der 
tieferen Zeile wegen der Enge ihres Gesichtsfeldes zunächst ver- 
fehlt, so wird sie doch sicher die tiefere Zeile an irgend einer 
Stelle mit dem Blick treffen; sie braucht die Zeile nur nach 
links hin zu verfolgen, um mit Sicherheit auf den Anfangsbuch- 
staben zu stofsen. Sind die Anfangsbuchstaben dagegen isoliert 
gegeben, so kommt dieses wertvolle Hilfsmittel zur Auffindung 
natürlich in Wegfall. Betrachtet man durch eine enge Röhre 
eine SxELLENsche Tafel oder eine in ähnlicher Weise beschriebene 
Wandtafel, wobei die Zeilen einmal ganz dargeboten werden, das 


! Ein Fall von doppelseitiger homonymer Hemianopsie. In „Beiträge 
zur Augenheilkunde“, herausgeg. von DEUTscHmann, 1, S. 417. 


II. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 227 


andere Mal, mit Ausnahme der Anfangsbuchstaben, verdeckt 
sind, so sieht man unmittelbar, dafs es sich in der angegebenen 
Weise verhält. Nun ist aber gar nicht einzusehen, weshalb die 
Kranke bei derjenigen Versuchsmethode grölsere Schwierigkeiten 
haben soll, welche ein Normaler, der mit verengtem Ge- 
sichtsfeld beobachtet, als die bequemere empfindet; denn psychi- 
sche Störungen im eigentlichen Sinne zeigt die Kranke nicht. 
Ihr Orientierungsvermögen insbesondere lälst so wenig zu wünschen 
übrig, dafs die Sicherheit ihrer Bewegungen in Anbetracht der 
anfänglich bestehenden Amblyopie sogar als „auffallend“ be- 
zeichnet wird; ausdrücklich wird die Patientin als „intelligent“ 
geschildert. Ist aber die Kranke psychisch normal und intelli- 
gent, so wird man von ihr ein ähnliches Urteil über die Bequem- 
lichkeit der Methoden zu erwarten haben, wie es von einem mit 
künstlich erzeugtem Gesichtsfelddefekt beobachtenden Normalen 
gefällt wird. Es erscheint uns somit nicht angängig, das eigen- 
tümliche Phänomen, welches sich bei der Prüfung der Sehschärfe 
herausstellt, auf die angeblich gröfsere Schwierigkeit der Auf- 
findung bei Darbietung der ganzen Zeilen zurückzuführen. 

In gleichem Sinne spricht auch ein anderer Umstand. Alle 
Buchstaben einer Zeile der Sneuvenschen Tafel gelten in der 
Praxis der Augenärzte als gleichwertig. Das Erkennen der Buch- 
staben einer bestimmten Zeile aus gewisser Entfernung soll eine 
bestimmte Sehschärfe verbürgen. Es wird daher keinem Augen- 
arzt einfallen, einem Patienten z. B. die Sehschärfe ®,, zuzu- 
schreiben, weil er wegen seines kleinen Gesichtsfeldes beim 
Übergang zu den folgenden Zeilen den Blick nicht immer gerade 
erst auf den Anfangsbuchstaben richtet, sondern einen anderen 
liest. Wenn es daher in der Arbeit von GArrron heifst, die 
Patientin sei bei freiem Lesen nur bis zu °/,, gekommen, während 
sie bei dem verdeckenden Verfahren noch *°/, erkannt habe, so 
will dieser Satz offenbar besagen, dafs die Buchstaben der Zeilen, 
welche sich unterhalb von °/,, befanden, ganz allgemein nicht 
gelesen wurden. Entgegnet man hierauf, dals GArrrox vielleicht 
durch seine Methode des Verdeckens, welche eine Bevorzugung 
der Anfangsbuchstaben in sich schlofs, dazu veranlafst wurde, 
sich auch bei der Prüfung durch freies Lesen gerade auf die 
Arfangsbuchstaben zu kaprizieren, so ist hierauf zu antworten, 
dafs die Methode des Verdeckens erst nach „fortgesetzten Ver- 


suchen“ als wesentlich erkannt wurde, und dals anfangs nach 
15* 


226 IT. Abschnitt. Best” ‚nhnitt gegebenen usw. 
Pl 
von f sat a „ntersucht und dabei eine äulserst 
de p0 m na werbo® wurde. Die Kranke mufs also 
I ğ erde g "wesen sein, die Buchstaben unterhalb 
ger PE pemb V yjoiben der Verdeckung zu lesen. Es wäre 


p, bei AV haus widersinnig, zur Erklärung dieser Tat- 
ve atürlieh auf die Enge des Gesichtsfeldes hinzuweisen, 
be ee sagte, es falle der Kranken schwerer, irgend 
jindem n staben der tieferen Zeile aufzufinden, als einen be- 
einen a einzelnen Buchstaben; vielmehr ist das Umgekehrte 
stimi erheit zu behaupten. Läge also bei der Patientin nichts 
mit s vor, als ein stark eingeengtes Gesichtsfeld, samt der da- 
ando edingten Unfähigkeit, einen bestimmten Buchstaben so- 
e aufzufinden, so würde uns GArrRON offenbar berichten, 
dafs sich zwar die Sehschärfe bei der Untersuchung als normal 
erwies, dafs aber wegen der Schwierigkeit des Auffindens das 
Lesen der Zeilen nicht immer gerade mit dem Anfangsgliede 
begonnen wurde, und dals die Patientin vielleicht auch gelegent- 
lich in andere Zeilen hineingekommen sei. 

Wenn der Bericht nun aber ganz anders lautet, wenn er 
das Bestehen einer stark verringerten Sehschärfe bei der gewöhn- 
lichen Prüfung, einer normalen Sehschärfe bei Anwendung der 
Verdeckung betont, so ist hieraus zu entnehmen, dafs dieser 
Unterschied mit der Schwierigkeit des Auffindens gar nichts zu 
tun hat, sondern dafs die gleichzeitige Darbietung mehrerer 
Buchstaben bewirkt, dafs die einzelnen Buchstaben tatsächlich 
weniger scharf gesehen werden als dann, wenn sie isoliert vor- 
gezeigt werden. Wir werden darum zu der Annahme gedrängt, 
dals die bei der Sehschärfeprüfung beobachtete Erscheinung nur 
eine Äufserung des Kosrterschen Phänomens darstellt, und dafs 
sie mit dem Verhalten des Barıntschen Patienten, welchem der 
in die Dreiecksseite eingezeichnete Buchstabe bei Beachtung des 
ganzen Dreiecks undeutlich wurde, auf eine Stufe zu stellen ist. 
Eine Beobachtung, welche sich mit derjenigen Garrrons in noch 
genauerer Weise deckt, als der Versuch von Barınt, werden wir 
bei der Besprechung des Zexnerschen Falles kennen lernen 
(S. 234). 

Bei der Beurteilung der Frage, ob die Schwierigkeit des Auf- 
findens die ihr von GAFFRoN zugeschriebene Bedeutung tatsäch- 
lich besitzt, ist auch zu berücksichtigen, dafs die freien Zwischen- 
räume zwischen den einzelnen Buchstaben auf der SneLLexschen 


11. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 229 


Tafel bei den kleinen Typen erheblich kleiner sind als bei den grofsen. 
Auch aus diesem Grunde würde man weit eher erwarten, dafs 
die Schwierigkeit des Auffindens bei den grofsen, nicht aber bei 
den kleinen Typen zur Geltung kommen werde. Man kann sich 
dieser Darlegung gegenüber auch nicht darauf berufen, dafs die 
Gröfse der Buchstaben selbst den durch die Grölse der freien 
Zwischenräume bedingten Nachteil wieder wettmache. Nach der 
von uns kritisierten Ansicht besitzt die Patientin ja in Wirk- 
lichkeit normale Sehschärfe, aber ein aufserordentlich enges Ge- 
sichtsfeld, welches die Unfähigkeit, $ich auf der Tafel zurecht- 
zufinden, und damit den scheinbar ungünstigen Ausfall der Seh- 
schärfenprüfung verursacht. Da die Kranke angeblich normale 
Sehschärfe besitzt, und da das Gesichtsfeld ein so enges sein soll, 
dafs nur die allernächste Umgebung des mit normaler Sehschärfe 
ausgestatteten Fixierpunktes funktioniert, so wird die Kranke 
einen Buchstaben, der in das winzige Gesichtsfeld überhaupt 
hineinfällt, auf jeden Fall finden, gleichgültig, ob das gerade 
Gesehene ein Stück eines grolsen oder eines kleinen Buch- 
stabens ist. 

Im Sinne unserer bisherigen Ausführungen spricht endlich 
auch der Verlauf. Eine Untersuchung nach °/, Jahren ergab, 
dafs die Erscheinungen mit Ausnahme derjenigen im Gebiet der 
Sehschärfe unverändert waren. Die Sehschärfeprüfung ergibt 
jetzt, bei dem einen Auge wenigstens, volle Sehschärfe, gleich- 
gültig, ob die Untersuchung mit oder ohne Verdeckung der 
Nachbarbuchstaben vorgenommen wird; die Besserung des anderen 
Auges ist weniger beträchtlich, bewegt sich aber in der gleichen 
Richtung. Wenn berichtet wird, dafs diese letzte Untersuchung 
den Zustand, abgesehen von den Verhältnissen der Sehschärfe, 
als vollkommen unverändert erscheinen liefs, so ist hierin wohl 
auch eingeschlossen, dafs das Gesichtsfeld sich nicht wesentlich 
erweitert hatte. Denn die hochgradige Gesichtsfeldeinengung war 
ja gerade das Kardinalsymptom und gab sogar den Titel für die 
Arbeit her. Auch diese letzten Erwägungen sprechen wiederum 
in dem Sinne, dafs es nicht statthaft ist, den Unterschied, welcher 
sich anfangs bei den beiden Prüfungsmethoden ergab, auf die 
Enge des Gesichtsfeldes zurückzuführen. 

Schliefslich ist darauf hinzuweisen, dafs die relativ grofse 
Sicherheit hervorgehoben wird, mit der sich die Patientin bewegt. 
Auch dieser Umstand scheint darauf hinzudeuten, dafs die 


230 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


peripheren Regionen der Netzhaut nicht schlechthin unempfind- 
lich sind. 

Bedenken gegen die hier gegebene Deutung des Garrroxschen 
Falles könnte man höchstens aus der Lage des erhaltenen Ge- 
sichtsfeldrestes herleiten. Wenn nämlich unsere Deutung zutrifft, 
wonach die Fähigkeit des Überschauens bei der Patientin in 
hohem Grade eingeschränkt ist, so wird man, ähnlich wie bei 
der Einengung hysterischer Provenienz, ein den 'Fixierpunkt 
konzentrisch umschliefsendes Gesichtsfeld erwarten. Stattdessen 
ersehen wir aus dem Schema, dafs von dem Gesichtsfeld etwa 
der dem Fixierpunkt benachbarte Teil des linken oberen Qua- 
dranten gesehen wird, nach den übrigen Richtungen hin aber 
nur ein kleines, den Fixierpunkt umgebendes „überschüssiges Ge- 
sichtsfeld“. 

Um diesen Einwand zu prüfen, müssen wir daran erinnern, 
dafs sich für die Beeinträchtigung der Fähigkeit des Überschauens 
drei verschiedene Erklärungsmöglichkeiten darboten, zwischen 
denen wir nicht zu entscheiden vermochten (vgl. S. 218). Trifft 
nun etwa gerade die zweite der dort angegebenen Erklärungs- 
möglichkeiten zu, stölst also die Entwicklung der Empfindung 
selbst auf abnorme Widerstände, die nur durch eine abnorme 
Anstrengung der Aufmerksamkeit und bei einer Beschränkung 
derselben auf Weniges überwunden werden kann, so ist von 
vornherein keineswegs selbstverständlich, dafs der Betrag des 
Widerstandes für Netzhautstellen, welche gleichweit von der 
Makula entfernt sind, stets gleichgrols sein müsse.' Ein un- 
gleichmäfsiges Verhalten der konzentrischen Netzhautstellen wäre 
auch dann nicht von vornherein auszuschliefsen, wenn eine 
Projektion der Retina auf die Sehrinde nicht besteht. Bei Füllen, 
die nicht zur Sektion gelangten, und bei denen zudem, wie 
hier, die Prüfung wegen anfänglicher Amaurose erst längere Zeit 
nach dem Unfall vorgenommen werden konnte, läfst sich über 
die Beteiligung subkortikaler Regionen infolge der Tiefenwirkung 
der Läsion, sowie durch Fernwirkungen und Degenerationen, 
nichts Sicheres aussagen. Aber auch, falls im Sinne einer der 





! Im Falle der k. G. E. allerdings, im Harrmansschen Fall und, wie 
man auf Grund der Ausführungen von $ 2e wohl hinzuzufügen hat, bei 
der gewöhnlichen Hemianopsie würden die Widerstände für konzentrisch 
gelegene Netzhautstellen allerdings als gleich anzusetzen sein. 


II. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 231 


beiden anderen Erklärungsmöglichkeiten eine eigentliche optische 
Aufmerksamkeitsstörung vorliegt, — sei es, dafs optische Aufmerk- 
samkeitsstörung Störung einer besonderen Funktion ist oder aus 
einer abnormen Wechselwirkung der Empfindungen entspringt — 
auch dann ist keineswegs notwendig, dals sich die Aufmerksam- 
keit allen konzentrischen Punkten des Gesichtsfelds gegenüber 
gleich verhalten müsse. Welche der drei Erklärungsmöglich- 
keiten auch zutrifft, jedenfalls wird man darauf hinweisen können, 
dafs auch in den Fällen von Hartmann und Baumr!, in denen 
doch zweifellos Seelenlähmung des Schauens vorliegt, gleichzeitig 
eine Bevorzugung eines bestimmten Teiles des Gesichtsfeldes be- 
steht. Wir werden weiterhin wenigstens die Vermutung be 
gründen, dafs das Kontingent halbseitiger Seelenläihmung des 
Schauens noch ein erheblich weiteres ist. 


Man könnte versuchen, das Bestehen einer Bevorzugung der Richtung 
nach oben und nach links seitens der Aufmerksamkeit? noch durch eine 
andere Überlegung wahrscheinlich zu machen. Der Gedankengang, welcher 
hierzu führt, enthält allerdings ein hypothetisches Element und mufs darum 
mit dem in solchen Fällen erforderlichen Grad von Zurückhaltung vorge- 
tragen werden. — Wir haben eine besondere Eigentümlichkeit, welche 
GarrRon bei seiner Patientin beobachtete, bisher noch nicht erwähnt (im 
übrigen war unsere Wiedergabe der wesentlichen Züge des Falles eine 
vollständige). Jene Eigentümlichkeit besteht darin, dafs die Patientin bei 


! Der um 35—40° von der Mittellinie abstehende Gegenstand wurde 
jeweils zuerst gesehen, die übrigen erst bei ausdrücklicher Aufforderung, 
auf das sonst noch Vorhandene zu achten. Diese Richtung der Aufmerk- 
samkeit nach rechts, welche bei dem Kranken beobachtet wird, beruht 
keineswegs, wie man zunächst annehmen könnte, auf einer Motilitätsstörung 
des Auges, welche etwa eine relative Erleichterung der Exkursion nach 
rechts im Vergleich zu denen nach anderen Richtungen mit sich brächte. 
Denn abgesehen davon, dafs sich eine Motilitätsstörung des Auges nicht 
feststellen liefs, wurde der rechts gelegene Gegenstand auch dann stets 
zuerst gesehen, wenn unter Wahrung strenger Fixation rechts und links 
je ein Gegenstand in das Gesichtsfeld hineingebracht wurde. 

® Für die nachfolgende Darlegung ist es wiederum gleichgültig, welche 
der drei Erklärungsmöglichkeiten zutrifft, bzw. ob die Aufmerksamkeit in 
dem Falle wirklich oder nur scheinbar eine bestimmte Richtung bevorzugt; 
es ist für uns ganz gleichgültig, ob man eine besondere in gewisser Weise 
„gerichtete“ Aufmerksamkeitsfunktion annimmt, oder ob man sich die 
„bevorzugte Richtung“ nur scheinbar dadurch zustande gekommen denkt, 
dafs die den Empfindungen entgegenstehenden Widerstände oder auch 
ihre wechselseitigen Hemmungen in einem bestimmten Teile des Gesichts- 
feldes besonders geringe sind. 


232 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


der Aufforderung, einen fixierten Punkt zu berühren, stets zunächst einige 
Zentimeter zu weit nach unten und nach rechts greift, und darauf mit dem 
Finger erst langsam an den Gegenstand heranrückt, bis sie ihn deckt. Nun 
nimmt Herme bekanntlich an, dafs die Richtung der Aufmerksamkeit? 
nach rechts den Objekten des Gesichtsfeldes einen „Rechtswert“ erteilt, 
und dafs Entsprechendes für die anderen Richtungen gilt. Mafsgebend 
sind für Hering bei dieser Annahme vor allem die Erfahrungen bei Augen- 
muskellähmungen. Die Täuschung über den Ort des fixierten Punktes, 
welche bei der Patientin zu beobachten ist, wäre verständlich, wenn man 
annehmen dürfte, dafs sie ihre Aufmerksamkeit, um sie dem auf der Stelle 
des schärfsten Sehens sich abbildenden Punkte des Aufsenraums zuzu- 
wenden, erst nach unten hin und nach rechts wenden mulfs, dafs also das 
„natürliche Aufmerksamkeitszentrum“ nicht mit der Fovea des Doppel- 
auges zusammenfällt, sondern dafs es eine Verlagerung von der Art er- 
fahren hat, dafs bei ungezwungenem Verhalten stets der links oben ge- 
legene Teil des Gesichtsfeldes beachtet wird. Die eigentümliche Lage des 
Gesichtsfeldrestes wäre dann ohne weiteres verständlich. 

Dieser Deutungsversuch kann natürlich, solange nicht auch in anderen 
Fällen entsprechende Beobachtungen vorliegen, nur als eine plausible Ver- 
mutung gelten. Bıerschowsky gibt von seinem Patienten an, dafs ihm ein 
Objekt, „solange er richtig fixierte“, ruhig stehen zu bleiben schien, dafs 
es aber nach oben entschwebte, sobald er danach griff. Gleichzeitig fixiert 
auch der Patient den Gegenstand nicht mehr, sondern macht eine Augen- 
bewegung. Es wäre denkbar, dafs der Patient darum eine Scheinbewegung 
sieht, weil sein „natürliches* Aufmerksamkeitszentrum möglicherweise 
nicht mit der Fovea zusammenfällt und jetzt nach Aufhören der strengen 
Fixation wieder an seinen natürlichen Ort zurückkehrt. 

lm Falle von Barımtr, bei welchem man nach diesen Ausführungen 
wegen der tatsächlich nachgewiesenen Verlagerung des Aufmerksamkeits- 
zentrums entsprechende Störungen der Lokalisation erwarten könnte, wird 
nur angegeben, dafs der Patient „beim Suchen im Raume grofse Fehler“ 
macht. Man wird nicht verlangen können, dafs ein etwa vorhandener kon- 
stanter Fehler in Anbetracht der beträchtlichen Gröfse, welche der variable 
Fehler in diesem Falle zu besitzen scheint, deutlich in Erscheinung treten 
werde. — Angemerkt sei noch, dafs auch Grornouws Patient? öfter über 
die Gegenstände hinweggriff und darüber hinwegblickte, obwohl in dem 
Fall — „doppelseitige homonyme Hemianopsie* — eine Motilitätsstörung 
des Auges ausgeschlossen werden konnte. Endlich hat E. Beyer? aufser- 
ordentlich starke Verlagerungen im Gesichtsfeld auch bei Anfällen von 
Flimmerskotom beobachtet, wobei ja Gesichtsfelddefekte auf funktioneller 
Basis auftreten. 


! Auch diese Annahme legt sich auf keine bestimmte Aufmerksamkeits- 
theorie fest. 

2 Über doppelseitige Hemianopsie zentralen Ursprungs. Arch. f. Psy- 
chiatrie 23. 

3 Über Verlagerungen im Gesichtsfeld bei Flimmerskotom. Neurolog. 
Zentralbl. 1895, S. 10. 


II. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 233 


b) Das Lesen ist eine ziemlich verwickelte psychische Leistung, 
und an der Aufhebung dieser Fähigkeit können recht verschieden- 
artige Elementarstörungen schuld tragen. Dafs auch die „Seelen- 
lähmung des Schauens“ Grund der Unfähigkeit zu lesen sein 
kann, das geht m. E. mit Sicherheit aus einem von ZENNER ' be- 
schriebenen Falle hervor. Infolge eines Insultes ist bei der 
Patientin aufser anderen Störungen — mangelhaftes Gedächtnis, 
Ungeschicklichkeit der Handbewegungen — vor allem eine eigen- 
tümliche Sehstörung aufgetreten. Die Kranke ist weder rinden- 
noch seelenblind. Sie scheint sogar ziemlich gut zu sehen. Sie er- 
kennt sofort Personen, „die sie vielleicht jahrelang nicht ge- 
„sehen hat, sie sieht den kleinsten Flecken an der Zimmer- 
„decke.“ Trotzdem ist die Kranke gänzlich aufserstande zu lesen. 

ZENNER falst das Ergebnis der Untersuchung in dem Satze 
zusammen, die Beobachtungen erweckten den Verdacht, „dals 
„nur Bilder, die gleichzeitig auf einen kleinen Teil der Retina 
„fallen, zu ihrem Bewulstsein gelangen, so dafs, wenn sie einen 
„Gegenstand in dem peripherischen Teil ihres Gesichtsfeldes 
„sieht, sie nicht gleichzeitig einen Gegenstand erkennt, dessen 
„Bild die Macula trifft.“ Bei näherer Betrachtung der Sehstörung 
werden wir der Deutung, welche ZEnser dem Falle gibt, nur zu- 
stimmen können. 

„Ein einzeln stehender Buchstabe, wenn überhaupt gesehen, 
„wurde leicht erkannt; nicht, wenn er mit anderen zusammen- 
„stand. So wurde „M“, in eine gewisse Entfernung gebracht, 
„sofort erkannt. Dann wurde „M A“ in gleicher Distanz ge- 
„halten; aber es dauerte lange, bis sie „M“ wiedererkannte; sie 
„glaubte nach einer Weile auch den Buchstaben „A“ zu sehen, 
„sicher aber war sie sich der Sache nicht. Mit Zahlen ging es 
„etwas besser. Z. B. erkannte sie sofort „10“ und „13“; sie sah 
„von „131“ nur „13“; über die letzte Ziffer war sie zweifelhaft, 
„und gab sie dieselbe als verschwommen an. 

„Ein anderes Mal zeigte ich ihr die Zahl „284“; sie erkannte 
„die Ziffern erst, als ich sie ihr einzeln vorhielt.“ 

In diesen Beobachtungen, spezieller in dem Undeutlicher- 
werden der Zeichen bei zu grolser Ausdehnung des Dargebotenen, 


1 Ein Fall von Unfähigkeit zu lesen (Alexie). Neurol. Zentralblatt 
1893, S. 293. 


234 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


glauben wir das genaue Analogon zu der von Garrrox be- 
schriebenen Erscheinung erblicken zu dürfen (vgl. S. 228). 

Ähnlich wie im Baumwtschen Falle ist die Beeinträchtigung 
der Fähigkeit des Überschauens auch hier eine aufserordentlich 
‚weitgehende; sie ist so beträchtlich, dafs die Patientin nur immer 
hier und da einen Gegenstand sieht, auf welchen ihre Aufmerk- 
samkeit entweder zufällig gerade gerichtet ist, oder auf den sie 
durch besondere Hilfsmittel aufmerksam gemacht wird. 

„Zeigte man ihr ein Buch, so konnte sie Buchstaben hier 
„und da erkennen, jedoch brauchten sie nicht zu ein- und dem- 
„selben Worte, noch zu ein- und derselben Linie zu gehören. 
„Selten sah sie ein ganzes Wort, doch schien es mir dann, als 
„ob sie nicht alle, sondern nur einige Buchstaben dieses Wortes 
„sah, das ganze Wort ihr aber dann plötzlich in den Sinn 
„kam.“ .. 

„In ihrem Zimmer waren die Worte „The Daily Times“ 
„angeschlagen; wochenlang studierte sie dieselben, ohne über 
„den Anfang hinausgekommen zu sein, d. h. sie konnte nur hier 
„und da einen Buchstaben sehen, lesen konnte sie die Worte 
„nicht.“ 

„Was einem zuerst bei der Untersuchung der so eigentüm- 
„lichen Sehstörung dieser Kranken auffällt, ist nicht ihre Un- 
„fähigkeit zu schen, sondern die Schwierigkeit, mit der sie Dinge 
„auffindet. Sie kann augenblicklich eine ins Zimmer tretende 
„Person sehen, oder jemanden, der sie anredet oder einen Gegen- 
„stand, dessen Lage sie kennt, oder worauf ihre Aufmerksamkeit 
„durch besondere Hilfsmittel gerichtet ist, z. B. durch Hin- und 
„Herbewegen des Objektes, aber ohne solche begleitende Neben- 
„umstände bekundet sie grofse Schwierigkeit im Auffinden“ ... 

„Wie sich Patientin ausdrückt, ist es ihr zuweilen ganz un- 
„möglich einen Gegenstand aufzufinden, und dann wieder taucht 
„er plötzlich vor ihrem Gesichte auf.“ 

Befremdend erscheint es, dafs die Kranke manchmal angibt, 
nicht zu wissen, ob sie einen Gegenstand sieht oder nicht sieht. 

„Sie glaubt, Dinge, die sie überhaupt sieht, klar und deut- 
„lich zu sehen, und mufs dies in gewissem Grade der Tatsache 
„entsprechen, denn sie erkennt Personen sofort, und wie bereits 
„erwähnt, sieht sie die kleinsten Gegenstände. Dessenungeachtet 
„besteht Unsicherheit. Sieht sie auf meine Brille, so weils sie, dafs 
„sie das eine Glas sieht, doch ist sie ungewils, ob sie das andere 


Il. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 235 


„wirklich sieht, oder es nur zu sehen glaubt, weil sie von dessen 
„Anwesenheit weils. Wenn, wie in der obenerwähnten Gesichts- 
„feldbestimmung, Patientin mein Auge fixiert, und ich ihr ein 
„Stück Papier vorhalte, das sie sieht, so weils sie nicht sicher, 
„ob sie Auge und Papier zu gleicher Zeit sieht.“ 

Diese befremdende Tatsache könnte den Verdacht auf eine 
verwickeltere und tieferliegende seelische Störung erwecken. In 
Wahrheit läfst sich aber auch diese Erscheinung in einfacher 
Weise aus der Beeinträchtigung des Überschauens erklären. Wir 
hatten im experimentellen Teil der Arbeit mit der Schwierigkeit 
zu kämpfen, dals uns Augenbewegungen trotz sorgfältigster 
Selbstbeobachtung aulserordentlich leicht entgehen. Noch viel 
leichter entgehen einem sukzessive lokale Konzentrationen der 
Aufmerksamkeit an verschiedene Stellen des Gesichtsfeldes unter 
Festhaltung des Blickes. Konzentriert die Patientin ihre Auf- 
merksamkeit nacheinander erst auf das Auge, dann auf das 
Papier, so sieht sie allerdings zunächst nur das erstere, dann 
nur das letztere Objekt, und insofern ist ein Faktor gegeben, 
welcher sie zu dem Urteil zu bestimmen sucht, sie sähe die beiden 
Dinge nicht gleichzeitig. Andererseits wird die Patientin aber 
doch unschlüssig; denn ein zweiter Faktor legt das gerade ent- 
gegengesetzte Urteil nahe. Sie wird ja im allgemeinen nicht 
merken, dals sie ihre Aufmerksamkeit sukzessiv an verschiedene 
Orte konzentriert, dals sie sich also in den beiden Zeitmomenten 
verschieden verhält. Sie hält die beiden verschiedenen Be- 
obachtungsbedingungen für gleiche; es werden eigentlich zwei 
Versuche angestellt, sie hält aber diese zwei Versuche für einen. 
Es wird daher bei ihr eine Tendenz auftreten, dasjenige anzugeben, 
was sie in beiden Zeitmomenten zusammen sieht. 

Instruktiv, namentlich für den Fortgang unserer Unter- 
suchung, ist auch das Verhalten des Gesichtsfeldes. Entsprechend 
dem Befund an Hysterischen fehlt auch dieser Patientin das Be- 
wulstsein der tatsächlich nachgewiesenen konzentrischen Ein- 
engung. (Aus der Enge des Gesichtsfeldes kann aber nicht er- 
klärt werden, dafs die Kranke gleichzeitig immer nur so wenig 
sieht; denn das Gesichtsfeld war im Vergleich zu einem normalen 
nur um 20—30° reduziert.) Mit Rücksicht auf den Fortgang der 
Untersuchung wollen wir eine Eigentümlichkeit des Gesichtsfeldes 
schon hier hervorheben. Konzentrisch eingeengt im eigentlichen 
Sinne war nur die linke Hälfte des Gesichtsfeldes bis zur Mittel- 


236 II. Abschnitt, Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


linie, die rechte war vollkommen erloschen. Das Resultat war 
aber kein konstantes; zuweilen hatte nämlich das linke Gesichts- 
feld normale Ausdehnung. Gleichzeitig schien dann auch die 
rechte Hälfte nicht völlig erloschen. Die Gegenstände wurden 
zwar dort nicht erkannt, aber die Patientin, sah, dafs „etwas“ 
in jenem Gebiet war. Bei der Besprechung der Hemianopsien 
werden wir auf diese Beobachtung zurückkommen müssen. 

Wenn die Kranke nicht anzugeben vermag, welche Richtung 
ein ihr vorgelegtes System paralleler Linien besitzt, so dürfte die 
Beeinträchtigung des Überschauens auch beim Zustandekommen 
dieser Erscheinung beteiligt sein. Hormann und BIELScHowsKy ! 
haben gezeigt, dafs das Urteil über die Richtung von Linien in 
erheblichem Mafse von der sonstigen Ausfüllung des Gesichts- 
feldes, also vom Sehen der Umgebung, abhängt. Hierher ge- 
hören wohl auch die Versuche von AUBERT u. a., wonach eine 
Linie in völlig dunkler Umgebung unter Umständen eine ganz 
andere Richtung zu haben scheint, wie im Falle der Sichtbarkeit 
bekannter Objekte. Da die Patientin immer nur einen winzigen 
Ausschnitt des Gesichtsfeldes sieht, so kommen diese aus dem 
Sehen der Umgebung entspringenden Anhaltspunkte in Wegfall, 
und ihr Urteil muls an Sicherheit leiden. 

Restlos vermag indes die hier versuchte Deutung des 
Zennerschen Falles noch nicht zu befriedigen. Ein Normaler, 
der durch eine sehr enge Röhre sieht, würde drei Worte trotz 
noch so engen Gesichtsfeldes endlich einmal zusammenbringen. 
Wahrscheinlich ist hier folgendes mafsgebend. Der Normale 
vermag sich aus dem in einem bestimmten Augenblicke und 
aus dem unmittelbar vorher und nachher Gesehenen ein simul- 
tanes Bild zu konstruieren, welches er innerlich und, wie wir 
sehen werden (IV. Abschn. $ 4), zuweilen sogar vermeintlich 
äufserlich gleichzeitig übersieht. Vielleicht ist nun mit der 
Störung des äulserlichen Überschauens häufig eine ganz analoge 
Störung im Gebiet des innerlichen Überschauens verknüpft, so 
dafs es dem Patienten nicht mehr möglich ist, optische Vor- 
stellungskomplexe gleichzeitig zu überschauen. Wir werden 
aufser dem Zenxerschen Falle noch andere Beispiele kennen 
lernen, die für diese Vermutung sprechen. — Bei den Täuschungen 


! Über die Einstellung der scheinbaren Horizontalen und Vertikalen. 
Pflügers Arch. 126. 


II. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 237 


über die Richtung von Linien endlich wirkt vielleicht auch der 
Umstand mit, dafs sich mit dem Symptom der Seelenlähmung des 
Schauens, wie wir sahen, häufig Lokalisationsstörungen ver- 
binden. Auf einen weiteren Umstand, welcher wahrscheinlich 
mit hineinspielt, werden wir bei der Besprechung des Storc#schen 
Falles hinweisen (S. 239). 


c) StorcaH! hat den Nachweis zu führen versucht, dafs die 
reine Wortblindheit als eine Störung des Wahrnehmungsprozesses 
aufzufassen sei. Der Kranke verfehlt die Bezeichnung nicht 
darum, weil er zu der erlebten richtigen optischen Vorstellung 
das Wort nicht findet, sondern weil er gar nicht die unter 
normalen Bedingungen zu erwartende optische Vorstellung hat. 
Das räumliche Moment der optischen Wahrnehmung ist in 
solchen Fällen mangelhaft. Jede räumliche Gestalt ist nach 
StorcH für den Kranken erheblich vieldeutiger als für den 
Normalen. Daher das „Danebenhauen“ des Kranken bei der Be- 
zeichnung eines Gegenstandes, daher seine Ratlosigkeit bei der 
Betrachtung farbloser Bilder, welche zu den Resultaten bei Be- 
trachtung farbiger deutlich absticht. 

Man wird der Analyse von SrtorcH im wesentlichen zu- 
stimmen können.” Es erhebt sich dann aber immer noch die 
weitere Frage, worin denn die „Mangelhaftigkeit“ der räumlichen 
Wahrnehmung des Kranken besteht; denn mit der Erklärung, 
dafs eine Störung im Gebiete des „stereopsychischen Feldes“ vor- 
liege, wird man sich schwerlich zufrieden geben können. Man 
wird zunächst an zweierlei denken: einmal könnte die Sehschärfe 
so stark herabgesetzt sein, dafs das Erkennen der Objekte da- 
durch unmöglich wird. Das ist aber bei dem Kranken durchaus 


1 Zwei Fälle von reiner Alexie. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurologie 
13, 1903. 

2 Das Verhalten des Kranken läfst sich m. E. nicht immer als ein 
Ausflufs einer Störung des Raumsinns deuten. Bei Vorzeigung eines 
„Schwammes“ sagt der Patient z. B.: „Zum Auslöschen, ein Radiergummi, 
ein Wischer, man macht es nafs und löscht damit aus“; bei „Kreide“: „zum 
Schreiben“. Der Patient nennt also in einzelnen Fällen nicht den Namen 
eines Gegenstandes, welcher ähnlich aussieht, sondern er gibt zuweilen die 
Gebrauchsweise des Gegenstandes richtig an, ohne den Namen desselben 
finden zu können. — Dals sich bei organischen Hirnkrankheiten verschie- 
dene Störungen und Symptome superponieren, wird auch anderwärts beob- 
achtet und ist begreiflich. 


238 Il. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


nicht der Fall. Seine Sehschärfe ist besser als '/,, also weit 
besser als die Sehschärfe zahlreicher Menschen, die keineswegs 
wortblind sind. Zweitens liegt es nahe, anzunehmen, dafs das 
Formenunterscheidungsvermögen des Patienten zur genauen Auf- 
fassung der Dinge nicht hinreicht. Aber gerade die kleinen 
Elementarteile eines vorgeschriebenen Buchstabens gibt er im 
wesentlichen richtig wieder. Gerade bei der richtigen Auffassung 
dieser kleinsten Teile einer Zeichnung wird aber das Formen- 
unterscheidungsvermögen am stärksten in Anspruch genommen. 

Die Störung erstreckt sich m. E. in der Hauptsache auf 
etwas anderes. Die „Seelenläihmung des Schauens“ ist offenbar 
auch hier vorhanden und von wesentlichem Einfluls. Das zeigt 
sich zunächst in dem Verhalten der Patienten bei der Be- 
trachtung vorgelegter Gegenstände. 

„Es macht den Kranken eine sichtliche Mühe, die einzelnen 
„Merkmale sinnlich aufzufassen, die zur Begriffsbildung nötig 
„sind. Sie zeigen das ja auch deutlich durch die anhaltende 
„und immer wieder erneute Betrachtung des Objektes. Haben 
„sie einige Merkmale, so gehört natürlich zu diesen ein bestimmter 
„Begriff, eine gröfsere Zahl von Worten, die durchgeraten werden. 
„Aber während das geschieht, wird ein neues Merkmal entdeckt, 
„ein altes vernachlässigt, das Raten geschieht in anderer Richtung, 
„aber niemals unter Berücksichtigung aller gefundenen Merk- 
„male. So bemerkt vielleicht der Kranke jetzt die beiden Ringe 
„an den Griffen einer Schere. Diese bringen ihn auf „Brille“, 
„was verworfen wird, weil er nunmehr die Schneiden sieht, oder 
„fühlt, dafs die Gläser fehlen. „Zum Schneiden, oder ein Gestell 
„zum Durchsehen“ ist der in passende Worte gekleidete Gedanke.“ 

Auf Grund dieser Schilderung ist die Erschwerung des Zu- 
gleichauffassens der einzelnen Teile des Objektes kaum zu ver- 
kennen. 

Der Unterschied einfacher Mäanderfiguren, den jedes Kind 
angeben könnte, wird niemals richtig erkannt. Nach unserer 
Deutung erklärt sich das einfach dadurch, dafs von der Figur 
immer nur einzelne Strecken gesehen werden; ein sicheres Urteil 
darüber, was in den beiden Figuren gleich, was darin verschieden 
ist, kommt dann nicht zustande. 

Charakteristisch ist ferner die Art, in der der Kranke Buch- 
staben nachzeichnet. „Fordert man ihn auf, den Buchstaben 
„nachzumalen, so tut er das langsam, indem er sorgfältig Zug 


II. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 339 


„um Zug vergleicht, und doch kommen .dabei häufig fehlerhafte 
„Wiedergaben vor.“ 

Dafs der Kranke immer nur einzelne Elementarteile der 
Buchstaben richtig wiedergibt, bei ihrer Zusammensetzung aber 
Fehler macht, das zeigt sich auch an den beigegebenen Schrift- 
proben. Der Kranke zeichnet an dem „r“ und an dem „a“ ganz 
richtig den Auf- und Abstrich am Anfang, weiterhin dann eine 
Schleife, aber der räumliche Zusammenhang dieser Elementar- 
teile wird nicht richtig wiedergegeben. 

Auch das Verhalten der Sehschärfe bei dem Patienten 
ordnet sich unserer Deutung des Symptomenkomplexes bestens 
ein. Wir werden diesen Punkt, um Wiederholungen zu ver- 
meiden, an späterer Stelle besprechen (S. 240). 

Befremdend erscheint nur, dals der Patient einzelne Elemen- 
tarteile der vorgeschriebenen Zeichen nicht in der richtigen 
Orientierung, sondern in der dazu symmetrischen wiedergibt. 
Macu hat darauf hingewiesen, dafs symmetrische Zeichen leicht 
miteinander verwechselt werden. Sie müssen also für den un- 
mittelbaren sinnlichen Eindruck etwas Ähnliches haben; auch 
bei anderer gegenseitiger Orientierung können gleiche Objekte 
den Eindruck mehr oder weniger grofser Ähnlichkeit erwecken. 
Ich glaube nun, dals für die richtige Auffassung der Orientierung 
das Mitsehen der Umgebung — entweder das äufserliche Mit- 
sehen in der Wahrnehmung oder das innerliche in der Vor- 
stellung — von Wichtigkeit ist. Dals das äufserliche Mitsehen 
bei dem Kranken gelitten hat, glauben wir wahrscheinlich ge- 
macht zu haben. Wir hoben ferner schon bei der Besprechung 
des Zennerschen Falles! hervor, dafs auch die Fähigkeit des 
innerlichen Überschauens bei solchen Kranken vermutlich beein- 
trächtigt sein kann (vgl. auch 8S. 247.). 


d) Den Einfluls lokaler Konzentration der Aufmerksamkeit 
in Fällen von Beeinträchtigung der Fähigkeit des Überschauens 
haben wir an verschiedenen Stellen der Untersuchung kennen 
gelernt. Der Hysterische vermag mit einer Netzhautstelle, die 
bei der gewöhnlichen Perimetriermethode unempfindlich er- 


! Auch im Zenserschen Fall dürfte wohl die Unfähigkeit des inner- 
lichen Überschauens an der Unsicherheit in der Beurteilung der Richtung 
von Linien beteiligt sein (vgl. S. IV, 38). 


240 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


scheint, zu sehen, wenn seine Aufmerksamkeit auf die betreffende 
Stelle des Sehraums mit Eindringlichkeit hingelenkt wird. In 
noch weit ausgeprägterem Malse zeigte sich der gleiche Ein- 
fluls der Aufmerksamkeitskonzentration bei Seelenlähmung des 
Schauens auf organischer Basis. Stellen wir uns nun vor, die 
Beeinträchtigung der Fähigkeit des Überschauens nähme einen 
immer höheren Grad an. Man wird dann erwarten, Fällen zu 
begegnen, bei welchen selbst schon innerhalb eines kleinen den 
Fixierpunkt umgebenden Bezirkes nur bei besonderer Kon- 
zentration der Aufmerksamkeit deutlich gesehen wird. Hierher 
gehört offenbar eine von REINHARD an einer Patientin gemachte 
Beobachtung.” „Wenn sie nicht genau fixierte, sah sie alles wie 
'„durch einen leichten grauen Nebel, undeutlich und ver- 
„schwommen.“ Eine andere Patientin des gleichen Autors klagt, 
„es sei ihr oft, als habe sie einen Schleier vor den Augen. Ist 
„ihre Aufmerksamkeit aber erst erregt, so sieht sie besser.“ Der 
Patient von SrtorcH sieht die Dinge „wie verschmiert, wie durch 
„einen Schleier“, obwohl die Prüfung der Sehschärfe, welche 
natürlich mit einer Konzentration der Aufmerksamkeit verbunden 
ist, eine relativ gute Sehschärfe ergibt. Der Seelenblinde 
Lissauers® klagt „sein Auge sei immer wie leicht verschleiert“ ; 
er müsse beim Lesen schon nach wenigen Worten eine Pause 
machen, „weil das scharfe Sehen ihn so sehr anstrengt.“ Trotz- 
dem besitzt der Kranke die Sehschärfe !/,, während die Seh- 
schärfe in dem hohen Lebensalter, in welchem sich der Patient 
befand, normalerweise auf die Hälfte reduziert zu sein pflegt.® 


! Zur Frage der Hirnlokalisation usw. Archiv f. Psychiatrie 17, S. 745. 

® Ein Fall von Seelenblindheit, nebst einem Beitrage zur Theorie der- 
selben. Arch. f. Psychiatrie 21, S. 228. 

® Man könnte auf den Gedanken kommen, den noch immer wenig auf- 
geklärten Symptomenkomplex der Dyslexie mit den hier erwähnten Beob- 
achtungen in Zusammenhang zu bringen. Jenes, bisher nur im Vorstadium 
organischer Hirnkrankheiten beobachtete Symptom besteht bekanntlich 
darin, dafs der Patient immer nur 3—5 Worte zu lesen vermag, sich dann 
mit dem Ausdruck höchsten Widerwillens abwendet und durch kein Zu- 
reden zum Weiterlesen zu bewegen ist (vgl. R. Beruın, Über eine besondere 
Art der Wortblindheit (Dyslexie), Wiesbaden 1887). Man könnte daran denken, 
dafs jene Kranken gleich den oben erwähnten nur bei besonderer Konzen- 
tration der Aufmerksamkeit scharf zu sehen vermögen, und man könnte weiter 
auf unsere Wiederholung des II. Ausertschen Versuches bei instantaner Ex- 
position hinweisen, wobei sich die lokale Konzentration der Aufmerksam- 


II. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 241 


Stellen wir uns nun vor, die Sehstörung sei qualitativ die 
gleiche wie in den Fällen der eben genannten Art, besitze aber 
einen noch höheren Grad. Die Undeutlichkeit der Gegenstände 
sei also, selbst innerhalb des Gebietes des Fixierpunktes, des 
natürlichen Aufmerksamkeitszentrums, noch beträchtlicher als in 
den vorigen Fällen. Kommen Fälle dieser Art vor, so werden 
die betreffenden Kranken den Eindruck erwecken, als ob sie für 
gewöhnlich überhaupt nichts sähen, als ob sie blind seien. Bei 
eindringlicher Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf das Gesehene 
wird aber wenigstens das im Gebiet des natürlichen Aufmerk- 
samkeitszentrums, des Fixierpunktes, Gelegene hinreichend deut- 
lich werden, um überhaupt zur Wahrnehmung zu gelangen. 

Das Krankheitsbild, welches wir soeben im Zusammenhang 
der theoretischen Erwägungen postuliert haben, ist nun verwirk- 
licht in dem Erscheinungskomplex, welchen Pıck! als „apper- 
zeptive Blindheit“ ? beschrieben hat. Auch die in Rede stehende 
Patientin hat eine mit anatomisch nachweisbaren Veränderungen 
des Gehirns verbundene Krankheit; sie leidet gleich der zweiten 
Patientin REInHARDs, welche wir bei der Schilderung der Seh- 
störung geringeren Grades erwähnten, an Dementia senilis. „Wird 
„ihr ein Objekt vorgehalten und sie aufgefordert, dasselbe zu 
„fassen, so fixiert sie dasselbe überhaupt nicht, sondern schaut 
„in irgend einer anderen Richtung, und je mehr man sie 
„stimuliert, um so mehr, und falst dann den Kamm oder die 
„Hand, welche das ihr entgegen gehaltene Objekt, z. B. eine 
„Semmel, trägt, oder das grüne Tuch, welches den Tisch bedeckt, 
„an welchem das Examen abgehalten wird.“ Bei eindringlicher 
Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf die Objekte hingegen sieht 
die Kranke. „Sehr prägnant tritt die Erscheinung hervor, wenn 


keit auf die Netzhautperipherie, infolge deren die Verdeutlichung auftrat 
und das AuUBErT-Forkstersche Phänomen ausblieb, als so anstrengend erwies, 
dals die ganz normale Vp. bereits nach relativ wenigen Expositionen „genug 
zu haben“ erklärte. Gegenüber der angedeuteten, ziemlich naheliegenden 
Deutung der Dyslexie ist jedoch der Einwand zu erheben, dafs einige 
dieser Patienten ausdrücklich erklärt haben, dafs sie nicht etwa „ver- 
schwommen“ sähen; die Dyslexie dürfte daher den hier behandelten Seh- 
störungen nicht einzureihen sein. 

1 Über eine eigentümliche Sehstörung senil Dementer. In der Festschr. 
f. R. Frh. v. Krarrt-Esısg, 1902, 8. 35. 

? Nach Analogie dieser Bezeichnung könnte man das vorher beschriebene 
Symptom mit dem Namen „apperzeptive Amblyopie“ belegen. 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 16 


242 II. Abschnitt. Besiätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


„ihr ein brennendes Kerzchen vorgehalten wird; gelegentlich er- 
„greift sie es und erkennt es, in anderen Fällen kann es ihr bis 
„ganz nahe an die Augen herangeführt werden, sie sieht es 
„sichtlich nicht, blinzelt dementsprechend auch nicht, und erst, 
„bis es der Nase so genähert wird, dafs die Wärmewirkung auf 
„diese letztere sich intensiv fühlbar machen muls, wird ihre 
„Aufmerksamkeit für das Kerzchen wiederum wachgerufen; das 
„gleiche gelingt gelegentlich auch auf dem Wege des Geruch- 
„sinns, z. B. beim Examen mit einer Zwiebel oder mit einer 
„entzwei geschnittenen Zitrone.“ ... „Das Prägnante der Er- 
„scheinung tritt namentlich dann hervor, wenn die Kranke das 
„ihr vorgehaltene Objekt anscheinend nicht gesehen, und auch 
„keiner der eben geschilderten Versuche zum erhofften Ziele ge- 
„führt hat, und sie nun ganz spontan, plötzlich das Objekt er- 
„blickt, falst und zuweilen auch richtig oder mittels Umschreibung 
„bezeichnet.“ 

Die hier versuchte Einordnung des Symptoms würde der 
Grundlagen entbehren, wenn bei der Kranken eine so hoch- 
gradige generelle Unaufmerksamkeit oder Demenz vorläge, dafs 
die Auffassung des Symptomenkomplexes als eine spezifische 
Störung der Gesichtswahrnehmungen Bedenken erwecken könnte. 
Dieses Bedenken besteht aber nach den Ausführungen von Pıck 
nicht. „Dafs auch der Grad der Demenz kein derartiger war, 
„dafs dadurch das Resultat der Prüfung wesentlich beeinträchtigt 
„worden wäre, es sich nicht um die „generelle Unaufmerksam- 
„keit einer dementen apathischen Greisin“ handelt, geht wohl 
„aus der ganzen Darstellung hervor. Wir müssen also annehmen, 
„dafs der hier speziell hervorgehobenen Erscheinung eine 
„partielle Stumpfheit, eine partielle Unaufmerksamkeit zu- 
„grunde liegt.“ Sogar Krankheitseinsicht ist bei der Patientin 
vorhanden. Pıck verweist dann auch auf gelegentliche Be- 
obachtungen anderer Autoren; ein Kranker von REınHARD (]. c.), 
welcher Herde in beiden Hinterhauptlappen hatte, zeigte ähn- 
liche Störungen, ebenso ein Patient von FrEuNxD!, der an Seelen- 
blindheit litt. 

Schon LissavEr sagte in seiner ungemein gründlichen Arbeit 
über die Seelenblindheit von derartigen Kranken: „Diese 
„Kranken verkennen die Aufsenwelt, sie haben sicher Gesichtsein- 


! Arch. f. Psychiatrie 20, S. 374. 


II. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 243 


„drücke, wie viel und wie scharf sie aber wahrnehmen, entzieht sich 
„gänzlich der exakten Prüfung, man hat zugleich den Eindruck 
„einer erschwerten Apperzeption dadurch, dafs es eine ganz 
„auffallende Mühe kostet, die Aufmerksamkeit dieser Kranken 
„auf optische Sinneseindrücke zu lenken und daran zu fesseln, 
„Ob aber diese Erschwerung der Apperzeption die Verkennung 
„der Aulsenwelt selbständig bedingt, oder ob sie nur eine 
„Komponente der gleichzeitig vorhandenen Seelenblindheit be- 
„deutet, wage ich nicht zu entscheiden. Zustände dieser Art 
„habe ich nach ausgedehnten Erweichungen und auch para- 
„Iytischen Anfällen beobachtet.“ Wenn wir bedenken, dafs 
Seelenblindheit fast stets von Hemianopsie begleitet ist, und dafs 
die Hemianopsie, wie wir weiterhin darlegen werden (§ 2e), 
wahrscheinlich nur einen besonders hohen Grad einseitiger Seelen- 
lähmung des Schauens darstellt, so werden wir kaum daran 
zweifeln, dafs bei Seelenblindheit auch zuzeiten jene gesteigerte 
Seelenlähmung des Schauens, nämlich die apperzeptive Blindheit, 
auftritt. Der Grad der Sehstörung pflegt ja bei diesen Kranken 
sehr starken Schwankungen zu unterliegen, wie aus den Dar- 
stellungen von FREUND, REINHARD u. a. hervorgeht. Übrigens 
verhält sich der Lissauersche Kranke gegenüber Arabesken ganz 
ähnlich wie derjenige von StorcH; die eigentliche „Seelenblind- 
heit“ kann hierfür wohl kaum verantwortlich gemacht werden. 
Ferner ist darauf hinzuweisen, dafs wir schon bei der Schilderung 
der apperzeptiven Amblyopie, die wir gleichfalls mit der Seelen- 
lähmung des Schauens zusammenbringen mulsten, den LissAvEr- 
schen Kranken zu erwähnen genötigt waren. 

Der enge Zusammenhang zwischen Seelenläihmung des 
Schauens und apperzeptiver Blindheit zeigt sich auch in der 
Flüssigkeit des Überganges. Man könnte z. B. zweifeln, welchem 
der beiden Krankheitsbilder der früher besprochene Zexxersche 
Fall mit gröfserem Rechte einzuordnen ist. 


e) Wir haben gesehen, dafs die k. G. E. bei funktionellen 
Nervenleiden, deren Wesen nach Obigem in einer Beeinträchtigung 
der Fähigkeit des Überschauens besteht, nicht als eine Erkran- 
kung des höheren Seelenlebens, sondern als ein Zustand der 
„Hypofunktion“ im Gebiete der Sinneswahrnehmung aufzufassen 
ist. Wir haben ferner gesehen, dafs eine qualitativ gleichartige 


Störung höheren Grades auch in einer grolsen Zahl organisch 
16* 


244 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


bedingter Fälle vorkommt. Erweist sich nun aber in so ver- 
schiedenen Krankheitsbildern immer wieder die Beeinträchtigung 
des Überschauens als Wurzel der Sehstörung, so liegt die Ver- 
mutung nahe, dafs jenes Symptom gewissermalsen die „Störung 
des zentralen Sehakts »ar’ 25oyrv“ darstellt, dafs eine Beein- 
trächtigung der zentralen Sehsubstanz, sei es auf dem Wege 
funktioneller Schwächung oder organischer Erkrankung, ganz 
allgemein die Beeinträchtigung der Fähigkeit des Überschauens 
zur Folge hat. 


Diese Vermutung findet zunächst eine gewisse Stütze in der 
jetzt von verschiedenen Autoren nachgewiesenen Tatsache, dafs 
die k.G.E. zwar vorwiegend, aber nicht ausschliefslich bei der 
Hysterie, vielmehr gelegentlich auch bei anderen Neurosen, z.B. 
bei der Epilepsie, vorkommt. Cramer! hat hervorgehoben, dals 
das Symptom auch bei einer körperlichen Allgemeinerkrankung, 
der Arteriosklerose, zu beobachten ist. Ist unsere Vermutung 
richtig, so wird man vielleicht auch das Wesen der häufigsten 
Erkrankung der Sehsubstanz, der ein- oder doppelseitigen 
Hemianopsie, etwas anders als herkömmlich aufzufassen haben, 

H. Sıcas hat in einer Vortragsdiskussion eine Bemerkung 
über das Wesen der Hemianopsie gemacht ?, auf welche v. Moxakow 
neuerdings in zustimmendem Sinne hinwies®, da sie seiner An- 
sicht nach mit den Ergebnissen der Hirnanatomie in Einklang 
steht.*t Sachs machte auf die auffällige Tatsache aufmerksam, 
dafs in allen beobachteten Fällen trotz verschiedener Lokalisation 
der Herde stets die Gegend um den Fixierpunkt erhalten sei; 
das weise darauf hin, „dals das optisch-sensorische Feld .. . als 
„Ganzes funktioniere und auf jede wie immer beschaffene 
„Schädigung in Form der mehr oder minder grolsen kon- 
„zentrischen Einengung antworte. Dadurch würden auch Be- 
„ziehungen zu den rein funktionellen Einengungen bei der 
„Hysterie usw. angebahnt.“ Anderenfalls mülste doch auch ein- 


! Die Nervosität. Jena 1902. S. 139. 

2 Neurol. Zentralbl. 1896. S. 998. 

® Erg. d. Physiol. Jahrg. 1. Abt. 2. 1902. S. 658. 

* Es mag ausdrücklich hervorgehoben werden, dafs unsere Ausführungen 
über „Hemianopsie im allgemeinen Falle“ hinfällig würden, falls es der 
v. Moxakowschen Lehre von dem Fehlen einer strengen Retinaprojektion 
nicht gelingen sollte, sich dauernd zu behaupten. Des hypothetischen 
Charakters der Ausführungen von $ 2e sind wir uns bewulst. 


II. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 245 


mal ein derartiger' Fall von Läsion der Hinterhauptlappen be- 
obachtet werden, bei dem ein exzentrischer Teil des Gesichts- 
feldes erhalten sei. In der Tat sind alle Versuche nachzuweisen, 
dafs die Makula an einer vor Zerstörung besonders geschützten 
Stelle der Sehsphäre repräsentiert sei, bisher fehlgeschlagen. 
Wir würden dieser Vermutung von SacHs auf Grund unserer 
früheren Analysen, insbesondere auch auf Grund der gewonnenen 
Einsicht in das Wesen der funktionellen Einengungen, jetzt 
folgende nähere Gestalt zu geben haben. Das optisch-sensorische 
Feld funktioniert als Ganzes. Die Makula verdankt ihre be- 
sonders grolse Integrität nicht einer Repräsentation an einer be- 
sonders geschützten Stelle, sondern einem anderen Umstand. 
Die Makula ist normalerweise der Ort der maximalen Aufmerk- 
samkeitskonzentration; auf je exzentrischeren Regionen der Netz- 
haut ein Gegenstand sich abbildet, um so weniger wird er von 
der Aufmerksamkeit? erfalst; denn die Verlagerung des Auf- 
merksamkeitszentrums nach einem seitlichen Orte gelingt, wie 
wir ausführten, niemals ganz, weil eben der Fixierpunkt das 
natürliche Zentrum der Aufmerksamkeit, den Ort der maximalen 
Aufmerksamkeitskonzentration darstellt. Erkrankt die zentrale 
Sehsubstanz jenseits der subkortikalen Regionen, so wird nur 
noch das gesehen, was am Orte der maximalen Aufmerksam- 
keit?, nämlich an der der Makula entsprechenden Stelle des Seh- 
raums, erscheint. Die Seelenlähmung des Schauens erreicht dann 
gewissermalsen einen sehr hohen Grad. Sitzt der Herd nur in 
einer Hemisphäre, so ist natürlich auch die Sehstörung halb- 
seitig. Die gewöhnliche Hemianopsie ohne Herabsetzung der 
zentralen Sehschärfe — übrigens der seltenere Fall — hat, wenn 
man die unserer Ansicht nach qualitativ gleichartigen Seh- 


1 sc. einwandfreier. Hierzu würde nach v. Moxakow vor allem auch 
gehören, dafs der Sektionsbefund vorlüge und eindeutig sei. 

? Auch an dieser Stelle möchten wir daran erinnern, dafs unser Gedanken- 
gang an keine bestimmte Aufmerksamkeitstheorie gebunden ist, ja dafs er 
dahingestellt sein läfst, ob Aufmerksamkeit als besondere, von den Emp- 
findungen verschiedene Funktion existiert. Wir haben hier mit der Schwierig- 
keit zu kämpfen, dafs in Worten wie „Aufmerksamkeit“ immer schon ge- 
wisse populäre psychologische Theorien niedergelegt sind, die ihren Inhalt 
dem Leser leicht suggerieren. 

® Warum dann nur das dort Befindliche gesehen wird, dafür bestehen 
wieder unsere mehrfach erwähnten drei Erklärungsmöglichkeiten, zwischen 
denen wir nicht zu entscheiden vermochten. 


246 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


störungen nach ihrer Schwere in eine Reihe ordnet, unter sich 
die Seelenlähmung des Schauens und die funktionelle Gesichts- 
feldeinengung, über sich die apperzeptive Amblyopie und die 
apperzeptive Blindheit. Ist die Erkrankung weniger eingreifend, 
so verliert die Netzhautperipherie ihre Empfindlichkeit nicht 
absolut, und der Ausfall richtet sich nach den Gesetzmälsigkeiten 
der durch die Organisation unseres Sehorgans in seiner Gesamt- 
heit — das zentrale mitgerechnet — im wesentlichen festgelegten 
und durch Willkür nur relativ wenig zu modifizierenden Auf- 
merksamkeitsverteilung in der Netzhaut. Die peripher gelegenen 
Netzhautstellen hören nicht darum schon bei leichteren Affektionen 
zu funktionieren auf, weil sie an wenig geschützten Stellen des 
Zentralorgans repräsentiert sind, sondern weil ihnen die Auf- 
merksamkeit nur wenig zugewandt werden kann. Man braucht 
sich aber — um nochmals mit Schärfe auf die drei Erklärungs- 
möglichkeiten hinzuweisen — keineswegs durchaus vorzustellen, 
dafs die optische Aufmerksamkeit bei den Kranken geschwächt 
ist; vielmehr könnte auch eine gleichmälsige Herabsetzung aller 
Lichtempfindungen — der makularen sowohl wie der von der 
Peripherie herrührenden — vorliegen; und dafs die makularen 
Empfindungen noch über die Schwelle treten, die peripheren 
nicht, das könnte seinen Grund darin haben, dafs sich die Auf- 
merksamkeit — ihr Wesen, ja ihre besondere Existenz wieder 
dahingestellt — darauf beschränken muls, die makularen Empfin- 
dungen über die Schwelle zu heben, während sie die peripheren 
nicht mehr zu „überschauen“ vermag. 

Unsere Vermutung über das Wesen der Hemianopsie findet 
in der Tat noch weitere Stützen. 

In einem der Fülle von „doppelseitiger homonymer 
Hemianopsie“, im Garrroxsschen, gelang der Nachweis, wie wir 
glauben, tatsächlich, dafs die daselbst vorliegende Störung in 
dem angegebenen Verhältnis zur Funktion der Aufmerksamkeit 
steht. Ferner besteht in den Fällen von Storch und ZENNER 
in der einen Gesichtshälfte Amaurose, in der anderen unverkenn- 
bare „Seelenlähmung des Schauens“. Schon auf Grund hiervon 
wird man vermuten, dafs die Amaurose der einen Gesichtsfeld- 
hälfte der in der anderen Gesichtsfeldhälfte beobachteten Störung 
qualitativ gleichartig ist und nur einen höheren Grad derselben 
darstellt. Diese Vermutung von der qualitativen Gleichheit und 
der nur graduellen Verschiedenheit der in jedem der beiden 


II. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 247 


Oceipitallappen vorhandenen Störung wird im Zenxerschen Fall 
auch noch dadurch bestätigt, dals zu Zeiten besseren Sehens mit 
der erhaltenen Gesichtsfeldhälfte auch die andere Gesichtsfeld- 
hälfte einen geringen Grad von Sehvermögen zeigt. 

Trifft unsere Vermutung vom Wesen der Hemianopsie zu, 
so ist zu erwarten, dals die geschädigte Gesichtsfeldhälfte auch 
aulserhalb des „überschüssigen Gesichtsfeldes“ nicht in allen 
Fällen absolut amaurotisch sein wird. In der Tat sind nun die 
Fälle, in denen die zunächst amaurotisch erscheinende Gesichts- 
feldhälfte beim Perimetrieren mit grolsen oder besonders ein- 
dringlichen Objekten (Kerze), sowie bei Bewegung des Testob- 
jektes, einen geringen Grad von Sehvermögen zeigt, aufser- 
ordentlich zahlreich. Das gilt in gleicher Weise von den Fällen 
psychiatrischer, wie von denen ophthalmologischer Provenienz. 

Der enge Zusammenhang zwischen Hemianopsie und Seelen- 
lähmung des Schauens verrät sich auch in der Tatsache, dals 
sämtliche Fälle von apperzeptiver Amblyopie, die wir aufzu- 
finden vermochten (vgl. S. 240), gleichzeitig auch das Symptom 
der homonymen Hemianopsie darbieten; dieser Zusammenhang 
der Hemianopsie mit der apperzeptiven Amblyopie ist gleich- 
zeitig als ein solcher mit der Seelenläihmung des Schauens auf- 
zufassen, weil wir die apperzeptive Amblyopie als eine mit der 
Seelenläihmung des Schauens qualitativ gleichartige und nur 
einen höheren Grad derselben darstellende Störung ansehen zu 
müssen glaubten. 

In gleichem Sinne spricht der schon berührte Zusammen- 
hang zwischen der Hemianopsie und der Seelenblindheit. Denn 
im Bilde der Seelenblindheit spielt nach obigen Ausführungen 
die apperzeptive Blindheit wahrscheinlich eine nicht unbeträcht- 
liche Rolle, und dieses letztere Symptom wiederum sahen wir 
uns genötigt, als eine Steigerung der Seelenlähmung des Schauens 
aufzufassen. 

Wir wurden zu der Annahme gedrängt, dafs in einzelnen 
Fällen von Seelenlähmung des Schauens zugleich auch die Fähig- 
keit des gleichzeitigen Überschauens optischer Vorstellungs- 
komplexe beeinträchtigt ist. Der Parallelismus zwischen der 
Seelenlähmung des Schauens und der gewöhnlichen Hemianopsie 
verrät sich auch darin, dafs die Fähigkeit, optische Vorstellungs- 
komplexe simultan zu überschauen, auch bei der gewöhnlichen 
Hemianopsie häufig geschädigt erscheint. Denn die Orientierungs- 


248 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


störungen, welche in derartigen Fällen nicht selten beobachtet 
wurden, dürften keineswegs immer in dem Verlust der be- 
treffenden Erinnerungsbilder begründet sein, sondern, zuweilen 
wenigstens, in dem Verlust, bzw. in der Beeinträchtigung der 
Fähigkeit, optische Vorstellungskomplexe gleichzeitig zu über- 
schauen. ! Der eine der beiden Patienten von PETERS ?, welcher 
neben einer typischen linksseitigen Hemianopsie ausgeprägte 
Orientierungsstörungen darbietet, äufsert in sehr charakteristischer 
Weise, „er kenne wohl ein Haus, einen Baum, Gegenstände usw., 
„aber er sei nicht imstande, sich die gesehenen Gegenstände 
„richtig zu einem Gesamtbilde zu gruppieren.“ Auch sonst läfst 
sich keine Störung des Gedächtnisses bei ihm nachweisen. Der 
erste Patient desselben Autors, welcher auch eine typische links- 
seitige Hemianopsie zeigt, bietet daneben gleichfalls schwere 
Orientierungsstörungen dar. „Die topographischen Vorstellungen 
„in bezug auf Dinge, die ihm früher geläufig sein mulsten, waren 
„nicht intakt.“ In den psychologischen Mechanismus der Orien- 
tierungsstörung gewährt das Verhalten des Patienten beim Lesen 
einen Einblick. Der Patient buchstabiert ganz richtig, aber er 
ist durchaus aufserstande, selbst ganz kurze einsilbige, geschweige 
denn längere Worte zu lesen. „Patient gibt dabei an, er könne 
„die Buchstaben wohl sehen, aber nicht zusammenbringen.“ In 
beiden Fällen von PErErs fehlen andere Erscheinungen von 
seiten des Gehirns, insbesondere auch weitere psychische Stö- 
rungen, vollkommen. 

Dafs die Fähigkeit, optische Vorstellungskomplexe gleichzeitig 
zu überschauen, vonnöten ist, wenn z. B. der Prrerssche Kranke 
Wege beschreiben soll, das braucht kaum hervorgehoben zu 
werden. Derartige Komplexe optischer Vorstellungsbilder werden 
im allgemeinen auch für die Lösung der praktischen Aufgabe, ` 
sich in einer Stadt oder in einer Wohnung zurecht zu finden, 
erforderlich sein. Allerdings mufs die Möglichkeit offen gelassen 
werden, dafs es Menschen von stark akustisch-motorischem Typus 
gibt, die sich selbst bei der Lösung solcher Aufgaben ausschliels- 
lich der akustisch-motorischen Vorstellungselemente bedienen. 


! Über die Beziehungen zwischen Orientierungsstörungen und ein- und 
doppelseitiger Hemianopsie. Arch. f. Augenheilk. 32, S. 186. 

® Möglicherweise gehören hierher auch einige der Fälle von ANTON 
und von Hartmann, über welche letzterer in der erwähnten Monographie 
zusammenfassend berichtet. 


Il. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 249 


Aus dieser Einschränkung erwächst unserer Auffassung aber 
keine Schwierigkeit. Werden solche Menschen von der in Rede 
stehenden, die visuellen Vorstellungen betreffenden Erkrankung 
ergriffen, so werden sie eben das Bild einer gewöhnlichen Hemi- 
anopsie ! ohne ÖOrientierungsstörungen darbieten. 

In Übereinstimmung mit der von Sıchs ausgesprochenen 
Vermutung eines engen Zusammenhangs zwischen der Hemi- 
anopsie und der k. G. E. bei funktionellen Nervenleiden steht 
ferner auch die Tatsache, dafs zuweilen — wenngleich sehr 
selten — bei Hysterie Hemianopsien zur Beobachtung kamen. 

Es mufs also auch auf Grund der psychologischen und 
psychopathologischen Analyse als eine in hohem Grade wahr- 
scheinliche Hypothese * bezeichnet werden, dafs die zentrale Seh- 
substanz als Ganzes funktioniert, und dals bei Affektionen irgend- 
welcher Art, seien sie funktioneller oder organischer Natur, eine 
Schwächung in dem Sinne erfolgt, dafs entweder nur noch das 
im „natürlichen Aufmerksamkeitszentrum“ Befindliche gesehen 
wird, oder dafs die Deutlichkeit der seitlichen Gesichtsfeldteile — 
bei geringeren Störungen — nach Malsgabe der Unüberschau- 
barkeit dieser Gesichtsfeldpartien leidet. Die Leistungshöhe, die 
physiologische Tüchtigkeit der zentralen Sehsubstanz äulsert sich 
nach der hier dargelegten Vermutung in der Gröfse des Bezirkes, 
welcher simultan deutlich gesehen werden kann, wobei wir, um 
es nochmals zu betonen, gar keine Hypothese darüber machen, 
ob die Unüberschaubarkeit der seitlichen Gesichtseindrücke, und 
damit ihr Wegfallen, einer Schwäche der optischen Aufmerksam- 
keit entspringt, oder ob die Erscheinung daher rührt, dafs alle 
Empfindungen undeutlich werden, dafs die Aufmerksamkeit schon 
stark konzentriert werden muls, um wenigstens die makularen 
Eindrücke über die Schwelle zu heben, und dafs dasselbe mit 
den peripheren, aufserhalb des Aufmerksamkeitszentrums 
gelegenen und relativ unüberschaubaren, nicht mehr gelingt. 
Da nach der hier vertretenen Ansicht stets das im natürlichen 
Aufmerksamkeitszentrum Befindliche gesehen wird, solange über- 


! Hemianopsie scheint, wie aus den Arbeiten über Seelenblindheit, 
Wortblindheit usw. hervorgeht, bei den die visuellen Vorstellungen be- 
treffenden Erkrankungen fast nie zu fehlen. 

® Dafs die anatomischen und klinisch-anatomischen Methoden zu ganz 
ähnlichen Ergebnissen führen, werden wir im III. Abschnitt, in welchem 
wir hauptsächlich der Autorität von Moxakows folgen werden, sehen. 


250 II. Abschnitt. Bestätigung der im 1. Abschnitt gegebenen usw. 


haupt noch etwas gesehen wird, so läfst sich obige These auch 
dahin aussprechen, der Malsstab für die Leistungshöhe der zen- 
tralen Sehsubstanz sei die Grölse der seitlich vom Fixierpunkt 
befindlichen Gesichtsfeldpartie, welche aulser dem Fixierpunkt 
selbst noch deutlich, bzw. noch überhaupt gesehen wird. Die 
normale physiologische Leistungshöhe kann durch Erkrankung 
herabgesetzt werden. Andererseits sehen wir nun aber allent- 
halben, wo immer ein Organ als Ganzes funktioniert, d. h. in 
seinen Teilen in im wesentlichen gleichartiger Weise arbeitet, 
dals dieses Organ gegenüber der physiologischen Leistungshöhe 
nicht allein wegen Erkrankung, sondern auch wegen erheblichen 
Mangels an Übung zurückbleiben kann. Ist das oben angegebene 
Kriterium wirklich das Kriterium für die physiologische Leistungs- 
höhe der Sehsubstanz, so wird man erwarten, dals sich in Fällen 
exzessiven Übungsmangels der zentralen Sehsubstanz ganz ähn- 
liche Erscheinungen darbieten werden, wie in den Fällen von 
Erkrankung. Schon BıELschowskyY hat darauf hingewiesen, dals 
sich UHtHorrs! operierter Blindgeborener ganz ähnlich verhielt 
wie sein eigener Patient. Obwohl bei jenem Knaben das Ge- 
sichtsfeld normal ist, macht er doch durchaus den Eindruck, 
„als wenn sein Gesichtsfeld hochgradig konzentrisch eingeengt 
„wäre“. Er muls erst mit dem Fixierpunkt auf ein Objekt treffen, 
um es wahrzunehmen. Bei der Aufforderung, derartige Objekte 
zu ergreifen, tastet er ratlos umher. Der Einfluls der Aufmerk- 
samkeit zeigt sich insofern, als das Resultat der Prüfung bei 
voraufgegangener energischer Mahnung zum Aufpassen ein viel 
besseres ist. Ein bewegtes Objekt wird leichter gesehen als ein 
ruhiges. 

Eine weitere Bestätigung für die hier vertretene Ansicht von 
der Funktionsweise der zentralen Sehsubstanz dürfen wir darin 
erblicken, dafs sich auch das operierte Tier ganz ähnlich verhält, 
wie der Mensch mit einer Affektion der zentralen Sehsubstanz 
und wie der von Uurnorr operierte Blindgeborene. Lors fafst 
das Ergebnis seiner dahin gehenden Untersuchungen ? in folgen- 


! Beiträge zur Psychol. und Physiol. der Sinnesorgane. Festschrift f. 
HELMHOLTZ, S. 146 ff. 

® Beiträge zur Physiol. des Grofshirns. Pflügers Arch. 39. Das Er- 
gebnis dieser Untersuchungen stimmt im wesentlichen mit den Befunden 
von BERNHEIMER und Hırzıc überein (vgl. auch v. Moxakow, Erg. d. Physiol. 
Jahrg. 1, Abt. 2, 1902, S. 655). Hinzuzufügen ist nur (vgl. Hırzıs, Arch. f. 


Il. Kapitel. Nachweis der Beziehungen zwischen dem usw. 251 


den Sätzen! zusammen. „Entfernt man einem Hunde ein Stück 
„der linken Sehsphäre, so tritt Hemiamblyopie für seine rechte 
„Gesichtshälfte ein. Stellt man sich vor einen solchen Hund 
„und hält man ihm symmetrisch rechts und links gleichzeitig 
„zwei Fleischstücke vor, so wählt der Hund ausnahmslos das 
„linke. Das sieht fast so aus, als ob er das rechte nicht sähe. 
„Nun ist es bekannt, dals ein bewegter Gegenstand als ein 
„stärkerer optischer Reiz wirkt als ein ruhender. Hält man jetzt 
„dem Hunde wieder die zwei Fleischstücke in der angegebenen 
„Weise vor, nur mit dem Unterschied, dafs man das in der 
„rechten Gesichtsfeldhälfte gelegene leicht bewegt, so springt der 
„Hund nach dem letzteren. Das beweist, dafs bei dem Hund 
„eine Erhöhung der Reizschwelle für optische Reize auf der 
„rechten Gesichtshälfte besteht. Der Hund benimmt sich, nach 
„Koränyıs Ausdruck, als ob seine Aufmerksamkeit nach rechts 
„verringert wäre.“ — 


Falls die Beziehungen zwischen den Sehstörungen bei orga- 
nischen Erkrankungen zu denen bei funktionellen Nervenleiden 
beobachtend und experimentell genauer verfolgt werden sollten, 
so könnten sich natürlich — das sei vorweg bemerkt — gewisse 
Verschiedenheiten zwischen den Sehstörungen auf organischer 
Grundlage und den funktionellen Einengungen herausstellen, 
ohne dafs dadurch die Sacussche Annahme von einer Wesens- 
verwandtschaft bzw. Wesensgleichheit der organischen und der 
funktionellen Sehstörungen als widerlegt zu gelten brauchte. 
Insbesondere ist zu bedenken, dafs bei einigermalsen ausgedehnten 
Grofshirndefekten — geringe können nach der dargestellten An- 
sicht unter Umständen symptomenlos verlaufen — infolge sekun- 
därer Degeneration auch die subkortikalen Zentren ergriffen 
werden; nun ist aber das tatsächliche Bestehen einer Projektion 
der Netzhaut auf die letzteren Zentren wahrscheinlich. 





Psychiatr. 34, S. 27), dafs nicht jederseits eine Hälfte des Gesichtsfeldes 
vernachlässigt wird, sondern dafs auf dem gekreuzten Auge mehr, auf dem 
gleichseitigen weniger als die Hälfte ausgeschaltet ist. Ferner ist der Ver- 
such, welcher angeblich beweist, dafs das bewegte Objekt einen stärkeren 
Reiz darstellt, nach Hırzıc nicht ganz rein, sondern es wirke hier ein beson- 
derer, durch die Versuchsbedingungen gesetzter Abrichtungserfolg mit (vgl. 
Hırzıa 1. c. 8. 37). 


! Einl. in die vergleich. Gehirnphysiol. S. 170£. 


252 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


III. Kapitel. 


Bedeutung der Analyse des vorigen Kapitels für die Lehre 
von den funktionellen Sehstörungen; Analyse der 
hysterischen Blindheit. 


s1. 


Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, dafs bei einer ganzen 
Reihe von organischen Hirnkrankheiten das der konzentrischen 
Gesichtsfeldeinengung qualitativ gleichartige Symptom der Seelen- 
lähmung des Schauens vorkommt, dafs ferner die Funktion der 
Aufmerksamkeit in derartigen Fällen, sobald der Sehakt nicht 
in Frage kommt, ganz intakt sein kann, und dafs jene Seh- 
störungen keineswegs als Folgeerscheinungen eines „Zerfalls der 
Persönlichkeit“, einer „Schwäche des Ich-Bewulstseins“, oder 
einer sonstigen das sog. höhere Seelenleben betreffenden Verän- 
derung anzusehen sind. Wir sahen uns vielmehr zu der An- 
nahme gedrängt, dafs die zentrale Sehsubstanz einheitlich funk- 
tioniert und auf eine wie immer beschaffene Schädigung mit 
einer Beeinträchtigung der Funktion des Überschauens ant- 
wortet. Die Betrachtungen des vorigen Kapitels haben somit 
von neuem das Zutreffende der Lehre bestätigt, nach welcher 
die Hysterie als eine allgemeine Neurose, nicht als eine Geistes- 
krankheit im engeren Sinne, und die hysterische Anästhesie 
einfach als ein Zustand der Hypofunktion von Sinneszentren 
aufzufassen ist. ! 

Die eigentümlichen Eigenschaften der konzentrischen Gesichts- 
feldeinengung vermögen nicht mehr zu überraschen und den 
Eindruck des beinahe Mystischen hervorzurufen, wenn man sich 
eine den Tatsachen gerecht werdende Vorstellung vom Wesen 
der organisch bedingten Sehstörungen — oder, falls unsere all- 


1 Auch für die Praxis ist die Auffassung vom Wesen der Hysterie 
nicht gleichgültig. Es ist kein Zufall, dafs überall dort, wo die „rein psy- 
chologische“ Auffassung vom Wesen dieser Krankheit vorherrscht, auch in 
der Therapie der Schwerpunkt auf rein psychologische Verfahrungsweisen 
gelegt zu werden pflegt, während BisswAaxger in roborierender Allgemein- 
behandlung auf eine Kräftigung des Gesamtorganismus hinstrebt und sich 
zu dem Zwecke besonders den allseitigen Ausbau des Weır-MitcHerıschen 
kombinierten Heilverfahrens angelegen sein liefs. 


III. Kapitel. Bedeutung der Analyse des vorigen Kapitels usw. 953 


gemeinen Ansichten nicht standhalten sollten, wenigstens von 
einigen derselben — bildet. Rückt schon hiermit die k. G.E. 
aus dem Halbdunkel, in welchem sich mehr oder weniger mys- 
tische Vorstellungsweisen ausbreiten konnten, in ein helleres Licht, 
so wird sie gewissermalsen in noch bessere Gesellschaft kommen, 
wenn wir sehen werden, dafs die gleichen Prinzipien, welche für 
die Erklärung der k. G.E. mafsgebend waren, auch bei der 
Deutung einer anderen Gruppe von Sehstörungen, welche gar 
nicht durch eine Erkrankung des Nervensystems verursacht sind, 
herangezogen werden müssen, nämlich bei der Deutung der Er- 
scheinungen, welche bei den Schielenden zu beobachten sind. 

Die Ausführungen des vorigen Kapitels liefern aber nicht 
allein eine neue Bestätigung für die früher gegebene Analyse 
der hysterischen Augensymptome, sondern sie enthalten gleich- 
zeitig eine Nötigung, jene Analyse noch um einen Schritt weiter 
zu führen. 

Am Schlusse seiner Arbeit über die apperzeptive Blindheit 
macht nämlich Pıck folgende Bemerkung. „Man kann sich m. E. 
„dem nicht verschliefsen, dafs die zuvor von unserer senilen 
„Patientin beschriebenen Erscheinungen durchaus mit solchen 
„übereinstimmen, wie man sie an Hysterischen sowohl und in 
„ganz ausgesprochenem Mafse an Hypnotisierten 1, zur Beobach- 
„tung bekommt, hervorgerufen entweder durch Suggestion oder 
„durch Autosuggestion, und es scheint mir überflüssig, das erst 
„durch Vorführung von solchen Beobachtungen zu erweisen. 
»- -- Bemerkenswert ist es, dafs Lasèeve schon in den 60er 
„Jahren bei Gelegenheit der Erörterung der Sensibilitätsstörungen 
„der Hysterischen ... den Geisteszustand der Hysterischen mit 
„demjenigen der Paralytiker in Beziehung bringt. .... Als ich 
„zuerst die Erscheinungen unserer Kranken beobachtete, konnte 
„ich mich der Äufserung gegenüber den Ärzten der Klinik nicht 
„entschlagen, dafs dieselben nicht blofs denjenigen, bei Hyste- 
„rischen zu beobachtenden, durchaus ähnlich sind, sondern auch 
„den Verdacht der Simulation bei weniger Geübten erwecken 








! Neuerdings gelangte Aururz bei seinen Versuchen über die durch 
Hypnose erzeugten Anästhesien zu einem Ergebnis, welches der von Brys- 
WANGER vertretenen Lehre von der hysterischen Anästhesie ganz analog ist: 
„Wir haben es mit Veränderungen in der Dynamik der sensitiven (Sinnes-) 
„Zentren selbst zu tun.“ (Bericht über d. III. Kongr. d. Ges. f. exp. Psych. 
Herausg. v. Schumann. Leipzig 1909.) 


254 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


„könnten; gerade darin aber, dafs die vorliegende Beobachtung 
„einen solchen Verdacht ad absurdum führt, möchte ich auch 
„einen Teil ihres Wertes sehen.“ 

Pıck stellt somit die hysterische Blindheit auf eine Stufe mit 
der apperzeptiven Blindheit auf organischer Basis. Ganz der 
gleiche Gedanke wird durch den bisherigen Verlauf der vor- 
liegenden Untersuchung nahe gelegt. Wir sahen uns genötigt, 
die apperzeptive Blindheit lediglich als einen besonders hohen 
Grad der Seelenlähmung des Schauens aufzufassen; da wir aber 
andererseits Seelenlähmung des Schauens auf organischer und 
k.G.E. auf funktioneller Basis als qualitativ gleichartige Sym- 
ptome anzusprechen genötigt waren, so ergibt sich die Vermutung, 
dafs auch die Blindheit der Hysterischen lediglich eine Steigerung 
des Symptoms der k. G. E. darstellt, und dafs sie demzufolge 
auch als ein der apperzeptiven Blindheit qualitativ gleichartiges 
Symptom anzusehen ist. Wenn wir im folgenden den Nachweis 
versuchen werden, dals die hysterische Blindheit den gleichen 
Gesetzmälsigkeiten unterliegt und dieselben Erklärungsprinzipien 
zuläfst, wie die k.G.E., so wird es gleichzeitig gelingen, die 
Paradoxien, welche auf diesem Gebiete, ganz ähnlich, wie auf 
demjenigen der k.G. E., hervorgetreten sind, in befriedigender 
Weise aufzulösen und den so häufig in prinzipieller Form ge- 
äulserten Simulationsverdacht als unbegründet zu erweisen. 
Hierzu reicht jedoch die normalpsychologische Basis, auf welche 
die Analyse der k. G. E. gegründet wurde, noch nicht aus; wir 
müssen darum vorerst den Boden der experimentellen Unter- 
suchung von neuem betreten. 


82. 


Der Versuch, welcher jetzt angestellt werden soll, ist nur 
eine geringe Modifikation des Versuches von HELMHOoLTZ, welcher 
in der Lehre von der sinnlichen Aufmerksamkeit eine nicht 
unbeträchtliche Rolle spielt. H&1LmmouLtz beobachtete bei seinem 
mehrfach erwähnten Versuch (vgl. S. 37), sowohl in der ersten 
Periode, in welcher er seine Aufmerksamkeit auf einen Punkt 
des gegenüberliegenden Feldes konzentrierte, wie in der zweiten 
Periode, in der die instantane Beleuchtung erfolgte, mit beiden 
Augen. Die Frage liegt nicht fern, was wohl eintreten mag, 
wenn man den Versuch in der Weise modifiziert, dafs man in 


III. Kapitel. Bedeutung der Analyse des vorigen Kapitels usw. 255 


der ersten Periode nur dem einen, etwa dem linken, Auge ein 
leeres, oder nur mit Markierungspunkten versehenes Feld dar- 
bietet, während dann in der zweiten Periode das Feld mit den 
Buchstaben nur dem anderen Auge dargeboten wird. Zur 
Verwirklichung der Bedingungen des Versuches dient folgende 
Anordnung. In den linksseitigen Aufnahmerahmen des justierten 
Herinsschen Haploskopes wird ein Blatt weilsen Kartons ein- 
gesetzt, auf welchem nur die mittlere horizontale und die mittlere 
vertikale Linie eingezeichnet ist, in den rechtsseitigen Aufnahme- 
rahmen ein auf eine Glasplatte aufgeklebtes und mit der gleichen 
Einteilung versehenes, zudem aber mit Buchstaben beschriebenes 
Stück Pausleinen. Die instantane Darbietung des somit auf 
durchsichtigem Grunde angebrachten Buchstabenfeldes wird be- 
werkstelligt mittels momentaner Durchleuchtung seitens des da- 
hinter befindlichen Projektionsapparates, dessen Öffnung durch 
den vorüberwandernden Spalt des davor aufgestellten SCHUMANN- 
schen Tachistoskopes für Momente frei gegeben wird. Der linker- 
seits befindliche Karton, welcher ja auch zur Zeit der Unsicht- 
barkeit des Buchstabenfeldes sichtbar sein soll, wird durch ein 
davor befindliches Nachtlicht mäfsig beleuchtet, welches sich, um 
das Buchstabenfeld vor seinen Strahlen zu schützen, in einem 
nur nach der Seite des Kartons zu offenen Kasten befindet; auch 
ist zu noch wirksamerem Schutze in der Symmetrieebene des 
Haploskops ein undurchsichtiger Schirm aufgestellt. 

Ist zu untersuchen, ob Konzentration der Aufmerksamkeit 
auf verschiedene Punkte des Gesichtsfeldes einen Einfluls auf 
die Wahrnehmungen ausübt, so muls für Fixierung der Blick- 
richtung, insbesondere auch bei dem in der ersten Periode ver- 
dunkelten Auge, gesorgt werden. Ist das Haploskop richtig 
justiert, und wird der an die Stirnstütze anzulegende Kopf ge- 
rade gehalten, so scheinen die oben genannten mittleren Quer- 
linien zusammenzufallen und horizontal zu liegen. Bezeichne 
ich einen Punkt der Querlinie auf dem im linken Rahmen be- 
findlichen Karton, konzentriere ich dann meine Aufmerksamkeit 
bei Fixation des ersteren Punktes auf einen exzentrischen Punkt 
des rechts befindlichen Feldes, so ändert sich für mich an dem 
scheinbaren Zusammenfallen und der scheinbar horizontalen Lage 
der Querlinie nichts. Nach wie vor fallen eben die beiden Quer- 
linien auf die mittleren Querschnitte der Netzhaut; denn un- 
gleich hohe Stellungen der Blicklinien kommen nach einigen 


256 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Autoren überhaupt nicht, nach anderen nur auf dem Wege 
äufserster Anstrengung und bei Einführung besonderer Versuchs- 
bedingungen vor. Dagegen bemerkt man bei Einzeichnung eines 
Punktes an gleichgelegenen Stellen eines links- und rechtsseitigen 
Kartons, dafs die Punkte zuweilen einfach gesehen werden, zu- 
weilen aber auch eine horizontale Distanz zu besitzen scheinen. 
Der Wechsel hängt, wie ersichtlich, mit den Schwankungen der 
Konvergenz zusammen. Um die Blicklinie des verdunkelten 
Auges zu fixieren, wurde, ganz in derselben Weise wie früher 
(S. 70), mittels einer als Projektionsapparat benutzten photo- 
graphischen Kamera das Bild des Fadens einer Glühlampe so 
in das Gesichtsfeld des rechten Auges geworfen, dals das Faden- 
bild die mittlere Querlinie schnitt. Wird nun der scheinbare 
Schnittpunkt des dem im übrigen verdunkelten Auge gebotenen 
Fadenbildes mit der dem unverdunkelten Auge gebotenen Quer- 
linie fixiert, so ist damit auch die Achse des verdunkelten Auges 
festgelegt; denn mit irgend einem Punkte der mittleren Quer- 
linie fällt diese Achse nach Obigem sicher zusammen, sobald 
das andere Auge einen Punkt der ihm selbst dargebotenen mitt- 
leren Querlinie fixiert. Fixiert das verdunkelte Auge nun gleich- 
zeitig einen Punkt des Fadenbildes, so ist es zu gleicher Zeit 
auf das Fadenbild und die mittlere Querlinie, somit auf den 
Schnittpunkt beider, gerichtet. Im Gesichtsfelde des verdunkelten 
Auges war tatsächlich nur das Fadenbild, dagegen nichts von 
den Buchstaben sichtbar. Vor Beginn der Versuche wurden 
unter Dauerbeleuchtung des Buchstabenfeldes die scheinbaren 
Orte etlicher um den Fixierpunkt ringsherum liegender Buch- 
staben auf dem dem linken Auge dargebotenen Karton durch 
Punkte markiert. Die Instruktion verlangte, unter Wahrung der 
Fixation die Aufmerksamkeit vor der Exposition auf irgend eine 
der exzentrisch gesehenen Markierungsstellen zu konzentrieren. 
Die Spaltbreite am Schumanxschen Tachistoskop betrug 10°, 
die Umlaufszeit 3,1 Sek., ungefähr ebensoviel also auch die 
Zwischenzeit zwischen den einzelnen Expositionen. Dem zuge- 
zogenen Beobachter, Herrn cand. phil. Omms, gelang die Über- 
windung der Schwierigkeit, welche die exzentrische Konzentration 
der Aufmerksamkeit bei Wahrung der Fixation mit sich bringt, 
dann am besten, wenn er während der Zeit der Verdunklung 
die Aufmerksamkeit sukzessiv von einem der Markierungspunkte 
zum anderen wandern liefs. 


III. Kapitel. Bedeutung der Analyse des vorigen Kapitels usw. 257 


Der Beobachter erklärte nun mit Bestimmtheit, dafs in der 
Nähe desjenigen Punktes, auf welchen die Aufmerksamkeit im 
Augenblicke der Exposition gerade konzentriert ist, ungefähr 
drei Buchstaben gesehen werden, während die Art der Ausfüllung 
des übrigen Gesichtsfeldes zweifelhaft bleibt. Ich selbst finde es 
am bequemsten, die Aufmerksamkeit unmittelbar vor jeder Ex- 
position auf eine der Markierungsstellen zu konzentrieren; die 
Beobachtungen, welche ich dann bei dem Versuche mache, 
decken sich mit denen von Herrn Omms; nur ist bei mir die 
Gröfse des bei einer Exposition gesehenen Bezirkes wenig kon- 
stant, sondern erheblichem Wechsel unterworfen. 

Es tritt also bei diesem Versuche ganz der gleiche Erfolg 
ein, wie bei demjenigen von HetLmHoutz. Die Richtung der Auf- 
merksamkeit auf die Eindrücke des einen Auges wirkt bahnend 
auf die scheinbar aus der gleichen Sehrichtung kommenden, das 
andere Auge treffenden Erregungen. Das Ergebnis erklärt sich 
m. E. am ungezwungensten, wenn man annimmt, dafs das von 
SHERRINGTON in der Lehre von der Bahnung der Reflexe heran- 
gezogene Prinzip der „letzten gemeinsamen Strecke“ auch im 
Gebiete des binokularen Sehens Gültigkeit besitzt, dafs m. a. W. 
die an eine Stelle des Sehraums verlegten Erregungen des 
Doppelauges in eine „letzte gemeinsame Strecke“ innerhalb des 
Zentralorgans einmünden (vgl. III. Abschn. $ 6). 


§ 3. 


Mit Hilfe der vorstehenden Versuchsergebnisse erklärt sich 
zunächst die von PARınAUD u. a. beobachtete Tatsache, dafs sich 
bei einseitiger oder bei einseitig stärkerer Gesichtsfeldeinengung 
die Gesichtsfeldgrenzen des schlechteren Auges erweitern oder 
sogar normale Ausdehnung annehmen, wenn gleichzeitig Gesichts- 
empfindungen durch das bessere Auge erweckt werden. Dals 
bei der k. G. E. scheinbar unempfindliche Netzhautpartien unter 
dem Einfluls einer lokalen Aufmerksamkeitskonzentration auf die 
betreffende Sehstelle ihre Funktion wieder aufnehmen können, 
haben wir früher ausführlich dargelegt. Nach den vorauf- 
gegangenen Versuchen können wir hinzufügen, dafs die lokale 
Konzentration der Aufmerksamkeit hinsichtlich der Empfindungen 
des einen Auges den eben genannten Erfolg auch schon dann 
nach sich zieht, wenn die Aufmerksamkeit nur auf eine seh- 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. 1V. 17 


258 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


richtungsgleiche Stelle des anderen Auges gewandt wird. Ferner 
ist unsere Aufmerksamkeit, solange wir überhaupt Gesichts- 
empfindungen haben, denselben mehr oder weniger stark zuge- 
wandt. Ist also auch das bessere Auge des Kranken geöffnet, 
so vermögen die mit den scheinbar nicht funktionierenden Netz- 
hautstellen des schlechteren Auges sehrichtungsgleichen Netzhaut- 
stellen des besseren Auges ihren bahnenden Einflufs auf die 
ersteren zu entfalten. 

Der vorstehend entwickelte Zusammenhang wird nun haupt- 
sächlich dadurch bedeutsam, dafs wir auf ganz gleichartige Ver- 
hältnisse bei der hysterischen Blindheit stolsen, und dafs sich 
die auf diesem Gebiete hervortretenden Paradoxien in ganz 
analoger Weise auflösen. Die häufigste Form der hysterischen 
Blindheit ist die einseitige. Die Kranken können mit dem einen 
Auge den Tag nicht von der Nacht unterscheiden, während sie 
mit dem anderen gut oder leidlich sehen. Doppelseitige Blind- 
heit ist so selten, dafs Cmarcor bei der Herausgabe seiner 
„Leçons“ (1872—73) nur einseitige Fälle anführen konnte. Seit- 
dem MENDEL im Jahre 1874 den ersten doppelseitigen Fall ver- 
öffentlichte, sind noch einige weitere bekannt geworden. Aber 
nicht allein, weil sie den häufigeren Fall darstellt, sondern auch, 
weil sie dem theoretischen Verständnis gröfsere Schwierigkeit ent- 
gegenzusetzen scheint, und weil gegenüber dem Symptom immer 
von neuem in prinzipieller Form der Verdacht der Simulation 
geäulsert wird, beansprucht die einseitige Blindheit ein erhöhtes 
Interesse. 

Als Pırrrs die einseitige Blindheit genauer zu untersuchen 
unternahm ', da leitete ihn der Wunsch, die Äufserung eines von 
ihm hochgeachteten Augenarztes, der das Symptom der ein- 
seitigen Blindheit wegen der ihm anhaftenden Paradoxien für 
ein Simulationsprodukt erklärt hatte, auf ihre Haltbarkeit zu 
prüfen. Er bediente sich dazu eines Apparates, mit dessen Hilfe 
Rekruten, die einseitige Blindheit simulieren, überführt werden. 
Wenn man in das sog. Frerssche Kästchen ? durch .die beiden 
Gläser hineinblickt, sieht man in den seitlichen Teilen des Ge- 


! Lecons cliniques sur l'hystérie et l’hypnotisme. Paris 1891. I. Bd. 
S. 101 ff. 

? Die Methoden, deren man sich in Deutschland zu bedienen pflegt, 
sind etwas andere, 


III. Kapitel. Bedeutung der Analyse des vorigen Kapitels usw. 259 


sichtsfeldes, rechts wie links, je einen Punkt; die Farbe der 
Punkte ist verschieden. Durch eine Spiegelvorrichtung wird be- 
wirkt, dafs der auf der rechten Seite erscheinende Punkt nur 
vom linken Auge, der linkerseits erscheinende nur vom rechten 
Auge gesehen wird. Die Simulanten, welche Blindheit des 
rechten Auges vorgeben, behaupten dann den rechts erscheinen- 
den Punkt nicht zu sehen und liefern sich damit der Über- 
führung aus. Im Gegensatze hierzu geben die Hysterischen nach 
Pırres übereinstimmend und ohne Zögern an, zwei verschieden 
gefärbte Punkte zu sehen. Pırres hält darum an der Auffassung 
der hysterischen Blindheit als eines echten, nicht simulierten 
Krankheitssymptomes fest, und die neueren Autoren des neurolo- 
gischen Spezialgebietes sind wohl durchweg der gleichen Ansicht. 

Die Versuche von Pırrrs sind mit einigen Variationen viel- 
fach wiederholt worden. Läfst man z. B. den Hysterischen ein 
Stereoskop benutzen, so findet in ganz normaler Weise Ver- 
einigung der beiden Halbbilder statt. Gegenüber dem Deutungs- 
versuch von BERNHEIM!, wonach der Kranke das visuelle Bild, 
welches er in normaler Weise wahrgenommen hat, durch die 
Einbildungskraft unbewulst „neutralisieren“ soll, erhebt PırrEs 
den Einwand, es sei nicht einzusehen, weshalb nicht auch die 
binokulare Wahrnehmung oder wenigstens der Anteil des an- 
geblich blinden Auges an dieser binokularen Wahrnehmung 
unbewulst „neutralisiert“ werden kann. Pırres selbst neigte der 
Ansicht zu, dafs sowohl für das einäugige, wie für das binokulare 
Sehen besondere Zentren vorhanden seien. 

Die Versuche mit dem Furesschen Kästchen und dem 
Stereoskop erklären sich in einfacher Weise durch die Tatsache, 
dafs die wirklich perzipierten und somit die Aufmerksamkeit 
mehr oder weniger herausfordernden Eindrücke des einen Auges 
auf die sehrichtungsgleichen Eindrücke des anderen Auges 
bahnend wirken. Im wesentlichen in Übereinstimmung mit dieser 
Deutung steht die schon von Bixer gegebene Interpretation; 
Bixer wies auf die Analogie der Prreesschen Versuche mit dem 
von Fürf aufgestellten Gesetze von der dynamogenen Wir- 
kung sensorieller Reizungen hin. BmswAnGer erklärt die Ein- 
wendungen Pırrrs’ gegen die Ausführungen Bmwers für unbe- 
gründet und scheint dem letzteren Autor zuzustimmen. Die ein- 


! Revue de l'hypnotisme expérimental et thérapeutique t. I, 1886, p. 65. 
17* 


260 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


seitige hysterische Blindheit folgt also im wesentlichen ganz den 
gleichen Gesetzen wie die k.G.E.; auch bei der Deutung jenes 
Symptoms kommen wir mit der Annahme eines Zustandes der 
„Hypo- bzw. Afunktion“ in Sinneszentren aus, und es erübrigt 
sich, eine Störung im höheren Seelenleben für das Symptom 
verantwortlich zu machen. 

Beim Zustandekommen des Phänomens, dafs das amaurotische 
Auge bei Geöffnetsein des gesunden zu sehen vermag, dürfte 
aufser dem eben besprochenen noch ein anderer Umstand be- 
teiligt sein. Instruktiv erscheint in dieser Hinsicht ein Versuch 
JAnETs an einer Patientin mit linksseitiger Blindheit. „Wenn 
„ich mich zur rechten Seite Mariens befinde, und mit ihr spreche, 
„so sieht sie die von links her kommenden Personen nicht und 
„ist selbst beim binokularen Sehen auf dem linken Auge 
„amaurotisch. Wenn ich nun sachte auf ihre linke Seite hinüber- 
„gehe, indem ich andauernd ihre Aufmerksamkeit festhalte, so 
„fährt sie fort, mich mit dem linken Auge zu sehen. Die auf 
„dem rechten Auge begonnenen Gesichtsempfindungen haben, 
„wenn ich mich so ausdrücken darf, die Empfindungen des 
„linken Auges in das Bewulstseinsfeld mitgezogen.“ JaxET selbst 
zieht bereits diesen Versuch mit Recht zur Erklärung von Pırres’ 
„Versuch mit dem Lichtschirm“ heran. Bei diesem Versuch 
wird auf eine Tafel, der die Patientin gegenübersitzt, eine Zeile 
geschrieben. Zwischen den Augen wird nun ein Kartenblatt 
angebracht, welches jedem der beiden Augen einen Teil des 
Geschriebenen verdeckt. Ist die Amaurose linksseitig, so wird 
bei geschlossenem linken Auge das rechts vom Lichtschirm Ge- 
legene gelesen, bei geschlossenem rechten Auge dagegen nichts. 
Sind beide Augen offen, so werden alle Buchstaben gelesen, 
ebensowohl die links, wie die rechts vom Lichtschirm gelegenen. 
Der „Versuch mit dem Lichtschirm“ gelingt nach Janer dann 
besonders gut, wenn die auf die Tafel geschriebenen Buchstaben 
in ihrer Gesamtheit ein Wort bilden. 

Hält man in der normalen Psychologie Umschau, ob hier 
gleichfalls Erscheinungen vorliegen, welche beweisen, dafs von 
einer bestimmten Stelle des Sehraums ausgehende Gesichts- 
empfindungen eine Tendenz zeigen, die von der Nachbarschaft 
erregten Empfindungen mit sich in das Bewulstsein zu ziehen, 
so ist an eine bekannte Tatsache der Lehre vom Wettstreit 
der Sehfelder zu erinnern. Bringt man ein homogenes Feld und 


III. Kapitel. Bedeutung der Analyse des vorigen Kapitels usw. 261 


ein mit einer Zeichnung bedecktes zur binokularen Vereinigung, 
so tragen die Konturen des letzteren im Wettstreit mit dem 
homogenen Grunde den Sieg davon, erscheinen aber, wofern die 
Farbe des Grundes, auf dem die Zeichnung entworfen ist, von 
der des homogenen Feldes abweicht, im Sammelbilde von der 
Farbe des Grundes der Zeichnung umgeben; erst in einiger Ent- 
fernung von der Kontur geht jene Farbe in die binokulare 
Mischfarbe über. Die die Aufmerksamkeit auf sich lenkende 
Kontur zieht die von ihrer Nachbarschaft her ausgelösten 
Empfindungen mit sich in das Bewulstsein hinein. — Als eine 
Analogie aus dem Gebiete der übrigen hysterischen Anästhesien 
ist auch die Beobachtung BisswanGers anzuführen, wonach die 
Ausbreitung einer kutanen Anästhesie geringer erscheint, wenn 
man bei der Prüfung von dem empfindenden Gebiete ausgeht, 
als wenn man in umgekehrter Richtung vorwärts schreitet. 
Übrigens ergibt sich bei der Untersuchung von Patienten mit 
„lonlücken“ ein ganz analoges Resultat. 

Unter Umständen zeigt die einseitige Blindheit noch ein 
paradoxeres Aussehen. Obwohl wir in der sogleich aufzu- 
werfenden Frage zu keiner unbedingt exakten Entscheidung ge- 
langen werden, so dürfte doch ein kurzes Eingehen auf den 
Gegenstand in Anbetracht seiner praktischen Wichtigkeit nicht 
ungerechtfertigt erscheinen. 

Der Krankheitsfall Nr. 10 des Werkes von BINSWANGER 
dürfte die Ansicht wenigstens nahelegen, dafs bei der einseitigen 
hysterischen Blindheit eine besondere Erscheinung vorkommen 
kann, die sich nicht ganz unpassend als „uneigentliche Simulation‘ 
bezeichnen liefse, und die dadurch charakterisiert ist, dafs der 
in dem Patienten lebendige Wunsch, dem Arzte das Symptom 
zu demonstrieren, zwar ein Glied in der zu dem Beobachtungs- 
phänomen führenden Kausalkette darstellt, dafs aber das End- 
glied der Kausalkette, das Beobachtungsphänomen, gleich sehr 
durch das Wesen der Krankheit bedingt ist. 

Der Stereoskopversuch gelingt bei der betreffenden Kranken, 
welche mit dem linken Auge nichts zu sehen angibt, in der ge- 
wöhnlichen Weise. „Diese selben Prüfungen sollten am nächsten 
„Tage wiederholt werden. Durch eine Unvorsichtigkeit der 
„Krankenschwester hatte die Patientin die auf dem Tische 
„liegenden, für den gestrigen Stereoskopversuch verwendeten 
„Zeichnungen der beiden Quadrate mit den gerade entgegen- 


262 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


„gesetzt verlaufenden Diagonalen gesehen. Als nun trotzdem 
„der Versuch nochmals angestellt wurde, sah Patientin heute 
„nicht, wie gestern, ein Quadrat mit sich kreuzenden Diagonalen, 
„sondern nur die rechte Hälfte eines Quadrates und die rechten 
„Hälften der sich kreuzenden Diagonalen. 

„Patientin wird dabei sehr erregt, errötet und bittet die 
„Untersuchung abzubrechen.“ Das gleichartige Ergebnis zeigt sich 
dann bei einer Wiederholung der Stereoskopversuche in der 
Augenklinik, und zwar auch bei Verwendung anderer Zeichnungen ; 
Patientin bietet wiederum Anzeichen der Verlegenheit dar und 
erteilt ihre Antwort erst nach längerem Zögern. 

Gewils ist es möglich, dafs die Kranke einfach lügt. Brys- 
WANGER scheint nicht dieser Ansicht zuzuneigen. Man würde in 
der Tat, läge gewöhnliche Simulation vor, eine andere Antwort 
erwarten. Mafsgebend ist hierbei, dafs die Kranke das Stereo- 
gramm gesehen hat, dafs ferner am Vortage mit dem gleichen 
Stereogramm auch bei abwechselnder Öffnung und Schliefsung 
von je einem Auge experimentiert wurde, und dals es sich end- 
lich anscheinend um eine intelligente und den gebildeteren 
Ständen angehörige Patientin handelt. Bietet sich eine andere 
Erklärungsmöglichkeit dar, so wird man dieselbe wenigstens 
nicht unerwogen lassen dürfen. 

Bei den Unterredungen mit der Vp., welche im psycholo- 
gischen Laboratorium nicht selten notwendig werden, gewinnt 
man zuweilen einen Einblick in die physiologischen Anschauungen 
des Laien. So wurde mir u. a. — von durchaus nicht unge- 
bildeter Seite — die Ansicht geäulsert, man sähe mit jedem der 
beiden Augen nur dasjenige, was sich auf der betreffenden Seite 
von der Medianebene befindet. Ich erinnere mich, als Kind eine 
Zeitlang die gleiche Anschauung gehabt zu haben. — Dies ist 
der eine der beiden Punkte, welche in der nachfolgenden Schluls- 
weise Berücksichtigung erfahren werden. 

Zweitens mulsten wir k.G.E. und einseitige Amaurose als 
denselben Gesetzen folgende und nur quantitativ verschiedene 
Störungen ansehen. Beide wechseln demgemäfls vielfach auch 
tatsächlich zeitlich miteinander ab; beide beruhen auf einer 
„Hypo- bzw. Afunktion“ von Sinneszentren. Die „Hypofunktion“ 
der zentralen Sehsubstanz äulsert sich aber nach obigen Aus- 
führungen darin, dals nur ein kleinerer Teil des Gesichtsfeldes 
simultan deutlich gesehen wird, als unter normalen Umständen. 


IlI. Kapitel. Bedeutung der Analyse des vorigen Kapitels usw. 263 


Nehmen wir an, die Kranke hätte ein Interesse daran, bei 
Öffnung beider Augen eine bestimmte Stelle des Gesichtsfeldes 
besonders deutlich zu sehen. Es erscheint nach obigen Dar- 
legungen durchaus nicht unwahrscheinlich, dafs sich der Hypo- 
funktionszustand des Sinneszentrums, der sich soeben noch in 
einseitiger Amaurose äulserte, nun dadurch verraten wird, dafs 
die Kranke jetzt nur einen relativ kleinen Teil des Gesichtsfeldes 
deutlich wahrnimmt, eben denjenigen, auf welchen sie ihre Auf- 
merksamkeit konzentriert. Wie leicht die einseitige Amaurose 
durch den bahnenden Einflufs der Aufmerksamkeit verdeckt 
werden kann, trat ja bei der Besprechung der Versuche mit dem 
Freesschen Kästchen und mit dem Lichtschirm deutlich zutage; 
die zugrunde liegende Veränderung aber, der Hypofunktionszu- 
stand des Sinneszentrums, wird dadurch nicht sogleich beseitigt. 

Wir ziehen nun aus den Prämissen den Schluls. Allerdings 
mufs — das sei nochmals wiederholt — die Möglichkeit offen 
bleiben, dafs die Patientin einfach lügt. Mindestens ebenso wahr- 
scheinlich aber erscheint folgende Deutung. 

Die Kranke geht, nachdem sie die Absicht des Arztes, ihre 
Angaben auf ihre Echtheit zu prüfen, erkannt hat, an die Ver- 
suche mit dem Wunsch heran, dem Arzte die Echtheit ihrer 
Sehstörung zu demonstrieren. Sie hat vom binokularen Sehakt 
die oben dargelegte laienhafte Anschauung. Andererseits hat sie 
im Laufe ihres langdauernden Leidens häufig die Erfahrung ge- 
macht, dafs bei Konzentration der Aufmerksamkeit nach rechts 
die rechte Hälfte des Gesichtsfeldes deutlich, die linke undeut- 
lich wird. Diese Erfahrung kann natürlich — wie die Mehrzahl 
unserer Erfahrungen überhaupt — das praktische Verhalten 
beeinflussen, ohne dafs sich die Kranke jener Erfahrung in der 
klaren Gestalt eines formulierbaren Satzes bewulst ist. Da sich 
nun ihrer Meinung nach linksseitige Blindheit im ausschliels- 
lichen Sehen der rechten Hälfte des Gesichtsfeldes verrät, so 
schlägt sie die Verhaltungsweise ein, die ihren Erfahrungen 
nach jenen Effekt mit sich führt; sie konzentriert ihre Aufmerk- 
samkeit auf die rechte Hälfte und sieht nun in der Tat lediglich 
diese. Die Verlegenheit der Kranken rührt daher, dafs sie sich 
ihres Wunsches, dem Arzte die Störung zu demonstrieren, be- 
wulst ist, vielleicht aulserdem auch daher, dafs sie nicht während 
des ganzen Versuches — namentlich wohl nicht am Anfang — 
ihre Aufmerksamkeit auf die eine Hälfte des Gesichtsfeldes 


264 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


konzentriert, und dafs sie daher zeitweise die ganze Zeichnung 
sieht. Auch das Zögern bei Erteilung der Antwort ist dann ver- 
ständlich. 

JANET hebt im Gegensatze zu Pırres hervor, dafs Hysterische 
bei Prüfung mit dem Frexsschen Kästchen zuweilen dieselben 
Angaben machen wie die Simulanten. Wahrscheinlich verhalten 
sich auch diese Kranken in der soeben geschilderten Weise. 
Gerade Janet pflegt ja mit seinen Kranken sehr vielfache und 
häufige Versuche anzustellen. Der Fall von BmswanGer wirft 
m. E. auf die Genese des Phänomens ein besonders deutliches Licht. 

Der Wunsch solcher Kranken, dem Arzte die Störung zu demonstrieren, 
darf an sich nicht als etwas Krankhaftes und spezifisch Hysterisches an- 
gesehen werden. Die Mehrzahl dieser Kranken sind im Laufe ihres langen 
Leidens häufig untersucht worden, und ihre paradoxen Angaben haben 
oftmals den Zweifel der Ärzte wachgerufen, während sie sich doch selbst 
der Ehrlichkeit dieser Angaben bewufst sind. Nicht nur Hysterische, son- 
dern sogar Neurastheniker fangen gelegentlich an zu übertreiben und zu 
flunkern, wenn sie annehmen, dafs der Arzt ihren Angaben keinen Glauben 
schenkt. 

Die Analyse der hysterischen Blindheit hat die eingangs 
geäulserte Vermutung bestätigt, dafs dieses Symptom ganz ähn- 
lichen Gesetzen folgt wie die k.G.E. und nur einen höheren 
Grad der gleichen Funktionsstörung darstellt. Wie endlich bei 
den organischen Sehstörungen die apperzeptive Amblyopie den 
Übergang bildet zwischen der Seelenlähmung des Schauens und 
der apperzeptiven Blindheit, so ist auch bei den funktionellen 
Erkrankungen das Bindeglied in Gestalt der hysterischen 
Amblyopie verschieden hohen Grades! aufweisbar. 


IV. Kapitel. 
Die Übung im peripheren Sehen und der Zweikomponentensatz. 


Die Bedeutung des Zweikomponentensatzes für den Sehakt 
erhellt auch aus einer weiteren Gruppe von Erscheinungen. 

Die Frage nach dem Einflufs der Übung auf die Sehschärfe 
der Netzhautperipherie bildet den Hauptgegenstand einer oft 
genannten Arbeit von DosrowoLsky und Game.’ Als Objekte 


! Sehr hochgradige Amblyopie findet sich z. B. in dem Falle von Maxz. 
Berl. Klin. Wochenschr. 1880. 

? Über die Sehschärfe (Formsinn) an der Peripherie der Netzhaut. 
Pflügers Arch. 12, S. 411. 


IV. Kapitel. Die Übung im peripheren Sehen usw. 265 
dienten einerseits SnELLENsche Probebuchstaben, welche aus den 
käuflichen Tabellen ausgeschnitten worden waren, andererseits 
einfache Zeichen, darunter auch, wie aus dem Untersuchungs- 
bericht hervorgeht, Doppelquadrate von der Art derjenigen, 
welche AUBERT und FOoERSTER verwandten. Der Maximalwert 
der Übungszeit betrug 5’/, Monate. In einer Tabelle findet sich 
die Bemerkung, dafs mit der betreffenden Vp. täglich etwa eine 
Stunde geübt wurde. Ob dieselbe Malfsregel auch bei den 
übrigen Beobachtern eingehalten wurde, ist nicht klar zu ersehen. 
Der Wert der peripheren Sehschärfe wurde nach den von 
Donpers und SNELLEN festgelegten Malsprinzipien ausgedrückt. 

Der Einflufs der Übung auf die periphere Sehschärfe erwies 
sich als ein sehr beträchtlicher. So besals z. B. die Sehschärfe 
eines Beobachters, dessen zentrale Sehschärfe gleich 1 war, bei 
einer Exzentrizität von 45° vor der Übung den Wert !/,,., nach 
derselben 1/9. Die Sehschärfe hatte in diesem Falle also den 
zehnfachen Betrag erreicht. 

Wenn man nach den Faktoren fahndet, welche bei fort- 
schreitender Übung möglicherweise eine Änderung erleiden können, 
so bieten sich für die von D. und G. gefundenen Resultate drei 
Erklärungsmöglichkeiten dar. 

Welcher Kriterien sich die Vp. bei einer der Bestimmung 
ihrer Sehschärfe gewidmeten Untersuchung bedienen wird, diese 
Frage ist durch den Wortlaut der Instruktion noch keineswegs 
beantwortet. Denn die Instruktion, einen Buchstaben zu er- 
kennen, gestattet, wie wir sahen (S. 61f.), noch einen relativ 
weiten Spielraum möglicher Verhaltungsweisen seitens der Vp. 
Diese Verhaltungsweisen können bei längerer Fortsetzung der 
Versuche eine Änderung erfahren, insbesondere dadurch, dafs 
die Vp. mit den zur Verwendung gelangenden Zeichen vertraut 
wird und bald weils, welche Formen überhaupt vorkommen. 
Hinsichtlich der zentralen Sehschärfe haben wir nun gesehen, 
dafs in dem Falle der Verwendung von Buchstaben, bei welchem 
die soeben angedeuteten Verhältnisse vorliegen, die Kriterien 
durch die Natur des Netzhautbildes bei weitem nicht so ein- 
deutig bestimmt sind, als wenn die erheblich einfachere und weit 
leichter in gleichförmiger Weise zu vollziehende Aufgabe gestellt 
ist, die Getrenntheit zweier Quadrate wahrzunehmen (vgl. S. 67). 

Eine ganz ähnliche Wandlung werden die Kriterien mit der 
Zeit offenbar durchmachen, wenn nicht die direkte, sondern die 


266 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


indirekte Sehschärfe geprüft wird. Hier wäre also ein erster 
Faktor, an welchen ein Versuch, die von D. und G. gefundenen 
Ergebnisse zu erklären, möglicherweise anknüpfen könnte. Falls 
die eingetretene Veränderung restlos auf die Wandlung der 
Kriterien zurückgeführt werden könnte, wäre der Befund dann 
jedenfalls so zu deuten, dafs eine Steigerung der Empfindlich- 
keit der Netzhautperipherie nicht eigentlich eintritt, sondern nur 
vorgetäuscht wird. 

Zweitens aber ist es möglich, dafs die lichtperzipierenden 
Organe, welche die betreffenden Empfindungen vermitteln, infolge 
der Übung eine wirkliche Erhöhung ihrer Leistungsfähigkeit er- 
fahren. 

Die experimentelle Analyse des A. F.G. nötigt aber dazu, 
auch noch eine dritte Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Wir 
haben an mehreren Stellen des experimentellen Teiles gesehen, 
eine wie erhebliche Verbesserung die Wahrnehmungen des in- 
direkten Sehens durch eine lokale Konzentration der Aufmerk- 
samkeit auf die in Frage kommenden Stellen erfahren. Wir 
sahen auch, dafs die genannte Verhaltungsweise sowohl schwierig 
als auch ermüdend ist, und im allgemeinen nur unter besonderen 
Versuchsbedingungen eintritt. Es wäre nicht undenkbar, dafs 
es eigentlich jene unnatürliche und ungewohnte Richtung und Ver- 
haltungsweise der Aufmerksamkeit ist, welche bei längerer Fort- 
setzung der Versuche eine bessere Einübung erfährt. Auch in 
diesem Falle würde die Erhöhung der Leistungsfähigkeit der 
Aufnahmeapparate nur vorgetäuscht sein. 

Wir wollen von einer „Hypothese a“, einer „Hypothese b“ 
und einer „Hypothese c“ reden, je nachdem der Erklärung der 
D. und G.schen Befunde die Annahme einer Wandlung der 
Kriterien oder diejenige einer funktionellen Erstarkung der Auf- 
nahmeapparate oder endlich der Hinweis auf die gekennzeichnete 
Verhaltungsweise der Aufmerksamkeit zugrunde gelegt wird. 

Gegen die Zulassung der „Hypothese a“, wenigstens in der 
Form, dafs sie allein zur Erklärung des Tatbestandes ausreiche, 
werden wir erst an späterer Stelle (vgl. S. 280) entscheidende 
Gründe vorbringen können. Hier sei vorläufig nur auf zwei 
Punkte hingewiesen, welche jene Hypothese von vornherein als 
unzutreffend, oder genauer, als nicht ausreichend erscheinen lassen. 

Erstens nämlich fand bei den Untersuchungen von D. und 
G. unter den einfachen Zeichen auch das AuBERT-FOERSTERSChe 


IV. Kapitel. Die Übung im peripheren Sehen usw. 267 


Doppelquadrat Verwendung. Wir haben aber gesehen, dafs bei 
Zugrundelegung dieses Objektes das Kriterium durch die Natur 
des Eindruckes weit eindeutiger bestimmt ist als etwa bei Ver- 
wendung von Buchstaben. 

Zweitens kam der Einflufs der Übung bei D. und G. oft 
schon nach dem ersten Versuche zum Vorschein (l. ce. S. 130). 
Da nun wegen der Verwendung einer gröfseren Anzahl von 
Zeichen und des Wechsels derselben das zweite überhaupt vor- 
kommende Zeichen sicherlich unbekannt war, so konnte bei 
seiner Vorzeigung der Umstand nicht in Betracht kommen, dals 
die Vp. weils, welche Zeichen überhaupt zu den Versuchen zu- 
gelassen wurden. 

Betrachten wir jetzt die von D. und G. gefundenen Sätze 
etwas näher, und halten wir uns stets dabei gegenwärtig, was 
vom Standpunkt jeder einzelnen der drei Hypothesen aus unter 
den betreffenden Versuchsbedingungen zu erwarten gewesen wäre! 

Zunächst ergab sich ein sehr auffälliges und einigermalsen 
paradoxes Resultat, als D. und G. die Leistungsfähigkeit des 
indirekten mit derjenigen des direkten Sehens auf eine etwas 
andere Weise verglichen. Sie prüften nämlich einerseits im Ge- 
biete der Makula, andererseits in verschieden stark exzentrischen 
Netzhautregionen die Unterschiedsempfindlichkeit für Helligkeits- 
differenzen.! 

Zu dem Behuf wurde auf einer rotierenden weilsen Kreis- 
scheibe ein schwarzer Sektor von kleinerem Radius so weit heraus- 
gezogen, dals eben ein schwacher Schatten erschien. Der Apparat 
war in einem Punkte der Peripherie eines Halbkreises fest auf- 
gestellt, in dessen Zentrum sich das in den verschiedenen Ver- 
suchsabteilungen nach verschiedenen Punkten des Halbkreises 
blickende Auge der Vp. befand. 

Das Ergebnis der Versuche mit den Buchstaben und 
Zeichen hätte man in dem Satze ausdrücken können, dafs die 
peripherer gelegenen Netzhautteile bei fortschreitender Übung in 
die Lage versetzt werden, dieselbe Rolle zu übernehmen, welche 
vordem nur den der Fovea näher liegenden Partien zukam. 
Nun stehen aber die exzentrischeren Netzhautteile denen der 


! Über die Lichtempfindlichkeit (Lichtsinn) auf der Peripherie der 
Netzhaut. P/lüyers Arch. 12, S. 432. Wir zitieren diese Arbeit der Ver- 
fasser künftig als „Lichtsinn“, ihre früher genannte Arbeit als „Formsinn“. 


268 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Fovea nicht nur hinsichtlich des Unterscheidungsvermögens für 
Formen nach, sondern dasselbe ist, und zwar, wie aus der Unter- 
suchung von D. und G. hervorgeht, in ganz beträchtlichem 
Malse, bezüglich der Unterschiedsempfindlichkeit für Helligkeits- 
differenzen der Fall. Beruht nun jener Übungserfolg auf einer 
wirklichen physiologischen Erstarkung der Aufnahmeapparate, 
so wird man erwarten, dals bei zunehmender Häufung der Ver- 
suche die exzentrischeren Netzhautteile die Rolle der zentraleren 
nicht nur hinsichtlich des Formensinns, sondern auch hinsicht- 
lich der Unterschiedsempfindlichkeit übernehmen werden, um 
so mehr, als wir sahen, dafs gleichzeitig mit dem Undeutlicher- 
werden der Wahrnehmungen des Lichtsinns auch diejenigen des 
Formensinns an Deutlichkeit und Bestimmtheit abnehmen, und 
dals somit ein mehr oder weniger grolser Betrag der Verant- 
wortung für den relativen Mangel an Formenunterscheidungs- 
vermögen im Gebiete der Netzhautperipherie wohl auf Rechnung 
des relativen Mangels an Unterschiedsempfindlichkeit zu setzen ist. 

Es mufs darum vom Standpunkt der „Hypothese b* einiger- 
malsen paradox erscheinen, wenn wir erfahren, „dals Übung des 
„peripherischen Teiles von keinem merklichen Einflusse auf 
„dessen Empfindlichkeit ist. Die Zahl von Graden, um welche 
„der schwarze Sektor vorgeschoben werden mulste, um dem 
„Auge einen sichtbaren Schatten zu geben, war bei wiederholten 
„Untersuchungen in allen Augen für die verschiedenen Stellen 
„der Peripherie beinahe dieselbe, und die erhaltenen Schwankungen 
„waren sehr unbedeutend. In dieser Beziehung existierte keine 
„Analogie zwischen der Lichtempfindlichkeit des Auges und der 
„peripherischen Sehschärfe, auf deren Zunahme die Übung stets 
„einen so grolsen Einfluls ausübt.“ 

Vom Standpunkte der „Hypothese c* aus überrascht diese 
Tatsache gar nicht; im Gegenteil, von hier aus muls man sie er- 
warten. Wir haben ja gesehen, dafs die „zweite Komponente“ 
der exzentrischen Sehschärfe, auf welche die „Hypothese c“ 
Bezug nimmt, bei den die Erkennbarkeit von Buchstaben und 
Doppelquadraten betreffenden Versuchen in Erscheinung trat, 
dagegen keine Rolle spielte, als AußErT dieselben Netzhautstellen 
auf ihre Farbenschwellen hin prüfte (S. 10). Es gelang uns auch, 
dieses Verhalten in ausreichender Weise aus den besonderen hier 
obwaltenden Versuchsbedingungen zu erklären (S. 107). 

Derselbe Unterschied der Bedingungen — bei Versuchen mit 


IV. Kapitel. Die Übung im peripheren Sehen usw. 269 


Buchstaben und einfachen Zeichen, z. B. Doppelquadraten, einer- 
seits, bei der Bestimmung von Schwellen andererseits — kehrt 
auch bei den uns jetzt beschäftigenden Untersuchungen von D. 
und G. wieder. Wir hoben schon hervor, dafs zur Ausschaltung 
der „zweiten Komponente“ der Umstand beitrug, dafs D. und G. 
bei diesen Versuchen ganz ausdrücklich dafür Sorge trugen, 
immer nur während ganz kurzer Momente zu beobachten, und 
zwar gerade während derjenigen Momente, in welchen auch 
nach unseren eigenen Beobachtungen die Bedingungen für die 
seitliche Konzentration der Aufmerksamkeit in besonders 
hohem Mafse erfüllt sind. „Gewöhnlich erscheint, so führen 
nämlich jene Autoren aus („Lichtsinn“ S. 434ff.), „der schwache 
„Schatten vom Sektor nur in den ersten Momenten, wenn man 
„ihn mit dem peripherischen Sehen zu beobachten beginnt, so- 
„dann verschwindet er ganz, bis sich die Netzhaut von dem er- 
„haltenen Eindrucke erholt hat.! Deshalb ist es notwendig, bei 
„der Untersuchung öfters das Auge auf einige Zeit zu schlielsen, 
„um sich von der Richtigkeit der erhaltenen Empfindung zu 
„überzeugen und jede unnütze Ermüdung der Augen überhaupt 
„zu vermeiden. Ein anderes Hilfsmittel besteht darin, dafs das 
„zu untersuchende Auge leichte seitliche Bewegungen macht, 
„indem das Fixationsobjekt leichte Schwankungen nach dieser 
„und jener Seite von der Stelle aus erfährt, an welcher die 
„Untersuchung vorgenommen wird; oder aber, das Auge führt 
„längs dem Fixationsobjekt leichte Bewegungen nach oben und 
„unten aus. Überhaupt muls man sich bei diesen Untersuchungen, 
„um das Maximum der Empfindlichkeit der Peripherie der Netz- 
„haut zu ermitteln, auf die ersten Empfindungen beschränken 
„und sich von ihnen leiten lassen, weil hier das Auge noch 
„nicht ermüdet ist.“ 

Die Beobachtung erfolgte also nur für kurze Momente, 
während deren, wie sich aus dem Ausfall unserer instantanen 
Versuche ergibt, eine seitliche Konzentration der Aufmerksam- 
keit möglich ist. Dieser Beobachtungsmoment ist der erste 
Augenblick, welcher auf die Hinwendung des Blickes auf den zu 
fixierenden Punkt folgt. Nun sahen wir aber, dafs das Doppel- 


! Die Verfasser halten mit Auzerr die rasche Ermüdbarkeit der Netz- 
hautperipherie für die einzige Ursache des leichten Verschwindens und 
Wiederauftauchens. 


270 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


quadrat auch bei den unter Dauerexposition angestellten Ver- 
suchen im ersten Augenblick in viel exzentrischerer Lage deut- 
lich getrennt erscheint als unmittelbar darauf (S. 28f.), ein Ver- 
halten, welches wir gleichfalls mit der „zweiten Komponente“ in 
Zusammenhang bringen zu müssen glaubten (S. 108f.). Endlich 
dürfte die Wahrnehmung eines bewegten Objektes wegen ihrer 
gröfseren Eindringlichkeit leichter und vollkommener eine lokale 
seitliche Konzentration der Aufmerksamkeit herbeiführen als die- 
jenige eines ruhenden ! (vgl. auch S. 107). 

Gewannen wir schon aus dem Bisherigen die Überzeugung 
von der Überlegenheit der „Hypothese c“ gegenüber der 
„Hypothese b“, so erlangt diese Überzeugung noch einen höheren 
Gewilsheitsgrad, wenn wir sehen, wie leicht und natürlich sich 
von der ersteren Annahme aus die Erklärung der übrigen Sätze 
von D. und G. gestaltet, und in welche Verlegenheit wir anderer- 
seits in Hinblick auf sie geraten, wenn wir einer der beiden 
konkurrierenden Hypothesen zustimmen. Das ergibt deutlich 
die Betrachtung des folgenden, von D. und G. aufgestellten Satzes. 

„Die peripherische Sehschärfe nimmt infolge von Übung zu 
„und diese verhältnismälsige Zunahme der Sehschärfe wächst 
„im Mafse der Entfernung vom Zentrum zur Peripherie immer 
„mehr und mehr, und umgekehrt, der Einflufs der Übung nimmt 
„in der Richtung von der Peripherie zum Zentrum ab.“ 

Das hierin ausgedrückte Verhalten ist nach „Hypothese c* 
zu erwarten. Ist es die Fähigkeit, eine lokale seitliche Kon- 
zentration der Aufmerksamkeit zu vollziehen, welche durch die 
Übung gesteigert wird, so mufs dieser Übungserfolg an den dem 


! Dals es teleologisch zweckmäfsig wäre, wenn die Wahrnehmung eines 
bewegten Objektes eine besonders prompte, sichere und vollkommene lokale 
Konzentration der Aufmerksamkeit auslöste, bedarf keines Beweises. Wir 
können an dieser Stelle nicht auf die Prüfung der Frage eingehen, ob hiermit 
vielleicht die bekannte zwischen der Sehschärfe für ruhende und der- 
jenigen für bewegte Objekte bestehende Gesetzmäfsigkeit zusammenhängt, 
der zufolge die auf die zweite Art bestimmte Sehschärfe zwar gleichfalls 
vom Zentrum nach der Peripherie hin abnimmt, aber in auffallend lang- 
samerer Weise als die Sehschärfe für ruhende Objekte. Hiermit hängt 
vielleicht auch zusammen, dafs Objekte, wie z. B. Buchstaben, nach einer 
von LaxporLt gemachten (GRAEFE-SArmısch, Handbuch d. ges. Augenheilk. 
I. Aufl., III. Bd., 1874) und von D. und G. bestätigten Beobachtung auf der 
Netzhautperipherie im Falle der Bewegung besser und früher erkannt 
werden als in jenem der Ruhe. 


IV. Kapitel. Die Übung im peripheren Sehen usw. 271 


Zentrum ferner gelegenen Netzhautstellen deutlicher in Er- 
scheinung treten als an den ihm näheren; denn die Beschaffen- 
heit der Wahrnehmungen des indirekten Sehens ist um so aus- 
schliefslicher durch die „erste Komponente“, um so weniger durch 
die „zweite Komponente“ der exzentrischen Sehschärfe bedingt, 
je näher die betreffende Netzhautstelle der Fovea liegt, und je 
kleiner demnach die scheinbare Entfernung des ihr entsprechen- 
den Ortes des Aufsenraums von dem fixierten Punkte ist. Sahen 
wir doch, dafs der Unterschied zweier Konstellationen, in denen 
das Doppelquadrat sowohl auf dieselbe Stelle der Netzhaut fällt, 
als auch ein in beiden Fällen gleiches Netzhautbild liefert, und 
in denen sich die scheinbare Entfernung des Objektes vom 
fixierten Punkte nur relativ wenig unterscheidet, nicht ausreicht, 
um das AUBERT-FoErstEersche Phänomen in Erscheinung treten 
zu lassen, sondern dafs sich hier nur der geringere Grad des- 
selben, das Kostersche Phänomen, zeigt. 

D. und G. selbst sind aufserstande, die Tatsache, dafs der 
Einflufs der Übung im äufseren Teile des Gesichtsfeldes be- 
deutender ist, als im inneren, zu erklären. Eine ziemlich nahe- 
liegende Deutung wird von den Autoren selbst als unzutreffend 
zurückgewiesen. Hinsichtlich des inneren und oberen Teiles des 
Gesichtsfeldes nämlich, also des äulseren und unteren Teiles der 
Netzhaut, könnte man sagen, dafs die Sehschärfe innerhalb dieses 
Bereiches wegen der Verdeckung dieser Gesichtsfeldregionen 
durch vorspringende Teile des Antlitzes für gewöhnlich durch 
die Praxis des Lebens ganz besonders wenig geübt sei. Hierauf 
ist zu erwidern, dafs auch im unteren Teile des Gesichtsfeldes, 
welcher für gewöhnlich nicht verdeckt ist, der Einflufs der Übung 
aulsen grölser ! ist als innen. 

Geradezu voraussagen könnte man auf Grund des soeben 
besprochenen Resultates ein weiteres Ergebnis, welches D. und 
G. folgendermalsen formulieren: „Im allgemeinen können wir 
„hinsichtlich der Ausdehnung der Zonen (sc. innerhalb deren 
„die Buchstaben erkannt werden) für alle Meridiane den Schluls 
„ziehen, dafs dieselbe für kleine Buchstaben infolge von Übung 
„in geringerem Malse erfolgt als für grofse.“ 


1 In der Arbeit von D. und G. heifst es infolge eines sinnverkehrenden 
Druckfehlers „geringer“ (l. c. S. 429). Der richtige Wortlaut ergibt sich 
nicht allein daraus, dafs die ganze Argumentation der Verfasser hinfällig 
werden würde, sondern auch direkt aus der Betrachtung der Tabellen. 


272 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Es sind ja eben die grofsen Buchstaben, welche wegen ihrer 
Grölse bereits auf weiter peripher gelegenen Netzhautstellen er- 
kannt werden als die kleinen Buchstaben. Da nun die Gröfse 
des Übungserfolgs der Netzhautstellen mit dem Betrag ihres 
Winkelabstandes von der Fovea zunimmt — dieser Zunahme 
korrespondiert, da das Perimeter immer dieselbe Entfernung vom 
Auge hat, eine scheinbare Entfernungszunahme des Objektes vom 
Fixierpunkt — so müssen die grolsen Buchstaben durch die 
Übung mehr gewinnen als die kleinen. 

Im ungeübten Zustand werden die kleinen Buchstaben, wie 
wir sahen, innerhalb von Zonen erkannt, welche von denen, die 
sich nach längerer Einübung ergaben, nicht sehr stark abweichen; 
da nun aber bei grofsen Buchstaben infolge der Übung eine sehr 
erhebliche Erweiterung der Zonen eintritt, so mufs bei Be- 
trachtung der im ungeübten Zustande gewonnenen Resultate der 
Anschein entstehen, dafs die Grenzen für grölsere Buchstaben 
im Vergleich mit denen für die kleineren sehr nahe am Zentrum 
liegen. D. und G. lassen sich hierüber folgendermalsen aus: 
„Indem wir die Grenzen für Buchstaben von verschiedener Grölse 
„in ungeübten Augen vergleichen, stofsen wir auf eine merk- 
„würdige Tatsache, nämlich, dafs die Grenzen für gröfsere Buch- 
„staben, im Vergleich mit den kleineren, sehr nahe am Zentrum 
„liegen, die Grenzen für kleinere Buchstaben dagegen verhältnis- 
„mälsig weit vom Zentrum entfernt sind.“! Die Verff. heben 





! Unsere Erklärung würde hinfällig werden, wenn die Worte „im Ver- 
gleich mit den kleineren sehr nahe am Zentrum“ bedeuten sollten, dafs 
die grofsen Buchstaben, auch absolut genommen, näher an das Zentrum 
herangebracht werden mufsten. Denn dafs die grofsen Buchstaben in dem 
Augenblick, in welchem sie soeben erkannt werden, absolut genommen, 
vom Zentrum weiter abstehen als die kleinen Buchstaben, war eine für 
unseren Schlufs unerläfsliche Prämisse. — Aus den Tabellen der Arbeit 
von D. und G. geht nun hervor, dafs die Zonen für das Erkennen der 
grofsen Buchstaben tatsächlich ausgedehnter waren als diejenigen für das 
Erkennen der kleinen Buchstaben; die Auslassung von D. und G. ist also 
nur so zu verstehen, dafs der Unterschied zwischen der Grölse der Zonen 
für die grofsen Buchstaben einerseits und derjenigen der Zonen für die 
kleinen andererseits relativ sehr gering ist, einmal wohl in Anbetracht der 
Gröfse der im geübten Zustand hervortretenden Differenz, und zweitens 
in Hinsicht auf die sehr erhebliche Gröfsendifferenz der Buchstaben, der 
zufolge man auch einen erheblichen Unterschied in der Gröfse der Er- 
kennungszonen zu erwarten geneigt ist. 


IV. Kapitel. Die Übung im peripheren Sehen usw. 273 


hervor, dafs dieses Verhalten eine Analogie zu dem von AUBERT 
und ForrstTER gefundenen Gesetz darstelle. 

Zwischen allen vom Unterschied der grofsen und der kleinen 
Buchstaben handelnden Sätzen und „Hypothese a“, sowie zwischen 
ihnen und „Hypothese b“ läfst sich gar keine Beziehung er- 
kennen, und diese Sätze vermögen darum auch für keine dieser 
beiden Hypothesen eine Bestätigung zu liefern. 

Die Erklärung ferner, welche D. und G. selbst von dem zu- 
letzt erwähnten Satze von dem Verhalten grofser und kleiner 
Buchstaben bei einem Ungeübten geben, ist eine Scheinerklärung 
und läuft auf einen Zirkel hinaus. Es wird nämlich auf Grund 
der Gröfse der Buchstaben, welche auf den einzelnen, mehr oder 
weniger weit exzentrisch gelegenen Netzhautgebieten eben gerade 
erkannt werden, der Wert der Sehschärfe in jenen peripheren 
Netzhautgebieten zahlenmälsig ausgedrückt. „Hierbei ergibt sich, 
„dals die grölste Abnahme der Sehschärfe am gelben Fleck selbst 
„stattfindet. Weiter zur Peripherie vom gelben Fleck geht die 
„Abnahme langsamer und gleichmälsiger und an der äulsersten 
„Peripherie endlich wieder schneller- vor sich.“ Der Punkt, von 
dem aus die Abnahme wieder schneller vor sich geht, soll etwa 
bei 40° liegen. Dieser Satz über den Abfall der Sehschärfe 
wird zur Erklärung der Tatsache benutzt, dafs die Grenzen für 
grölsere Buchstaben, im Vergleich mit denjenigen für kleinere, sehr 
nahe am Zentrum liegen. Der stärkere Abfall der Sehschärfe 
befinde sich bei 40°, und die äufsersten Grenzen für diejenigen 
Buchstaben, welche die genannte Eigenschaft, nur in relativ 
geringer Entfernung vom Zentrum erkannt zu werden, besitzen, 
lägen etwa zwischen 30 und 50°. 

Beide Sätze, sowohl der zu erklärende wie der als Erklärung 
herangezogene, wurden aus ein und derselben Tabelle abgelesen. 
In dieser Tabelle stehen die in Winkelgraden ausgedrückten Ex- 
zentrizitätsmalse der betreffenden peripheren Netzhautstellen, da- 
neben die Nummern der an den betreffenden Stellen eben er- 
kannten Buchstaben und, aus diesen Nummern der Buch- 
staben, also aus ihrer Gröfse, abgeleitet, die Malse der 
Sehschärfe an den betreffenden Stellen. Auf die Betrachtung 
der Geschwindigkeit, mit welcher die eben erkennbaren Buch- 
stabengröfsen mit der Exzentrizität zunehmen, gründet sich der 
zu erklärende Satz. Der als Erklärung herangezogene Satz 


gründet sich auf die Betrachtung der Geschwindigkeit, mit welcher 
Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 18 


274 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


die Sehschärfe mit zunehmender Exzentrizität abnimmt. Da die 
Sehschärfenwerte nur aus den Werten der Buchstabengröfse ge- 
wonnen sind, so drücken beide Sätze gar nicht zwei verschiedene 
Tatsachen aus, sondern ein und dieselbe Tatsache, nur gewisser- 
malsen in verschiedener Sprache. 

Wenn „Hypothese ce“ zutrifft, und die Wirkung der Übung 
somit wesentlich auf dem Fortschritt in der Fähigkeit, eine lokale 
seitliche Konzentration der Aufmerksamkeit vorzunehmen und 
den Einflufs der „zweiten Komponente“ zu überwinden beruht, 
so wird man erwarten, dafs sich das in der „zweiten AUBERT- 
schen Konstellation“ sonst zu beobachtende AUBERT-FOERSTERSChe 
Phänomen bei den auf die lokale seitliche Konzentration der 
Aufmerksamkeit besonders eingeübten Beobachtern nicht in 
starker Ausprägung zeigen werde. In der Tat ergab sich 1, dafs 
Buchstaben von verschiedener Grölse und in verschiedenen Ent- 
fernungen vom Auge, wenn sie unter gleichem Gesichtswinkel 
erschienen, von der Peripherie der Netzhaut in gleicher Ent- 
fernung vom Zentrum wahrgenommen wurden. Dasselbe Re- 
sultat erhielten D. und G. mit Doppelquadraten. Bemerkens- 
wert ist hierbei übrigens folgende Beobachtung. „Dr. Do»ro- 
„WOLSKY ... behauptet doch, dafs kleine Buchstaben in der 
„Nähe vom Auge, wenn auch in derselben Entfernung vom 
„Zentrum wie die grolsen Buchstaben aus der Ferne, doch 
„leichter und richtiger unterschieden werden.“ Die Autoren 


! Die Beobachter, DaxıLorr und DoBRrOwoLsKY, gehören zu den Versuchs, 
personen, mit welchen die Übungsversuche angestellt worden waren. 

® Übrigens waren die Unterschiede der Entfernungen, aus denen be- 
obachtet wurde, sowie auch der absolute Wert der gröfseren Entfernung, 
nicht sehr bedeutend. — Es wurde das einemal aus einer Entfernung von 
50, daneben zum Vergleich aus einer Entfernung von 100 cm beobachtet, 
In Anbetracht dieser beiden Umstände ist ein sehr deutliches Auftreten 
des AUBERT-ForrsTErschen Phänomens an sich schon nicht zu erwarten. 
Wegen der relativen Kleinheit des gröfseren der beiden Abstände wird 
sich die „Unüberschaubarkeit“ nicht so stark geltend machen; und auch 
wenn sie auftritt, so kann doch das A. F. G. wegen des relativ geringen 
Unterschieds der Konstellationen nicht so deutlich in Erscheinung treten. 
— Ferner nähern sich, wenigstens im Falle der Prüfung mittels Buch- 
staben, die von D. und G. eingeführten Versuchsumstände denjenigen an, 
welche bei den Ausertschen Versuchen zur Untersuchung der Farben- 
schwellen herrschen. Es wurden nämlich von D. und G. zu der in Rede 
stehenden Untersuchung nur die allerschwersten Buchstaben benutzt. 


IV. Kapitel. Die Übung im peripheren Sehen usw. 275 


fahren allerdings folgendermalsen fort: „Diese gröfsere Leichtig- 
„keit beim Unterscheiden der kleinen Buchstaben in der Nähe 
„hängt, wie es scheint, davon ab, dals kleine Buchstaben in der 
„Nähe für das Auge besser und heller erleuchtet sind, als grölsere 
„in der Ferne.“ Wir haben jedoch gesehen (S. 8f.), dafs es 
nicht angängig ist, diese „hellere Erleuchtung“ des nahen Ob- 
jektes physikalisch zu erklären. Dafs auch D. und G. diesen 
Schlufs ziehen, nimmt, abgesehen von dem zugrunde liegenden 
physikalischen Irrtum, darum besonders wunder, weil jene Autoren 
fanden, dafs die Grenzen für die Buchstaben unverändert blieben, 
ob die Beobachtungen bei hellem Sonnenschein oder an trüben 
Tagen, ob sie bei enger oder bei weiter Pupille (Atropin) an- 
gestellt wurden, und weil sie auf Grund dieser Tatsachen an 
anderer Stelle den Satz aufstellen, dafs die Erkennungsgrenzen 
von den Verschiedenheiten der Beleuchtungsstärke in hohem 
Malse unabhängig sind. 

Endlich begreift sich der zeitliche Gang des Übungseinflusses 
auf dem Boden der „Hypothese c“ leichter, als wenn man „Hypo- 
these b“ zugrunde legt. Nach 3!/, monatlicher Übung führt 
eine weitere zweimonatliche Fortsetzung der Versuche zu keiner 
nachweislichen Mehrleistung. Die Tabellen, welche nach vor- 
ausgegangener sechswöchentlicher und nach 3%, monatlicher 
Übung zusammengestellt wurden, differieren nur um ein Geringes. 
Der Einflufs der Übung macht sich nach Angabe von D. und G. 
oft schon nach dem ersten Versuche geltend. — In Fällen, in 
denen durch Übung eine wirkliche physiologische Erstarkung 
hervorgerufen wird, wie z. B. bei der Muskelübung, stellt sich 
wohl in der Regel nicht nach relativ so kurzer Zeit ein nicht 
mehr überbietbarer Maximalerfolg ein. Dagegen ist es plausibel, 
dafs der Beobachter die lokale seitliche Konzentration der Auf- 
merksamkeit nach relativ kurzer Zeit erlernen wird, und dafs 
dann später, falls der Übungserfolg eben nur in dem voll- 
kommenen Gelingen dieser Verhaltungsweise beruht, eine weitere 
Steigerung der Sehschärfe kaum eintreten wird. 

Im Laufe unserer eigenen Versuche trat in der Periode, in der alle 
Werte notiert wurden, kein merkbarer Übungserfolg zutage. Das schnelle 
und deutliche Wachsen der Übung am Anfang, welches von D. und G. be- 
tont wird, hatte sich vermutlich bereits während der Vorversuche vollzogen. 
Trifft die von uns gegebene Deutung des Übungserfolgs zu, so muls das 
scheinbare „Anwachsen der Sehschärfe“ dann besonders schnell erfolgen, 


wenn die Versuchsbedingungen eine seitliche Konzentration der Aufmerk- 
18* 


276 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


samkeit von Anfang an in besonders zwingender Weise erheischen; 
also namentlich dann, wenn die Vp. nicht nur angehalten wird, z. B. 
den Moment, in welchem die Quadrate getrennt erscheinen, anzugeben, 
sondern auch, wie von unserer Seite zum Zwecke der Ermittlung der von 
der Vp. benutzten Kriterien geschah, genötigt wird, die von dem seitlichen 
Objekt hervorgerufenen Wahrnehmungen näher zu beschreiben. 

Aus alledem folgt aber noch nicht, dafs nicht lange fortgesetzte Übung 
doch noch einen weiteren, wenn auch langsameren und nur während 
grölserer Zeiträume konstatierbaren Fortschritt im Gefolge gehabt haben 
würde. Auf diese Möglichkeit weist wenigstens eine in einem analogen 
Falle gemachte Beobachtung hin, betreffend das Verhalten der Sehschärfe 
der Schielenden (in Wirklichkeit handelt es sich hierbei, wie wir sehen 
werden, um mehr als eine Analogie). „Bei Beginn der Untersuchungen 
„findet man zunächst recht schlechte Sehschärfen in dem schielenden 
„Auge, welche sich indessen bei genügend zahlreichen Wiederholungen 
„wesentlich verbessern, bis man gewisse konstante Worte erhält, über die 
„hinaus eine Verbesserung nicht angegeben wird.“! Also schon ohne 
systematische und planmäflsige Übung, bereits während der Funktions- 
prüfung, findet eine zunächst nicht überbietbar erscheinende Steigerung 
der Sehschärfe statt; und trotzdem wird nach Javar durch methodische 
und langdauernde Übungen dann noch eine weitere langsam, aber sicher 
fortschreitende Steigerung erzielt. 


Wir haben die „Hypothese c“ bis jetzt vorwiegend gegen- 
über der „Hypothese b“ verteidigt. Zu einer Auseinandersetzung 
mit „Hypothese a“ bot sich bis nun weniger Gelegenheit. Das 
Versäumte wird nachgeholt werden, da sich bei Gelegenheit der 
Erörterungen, welchen wir uns nun zuwenden, ganz von selbst 
herausstellen wird, dafs der Übungserfolg der peripheren Seh- 
schärfe nicht ausschliefslich und in ausschlaggebender Weise mit 
Hilfe jener Hypothese zu erklären ist (vgl. S. 280). 

Von Wichtigkeit werden die hier dargelegten Verhältnisse 
vor allem wegen ihrer Bedeutung für eine Reihe sogleich zu 
besprechender Erscheinungen beim Sehen der Schielenden. 


V. Kapitel. 
Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre vom 
Sehen der Schielenden, insbesondere Erklärung der 
Schielaugenamblyopie. 


§ 1. 
Die Vermutung liegt nicht fern, dafs das A. F. G. auch für 
die Lehre vom Sehen der Schielenden bedeutsam sein könne. 


: SCHLODTMANS, Studien über anomale Sehrichtungsgemeinschaft bei 
Schielenden. Arch. f. Ophth. 51, S. 266. 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 277 


Die Analyse des AUBERT-FoErsTErRschen Phänomens hat er- 
geben, dals sich die von der Fovea gelieferten Eindrücke vor 
den durch die Netzhautperipherie vermittelten durch grölsere 
Klarheit und Schärfe nicht allein darum auszeichnen, weil die 
Fovea im Vergleich zur Peripherie mit leistungsfähigeren Auf- 
nahmeapparaten ausgestattet ist, sondern auch, weil das „Zentrum 
der Aufmerksamkeit“, wie wir uns kurz ausdrücken konnten, 
unter normalen Umständen mit der jeweilig direkt gesehenen 
Stelle des Sehraumes zusammenfällt. 

Wenn nun infolge von Strabismus das reguläre Zusammen- 
wirken der beiden Netzhäute in der Weise gestört ist, dals ein 
Reiz, welcher im normalen Auge zu einem die Fovea treffenden 
Netzhautbilde Anlafs gibt, im Schielauge jederzeit eine Stelle 
von bestimmter Exzentrizität erregt — in vielen Fällen wird 
jene Stelle bekanntlich mit der Fovea des normalen, des „führen- 
den“ Auges sehrichtungsgleich! —, so ist zu vermuten, dafs 
jene exzentrische Stelle des Schielauges hinsichtlich ihrer Be- 
ziehung zu den Funktionen der Aufmerksamkeit eine ähnlich 
ausgezeichnete Stellung einnehmen wird, wie unter normalen 
Umständen die Fovea. Trifft diese Vermutung zu, so wird man 
auf Grund des A. F.G. erwarten, dafs jene exzentrische Stelle 
eine höhere Sehschärfe zu erlangen vermag im Vergleich zu 
anderen Stellen derselben Netzhaut, welche dieselbe Exzentrizität 
besitzen, und eventuell sogar im Vergleich zu der genau über- 
einstimmend gelegenen exzentrischen Netzhautstelle des nor- 
malen Auges. 

Wir betreten jetzt den den obigen Ausführungen entgegen- 
gesetzten Weg, indem wir unseren Ausgang nicht vom A. F. G. 
nehmen, sondern von den hinsichtlich der Sehschärfe der Schielen- 
den bekannt gewordenen Tatsachen. Wir wollen einfach ver- 


! Man denke sich bei einer bestimmten, im übrigen beliebigen Stel- 
lung des Doppelauges den Ort, an welchem ein die Fovea des „führenden“ 
Auges treffender Reiz erscheint, mit der Nasenwurzel verbunden. Die so 
erhaltene Linie ist die Sehrichtungslinie der Fovea des „führenden“ Auges. 
Führt man die soeben für die Fovea des normalen Auges vollzogene Kon- 
struktion für die „vikariierende“ Makula des Schielauges durch, d. h. für 
diejenige exzentrische Stelle der Netzhaut des Schielauges, welche gleich- 
falls von dem die Fovea des „führenden“ Auges affizierenden Reize ge- 
troffen wird, und gelangt man auf diese Weise zu derselben Sehrichtungs- 
linie wie bei der ersten Konstruktion, so ist die „vikariierende“ Makula 
des Schielauges mit der Fovea des „führenden“ Auges „sehrichtungsgleich“. 


278 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


suchen, diese letzteren in vorurteilsfreier Weise und unter Her- 
anziehung aller in Betracht kommenden Möglichkeiten zu er. 
klären. Eine solche Untersuchung ist in diesem Zusammenhange 
allerdings nur darum gerechtfertigt, weil ihr Resultat eine neue 
Bestätigung für unsere Auffassung des A. F. G. liefert; allein wir 
haben diese Untersuchung zunächst, gleich derjenigen über die 
konzentrische Gesichtsfeldeinengung, in der Weise durchzuführen, 
als ob unser Interesse ausschliefslich den betreffenden patho- 
logischen Tatsachen, nicht aber dem A. F. G. gälte. 


a) Schon A. v. Gräre hebt ausdrücklich die bessere Seh- 
schärfe hervor, welche die „vikariierende Makula“ im Gegensatz 
zu einer gleich exzentrisch gelegenen Stelle eines normalen Auges 
besitze. „Die Empfindlichkeit des vikariierenden Zentrums“, so 
berichtet jener Forscher in seiner Arbeit „Über das Doppelt- 
sehen nach Schieloperationen und Inkongruenz der Netzhäute“', 
„stand allerdings hinter der Makula lutea eines gewöhnlichen 
„Auges bedeutend zurück, da die Kranke trotz mehrmonatlicher 
„Übung mit Konvexgläsern es doch nur dahin bringen konnte, 
„eine 3“ hohe Schrift einigermafsen zu lesen; dennoch mufste 
„die Empfindlichkeit eine ungleich grölsere sein, als im normalen 
„Auge bei einem so exzentrischen Netzhautteil, indem wir unter 
„unter gleichen Verhältnissen kaum Finger zu erkennen imstande 
„sind.“ Im selben Sinne sprechen neuere Beobachtungen von 
Bıetschowsky.? „Von Patienten mit streng unilateralem Schielen“, 
so falst jener Autor seine Beobachtungen über diesen Gegenstand 
zusammen ($. 477f.), „wird häufig angegeben, dals sie bei Ver- 
„decken des führenden Auges die Dinge in der einen Hälfte 
„des Sehfeldes viel deutlicher sähen als in der anderen. Erstere 
„entspricht regelmälsig dem Netzhautabschnitt, welcher während 
„der Schielstellung die gleichen Eindrücke empfängt wie die 


„zentrale Region des führenden Auges. ... Ferner ergab sich 
„bei einigen der mitgeteilten Strabismen — zunächst als ganz 
„zufälliger Befund — dafs der Bezirk des Schielauges, welcher 


„seine Erregungen in die Hauptsehrichtung lokalisierte, im Ver- 
„hältnis zur Gröfse der Exzentrizität eine auffällig hohe Seh- 
„schärfe besafs. Die speziellere Prüfung bestätigte die ersten zu- 


! Arch. f. Ophth. 1, 1, S. 114. 
® Untersuchungen über das Sehen der Schielenden. Arch. f. Ophth. 50, 
S. 406 ff. 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 279 


„fälligen Beobachtungen dahin, dafs die Sehschärfe jener peri- 
„pheren Zone jedenfalls erheblich besser als die eines Nicht- 
„schielenden war, welcher nicht im peripheren Sehen besondere 
„Übung besafs.“ B. fügt hinzu, dafs diese Versuche nur an einer 
in Anbetracht seines grolsen Materiales relativ kleinen Zahl von 
Patienten durchgeführt wurden, und wünscht für dieselben er- 
neute Nachprüfung. 

Es fragt sich nun, worin der Grund für jene Erhöhung der 
Sehschärfe im Bereiche der sekundären Makula zu suchen ist. 
Man wird schwerlich eine andere Ursache auffinden können als 
den Umstand, dafs jener exzentrische Bezirk im Schielauge „in 
höherem Malse in Anspruch genommen wird“ als beim Nicht- 
schielenden, ein Punkt, auf welchen BıerLscHhowsky hinweist (S. 478). 
Als Beleg dafür, dafs die periphere Sehschärfe durch Übung er- 
höht werden könne, führt B. die von uns im vorigen Kapitel 
besprochene Untersuchung von DoBROWOLSKY und GAINE an und 
gibt damit eine Deutung des Befundes, welcher sich auch F.B. Hor- 
MANN in seinem Referat über „Die neueren Untersuchungen über 
das Sehen der Schielenden“! anschliefst. Wir haben aber bei 
Besprechung der Arbeit von D. und G. auseinandergesetzt, dals 
der Erfolg einer durch längere Zeit fortgesetzten Übung des 
peripheren Sehens nicht auf einer Steigerung der Leistungsfähig- 
keit der im Auge befindlichen Aufnahmeapparate beruhen kann, 
dals jener Übungserfolg vielmehr auf psychische Faktoren zurück- 
zuführen ist. Da die Untersuchung von D. und G. für die ge- 
nauere Beurteilung und Erkenntnis des Einflusses, welchen fort- 
gesetzte Übung auf die periphere Sehschärfe ausübt, mafsgebend 
sein mufs, gleichgültig, ob jene fortgesetzte Übung auf willkür- 
lichem Wege zu Versuchszwecken hervorgerufen wurde, oder ob 
sie natürlicherweise infolge der Existenz einer „vikariierenden 
Makula“ eintrat, so dürfen wir das Hauptergebnis des vorigen 
Kapitels unverändert in die uns gegenwärtig beschäftigenden 
Erörterungen herübernehmen. Wir werden demnach die Er- 
höhung, welche die Sehschärfe der „vikariierenden Makula“, 
einmal im Vergleich zu anderen gleich exzentrischen Stellen des- 
selben Auges, dann auch im Vergleich zu einer genau überein- 
stimmend gelegenen Stelle eines normalen Auges zeigt, gleich 
dem Übungserfolg des peripheren Sehens überhaupt mit Hilfe 


! Ergebnisse d. Physiol. Jahrg. I, Abt. 2, 1902, S. 838. 


280 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


des A. F. G. zu erklären haben.! Die Sehschärfe der Netzhaut- 
peripherie setzt sich nach dem A. F. G. aus zwei Komponenten 
zusammen. Auch wenn die Aufnahmeapparate der Netzhaut- 
peripherie denen der Fovea an funktioneller Leistungsfähigkeit 
nicht nachstünden, würde die Sehschärfe des indirekten Sehens 
infolge der Begrenztheit der Fähigkeit des „Überschauens“ die- 
jenige des direkten Sehens nicht erreichen, solange sich nämlich 
das „Zentrum der Aufmerksamkeit“ an der im direkten Sehen 
erscheinenden Stelle des Sehraums befindet. Dies ist aber unter 
normalen Verhältnissen stets der Fall; nur für Augenblicke, 
sahen wir (S. 105f. und an anderen Stellen), vermag der nicht 
besonders Eingeübte bei gleichzeitiger Fixation das „Zentrum 
der Aufmerksamkeit“ an einen einem Punkte der Netzhautperipherie 
entsprechenden Ort des Sehraumes zu verlegen, wodurch dann 
die aus der „II. Komponente“ resultierende Benachteiligung des 
indirekten Sehens für Augenblicke völlig in Wegfall kommt; 
allein auch wenn sie nur während kurzer Augenblicke einge- 
schlagen wird, ist diese Verhaltungsweise, wie wir sahen, in 
hohem Grade anstrengend und ermüdend. Der Schielende wird 


! Genau genommen ist in dem Beweisgang, welcher zu unserer Den- 
tung der Versuche von D. und G. führte, noch eine Lücke, auf welche wir 
auch seinerzeit hinwiesen (S. 276). Allerdings glaubten wir nicht daran 
zweifeln zu dürfen, dafs wir uns, wenn die Wahl nur zwischen Hypothese 
„b“ und Hypothese „c“ wäre, für die letztere zu entscheiden hätten. Hin- 
gegen konnten wir Hypothese „a“, oder genauer, die Ansicht, wonach den 
von dieser Hypothese betonten Verhältnissen die Verantwortung für die 
Resultate von D. und G. ausschlie/[slich zuzuschreiben ist, — denn 
mitwirken werden jene Verhältnisse wohl zweifellos — bisher nicht in 
zwingender Weise widerlegen. Ein solcher zwingender Gegenbeweis ist 
nun aber in der Tatsache enthalten, dals die Pseudomakula Schielender in- 
folge von Übung eine Steigerung ihrer Sehschärfe erfahren kann. Der bei den 
Versuchen von D. und G. mögliche Einwand, dafs die Zahl der zur Übung 
benutzten Testobjekte eine beschränkte ist, dafs dieselben Zeichen immer 
wiederkehren, dafs die Vp. nach und nach auf gewisse Merkmale achten 
lernt, weil sie weifs, dafs diese Merkmale nur bei einem ganz bestimmten 
Zeichen vorhanden sind, trifft natürlich hier nicht zu. Ist die Sehschärfe 
an der Pseudomakula erhöht, so erscheint daselbst jeder beliebige Gegen- 
stand deutlicher, ohne dafs gerade dieser Gegenstand dem Patienten durch 
immer erneute Wiederkehr besonders vertraut geworden wäre. Die „Übung“ 
erfolgte ja hier nicht an einem eng begrenzten Kreis von Objekten, sondern 
an den zahllosen, ständig wechselnden Bildern, welche die Umwelt ins 
Auge gelangen läfst. 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 281 


sich nun den veränderten Bedingungen seines Sehens dadurch 
allmählich anpassen, dafs er, was die vom Schielauge gelieferten 
Bilder betrifft, das „Zentrum der Aufmerksamkeit“ nicht in 
dessen Fovea, sondern in seine „vikariierende Makula“ verlegt, 
welche ja beim zweiäugigen Sehen dieselben Bilder erhält, wie 
die Makula des „führenden Auges“, und in vielen Fällen sogar 
Sehrichtungsgleichheit mit der letzteren erlangt. Im Schielauge 
werden so die Fovea und der betreffende Punkt der Peripherie 
— die „vikariierende Makula“ — ihre Rollen hinsichtlich der 
„II. Komponente‘ dauernd und ein für allemal tauschen. Die 
Sehschärfe der „vikariierenden Makula“ wird über die Norm er- 
höht erscheinen, sowohl im Vergleich mit anderen Stellen von 
gleicher Exzentrizität innerhalb desselben Auges, wie auch unter 
Umständen im Vergleich mit einer genau übereinstimmend ge- 
legenen Stelle in einem normalen Auge; die Sehschärfe der ana- 
tomischen Makula wird unter dem Einflufs der „II. Komponente“ 
herabgesetzt sein. Für die uns hier zunächst beschäftigende 
Frage kommt es nur auf den ersteren dieser beiden Einflüsse an. 
Der Besprechung des an zweiter Stelle genannten Einflusses 
werden wir uns alsbald zuwenden (S. 283). 


Wenn wir eine Anpassung des Schielauges an die veränderten Be- 
dingungen seines Sehens annehmen, so bedienen wir uns damit nicht etwa 
einer durch die Empirie nicht gerechtfertigten, ausschlielslich teleologischen 
Argumentation, sondern wir befinden uns hier durchaus in Fühlung mit 
den Tatsachen. Eine Anpassung des Schielauges findet sogar insoweit statt, 
dafs sich selbst eine neue Korrespondenz beider Augen herausbilden kann, 
und dafs somit sogar die Raumwerte des Schielauges eine Änderung er- 
fahren können (vgl. hinsichtlich dieser allgemeinen Frage der Anpassung 
des Auges: TscHERMAK, Über physiologische und pathologische Anpassung 
des Auges. Vortrag. Leipzig 1900). Wir sind jedoch in der Lage, die 
zunächst als selbstverständlich hingenommene, aber einer Bestätigung be- 
dürftige Voraussetzung, welche unseren bisherigen Ausführungen zugrunde 
lag, einer spezielleren Nachprüfung zu unterziehen, wozu wir uns jetzt 
wenden wollen. 


Wir nahmen an, dals die Eigenschaft einer normalen Makula, 
„Zentrum der Aufmerksamkeit“ zu sein, auf die „vikariierende 
Makula“ eines Schielauges überzugehen vermag. Die oben ver- 
suchte Deutung der hinsichtlich der Sehschärfe gewonnenen 
Resultate würde an Sicherheit gewinnen, wenn sich aufser den 
die Sehschärfe betreffenden auch noch andere Tatsachen anführen 
liefsen, welche die Möglichkeit einer solchen Verlagerung des 


282 1I. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


„Zentrums der Aufmerksamkeit‘ dartun. Eine solche Tatsache 
ist nun wirklich bekannt. 

Diejenige Stelle der Netzhaut, welche das natürliche und 
beim Normalen während des grölsten Teiles des wachen Lebens 
wohl auch das wirkliche „Zentrum der Aufmerksamkeit‘ dar- 
stellt, — man gestatte diese unkorrekte, aber durchsichtige Ab- 
kürzung — die anatomische Makula, besitzt die Eigentümlich- 
keit, sich stets so einzustellen, dafs sie von einem sich vorher 
auf der Peripherie der Netzhaut abbildenden Lichtreiz, der die 
Aufmerksamkeit erregte, getroffen wird. Vermag nun bei Stra- 
bismus die „vikariierende Makula“ an Stelle der anatomischen 
zum natürlichen „Zentrum der Aufmerksamkeit“ zu werden, so 
ist zu erwarten, dals der motorische Apparat in solchen Fällen 
jenem exzentrischen Bezirk in analoger Weise gehorchen werde, 
wie sonst der Fovea. Die früher umstrittene Frage, ob dieses 
als möglich angedeutete Verhalten tatsächlich eintritt, ist nun in 
bejahendem Sinne entschieden. Wohl ist die Tatsache schon 
seit langem bekannt, dafs eine Reihe von Schielenden einem 
bei Verdeckung des „führenden Auges“ zu fixierenden Gegen- 
stand einen etwa um den Betrag des Schielwinkels exzentrisch 
liegenden Netzhautbezirk gegenüberstellt. Wie aber TSCHERMAK 1 
und namentlich M. Sacus? hervorhoben, enthält diese Tatsache 
noch keine Nötigung zu der Annahme, dafs der motorische 
Apparat jenem exzentrischen Bezirk in analoger Weise gehorche 
wie sonst der Fovea. Die Meinung von M. Sachs ging vielmehr 
dahin, dafs in den genannten Fällen diejenige Innervation er- 
folge, welche die Fovea des verdeckten Auges zur Einstellung 
bringt, und dafs somit die Einstellung jenes exzentrischen Be- 
zirkes nur als ein mechanischer Nebenerfolg der lediglich auf 
das verdeckte Auge gerichteten Innervation eintrete. Sachs be- 
stritt die Möglichkeit, dafs eine exzentrische Netzhautstelle den- 
selben Einflufs auf den motorischen Apparat gewinnen könne 
wie die Fovea. Dafs dieser Fall trotzdem eintreten kann, ist 
durch neuere Beobachtungen sichergestellt. Unilaterale Stra- 
bismen, welche die Fähigkeit, mit der Fovea des Schielauges zu 
fixieren, verloren haben, bringen nämlich auch nach Korrektur 


! Über anomale Sehrichtungsgemeinschaft der Netzhäute bei einem 
Schielenden. Arch. f. Ophth. 47, S. 531. 
® Über das Alternieren der Schielenden. Arch. f. Ophth. 48, S. 451. 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 283 


der Schielstellung durch Operation bei Verdecken des normalen 
Auges das andere vielfach in eine Lage zu dem vorgehaltenen 
Objekte, welche der früheren Schielstellung bei Fixation mit 
dem normalen Auge mehr oder weniger gleichkommt. Dabei 
steht das letztere nun hinter der Deckung in entsprechend ver- 
änderter Ablenkung (bei ehemaligem Strabismus conv. nach 
aulsen). Es besteht also, während der Patient mit dem Schiel- 
auge nach dem vorgehaltenen Objekte zu blicken vermeint, eine 
ganz andere motorische Innervation als in der einstigen Schiel- 
periode.! 


b) Dals sich die Sehschärfe der Fovea des Schielauges in 
der Mehrzahl der Fälle herabgesetzt erweist, ist eine bekannte Tat- 
sache. Es ist das wegen seiner praktischen und theoretischen Wich- 
tigkeit vielfach erörterte Problem der Schielaugenamblyopie, 
welchem wir uns nun zuzuwenden haben. Denn wenn auch der 
Name des Symptoms auf die Fovea nicht besonders Bezug nimmt, 
vielmehr nur ganz im allgemeinen einen bestehenden Mangel an 
Sehschärfe auszudrücken scheint, so ist doch mit jenem Worte 
stets die Herabsetzung der Sehschärfe der Fovea gemeint. Dieser 
Sprachgebrauch ist auch durchaus berechtigt, da ja eine Herab- 
setzung der Sehschärfe der Fovea stets als eine Herabsetzung 
der Sehschärfe schlechthin in Erscheinung treten mufs; denn 
wenn auch in gewissen Fällen die Sehschärfe einer exzentrischen 
Stelle der Netzhaut über die Norm gesteigert sein kann, so wird 
sie doch hinter der der Fovea normalerweise zukommenden Seh- 
schärfe wohl in allen Fällen zurückbleiben, und daher wird die 
absolute Leistungshöhe des normalen Sehorgans von solchen 
Augen nie erreicht. 

Die früher — hauptsächlich von ScHwEIGGER — vertretene 
Ansicht, dafs es sich bei der Schielaugenamblyopie ausschliefs- 
lich um eine kongenitale, in irreparabeln anatomischen Verhält- 
nissen begründete Veränderung handele, scheint gegenwärtig so 
gut wie allgemein verlassen zu sein. Über den Eintritt einer 
Besserung des Schielauges nach erfolgreicher Ausführung der 
korrigierenden Operation berichten Romıf; ?, BURCHARDT ê, RısLey®, 





! Bıierschowsky l. c. S. 471. 

2 Annal. de la Soc. méd. chirurg. de Liège 1880. 
3 Charité-Annalen 17, 1892. 

t+ Ophthal. Review. 1893. S. 315. 


284 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


“ Bourseoist, Lewuitrox? (u. a.; weitere Angaben bei STRAUB *) 
Auch BrerscnowsKy (l. c. S. 488) machte die Erfahrung: ,„Be- 
„sonders Erwachsene, die einigermafsen zu beobachten vermögen, 
„pflegen nach Korrektur der Schielstellung anzugeben, dafs sie 
„mit dem Schielauge jetzt besser sähen als zuvor, eine Angabe, 
„die auch in der Regel durch genaue Funktionsprüfung zu be- 
„stätigen ist.“ Der Verlust des „führenden“ Auges hatte eine 
Besserung der Sehschärfe des Schielauges zur Folge in Fällen 
von JoHNson #, RıstLey ®, Panas ®, Java ? berichtet über methodische 
und während langer Zeit fortgesetzte Leseübungen, unter Ab- 
bindung des „führenden“ Auges, durch welche die Amblyopie 
erheblich gebessert wurde oder sogar schwand. Hierbei fixierte 
zuweilen das Schielauge anfangs unsicher, im Fortgang der 
Übungen immer sicherer. In einer Arbeit von M. Sıcas® wird 
über Beobachtungen von Fuchs berichtet, wonach der letztere 
oft Gelegenheit hatte, bei Kindern von der Zeit an, wo sie zu 
schielen begannen, eine fortschreitende Amblyopie zu konstatieren. 
SCHNABEL?’ begründet seine Anschauung, dafs das Zurückbleiben 
der Sehschärfe des Schielauges gegenüber derjenigen des führen- 
den Auges keine angeborene Anomalie darstelle, damit, dafs das 
gewöhnliche (Einwärts-) Schielen nach seiner Statistik nur 
äulserst selten vor dem dritten Lebensjahre erworben werde. 
Diejenigen nun, welche die Amblyopie für angeboren halten 
und das Schielen erst für die Folge der Amblyopie erklären, 
weisen ja auf die bekannte Erfahrung hin, dafs Menschen zu 
schielen anfangen, sobald eines ihrer Augen, durch welche Krank- 
heit immer, zu erblinden beginnt. Da nun in diesen Fällen, so 
argumentiert SCHNABEL, das Schielen der erworbenen Erblindung 
auf dem Fulse folgt, so wäre zu erwarten, dals das gewöhnliche 
Schielen, falls es wirklich aus „angeborener Amblyopie“ seinen 
Ursprung nähme, in der Regel nicht erst auf relativ höherer 
Altersstufe zur Entwicklung gelange. 
rn Recueil d'Ophthalm. 1893, S. 211. 

2 Ann. d'Oculist 1893, Bd. 109, S. 26. 

3 Arch f. Augenheilk. 33, 1896, S. 167. 

* Ophthalm. Review. 1893. S. 256. 

PTG 
® Traite d’Ophthalm. T. I, S. 758. 
7 Annal. d'Oculist. 1888. S. 217. 
8 
9 


Wien. Klin. Wochenschr. 1899. Nr. 25. 
Wien. Klin. Wochenschr. 1899. Nr. 22. 





V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 285 


Man sah sich daher genötigt, die Erklärung der Schielaugen- 
amblyopie als einer ausschliefslich oder vorwiegend angeborenen 
Anomalie durch eine andere Deutung zu ersetzen. Seitdem 
TscHERMAK (Arch. f. Ophth. 47, S. 508) die Vermutung geäulsert 
hat, dafs die „innere Hemmung“ des Schielaugenbildes möglicher- 
weise für die Sehschwäche des Schielauges verantwortlich sei, 
neigt man — dies gilt z. B. von BieLschowskyY — dieser Deutung 
zu. Jene „innere Hemmung“ äufsert sich in der „merkwürdigen 
„Tatsache, dafs die Eindrücke eines Auges, welches, für sich 
„allein geprüft, leidliche oder gar volle Sehschärfe besitzt, nur 
„unter komplizierten Versuchsbedingungen über die Schwelle des 
„Bewulstseins gebracht werden können, sobald dieses Auge nach 
„Übernahme der Fixation durch das andere Auge in Schiel- 
„stellung geht.“ Die Natur dieses Vorganges der inneren 
Hemmung ist noch wenig aufgeklärt. „Nur soviel steht wohl 
„fest, dafs das Fehlen der Aufmerksamkeit hierbei eine Rolle 
„spielt. In vielen Fällen gelingt es nämlich, durch Übung im 
„Verteilen der Aufmerksamkeit die Hemmung zu verringern, die 
„Schielaugenbilder also mit gröfserem Gewicht über die Schwelle 
„treten zu lassen, ein Erfolg, der an die durch Übung zu er- 
„zielende Steigerung der exzentrischen Sehschärfe beim unokularen 
„Sehen erinnert“ (Brerschowsky l. c. S. 474). Man hätte nun 
anzunehmen, dafs jene „innere Hemmung“ und der damit ver- 
bundene Mangel an Übung schliefslich zu einer dauernden Herab- 
setzung der Sehschärfe führt; d. h. dals sich die Sehschärfe in- 
folge der dauernden inneren Hemmung schliefslich auch dann 
herabgesetzt zeige, wenn das Schielauge allein geprüft wird, 
wenn also die Ursache, welche für die innere Hemmung verant- 
wortlich gemacht werden mulfs, ausgeschaltet ist. Hinsichtlich 
der Annahme, dafs die „innere Hemmung“ auch nach Beseitigung 
ihrer Ursache noch nachzuwirken vermag, könnte man sich 
vielleicht auf die folgende Beobachtung berufen. „Bei plötz- 
„lichem Verdecken des führenden Auges wird dem Patienten 
„alles undeutlich, und erst in dem Augenblicke, in welchem die 
„Fixationsabsicht auf das Schielauge übergeht, verschwindet die 
„Hemmung: das Auge besitzt wieder seine volle Leistungsfähig- 
„keit“ (BIELScHowsKY 1. c.). 


Wir wollen im folgenden die an die Tatsache der ‚inneren 
Hemmung“ anknüpfende Erklärung der Schielaugenamblyopie 


286 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


als „Hypothese A“, die auf dem A. F. G. fulsende Deutung als 
„Hypothese B“ bezeichnen. 


Nehmen wir an, die Netzhautbilder des betreffenden Schiel- 
auges seien durchweg entwertet, die Amblyopie beruhe also 
darauf, dafs die Netzhaut infolge von allgemeiner Hemmung 
und Mangels an Übung in allen Partien funktionell unterwertig 
geworden sei, so mülste sich auch die Sehschärfe des Schielauges 
an allen Netzhautstellen herabgesetzt zeigen. In schroffem und 
unausgleichbarem Widerspruch hierzu steht die Tatsache, dafs 
die mit der Fovea des führenden Auges sehrichtungsgleiche 
Stelle vielfach eine über die Norm gesteigerte Sehschärfe zeigt. 
Denn die Annahme einer abnorm hohen Übung jener Stelle 
darf man nicht machen, so lange man voraussetzt, dals dieganze 
Netzhaut des Schielauges der „inneren Hemmung“ und demzu- 
folge, wie man annimmt, einem gegenüber den Verhältnissen 
des normalen Sehens exzessiven Übungsmangel unterliegt. 


So käme also die „Hypothese A“ nur dann in Betracht, 
wenn man annehmen dürfte, dals nicht alle Bezirke der Netz- 
haut des Schielauges gleich stark „gehemmt“ seien, sondern dafs 
die „Hemmung“ an verschiedenen Stellen einen verschiedenen 
Betrag besitze oder überhaupt nur gewisse Regionen der Netz- 
haut beträfe In der Tat ist der Begriff der ‚regionären 
Exklusion“ den Ophthalmologen seit A. v. GrÄre geläufig. Man 
hätte nun, falls an die Durchführbarkeit der „Hypothese A“ 
überhaupt zu denken sein sollte, nach Vorstehendem anzunehmen, 
dafs die Hemmung an der Stelle der Pseudomakula in der Mehr- 
zahl der Fälle entweder ganz fehle, oder wenigstens, verglichen 
mit der Stelle der anatomischen Makula und anderen Punkten 
der Peripherie, einen besonders geringen Betrag besitze. Das 
Gegenteil ist der Fall. Der mit der Makula des führenden Auges 
sehrichtungsgleiche Bezirk pflegt von der inneren Hemmung 
besonders stark betroffen zu sein. „Der von den Eindrücken 
„desselben gelieferte Anteil am Sammelbilde ist häufig mit den 
„üblichen Methoden überhaupt nicht nachweisbar. Daran trägt 
„die mangelhafte Leistungsfühigkeit der exzentrischen Stellen 
„keineswegs allein die Schuld, was daraus hervorgeht, dafs die 
„Verschiebung des Bildes auf noch weiter peripher gelegene 
„Stellen oft ein sofortiges Hervortreten desselben in entsprechend 
„geänderter Richtung bewirkt“ (BreLschowsky ]. c. S. 475). 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 287 


In dem von ScHLODTMANN ! besonders genau untersuchten 
Fall (Fall Krause) „zeigten sich zwei Stellen in der Netzhaut 
„des schielenden Auges durch innere Hemmung ausgezeichnet. 
„Einmal die Fovea nebst ihrer Umgebung, und ferner die mit 
„der fixierenden Fovea sehrichtungsgleiche Stelle nebst ihrer 
„Umgebung. Und zwar ist sie an den beiden bezeichneten 
„Stellen selbst am stärksten und klingt peripheriewärts allmählich 
„ab, so dals rechts in einer Entfernung von ca. 10°, links in 
„einer solchen von 8° nach unten von der Fovea nichts oder 
„kaum mehr etwas von innerer Hemmung nachweisbar ist“ 
(vgl. auch die Tabelle l. e. S. 267). 

Über Beobachtungen, welche gleichfalls dartun, dafs die 
„innere Hemmung“ im Bereich der Pseudomakula einen be- 
sonders hohen Grad besitzt, berichtet auch M. Sacus.*® 

In besonders instruktiver Weise aber zeigt sich das Ver- 
halten der „inneren Hemmung“, die genannte Netzhautstelle in 
besonders hohem Grade zu ergreifen, in Beobachtungen von 
TscHerMaK (l. c. S. 510ff.). Tscm. gehört zu den alternierend 
Schielenden, d. h. er ist imstande, willkürlich mit dem einen oder 
dem anderen Auge zu fixieren, während das zweite Auge jedes- 
mal in Schielstellung geht. „Auch bei Verdecken des einen 
„Auges, mit welchem ich bisher fixierte“, so berichtet jener 
Beobachter, „kann ich die Absicht, mit demselben weiter zu 
„„fixieren“, beibehalten. Dabei schielt sozusagen das andere, 
„allein offene Auge weiter, d. h. seine Gesichtslinie ist nicht auf 
„jene Stelle gerichtet, welche ich mit dem geschlossenen Auge 
„zu fixieren glaube. Dann treten wohl die bisher unterdrückten 
„Eindrücke des „schielenden* Auges ins Bewulstsein, jedoch mit 
„Ausnahme jener Stelle, welche ich mit dem geschlossenen Auge 
„jeweilig zu fixieren vermeine. An dieser nehme ich einen 
„relativ dunklen Fleck wahr: Es tritt also daselbst eine Partie, 
„und zwar anscheinend die zentrale, aus dem im übrigen nun- 
„mehr unterdrückten dunklen Sehfelde des verdeckten Auges, 
„auf welches dauernd die Fixationsabsicht gerichtet ist, über die 
„Schwelle des Bewulstseins.* Bringt Tsc#. vor beide Augen 
ungleiche farbige Gläser, z. B. ein gelblich-rotes vor das eben 


! Studien über anomale Sehrichtungsgemeinschaft bei Schielenden. 
Arch. f. Ophth. 51, S. 266. 
2 Über das Sehen der Schielenden. Arch. f. Ophth. 43, S. 605. 


288 . II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


fixierende und ein blaues vor das eben schielende, so erscheint 
an der Stelle des Fixationspunktes ‚eine Insel“, welche an- 
nähernd die Farbe des dem gerade führenden Auge vorgehaltenen 
Glases besitzt, und deren Umgebung die Erscheinung des Wett- 
streites darbietet (l. c. S. 526 ff.). 

Aus allen diesen Beobachtungen folgt, dafs die Sehschärfe 
im Gebiete der Pseudomakula, weit entfernt, eine Steigerung über 
die Norm zu erfahren, vielmehr eine ganz besonders starke 
Beeinträchtigung durch das Schielen erleiden müfste, wenn die 
Erklärung der Amblyopie durch den Hinweis auf die Erscheinung 
der „inneren Hemmung“ gerechtfertigt wäre. 


Wenn ScHLoDTMaANN (l. c.) in dem einen von ihm hinsichtlich der Seh- 
schärfe genauer untersuchten Falle (Fall Krause) an der mit der fixierenden 
Fovea sehrichtungsgleichen Netzhautstelle des Schielauges eine Erhöhung 
der Sehschärfe nicht konstatieren konnte, so ist das natürlich kein Gegen- 
beweis gegenüber den Beobachtungen A. v. Gräres und BiELscHowsKYs, 
sowie gegenüber unseren Ausführungen; namentlich auch darum nicht, 
weil bei dem Patienten — beiläufig bemerkt, trotz starker innerer Hemmung 
— die Erscheinung der Amblyopie entweder fehlt oder nur schwach aus- 
geprägt ist. Es ergab sich nämlich bei Zugrundelegung der von Fucas! 
modifizierten JÄGErrschen Schriftproben bei Prüfung unter Verlegung der 
Fixationsabsicht auf das geprüfte Auge — auch bei Krause ist das Schielen 
alternierend — für jede Fovea S = Nr. 1. Die Bedingungen für eine Ver- 
lagerung des Aufmerksamkeitszentrums sind also in diosem offenbar recht 
komplizierten Falle wohl nicht günstig gewesen. 

Dasselbe gilt wohl vom Falle Tscuermar. Auch hier fehlt die Erhöhung 
der Sehschärfe an der mit der jeweils fixierenden Fovea sehrichtungs- 
gleichen Stelle, aber gleichzeitig auch die Amblyopie. 


c) Eine besonders instruktive Bestätigung erhalten unsere 
bisherigen Ausführungen durch die Betrachtung eines sehr eigen- 
tümlichen, von Bıerscnowsky ? beschriebenen Falles (Fall Sturn). 
Sollte die Ausführlichkeit, mit der wir auf diesen Fall eingehen, 
an gegenwärtiger Stelle vielleicht nicht hinreichend gerecht- 
fertigt erscheinen, so ist zu bemerken, dafs dieser Fall an späterer 


! Leseproben für die Nähe. Jägers Schriftskalen, modifiziert von Prof. 
E. Fucus, Wien, 189. S = Nr. 1 bedeutet: normale Sehschärfe. 

® Über die monokuläre Diplopie ohne physikalische Grundlage nebst 
Bemerkungen über das Sehen Schielender. Arch. f. Ophth. 46, S. 143. (Im 
folgenden zit.: „Monokuläre Diplopie“.) — Es ist dies, wie TSCHERMARK (l. €. 
S. 531) bemerkt, etwa der 12. derartige Fall, aber der erste, welcher ein- 
gehender untersucht wurde. 


FV. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 289 


Stelle (8. 306ff.) im Zusammenhange unserer Betrachtungen 
noch eine besondere, über den Wert einer ausnehmend instruk- 
tiven Bestätigung des Bisherigen hinausgehende Bedeutung be- 
sitzen wird, und dafs jene etwas gröfsere Ausführlichkeit haupt- 
sächlich im Interesse der Vermeidung von Wiederholungen an 
späterer Stelle eingehalten wurde. 


Der Patient, ein intelligenter und alle während der ausgedehnten Unter- 
suchung an ihn gestellten Anforderungen mit Eifer und Interesse voll- 
ziehender Mensch, sucht wegen perforierender Verletzung des rechten 
Auges die Klinik auf. Wegen heftiger Iridocyclitis wird nach wenigen 
Tagen die Enukleation des rechten Auges erforderlich. Bezüglich des 
linken Auges war anamnestisch zu ermitteln, dafs es von jeher schwach- 
sichtig gewesen sei und etwas nach einwärts geschielt habe. 5 Jahre früher 
war in der Klinik von SchwEisser Amblyopia congen. oc. sin. (Sehschärfe 
5) festgestellt worden. — Wenige Tage nach der Entlassung kommt der 
nunmehr einäugige Patient mit der Meldung zur Klinik, dafs er alles dop- 
pelt sähe. Fixiert er einen Gegenstand, so sieht er ein zweites Bild des- 
selben links und etwas tiefer, das ihm matter in der Farbe erscheint und 
daher von ihm spontan als „Trugbild“ bezeichnet wird. Anfangs wurde 
den Angaben des Patienten Mifstrauen entgegengebracht, da sich keinerlei 
Anhaltspunkte für eine physikalische Grundlage des Doppeltsehens ergaben. 
Da jedoch der Patient seine Aussagen immer von neuem und mit völliger 
Bestimmtheit wiederholte, schritt man zu einer eingehenden Untersuchung 
des Falles. Der Patient wurde auch Herına vorgestellt, welcher sich bereit 
fand, in seinem Institut eine gröfsere Reihe von Versuchen mit demselben 
anzustellen (Bericht darüber l. c. S. 147 ff.). Diese eingehende Untersuchung 
bestätigte die Angabe des Patienten in der Tat dahin, dafs bei ihm wirk- 
lich monokuläres Doppeltsehen ohne physikalische Grundlage vorlag. Zum 
„Pseudozentrum“ war in diesem Falle eine ca. 1,4 mm nach innen und 
oben von der linken Makula gelegene Stelle geworden. Sie empfing, solange 
das rechte Auge intakt war, die gleichen Bilder, wie die rechte Makula, 
und verlegte dieselben in die auch der letzteren Netzhautstelle zugehörige 
Sehrichtung. Bei jedem Fixationsimpuls stellte sich das Pseudozentrum 
auf das betreffende Objekt ein und wurde somit: zum Ausgangspunkt der 
Orientierung. Zur Erklärung des Doppeltsehens sieht sich BIELSCHOWSKY 
veranlafst, folgende beiden Annahmen zu machen (l. c. S. 181 ff.): 

1. Wenn nichtkorrespondierende Netzhautstellen lange Zeit hindurch 
in immer gleicher Weise zusammenwirken müssen, so kann die Netzhaut 
des von der normalen Richtung abweichenden Auges zu ihren angeborenen 
Raumwerten neue erwerben, welche die ersteren zwar zeitweilig in den 
Hintergrund drängen, jedoch niemals ganz beseitigen können. 

2. Jede Zerstörung einer Pseudokorrespondenz läfst alsbald die ange- 
borenen Funktionen entweder ausschlief[slich in ihre Rechte wiedereintreten 
oder ruft einen eigentümlichen Kampf der alten und neuen Raumwerte 
hervor, der früher oder später wohl stets zugunsten der ersteren ent- 
schieden wird. Dieser Kampf äufsert sich in verschiedenartiger, rasch 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 19 


290 Il. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


wechselnder Lokalisation seitens des schielenden Auges oder — in reinster 
Form — in monokulärer Diplopie. 


Der nähere Untersuchungsbefund dieses besonders sorgfältig 
untersuchten Falles bestätigt durchaus die Ansicht, zu welcher 
wir sowohl hinsichtlich der indirekten wie auch der direkten 
Sehschärfe durch die Analyse der weniger ungewöhnlichen Schiel- 
fälle gelangten. 

Beim zwanglosen Sehen stellt der Patient einem zu fixieren- 
den Gegenstand stets das Pseudozentrum gegenüber. Er erhält 
so ein Bild, welches „besser“, „d. h. gesättigter in der Farbe ist“ 
im Vergleich zum Falle der Einstellung der Makula, und es 
„fällt ihm stärker ins Auge“. Bei Fixation mit dem Pseudo- 
zentrum glaubt er aus diesen beiden wohl eng miteinander zu- 
sammenhängenden, vielleicht sogar identischen Gründen den 
„wirklichen“ Gegenstand zu fixieren, während er bei Einstellung 
der Makula am „wirklichen“ Gegenstand vorbeizusehen und das 
„Trugbild“ anzublicken vermeint.' Man hat wohl anzunehmen, 
dafs die Aufmerksamkeit des Patienten zur Zeit der Unter- 
suchung — und natürlich erst recht in der voraufgegangenen 
Epoche des zweiäugigen Sehens — den von der Pseudomakula 
gelieferten Eindrücken mit höherer Intensität zugewandt war als 
den durch die anatomische Makula gelieferten, dafs sich das 
„Zentrum der Aufmerksamkeit“ von seinem „natürlichen Orte“ — 
sit venia verbo — der anatomischen Makula, nach der Pseudo- 
makula verlagert hat. Man wird demnach auf Grund des A. F. G. 
erwarten, dafs sich die Sehschärfe der Fovea unmittelbar nach 
der Enukleation des „führenden Auges“ als herabgesetzt erweise, 
und dafs in der darauffolgenden Zeit wegen der Beseitigung der 
Ursache für die Verlagerung des Aufmerksamkeitszentrums und 
wegen der Rückkehr desselben an seinen natürlichen Ort? eine 
fortschreitende Besserung der fovealen Sehschärfe, Hand in Hand 
mit einer Verschlechterung der „Güte“ des pseudomakularen 
Bildes, eintreten werde. — Diese Vermutung bestätigt sich in 
vollem Umfange. 


! Dals diese Schilderung der Bedingungen für das Auftreten von „Trug- 
bild“ und „natürlichem Bild“ zutrifft, werden wir alsbald sehen. 

? Dafs das „natürliche Aufmerksamkeitszentrum“ mit der Zeit an 
seinen gewöhnlichen Ort, die anatomische Makula, zurückkehrt, kann man 
wohl daraus entnehmen, dafs der Patient mit fortschreitender Zeit immer 
häufiger die anatomische Makula einstellt. 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 291 


Im Jahre 1896 beträgt die Sehschärfe des Patienten !/,,. 
Derselbe Wert hatte sich, wie auf Grund der Krankenlisten fest- 
gestellt wurde, im Jahre 1891 bei der Untersuchung in der 
ScHwEisserschen Klinik ergeben. In dem langen, zwischen 
beiden Untersuchungen liegenden Zeitraum ist die Sehschärfe 
demnach unverändert geblieben. Sowie nun aber das rechte 
Auge enukleiert und damit der Grund für die Verlagerung des 
Aufmerksamkeitszentrums beseitigt ist, erfährt die Sehschärfe des 
Patienten, um BIELSCHowsKys eigene Worte zu gebrauchen, „eine 
ganz erstaunliche Steigerung“, besonders in Rücksicht darauf, 
„dals man eigentlich bei kongenital amblyopischen Augen kaum 
„auf eine derartige Hebungsfähigkeit der Sehschärfe zu rechnen 
„pflegt.“ Schon im Januar 1897 (drei Monate nach der Operation) 
ist die Sehschärfe auf fast '/, gestiegen.” Der Patient gibt 
spontan an, dafs das „Trugbild“ mit der Zeit viel deutlicher ge- 
worden sei, „indem z.B. ein feiner Bleistiftstrich, der früher nur 
„im „natürlichen“ Bild gesehen wurde, jetzt besser im „Trugbild“ 
„sichtbar sei“. Bezüglich des „natürlichen“ Bildes stellte sich 
bei einer im Juli des gleichen Jahres mit dem Patienten vorge- 
nommenen Untersuchung heraus, dafs dasselbe so verschwommen 
war, dafs seine genaue ÖOrtsbestimmung dem Patienten nicht 
leicht wurde, und dafs sich aus diesem Grunde „ein beständiges 
„Berühren, bzw. Umkreisen des Objektes mit einem spitzen 
„Gegenstande, also eine fortwährende Auffrischung des Eindruckes“, 
als notwendig erwies. Im Mai 1898 hat die Sehschärfe eine 
weitere Steigerung erfahren; sie beträgt jetzt '/,. Gleichzeitig 
ist das „natürliche“ Bild nunmehr so undeutlich geworden, dals 
von vornherein nur auf das „Trugbild“ geachtet wird. Bei der 
letzten Untersuchung endlich (Juni 1899) konstatierte B. eine 
Sehschärfe von ?/,—!,. 


Es könnte befremdlich erscheinen, dafs der Fortschritt der Sehschärfe 
infolge der Übung nach so langer Zeit noch nicht zum Stillstand gekommen 


1 B. verwahrt sich (l. c. S. 157) ausdrücklich gegen die Unterstellung, 
dafs etwa zuvor nur die exzentrische Sehschärfe bestimmt worden wäre, 
und dafs darin die Erklärung für die grofse Differenz mit dem jetzt ge- 
fundenen (zentralen) Visus zu suchen sei. Der Patient konnte ja seit Ver- 
lust des normalen Auges willkürlich immer auch die Fovea des ihm ver- 
bliebenen Auges einstellen, und es fiel ihm selbst der Unterschied in der 
Deutlichkeit der Bilder auf, je nachdem sie exzentrisch oder zentral auf- 
genommen wurden. 

19% 


292 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


ist, während der Erfolg der Übung des peripheren Sehens eines Normalen 
bei DoprowoLsky und GaAmnE schon nach 6 Wochen einen kaum mehr zu 
überbietenden Maximalbetrag erreichte. Der Widerspruch verschwindet, 
wenn man sich gegenwärtig hält, dafs die Zurückversetzung des „natürlichen 
Aufmerksamkeitszentrums“! an seinen gewöhnlichen Ort, die der Makula 
entsprechende Stelle des Schraumes, bei dem Patienten lange Zeit in An- 
spruch nimmt. Blickt er doch selbst noch bei der letzten Untersuchung 
zuerst immer das „natürliche“ Bild an, wenn er auch, aufgefordert, sich 
ein möglichst scharfes Bild zu verschaffen, hinterher durch einen beson- 
deren darauf gerichteten Willensakt das „Trugbild“ „fixiert“. 


Wir haben, lediglich um die Klarheit der Darstellung zu erhöhen, 
einstweilen eine sogleich zu nennende Annahme von BiıELscHowsky gelten 
lassen, deren Recht in dem Bisherigen noch nicht erwiesen ist. 

Dafs der Patient einem Objekt die Pseudomakula bzw. die anatomische 
Makula gegenüberstellt, je nachdem er aufgefordert wird, das „natürliche“ 
Bild oder das „Trugbild“ anzublicken, daran ist allerdings schon nach 
dem bisher Mitgeteilten nicht zu zweifeln. Dagegen liefs sich noch nichts 
Sicheres darüber ausmachen, ob die beiden Bilder gleich oder verschieden 
aussehen, wenn der Patient die Stellung seines Auges unverändert läfst. 

Hält man sich an die unmittelbaren Aussagen des Patienten, so hat 
es zunächst den Anschein, dafs für das Auftreten jenes charakteristischen 
Unterschiedes der beiden Bilder die Ausführung zweier verschiedener Ein- 
stellungen des Auges gar nicht erforderlich sei. Die Begriffsbestimmung 
des „Trugbildes* und des „natürlichen“ Bildes, von welcher wir ausgingen, 
— wonach der Patient ein „Trugbild“ oder ein „natürliches Bild“ erhält, 
je nachdem er die anatomische Makula oder die Pseudomakula einstellt — 
rührt nämlich gar nicht von dem Patienten selbst her, sondern wird von 
B. aus den Aussagen und den Verhaltungsweisen des Patienten abgeleitet. 
Der Patient sieht immer zwei Bilder, und er bezeichnet das rechts ge- 
legene als „natürliches“ Bild, das links befindliche als „Trugbild“. B. 
gelangt (l. c. 8. 166) auf Grund dieses unmittelbaren Befundes zu seiner 
Deutung derselben durch folgende Überlegungen: „Dafs Patient bei unver- 
„änderter Fixation die beiden Bilder verschieden deutlich sieht, ist nicht 
„gut anzunehmen, da ja das Resultat der einfachen Netzhauterregung 
„jedesmal für die Beschaffenheit beider Bilder bestimmend ist. Es müssen 
„ihm bei Fixation des rechten Bildes beide verschwommen, bei Fixation 
„des linken beide scharf erscheinen; er beschreibt aber, gestützt auf die 
„vielen Beobachtungen dieser, von einer Änderung der Blickrichtung ab- 


! Auch beim Normalen kann für Momente eine Verlagerung des Auf- 
merksamkeitszentrums nach einem Punkte der Peripherie erfolgen. Bei 
ungezwungenem Verhalten befindet sich aber das Zentrum der Aufmerk- 
samkeit stets an der der Makula entsprechenden Stelle des Sehraumes. 
Statt des schleppenden Ausdrucks „Ort, welchen das Aufmerksamkeits- 
zentrum bei ungezwungenem Verhalten einnimmt“, bediene ich mich der 
Abkürzung „natürliches Aufmerksamkeitszentrum“. 


FV. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 293 


„hängigen Tatsache, auch bei gleichbleibender Fixation das rechte Bild so, 
„wie er beide sieht, wenn er das rechte, und das linke Bild so, wie er beide 
sieht, wenn er das linke fixiert.“ 


Für unbedingt zwingend halte ich diesen auf die „einfache Netzhaut- 
erregung“ Bezug nehmenden Beweis nicht; man kann jedoch auf folgenden 
Punkt hinweisen. Jeder Normale blickt einen Gegenstand an, wenn er 
aufgefordert wird, denselben zu beschreiben; niemand begnügt sich in sol- 
chen Fällen damit, den betreffenden Gegenstand nur im indirekten Sehen 
zu betrachten. Auch der Patient wird wahrscheinlich das „natürliche“ Bild 
z. B. immer so ‚schildern, wie es sich ihm darstellt, wenn er es anzublicken 
meint; er wird sich aber vermutlich, ebensowenig wie wir uns im ge- 
wöhnlichen Leben für die Analyse der durch die Netzhautperipherie ver- 
mittelten Wahrnehmungen interessieren, darum kümmern, wie dasselbe 
aussieht, wenn er seiner Meinung nach daran vorbeiblickt. Erwartet 
jemand, dafs der Patient für den Fall, dafs ihm bei unveränderter Augen- 
stellung beide Bilder tatsächlich gleich erscheinen würden, uns hiervon 
Mitteilung machen und das rechte Bild nicht immer als anders beschaffen, 
wie das linke, beschreiben würde, so könnte man auf diesen Einwand mit 
einigem Recht antworten, man könne ebensogut erwarten, dafs irgend ein 
Laie, der von den Eigentümlichkeiten der Empfindungen des peripheren 
Sehens keine Kenntnis besitzt, vor zwei in gewissem Abstand nebeneinander 
angebrachte grüne Farbenflecke gestellt und zu deren Beschreibung auf- 
gefordert, sagen würde, es sei immer einer grün und einer blau. 


Hierzu kommt noch, dafs dem Patienten die Augenbewegungen, mittels 
deren er von der Betrachtung des „natürlichen“ Bildes zu derjenigen des 
„Trugbildes“ übergeht, möglicherweise gar nicht zu Bewufstsein kommen, 
und dafs er schon darum die Wahrnehmungen im Falle nur einer Ein- 
stellung des Auges neben den Wahrnehmungen, welche er bei zwei- 
facher Augenstellung, also bei Zwischenschaltung einer Augenbewegung 
erhält, in seiner Schilderung auch dann nicht ausdrücklich hervorheben 
würde, wenn sich in jenen beiden Fällen — einfache Einstellung einer- 
seits, zweifache andererseits — ein Unterschied des Sinnes herausstellte, 
dafs die beiden Bilder in dem einen der beiden Fälle einander gleichen, 
im anderen voneinander verschieden sind; so dafs also aus dem Umstand, 
dafs der Patient einen solchen Unterschied der beiden Fälle nicht hervor- 
hebt, keineswegs gefolgert werden dürfe, ein solcher Unterschied bestehe 
nicht. — Wie leicht einem Augenbewegungen entgehen, davon wird man 
nicht selten unbeabsichtigterweise belehrt, wenn man während längerer 
Zeit einen Punkt eines kleinen farbigen Feldes fixiert. Während man das 
Auge ganz unbewegt zu halten glaubt, gewahrt man zuweilen plötzlich 
eine vom Nachbild herrührende scheinbare Verdopplung des Randes, falls 
nicht, was mir zuweilen begegnete, der Ort des Nachbildes von demjenigen 
des Objektes noch erheblich stärker abwich. Für gewöhnlich haben wir 
nun für die Ausführung von Augenbewegungen ein Kriterium an der uns 
bekannten Lage der Objekte der Aufsenwelt. Betrachte ich im .zweiten 
Augenblick ein Objekt, welches von dem im ersten Augenblick betrachteten, 
auf den Drehpunkt meines Auges bezogen, einen eine gewisse Grenze 


294 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


überschreitenden Winkelabstand besitzt, so weils ich, ich habe eine Augen- 
bewegung ausgeführt. Auch dieses Kriterium kann dem Patienten nicht, 
oder nur in sehr abgeschwächtem Mafse, zugute kommen, da er ja bei jenen 
Versuchen nicht mehrere reelle Objekte mit bekannten gegenseitigen Ab- 
ständen wahrnimmt, sondern nur zwei durch einen Abstand voneinander 
getrennte Dinge, welche gewissermafsen zwei verschiedenen Welten ange- 
hören — das eine der wirklichen, das andere einer chimärischen Welt — 
ein „natürliches“ Bild und ein „Trugbild“, beide inmitten eines gleichförmigen 
Grundes. — Die zum Übergang von der Einstellung der Pseudomakula zu 
derjenigen der Makula führende Exkursion ist ferner wohl auch nicht 
gro[s genug, um Spannungs- oder andere Organempfindungen des Auges 
mit Sicherheit merkbar werden zu lassen. 

Indes şo ganz befriedigend sind auch diese Erwägungen nicht. Ins- 
besondere gegen den herangezogenen Vergleich mit der Betrachtung zweier 
Objekte durch einen Normalen könnte man wiederum einwenden, es mache 
einen Unterschied, ob der Beobachter überzeugt ist, dafs wirklich zwei 
Objekte da sind, oder ob er weifs, dafs er infolge Obwaltens pathologischer 
Verhältnisse doppelt sieht. 

Nun scheint aber das A. F. G. nur dann auf den in Rede stehenden 
Fall anwendbar zu sein, wenn B.s Auffassung vom Wesen des „natürlichen“ 
Bildes und des „Trugbildes“ zutrifft. Denn die Anwendung des A. F. G. 
wurde ja nur darum nötig, weil sich die Verhältnisse der Sehschärfe hier 
in derselben charakteristischen Weise verschoben zu haben schienen, wie 
in den früher behandelten gewöhnlicheren Fällen von Schielen. Tritt aber 
die Verschiedenheit zwischen dem „Trugbild“ und dem „natürlichen“ Bild 
schon dann hervor, wenn das Auge seine Einstellung gar nicht ändert, 
sondern nur in einer Stellung beobachtet, so kann die Erscheinung, da 
eine „einfache Netzhauterregung“ vorliegt, nicht mit einer Verschiebung 
der Sehschärfeverhältnisse der Netzhaut in Verbindung gebracht werden. 
Es gewinnt daher den Anschein, als ob die Anwendung des A. F. G. auf 
den vorliegenden Fall nicht früher versucht werden dürfe, als bis die 
B.sche Deutung des Wesens von „Trugbild“ und „natürlichem“ Bild über 
jeden Zweifel sichergestellt ist. 

Wir haben trotz alledem von den bisherigen Ausführungen nichts 
zurückzunehmen. Denn erstens werden wir alsbald (S. 305) sehen, dals 
die Anwendung des A. F. G. auf den Fall selbst dann gerechtfertigt wäre, 
wenn das Gegenteil der B.schen Deutung zuträfe; und zweitens wird die 
ganze Kontroverse dadurch hinfällig werden, dafs wir an späterer Stelle 
(S. 310) den befriedigenden Nachweis für die Richtigkeit der B.schen 
Annahme zu erbringen tatsächlich in der Lage sein werden. Wir ver- 
schieben ihn, um Wiederholungen zu vermeiden. 


d) Es verlohnt sich, aus den beiden Hypothesen „A“ und 
„B“ noch etwas detailliertere Folgerungen zu ziehen und dieselben 
darauf mit dem Tatsachenmaterial zu vergleichen. 

Unser erster Schlufs lautet: Nach Hypothese „A“ wird 
man im allgemeinen erwarten, dafs der von jener Hypothese 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 295 


angenommene Einflufs des Schielens auf die Sehschärfe — Herab- 
setzung sowohl der makularen, wie auch der exzentrischen Seh- 
schärfe — um so stärker hervortreten wird, je beträcht- 
licher der Grad der inneren Hemmung ist. Die Gröfse der 
nach jener Hypothese zu erwartenden Abnormität der Sehschärfe 
ist somit nach ihr eine einfache Funktion des Betrages 
der inneren Hemmung. 

Zweitens schlielsen wir: Nach Hypothese „B“ wird man 
im allgemeinen erwarten, dafs der von jener Hypothese ange- 
nommene Einflufs des Schielens auf die Sehschärfe — Herab- 
setzung der Sehschärfe im Gebiete der Makula, Erhöhung der- 
selben in der Pseudomakula — um so stärker hervortreten 
wird, je günstiger in dem betreffenden Falle die Bedingungen 
für das Auftreten einer Verlagerung des Aufmerksamkeitszentrums 
sind. Nun werden wir sogleich zeigen, dals zwischen der Gunst 
dieser Bedingungen und dem Grade der inneren Hemmung kein 
einfacher Zusammenhang besteht, dafs vielmehr die Bedingungen 
für die Verlagerung des Aufmerksamkeitszentrums in zwei Fällen 
hervorragend günstig sein können, von denen sich der eine durch 
ungewöhnlich starke, der andere durch äulserst geringe Hemmung 
auszeichnet. Mit Benutzung dieser neuen Prämisse, deren Richtig- 
keit wir sogleich erweisen werden, können wir unserem zweiten 
Schlufs nun auch die Form geben: Nach Hypothese „B“ ist der 
von jener Hypothese angenommene Einfluls des Schielens keine 
einfache Funktion desGradesder inneren Hemmung, 
er zeigt mit diesem keinen erkennbaren Zusammenhang, dagegen 
ist er eine einfache Funktion der Gunst der Be- 
dingungen für das Auftreten einer Verlagerung des 
Aufmerksamkeitszentrums. 

Halten wir nun diese beiden verschiedenartigen Folgerungen 
an die bisher bekannten Tatsachen heran! Wir haben dabei 
allerdings zu bemerken, dafs die Verhältnisse der Sehschärfe bei 
Strabismus — im Gegensatz zu den Lokalisationsweisen — noch 
so wenig in systematischer Weise untersucht sind, dafs die Zahl 
der hierher gehörigen bekannten Fälle und Tatsachen noch rela- 
tiv gering ist. 

Wer von der Richtigkeit der Prämissen überzeugt ist, welche 
zu dem ersten der obigen Schlüsse führten, der dürfte Mühe 
haben, sich mit der Tatsache abzufinden, dals ein die Erschei- 
nung der „inneren Hemmung“ in hohem Grade darbietendes 


996 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Schielauge, dessen Eindrücke also nur unter komplizierten Ver- 
suchsbedingungen über die Schwelle des Bewulstseins gebracht 
werden können, sobald es nach Übernahme der Fixation durch 
das andere Auge in Schielstellung geht, nicht selten volle Seh- 
schärfe zeigt, wenn es für sich allein geprüft wird (BreLscnowskr, 
Arch. f. Ophth. 50, S. 474). Besteht hingegen zwischen der 
„inneren Hemmung“ und den Abnormitäten der Sehschärfe keine 
eindeutige Beziehung, so bereitet die erwähnte Tatsache keine 
Schwierigkeiten. 

Die Arbeiten Bıerschowskys erwecken den Eindruck, dals 
dem Verfasser ein recht umfangreiches Beobachtungs- und Opera- 
tionsmaterial zur Verfügung stand. Eine in den „Untersuchungen“ 
erwähnte Methode z. B. wurde in mehr als 100.Fällen zur An- 
wendung gebracht. Nun wird von dem Verfasser gerade auf 
das Resultat der Besserungsfähigkeit der Sehschärfe eines Schiel- 
auges grolses Gewicht gelegt. Nicht nur in der Monographie 
über „monokulare Diplopie“, sondern auch in den „Unter- 
suchungen‘ führt B. für die These von der nicht reinkongeni- 
talen Natur der Schielaugenamblyopie als schlagendsten Beweis 
stets die „ganz erstaunliche“ Änderung an, welche die Sehschärfe 
in dem Falle Sturm nach der Operation erfuhr. Man gewinnt 
bei der Lektüre der Ausführungen B.s den Eindruck, dafs der 
Fall nach Ausicht des Verfassers auch in Hinsicht auf die Ver- 
hältnisse der Sehschärfe ein Musterbeispiel von nicht alltäglichem 
Charakter darstellt. Wenn nun aber gerade in diesem Falle 
nach Aufhebung des Anlasses zum Schielen eine so ganz be- 
sonders erstaunliche Änderung der fovealen Sehschärfe eintrat, 
so muls das Schielen während der Zeit seines Bestehens hier 
einen ganz besonders nachteiligen Einflufs auf die Sehschärfe 
ausgeübt haben. Gemäls unserem ersten Schluls wäre also zu 
erwarten, dals das Schielauge des Patienten früher die Erschei- 
nung der inneren Hemmung in besonders hohem Grade dar: 
geboten habe. Nun besteht eines der Kennzeichen der inneren 
Hemmung eines Auges in der Aufhebung des binokularen Sehens 
und damit der exakten binokularen Tiefenwahrnehmung. Ob- 
wohl es sich nachträglich natürlich nicht mit unbedingter Strin- 
genz beweisen läfst, dals bei dem Patienten früher binokulares 
Sehen bestand, so weisen doch nach B. gewisse Anzeichen mit 
grolser Wahrscheinlichkeit darauf hin. Feine Tiefenunterschiede, 
auf deren Wahrnehmung es bei seiner Arbeit häufig ankommt, 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 297 


hat der Patient früher immer richtig erkannt, während er jetzt 
als Einäugiger ziemlich häufigen Täuschungen in dieser Hin- 
sicht unterworfen ist. Die innere Hemmung war also, falls 
überhaupt vorhanden, offenbar sehr gering. Dagegen bedarf es 
keines Beweises, dals die Bedingungen für das Auftreten einer 
Verlagerung des Aufmerksamkeitszentrums in diesem Falle ganz 
besonders günstig sind. Glaubt doch der Patient noch 3 Jahre 
nach der Operation das wirkliche Objekt nur dann zu fixieren, 
wenn er demselben die Pseudomakula gegenüberstellt. 

Weiter dürften der „Hypothese A“ diejenigen Fälle Schwierig- 
keiten bereiten, in denen trotz sehr bedeutender innerer Hem- 
mung sogar eine Steigerung der Sehschärfe in gewissen exzen- 
trischen Partien zu verzeichnen ist. B. selbst scheint diese 
Schwierigkeit zu empfinden, wenn er z. B. über den 2. Fall 
(Arch. f. Ophth. 50, S. 428) berichtet: „Sammelbilder sind 
„weder mittels des Stereoskops noch des Haploskops zu erzielen. 
„Binokulare Tiefenwahrnehmung ist nicht nachweisbar. Dem- 
„gegenüber erscheint es auffällig, dafs die Sehschärfe, die ein 
„im rechten Auge ca. 22° von der Fovea temporalwärts gelegener 
„Bezirk! zeigt, ungewöhnlich hoch ist; sie beträgt nämlich '/,,; 
„dieselbe Stelle im linken Auge hat nur !/,, Sehschärfe.“ 

Der „Hypothese B“ bereiten Fälle von der Art des soeben 
erwähnten keine Schwierigkeit. Denn selbst hochgradige Hem- 
mung scheint die Möglichkeit nicht auszuschliefsen, dafs die Be- 
dingungen für eine Verlagerung des Aufmerksamkeitszentrums 


günstige sind. Zu diesem Schlusse nötigt — wir füllen jetzt 
gleichzeitig eine in unserem Beweisgang noch verbliebene Lücke 
aus (s. 0.) — der 17. Fall in B.s „Untersuchungen“. In 


diesem Falle besteht nämlich eine sehr hochgradige „Unter- 
drückung“ des Schielaugenbildes. Das Schielaugenbild ist auch 
bei einer Prüfungsmethode (Maddoxprüfung), bei welcher die 
Überwindung der Hemmung für Augenblicke fast in allen Schiel- 
fällen gelingt, nicht zum Bewulstsein zu bringen. Trotzdem hat 
sich hier das Phänomen der unokularen Diplopie entwickelt, 
und der Patient stellt, wenn das gute Auge verdeckt wird, dem 


! Es besteht Strabismus diverg. alt. praec. oc. dextr. Der Schielwinkel 
beträgt 21—24°. Jener temporalwärts gelegene Bezirk befindet sich also un- 
gefähr an der Stelle der Netzhaut, an welcher man in diesem Falle eine 
„Pseudomakula“* zu erwarten hätte. 


298 Il. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


zu fixierenden Gegenstand eine exzentrische Stelle der Netzhaut, 
deren Lage bei den einzelnen Versuchen allerdings ein wenig 
schwankt, entgegen. Die Bedingungen für das Auftreten einer 
Verlagerung des Aufmerksamkeitszentrums scheinen somit günstig 
zu sein. Wie zu erwarten, tritt nach Ausführung einer die Ab- 
lenkung bis auf einen geringen Grad beseitigenden Operation 
eine erhebliche, sowohl objektiv nachweisbare, wie auch vom 
Patienten selbst bemerkte Besserung der makularen Seh- 
schärfe ein. 

Auch im Falle TscHermax besteht hochgradige innere Hem- 
mung des jeweils schielenden Auges; und trotzdem ist die Seh- 
schärfe beiderseits normal. Die ganz entsprechenden Verhält- 
nisse des Falles Krause sind schon erwähnt (S. 288). 


Vielleicht jedoch benutzt man den Fall Tscuermak gerade zur Ab- 
weisung unserer Annahme eines besonders engen Zusammenhangs zwischen 
dem Auftreten einer monokulären Diplopie einerseits und demjenigen einer 
Verlagerung des „natürlichen Aufmerksamkeitszentrums“ und damit einer 
Sehschärfeanomalie andererseits. 

Da auch TscuermaX an sich unokulare Diplopie beobachtet, so hätte 
man nach obigen Ausführungen auch in diesem Falle eine Verlagerung 
des Aufmerksamkeitszentrums und damit eine deutliche Sehschärfeanomalie 
zu erwarten. Die Sehschärfe ist aber hier, wie gesagt, beiderseitig normal. 

Indes lehrt die nähere Betrachtung des Falles Tscueruax sofort, dafs 
dieser Einwand unberechtigt ist. Die unokulare Diplopie zeigt sich näm- 
lich bei Tsch. nicht stets, und kaum wird er sich je, wie der B.sche 
Patient Srurm, durch dieselbe erheblich „gestört“ fühlen; tritt doch die 
unokulare Diplopie bei Tsch. nur unter künstlichen Versuchsbedingungen in 
Erscheinung, nämlich nur dann, wenn er ein Auge schliefst, und die Ab- 
sicht zu „sehen“ oder zu „fixieren“ auf das geschlossene Auge verlegt. 
Selbst unter diesen Versuchsbedingungen tritt die Erscheinung nur „mit- 
unter“ auf. Beim gewöhnlichen und, worauf es hier wohl besonders an- 
kommt, beim aufmerksamen und nicht gerade der Untersuchung der un- 
okularen Diplopie dienenden Sehen wird sich Tsch. der genannten Verhaltungs- 
weise wohl niemals bedienen. Verlangt man für diese Behauptung noch 
einen Tatsachenbeweis, so ist darauf hinzuweisen, dafs Tsch. im Falle der 
zur unokularen Diplopie führenden Verhaltungsweise dem Objekt eine 
exzentrische Netzhautstelle gegenüberstellt (l. c. S. 530), während er in praxi 
zwar auch nur ein Auge — je nach der Entfernung das weniger oder 
stärker myopische — benutzt, mit diesem aber wirklich fixiert. 


e) Die von uns gegebene Deutung der Erhöhung der Seh- 
schärfe innerhalb der mit der Fovea des führenden Auges seh- 
richtungsgleichen Stelle beseitigt auch eine andere Schwierigkeit, 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 299 


an welcher man — und zwar zunächst im Falle Sturm — An- 
stofs nahm. 

TscHERMAK (l. c. S. 545) hebt hervor, dafs bei ihm die Lage 
der mit der Fovea des jeweilig führenden Auges gleiche Reize 
erhaltenden Netzhautstelle erheblichen Schwankungen unterworfen 
sei. Hieran anknüpfend weist er darauf hin, dafs ein ähnliches 
Schwanken auch im B.schen Falle stattgefunden habe. Hierbei 
wird S. 149ff. und 167 der B.schen Arbeit („Monokuläre Diplo- 
pie“) zitiert, wo davon gesprochen wird, dafs die Streuung der 
Werte, welche sich aus der Bestimmung der Doppelbilder für 
die Lage der Pseudomakula ergeben, eine sehr erhebliche ist. 
TscuH. fährt fort: „Es erscheint mir nicht zweckmälsig, von einer 
„Pseudomakula oder von einem Pseudozentrum schlechtweg 
„zu sprechen: in meinem Falle gibt es einen flächenhaften Ort 
„jJeweiliger Pseudozentra.“ 

Gegen diese Ausführungen ist natürlich nichts einzuwenden. 
Bedenklich mufs es aber erscheinen, wenn SCHLODTMANN durch 
gleichartige theoretische Erwägungen die von B. beobachteten 
Tatsachen für unmöglich erklären zu müssen glaubt. Scum. führt 
nämlich (l. c. S. 268) folgendes aus: 


„Die Bezeichnungen „Pseudozentrum“ und „Pseudofovea* erwecken 
„leicht die falsche Vorstellung, als mülste die mit der Fovea des fixierenden 
„Auges sehrichtungsgleiche Stelle auch sonst noch, ev. auch durch höhere 
„Sehschärfe, vor analogen Stellen der Netzhaut ausgezeichnet sein. Bei 
„allen Fällen der 3. Gruppe! ist aber eine solche Erhöhung der Sehschärfe 
„von vornherein ganz undenkbar, da die Beziehung der beiden Netzhäute, 
pn... abgesehen von kleineren spontanen ÖOszillationen, bei einem Wechsel 
„der Abbildungsverhältnisse eine relativ erhebliche Änderung erfährt, d.h. 
„also, dafs jedesmal eine andere Stelle eines relativ ausgedehnten Areals 
„der schielenden Netzhaut mit der fixierenden Fovea in Sehrichtungs- 
„gemeinschaft tritt. Ein solcher Wechsel, wie er durch Änderung der 
„Versuchsbedingungen hervorgerufen wird, kann aber auch beim gewöhn- 
„lichen Sehen stattfinden. Es ist ebenso unwahrscheinlich, dafs unter 
“ „diesen Umständen eine bestimmte exzentrische Stelle der schielenden 
„Netzhaut eine höhere Sehschärfe durch Übung erwerben sollte, wie die- 
„jenige, welche ihr ihrer Lage nach zukommt, als es unwahrschein- 
„lich ist, dafs dieErhöhung der Sehschärfe denselben Wech- 
„selder Lagemitmachensollte, demdieSehrichtungsgemein- 
„schaftunterworfenist, d.h.also, dalsimmerdiejenige Stelle 
„gerade höhere Sehschärfe haben sollte, welche gerade zu- 


! Es wird auf eine von Tscueruak (Zentralbl. f. Augenheilk. 1899 Juli, 
S. 214ff.) vorgeschlagene Klassifikation der Schielenden Bezug genommen. 


300 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


„fällig mit der fixierenden Fovea gleichen Raumwert hat.! 
„Für die Fülle der dritten Gruppe haben wir ja gesehen, dafs im Schiel- 
„auge gerade eine Verminderung der Sehschärfe an der mit der fixierenden 
„Fovea sehrichtungsgleichen Stelle durch innere Hemmung auftritt; es wird 
„den betreffenden Stellen also keine Gelegenheit geboten, ihre Sehschärfe 
„über das normale Mafs auszubilden.“ ? 


Zunächst könnte man daran zweifeln, ob B. durch die Aus- 
führungen TscHh.s und Sc#Loprmanns wirklich getroffen wird. 
B. könnte nämlich auf S. 167 seiner Arbeit hinweisen, wo es 
folgendermalsen heilst: 


„Hinsichtlich der in grofser Zahl vorgenommenen Messungen des Ab- 
„standes der Doppelbilder könnten auf den ersten Blick wohl die in ziem- 
„lich weiten Grenzen schwankenden Ergebnisse befremden, da der gröfste, 
„für die Netzhaut berechnete scheinbare Bilderabstand — also der Abstand 
„der Makula von dem Pseudozentrum — nahezu doppelt so grofs als der 
„kleinste ist. Indessen fielen doch — wenigstens bei den Untersuchungen 
„im Januar 97 — nur relativ vereinzelte Resultate ganz aus dem Rahmen 
„heraus; weiterhin ist zu bedenken, dafs die Beobachtung im direkten 
„Sehen, an und für sich schwer für einen Ungeübten, nun gar bei einem 
„Individuum mit so mangelhafter Sehschärfe die gespannteste Aufmerk- 
„samkeit und infolgedessen sehr rasche Ermüdung bedingt. Patient selbst, 
„der den besten Willen hatte, unseren Ermahnungen bezüglich möglichst 
„genauer Angaben Folge zu leisten, klagte wiederholt über die Schwierig- 
„keit, den Ort des farbenschwachen Trugbildes mit Bestimmtheit zu be- 
„zeichnen. In überzeugender Weise wurde sein guter Wille, ebenso wie 
„die Schwierigkeit der Aufgabe, dadurch erhellt, dafs ihm mit Hilfe des 
„Kontrastes — durch zeitweiliges Verdecken der schwarzen Streifen resp. 
„Scheiben mit einem weifsen Papier — die Bestimmungen wesentlich er- 
„leichtert und seine Angaben schneller und präziser wurden.“ 


Hiernach hat es offenbar den Anschein, dals die erhebliche 
Streuung der für die Pseudomakula aus der Lage der beiden 
Bilder ermittelten Werte lediglich in der Schwierigkeit der dem 
Patienten gestellten Aufgabe begründet ist, nicht aber mit Not- 
wendigkeit auf ein beträchtliches Schwanken der Raumvwerte 
hinweist. 

Geben wir aber einen Augenblick zu, auch im B.schen Falle 
finde ein Schwanken der Raumwerte wirklich statt, so geht doch 
m. E. aus B.s Ausführungen keineswegs zwingend hervor, dals 


! Von uns gesperrt gedruckt. 

® Konstatiert ist vom Verfasser nur der besonders hohe Grad der 
inneren Hemmung in der Pseudomakula, nicht aber eine Verminderung 
der Selhschärfe derselben. 


F. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 301 


jene exzentrische Netzhautstelle, auf welcher die „Güte“ des 
Bildes erhöht ist, nicht eine gewisse flächenhafte Ausdehnung 
besitzen könne, entsprechend dem Umstand, dafs sich die Übung 
zu verschiedenen Zeiten auf etwas verschiedene Punkte der Netz- 
haut erstreckt. ! 

Vom Standpunkte unserer Auffassung vom Wesen der Übung 
der Netzhautperipherie aus brauchte aber auch derjenige an den 
von B. beobachteten Tatsachen nicht notwendig Anstols zu 
nehmen, welcher die Ausführungen dieses Autors mit ScHLoDpT- 
MANN in der Weise deuten wollte, dafs wirklich jedesmal nur 
eine ganz eng umgrenzte Stelle, nämlich die dem „wirklichen“ 
Bild jeweils gegenübergestellte Netzhautstelle, eine bessere Seh- 
schärfe besitze, und dafs die Sehschärfe von dieser Stelle aus 
sofort nach allen Seiten hin abnähme. 

Unsere Auffassung schliefst ja gar nicht mit Notwendigkeit 
die Annahme ein, dafs bei dem Patienten „eine bestimmte N etz- 
hautstelle* geübt ist. 

Nehmen wir an, die Raumwerte der Netzhaut des Patienten 


! Eine gewisse Schwierigkeit würde die Annahme, dafs ein relativ aus- 
gedehntes Areal der Netzhautperipherie eine gleichmäfsige Steigerung der 
Sehschärfe erfahren habe, m. E. nur dann enthalten, wenn man sich zu 
der Ansicht erklärte, dafs die Erhöhung der Sehschärfe eines Punktes der 
Netzhaut der Grund ist, aus welchem gerade dieser Punkt bei der Absicht, 
das Objekt zu fixieren, eingestellt wird. Denn wenn jenes Areal gesteigerter 
Sehschärfe relativ ausgedehnt wäre, und wenn innerhalb dieses Areales 
kein Punkt vor dem anderen einen Vorzug genösse, so würde der Patient 
— sit venia verbo — gar nicht wissen, mit welchem Punkte der Netzhaut- 
peripherie er „fixieren“ soll. Man müfste vielmehr annehmen, dafs die 
Einstellung unsicher, nur nach manchem Schwanken, und nicht so prompt 
erfolgen würde, wie das tatsächlich der Fall gewesen zu sein scheint. — 
Die gekennzeichnete Annahme eines Zusammenhanges zwischen Sehschärfe 
und Einstellungsbewegung ist nun aber durch die von B. beobachteten 
Tatsachen gar nicht gefordert. Es ist z.B. in jenen Tatsachen nichts ent- 
halten, was der von Tschermak und M. Sacus angedeuteten Möglichkeit 
(vgl. auch $. 282) widerspräche, dafs bei dem Patienten die gewöhnlich 
beliebte Einstellung einer extramakularen Stelle beim „Fixieren“ dadurch 
bewirkt war, dafs das Individuum in gewohnter Weise die Fixations- 
intention auf das kürzlich verlorene rechte Auge richtete, wobei das linke 
eben jene Schielstellung einnahm. — Freilich hat die von TSsCHERMAK 
und M. Sıchs geäulserte Vermutung durch die neueren Befunde von BieL- 
schowsky an Wahrscheinlichkeit verloren (vgl. S. 283), — Neben der von 
ersteren beiden Autoren hervorgehobenen Möglichkeit sind aber noch andere 
denkbar. 


302 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


unterlägen innerhalb eines bestimmten Bereiches einem gewissen 
Schwanken, so erhebt sich nämlich sofort die Frage, ob das 
Aufmerksamkeitszentrum diese Schwankungen mitmacht, oder 
ob es sich immer an einem einer bestimmten, niemals wechseln- 
den Netzhautstelle entsprechenden Orte des Sehraums befindet. 
Ich glaube, man darf mit einem erheblichen Grad von Wahr- 
scheinlichkeit annehmen, dafs man sich für das erste Glied der 
Alternative zu entscheiden hat. Der Patient ist ja, wenn er 
dem Objekt einen bestimmten exzentrischen Netzhautbezirk 
gegenüberstellt — im Sinne der TscuermAkschen Annahme ist 
der Grad der Exzentrizität zu verschiedenen Zeiten etwas ver- 
schieden — der Meinung, den wirklichen Gegenstand „anzublicken“. 
Mit dieser Meinung bzw. Aussage des Patienten scheint mir die 
Annahme nicht recht vereinbar zu sein, dafs sich das Aufmerk- 
samkeitszentrum in diesen Fällen zuweilen neben dem „natür- 
lichen“ Bilde, d. h. dem „wirklichen“ Gegenstand befinde, an- 
statt immer in ihm. Ein solches Auseinanderfallen von „wirk- 
lichem“ Gegenstand und Aufmerksamkeitszentrum mülste aber 
notwendig zuweilen stattfinden, wenn das Aufmerksamkeitszentrum 
die Schwankungen der Raumwerte nicht mitmachte, sondern ge- 
wissermalsen an einer bestimmten Netzhautstelle klebte. 
Ich glaube, man darf wohl annehmen, der Patient würde am 
wirklichen Gegenstand vorbeizusehen vermeinen, wenn seine 
Aufmerksamkeit vorwiegend auf eine dem wirklichen Gegenstand 
benachbarte Stelle des Sehraums gerichtet wäre und jener Gegen- 
stand selbst nur nebenher beachtet würde. Freilich ist das Pro- 
blem, worauf sich unser Urteil eigentlich stützt, wenn wir einen 
Gegenstand „anzublicken“ erklären, noch nicht systematisch in 
Angriff genommen worden. Unter normalen Verhältnissen, so 
könnte man wenigstens meinen, wird wohl der Umstand eine 
Rolle spielen, dafs die von der Fovea herrührenden Bilder sich 
vor den von anderen Netzhautteilen vermittelten durch erheblich 
gröfsere Schärfe auszeichnen. Allein ich glaube auf Grund ge- 
wisser Erfahrungen die Behauptung verantworten zu können, 
dafs dieser Faktor sicher nicht die einzige Grundlage des ge- 
nannten Urteils ist. Es ist mir bei Peripheriebeobachtungen, 
namentlich wenn die Fixation von langer Dauer war, einige 
Male begegnet, dafs ich für Augenblicke unsicher wurde, ob ich 
nicht vielleicht den peripheren Gegenstand, auf den ich meine 
Aufmerksamkeit stark konzentrierte, anstatt des vorgeschriebenen 


V. Kapitel., Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 303 


Fixierpunktes anblickte, obwohl der periphere Gegenstand hier- 
bei so undeutlich war, dafs ich mich nachträglich sofort dahin 
korrigierte, ich könne jenen Gegenstand unmöglich „angeblickt“ 
haben. Wenn ich mich auch, meines Wissens nur einige Male 
und nur für Augenblicke, zu direktem Irrtum verführen liefs, 
so habe ich doch bei starker Konzentration der Aufmerksamkeit 
auf ein seitliches Objekt stets den Eindruck, dafs in diesem Falle 
und in demjenigen, in welchem wirklich „fixiert“ wird, ein gleich- 
artiges Element, eine gleichartige sinnliche Unterlage gegeben 
ist. Eine gewisse Tendenz zu dem Urteil, der beachtete seit- 
liche Gegenstand werde von mir „angeblickt“, verspüre ich in 
solchen Fällen stets, wenngleich ich mich durch diese Tendenz nur 
relativ selten zu direktem Irrtum verführen lasse. Es will mir 
auf Grund dieser Erfahrungen scheinen, dafs die sinnlichen Er- 
lebnisse, welche wir haben, wenn wir unsere Aufmerksamkeit 
einem Gegenstande in konzentrierter Form zuwenden, jedenfalls 
mit zu den Grundlagen unseres Urteils gehören, wenn wir er- 
klären, einen Gegenstand „anzublicken“. 

Der Patient Sturm glaubt den Gegenstand „anzublicken“, 
obwohl er ihm eine exzentrische Netzhautstelle gegenüberstellt, 
und obwohl er, längere Zeit nach der Operation wenigstens, bei 
Einstellung der Makula — wobei er stets den Eindruck hat, am 
Gegenstand vorbeizusehen — das Objekt viel schärfer sieht. 
Das erste der beiden Kriterien, welche oben als beim Normalen 
wahrscheinlich mitwirkend aufgeführt wurden, kommt hiernach 
bei den Patienten nicht in Betracht. Es liegt also der Ge- 
danke nahe, das oben an zweiter Stelle genannte Kriterium 
spiele hier die alleinige Rolle. Der Patient „achtet“ vor- 
wiegend auf die vom „natürlichen“ Bild erfüllte Stelle des Seh- 
raums, nicht aber auf eine daneben gelegene, wenn er jenes 
Bild „anzublicken“ erklärt. 

Vielleicht hält man dieser Ansicht entgegen, sie trage dem Umstand 
zu wenig Rechnung, dafs der Glaube, den Gegenstand „anzublicken‘“, in 
der überwiegenden Mehrzahl der Fälle jedenfalls nur dann entstehe, wenn 
dem Objekt eine bestimmte Netzhautstelle gegenübergestellt werde. Diese 
nur relativ selten durchbrochene Konstanz des Zusammenhanges des ge- 
nannten Urteils mit der Gegenüberstellung einer bestimmten Netzhautstelle 
lege die Vermutung nahe, dafs in der irgendwie vermittelten Wahr- 
nehmung der Gegenüberstellung jener bestimmten Netzhautstelle das 
wichtigste Kriterium für das Urteil, einen Gegenstand „anzublicken“, ge- 
geben sei. 


304 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Hierauf ist zu sagen, dafs die Konstanz des genannten Zusammenhangs 
auch dann nicht unverständlich wäre, wenn die Wahrnehmung der Richtung 
unserer Aufmerksamkeit das wichtigste, ja sogar, wenn sie das einzige 
Kriterium dafür wäre, ob wir einen bestimmten Gegenstand „anblicken“. 
Herme nimmt bekanntlich an, dafs die Richtung der Aufmerksamkeit nach 
einer bestimmten Stelle des Sehraums der Blickbewegung, welche zur Fixa- 
tion jener Stelle führt, vorausgeht, und dafs der materielle Proze[s, welcher 
jener Aufmerksamkeitsrichtung zugrunde liegt, gleichzeitig die mecha- 
nische Ursache für das Auftreten der betreffenden Augenbewegung dar- 
stellt. Der beinahe konstante Zusammenhang zwischen dem Urteil, einen 
Gegenstand „anzublicken“, und der Gegenüberstellung einer Netzhautstelle 
von bestimmter Individualität nötigt also nicht zu der Annahme, es komme 
uns zu Bewulstsein, dafs wir dem Objekt eine Netzhautstelle von bestimmter 
Individualität gegenüberstellen, und in diesem psychischen Erlebnis sei 
die Grundlage unseres Urteils zu suchen. Die Konstanz des Zusammen- 
hangs wäre auch dann erklärt, wenn die Grundlage unseres Urteils im 
Sinne der obigen Andeutung ein Erlebnis wäre, dessen materielles Kor- 
relat gleichzeitig die Ursache für das Auftreten einer bestimmten Augen- 
bewegung darstellt, und damit auch die Ursache für die Gegenüberstellung 
einer Netzhautstelle von bestimmter Individualität. 

Macht nun bei dem Patienten das Aufmerksamkeitszentrum 
die Schwankungen der Raumwerte in der angedeuteten Weise 
mit, so ist es nach unserer Auffassung gar nicht verwunderlich, 
sondern es entspricht lediglich der gehegten Erwartung, wenn 
die jeweils dem „natürlichen“ Bild gegenübergestellte Netzhaut- 
stelle eine scheinbar erhöhte Sehschärfe besitzt, und wenn die 
Sehschärfe von jener Netzhautstelle aus scheinbar nach allen 
Seiten hin abklingt. An derjenigen Stelle des Sehraums, an 
welcher sich das „natürliche Aufmerksamkeitszentrum“ des 
Patienten jeweils befindet, an der er also gerade das „natürliche“ 
Bild sieht, herrscht die maximale Deutlichkeit, und von dort ab 
klingt dieselbe nach Malsgabe der scheinbaren Entfernung, welche 
die betreffenden Punkte des Sehraums von jener Stelle haben, 
und dementsprechend nach Mafsgabe ihrer „Unüberschaubarkeit“, 
ab. Dies ergibt sich aus dem A. F. G., welches von Aufmerk- 
samkeitsvorgängen handelt und insbesondere gar nichts darüber 
aussagt, ob — entsprechend der beim Normalen stets beobachteten 
Zuordnung von „natürlichem Aufmerksamkeitszentrum“ und 
Fovea — auch im B.schen Falle das „natürliche“ Bild und damit 
der Ort des „natürlichen Aufmerksamkeitszentrums“ stets genau 
ein- und derselben und unbedingt invariablen Netzhautstelle 
gegenüberliegt. Wegen jener Gleichheit des Ortes von natür- 
lichem Aufmerksamkeitszentrum und „natürlichem“ Bilde gehört 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 305 


vielmehr die Frage, ob der Zusammenhang zwischen „natürlichem 
Aufmerksamkeitszentrum“ und Netzhautstelle ein konstanter oder 
variabler ist, in die Diskussion des allgemeinen, aber gleichfalls 
an die Verhältnisse des Sehens der Schielenden anknüpfenden 
Problems, ob den neu erworbenen Raumwerten der Netzhaut 
dieselbe Konstanz und Unveränderlichkeit zukommt, wie den 
angeborenen. — Selbst wer es durch obige Überlegungen nicht 
für streng bewiesen hält, dafs bei dem Patienten das Aufmerk- 
samkeitszentrum die etwaigen Schwankungen der Raumwerte 
mitmachen wird, muls zugeben, dafs die Möglichkeit eines 
solchen Verhaltens nachgewiesen ist, und dafs somit die Denk- 
schwierigkeit, welche ScHLODTMAnN offenbar dazu führte, die 
Richtigkeit von BırLschowskys Beobachtungen zu bezweifeln, 
auf dem Boden der hier vertretenen Ansicht nicht besteht. 


Deutet man freilich — im Gegensatz zu der hier vertretenen 
Auffassung — den Erfolg der Übung als eine wirkliche Er- 
höhung der funktionellen Tüchtigkeit gewisser Netzhautelemente, 
und nimmt man mit TscHErMAR an, dals im B.schen Falle ein 
wirkliches Schwanken der Pseudomakula vorliege, so ist allerdings 
SCHLODTMANN darin recht zu geben, dals im B.schen Falle un- 


möglich eine eng umschriebene exzentrische Netzhautstelle er- 
höhte Sehschärfe zeigen könnte. — 


Die vorstehenden Erwägungen enthalten nun aber gleichzeitig die 
Rechtfertigung der früher (S. 294) aufgestellten Behauptung, dafs die 
Anwendbarkeit des A. F. G. nicht notwendig gleichzeitig mit der B.schen 
Deutung des Wesens von ‚„Trugbild“ und „natürlichem“ Bild hinfällig 
werden würde. Wir haben uns beim Rückblick auf jene früheren Betrach- 
tungen nur gegenwärtig zu halten, dafs in dem Falle nicht eigentlich eine Ver- 
lagerung des „natürlichen Aufmerksamkeitszentrums“ nach einer bestimmten 
exzentrischen Netzhautstelle, sondern nach dem Orte des „natür- 
lichen‘ Bildes stattgefunden hat. Die Redeweise, dafs diese Verlagerung 
nach einer bestimmten exzentrischen Netzhautstelle stattgefunden habe, 
ist nur eine von uns der Kürze wegen bevorzugte facon de parler, welche 
aber sofort sinnlos und irreführend werden würde, falls die Raumwerte 
des Patienten im Sinne der soeben aufgewiesenen Möglichkeit tatsächlich 
schwankten. Befindetsich nun aber das natürliche Aufmerksamkeitszentrum 
des Patienten am Orte des „natürlichen“ Bildes, so wäre es wenigstens 
recht wohl denkbar, dafs unter dem Einflufs des A. F.G. das „natürliche 
Bild“ auch dann das „bessere“ wäre, wenn der Patient an demselben — 
seiner Meinung nach — vorbeisieht, weil eben dann das „natürliche“ Bild 
mit dem „natürlichen Aufmerksamkeitszentrum“ zusammenfiele, während 
das „Trugbild“ aufserhalb desselben läge. — 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. 1V. 20 


306 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Ausdrücklich möchten wir uns noch gegen die Unterstellung verwahren, 
als nähmen wir an, der von uns hervorgehobene Faktor sei notwendig 
allein und ausschlie/[slich für das Zustandekommen der Schielaugen- 
amblyopie verantwortlich. Allerdings kann man nicht mehr daran zwei- 
feln, dafs ein Teil der Schielaugenamblyopie, gewissermalsen eine Kompo- 
nente derselben, auf Konto des Schielens zu setzen ist — mit dieser Kom- 
ponente des Symptoms hatten wir es allein zu tun und sie glaubten wir 
etwas anders deuten zu müssen, als bisher geschehen ist; dagegen ist 
m. E. die Frage noch nicht endgültig entschieden, ob die Schielaugen- 
amblyopie nicht vielleicht doch in einigen Fällen auch eine kongenitale 
Komponente besitzt. Vielleicht liegt die Wahrheit zwischen den einander 
meist schroff gegenübergestellten Theorien in der Mitte. Ein näheres Ein- 
gehen auf jene möglicherweise vorhandene kongenitale Komponente liegt 
jedoch gänzlich aufserhalb unseres Gegenstandes. Es mag der Hinweis 
genügen, dafs die Amblyopie des Schielauges auch nach Korrektur der 
Schielstellung keineswegs in allen Fällen verschwinden und nicht einmal 
stets eine bedeutende Rückbildung erfahren soll, dafs ferner nach dem 
Befunde Nvers! in manchen schielenden amblyopischen Augen Unregel- 
mälsigkeiten des Pigmentes in der Makula angetroffen werden, dafs ein- 
seitige Amblyopie eines Auges auch bei Individuen zur Beobachtung ge- 
langte, welche keine sonstige Anomalie aufwiesen. Die Zustimmung zu 
den von uns oben durchgeführten Erwägungen brauchte sogar, wenn keine 
anderen Gründe entgegenständen, niemanden daran zu hindern, mit den 
Vertretern der Ansicht vom kongenitalen Ursprung des Symptoms anzu- 
nehmen, dafs die „kongenitale Amblyopie“ häufig erst die Ursache des 
Strabismus sei. Gar nicht getroffen wird also durch unsere Erörterungen 
z. B. die Ansicht von Srraus?, der das so besonders häufige Zusammen- 
treffen der Amblyopie mit Hypermetropie einerseits, mit Strabismus 
andererseits, durch die Annahme zu erklären sucht, dafs hier infolge eines 
Traumas während der Geburt das eine Auge — in seltenen Fällen beide — 
schwachsichtig geworden sei, dafs dieses Auge infolgedessen oft die kon- 
genitale Refraktion, die normale Hypermetropie des Säuglings, beibehalte, 
oder sich, in gleichfalls zahlreichen Fällen, nicht an die normalen moto- 
rischen Funktionen gewöhne. (Einen eingehenden Literaturbericht gibt 
STRAUB l. c.) Selbst diese Deutung des kongenitalen Anteils, welche in der 
Amblyopie das primäre Phänomen erblickt, würde keineswegs das Zu- 
geständnis ausschliefsen, dafs der Strabismus, einmal eingeleitet, nun seiner 
seits die Amblyopie weiter zu steigern vermöge. 


82. 


Wir sahen uns im experimentellen Teil der vorliegenden 
Arbeit genötigt, das AUBERT-FoERSTERsche Phänomen als einen 


1 Traité d’Ophthalm. De Wecker et Lanport. T. III, S. 759. 
2 Statist. Beitr. zum Studium der Amblyopia congenita. Arch. f. 
Augenheilk. 33. 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 307 


höheren Grad, als eine Steigerung des Kosterschen Phänomens 
aufzufassen. Wenn sich unter irgendwelchen Bedingungen die 
erste dieser beiden Erscheinungen zeigt, wird man demnach auch 
die zweite anzutreffen erwarten. 

Wir wollen jetzt, diesem Gedanken nachgehend, den Unter- 
schied noch etwas näher ins Auge fassen, welcher in BieL- 
ScCHowsKys Falle von monokulärer Diplopie zwischen dem „natür- 
lichen“ Bild und dem „Trugbild“ besteht. Wir wollen wieder 
mit B. annehmen — das Recht dieser Annahme werden wir als- 
bald mit grölserer Strenge, als bisher, erweisen — dafs der 
Patient, wenn er das Aussehen des „natürlichen“ Bildes be- 
schreibt, die Beschaffenheit seines Doppelbildes im Falle der 
Fixation mit der Pseudomakula schildert, und dals sich die 
Charakterisierung des „Trugbildes“ auf den Fall der Einstellung 
der anatomischen Makula auf das im Auge entworfene Bildchen 
bezieht. 

Es wurde bereits erwähnt (S. 290), dals das „natürliche“ 
Bild „besser“, d. h. „gesättigter in der Farbe“ ist, und dafs es 
„ihm mehr ins Auge fällt“; das „Trugbild“ wird auch als „matter 
in der Farbe“ im Vergleich zum „natürlichen“ Bilde beschrieben. 
„Das Trugbild eines roten Objektes bezeichnet er z.B. als „rosa“ 
(l. e. S. 145). Für die Richtigkeit dieser Angaben des Patienten 
bürgt auch der Umstand, dals Sekundärerscheinungen auftreten, 
welche sich erfahrungsgemäls beim Matterwerden der Farbe eines 
Gegenstandes leicht zeigen, und die natürlich vom Patienten 
mangels seiner Kenntnis der psychologischen Gesetzmälsigkeiten 
unmöglich simuliert sein können. Hält nämlich der Patient eine 
rote Scheibe vor einen schwarzen Hintergrund, so scheint ihm 
das „Trugbild“ etwas weiter entfernt zu liegen als das „natür- 
liche Bild“, „da es schwächer in der Farbe ist“ (l. c. S. 149). 
Hierzu ist zu bemerken, dafs bei Beobachtungen von M. Sachs! 
die Kanten eines aus drei leuchtenden Drähten gebildeten Prismas 
je nach der Helligkeit des Glühens näher oder ferner zu stehen 
schienen. 

Die geschilderten Beobachtungen des Patienten stehen durch- 
aus in Übereinstimmung mit dem, was auf Grund des Kosrzr- 
schen Gesetzes unter den Bedingungen seines Sehens zu erwarten 


1 Festschr. z. Feier d. 25jähr. Best. d. Neurol. Instit. d. Univ. Wien. 


Wien 1908. 
20% 


308 Il. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


ist. Nach dem K. G. nimmt ja eine farbige Fläche mit Zunahme 
ihrer scheinbaren Entfernung vom „natürlichen Aufmerksam- 
keitszentrum“ — unter gewöhnlichen Umständen ist dies die 
anatomische Makula, im vorliegenden Falle die Pseudomakula — 
oder auch schon bei dem Herausfallen aus demselben, an 
Sättigung ab. Zur Konstatierung einer Sättigungsabnahme be- 
dient sich der populäre Sprachgebrauch des Ausdrucks, die Farbe 
werde „matter“ und mit dem Worte „Rosa“ bezeichnet jener 
Sprachgebrauch ein sehr wenig gesättigtes, helles Rot. 

Gehört ein Objekt, sowie der Hintergrund, vor welchem es 
dargeboten wird, der schwarz-weilsen Empfindungsreihe an, so 
dafs von einer Sättigungsänderung nicht die Rede sein kann, so 
äufsert sich die Wirksamkeit des K. G., wie wir sahen (S. 130 ff.), 
darin, dafs die Helligkeitsdifferenz zwischen Objekt und Grund 
bei Zunahme der scheinbaren Entfernung des Objektes vom 
natürlichen Aufmerksamkeitszentrum, bzw. beim Herausrücken 
aus demselben, kleiner zu werden scheint. Durchaus in Überein- 
stimmung hiermit stehen die Angaben, welche der Patient über 
den Unterschied zwischen dem Aussehen des „natürlichen“ Bildes 
und dem des „Trugbildes‘‘ macht. Es erschien nämlich „letzteres 
„bald heller, bald dunkler als das „natürliche“ Bild, und zwar 
„zeigte sich Helligkeit sowohl als Farbe in bemerkenswerter 
„Weise beeinflufst von den Eigenschaften des Grundes. So er- 
„schien dem Patienten das „Trugbild“ einer schwarzen Scheibe 
„auf schwarzem Grunde heller, von matterem Schwarz, als das 
„„natürliche* Bild; das „Trugbild“ einer weilsen Scheibe auf 
„schwarzem Grunde dagegen dunkler, also grau“ (l. c. S. 155). 
In beiden Fällen erscheint also die Helligkeitsdifferenz zwischen 
Objekt und Grund verkleinert. 

Obwohl das „natürliche“ Bild ‚besser‘ ist, in dem Sinne, 
dafs die verschieden gefärbten oder verschieden hellen Partien 
desselben gesättigter erscheinen, bzw. sich in ihren Helligkeiten 
stärker voneinander abheben, so ist doch das „Trugbild“ „deut- 
licher“, d. h. „schärfer konturiert“ (l. c. S. 147 und 155). Dies 
könnte in Anbetracht des Umstandes, dals eine Herabsetzung 
der Helligkeitsdifferenz zwischen Objekt und Grund im allge- 
meinen auch mit einem Undeutlicherwerden der Kontur ver- 
bunden zu sein scheint (vgl. S. 148), wundernehmen. Man darf 
jedoch nicht vergessen, dafs die Schärfe der Konturierung nicht 
nur von der aus dem A. F. G. erschlossenen „zweiten Komponente 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 309 


‚der Sehschärfe‘ abhängt, sondern auch, und wohl sogar in erster 
Linie, von der funktionellen Tüchtigkeit der an der jeweilig 
gereizten Stelle befindlichen Aufnahmeapparate. Die Schilderung, 
welche der Patient vom „natürlichen Bild“ entwirft, bezieht 
sich auf den Fall, dafs das im Auge entworfene Bildchen auf 
die Pseudomakula, also auf eine exzentrische Stelle, fällt; hin- 
gegen geht die Schilderung des „Trugbildes“ auf den Fall der 
Reizung der anatomischen Makula. Hinsichtlich der „ersten 
Komponente der Sehschärfe“ ist nun aber die anatomische 
Makula, wie bekannt, jeder Stelle der Netzhautperipherie, und 
somit auch der Pseudomakula, beträchtlich überlegen. Man pflegt 
bekanntlich diese Sonderstellung der Makula auf den Umstand 
zurückzuführen, dafs in der Netzhautgrube jeder Zapfen mit nur 
einer Nervenfaser verbunden ist, wohingegen in der Peripherie 
je eine der an die Stäbchen oder Zapfen angeschlossenen Nerven- 
fasern die Erregungen mehrerer Aufnahmeapparate weiterleitet. 
Es liegt auf der Hand, dafs diese anatomisch vorgegebenen 
Faktoren unter wie auch immer gestalteten psychologischen Be- 
dingungen in Wirksamkeit bleiben werden. 

Wahrscheinlich wäre das Übergewicht der makularen Seh- 
schärfe über die pseudomakulare — im Sinne der grölseren Schärfe 
der Konturierung — noch gröfser, als es tatsächlich ist, wenn 
nicht die letztere Netzhautstelle hinsichtlich des Faktors, welchen 
wir als „zweite Komponente‘ bezeichneten, günstiger gestellt 
wäre als die erstere. Denn dafs sich jener Faktor nicht nur im 
Sinne einer Änderung der Helligkeitsdifferenzen, sondern wie 
man nach Analogie des Zusammenhangs zwischen dem K. G. 
und dem A. F. G. erwartet, auch im Sinne einer Änderung der 
Sehschärfe im eigentlichen Verstande (Schärfe der Konturierung) 
geltend macht, geht schon aus unseren bisherigen Ausführungen 
zur Genüge hervor; und zwar sowohl aus den Beobachtungen 
an Normalen, wie auch aus der Betrachtung der speziellen Ver- 
hältnisse des Falles Sturm; denn der Patient erkennt in der 
ersten Zeit nach der Operation die ihm dargebotenen Zeichen 
mit der Pseudomakula besser als mit der Makula. Im Erkennen 
von Schriftproben aber zeigt es sich, inwieweit die Formen der 
Sehdinge, also auch ihre Konturen, deutlich wahrgenommen 
werden. 


Da die Deutung des Unterschiedes der beiden Bilder mit Hilfe des 
Kosterschen Gesetzes zur Voraussetzung hat, dafs sich das natürliche Auf- 


310 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


merksamkeitszentrum auch zur Zeit jener genaueren Untersuchung noch an 
der der Pseudomakula entsprechenden Stelle des Sehraums befand, so sei 
ausdrücklich hervorgehoben, dafs der Patient beim ungezwungenen Sehen 
auch damals noch stets nach dem „natürlichen“ Bild „schaute“. Allerdings 
„schaute“ er, sobald ihm aufgegeben wurde, sich von einem Objekt ein 
möglichst deutliches Bild zu verschaffen, nach dem „Trugbild“. Es ist aber 
für die vorherrschende Richtung seiner Aufmerksamkeit bezeichnend, dafs 
er hierbei die Empfindung hat, am wirklichen Objekte vorbeizusehen. 


In dem Umstand, dafs das „natürliche“ Bild hinsichtlich 
der Sättigung der Farben und der Ausprägung der Helligkeits- 
differenzen zwar „besser“, dagegen weniger scharf konturiert ist 
als das ‚„Trugbild“, glauben wir auch den noch ausstehenden 
sichren Beweis (vgl. S. 294) für die Richtigkeit der B.schen 
Deutung des Wesens von „natürlichem“ Bild und „Trugbild“ zu 
erblicken. Wäre die B.sche Annahme unzutreffend, würden dem 
Patienten die beiden Bilder auch schon bei nur einer Ein- 
stellung des Auges verschieden erscheinen, so mülste die ganze 
Verschiedenheit, da dann eine „einfache Netzhauterregung“ vor- 
läge, in der nervösen Sphäre begründet sein. Wir sahen aber, 
dafs die Verschiedenheit, welche zwischen der Reaktionsweise 
der nervösen Sphäre auf das ‚natürliche‘ Bild einerseits, auf das 
„Lrugbild“ andererseits besteht, gerade von der Art ist, dafs 
man auf seiten des „natürlichen“ Bildes eine Begünstigung nicht 
nur hinsichtlich der Verhältnisse des Lichtsinns, sondern auch 
hinsichtlich derjenigen der Kontur erwarten würde. In Wirk- 
lichkeit ist aber die Kontur des „natürlichen“ Bildes weniger scharf 
als diejenige des „Trugbildes“. Diesem Widerspruch zwischen 
dem erwarteten und dem tatsächlichen Verhalten können wir 
nur durch die Akzeptierung der B.schen Annahme entgehen, 
wonach tatsächlich keine „einfache Netzhauterregung“ vorliegt, 
und die Verschiedenheit beider Bilder nicht nach ihrem ganzen 
Betrage auf das Konto der nervösen Sphäre zu setzen ist. 


Man wird auf Grund der bisherigen Ausführungen zugeben, 
dafs sich der Unterschied im Aussehen der beiden Bilder mit 
Hilfe des K. G. in der Tat in ungezwungener Weise erklären 
läfst. Dieser Umstand enthebt uns jedoch nicht der Verpflichtung, 
die Frage zu untersuchen, ob nicht auch andere Erklärungen 
möglich sind. 

In der Tat gibt BıeLscuowsky für die Verschiedenheit der 
beiden Bilder eine andere Erklärung. Jedes Element der Netz- 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 311 


haut des Schielauges besitzt bei dem Patienten einen zweifachen 
Raumwert, den angeborenen und den neu erworbenen. Es be- 
steht darum wenigstens die Möglichkeit, dafs an jede Stelle des 
Sehraums zwei verschiedene Netzhautbilder projiziert werden 
können, nämlich diejenigen beiden, welche den betreffenden 
Raumwert im angeborenen System der Raumwerte einerseits, im 
erworbenen andererseits besitzen. Gleichwie in den von FECHNER 
inaugurierten Untersuchungen über die Verhältnisse des bin- 
okularen Sehens, so erhebt sich auch hier die Aufgabe, den (im 
Zentralorgan begründeten) Einfluls zu bestimmen, welche zwei 
an die gleiche Stelle des Sehraums projizierte Netzhauteindrücke 
aufeinander ausüben. Nach Analogie der Erscheinungen im 
binokularen Sehen ist zu erwarten, dals es sich hierbei entweder 
um Farbenmischung oder um Wettstreitphänomene handelt oder 
endlich um ein Hinter- oder Durcheinandersehen der Objekte. 

Bietet man ein Objekt vor einem anders gefärbten Grunde 
dar, so wird bei dem Patienten im allgemeinen aufser der nur 
die Netzhaut betreffenden auch eine im Zentralorgan bedingte 
Beeinflussung der Farbe des Objektes durch diejenige des Grundes 
stattfinden, da ja eine Partie des letzteren in dem einen System 
der Raumwerte den gleichen Raumwert besitzt, wie das Objekt 
in dem anderen. 

BiıerLschowskys Annahme geht nun dahin, dafs das „Trug- 
bild“ durch die Farbe und Helligkeit des Grundes in anderer 
Weise beeinflufst werde als das „natürliche“ Bild (l. ce. 8. 155 ff.). 
Bei ersterem zeige sich ein unverkennbarer Wettstreit der Farben, 
in gewissen Fällen sogar exquisite Farbenmischung. Dem- 
gegenüber besitze das „natürliche“ Bild — obwohl dies nicht 
ausdrücklich hervorgehoben wird, so gestatten die Ausführungen 
BırLscnowskys doch keine andere Interpretation —, die Eigen- 
schaft, im Wettstreit mit der denselben Raumwert besitzenden 
Partie des Grundes stets obzusiegen. — Wir wollen die Hypothese 
Bıescnowskys in Zukunft als „Hypothese «“, die unserige als 
„Hypothese £“ bezeichnen. 

Auf den ersten Blick besitzt die „Hypothese «“ sehr viel 
Einnehmendes. Denn auch sie wird der eigentümlichen Tat- 
sache gerecht, dals das „Trugbild“ je nach der Helligkeit des 
Grundes bald heller, bald dunkler erscheint als das „natürliche“ 
Bild. Das „Trugbild“ einer weilsen Scheibe auf schwarzem 
Grunde mischt sich nach jener Hypothese mit der Farbe der 


312 Il. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


den gleichen Raumwert besitzenden Partie des Grundes; es er- 
scheint „grau“, also dunkler als das „natürliche“ Bild, welches 
ja über die Farbe des Grundes einen völligen Sieg davontragen 
soll. Ebenso mufs eine schwarze Scheibe auf weilsem Grund 
im „Trugbilde“ wegen der hier wieder eintretenden Farben- 
mischung in matterem Schwarz erscheinen als dann, wenn der 
Patient das „natürliche“ Bild „anschaut“, in welchem Falle ja 
die Farbenmischung, der Annahme nach, ausbleibt. 

Wir bezeichneten es als eine „Annahme“, dafs sich das Ver- 
halten des „Trugbildes“ von dem des „natürlichen“ Bildes hin- 
sichtlich der Erscheinungen der Farbenmischung und des Wett- 
streites in der angedeuteten Weise unterscheidet. B. hält das in 
jener Annahme vorausgesetzte Verhalten für eine experimentell 
erwiesene Tatsache. Wir glauben behaupten zu dürfen, dafs die 
diesbezüglichen Ausführungen B.s nicht beweiskräftig sind. 

Dafs sich das „Trugbild“ vom „natürlichen“ Bilde in der 
angedeuteten Weise hinsichtlich der Farbenmischung und des 
Wettstreites unterscheidet, hält B. durch folgenden Versuch für 
erwiesen. Betrachtete der Patient eine graue Scheibe auf farbigem 
Grunde, so erschien das „natürliche“ Bild durch Simultankontrast 
deutlich in der jeweiligen Gegenfarbe; „im „Trugbilde‘ wechselte 
„diese Farbe mit der des Grundes ab, oder — wie er sich aus 
„drückte — die Farbe des „Trugbildes“ schien ihm durchsetzt 
„mit der des Grundes“ (l. e. S. 155). 

Bei der Deutung dieses Versuches hat man sich wiederum 
gegenwärtig zu halten, dafs sich die Schilderung des „Trugbildes“ 
auf den Fall der Fixation mit der anatomischen Makula, die des 
„natürlichen“ Bildes auf den Fall der Fixation mit der exzentrisch 
gelegenen Pseudomakula bezieht. Bevor man für den bei diesem 
Versuch in den verglichenen Konstellationen hervortretenden 
Unterschied die eigenartigen und besonderen psychologischen, 
bzw. psychophysischen Bedingungen des Falles verantwortlich 
macht, hat man sich zu vergewissern, ob der erwähnte Unter- 
schied nicht einfach auf den Umstand zurückzuführen ist, dafs 
das im Auge entworfene Bild in den Vergleichskonstellationen 
auf verschiedene und ein ungleiches funktionelles Verhalten 
zeigende Netzhautstellen fällt. In der Tat gelangt nun aber 
FEcHsEr! auf Grund diesbezüglicher Beobachtungen zu der An- 


! Über einige Verhältnisse des binokularen Sehens. Abhandl. d. Math.- 
phys. Kl. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss. 5. Bd., 1861, S. 535 ff. 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 313 


nahme einer „leichteren Entwicklung der Komplementärfarbe in 
„den seitlichen Teilen des Gesichtsfeldes“. „Ich finde sehr ent- 
„schieden“, so berichtet jener Forscher, „wenn ich ein weilses 
„Feld auf farbigem Grunde vor mir habe, dafs es, je nachdem 
„ich es indirekt oder direkt betrachte, deutlicher oder undeut- 
„licher komplementär zum Grunde erscheint, oder dals die bei 
„indirekter Betrachtung deutliche Komplementärfärbung bei 
„direkter verschwindet. FunkE und ZÖLLNER fanden dies unter 
„Anwendung verschiedener Farben bestätigt; auch Grasau bei 
„grünem und blauem Grunde, indes er bei mehreren anderen 
„Farben weder mit direktem noch indirektem Sehen etwas von 
„Komplementärfarbe bemerkte.“ — Auch dann, wenn nicht nur 
beim „Trugbilde“, sondern auch beim „natürlichen“ Bilde Farben- 
mischung eintritt, mufs das „natürliche“ Bild die Komplementär- 
farbe in deutlicherer Ausprägung zeigen; denn eine Farbe von 
ausgesprochenem Charakter wird natürlich bei der Mischung mit 
einer anderen weniger leicht unmerklich als eine matte, nur 
schwach angedeutete Farbe. 

Die Worte „im Trugbilde wechselte diese Farbe mit der des 
„Grundes ab“, scheinen nicht eine Äufserung des Patienten selbst 
wiederzugeben, sondern beziehen sich offenbar bereits auf die 
Deutung, welche B. den Äufserungen des Patienten gibt. Der 
Zusammenhang, in welchem diese Worte auftreten, legt diese 
Vermutung wenigstens nahe. Aber gleichgültig, ob dasjenige, 
was der Patient wirklich beobachtete, Farbenmischung oder Wett- 
streit war, oder ob die Farben hinter- oder durcheinander ge- 
sehen wurden, auf jeden Fall ist es durchaus verständlich, dafs 
die Farbe des „natürlichen“ Bildes leichter über die des Grundes 
den Sieg davongetragen habe, als die weniger ausgesprochene 
Farbe des „Trugbildes“. 

B. zeigt dann durch einen weiteren Versuch, dafs beim 
„Trugbild“ unter gewissen Bedingungen „exquisite Farben- 
mischung‘“ hervorgerufen werden kann. Es wird mit dem „Trug- 
bilde‘ der blauen Scheibe eine solche von gelber Farbe zur 
Deckung gebracht. Der Patient sah dann in der Tat eine Scheibe 
von neutral grauer Färbung (l. c. S. 156). Im Interesse des uns 
beschäftigenden Problems wäre es nun sehr erwünscht, den ent- 
sprechenden Versuch auch mit dem „natürlichen“ Bilde, also 
bei Fixation mit der Pseudomakula, angestellt zu sehen. Über 
diesen Punkt finden wir jedoch keinerlei Angaben, weder solche 


314 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


direkter noch indirekter Art. Es ist ja auch wohl unmöglich, 
einen so seltenen Fall sogleich völlig erschöpfend und mit Rück- 
sicht auf alle erst später auftauchenden Fragen zu untersuchen. 

Ist die Richtigkeit der „Hypothese «“ somit nicht bewiesen, 
so erscheint sie andererseits einigermafsen unwahrscheinlich, wenn 
man sich gewisser Tatsachen eines in unverkennbarer Verwandt- 
schaft zu den Verhältnissen des B.schen Falles stehenden Tat- 
sachengebietes der normalen Psychologie erinnert, nämlich der 
Verhältnisse des binokularen Sehens. 

Einer der bekanntesten Versuche dieses Gebietes ist ja der 
Doppelbilderversuch von FEcHner. Er besteht bekanntlich darin, 
dals man eine begrenzte, z. B. gelbe Scheibe auf einen ausge- 
dehnten, z. B. grauen Grund legt und sie mit so gekreuzten 
Sehachsen betrachtet, dafs ein getrenntes Doppelbild der Scheibe 
auf dem blauen Grunde entsteht. Man hätte, um bei dem ge- 
wählten Beispiel zu bleiben, ebensoviel Grund, an der betreffen- 
den Stelle Blau als Gelb zu sehen. Ähnlich wie bei diesem Ver- 
suche FEcHNERs, tritt ja auch bei dem Patienten B.s im 
Zentralorgan die Wahrnehmung eines konturierten Feldes in 
Konkurrenz mit der an die gleiche Stelle des Sehraums lokali- 
sierten gleichförmigen Grundfläche. Der Unterschied unseres 
Falles gegenüber dem Fecnnerschen Versuche besteht nur darin, 
dafs die konkurrierenden Eindrücke hier von zwei verschiedenen 
Augen, dort von zwei verschiedenen Netzhautstellen herrühren. 
Wir wollen uns für einen Augenblick erlauben diesen Unterschied 
als belanglos zu betrachten; das Recht zu dieser Annahme darf 
allerdings nicht als selbstverständlich angesehen werden. 

Beim Fechnerschen Versuche ergibt sich nun folgendes: 
Die heterogene Deckung von Blau und Gelb im Doppelbilde 
gibt wesentlich dieselbe Erscheinung als die homogene Deckung 
von Gelb und Gelb im einfachen Bilde (d. h. bei gewöhnlicher 
Fixation des gelben Feldes). Wohl erfährt das Gelb hierbei 
eine geringe Sättigungsabnahme, aber dieselbe ist so gering, 
dals sie von einem so geübten Beobachter, wie FECHNER, nur 
bei gröfster Aufmerksamkeit bemerkt wurde und, wie F. sagt, 
„dem Unaufmerksamen und Laien ganz entgeht.“ Das analoge 
Resultat zeigt sich, wenn man den Versuch mit einer weilsen 
Scheibe auf schwarzem Grund oder mit einer schwarzen Scheibe 
auf weilsem Grund anstell. Der Grund macht hierbei seinen 
Eindruck „so wenig geltend, dafs man ohne sehr genaues Auf- 


FV. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 315 


„merken merklich dieselbe reine Schwärze als beim gewöhnlichen 
„Sehen zu erblicken glaubt.“ WELcKER!, ein gleichfalls sehr 
geübter Beobachter, findet bei einem Versuche, welcher nur hin- 
sichtlich unwichtiger Nebenumstände von demjenigen FECHNERS 
abweicht, im Falle eines schwarzen Streifens auf weilsem Grund 
in der Schwärze überhaupt keinen Unterschied gegenüber der 
gewöhnlichen Betrachtung. Auch Panum? findet unter ganz ähn- 
lichen Verhältnissen „die Doppelbilder gewöhnlich ebenso schwarz 
„wie im ursprünglichen, dem einen Auge dargebotenen Bilde“. 

Im B.schen Falle hingegen ist der Unterschied zwischen dem 
Aussehen des „natürlichen“ Bildes und dem des „Trugbildes“ so 
beträchtlich, dafs zur Bezeichnung der Farben jener Bilder ver- 
schiedene Bezeichnungen benutzt werden müssen, dafs die Be- 
zeichnung „Rot“ durch „Rosa“, „Schwarz“ durch „Grau“ ersetzt 
werden mu/s. Zudem handelt es sich hier nicht um einen ge- 
schulten Beobachter, sondern um einen Laien. — Wir sind uns 
dessen bewulst, dafs diese an die Verhältnisse des binokularen 
Sehens anknüpfende Argumentation nicht zwingend ist, sondern 
dafs sie nur Wahrscheinlichkeitswert besitzt. 


Der Ausfall des schon erwähnten Versuches (BieLscHowskY 1. c. S. 156), 
bei welchem am Orte des „Trugbildes“ echte, zentral bedingte Farben- 
mischung eintrat, bildet gegen das eben Gesagte keinen Einwand. In diesem 
Falle konkurrierte nämlich nicht ein mit Konturen versehenes Objekt mit 
einem gleichförmigen Grunde, sondern der Patient hatte zwei (wie es 
scheint, in ihrer Gestalt gleichartige) Scheiben miteinander zur Deckung 
zu bringen. Der Umstand, dafs beide Objekte die gleichen Konturen zeigen, 
aufser diesen gleichen Konturen aber keine anderen darbieten, ist ja die 
eine Bedingung dafür, dafs zwei auf korrespondierenden Stellen sich ab- 
bildende Farbflächen zu binokularer Farbenmischung Anlafs geben. Weitere 
Bedingungen bestehen darin, dafs die zu mischenden Farbflächen nicht zu 
gro[s sind, sowie dafs sie in ihrer Helligkeit nicht sehr stark differieren. 
(Vgl. Herme in Hermanns Handb. d. Physiol. III, 1, S. 591 ff.) Obwohl hin- 
sichtlich des letzteren Punktes keine näheren Angaben vorliegen, so war 
der Helligkeitsunterschied der gelben Scheibe gegenüber der blauen doch 
auf jeden Fall geringer als der der weifsen Scheibe gegenüber dem schwarzen 
Grunde. Steht der Versuch, in welchem bei dem Patienten ein kleines 
begrenztes und konturiertes Objekt mit einem gleichförmigen Grunde kon- 
kurriert, in unverkennbarer Parallele mit dem Fecuxerschen Doppelbilder- 
versuch, so ist umgekehrt der eben genannte Versuch, bei welchem Farben- 
mischung eintritt, mit demjenigen Versuche an normalen Individuen in 


1 Über Irradiation. 1852. S. 118ff. 
2 Physiolog. Unters. üb. d. Sehen mit zwei Augen. 1858. 6S. 17 ff. 


316 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


Parallele zu setzen, bei dem auch diese Individuen echte Farbenmischung 
wahrnehmen. 

Wir haben jetzt gesehen, dafs die „Hypothese «“ nicht be- 
wiesen ist, dafs ihre Richtigkeit vielmehr auf Grund gewisser 
Tatsachen als unwahrscheinlich bezeichnet werden muls. Er- 
scheint schon nach dem Bisherigen die „Hypothese 8“ in 
günstigerem Lichte als ihre Konkurrentin, so wird das Über- 
gewicht der ersteren Hypothese noch erheblich, und wohl in aus- 
schlaggebender Weise, verstärkt durch die folgende Überlegung. 

Das Ausert-FoeErstersche Phänomen ist eine Verstärkung, 
ein höherer Grad des Kosterschen. Wo wir dem ersteren be- 
gegnen, dürfen wir erwarten, auch das zweite anzutreffen. Nun 
glauben wir dargetan zu haben, dafs sich die Beobachtungen 
hinsichtlich der Sehschärfe bei Schielenden mit Pseudomakula, 
und speziell auch in dem vorliegenden Falle, am ungezwungensten 
mit Hilfe des A. F. G. erklären lassen. Der Inhalt der „Hypothese 3%“ 
enthält demnach nichts anderes als dasjenige, was man mit wohl 
zwingender Notwendigkeit zu erwarten hat. Im Gegensatze 
hierzu ist die „Hypothese «“ eine Hypothese ad hoc; sie ist 
lediglich für die Erklärung des Aussehens der beiden Bilder zu- 
recht gemacht. Nicht allein, dafs sich ihre angeblichen Tat- 
sachenunterlagen als mehrdeutig und somit als trügerisch er- 
wiesen, und dafs sie somit in der Luft zu schweben scheint, sie 
besitzt auch keine Beziehung zu dem viel allgemeineren Tat- 
sachenkreise der Sehschärfe, sie involviert eine ganz unnötige 
Vervielfältigung der Erklärungsgründe, sie zerreilst überflüssiger- 
weise den Zusammenhang zwischen dem Falle Sturm und den 
gewöhnlicheren Fällen von Strabismus. Schon nach dem Grund- 
satz, „principia praeter necessitatem non multiplicanda“ mülste 
die „Hypothese «“ zugunsten ihrer überlegenen Nebenbuhlerin 
abgewiesen werden; sie mülste es selbst dann, wenn sich keine 
Tatsache aufweisen lielse, zu welcher sie in direktem Wider- 
spruch steht. 

Einen solchen direkten Widerspruch zur „Hypothese a“ 
glauben wir nun aber in der Tatsache zu erblicken, dafs der 
Patient die Farbe eines roten Feldes auf schwarzem Grund im 
Trugbild als „Rosa“ bezeichnet. 

Nach der „Hypothese a“ müfste sich die rote Farbe des 
Feldes dadurch in „Rosa“ verwandeln, dafs sie sich mit dem 
Schwarz des Grundes mischt. Unter „Rosa“ versteht nun aber 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 317 


der Sprachgebrauch ein helles und ungesättigtes Rot. Das Wort 
ist zweifellos hergenommen von der Farbe der Rosen, und zwar 
von der der verbreitetsten Sorte, der hellen. Man betrachte am 
Farbenkreisel eine Scheibe von gesättigtem Rot, man ersetze als- 
dann “eine Anzahl von Graden durch Schwarz und man lege sich 
die Frage vor, ob man zu der Behauptung geneigt wäre, dafs 
sich das ursprünglich gesättigte Rot durch die Zumischung von 
Schwarz in „Rosa“ verwandelt habe. Nach meinem Sprach- 
gefühl wenigstens ist für die Anwendung des Wortes „Rosa“ die 
relativ beträchtliche Helligkeit nicht minder wesentlich, wie der 
Mangel an Sättigung. Die bei anderen Gelegenheiten hervor- 
tretende Sorgfalt des Patienten bei der Beschreibung seiner Wahr- 
nehmungen läfst erwarten, dals er auch in diesem Falle einen 
adäquateren Ausdruck gefunden haben würde. 

Vom Standpunkt der „Hypothese #8“ stölst das Verständnis 
der Verwandlung des „Rot“ in „Rosa“ auf keine Schwierigkeiten. 
Die auffälligste Veränderung, welche ein farbiges Feld unter den 
das KosrErsche Phänomen auslösenden Bedingungen erfährt, 
ist die Änderung der Sättigung. Dafs die objektive Färbung der 
Scheibe in einem dunklen Rot bestanden habe, ist wenig wahr- 
scheinlich. Gut gesättigte rote Papiere sind stets verhältnis- 
mälsig hell. Ungesättigter Papiere wird sich zu Untersuchungs- 
zwecken von der Art des vorliegenden kein Einsichtiger bedienen. 
Auch sollte durch den schwarzen Hintergrund, dessen Verwen- 
dung betont wird, die Eindringlichkeit der Scheibe offenbar ge- 
hoben werden, ein Umstand, der gleichfalls auf nicht zu geringe 
Helligkeit des dargebotenen Objektes hinweist; im Falle einer 
dunkelroten Scheibe wäre ein weilser Hintergrund zweckmälsiger 
gewesen. 

Bei der Kritik der „Hypothese «“ waren wir genötigt, auf 
regionale Verschiedenheiten des Farbenkontrastes hinzuweisen. 
Man könnte darum die Frage stellen, ob nicht die regionalen 
Verschiedenheiten der Kontrastwirkung vielleicht sogar zur Er- 
klärung des Unterschieds, welcher dem Patienten bei Vergleichung 
des „Trugbildes“ mit dem „natürlichen“ Bilde auffällt, hinreicht. 
Für die Schilderung des „natürlichen“ Bildes ist ja stets die Be- 
trachtung mit einer bestimmten Stelle der Netzhautperipherie, 
für die Beschreibung des „Trugbildes‘‘ dagegen diejenige mit der 
Fovea malsgebend. Regionale Verschiedenheiten in der Kontrast- 
wirkung, wie im funktionellen Verhalten jener beiden Netzhaut- 


318 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


stellen überhaupt, könnten darum für jenen Unterschied im Aus- 
sehen sehr wohl verantwortlich sein. 

Allerdings bezieht sich die ($. 313) angeführte Beobachtung 
FEcHneERs und seiner Versuchspersonen nur aufden Farbenkontrast 
im engeren Sinne. Lediglich, wenn auch die Erscheinung des 
Helligkeitskontrastes im indirekten Sehen einen relativ 
höheren Grad besälse als im direkten, lielse sich die Beobachtung 
des Patienten, dafs ein weilses Objekt auf schwarzem Grund im 
„natürlichen“ Bilde reiner weils, ein schwarzes Objekt auf weilsem 
Grunde tiefer schwarz erscheint als im „Trugbilde“, mit Hilfe 
regionaler Verschiedenheiten der Kontrastwirkung erklären. Nun 
ist schon von vornherein wahrscheinlich, dafs die angedeutete, 
für den Farbenkontrast im engeren Sinne festgestellte Gesetz- 
mälsigkeit auch vom Helligkeitskontrast gelten werde. In der 
Tat hat L. Hermann! ganz unabhängig von FECHNER auf Grund 
einer den Helligkeitskontrast betreffenden Beobachtung gleich- 
falls die Überlegenheit des indirekten Sehens gegenüber dem 
direkten in der genannten Hinsicht behauptet. Dieser Forscher 
fand nämlich, dafs die Stäbe einer weilsen Gitterzeichnung an 
den Kreuzungspunkten minder hell erscheinen. Dieses Verhalten 
sei zwar im indirekten, nicht aber im direkten Sehen deutlich. 
TSCHERMAK schlielst sich in seinem Referat „Über Kontrast und 
Irradiation“? der Deutung, welche H. seiner Beobachtung gibt, 
an. — Der ‚Hypothese $“ erwächst somit eine Konkurrentin, 
welche die zu erklärenden Erscheinungen lediglich auf die 
regionalen Verschiedenheiten im funktionellen Verhalten der 
Netzhautelemente zurückführt. Wir bezeichnen diese Hypothese 
als „Hypothese y“. 

Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch die „Hypothese y“ 
als haltlos. Wir gelangen zu dieser Einsicht durch folgende Er- 
wägungen. 

Wenn auch die Kontrastwirkung auf der Netzhautperipherie 
relativ stärker ist als im Gebiete der Fovea, so folgt daraus noch 
keineswegs, dals bei indirekter Betrachtung ein schwarzes Objekt 
auf weilsem Grunde tiefer schwarz, ein weilses Objekt auf 
schwarzem Grunde reiner weils erscheinen müsse als bei direkter 
Betrachtung. Die Empfindung, welche ein Element der Netzhaut 


1 Die Erscheinungen simultanen Kontrastes. Pflügers Arch. 3, S. 13f. 
? Ergebn. der Physiol. Jahrg. 2, Abt. 2. 1903. 


V. Kapitel. Anwendung des Zweikomponentensatzes auf die Lehre usw. 319 


vermittelt, ist ja nicht nur eine Funktion der Wechselwirkung 
der Netzhautstellen und ihres Grades, sondern sie hängt auch, 
und zwar in allererster Linie, von der Beschaffenheit und der 
Reaktionsweise des an der gereizten Stelle selbst befindlichen 
Aufnahmeorgans ab. Daher vermögen nicht die oben aus den 
Tatsachen der regionalen Verschiedenheit der Kontrastwirkung 
gezogenen Schlüsse, sondern lediglich Versuche über das Aus- 
sehen von Objekten, die, der schwarz-weilsen Empfindungsreihe 
angehörig, auf einem Grund von anderer Helligkeit angebracht 
sind und bald direkt, bald indirekt betrachtet werden, die Frage 
zu entscheiden, ob bei den genannten beiden Verhaltungsweisen 
ein Unterschied im Aussehen jener Objekte in Erscheinung tritt. 
Über das Ergebnis derartiger Versuche berichtet Fechner mit 
folgenden Worten: „Der in Versuchen mit den seitlichen Teilen 
„des Gesichtsfeldes so geübte AuBErRT hat auf meine Bitte eine 
„dergleichen Versuchsreihe angestellt, wobei er die indirekte Be- 
„trachtung jedesmal mit 25° Abweichung vom Zentrum vornahm. 
„Er fand die direkte Betrachtung allgemein im Vorteil gegen jede 
„Richtung des indirekten Sehens.“ ! 

Schon hierdurch kann „Hypothese y“ als widerlegt gelten. 
Gänzlich unmöglich ist es dieser Hypothese ferner, die gröfsere 
Sättigung des „natürlichen“ Bildes im Vergleich zum „Trug- 
bilde“ zu erklären. Ich habe rote Felder von verschiedener Grölse 
und Sättigung, welche auf Tuchschwarz angebracht waren, bald 
direkt, bald indirekt betrachtet, wobei auch die Exzentrizität der 
Betrachtung variiert wurde. Niemals erschien mir das farbige 
Feld bei indirekter Betrachtung deutlich gesättigter als bei direkter. 
Man kann vielleicht einwenden, dafs aus solchen von einem 
Normalen angestellten Beobachtungen über das funktionelle Ver- 
halten der Netzhautelemente keine Schlüsse auf den Fall Sturm 
gezogen werden dürfen. Denn gesetzt auch, die Reaktionsweise 
der exzentrischen Netzhautelemente würde, falls alle übrigen 
Bedingungen in den verglichenen Fällen dieselben wären, zu 
einer gesättigteren Farbenempfindung Anlafs geben, als die Fovea, 
so brauchte diese Überlegenheit des indirekten Sehens bei Ver- 
suchen von der angeführten Art doch nicht notwendig in Er- 
scheinung zu treten, weil jene Überlegenheit der Peripherie hier 
unter dem Einflufs des K. G. wiederum aufgehoben oder sogar 


2]. c. 8. 373f.; vgl. auch AvszrT, Physiol. d. Netzhaut. Breslau 1865. 


320 II. Abschnitt. Bestätigung der im I. Abschnitt gegebenen usw. 


in ihr Gegenteil verkehrt sein könnte. Gesetzt nun, die Benach- 
teiligung, welche sich bei der erwähnten Beobachtung eines 
Normalen ergibt, wäre lediglich auf die Wirksamkeit des K. G. 
zurückzuführen — das indirekt gesehene Objekt fällt ja hier 
nicht mit dem Orte des Aufmerksamkeitszentrums zusammen — 
so könnte eine etwa vorhandene physiologische Überlegenheit 
des indirekten Sehens im B.schen Falle trotzdem rein und in 
unparalysierter Form in Erscheinung treten, weil ja hier der der 
Pseudomakula entsprechende Ort des Sehraums mit dem Ort des 
Aufmerksamkeitszentrums koinzidiertt. Nun sahen wir uns aber 
durch die Versuche AuBErTs über die Unterschiedsempfindlichkeit 
für Farben im indirekten Sehen (S. 10 und 107£f.), sowie durch 
unsere eigenen Versuche bei instantaner Exposition (S. 67ff. 
und 105f.) zu der Annahme genötigt, dafs beim Normalen für 
kurze Augenblicke eine Verlegung des Aufmerksamkeitszentrums 
nach einem einer exzentrischen Stelle der Netzhaut entsprechenden 
Orte des Sehraums sehr wohl möglich ist. Ich richtete daher 
mein Augenmerk bei jenen Beobachtungen auch darauf, ob das 
seitlich gelegene farbige Feld durch angestrengte lokale Kon- 
zentration der Aufmerksamkeit wenigstens für Momente auf einen 
höheren Grad der Sättigung gebracht werden kann als derjenigen, 
welche es bei der — teils unmittelbar vorhergegangenen, teils 
unmittelbar nachfolgenden — direkten Betrachtung zu besitzen 
scheint. Auch bei Anwendung dieser Vorsichtsmalsregel konnte 
eine deutliche Überlegenheit des indirekten Sehens niemals kon- 
statiert werden. — Die „Hypothese y“ muls sich angesichts dieser 
Tatsache für geschlagen erklären. 

Endlich läfst sich ihre Undurchführbarkeit noch auf einem 
dritten Wege erweisen. Die „Güte“ des „natürlichen“ Bildes, be- 
stehend in seiner besseren Helligkeits- und Farbendifferenzierung, 
nimmt im selben Verhältnis ab, als sich die Aufmerksamkeit mit 
der Zeit dem „Trugbilde“ stärker zuzuwenden lernt. So selbst- 
verständlich diese Erscheinung ist, wenn man der Erklärung des 
Unterschieds im Aussehen der beiden Bilder das K. G. zugrunde 
legt, so schwer vereinbar ist sie mit jeder Deutung, welche sich 
auf die funktionelle Verschiedenheit der exzentrischen Aufnahme- 
apparate gegenüber den makularen beruft. 


321 


III. Abschnitt. 


Zur Psychophysik des Sehraums. (Theoretische 
Bedeutung des Zweikomponentensatzes.) 


81. 


Die Physik der Neuzeit hat sich von Anbeginn an von dem 
Prinzip leiten lassen, dafs für Naturwirkungen derselben Art die 
gleichen Ursachen gelten. Der menschliche Geist setzt ein starkes 
Vertrauen in die Einfachheit der Natur. - 

Weil die Empfindung, welche man bei Vereinigung der 
Spektralfarben erhält, derjenigen gleicht, welche das in natür- 
licher Weise auf das Auge einwirkende Himmelslicht auslöst, 
darum war das farblose Licht als eine Vereinigung der farbigen 
Strahlen zu deuten. 

Wohl haben sich jene Gleichheiten, an deren Konstatierung 
der Fortschritt der Wissenschaft geknüpft ist, aus dem sinn- 
fälligen Gebiet der Empfindung vielfach in unsinnlichere Regionen 
zurückgezogen. Wenn die Weltanschauung der modernen Physik 
zuweilen in gewissen Grundüberzeugungen zur Ideenlehre Platos 
zurückkehrt, wenn moderne Forscher, wie Poincare, die objektive 
Wirklichkeit nur in den durch die Differentialgleichungen aus- 
gedrückten Beziehungen der Dinge sehen, so gründet sich diese 
Wandlung der Ansichten auf die Tatsache, dals wir auf Grund 
des gleichen Baues der Differentialgleichungen Naturvorgänge 
als wesensgleich anzusehen haben, welche nicht im entferntesten 
eine gleichartige Reaktion im Gebiet der Empfindung auslösen, 
und dafs andererseits, wie die Psychophysik lehrt, verschiedene 
Naturvorgänge übereinstimmende Empfindungen zu erwecken 
vermögen. 

Dieses Auseinanderfallen von Gleichheit in sinnlicher und 
unsinnlicher Beziehung hat seinen Grund in der Tatsache, dafs 
unsere Empfindungen nicht nur eine Funktion der uns umgebenden 
Naturvorgänge, sondern gleichzeitig eine Funktion der in uns 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. 1V. 21 


322 III. Abschnilt. Zur Psychophysik des Sehraums. 


selbst ablaufenden physiologischen Vorgänge sind. Überall je- 
doch, wo wir eine Verschiedenheit der physiologischen Vorgänge 
anzunehmen keinen Grund haben, wie bei dem genannten 
Fundamentalversuch der physikalischen Optik, sind wir von der 
Gültigkeit des Prinzipes in seiner naiveren Gestalt überzeugt. 
Auf das Recht dieser Überzeugung gründet sich die Möglichkeit 
des physikalischen Experimentes. 

Die Psychophysik hat sich bei ihrem Eintritt in den Kreis 
der methodisch verfahrenden Wissenschaften alsbald von einem 
jener eben gekennzeichneten Forschungsmaxime sehr verwandten 
Prinzip leiten lassen. Der ausdrücklichen Formulierung dieses 
Prinzips begegnen wir zuerst bei MacH.! Dieser Forscher bringt 
jenes „heuristische Prinzip“ der psychophysischen Forschung in 
folgenden Worten zum Ausdruck. „Jedem Psychischen entspricht 
„ein Physisches und umgekehrt. Gleichen psychischen Prozessen 
„entsprechen gleiche physische, ungleichen ungleiche. Wenn ein 
„psychischer Vorgang sich auf rein psychologischem Wege in eine 
„Mehrheit von Qualitäten a b c auflösen läfst, so entsprechen 
„diesen eine ebenso grolse Zahl verschiedener physischer Pro- 
„zesse «œ, f, y. Allen Details des Psychischen korrespondieren 
„Details des Physischen.“ Ausgedehnten und erfolgreichen Ge- 
brauch hat von diesem Prinzip dann besonders Herına gemacht, 
welcher den in den Worten Macas ausgedrückten Gedanken 
nicht nur als ein „heuristisches Prinzip der psychophysischen 
Forschung“ aufgefalst wissen will, sondern demselben einen weit 
höheren Rang zuschreibt, indem er dieses Prinzip als die „Grund- 
voraussetzung“, „dieconditio sine qua non aller solchen Forschung, 
„wenn sie Früchte tragen soll“, bezeichnet. (Die Lehre vom 
Lichtsinn.) 

Allein selbst Herme glaubt jenem Prinzip die auf seine Lehre 
von der Schwarz-Weils-Empfindung begründete Beschränkung hin- 
zufügen zu müssen, dafs psychophysische Prozesse von sehr ver- 
schiedener Gröfse dieselbe Empfindung geben können „weil es 
überall nicht auf die absolute „Gröfse dieser Prozesse, sondern. 
„lediglich auf ihr gegenseitiges Verhältnis ankommt“. G.E. MÜLLER 
sah sich genötigt, diese von dem hochverehrten Forscher hinzu- 
gefügte Klausel wiederum fallen zu lassen, da eine allen Tat- 
sachen gerechtwerdende und von Widersprüchen gereinigte Lehre 

l Über die Wirkung der räumlichen Verteilung des Lichtreizes auf 
die Netzhaut. Sitzungsber. der Wiener Akad. Math.-phys. Kl., 1868, Bd. 52. 


III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 393 


von der Schwarz-Weils-Empfindung zu einer solchen Beschränkung 
keinen Anlals gebe. 

Überall, wo wir einer Gleichheit von Empfindungen zu be- 
gegnen glauben, werden wir daher von vornherein eine Gleich- 
heit der psychophysischen Prozesse vermuten. Freilich auch 
nur vermuten; denn auch jene Forscher, welche, wie G. E. MÜLLER, 
jenes Prinzip als ein Axiom der Psychophysik bezeichnen, sind 
weit davon entfernt, ihm Denknotwendigkeit oder den Charakter 
eines Gesetzes a priori im Sinne von Kant zuzuschreiben; auch 
sie sehen in diesem Satze lediglich eine sehr allgemeine Hypo- 
these, welche bei jeder Anwendung in einem neuen Gebiete der 
experimentellen Nachprüfung bedarf, die zu entscheiden sucht, 
ob die aus den psychophysischen Axiomen auf theoretischem 
Wege abgeleiteten Folgerungen mit den Tatsachen übereinstimmen. 

Die psychophysischen Axiome gleichen in dieser Hinsicht 
den allgemeinsten Prinzipien der Physik, etwa demjenigen von 
der Erhaltung der Energie, welches ja auch einerseits ein mächtiges 
und viel verwandtes Instrument der Forschung darstellt, anderer- 
seits aber oft nur mit dem höchsten Aufgebot theoretischen 
Scharfsinns und experimenteller Findigkeit gegenüber dem an- 
fangs scheinbar spröden Charakter der Phänomene zum Siege 
geführt werden konnte. 

Wir werden im weiteren Verlauf reichlich Gelegenheit haben, 
unsere Kräfte an dem Widerstand zu erproben, welchen die Tat- 
sachen bei der ersten, wenig eindringenden Betrachtung der 
Anwendung der psychophysischen Axiome entgegenzubringen 
scheinen, so dafs man uns an dieser Stelle die Schilderung jener 
eigentümlichen Schwierigkeiten erlassen wird, welche bei der Hand- 
habung der psychophysischen Axiome die gröfste Sorgfalt und 
das vorsichtigste Verfahren seitens des Psychophysikers erheischen. 


Obwohl wir zu der Annahme kein Recht besitzen, dafs be- 
nachbarte Punkte der Netzhaut mit benachbarten Zellen der Seh- 
sphäre in Verbindung stehen, so wird doch — trotz des sonstigen 
Widerstreites der hirnanatomischen Anschauungen — von keiner 
Seite bestritten, dals bei Gröfsenzunahme des durch einen be- 
stimmten Lichtreiz erregten Bezirkes der Netzhaut auch die 
Gröfse desjenigen Gebietes in der Sehsphäre zunimmt, in welchem 
die mittelbaren, im Sehnerven fortgeleiteten Wirkungen jenes 


Lichtreizes psychophysische Prozesse auslösen. 
21* 


324 111. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 


Betrachtet das Auge in unbewegtem Zustand zwei begrenzte 
farbige Flächen, welche verschiedene Ausdehnung besitzen und 
darum verschieden grofse Netzhautbilder liefern, so wird die von 
der ausgedehnteren Fläche herrührende Erregung eine gröfsere 
Anzahl von Zellen der Sehsphäre ergreifen als die von der kleinen 
Fläche ausgehende. Der gröfseren Fläche entspricht die grölsere 
Zahl der von der Peripherie her erregten nervösen Elemente. 

Wir nehmen an, die Gestalt der beiden Flächen sei geo- 
metrisch ähnlich, ihre Färbung homogen. Betrachten wir zuerst 
die gröfsere Fläche und ersetzen sie alsdann durch die kleinere, 
so haben wir den Eindruck einer Gröfsenverschiedenheit. Wir 
könnten nun den Eindruck derselben Gröfsenverschiedenheit auch 
dadurch hervorbringen, dafs wir zwar das Netzhautbild in seiner 
Gröfse unverändert lassen, aber auf irgend einem anderen Wege, 
sei es mit Hilfe einer Zerstreuungslinse, mittels RoLLETTscher 
Konvergenzplatten oder durch Atropin, Mikropsie von geeignetem 
Grade hervorbringen. Versuche von Isakowırz!, welcher den Grad 
der Verkleinerung mit zunehmender Dioptrienzahl der Linsen 
ermittelte, gründen sich auf die Tatsache, dals wir von zwei 
Streifen, deren Netzhautbilder verschiedene Ausdehnung besitzen, 
annähernd gleiche Eindrücke erhalten können. Beginnen wir 
umgekehrt mit der Betrachtung der kleineren Fläche, so können 
wir trotz unveränderter Netzhautbilder die unter normalen Um- 
ständen von grölseren Flächen hervorgerufene Wahrnehmung 
durch Makropsie erzeugen, welche freilich mit Hilfe von Instru- 
menten nur innerhalb engerer Grenzen erweckbar zu sein 
scheint. 

Wir werden nun gemäfs unserem eingangs aufgestellten 
Prinzip vermuten, dafs bei Änderung der scheinbaren Gröfse, 
welche ja den gleichen Unterschied der Empfindungen hervor- 
zubringen vermag wie die Änderung der wirklichen Gröfse, eine 
Änderung der psychophysischen Prozesse eintritt, welche der- 
jenigen entspricht, die wir durch Änderung der wirklichen 
Gröfse hervorbringen. 

Wie könnten wir nun diese Annahme auf ihre Richtigkeit 
prüfen ? 

Wenn wir einmal ein objektiv grolses, ein andermal ein ob- 


! Messende Versuche über Mikropie durch Konkavgläser nebst Be- 
merkungen usw. Arch. f. Ophthalm. 66, 1907, S. 477. 


III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 325 


jektiv kleines Netzhautbild erzeugen, und daher das eine Mal 
einen grofsen, das andere Mal einen kleinen Bezirk der Seh- 
sphäre erregen, so ist in Anbetracht der aufserordentlichen Ver- 
kettung jedes psychophysischen Vorganges mit anderen derartigen 
Vorgängen von vornherein zu erwarten, dafs sich jene ver- 
schiedene Erregungsweise der Sehsphäre nicht allein darin äufsert, 
dafs das eine Mal ein grofser, das andere Mal ein kleiner Gegen- 
stand wahrgenommen wird. Abgesehen von dieser Verschieden- 
heit der Wirkung, so läfst sich von vornherein vermuten, wird 
jene Verschiedenheit der Erregungsweise der Sehsphäre auch 
noch andere Verschiedenheiten im Gebiete der psychologischen, 
bzw. psychophysischen Nebenwirkungen nach sich ziehen. 

Wir besäfsen ein Mittel zur Prüfung unserer Annahme, wenn 
sich feststellen liefse, dafs bei Darbietung von Gegenständen von 
verschiedener Gröfse in gleicher Entfernung, also bei Änderung 
des Netzhautbildes und hiermit zweifellos eintretender Gröfsen- 
änderung des erregten Bezirkes der Sehsphäre, ganz bestimmte 
Nebenwirkungen einträten, deren nähere Beschaffenheit lediglich 
von der Gröfse des im Zentrum erregten Bezirkes abhängt, so 
dals im Falle der Erregung eines kleinen Bezirkes jederzeit die 
Nebenwirkung a, bei Erregung eines grolsen Bezirkes jederzeit 
die Nebenwirkung b eintritt. 

Ist unsere Hypothese richtig, so müfsten Nebenwirkungen 
von ganz derselben Art auftreten, wenn wir nicht die wirkliche 
Gröfse durch Änderung der Netzhautbilder variieren, sondern 
lediglich diescheinbare Grölse ändern, die Grölse der Netzhaut- 
bilder aber konstant erhalten. 

Einerseits besteht nun eine relative Intoleranz der Aufmerk- 
samkeit gegenüber optischen Erregungen, welche infolge zu be- 
trächtlicher Grölse des Netzhautbildes einen zu ausgedehnten 
Bezirk im Zentralorgan in Aktion zu versetzen streben. Anderer- 
seits aber besteht, wie die experimentelle Analyse des AUBERT- 
Forrsterschen Phänomens erwiesen hat, eine Intoleranz der 
Aufmerksamkeit nicht nur hinsichtlich zu beträchtlicher Netz- 
hautbildgröfse, sondern auch hinsichtlich zu bedeutender schein- 
barer Grölse der Objekte, insofern als die Aufmerksamkeit zwar 
einen scheinbar kleinen, nicht aber einen scheinbar gro/sen Be- 
zirk des Sehraums simultan zu erfassen vermag, obwohl das 
Netzhautbild beider Bezirke gleich grofs und überhaupt in jeder 
Beziehung gleich beschaffen sein kann. Man wird also zu der 


326 III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 


Annahme berechtigt sein, dafs der in Erregung versetzte Bezirk 
der Sehsphäre nicht nur dann an Gröfse zunimmt, wenn das 
Netzhautbild vergröfsert wird, sondern auch dann, wenn lediglich 
die scheinbare Gröfse des Objektes wächst, das Netzhautbild 
hingegen konstant bleibt. 

Die relative Intoleranz der Aufmerksamkeit gegenüber zu 
bedeutender Netzhautbildgröfse zeigt sich z. B. in dem mehrfach 
erwähnten Versuche von HELMHorTz; bei diesem Versuche ver- 
mochte ja der Beobachter während des kurzen Augenblickes der 
Exposition immer nur einen kleinen Bezirk des dargebotenen 
Objektes, auf welchen er zuvor seine Aufmerksamkeit konzentriert 
hatte, in maximaler Klarheit zu sehen, während die übrigen Teile 
des Gesichtsfeldes, welche ein ebenso deutliches Netzhautbild 
lieferten, differenzierte Empfindungen gleichwohl nicht erzeugten. 
Die Lehre, dafs jene Beobachtung durch eine eigentümliche 
Funktionsweise des peripheren Sinnesorgans bedingt sei, mulsten 
wir zurückweisen. . 

Die Anschauung von HrLmHoLTz, dafs es sich um eine 
zentrale Erscheinung handelt, konnte bisher nicht erschüttert 
werden. Wir vermögen in einem kurzen Augenblick nur ein 
solches Objekt deutlich zu sehen, dessen Netzhautbild nur einen 
sehr kleinen Bezirk der Netzhaut bedeckt und daher auch einen 
verhältnismäfsig nur sehr kleinen Teil der Sehsphäre erregt. Da 
nun die Erscheinung nicht peripheren, sondern zentralen Ur- 
sprungs ist, so muls dieses letztere Moment die eigentliche Ur- 
sache der Erscheinung sein, während dem erstgenannten nur 
mittelbare, auslösende Bedeutung zukommt. 

Dafls wir Objekte, deren Bilder auf der Netzhaut einen 
grölseren Abstand voneinander besitzen, nicht gleichzeitig zu 
überschauen vermögen, geht auch aus einer nach Macnr’s Angabe 
von Dvor4k durchgeführten Versuchsreihe hervor.” Das mit Auf- 
merksamkeit fixierte Objekt kann hiernach, selbst bei einer wirk- 
lichen Verspätung von '/,—!/; Sekunden, früher erscheinen als 
das indirekt gesehene. 

Im gleichen Sinne spricht ein Versuch von Maca (DvoRäkl. c.; 


1 Dvokik, Über Analoga der persönlichen Differenz zwischen beiden 
Augen und den Netzhautstellen desselben Auges. Sitzungsber. d. k. böhm. 
Ges. d. Wiss. Math.-nat. Klasse, 8. März 1872. — E. Macs, Die Analyse der 
Empfindungen. 2. Aufl. Jena 1900, S. 162. 


III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 327 


Macau |. c.) Zwei intensiv rote Quadrate von 2 cm Seite und 
8 cm Abstand auf schwarzem Grunde werden in völliger Dunkel- 
heit durch einen für das Auge verdeckten elektrischen Funken 
beleuchtet. Das direkt gesehene Quadrat erscheint rot, das in- 
direkt gesehene grün, und zwar oft intensiv. Das indirekt ge- 
sehene Quadrat befindet sich also in dem Augenblicke, in welchem 
es zur Wahrnehmung gelangt, schon im Stadium des negativen 
Nachbildes. 

Die Schlufsweisen, welche zu unserer Ansicht über die psycho- 
physische Repräsentation der scheinbaren Gröfse führen, sind 
ganz unabhängig davon, ob man die Existenz eines besonderen 
Apperzeptionszentrums annimmt oder ob man irgend einer an- 
deren Ansicht über das Wesen der Aufmerksamkeit huldigt. 
Wer die Existenz eines Apperzeptionszentrums für wahrschein- 
lich hält, kann annehmen, dals dieses Organ in einem bestimmten 
Augenblick nur die aus einer begrenzten Anzahl von Zellen der 
Sehsphäre einströmenden Erregungen zu verarbeiten vermag; 
wer die Existenz eines solchen Apperzeptionszentrum für nicht 
erwiesen erachtet, hat anzunehmen, dafs die Sehsphäre selbst 
Empfindungen von maximaler Klarheit nicht mehr zu liefern 
vermag, wenn eine zu grolse Anzahl ihrer Zellen gleichzeitig in 
Erregung versetzt wird. 

Wie die Tatsache in letzterem Falle zu erklären wäre, darum be- 
kümmern wir uns vorläufig nicht. Jedenfalls kehren sowohl auf höheren 
wie auf noch niedereren Gebieten ähnliche Verhältnisse wieder. Auch von 
Phantasievorstellungen ist uns in einem bestimmten Momente immer nur 
eine bestimmte Anzahl gegenwärtig, Zwar scheint die Lehre von den 
Erinnerungszellen, nach der jede Vorstellung ihren Sitz in einer bestimmten 
Zelle hat, allgemein und wohl mit Recht, aufgegeben zu sein. Jedenfalls 
haben wir, gleichgültig, ob die psycho-physischen Prozesse von der mate- 
riellen Seite her gesehen chemischer oder elektrischer Natur sind, anzu- 
nehmen, dafs sich die Prozesse, welche den gleichzeitig im Bewulstsein 
gegenwärtigen Vorstellungen entsprechen, nicht an identischen Stellen des 
Zentralorgans, sondern in räumlich — wenn auch noch so wenig— voneinander 
getrennten Gebieten abspielen. Angenommen nämlich, eine Vorstellung 
„a“ tauche gleichzeitig mit einer Vorstellung „b“ im Bewufstsein auf, und 
die materiellen Parallelvorgänge dieser beiden Vorstellungen spielten sich 
an derselben Stelle des Zentralorgans ab, so wäre es als ein reines Wunder 
anzusehen, dafs die Vorstellung „a“, wenn sie ein andermal gleichzeitig 
mit einer anderen Vorstellung „c“ auftaucht — die entsprechenden Parallel- 
prozesse sollen sich wieder an ein- und derselben Stelle des Zentralorgans 
abspielen — wiedererkannt und mit der früher dagewesenen Vorstellung 
„na“ identifiziert werden kann. Denn es ist wohl ganz undenkbar, dafs die 


328 III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 


Parallelprozesse von „b“ und „c“, falls sie sich mit denjenigen von „a“ an 
der gleichen Stelle abspielten, die letztgenannten Prozesse nicht ganz wesent- 
lich beeinflussen, die Vorstellung „a“ nicht in sehr erheblicher Weise ver- 
ändern sollten. Diese Annahme erscheint mir wenigstens unausweichlich, 
gleichgültig, ob die psychophysischen Prozesse chemischer oder elektrischer 
Natur sind. Nun kommt aber der Fall fast niemals vor, dafs die Vorstellung 
„a“ bei ihrem zweitmaligen Auftauchen ausschliefslich von denselben Vor- 
stellungen zeitlich begleitet wird, die mit ihr auch bei ihrem ersten Auf- 
treten gleichzeitig im Bewulstsein da waren. Spielten sich gleichzeitig 
auftauchende Vorstellungen nicht an verschiedenen Stellen des Zentral- 
organs ab, so wäre es in der Tat höchst wunderbar, dafs es überhaupt 
jemals zu einem Wiedererkennen einer Vorstellung kommt. 


Es entspricht ganz den Erwartungen, welche man auf Grund dieser 
Erwägungen einerseits, auf Grund des Kosterschen und des AUBERT- 
Foerrsterschen Gesetzes andererseits, hegen wird, wenn man erfährt, dafs 
die allgemeine geistige Leistungsfähigkeit im Zustande des eingeengten 
Bewulstseins erhöht ist,' sowie dafs die Erinnerungsbilder hier eine 
gröfsere, oft halluzinatorische Deutlichkeit besitzen. Die Versuchspersonen 
können sich einen gehörten Ton viel besser ins Gedächtnis zurückrufen als 
im Wachen;? Individuen, welche bei der Nennung von Gegenstandsbezeich- 
nungen im Wachen keine visuellen Vorstellungsbilder zu haben angeben, 
nehmen solche nun mit sinnlicher Lebhaftigkeit wahr. 


Aber auch im Gebiete der Empfindungen ist die Deutlichkeit erhöht. 
„Die Nachbilder sind von längerer Dauer.“? Endlich scheinen Phänomene 
aufzutreten, welche denjenigen, über die das K. G. Rechenschaft gibt, 
ziemlich genau entsprechen. „Sobald meine Aufmerksamkeit durch den 
„Experimentator auf einen sinnlichen Eindruck gelenkt wird, habe ich 
„diesen Eindruck lebhafter und klarer als im Wachen.“ ® 


Ferner ist an die Tatsache zu erinnern, dafs eine gleiche Wechsel- 
wirkung auch zwischen rein geistigen und motorischen Prozessen besteht. 
„Das Füäusteballen und Aufstampfen mit dem Fufse trägt bei zum Ver- 
„rauchen des Zornes; der Tränen vergeblicher Lauf bewirkt doch Linderung 
„des Kummers“... „Die Hexen sangen auf der Folter. Lastentragen oder 
„Holzhacken verträgt sich nicht mit tiefem Nachdenken. Man geht spazieren 
„und unterhält sich dabei mit einem Freunde. Aber je schneller der Gang, 
„desto einsilbiger wird das Gespräch, und umgekehrt, je schwieriger der 
„Gedankengang des Gesprächs, desto langsamer der Gang, bis die Unter- 
„redenden schliefslich, um ordentlich aufeinander los zu argumentieren, 
„völlig stehen bleiben.“ (EnsınsHaus, Grundzüge der Psychol. 1902, S. 572.) 
So spielt denn auch die Annahme, dafs sich ungleichartige, an verschiedenen 


! N. Ach, Über geistige Leistungsfähigkeit im Zustand des eingeengten 
Bewulstseins. Zeitschr. f. Hypnotismus 9, 1899. 

2? O. Voert, Die direkte psychologische Experimentalmethode in hyp- 
notischen Bewulstseinszuständen. Zeitschr. f. Hypnotismus 5, 1897. 

3 O. Voer, l. c. S. 205. 


III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 329 


Stellen des Zentralorgans ablaufende Prozesse wechselseitig stören, in der 
neuesten Theorie der Aufmerksamkeit, derjenigen von EBBInGHAUS, eine 
wichtige Rolle. 


Die gleichen Nebenwirkungen treten, wie wir sahen, auf, 
wenn wir bei unverändertem Netzhautbild die scheinbare Grölse 
ändern. Die Aufmerksamkeit. besitzt die gleiche Intoleranz 
gegenüber zu bedeutender scheinbarer Gröfse der Objekte wie 
gegenüber zu beträchtlicher Netzhautbildgröfse. 


Das Kostersche Phänomen lehrt mit Bestimmtheit, — dies 
muls mit besonderem Nachdruck betont werden — dals in zwei 
Fällen, welche dadurch charakterisiert sind, dafs zwei Objekte 
die gleichen Netzhautbilder liefern, aber in verschiedener schein- 
barer Grölse erscheinen, nicht etwa die „reine“ oder, wie man 
gelegentlich auch sagt, die „primäre“ Empfindung, gleich ist, 
und dafs sich jene beiden Fälle keineswegs nur durch das Hin- 
-zutreten eines verschiedenen Erlebnisses von „Urteils*-Charakter 
unterscheiden. Auch die „reinen“ Empfindungen erfahren, ins- 
besondere hinsichtlich Helligkeit und Sättigung, bei Änderung 
der scheinbaren Gröfse eine Modifikation. Daher mufs auch das 
materielle Korrelat schon der „primären“ Empfindung in zwei 
Fällen der genannten Art verschieden sein. Es ist aber kaum 
einzusehen, worauf anders diese Verschiedenheit der Korrelate 
der „primären“ Empfindungen beruhen soll, als darauf, dafs die 
Erregung in beiden Fällen im Zentralorgan eine verschieden 
weite Ausbreitung erfährt. Indem wir den Nachweis erbringen 
werden (S. 340f.), dafs die qualitative Verschiedenheit der „pri- 
mären“ Empfindung, welche man nach neueren und plausibel 
erscheinenden Anschauungen! bei verschieden grofser Ausbreitung 
einer von gleichen Netzhautbildern herrührenden Erregung im 
Zentralorgan erwarten würde, gerade mit der vom Kosterschen 
Satze tatsächlich konstatierten übereinstimmt, werden wir eine 
weitere Stütze? für die Annahme einer verschieden grolsen Aus- 
breitung der Erregung im Falle verschiedener scheinbarer Grölse 
der Objekte beibringen. 


! Aufmerksamkeitstheorie von EBBINGHAUS. 

® In Anbetracht der hypothetischen Natur unserer Vorstellungen vom 
Wesen der Aufmerksamkeit kann nur von einer weiteren „Stütze“, nicht 
von einem neuen „Beweis“ gesprochen werden. 


330 III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 


§ 2. 


Wir haben nun zuzusehen, ob die Hirnanatomie gegen die 
Hypothese des vorigen Paragraphen Einwände erhebt. 

Wenn jeder Aufnahmeapparat nur mit einer bestimmten, 
sehr kleinen Stelle der Sehsphäre in fester und unveränderlicher 
Verbindung stünde („insulare Vertretung“), so wäre schwer zu 
begreifen, wie infolge der Gedächtnisgröfse — also unter dem Ein- 
flufs der Erfahrung — derselbe Netzhautbezirk die Fähigkeit er- 
langen sollte, seine Erregungen im Falle eines scheinbar grofsen 
Gegenstandes über ausgedehntere Bezirke der Sehsphäre zu er- 
giefsen. Diese Möglichkeit besteht hingegen sehr wohl, wenn 
die Aufnahmeapparate mit relativ sehr ausgedehnten Bezirken 
der Sehsphäre in Verbindung stehen; wenn die Anschlüsse so 
reich angelegt sind, dafs bei Reizung eines bestimmten Aufnahme- 
apparates nicht jederzeit alle von ihm zur Sehsphäre laufen- 
den Bahnen in Aktion treten müssen, wenn vielmehr ein Reserve- 
vorrat von Bahnen vorhanden ist, welcher nur bei scheinbar 
grofsen Objekten, also infolge irgendwelcher Vermittlung von 
Erfahrungseinflüssen in Aktion tritt, und für diesen Fall eine 
stärkere Ausbreitung der Erregung über die Hirnrinde er- 
möglicht. 

Die Lehre von der inselförmigen Vertretung der Netzhaut- 
gebiete, speziell der Makula, wird in der Gegenwart in ausge- 
führterer Form besonders von HEnscHEN! vertreten. HENSCHEN 
stützt seine Ansicht vor allem auf ein Exklusionsverfahren. Bei 
den Sehstörungen zentralen Urspungs, bei welchen das Sehver- 
mögen nicht völlig aufgehoben ist, bleibt bekanntlich die Makula 
funktionstüchtig [zuweilen sie ausschliefslich, wie in dem be- 
rühmten Forrsterschen Falle (FoERSTER ]. c.)]; die Sehschärfe 
kann in ihrem Bereich herabgesetzt sein. Da nun HENscHEN 
in einigen derartigen Fällen in übereinstimmender Weise die 
vordere Partie der Calcarinarinde unversehrt fand, so nimmt er 
diese Region als Repräsentationsbezirk der Makula an. Hiermit 


! Rapport sur le centre cortical de la vision. XIIIe Congr. internat. 
de med. Paris 1900. Sect. d’ophth. Compt. rend. S. 232. — S8. E. HENSCHEN, 
Klin. u. anat. Beitr. zur Pathol. des Gehirns. Bd. 1—3. Upsala 1890—92. 
(Das letztere Werk zit. nach v. Moxaxow, Erg. der Physiol. Jahrg. I. 
Abt. II. 1902, S. 555.) 


I1I. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 331 


scheint jedoch der Befund von H. Sacms nicht zu stimmen, 
welcher im Gehirn des Forrsterschen Rindenblinden bei der 
anatomischen Durchforschung die von HEnscHEn angegebene 
Stelle zerstört, dagegen einen anderen Bezirk in der hinteren 
Partie der Fiss. calcar. erhalten fand. Die Fälle von FOERSTER 
und HexscHen lehren demnach, wie von Monakow (l. c.) und 
BERNHEMER ? übereinstimmend hervorheben, nur das Eine, dafs 
die Makula weder in der vorderen noch in der hinteren Partie 
der Fossa calcar. allein vertreten sein kann. 

Ein Versuch, die auch von ihm seinerzeit vertretene Lehre 
von der insulären Vertretung der Makula mit der merkwürdigen 
und zu jener Ansicht schlecht stimmenden Tatsache ihrer funk- 
tionellen Sonderstellung auf theoretischem Wege in Einklang 
zu bringen, rührt von FoERSTER her (l. c.). FOERSTER nimmt 
hypothetisch an, dafs der Makulabezirk nicht nur durch das 
Hauptgefäls, welches den Hinterhautlappen mit Blut versorgt, 
sondern noch durch eine zweite Arterie gespeist werde. Tritt 
dann infolge Verstopfung oder Zirkulationsstörung jenes Haupt- 
gefälses die übrige Sehsphäre aufser Funktion, so kann sich 
doch die Rinde der Makula infolge ihrer doppelten Versorgung 
in relativ gutem Ernährungs- und Funktionszustande befinden. — 
Diese Hypothese scheint gegenwärtig nicht mehr ernstlich in 
Betracht zu kommen; denn es ist bisher niemandem gelungen, 
die doppelte Blutversorgung der Calcarinarinde anatomisch nach- 
zuweisen (BERNHEIMER |. c.). 

Wesrand? stellte die Ansicht auf, dafs jeder Punkt der 
Makula, im Gegensatz zu denen der Peripherie, sowohl in der 
rechten wie in der linken Sehsphäre vertreten sei. Eine ana- 
tomische Bestätigung ist auch für diese Ansicht bisher nicht er- 
bracht worden. 

Während also die klinisch-anatomischen Methoden die Rich- 
tigkeit der strengen Projektionstheorie zwar unwahrscheinlich 
erscheinen lassen, aber immerhin noch einen weiten Spielraum 
der Ansichten gestatten, läfst sich jene Theorie mit den von 


! Das Gehirn des Forrsterschen Rindenblinden. Arb. aus d. psych. 
Klin. Breslau, 1895. 

? Die kortikalen Sehzentren. Referat im Auftr. des intern. Kongr. 
Paris 1900. Wien. Klin. Wochenschr. 1900 Nr. 42. 

3 Die Doppelversorgung der Makula lutea etc. Festschr. f. R. FOERSTER, 
1895. 


III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 333 


Existenz von Leitungsmöglichkeiten nach fast allen, vielleicht 
nach allen Teilen der Sehsphäre erwiesen ist.! 


Freilich darf man eine Reihe anderer Tatsachen nieht über- 
sehen, welche für bestimmte Netzhautgebiete, nämlich für die- 
jenigen der Peripherie, ein relative Projektion wahrscheinlich 
machen. 

Munk? und OBREGIA® reizten beim Hunde verschiedene Teile 
der Sehsphäre mittels des faradischen Stromes. Bei Reizung 
der hinteren Teile der Sehsphäre erfolgten Augenbewegungen nach 
oben,'bei Reizung der mittleren Partien wurde konjugierte Deviation 
nach der kontralateralen Seite beobachtet, bei Reizung in den 
vorderen Partien erfolgten Augenbewegungen nach unten. Diese 
Ergebnisse haben sich bei einer Wiederholung der Versuche durch 
Bersrer* in allen Einzelheiten bestätigt. Das plötzliche erstaunte 
Aufblicken des Tieres, das alle Zeichen gespannter Aufmerksam- 
keit darbiete, während es eben noch ruhig, fast teilnahmlos da- 
lag, lasse, so sagt BERGER, in dem Zuschauer an der Munxschen 


! Seit dem Erscheinen des Sammelreferats von v. Moxnakow haben 
WILBRAND u. SAENGER (Neurologie des Auges IIl, 1. S. 215) die Lehre von 
der.inselförmigen Vertretung der Makula und von der strengen Retina- 
projektion von neuem verteidigt. v. Moxakow hält, wie aus der mit seiner 
Unterstützung durchgeführten Arbeit seines Schülers Wenruı (Arch. f. 
Ophth. 62) ersichtlich ist, auch angesichts der Wıreranpschen Fälle an seiner 
ursprünglichen Lehre fest. Da jene Beobachtungen nicht durch Sektions- 
befunde und mikroskopische Untersuchungen ergänzt sind, und da somit 
‚der Sitz, bzw. die Tiefe der Läsion, nicht mit Sicherheit zu erkennen ist, 
so vermag ihnen v. Monakow angesichts der schwerwiegenden Gegen- 
instanzen Beweiskraft nicht zuzuerkennen. Der in WıLsranps späterer 
Veröffentlichung (Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 1907) neu hinzuge- 
kommene Fall hat sich im Anschluls an eine Infektionskrankheit ent- 
wickelt, und er dürfte daher auch noch dem Einwand unterliegen, welchen 
WenrLı gegen die Beobachtungen an Luetischen und Diabetischen erhoben 
hat. — Die endgültige Entscheidung der Frage liegt der Hirnanatomie ob. 
Die Ausführungen dieses Abschnitts erheben lediglich den Anspruch, eine 
beim gegenwärtigen Stande der Forschung annehmbare Hypothese zu sein. 
Wir verhehlen uns nicht, dafs die Psychologie den sicheren Boden der 
experimentellen und beobachtenden Analyse mit dem schwankenden der 
Hypothese vertauscht, sowie sie zu hirnphysiologischen Deutungen schreitet. 

2 Über die Funktionen der Grofshirnrinde, Berlin 1890. S. 293 ff. 

3 Über Augenbewegungen auf Sehsphärenreizung. Arch. f. Anat. u. 
Phys. 1890. S. 260. 

* Experimentelle Untersuchungen über die von der Sehsphäre aus 
ausgelösten Augenbewegungen. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 9, 1901. 


334 IIl. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 


Erklärung des Phänomens, wonach das Tier in einer bestimmten 
Richtung eine Gesichtshalluzination hat, einen Zweifel nicht auf- 
kommen. Bei Wiederholung der Versuche nach Injektion von 
Morphin, welches nach den Erfahrungen am Menschen die 
Deutlichkeit von Halluzinationen herabsetzt, traten keine Augen- 
bewegungen auf, während bei Reizung der motorischen Zentren 
Bewegungen stattfanden; ebenso bleiben die Augenbewegungen 
in mitteltiefer Narkose, bei welcher die motorischen Zentren noch 
auf den elektrischen Reiz ansprechen, aus; der Reizerfolg ist 
modifizierbar durch psychische Vorgänge des Tieres, namentlich 
durch Unruhe und Ängstlichkeit desselben, sowie durch zu grolse 
Schmerzhaftigkeit der Operation. 

Es scheint demnach sichergestellt zu sein, dafs gewisse Partien 
der Netzhautperipherie zu bestimmten Teilen der Sehsphäre in 
engerer Beziehung stehen als zu anderen. So fügt denn auch 
v. Moxakow seinen Ausführungen diese Einschränkung hinzu. 

Man kann die Frage aufwerfen, ob angesichts dieser Tat- 
sache die Anwendung des psychophysischen Axioms noch ge- 
stattet ist. 

Wenn wir nämlich zwei gleiche Wahrnehmungen herstellen, 
indem wir das eine Mal eine gleichförmige begrenzte Fläche 
unter Mikropsie betrachten, das andere Mal eine wirkliche Ver- 
kleinerung der Fläche und darum des Netzhautbildes vornehmen, 
so nahmen wir ja Gleichheit der psychophysischen Prozesse an. 

Wenn wir Mikropsie erzeugen, so würden also die von den 
seitlichen Gebieten der Netzhaut her ausgelösten Erregungen 
nun Rindengebieten zugeführt werden, die vor dem Eintritt der 
Mikropsie nur von mehr zentral gelegenen Netzhautstellen aus 
erregt wurden. 

Ganz das gleiche müfste eintreten, wenn man von der Be- 
trachtung eines relativ fernen, also scheinbar grofsen Gegen- 
standes zu der eines relativ nahen, also scheinbar kleinen Gegen- 
standes übergeht, der dem ersteren geometrisch ähnlich sein und 
sich aufserdem auf denselben Punkten der Netzhaut ab- 
bilden soll. 

Die von Muxk inaugurierten Versuche lehren nun, dafs die 
Augenbewegungen von den sensorischen Feldern her innerviert 
werden. Wenn wir nun, wie dies im täglichen Leben fortwährend 
geschieht, Gegenstände betrachten, die in verschiedener schein- 
barer Gröfse erscheinen, aber gleich ausgedehnte Netzhautbilder 


1II. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 335 


erzeugen, so würde, wenn wir unsere Aufmerksamkeit einem 
seitlichen Punkte dieser Netzhautbilder zuwenden und darum, 
wie unter gewöhnlichen Umständen stets, den betreffenden Punkt 
des Objektes auf die Makula zu bringen trachten, von dem 
gleichen Punkte der Netzhaut aus im Falle des scheinbar grolsen 
Objektes ein Impuls zu einer relativ weiten, im Falle des 
scheinbar kleinen Objektes ein Impuls zu einer relativ geringen 
Exkursionsbewegung ausgehen. 

Es wären also den einzelnen Punkten der Netzhautperipherie 
nicht mehr eindeutig-bestimmte Augenbewegungen zugeordnet. 
Die Sicherheit, mit welcher wir einen vorher mit der Netzhaut- 
peripherie gesehenen Gegenstand auf die Makula bringen, gleich- 
gültig, welche scheinbare Gröfse der Gegenstand besitzt, wäre 
nur durch Hilfshypothesen verständlich zu machen, die über Vor- 
kehrungen Auskunft geben mülsten, durch welche der bei der 
Innervation gemachte Fehler im Verlaufe der Exkursion wieder 
korrigiert würde. — Es ist sehr unwahrscheinlich, dafs die Natur 
bei einem so wichtigen und während des Wachens ununter- 
brochen in Wirksamkeit befindlichen Vorgangs fortwährend Fehler 
macht, die sie dann nachträglich wieder korrigiert. 

Sehen wir zu, ob wir nicht vielleicht nur infolge unserer 
Voreiligkeit in diese Schwierigkeit geraten sind! Man wird zu- 
weilen die in verschiedenen Konstellationen hervorgerufenen 
psycho-physischen Prozesse bei der erstmaligen Anstellung der 
betreffenden Versuche für gleich zu halten geneigt sein, während 
eine ausgedehntere Variation der äulseren, sowie auch der inneren 
Bedingungen zeigt, dals sich die betreffenden Empfindungen 
doch in gewissen, anfangs nicht beachteten Hinsichten von- 
einander unterscheiden, so dafs man die Empfindungen und dem- 
gemäls auch die korrespondierenden psycho-physischen Prozesse 
nicht als gleich, sondern nur als ähnlich betrachten kann. Einen 
instruktiven Fall dieser Art hat bei Modifikation der Hrrınesschen 
Grundversuche D. Katz! beobachtet. Es ist eine bekannte 
Tatsache, dafs eine Wand oder irgendein anderes Objekt, dessen 
einzelne Teile vom Fenster ungleich weit entfernt und darum 
verschieden stark beleuchtet sind, infolge der Gedächtnisfarbe 
trotzdem in gleichförmiger Helligkeit erscheinen kann. Auf 
Grund dieses Eindrucks der gleichförmigen Helligkeit wird man 


1 Zentralblatt f. Physiol. 20, Nr. 16. 


336 III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 


geneigt sein, die von den verschiedenen Teilen der Fläche her 
ausgelösten Empfindungen, sowie die korrespondierenden psycho- 
physischen Prozesse, im strengen Sinne für gleich zu halten. Nun 
kann man den Einflufs der Gedächtnisfarbe auch mittels eines 
Paares von Farbenkreiseln studieren. Ist der eine der beiden 
nebeneinander und zur Seite des Fensters angebrachten Kreisel 
dem einfallenden Licht direkt ausgesetzt, während sich der andere 
im Schatten eines Schirmes befindet, und sind die Sektoren der 
Scheiben so reguliert, dals beide Scheiben gleich helle und auch 
qualitativ gleich beschaffene Netzhautbilder liefern, so erscheint 
trotz dieser physikalischen Gleichheit die im Schatten befindliche 
Scheibe heller. Wenn nun aber für den Augenschein eine 
Gleichung zwischen zwei derartigen Scheiben hergestellt werden 
soll, von denen also die eine infolge der Gedächtnisfarbe heller 
erscheint als bei Ausschlie[sung dieses Faktors, da zeigt sich, 
dafs zwischen derartigen Scheiben eine vollkommene Gleichung 
überhaupt nicht hergestellt werden kannt, dafs man demgemäls 
auch niemals völlig gleiche, sondern nur ähnliche psychophysische 
Prozesse erzeugen kann, wenn man die Helligkeit einmal subjektiv 
ändert — durch Einführung von Versuchsbedingungen, welche die 
Gedächtnisfarbe erwecken —, ein andermal objektiv durch Ver- 
änderung der Scheibe. Im Gebiete der Grölsenwahrnehmung 
begegnen wir ganz ähnlichen Verhältnissen. G. Marrus? fand 
es sehr schwierig, zwischen der scheinbaren Gröfse von Stäben, 
die in verschiedener Entfernung aufgestellt waren, eine Gleichung 
zu erhalten.” So eklatant die Gröfsenänderungen sind, welche 
man bei Mikropsie, sei es mit Linsen oder Konvergenzplatten, 
erzielt, so schwer wurde es mir stets, Gröfsengleichungen zwischen 
einem unter solchen und einem unter gewöhnlichen Umständen 
betrachteten Objekt herzustellen.* 





! Katz, |. c. 

® Über die scheinbare Gröfse der Gegenstände und ihre Beziehung 
zur Gröfse der Netzhautbilder. Philosoph. Studien 5. 1889. 

® Bei diesen Versuchen wirkt der psychische Faktor der scheinbaren 
Gröfse in beiden Konstellationen mit, nur in verschieden starkem Mafse. 
Diesen Faktor auszuschliefsen, ist gänzlich unmöglich. Durch Aufstellung 
der Objekte in gleicher Entfernung vom Auge erreicht man aber, dafs der 
Wirksamkeitsgrad jenes Faktors in beiden Fällen der gleiche ist. Bei den 
Gedächtnisfarben werden wohl die Dinge kaum anders liegen. 

t Seitdem ich dies niederschrieb, glaube ich wenigstens die Schwierig- 
keiten, welche sich dem Vergleichsvorgang hier entgegenstellen, etwas 
näher erkannt zu haben (vgl. IV. Abschnitt). 


III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 337 


Der geringe Grad der subjektiven Sicherheit bei derartigen Versuchen 
gestattet gar keinen Vergleich mit der subjektiven Sicherheit bei der Ver- 
gleichung von Distanzen, die in derselben Entfernung vom Auge dar- 
geboten werden. 


Würden die psychophysischen Prozesse in den beiden Kon- 
stellationen, welche uns hier beschäftigen, völlig übereinstimmen, 
so könnte auch die subjektive Sicherheit des Urteils über den 
Grad der Gröfsenänderung nicht so erheblich verschieden sein. 


Wir sahen die mehrfach erwähnte Annahme nur darum in 
Schwierigkeiten verwickelt, weil wir völlige Übereinstimmung 
der psychophysischen Prozesse verlangten, während eine solche 
Übereinstimmung anscheinend nur teilweise besteht. In welchem 
Punkte aber stimmen die psychophysischen Prozesse, bzw. die 
ihnen schon vorangehenden nervösen Prozesse überein? Wenn 
im HermHoLtzschen Versuch gleichzeitig immer nur ein kleiner 
Teil des Gesichtsfeldes deutlich gesehen wird, so kann dies wohl 
nur daran liegen, dafs die Erstreckung der nervösen Erregung 
auf zu zahlreiche Nervenorgane, sei es in der Sehsphäre, sei es 
bereits in tieferen Stationen, eine Herabsetzung der Deutlichkeit 
der Empfindungen zur Folge haben würde. Jedenfalls besteht 
ein solcher Zusammenhang zwischen der Zahl der erregten Ele- 
mente und der Deutlichkeit der Empfindungen in der Tat, gleich- 
gültig, ob wir diesen Zusammenhang zurzeit begreifen können oder 
nicht. Wenn wir nun die gleiche Erscheinung bei Verschieden- 
heit, nicht der wirklichen, sondern der scheinbaren Gröfse 
beobachten, wenn auch hier bei Zunahme der scheinbaren Grölse 
die Deutlichkeit abnimmt, so können wir wiederum nur dies 
eine vermuten, dafs die Zahl der von einer bestimmten Höhe 
des Nervensystems an ergriffenen Elemente zu grofs geworden 
sei, als dafs — wiederum, wie zuvor, durch Vermittlung un- 
bekannter Gründe — eine hinlänglich differenzierte Empfindung 
resultieren könnte. Keineswegs aber lälst sich auf Grund dieser 
Übereinstimnung etwas Näheres vermuten, namentlich nicht be- 
züglich der Frage, ob die Fasern und Zellen übereinstimmen, 
welche bei Zunahme der Gröfse des Netzhautbildes einerseits, 
bei alleiniger Zunahme der scheinbaren Grölfse andererseits von 
einer bestimmten Höhe des Nervensystems an neu in Aktion 
treten. Wenn das A. F. G. nicht dazu benutzt wird, um eine 
neue Vermutung aufzustellen, sondern, um eine durch andere 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 22 


338 III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 


Tatsachen nahegelegte Vermutung zu bestätigen, so kann der 
Inhalt der Hypothese, welchen es zu bestätigen vermag, nur von 
der allgemeinen Form sein, dafs sich auch bei alleiniger Änderung 
der Gedächtnisgrölse die Grölse des Erregungsbezirkes von einer 
bestimmten Höhe des Nervensystems an ändert; etwaige nähere 
Einzelheiten solcher Hypothesen, Aussagen über die Individualität 
der zur Leitung benutzten Faserzüge, vermag dieses Gesetz nicht 
zu bestätigen. Nun bedürfen wir aber auch nicht der Bestätigung 
für solche weitergehende Vermutungen, denn wir haben zu ihnen 
gar keinen Grund. Wir haben ja gesehen, dafs wir unsere ein- 
gangs auf Grund der psychophysischen Axiome aufgestellte Ver- 
mutung gar nicht in der Weise formulieren dürfen, dafs wir 
völlige Gleichheit der psychophysischen Prozesse annehmen. 
Die Annahme, dafs die Erregung bei Zunahme der scheinbaren 
Gröfse, ebenso wie bei Zunahme der wirklichen Gröfse, von einer 
bestimmten Höhe des Nervensystems an eine grölsere Anzahl 
von Nervenelementen erfasse, wie im Falle geringerer Grölse, 
sind wir nach wie vor festzuhalten genötigt. Aber die Art der 
räumlichen Verteilung der Nervenerregung bei alleiniger Änderung 
der scheinbaren Gröfse und bei Änderung des Netzhautbildes 
kann nicht völlig übereinstimmen, selbst in den höchsten Stationen 
nicht. Denn anderenfalls bliebe der vorhin (S. 336f.) gekenn- 
zeichnete erhebliche Unterschied der unter diesen beiden ver- 
schiedenen Umständen auftretenden Grölsenwahrnehmungen un- 
verständlich. 


Am nächsten liegt daher die Annahme, dafs zu jedem Netz- 
hautpunkte eine Reihe von Zuleitungswegen nach der Grols- 
hirnrinde gehört, dafs in Fällen, in denen zwei Reize gleiche 
Netzhautbilder erzeugen, stets einige von den zu jedem einzelnen 
gereizten Aufnahmeapparat gehörigen Zuleitungswegen nach der 
Grolshirnrinde in Aktion treten, dals aber von den einem be- 
stimmten Punkte zugeordneten Zuleitungswegen eine um so 
gröfsere Anzahl in Aktion tritt, und dafs daher auch der in Er- 
regung geratende Bezirk der Groľshirnrinde um so gröfser ist, 
je bedeutender die scheinbare Gröfse des Sehfeldes ist. 


Es wäre dann auch verständlich, dafs das Augenmafs für- 
Strecken, die in gleicher Entfernung vom Auge dargeboten 
werden, so viel genauer ist. HELMHOLTZ und Hering heben über- 
einstimmend hervor, und SCHUMANN konnte die Richtigkeit dieser- 


III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 339 


Beobachtung bestätigen!, dals man in diesem Falle den Blick erst 
auf die Mitte der einen, dann auf die der anderen Strecke richtet. 
„Die Netzhaut ist wie ein Zirkel, dessen Spitzen wir nacheinander 
„an die Enden verschiedener Linien ansetzen, um zu sehen, ob 
„sie gleich lang sind oder nicht, wobei wir über die Entfernung 
„der Zirkelspitzen und die Form des Zirkels nichts weiter zu 
„wissen brauchen, als dafs sie unverändert geblieben sind (HELn- 
HOLTZ, Phys. Opt. 2. Aufl. S. 689). 

Wenn sich auch manche Beobachter anderer Kriterien be- 
dienen mögen, so geht aus dem Dargelegten doch hervor, dafs 
die Netzhaut wie ein Zirkel benutzt werden kann. Die Strecken 
werden für gleich gehalten, weil dieselbe Netzhautstelle, welche 
mit dem Endpunkt der ersten Strecke zusammenfiel, auch mit 
dem der zweiten zusammenfällt, weil sich die Erregung weiterhin 
in ganz bestimmten Leitungsbahnen fortpflanzt, nämlich in 
Bahnen, welche einer ganz bestimmten Netzhautstelle zugeordnet 
sind, und weil endlich wiederum ganz bestimmte Grofshirnregionen 
getroffen werden, nämlich Grofshirnregionen, welche durch ihre 
Zuordnung zu einer ganz bestimmten Netzhautstelle charakteri- 
siert sind. 

Denken wir uns nun aber, wir sollen verschieden grolse 
Gegenstände miteinander vergleichen, die in gleicher Entfernung 
vom Auge aufgestellt sind, deren Netzhautbilder eine so ver- 
schiedene Lage im Auge besitzen, dals keine Nervenfaser gleich- 
zeitig zur Übermittlung des ersten und des zweiten Netzhaut- 
bildes dient! Schon in diesem Falle — wir brauchen uns gar 
nicht erst in das Gebiet der scheinbaren Grölse zu begeben — 
wird man in allen denjenigen Fällen, in denen man einen Gegen- 
stand für gröfser erklärt, als einen anderen, annehmen müssen, 
dafs es nur die Ausdehnung der hierbei im Zentralorgan er- 
regten Gebiete ist, welche in allen diesen Fällen zu dem Urteil 
Anlafs gibt. Ein anderes gemeinsames Moment dieser Fälle wird 
sich schwerlich auffinden lassen. 

Wir haben auch keinen Grund zu der Annahme, dafs in dem 
genannten Falle jedem der beiden, je eine bestimmte Partie der 
Netzhaut kontinuierlich ausfüllenden Netzhautbilder wiederum je 
eine kontinuierliche Erregungsfläche im Projektionsfelde ent- 


! Beitr. zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen III. Zeitschr. f. 
Psychol. 30, 1902, S. 261. 
22+ 


340 III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 


sprechen werde. Das grofse Objekt wird einen gröfseren Bezirk 
der Sehsphäre erregen; aber welches die geometrische Beschaffen- 
heit des im Zentralorgan erregten Feldes ist, und ob dieses Feld 
überhaupt wiederum eine kontinuierliche Fläche darstellt, darüber 
läfst sich gar nichts aussagen. 

Warum gerade die Sehsphäre im Gegensatz zu den anderen 
Projektionsfeldern die Eigentümlichkeit besitzt, je nach der Aus- 
dehnung des Bezirkes ihrer Erregung, das zu dieser Erregung 
Anlafs gebende Objekt als mehr oder weniger ausgedehnt zu 
interpretieren? Hier hört alles Fragen auf — jetzt und wahr- 
scheinlich für alle Zeiten. An dieser Stelle liegt wohl eines der 
Welträtsel, deren Bearbeitung der Kompetenzsphäre menschlicher 
Wissenschaft prinzipiell und in alle Ewigkeit entzogen ist. 


83. 


Warum die über einen gröfseren Bezirk der Hirnrinde aus- 
gebreitete Erregung, falls sie überhaupt noch auf das Bewulstsein 
wirkt, weniger differenzierte Empfindungen liefert, dafür lassen 
sich zurzeit nur Vermutungen äulfsern. 

Es mag jedoch hervorgehoben werden, dafs ein solches Ver- 
halten mit einer neueren Theorie der Aufmerksamkeit, derjenigen 
von EssIxGHAus, in gutem Einklang steht. 

EBsinGHaAus setzt sich in einen gewissen Gegensatz zu den 
bisherigen Anschauungen vom Wesen der Aufmerksamkeit. Wenn 
wir aufmerksam sind, findet nach seiner Vermutung nicht eigent- 
lich, oder wenigstens nicht primär, eine Intensitätssteigerung der 
psychophysischen Prozesse statt; das Wesentliche ist nach ihm, 
dafs hier eine besondere Form der Verteilung der Erregungen 
im Gehirn stattfindet. Als die eigentümliche Wirkung der 
kortikalen Hemmungen und Bahnungen betrachtet jener Forscher 
nicht sowohl Abschwächungen und Verstärkungen der der Rinde 
zustrebenden Erregungen (dies nur als untergeordneten Neben- 
effekt), sondern vielmehr die Herbeiführung diffuser und sich 
verlaufender Erregungen einerseits, konzentrierter und differen- 
zierter Erregungen andererseits. 

Die Elemente des Nervensystems sind nicht blofs hintereinander 
geschaltet, sondern sie werden gleichzeitig in der mannigfachsten 
und ausgiebigsten Weise durch Querverbindungen zu einem Ganzen 
zusammengeschlossen. Infolge hiervon wird bei abgelenkter Auf- 


III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 341 


merksamkeit die an der Peripherie gesetzte Erregung die Rinde in 
Gestalt einer diffus ausgebreiteten und in ihrer Intensität abge- 
flachten Erregungsmasse erreichen, ohne scharfe Abgrenzung gegen 
die nicht oder anders erregte Umgebung. Ein solcher Erfolg wird 
natürlich nicht nur dann eintreten, wenn die relativ bedeutende 
Ausbreitung der Erregung innerhalb des Nervensystems auf einer 
übergrolsen Zahl der an der Peripherie gesetzten Reize beruht, 
sondern auch in denjenigen Fällen, in denen bei Vorhandensein 
nur weniger Aulsenreize trotzdem unter der Einwirkung innerer 
Faktoren eine bedeutende Ausbreitung der Erregung im Gebiete 
des Nervensystems eintritt. Die Enge des Bewulstseins macht 
ja nicht nur die Zahl der gleichzeitig perzipierbaren Aulsenreize, 
sondern auch diejenige der nebeneinander ablaufenden rein 
inneren Vorgänge zu einer begrenzten. Auch finden sich die 
Querverbindungen, Kommissuren- und Assoziationsfasern, denen 
hier eine ausschlaggebende Rolle zugeschrieben wird, nicht nur 
im Rückenmark und in den subkortikalen Zentren, sondern in 
besonders reichlicher Menge gerade im Grofshirn. Wenn nun 
unter den Bedingungen des Kosrterschen oder des AUBERT- 
ForrsTERschen Versuches eine Verminderung von Helligkeits- 
differenzen stattfindet, und infolge davon weiterhin eine gewisse 
Verwaschenheit und Undeutlichkeit des Eindruckes eintritt — 
Erscheinungen, die ja von der hier entwickelten Theorie des 
A. F. G. und K. G. auf eine gröfsere Ausbreitung der Erregung 
zurückgeführt werden — so muls man zugeben, dafs sich hier 
die von der EssıneHausschen Theorie der Aufmerksamkeit für 
diesen Fall geforderten Verhältnisse in recht reiner Gestalt finden; 
die Empfindungskomplexe besitzen einen mehr diffusen Charakter 
und sind weniger scharf abgegrenzt gegenüber der nicht, bzw. 
anders erregten Umgebung. Und andererseits geben unsere Be- 
obachtungen keinen Anlals, dem Einflufs der Verteilung auf die 
Intensität der Erregungen eine grölsere Bedeutung zuzu- 
schreiben. Bestünde hingegen der wesentliche Effekt der Aus- 
breitung der Erregungen in einer Herabsetzung ihrer Intensität, 
so mülste man dieselben Änderungen, die bei komplizierteren 
Objekten auftreten, auch bei gleichförmigen Flächen erwarten. 
Bei Betrachtung gleichförmiger Flächen ist ein Unterschied, wie 
wir sahen, bei der Betrachtung mit und ohne Mikropsie nicht, 
oder wenigstens nicht mit Sicherheit wahrzunehmen. Es verhält 
sich nicht so, dafs eine gleichförmige helle Fläche bei Mikropsie 


342 IIl. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 


stets heller, eine dunkle stets dunkler würde. Aber ein helles 
Objekt auf dunklerem Grunde erscheint in der Regel heller, ein 
dunkles Objekt auf hellerem Grunde dunkler (K. G.). Es kommt 
durchaus auf das „Zusammen“ der psychophysischen Prozesse, 
nicht aber auf dieselben in ihrer Isoliertheit an. Ähnlich scheint 
es mir mit dem Sättigungsgrade zu sein. 

Nicht die Intensität der Empfindungskomplexe nimmt in- 
folge der weiteren Ausbreitung der Erregung ab, sondern immer 
nur ihre Differenziertheit, die Schärfe, mit der sich die 
einzelnen Teile des Sehfeldes voneinander abheben; wenn auch 
eine Neigung zu bestehen scheint, diese Änderung auf das kleine 
innerhalb des grofsen Feldes erscheinende Objekt zu beziehen. 
Nur durch künstliche Hypothesen vermöchte man vom Boden 
der Ansicht aus, welche den Schwerpunkt in die Herabsetzung 
der Intensität verlegt, diesen Tatsachen gerecht zu werden. 

Da nun umgekehrt die EsBinGHaus’sche Theorie von einem 
weiten Gebiet von Tatsachen in, wie es scheint, befriedigender 
Weise Rechenschaft gibt, so ist die Übereinstimmung, welche 
sich zwischen den Konsequenzen jener Theorie und denjenigen 
der hier dargelegten Ansicht über die psychophysischen Grund- 
lagen des A. F. G. und des K. G. ergibt, gleichzeitig ein weiterer 
Beleg für die wahrscheinliche Richtigkeit der letzteren Ver- 
mutung. 

Andererseits liefern, wie uns scheint, die Kosrerschen Ver- 
suche eine recht anschauliche Illustration zu der Vorstellungsweise 
der Essmnemavus’schen Theorie, und sie dürften daher einen 
Stützpunkt derselben darstellen. 


§ 4. 


Vielleicht ist man aber der Ansicht, dafs unsere theoretischen 
Anschauungen an der Tatsache, dafs die Helligkeit einer gleich- 
förmigen Fläche von ihrer scheinbaren Gröfse unabhängig ist, eben 
scheitern müsse. Wenn wir Grund hätten, das Nervensystem 
nach Analogie eines Systems elektrischer Leitungsdrähte und 
den nervösen Leitungsprozels nach Analogie eines galvanischen 
Stromes aufzufassen, so würde unseren Anschauungen aus der 
genannten Tatsache allerdings eine ernste Schwierigkeit er- 
wachsen. Denn gemäls dem ersten KırcaHorrschen Gesetz, nach 
welchem im Falle einer Stromverzweigung die Summe der In- 


IIl. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 343 


tensitäten der Zweigströme gleich der Intensität des unverzweigten 
Stromes ist, mülsten wir bei einer Erhöhung der scheinbaren 
Gröfse, der ja nach obiger Auffassung auf materiellem Gebiet 
eine weitere Ausbreitung der nervösen Prozesse entspricht, eine 
jener Ausbreitung proportionale Herabsetzung der Intensität der 
psychophysischen Prozesse erwarten. 

Gegenwärtig ist jedoch die Auffassung, welche den nervösen 
Leitungsproze[s als einen elektrischen Leitungsprozels deutet, 
gänzlich aufgegeben. Stellen wir uns diese Prozesse mit HERING 
als chemische Prozesse vor, so bereitet uns die Tatsache, dafs 
eine Verzweigung nicht notwendig mit einer Intensitäts- oder 
Sättigungsabnahme verbunden ist, keine Schwierigkeit. Ein an 
seinem Ende angezündeter Schwefelfaden braucht jenseits einer 
Verzweigungsstelle nicht notwendig schwächer zu brennen. 


§ 5. 


Gegen die Richtigkeit der hier entwickelten Ansicht lassen 
sich jedoch noch Bedenken anderer Art vorbringen. Nach einer 
ziemlich allgemein verbreiteten Anschauung ist uns die Gröfse 
einer grofsen Anzahl von Sehdingen durch den Tastsinn be- 
kannt. Die Gröfse der anderen, dem Tastsinn nicht direkt zu- 
gänglichen Sehdinge lernen wir dann durch ihre Vergleichung 
mit den Objekten der ersteren Art kennen. Wir messen zwar 
die gleichzeitig wahrgenommenen Dinge stets mit dem gleichen 
Mafsstab, der aber in verschiedenen Momenten verschiedene 
Gröfse besitzt. Die Gröfse dieses Malsstabes richtet sich danach, 
auf welches bezüglich seiner Gröfse aus der Erfahrung bekannte 
Objekt die Aufmerksamkeit innerhalb des Sehfeldes vorwiegend 
konzentriert wird (Hering, Beitr. zur Physiol., S. 14). 

Die Erkennung eines Objektes innerhalb des Sehfeldes ist 
also der zeitlich erste Vorgang. Erst hieraus und hierauf kann 
sich der (subjektive) Mafsstab ergeben, mit welchem das Sehfeld 
gemessen wird. Nun richtet sich nach den hier dargelegten An- 
schauungen die Gröfse jenes Malsstabes nach der Ausbreitung, 
in welcher die Erregung in der Sehsphäre anlangt. Wie man 
mit gutem Grund annimmt, findet aber das Erkennen erst in 
der Rinde des. Grofshirns statt. Es ergäbe sich also der Wider- 
spruch, dafs einerseits der (subjektive) Malsstab, mit welchem 
der Sehraum gemessen wird, schon eindeutig bestimmt sein muls, 


344 III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 


bevor es zum Erkennen eines Gegenstandes kommen kann, .und 
dafs andererseits die Bestimmung des Mafsstabes erst auf Grund 
jenes Erkennens erfolgen soll. 


Diese Schwierigkeit würde aber nur solange bestehen, als 
wir genötigt sind, an der verbreiteten Lehre festzuhalten, dafs 
das Erkennen von Gegenständen, deren Gröfse durch die Er- 
fahrung, also entweder direkt oder durch die Vermittlung 
anderer psychischer Prozesse durch den Tastsinn bekannt ist, 
der Festsetzung des (subjektiven) Mafsstabes, mit welchem der 
Sehraum gemessen wird, vorausgehen mufs. Der experimentellen 
Analyse dieses Problems werden spätere Untersuchungen ge- 
widmet sein. An dieser Stelle begnügen wir uns mit dem Hin- 
weis, dafs z. B. schon für die scharfsinnige Theorie der schein- 
baren Grölse von HILLEBRAND !, welche — wir entscheiden hier 
nicht, ob mit Recht oder Unrecht — einen Zusammenhang 
zwischen scheinbarerer Gröfse und Querdisparation annimmt, 
diese Schwierigkeit nicht bestehen würde. 


8 6. 


Wie sind nun aber unsere Zählversuche (S. 117ff.) zu 
deuten? Haben wir wirklich anzunehmen, dafs bei gewissen 
Versuchspersonen für sehr kleine Gröfsen das A.F.G. nicht 
mehr gilt? 


Hierauf ist folgendes zu erwidern. 


Träte wirklich bei sehr kleinen Gröfsen das Gegenteil von 
der vom A.F.G. ausgesagten Tatsache ein, so mülsten nicht 
nur die Elemente der scheinbar kleineren Punktreihe schwerer 
zählbar sein, sie müfsten sich auch weniger gut vom Grunde ab- 
heben (Kosrersches Gesetz). Das Gegenteil ist, wie wir sahen, 
der Fall. á 

Nun bemerkten wir in der Tat, dafs, entsprechend der An- 
nahme von LanpoLt, Augenbewegungen beim Zählen eine 
Rolle spielen. Sollte nicht vielleicht die Unfähigkeit, die schein- 
bar sehr kleine Punktreihe zu zählen, daher rühren, dals infolge 


! Theorie der scheinbaren Gröfse im binokularen Sehen. Denkschriften 
der kaiserl. Akad. der Wiss. zu Wien, Math.-naturw. Klasse 1905. 


346 III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 


eröffnet sich bei Heranziehung gewisser physiologischer Tat- 
sachen. 

Ein bekanntes Phänomen ist die sog. „Bahnung“ der Re- 
flexe. Dieses Phänomen wird u. a. dann beobachtet, wenn ein 
Reflex von einer grölseren Zahl von Punkten einer bestimmten 
Körperregion her ausgelöst werden kann. Wenn beim Hunde 
das Rückenmark im unteren Teil der cervikalen Region durch- 
schnitten worden ist, so tritt in einigen Monaten der „Kratz- 
reflex“ hervor. Reize, die in einem breiten, sattelförmigen Haut- 
feld appliziert werden, erregen eine kratzende Bewegung des 
Hinterbeins. Wenn, während der Kratzreflex an einem Punkte 
der Haut an der Schulter hervorgerufen wird, ein zweiter, von 
dem ersten Punkt um einige Zentimeter entfernt, aber auch in 
dem rezeptorischen Feld gelegen, gereizt wird, so begünstigt der 
zweite Punkt die Reaktion des ersten. Sind die Reize von so 
geringer Intensität, dafs sie einzeln den Reflex nicht auszulösen 
vermögen, so sind sie doch, wenn gleichzeitig appliziert, hierzu 
fähig." Durchaus analoge Erscheinungen zeigen sich bei an- 
deren Reflexen.? Diese Fälle von Bahnungserscheinungen lassen 
sich zunächst auf mehrfache Weise erklären. 

Es ist erstens möglich, dafs alle motorischen Neurone, welche 
die letzte gemeinsame Strecke bilden, zusammen einen fast ein- 
heitlichen Apparat ausmachen, welcher nur intensiver funktio- 
niert, wenn er von mehreren Punkten des rezeptorischen Feldes 
her erregt wird, als dann, wenn der Reiz nur an einer einzelnen 
Stelle appliziert wird. Es könnte aber zweitens sein, dals bei 
Reizung verschiedener Punkte des rezeptorischen Feldes ein ge- 
trenntes Funktionieren der zugehörigen motorischen Neurone 
stattfindet, und dafs sich die Verstärkung der muskulösen Reaktion 
durch die Summierung der Kontraktion erklärt, welche in zwei 
getrennten Feldern des Muskelgewebes vorkommt (SHERRINGTON 
l. c. S. 817 ff.). 

Die Frage nach der Art der Verstärkung ist eine Frage 
zwischen Intensität und Extensität. SRERRINGTON ® suchte die 


ı Vgl. ©. S. Smeremeron, Über das Zusammenwirken der Rückenmarks- 
reflexe und das Prinzip der gemeinsamen Strecke. Erg. d. Physiol. Jahrg. 4. 
Abt. 2, S. 817. 

2 G. H. Parker, Amer. Journ. of Physiol. 10, Nr. 1, 1903. 

® Proc. Physiol. Soc. Journ. of Physiol. 31, Nr. 3, 18, 1904. Address. 
sect. Physiol. Brit. Ass. Reports Cambridge. 1904. Da mir die Original- 


III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 347 


Frage an der Hand des Kratzreflexes durch sinnreiche Experi- 
mente zu entscheiden. Wird der Kratzreflex einmal schwach, 
einmal stark erregt, so besteht ein Unterschied nur in der Aus- 
giebigkeit der Kontraktionen, während der Rhythmus, die 
Zahl der Kontraktionen in der Zeiteinheit, der gleiche bleibt. 

Der Reflex wird nun durch einen schwachen Reiz an einem 
Punkte a der Haut erregt; aufserdem wird noch ein anderer 
Punkt b des rezeptorischen Feldes gereizt, und die Reize bei b 
werden zeitlich so geregelt, dafs sie immer mit den bei a appli- 
zierten abwechseln. Wenn die zwei Bahnen in getrennte und 
unabhängig voneinander funktionierende letzte Strecken ein- 
mündeten, so sollte man erwarten, dafs nicht allein der Rhythmus 
der Erregung von a auftreten werde, sondern dafs sich die Zahl 
der Kontraktionen in der Zeiteinheit nach der Zahl der in der 
Zeiteinheit überhaupt — auf a und b zusammen — applizierten 
Reize bestimmen müsse. Wenigstens eine Andeutung von 
diesem zweifachen Rhythmus hätte man zu erwarten. Auch der 
Einwand ist abgeschnitten, dafs die Muskelfasern so rasch nach- 
einander auftretenden Erregungen nicht zu folgen vermögen ; 
denn die Erscheinung ändert ihren Charakter nicht, wenn der 
doppelte Rhythmus, welchen man unter den angegebenen Versuchs- 
bedingungen zu erwarten hätte, immer noch langsamer ist, als 
der schnellste Rhythmus, welchem der Muskel gerade noch Folge 
zu leisten vermag. Dals aber nicht etwa die Reizung des einen 
der beiden Punkte aus irgend. einem Grund unwirksam wird, 
geht daraus hervor, dafs die Amplitude zunimmt. — Durch 
diese Versuche hält Su. die Existenz einer letzten gemeinsamen 
Strecke für erwiesen. ! 


arbeiten nicht zugänglich sind, referiere ich nach SHERRINGToN. Erg. d. 
Physiol. 1. c. S. 818. 

! Da derartige Bahnungserscheinungen zur Erklärung gewisser Phäno- 
mene der Aufmerksamkeit herangezogen worden sind, zuerst von G. E. MÜLLER, 
danach von Sem. Exner und EBsInGHaus, so sind die Versuche SHERRINGTONS 
auch für dieses Gebiet psychologischer Forschung nicht ganz ohne Be- 
deutung. Die Heranziehung der Bahnungserscheinungen hätte gar keinen 
Sinn, wenn es sich bei ihnen nicht um einen innerhalb des Nervensystems 
stattfindenden Vorgang, sondern nur um eine mechanische Summation der 
Kräfte innerhalb des Muskels handelte. — Aus diesem Grunde, hauptsäch- 
lich aber auch, weil wir uns auch bei der Analyse der hysterischen Blind- 
heit auf die Untersuchungen Su.s berufen mulsten, glaubten wir auf die- 
selben etwas ausführlicher eingehen zu müssen. 


348 III. Abschnitt. Zur Psychophysix des Sehraums. 


Die Vermutung liegt nicht fern, dafs auch in solchen Fällen, 
in denen ein motorisches Neuron von mehreren Stellen einer 
Projektionsfläche des Grolshirns aus innerviert werden kann, bei 
gleichzeitiger Reizung dieser Stellen infolge des Einströmens der 
Erregung in eine letzte gemeinsame Strecke eine Verstärkung 
der Innervation stattfindet. Beim Kratzreflex konnten Reize, 
welche, für sich appliziert, unter der Schwelle liegen, bei gemein- 
samer Einwirkung einen nachweisbaren Reflex auslösen. Ana- 
loges würde dann wohl auch in dem soeben als möglich auf- 
gestellten Falle eintreten. Nun wird, falls die hier entwickelte 
Ansicht richtig ist, im Falle der scheinbar kleineren Punktreihe 
von jedem einzelnen Individuum derselben und von jeder die 
Punkte trennenden Distanz ! ein kleinerer Bezirk der Projektions- 
fläche erregt, als im Falle der scheinbar gröfseren Punktreihe. 
Man kann annehmen, dafs die Augenbewegungen unter diesen 


! Selbstverständlich sind für das Ergebnis nicht allein die schwarzen 
Punkte verantwortlich. Sehr kleine Punkte können natürlich stets gezählt 
werden, sobald nur ihre Distanzen hinreichende Gröfse besitzen. Haftet 
der Blick gerade an einem der Punkte, so erscheint im indirekten Sehen 
der Zwischenraum in Gestalt eines ziemlich ausgedehnten Feldes. Ist der 
Wille zu einer Bewegung des Auges in der betreffenden Richtung da, so 
wird jenes Feld einen hinreichenden Reiz für Augenbewegungen darbieten. 
Der blofse Wille, das Auge in einer bestimmten Richtung zu bewegen, ist 
zur tatsächlichen Ausführung der Bewegung offenbar unzureichend. Denn 
wenn ich z. B. eine Bewegung der Augen nach abwärts mit Erfolg aus- 
führen will, so mufs ich mir einen tiefgelegenen Gegenstand vorstellen. 
Suche ich die Bewegung lediglich auf Grund des Vorsatzes auszuführen, 
indem ich entweder jene Vorstellungsbilder ganz zu unterdrücken oder 
mir ein in anderer Richtung gelegenes Objekt vorzustellen suche, so scheint 
es mir nie zu einer Augenbewegung zu kommen. Sollte dem einen oder 
anderen unter genannten Umständen die Ausführung einer Abwärts- 
bewegung gelingen — bei Herrn Prof. Mürzer ist dies nach mündlicher 
Mitteilung der Fall —, so liegt dies wohl an besonderen Übungseinflüssen, 
welche entweder absichtlich eingeführt oder durch die Praxis des Lebens 
gegeben waren. Mir selbst z. B. gelingt auf Grund des blofsen Vorsatzes, 
ohne Vorstellung eines Objektes, die Bewegung der Augen nach aufwärts; 
allerdings nur dann, wenn ich den Kopf etwas nach vorn neige. Es muls 
also zu dem blofsen Willen zur Ausführung einer Bewegung im allgemeinen 
immer noch etwas hinzukommen. In den soeben angeführten Fällen war 
es die Vorstellung von Gegenständen; beim Durchzählen einer Punkt 
reihe müssen es natürlich Komplexe von Empfindungen sein. Von 
deren näherer Beschaffenheit wird es abhängen, ob es zu einer Augen- 
bewegung kommt oder nicht. 


III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 349 


Umständen im zweiten Falle auftreten, im ersten dagegen aus- 
bleiben. 


Dürr (l. c. S. 24ff.) weist den Gedanken, dafs der Umfang des Gegen- 
standes der Aufmerksamkeit eine gewisse Grenze vielleicht nicht über- 
schreiten dürfe, mit Entschiedenheit zurück. Gerade die kleinen Gegen- 
stände entzögen sich unserer Aufmerksamkeit leicht, während die grofsen 
auffallend seien. Die Unüberschaubarkeit sei lediglich begründet im Bau 
der Sinnesorgane. 

Wir möchten uns die Bemerkung gestatten, dafs dieser Forscher, 
welcher im übrigen, wie bereits hervorgehoben, oft zusammengeworfene 
Dinge auseinander hält, die Erscheinungen der Aufmerksamkeit hier zu 
einheitlich behandelt. Das Auffallen und Sichderbeobachtungentziehen sind 
ja nur einige der zahlreichen in das Gebiet der Aufmerksamkeit gehörigen 
Erscheinungen. Die von Dürr hervorgehobenen Tatsachen lassen sich mit 
der hier vertretenen Ansicht von der Existenz einer psychologischen Un- 
überschaubarkeit recht gut in Einklang bringen, und zwar auf Grund der- 
selben Überlegung, mittels deren wir unsere Zählversuche zu erklären suchten. 
Ein ausgedehntes Objekt erregt eine grofse, ein kleineres eine geringe 
Anzahl von Netzhautelementen. Erinnern wir uns wieder des Prinzips der 
letzten gemeinsamen Strecke, so erscheint es sehr wahrscheinlich, dafs ein 
im indirekten Sehen erscheinendes Objekt um so sicherer eine reflektorische 
Hinwendung des Blickes auslösen wird, je mehr Netzhaut- und damit auch 
Nervenelemente der von ihm ausgehende Reiz in Erregung versetzt. 


g 7. 


Wir sind in den Kapiteln, welche sich mit der Pathologie 
des Sehens befalsten, zu der Annahme gelangt, dafs sich die 
physiologische Leistungshöhe der zentralen Sehsubstanz wahr- 
scheinlich nach der Gröfse des Bezirkes bemilst, welcher gleich- 
zeitig deutlich gesehen werden kann. Funktionelle, wie organische 
Erkrankung des Sinneszentrums führt nach der hier wahrschein- 
lich gemachten Ansicht zu einer „Hypofunktion“ von der Art, 
dafs die Gröfse des gleichzeitig deutlich gesehenen Bezirkes ab- 
nimmt. Wenn dem so ist, so begreift man, warum die Versuche 
der Anatomie, eine genaue Projektion der Retina auf die Seh- 
sphäre nachzuweisen, fehlschlagen müssen. Die psychologische 
und klinisch psychologische Analyse scheint zu dem gleichen 
Resultat zu gelangen, wie die anatomische und klinisch-anatomische 
Untersuchung, nämlich zu der Ansicht, dafs die zentrale Seh- 


1 Die Ausführungen dieses Paragraphen sind gleich denen von S. 244 ff. 
eng mit dem Schicksal der v. Monakowschen Lehre verknüpft. 


350 III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 


substanz einheitlich funktioniert. Gleichzeitig aber vermochten 
jene Analysen, darüber hinaus, wahrscheinlich zu machen, worin 
denn die physiologische Leistungshöhe, und ebenso, worin die 
infolge von Erkrankung auftretende „Hypofunktion“ der Seh- 
substanz eigentlich besteht. 

i Wenn wir somit annehmen, dafs die zentrale Sehsubstanz 
einheitlich funktioniert, dafs eine Erkrankung derselben nicht 
den Funktionsausfall einer umschriebenen Netzhautpartie nach 
sich zieht, so könnte man demgegenüber vielleicht auf die bereits 
erwähnten Untersuchungen von MUNk, OBREGIA, BERGER u. a. 
hinweisen, welche auf Grund des Auftretens ganz bestimmter 
Augenbewegungen bei Reizung bestimmter Teile der Occipital- 
rinde eine gewisse Projektion der Retina auf die Sehsphäre 
wahrscheinlich machen. Allein daraus, dafs eine bestimmte Netz- 
hautpartie zu einer bestimmten Partie der Sehsphäre in engerer 
Beziehung steht als zu anderen Abschnitten derselben, folgt noch 
keineswegs, dafs bei Erkrankung jener Partie der Sehsphäre die 
Funktion der relativ zugeordneten Netzhautpartie ausfallen 
müsse. Denn eine solche relative Zuordnung ist nach v. Monakows 
Ansicht, welchesich auf den Gesamtüberblick über die anatomischen 
Tatsachen gründet, nur in dem Sinne anzunehmen, „dals die 
„von Jugend an für Reizaufnahme aus einer bestimmten Richtung 
„benutzten Wege, resp. Abschnitte im corp. gen. ext. und dann 
„auch in der Sehsphäre, auch später noch vor allen anderen 
„bevorzugt werden“ (l. c. S. 660). Es ist mit dem Nachweis der 
relativen Zuordnung „noch nicht erwiesen, dafs die Beziehungen 
„zwischen Retinasegmenten und den einzelnen Abschnitten der 
„Sehsphäre ganz feste sind und im Sinne einer eigentlichen 
„anatomischen Projektion, wie es Muxk meint, erfolgen.“ Es 
bilde sich eine Gewohnheit aus, unter der Menge der einer be- 
stimmten Netzhautstelle zugeordneten Projektionswege einzelne 
„im Sinne der raschesten Beförderung, in der Richtung des ge- 
„ringsten Widerstandes“, zu bevorzugen. Da somit gewisse Teile 
der Sehrinde zu bestimmten Netzhautgebieten in eine Art von 
Zuordnung treten, so bilden sich auch, gleichfalls auf dem Wege 
der Gewohnheit, Beziehungen gewisser Teile der Occipitalrinde 
zu gewissen Augenbewegungen heraus. Jener Forscher nimmt 
also keineswegs an, dafs irgend ein Netzhautbezirk nur an einen 
relativ beschränkten Teil der zentralen Sehsubstanz Anschlufs- 
möglichkeiten besülse. Die soeben wiedergegebene Ansicht 


III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 351 


v. Monakows legt nun aber weiterhin eine Mutmalsung nahe, 
welche geeignet erscheint, den mehrfach beobachteten Zusammen- 
hang zwischen Beeinträchtigungen des Gesichtsfeldes und Störungen 
der Lokalisation dem Verständnis näher zu bringen. Erkrankt 
ein bestimmter Abschnitt der Sehrinde, so fällt die Lichtempfin- 
dung in den relativ zugeordneten Netzhautabschnitten nicht 
schlechthin aus; denn jener Netzhautabschnitt besitzt aufser den 
für gewöhnlich benutzten noch andere Anschlufswege. Da nun 
aber die Erregung jetzt einem anderen Hirnteil zugeführt wird, 
als es für gewöhnlich der Fall ist, und da eine gewohnheits- 
mälsige Assoziation zwischen bestimmten Hirnteilen und be- 
stimmten Augenbewegungsinnervationen besteht, so wird jetzt 
auch bei Reizung einer bestimmten Netzhautstelle eine andere 
Innervation als unter normalen Umständen erfolgen. Da nun 
aber, wie die Erfahrungen bei Augenmuskellähmungen lehren, 
die Lokalisation im Sehraum in hohem Mafse von den motorischen 
Impulsen des Zentralorgans abhängt, so ist es ganz verständlich, 
wenn in derartigen Fällen häufig Lokalisationsstörungen zur 
Beobachtung gelangen. 


Welches materielle Korrelat der Eigenschaft der Makula, natürliches 
Aufmerksamkeitszentrum zu sein, entsprechen mag, darüber lassen sich 
nur Vermutungen äufsern. Legt man als Modell die EssınsHaussche Auf- 
merksamkeitshypothese zugrunde,! so dürfte sich vielleicht folgende Vor- 
stellungsweise wegen ihrer Plausibilität empfehlen. Durch gleichzeitiges 
Überschauen einer relativ sehr ausgedehnten Fläche leidet nach dem 
Kosterschen Gesetz die Deutlichkeit der Gesichtswahrnehmungen. In irgend 
einer Höhe des Zentralorgans müssen sich also — wenn man mit Hilfe 
des von EssinsuAaus vorgeschlagenen Modells arbeitet — die von den ver- 
schiedenen Netzhautstellen ausgehenden und natürlich auf verschiedenen 
Wegen geleiteten Erregungen einander beeinflussen und schädigen; dürften 
wir nun etwa annehmen, dafs die Makula besonders zahlreiche Anschlufs- 
wege nach der Sehrinde besitzt, so kann die Erregung sehr verschiedene 
Wege einschlagen. Jeder dieser Wege besitzt einen etwas anderen ana- 
tomischen Ort innerhalb des Gehirns und ist durch Kollateralen und Asso- 
ziationsbahnen mit etwas anderen Hirnteilen verbunden. Bei dieser grofsen 
Auswahl der Wege wird sich leicht immer noch einer finden, der dank 
seiner eigentümlichen Verknüpfungsweise von seiten der zu gleicher Zeit 
gerade in Erregung befindlichen Hirnteile keine Hemmung erfährt. Viel- 
leicht also besteht das materielle Korrelat der an der Makula zu beob- 


1 Wir stellen uns somit für einen Augenblick auf den Standpunkt der 
letzten der drei skizzierten und mehrfach erwähnten Erklärungsmöglichb- 
keiten. 


352 III. Abschnitt. Zur Psychophysik des Sehraums. 


achtenden Eigenschaft, Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein, darin, dafs 
die Makula besonders zahlreiche Anschlufswege nach der Sehrinde besitzt. 

So hypothetisch diese Vorstellungsweise von dem materiellen Korrelat 
des natürlichen Aufmerksamkeitszentrums auch sein mag, so hat sie 
doch den Vorzug, davon Rechenschaft abzulegen, weshalb bei einer Grofs- 
hirnaffektion immer erst an letzter Stelle das natürliche Aufmerksamkeits- 
zentrum ergriffen wird. Denn wo auch der Herd sitzen mag, die Makula 
wird wegen der grofsen Zahl ihrer Anschlufswege immer noch in der Lage 
sein, die sie treffenden Reize der Rinde zu übermitteln. 

Allerdings haben wir gesehen, dafs das natürliche Aufmerksamkeits- 
zentrum nicht immer mit der Makula zusammenzufallen braucht, sondern dafs 
es in gewissen Schielfällen auch nach einer anderen Netzhautstelle rücken 
kann. Im Sinne der hier ausgesprochenen Vermutung vom materiellen 
Korrelat des natürlichen Aufmerksamkeitszentrums würde das heifsen, dafs 
jetzt eine andere Netzhautstelle, als die Makula, die meisten Anschlu[swege 
nach der Rinde besitzt. Hierin scheint ein Widerspruch zum Vorigen zu 
liegen. Der Widerspruch verschwindet indessen, wenn man sich die Vor- 
stellungsweise v. Moxakows gegenwärtig hält, wonach von der Menge der 
anatomisch vorgegebenen Verbindungswege gewohnheitsmälsig immer 
nur ein relativ kleiner Teil benutzt wird. Wir könnten daher annehmen, 
— und wir würden mit dieser Annahme dem berührten Widerspruch ent- 
gehen — das materielle Korrelat der Eigenschaft einer Netzhautstelle, 
natürliches Aufmerksamkeitszentrum zu sein, bestehe darin, dafs die be- 
treffende Netzhautstelle die meisten ausgeschliffenen, durch Übung 
gebahnten Anschlufswege besitzt. 


354 IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 


über das vorliegende Gebiet zu gelangen; denn mit jenen Beobachtungen, 
welche während eines Gebirgsaufenthaltes angestellt wurden, konnte ich 
mangels aller Vpn. nichts anderes beabsichtigen, als die Faktoren kennen 
zu lernen, welche bei einer späteren Untersuchung Beachtung verdienen 
würden. Hatteich mich nun einmal dafür entschieden, den unter Mikropsie 
betrachteten Gegenstand durch Nachzeichnen zu reproduzieren, so war das 
einfachste Objekt, d. h. die von Strichen begrenzte Distanz, das geeignetste. 

Bereits vor diesen Versuchen hatte ich während einer Reihe 
von Monaten mit den Konvergenzplatten operiert. Die be- 
obachteten Objekte waren jedoch von anderer Art gewesen; der 
damalige Versuchszweck forderte Beobachtungsgegenstände, die 
einerseits mannigfache Details aufwiesen, und deren scheinbare 
Gröfse andererseits aus der Erfahrung bekannt ist; in erster 
Linie waren Geldstücke verwendet worden. Auf Grund dieser 
zahlreichen und zu verschiedenen Zeiten wiederholten Beobach- 
tungen glaubte ich den Grad der verkleinernden Wirkung, 
welche meine Platten bei verschiedenen Neigungswinkeln be- 
sitzen, mit ziemlicher Genauigkeit zu kennen. 

Zu meinem nicht geringen Erstaunen machte ich nun die Be- 
obachtung, dafs bei Zugrundelegung der von Strichen begrenzten 
Distanz die verkleinernde Wirkung der Konvergenzplatten teils 
ausblieb, teils nur mit gröfster Aufmerksamkeit und nach oft 
wiederholten Beobachtungen konstatiert werden konnte. Die Ver- 
suchsumstände — Neigungswinkel der so dicht wie möglich vor 
das Antlitz gehaltenen Platten, Entfernung des Objektes vom 
Beobachter — waren von der Art, dafs auf Grund meiner 
früheren Erfahrungen mit anderen Objekten und der darauf 
gegründeten Erwartungen eine deutliche und erhebliche Ver- 
kleinerung eintreten mulste. 

Ich stellte mir nun sofort andere Objekte ber; aus schwarzem 
Papier wurden Quadrate, Rechtecke (darunter auch ganz schmale: 
dicke Striche) und Kreise ausgeschnitten und auf weilse Kartons 
geklebt, wobei die Seitenlänge der Quadrate und Rechtecke, 
sowie die Länge der Striche mit derjenigen der Strichdistanzen 
übereinstimmte. Diese Objekte, sowie konkrete Gegenstände ver- 
schiedener Art wurden nun unter denselben Versuchsumständen 
beobachtet, d. h. bei gleichem Neigungswinkel der Platten und 
gleicher Entfernung des Objektes vom Beobachter. Auch die 
Art der Beobachtung war die gleiche. 


Die Platten waren mittels Siegellack auf einem Brettchen befestigt, 
welches einen den vorspringenden Teilen des Antlitzes Rechnung tragenden 


IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 355 


Ausschnitt besals. Die Vorrichtung wurde zunächst vor das Auge gehalten 
und dann in der Richtung nach unten weggezogen. Verglichen wurde im 
Augenblicke des Wegziehens. 


Unter denselben Versuchsumständen, unter denen eine Ver- 
kleinerung der von Strichen begrenzten unausgefüllten Distanz 
nicht, oder wenigstens nicht mit Sicherheit festgestellt werden 
konnte, war die Verkleinerung bei Quadraten, Rechtecken, 
Streifen und Kreisen durchaus deutlich und von beträchtlichem 
Grade. Die gleiche Verschiedenheit des Ausfalls der Beobach- 
tungen, je nach Wahl der Objekte, ergab sich bei Linsenmikropsie. 

Die ursprünglich geplanten Versuche stiefsen somit auf ungeahnte 
Schwierigkeiten; schon beim ersten Schritte ergaben sich Verwicklungen 
psychologischer Art, deren Auflösung mir nicht gelingen wollte. Ich habe 
jene Beobachtungen immer von neuem wiederholt, stets mit dem gleichen 
Erfolge. Das Endergebnis war der Entschlufs, die geplanten Versuche 
fallen zu lassen und zuzusehen, ob man nicht auf einem ganz anderen Wege 
in das Gebiet der scheinbaren Gröfse eindringen könne. Die Erscheinungen, 
welche ich beobachtet hatte, legten nur neue Fragen vor, gaben aber auf 
diejenigen, welche ich gestellt hatte, keine Antwort; sie erschienen mir als 
zu kompliziert, um als Eintrittspforte in das Gebiet der scheinbaren Gröfse 
dienen zu können. 


Nach Verlauf eines Jahres wurde ich, diesmal durch anders- 
artige Interessen, dazu geführt, schwarze Quadrate mittels Kon- 
vergenzplatten und Konkavgläsern zu beobachten. Die Seiten- 
länge der Quadrate, an welchen ich die hier zu beschreibende 
Beobachtung zum ersten Male machte, betrug 7 cm, die Ent- 
fernung vom Auge ungefähr 35 cm, die Stärke der Linse — 3 D. 
Die Mitte des Quadrates war nicht besonders bezeichnet, doch 
suchte ich in beiden Beobachtungskonstellationen denjenigen 
Punkt zu fixieren, welchen ich für den Schnittpunkt der Diagonalen 
hielt. Ich achtete wiederum auf den Eindruck, welchen ich in 
dem Moment erhielt, in welchem ich die Platten, bzw. die Linse 
vom Auge entfernte. In dem Moment des Wegziehens drängte 
sich mir nun folgender Eindruck mit grofser Deutlichkeit auf. 
Bei Beobachtung mittels der Platten, bzw. der Linsen, hatte ich, 
obwohl ich den Mittelpunkt fixierte, das ganze Quadrat im 
peripheren Sehen überblickt. Ich hatte den Eindruck, das 
Quadrat simultan zu überschauen; ich gewann das Bild des 
Quadrates also nicht durch konstruktives Zusammensetzen, in- 
dem ich etwa meine Aufmerksamkeit nacheinander auf die vier 


rechten Winkel richtete; vielmehr nahm ich das Quadrat als 
23* 


356 IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 


simultanes Bild wahr; genauer, als scheinbar simultanes Bild. 
Auch von dem anstofsenden weilsen Grunde glaubte ich noch 
einen Teil zu überschauen. 

Beim Wegziehen der Platten, bzw. der Linse erfolgte hierin 
mit grolser Deutlichkeit und Eindringlichkeit eine wesentliche 
Änderung. Ich übersah sicherlich in den ersten Augenblicken 
nach dem Wegziehen nicht mehr das ganze Quadrat, geschweige 
denn einen Teil des anstofsenden Gebietes, sondern nur den 
mittleren Teil des Quadrates. Ich sah nur ein relativ kleines 
Stück schwarzen Feldes deutlich; aufserdem bemerkte ich noch, 
jedoch weniger deutlich und sicher, dafs dieses Feld, soweit die 
Fläche übersehen werden konnte, in ein Feld von gleichfalls 
schwarzer Färbung eingebettet war. Später trat dann wiederum, 
obwohl ziemlich langsam, eine Ausdehnung der Aufmerksamkeit 
ein. Ich nahm wiederum wahr, dafs die Figur wirklich ein 
Quadrat darstelle; freilich war das Bild, wie mir schien, nicht 
mehr mit Sicherheit als ein scheinbar simultanes zu bezeichnen. 
Ich glaube stets deutlich bemerkt zu haben, dafs ich bei Fixation 
des Mittelpunktes die ganze Figur nicht mehr gleichzeitig über- 
blickte, vielmehr ihre einzelnen Teile mit der Aufmerksamkeit 
sukzessiv durchwanderte. Obwohl demnach bezüglich des Ver- 
haltens der Aufmerksamkeit gegenüber der Figur zwischen beiden 
Konstellationen auch bei längerer Fortsetzung der Betrachtung 
ein Unterschied bestand, so war doch nur die im Moment des 
Wegziehens eintretende Änderung von überraschender und 
frappierender Deutlichkeit. Ich habe die Beobachtung zu ver- 
schiedenen Zeiten, und zwar stets mit gleichem Erfolge, wiederholt. 

Zunächst war zu entscheiden, ob die im Moment des Weg- 
ziehens mit so sinnfälliger Deutlichkeit eintretende Änderung 
etwa nur auf dem Umstand beruht, dafs das eine Mal überhaupt 
mit bewaffnetem, das andere Mal überhaupt mit unbewaffnetem 
Auge beobachtet wurde. 

Diese Frage ist jedoch zu verneinen. Konvexlinsen, sowie 
Rorrerrsche Platten in Divergenzstellung erzeugen Makropsie, 
wenngleich dieselbe nicht so hoher Grade fähig zu sein scheint!, 
wie die mit Konkavlinsen und Konvergenzplatten zu erzeugende 
Mikropsie. Ich habe in den oben geschilderten Beobachtungen 


! Messende Untersuchungen liegen meines Wissens bis jetzt nicht 
vor. Eine Untersuchung in dieser Richtung habe ich in Angriff genommen. 


IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 357 


die Konvergenzstellung der Platten durch Divergenzstellung, die 
Konkavlinse durch eine Konvexlinse ersetzt. Oftmalige Wieder- 
holung der Beobachtung ergab, dafs im Moment des Wegziehens 
zumeist eine Zunahme des simultan übersehbaren Bezirkes be- 
merkt wurde, wenngleich die Zunahme, entsprechend dem ge- 
ringeren Grad der Makropsie, bei weitem nicht von so über- 
raschender Deutlichkeit war, wie die Abnahme im Falle der 
Mikropsie, und einigemal sogar überhaupt nicht konstatiert 
werden konnte. 

Ich ging nun zu anderen Objekten über, zunächst zu der 
Betrachtung von unausgefüllten Distanzen, welche auf weilsem 
Papier durch kleine horizontale Querstriche abgegrenzt waren. 
Die Gröfse der in Leseweite aufgestellten Distanzen lag zwischen 
1 und 15 cm. 

Einmal heftete ich in beiden Konstellationen den Blick auf 
denjenigen Punkt, welchen ich für die Mitte der Distanz hielt, 
das andere Mal liefs ich, gleichfalls in beiden Konstellationen, 
den Blick von einem Endpunkt zum anderen schweifen. Diese 
beiden Arten der Beobachtung wurden in Wechsel miteinander 
vorgenommen. 

Hierbei fiel mir — ich urteilte wieder im Augenblicke des 
Wegziehens — ein erheblicher Unterschied in der Wirkung auf 
die scheinbare Gröfse auf. Es zeigte sich nämlich, dafs ich bei 
bewegtem Blick und einer Linse von — 1 und — 2 D niemals 
eine Grölsenänderung wahrnahm, während unter sonst gleichen 
Umständen die Gröfsenänderung bei der Beobachtung mit 
ruhendem Blick stets und unzweifelhaft vorhanden war. Bei den 
Linsen — 2,5, — 3 und — 3,5 D wurde bei bewegtem Blick sehr 
häufig keine Gröfsenänderung bemerkt; konnte sie überhaupt 
konstatiert werden, so war sie stets geringfügig und nur mit 
geringer Sicherheit zu konstatieren. Bei — 4 und — 4,5 D war 
eine Gröfsenänderung auch bei bewegtem Blick fast stets vor- 
handen; aber sie war regelmälsig sehr viel schwächer und weniger 
deutlich als bei ruhendem Blick. Bei sehr kleinen Strecken 
(etwa 1 bis 3 cm) war ein Unterschied zwischen der Betrachtung 
mit bewegtem und unbewegtem Blick zuweilen überhaupt nicht 
wahrzunehmen, jedenfalls war er nie sehr ausgeprägt. 

Ferner bemerkte ich, dafs bei der Betrachtung mit ruhen. 
dem Blick jene oben geschilderten Eindrücke auch hier ganz 
deutlich auftraten, während sie sich bei Betrachtung mit be- 


358 IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 


wegtem Blick nur selten, und dann nur mit geringer Deutlich- 
keit, zeigten. Verwandte ich statt der unausgefüllten Distanzen 
Striche, so waren alle jene Unterschiede bezüglich der Gröfsen- 
änderung und der Nebeneindrücke auch vorhanden, aber nicht 
ganz so deutlich und frappierend. 

Ich stellte mir ferner Quadrate und Rechtecke in ver- 
schiedenen Gröfsen her. Die aus schwarzem Papier ausge- 
schnittenen Figuren wurden auf grölsere weilse Kartons auf- 
geklebt. Beobachtet wurde jetzt immer mit ruhendem Blick, 
indem ich die Stelle fixierte, die ich für die Mitte hielt. Hier- 
bei konnte bei den kleineren Rechtecken und Quadraten (0,5? 
bis etwa 2,5°) bei Verwendung schwacher Linsen eine Grölsen- 
änderung oft überhaupt nicht wahrgenommen werden, während 
sie bei Betrachtung gröfserer Rechtecke und Quadrate mittels 
derselben Linse sicher und deutlich in Erscheinung trat. Schon 
früher hatte ich bei der Betrachtung konkreter Gegenstände be- 
merkt, dafs eine Linse bei Zugrundelegung gröfserer Beobach- 
tungsgegenstände eine deutlich verkleinernde Wirkung besals, 
während dieselbe bei kleinen Objekten gänzlich auszubleiben 
schien. 

Schlielslich verglich ich die Gröfsenänderung einerseits bei 
Quadraten, andererseits bei leeren, nur von horizontalen Quer- 
strichen begrenzten Distanzen, deren Länge der der jeweiligen 
Quadratseite gleich war. Die ersteren betrachtete ich mit 
ruhendem, die letzteren mit bewegtem Blick. Bei den Quadraten 
war sowohl die Grölsenänderung, wie die Deutlichkeit der ge- 
schilderten Nebeneindrücke stets sehr viel erheblicher. 

Alle diese Beobachtungen wurden sehr häufig und zu ver- 
schiedenen Zeiten wiederholt. 


$2. 


Es handelte sich jetzt darum, diese Beobachtungen zu sichern. 
Man könnte ja einwenden, dafs der Verfasser, welcher sich gerade 
mit dem A.F.G. beschäftigt hat, mit Wahrscheinlichkeit dazu 
neigen würde, auf die von jenem Gesetze ausgesagten Tatsachen 
besonders zu achten, und sich gewöhnt habe, sie beim Mikropsie- 
versuch zur Grundlage des Gröfsenurteils zu machen. Da es 
sich hier demnach möglicherweise nur um eine durch besondere 
Verhältnisse auf künstlichem Wege geschaffene Assoziation 


IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 359 


handele, so könne aus jenen Beobachtungen nicht geschlossen 
werden, dafs sich das Urteil im allgemeinen auf die geschilderten 
Eindrücke stützt. £ 

Demgegenüber möchte ich zunächst nochmals darauf hín- 
weisen, dafs die eingangs dieses Kapitels geschilderten Beobach- 
tungen vom Verfasser lange vor dem Eintritt in die Beschäftigung 
mit dem A. F. G. angestellt worden sind. 

Geeignete Vpn. zu Mikropsieversuchen zu erhalten, ist meist 
schwierig!, namentlich aber, wenn nur einigermalsen geschulte 
Beobachter in Frage kommen — ein Fall, der stets vorliegt, 
wenn das Verhalten der Vp. durch eine genauere Instruktion 
eingeengt werden muls. Ich bin darum Herrn Prof. MÜLLER 
für die mir gütigst gewährte Erlaubnis, die betreffenden Be- 
obachtungen von einigen Teilnehmern an den psychologischen 
Übungen anstellen zu lassen, zu besonderem Danke verpflichtet. 
Die Darbietung des Objektes erfolgte unter denselben Umständen, 
wie bei den von mir selbst angestellten Beobachtungen. Es 
wurde also gleichfalls nach dem im Augenblick des Wegziehens 
erhaltenen Eindruck geurteilt. 

Fragen, welche suggestiv hätten wirken können, wurden nach bestem 
Wissen und Gewissen vermieden. Aus demselben Grunde wurden die not- 
wendigen Fragen in die disjunktive Form gekleidet. Es wurde stets in 
der gleichen Weise gefragt, ob das Objekt nach dem Wegziehen der Linse 
in gleicher oder in anderer Gröfse erscheine als zuvor. In gewissen Fällen 
trat hierzu noch die Frage, ob die Gröfsenänderung in zwei Konstellationen 
gleich deutlich, oder ob sie in einer derselben deutlicher sei. 

Die Urteile wurden, falls nicht ausdrücklich das Gegenteil 
angegeben ist, mit bemerkenswerter Bestimmtheit abgegeben. 
Die einzelnen Beobachtungen wurden mehrmals wiederholt. 

Da die zur Verfügung stehende Zeit nicht sehr reichlich bemessen 


war, konnten sich die Beobachtungen, wenn nicht die Sorgfalt leiden sollte, 
nur auf eine beschränkte Zahl von Prüfungsobjekten erstrecken.? 


! Nach meinen zu sicheren Schlüssen allerdings noch nicht aus- 
reichenden Erfahrungen scheint das Phänomen der Linsenmikropsie nur 
bei jugendlichen Personen (Abnahme des Akkommodationsbereichs mit zu- 
nehmenden Jahren?), sowie bei Nichtkurzsichtigen (Einflufs des Tragens 
der Brille?) in deutlicher Ausprägung erzeugbar zu sein. 

® Überhaupt hält der Verf. dieses Gebiet mit den mitgeteilten Be- 
obachtungen keineswegs für erschöpft; er hofft vielmehr auf diesen Gegen- 
stand nochmals zurückzukommen. Äufsere Gründe hindern ihn, die Unter- 
suchung schon jetzt in erwünschter Vollständigkeit durchzuführen. 


360 IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 


Wir geben nun den wesentlichen Inhalt der Beobachtungen 
wieder. Die zunächst mitzuteilenden Beobachtungen beziehen 
sich auf die von kurzen Strichen begrenzte Distanz. Einmal 
wurde, und zwar in beiden Konstellationen, die für den 
Halbierungspunkt gehaltene (aber nicht äufserlich markierte) 
Stelle fixiert, ein andermal sollte die Vp. den Blick zwischen 
den Endpunkten der Strecke hin- und herschweifen lassen. 


Herr Gare. Linse — 1 D. Punktdistanz 20 mm. In beiden Fällen 
sehr bedeutende Verkleinerung;'! der Grad derselben ist in beiden Fällen 
ungefähr gleich. — Punktdistanz 60 mm. In beiden Fällen bedeutende Ver- 
kleinerung. — Punktdistanz 110 mm. Bei Fixation der Mitte ist die Ver- 
kleinerung sicher bedeutender als bei bewegtem Blick. 


Frl. Heme. Linse — 3D. Punktdistanz 60 mm. Bei Fixation starke 
Verkleinerung, bei bewegtem Blick schwächere Verkleinerung. 


Herr Janssen. Linse — 3 D. Urteil nach den ersten Beobachtungen; 
in beiden Fällen Verkleinerung, jedoch bei bewegtem Blick geringer. Urteil 
bei weiterer Fortsetzung und öfterer Wiederholung der Beobachtung: bei 
Fixation Verkleinerung, im anderen Falle keine Verkleinerung. 


Herr MöLter. Linse —3D. Punktdistanz 60 mm. Bei Fixation deut- 
liche Verkleinerung, etwa auf °/, der Länge. Bei bewegtem Blick eine 
Verkleinerung nicht wahrnehmbar. 


Ein wenig abweichend verhält sich nur die Aussage von Herrn KRELL. 
Linse — 3,5 D. In beiden Fällen Verkleinerung. Eine Vergleichung des 
Grades der Verkleinerung ist nicht möglich. Beobachter ist nicht sicher, 
ob er die Instruktion wirklich befolgt. 


Es folgen nun die an Strichen angestellten Beobachtungen. 


Herr Garte. Linse — 1 D. Strich 30 mm. Sowohl bei Fixation der 
Mitte des Striches, als auch bei bewegtem Blick deutliche Verkleinerung. 
Eine Verschiedenheit des Verkleinerungsgrades bei beiden Darbietungs- 
arten ist nicht wahrnehmbar. — Strich 90 mm. Deutliche Verkleinerung. 
Ein Urteil über den Grad der Verkleinerung bei beiden Darbietungsformen 
ist kaum möglich. — Strich 160 mm. Bei beiden Darbietungsformen deut- 
liche Verkleinerung. „Über eine Verschiedenheit des Grades der Gröfsen- 
„änderung in beiden Fällen läfst sich eigentlich überhaupt nichts Be- 
„stimmtes aussagen, aber bei Fixierung des Mittelpunktes springt die 
„Differenz mehr hervor; da ist sie frappierender als im anderen 
Falle.“ 





! Wie leicht begreiflich, ist in diesem Falle die Beziehung des Urteils 
auf den ersten Reiz das natürlichere Verhalten, während ja im allgemeinen 
die entgegengesetzte Verhaltungsweise näher liegt. 


IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 361 


Herr Janssen. Linse —3D. Strich 60 und 9 mm. In beiden Fällen 
gleich deutliche Verkleinerung. ! 

Herr MörLer. — 3 D. Strich 60 mm. Bei Fixation Verkleinerung 
sehr stark, bei bewegtem Auge geringere Verkleinerung. — Strich 160 mm. 
Dasselbe. 


Wir gehen nun zu den Beobachtungen des Quadrates und 
der Punktdistanz über. 


Herr Gate. — 3 D. Quadrat und Punktdistanz 60 mm. Quadrat be- 
deutende Verkleinerung, Punktdistanz auch, aber vielleicht nicht so deut- 
lich. — Linse von—1D. Quadrat bedeutende Verkleinerung. Punktdistanz, 
Verkleinerung nicht deutlich wahrnehmbar. 

Frl. Heme. —3D. Quadrat und Punktdistanz 70 mm. Quadrat deut- 
liche Verkleinerung. Punktdistanz keine Verkleinerung. 

Herr Janssen. — 3 D. Quadrat und Punktdistanz 60 mm. Quadrat 
ganz deutliche Verkleinerung. Punktdistanz, Verkleinerung „eigentlich 
nicht wahrzunehmen“. s 

Herr KRELL. — 3,5 D. Quadrat und Punktdistanz 60 mm. Anfängliche 
Aussage: „In beiden Fällen deutliche Verkleinerung“; doch ist Beobachter 
ungewils, ob die Instruktion genau befolgt wurde. Wenn die Punktdistanz 
wirklich sicher mit bewegtem Blick betrachtet wird, ist die Verkleinerung 
nicht sehr deutlich. 

Herr MöLter. — 3 D. Quadrat und Punktdistanz 60 mm. Quadrat 
deutliche Verkleinerung. Punktdistanz, „vielleicht auch eine geringe Ver- 
kleinerung da. aber nicht mit Sicherheit zu sagen“. 


Wir schliefsen mit den Beobachtungen der Rechtecke. 


Herr GAarLLe. — 1D. Rechteck (70 X 50). Deutliche Verkleinerung. — 
Rechteck (5 X 3,5), auch Verkleinerung, „aber nicht so frappierend“. 

Herr Janssen. — 3 D. Rechteck (70 X 50), deutliche Verkleinerung. — 
Rechteck (7 X 5), nicht sehr deutlich verkleinert. 

Herr MöLzer. — 3 D. Rechteck (70 X 50), Verkleinerung bedeutend 
bei Mikropsie kaum °/, des Rauminhalts. — Rechteck (7 X 5), geringe Ver- 
kleinerung wohl auch noch da, aber nicht sehr deutlich. 

Frl. Heme. Streifen (70 X 18), ganz deutliche Verkleinerung. — Streifen 
(5X 2). Eine Verkleinerung ist kaum zu bemerken. 


Blicken wir nochmals auf die Gesamtheit dieser Beobach- 
tungen zurück ! 


1 Es wäre, wie ich bei der nachträglichen Durchsicht der Beob- 
achtungen bemerke, rätlich gewesen, zu noch gröfseren Strichen überzu- 
gehen. Mit der Knappheit der für diese Beobachtungen zugemessenen Zeit 
möge man diese und andere Mängel entschuldigen. 


362 IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 


Zunächst möchte ich die von mir selbst angestellten Be- 
obachtungen ins Auge fassen. 

Zwischen den hier mit der Punktdistanz vorgenommenen 
Versuchen und den eingangs dieses Teiles berichteten Erfahrungen 
(S. 353f.) dürfte eine enge Beziehung bestehen. Für die Er- 
klärung der letzteren scheint mir von Wichtigkeit zu sein, dals 
bei längeren unausgefüllten Distanzen, welche von Punkten oder 
Strichen begrenzt werden, wie ich auf das Bestimmteste be- 
haupten kann, die Betrachtung mittels bewegten Blickes das für 
meine Person natürlichste Verhalten ist. Bei jenen eingangs 
dieses Teiles erwähnten Beobachtungen verwandte ich aber nur 
längere Distanzen, einmal, weil ich mir sagte, dafs die Fehler- 
quellen, welche mit jeder Methode, die Gröfsengleichungen her- 
zustellen sucht, verbunden sind, um so weniger ins Gewicht fallen 
werden, je grölser absolut genommen die zu vergleichenden 
Strecken sind; vor allem aber, weil ich an Objekten noch 
früherer Beobachtungen (konkrete Gegenstände) wahrgenommen 
hatte, dafs ich bei grofsen Objekten eine Verkleinerung oft und 
sicher konstatierte, während ich bei kleinen unter gleichen Um- 
ständen (gleiche Linse, gleiche Entfernung) beobachteten Gegen- 
ständen höchst zweifelhaft war. Es ist nach alledem verständ- 
lich, dafs ich bei den S. 353f. erwähnten Beobachtungen eine 
deutliche Verkleinerung nicht erzielte. 

Ich möchte nun einen Versuch machen, diese Beobachtungen 
zu deuten, indem ich wiederum von meinen eigenen Beobach- 
tungen ausgehe. In allen jenen Fällen, in denen eine deutliche 
Grölsenänderung vorhanden war, zeigte sich gleichzeitig das 
Phänomen, dafs im Augenblick des Wegziehens die Gröfse des 
simultan überschaubaren Bezirkes eine Änderung erfuhr. In den- 
jenigen Fällen, in denen die Gröfsenänderung weniger deutlich 
oder überhaupt nicht zu bemerken war, zeigte sich jenes Phänomen 
entweder gar nicht oder nur in wenig ausgeprägter Form. Es 
liegt demnach nahe, zwischen beiden Tatsachen einen ursäch- 
lichen Zusammenhang zu vermuten. Ist nun dieser Zusammen- 
hang in der Weise zu denken, dafs die Wahrnehmung der 
Gröfsenänderung die primäre Erscheinung ist, welche das ge- 
schilderte Phänomen als Wirkung nach sich zieht, oder stützt 
sich etwa umgekehrt unser Urteil über Gröfsenänderung eben 
auf jenes Phänomen? Erklären wir vielleicht von zwei im 
übrigen gleichartigen Gegenständen den einen darum für schein- 


IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils.. 363 


bar kleiner als einen anderen, weil wir — entweder überhaupt 
oder wenigstens im Augenblicke des Eintretens bzw. Aufhörens 
der Mikropsie — einen gröfseren Bezirk desselben simultan über- 
schauen ? 


Die erste der beiden Hypothesen verwickelt uns in Unbe- 
greiflichkeiten, die zweite erscheint in hohem Malse wahrscheinlich. 


Dafs eine Verschiedenheit in der Ausdehnung des simultan 
Wahrgenommenen bei Fixation leichter bemerkt wird als bei 
bewegtem Blick, ist ohne weiteres verständlich. Bei bewegtem 
Blick werden sich im allgemeinen im letzten Augenblick der 
ersten Konstellation und im ersten Augenblick der zweiten ver- 
schiedene Punkte der Zeichnung auf der Netzhaut abbilden. 
Sollte die Erscheinung auch in diesem Falle noch mit erheblicher 
Deutlichkeit auftreten, so würden der Psyche ziemlich schwierige 
Leistungen zugemutet werden. Wir mülsten die Fähigkeit be- 
sitzen, an verschiedenen Stellen der Figur die Gröfse des simultan 
übersehenen Bezirkes zu vergleichen. 


Viel einfacher liegen die Dinge bei Fixation. Im Falle der 
Mikropsie wird ein gewisser Bezirk der Figur simultan über- 
sehen. Wird das Glas weggezogen, so sind die periphersten 
Teile der Zeichnung, welche eben noch gleichzeitig mit dem 
Fixierpunkt sichtbar waren, im ersten Augenblick nach dem 
Wegziehen für den Beobachter einfach nicht mehr da, wenn 
auch nachträglich wieder eine Ausdehnung der Aufmerksamkeit 
stattfinden mag. Fällt in diesem Falle etwas hinweg, so tritt 
umgekehrt beim Wegziehen einer makropisch wirkenden Vor- 
richtung etwas hinzu. Ich meinerseits empfinde im Augenblicke 
des Wegziehens eine Art von Chok; Herr GauuE findet die 
Gröfsenänderung der Punktdistanz bei Fixation „frappierender“. 
Der eindringliche Charakter des Phänomens bei Fixation ist 
ebenso verständlich, wie sein Ausbleiben bei bewegtem Blick. 


Dals das Phänomen, und damit die Grölsenänderung, bei 
einem sehr kleinen Rechteck, welches nicht nur bei Mikropsie, 
sondern auch bei gewöhnlicher Betrachtung mühelos simultan 
übersehen wird, ausbleibt, ist gleichfalls verständlich. Ferner 
wird eine Figur von flächenhafter Erscheinung, wie das schwarze 
Quadrat, für das Eintreten des Phänomens günstigere Bedingungen 
darbieten als eine Punktdistanz. Die Beobachtungen befinden 
sich also mit der zweiten Hypothese im Einklang: auf jeden 


364 IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 


Fall widersprechen sie derselben nicht. Wie verhält es sich nun 
mit der ersten Hypothese ? 

Wenn eine Änderung des Akkommodationszustandes eine Än- 
derung der scheinbaren Grölse hervorbringt, so ist durchaus 
nicht abzusehen, aus welchem Grunde der Grad dieser Änderung 
von der geometrischen Gestalt des betrachteten Objektes ab- 
hängen sollte. Betrachten wir irgend einen Komplex von Gegen- 
ständen, z. B. einen Teil eines Zimmers, bei Linsenmikropsie, 
so ändert sich ja in den Grölsen verhältnissen der Gegen- 
stände gar nichts. Auch Herne hat hervorgehoben, dafs wir 
zwar zu verschiedenen Zeiten den Sehraum mit verschiedenen 
Mafsstäben messen, dafs aber die Gesamtheit der gleichzeitig auf 
der Netzhaut abgebildeten Gegenstände mit demselben Malsstab 
gemessen wird. 

Ebenso unverständlich ist, weshalb gerade bei dem durch 
das Vorsetzen der Linse geforderten Akkommodationszustande 
primär eine Verschiedenheit der scheinbaren Grölse bestehen 
sollte, je nachdem das Auge bewegt wird oder nicht. Fragt 
man sich, ob man unter gewöhnlichen Umständen einen Gegen- 
stand in erheblich verschiedener scheinbarer Gröfse wahrnimmt, 
je nachdem man ihn mit fester oder mit bewegter Blickrichtung 
betrachtet, so wird man diese Frage wohl unbedenklich mit 
„nein“ zu beantworten haben. Diese Beobachtung nun aber 
läfst sich bei allen möglichen Akkommodationszuständen an- 
stellen. 

Die Bestätigungen durch die anderen Versuchspersonen be- 
zogen sich zwar nur auf die Beobachtung des Unterschieds der 
Sehgröfse. Über das Verhalten der Grölse des simultan über- 
schaubaren Bezirkes im ersten Moment nach dem Wegziehen sagen 
sie nichts aus. Allein es ist gar nicht verwunderlich, dafs einem 
naiven und mit Absicht sich selbst überlassenen Beobachter in 
dieser Hinsicht nichts auffällt, selbst wenn sich sein Grölsen- 
urteil auf jene Eindrücke stützen sollte. Auch ich selbst habe 
auf jene Eindrücke erst geachtet, nachdem ich die Gültigkeit 
des A. F. G. beim Mikropsieversuch kennen gelernt hatte, obwohl 
ich die Gröfsenänderung, welche bei Mikropsie einerseits ein 
Quadrat, andererseits eine Punktdistanz erfuhr, schon früher 
häufig verglichen hatte. Den Vpn. von diesen Tatsachen Mit- 
teilung zu machen und sie daraufhin auszufragen, wäre nicht 
angezeigt gewesen. 


IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 365 


Es ist jedoch am einfachsten, die Beobachtungen der anderen 
Vpn. in derselben Weise zu erklären, wie die von mir selbst an- 
gestellten. Zudem dürfte in der Äufserung des Herrn GALLE, 
dafs die Grölsenänderung bei Fixation „frappierender“ sei, ein 
gewisser Hinweis auf die Wirksamkeit jener Eindrücke enthalten 
sein. Wenn übrigens dieser Beobachter die Gröfsenänderung 
bei Fixation einmal „nicht eigentlich für bedeutender“, sondern 
nur für „frappierender“ hält, somit also beides nicht gleichsetzt, 
wie man auf Grund unserer Ausführungen erwarten könnte, 
so habe ich zu bemerken, dafs auch mir ähnliche Beobachtungen 
untergelaufen sind, und zwar bereits vor dem Eintritt in die 
Beschäftigung mit dem A. F. G. - Ich hatte nämlich bei der Be- 
obachtung von Strichen mittels Konkavlinsen verschiedener 
Stärkegrade zuweilen den Eindruck, dafs im Falle der stärkeren 
Linse nicht eigentlich die Grölsenänderung bedeutender sei, 
sondern dafs ich bei ihrer Verwendung im Augenblick des Weg- 
ziehens ganz im allgemeinen ein stärkeres „Anderswerden“ des 
Gesamteindruckes bemerkte, einen stärkeren Chok erlebte als im 
Falle der schwächeren Linse, ohne dafs ich mir damals über 
das Wesen dieser verschiedener Grade fähigen Änderung klar 
werden konnte. Eine starke Neigung, diese Verschiedenheit als 
eine Verschiedenheit der scheinbaren Grölse anzusehen, bestand 
freilich auch hier. Hatte ich nun aber mit vieler Mühe und mit 
grolser Unsicherheit diejenigen Streckenlängen hergestellt, denen 
die durch die verschiedenen Gläser betrachtete Strecke gleich 
erschien, so blieb immer das beunruhigende Bewulstsein zurück, 
dafs ich, auch abgesehen von der Unsicherheit bei der Wahl der 
für gleich gehaltenen Strecke, für eine richtige Auflösung der 
Aufgabe nicht bürgen könne. Einerseits war in dem Eindruck 
zweifellos ein Moment enthalten, welches mich nötigte, einer 
unter Mikropsie verschiedenen Grades betrachteten Strecke bei 
gewöhnlicher Beobachtungsweise Strecken von verschiedener 
Länge gleichzusetzen, andererseits aber schien mir doch die Ver- 
schiedenheit des Eindruckes, welchen die beiden objektiv un- 
gleichen Strecken erweckten, von wesentlich anderer Art zu sein 
als der Unterschied, den ich beobachtete, wenn ich ein- und die- 
selbe Strecke abwechselnd durch Linsen von verschiedener Stärke 
betrachtete. Dies geschah auch dann, wenn die Beobachtungen 
aus solcher Entfernung vorgenommen wurden, dafs die Körnung 
des Papieres, welche ja bei verschiedenen Graden von Mikropsie, 


366 IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 


nicht aber bei verschieden langen Strecken eine scheinbare Ver- 
änderung erfährt, nicht mehr wahrgenommen werden konnte. 
Ich habe nach jener Methode auch in letzter Zeit vielfach be- 
obachtet und stiels dabei wiederum auf das gleiche Erlebnis. 
An Gegenständen des täglichen Lebens hingegen, an Münzen, 
Möbelstücken, Uhren usw. konnte ich diese Beobachtung nie- 
mals machen. Hier erschien, falls zwei Linsen überhaupt einen 
merkbar verschiedenen Erfolg hatten, dieser Unterschied stets 
als ein echter und unbezweifelbarer Grölsenunterschied. 


83. 


Die in diesem Abschnitt beschriebenen Beobachtungen sind 
im Grunde nicht so überraschend. Dafs das Vergleichen von 
Strecken im allgemeinen nicht nach dem vom populären Denken 
angenommenen Schema vor sich geht, wonach vom ersten Ein- 
druck stets ein Erinnerungsbild zurückbleiben mufs, welches auf 
den zweiten gewissermalsen aufgedeckt wird, worauf dann die 
Konstatierung des Grölsenunterschieds erfolgt, hat Schumanx! in 
seinen grundlegenden Arbeiten auseinandergesetzt. Die Existenz 
eines vom ersten Eindruck zurückgebliebenen Erinnerungsbildes 
zu konstatieren, war einer grolsen Reihe von geschulten Be- 
obachtern unmöglich. Dagegen waren während des Vergleichs- 
vorganges gewisse Nebeneindrücke zu beobachten, unter denen 
das „Herausschneiden“, sowie die „Ausdehnung“ und „Zusammen- 
ziehung“ der Aufmerksamkeit eine bedeutende Rolle gespielt zu 
haben scheint. In gewissen Fällen machte sich die Nachwirkung 
des ersten Eindruckes in der Weise geltend, dafs aus der zweiten, 
entweder längeren oder für länger gehaltenen Strecke im ersten 
Augenblick ein mittleres Stück von der Aufmerksamkeit „heraus- 
geschnitten“ wurde. Der gleiche Eindruck war bei anderen 
Figuren, z. B. bei Kreisen, zu konstatieren. In vielen Fällen 
trat dann das überschüssige Stück der Figur sukzessiv hervor; 
es fand eine „Ausdehnung der Aufmerksamkeit“ statt. Galt es 
die Auffassung einer kleineren Vergleichsgröfse, so wurde, bei 
gewissen Objekten wenigstens, im ersten Augenblick aus dem 
Hintergrund ein zu grolses Stück „herausgeschnitten“, worauf 
dann eine „Zusammenziehung der Aufmerksamkeit“ erfolgte. 





1 Beiträge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen III, Zeitschr. f. 
Psychol. 30. 


IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 367 


Freilich sind die Eindrücke, welche sich uns beim Mikropsie- 
versuch aufdrängten, von etwas anderer Art. Dals beim Mi- 
kropsieversuch bei der an zweiter Stelle erfolgenden und zum 
Vergleich dienenden Betrachtung mit unbewaffnetem Auge ein- 
mal ein Stück von der scheinbaren Grölse des ersten Wahr- 
nehmungsbildes herausgeschnitten wurde, konnte ich niemals 
beobachten. Jedenfalls aber hat schon Schumann das Vorkommen 
von Nebeneindrücken bei der Vergleichung räumlicher Gebilde 
überhaupt, nachgewiesen. 

Nachdem die Existenz dieser Nebeneindrücke aufgewiesen 
worden war, nachdem sich ferner die herkömmliche Vergleichs- 
lehre als haltlos herausgestellt hatte, sah sich Schumann zu der 
Vermutung gedrängt, dafs sich unser Urteil beim Sukzessiv- 
vergleich tatsächlich auf jene Nebeneindrücke gründet, nicht 
aber auf ein unabhängig von ihnen einsetzendes „unmittelbares 
Verschiedenheitsbewulstsein“. Immerhin ist es nicht unbedingt 
ausgeschlossen, dafs jene Nebeneindrücke zwar konstante Be- 
gleiter jenes „unmittelbaren Verschiedenheitsbewulstseins“ dar- 
stellen, nicht aber selbst die Faktoren sind, auf die sich unser 
Gröfsenurteil stützt. Die Hypothese von der Existenz eines „un- 
mittelbaren Verschiedenheitsbewulstseins“ ist so unbestimmt und 
dehnbar, dafs sie durch das Scheitern einer ihrer speziellen 
Fassungen, durch die Erschütterung der populären Vergleichs- 
lehre, in ihrer allgemeinen Form nicht schon als endgültig 
widerlegt gelten darf. 

Die Wahrscheinlichkeit, dafs jenen Nebeneindrücken eine 
wesentliche Bedeutung zukommt, mufs zunehmen, wenn sich 
zeigen läfst, dals in gewissen Fällen ein deutliches und aus- 
geprägtes Verschiedenheitsbewufstsein dadurch zum Schwinden 
gebracht werden kann, dafs die Bedingungen für das Eintreten 
jener Nebeneindrücke in Wegfall kommen. — Wir glauben, dafs 
die geschilderten Beobachtungen dieser Bedingung entsprechen. 
Dieselben dürften daher der Lehre, dafs ein unmittelbares Ver- 
schiedenheitsbewulstsein von Gröfsen beim Sukzessivvergleich 
nicht besteht, dafs sich vielmehr das Urteil auf eigenartige Ein- 
drücke gründet, eine neue Stütze verleihen. 


Es möge noch hervorgehoben werden, dafs eine Beeinflussung meiner 
Beobachtungen durch die Kenntnis der Arbeit von Schumann mit Sicher- 
heit ausgeschlossen ist. Wie Schumann bemerkt, treten die von ihm ge- 
schilderten Nebeneindrücke nicht bei allen Individuen mit gleicher Deut- 


368 IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 


lichkeit auf. Da sie bei mir nur schwach ausgeprägt sind, so bestand eher 
ein ungünstiges Vorurteil gegenüber der Schumansschen Theorie. — 


Bei Strecken, welche nicht nur scheinbar, sondern auch objektiv un- 
gleich lang sind, scheint sich der Fall nicht verwirklichen zu lassen, dafs 
lediglich durch Regulierung des inneren Verhaltens des Beobachters die 
Gröfsendifferenz dadurch zum Schwinden gebracht wird, dafs die Neben- 
eindrücke unterdrückt werden. 


Es ist jedoch von vornherein gar nicht zu erwarten, dafs sich das Gebiet 
der scheinbaren und das der retinalbestimmten Gröfse in dieser Hinsicht 
gleich verhalten werde. Wenn in zwei Konstellationen das Netzhautbild 
das gleiche bleibt, die scheinbare Gröfse dagegen geändert wird, so findet 
eine Änderung der Erregung, bzw. ihrer Verteilung, noch nicht im Seh- 
nerven, sondern erst auf höheren Stationen des Nervensystems statt. Er- 
setzt man hingegen das Netzhautbild durch ein solches von anderer Grölse, 
so wird die Erregung schon in den periphersten Regionen des Nerven- 
systems abgeändert. Dafs sich die Nebeneindrücke in beiden Fällen ganz 
gleich verhalten, braucht man hiernach gar nicht zu erwarten. Wie Fak- 
toren des höheren Seelenlebens den Ablauf einer Willkürbewegung in aus- 
schlaggebender Weise bestimmen, in die automatischen Handlungen da- 
gegen weit weniger, in die Reflexe so gut wie gar nicht eingreifen, so 
werden vermutlich auch sensorische Erregungen um so leichter von der 
Aufmerksamkeit unterdrückt werden können, je höher die Stationen des 
Nervensystems sind, auf denen sie ausgelöst werden. 


Hierzu kommt noch etwas anderes. Obwohl bei mir z. B. die von 
SCHUMANN geschilderten Nebeneindrücke nicht sehr deutlich ausgeprägt 
sind, so bin ich doch imstande, die Gröfse von Strecken zu vergleichen. 
Schumann hebt mit Recht hervor, dafs die Nebeneindrücke wahrscheinlich 
gar nicht mehr deutlich wahrnehmbar zu sein brauchen, um noch das 
Gröfsenurteil zu bestimmen. Die Nebeneindrücke könnten, wie SCHUMANN 
ausführt, allmählich zurückgetreten sein. Ein solches Zurücktreten der 
Nebeneindrücke, oder vielmehr ihres bewu/sten Charakters, wird aber in 
um so stärkerem Malse zu erwarten sein, die Wirkungen der Neben- 
eindrücke werden innerhalb um so weiterer Grenzen von der Deutlichkeit 
ihrer Wahrnehmbarkeit unabhängig sein, je stärker eingeübt die betreffen- 
‚den Vergleichsvorgänge sind. Nun unterliegt es keinem Zweifel, dafs 
‚das Vergleichen von Gegenständen in gleicher Entfernung besser eingeübt 
ist als die Vergleichung der scheinbaren Gröfse von Gegenständen in ver- 
schiedener Entfernung. G. Martius! hat mit Recht darauf hingewiesen, 
dafs es bei derartigen Versuchen erst einer besonderen Instruktion bedarf, 
durch welche die Beobachter angehalten werden, nicht die auf dem Wege 
von Reflexionen und Konstruktionen geschätzte oder gewufste Grölse der 
Gegenstände, sondern ihre „gesehene“ Gröfse zu vergleichen. Es ist daher 
nicht so ganz unverständlich, wenn die Nebeneindrücke als solche leichter 


1 Über die scheinbare Gröfse der Gegenstände und ihre Beziehung 
zur Gröfse der Netzhautbilder. Philos. Stud. 5. 


IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 369 


zu Bewufstsein kommen, wo es sich nur um eine scheinbare Grölsen- 
änderung unter Konstanterhaltung des Netzhautbildes handelt, als dann, 
wenn der weit besser eingeübte Fall vorliegt, dafs sich die verglichenen 
Objekte in gleicher Entfernung befinden. 

Die Bedeutung des A. F.G. erscheiut nun aber in einem 
neuen Lichte. Die Eindrücke, auf welche wir das Grölsen- 
urteil beim Mikropsieversuch zurückführen zu müssen glaubten, 
können, wie es scheint, nur darum auftreten, weil die Wahr- 
nehmungen beim Mikropsieversuch in der vom A. F. G. aus- 
gesagten Weise abgeändert sind. Der Schlufs scheint gestattet 
zu sein, dafs jenes Phänomen eine wichtige Grundlage unseres 
Urteils über scheinbare Gröfse bildet. 


g4. 


Wir haben mit Absicht unterlassen, die bisherigen Schlufs- 
folgerungen dieses Abschnitts durch Einwände und Bedenken zu 
unterbrechen. Wir bemerken jetzt ausdrücklich, dafs ein in dem 
letzten Abschnitt gezogener Schlufs möglicherweise nicht unbedingt 
bindend ist. Die Beobachtungen gestatten zur Not noch eine 
andere Deutung als die ihnen von uns gegebene. Zwischen den 
beiden Erklärungsmöglichkeiten, welche sich darbieten, läfst sich 
zurzeit vielleicht überhaupt nicht mit unbedingter Exaktheit ent- 
scheiden. Obwohl ich die oben angedeutete Ansicht aus später 
darzulegenden Gründen für die wahrscheinlichere halte, bin ich 
zur Aufgabe derselben jederzeit bereit. 

Man könnte nämlich meinen, dafs die Gröfsenänderung bei 
bewegtem Bick darum ausbleibt, bzw. geringer ist, weil hier die 
Augenbewegung als Mafsstab dient. Freilich würde uns diese 
Anschauung in Dunkelheiten verwickeln, die der oben ver- 
tretenen Ansicht nicht anhaften. 

MÜNSTERBERG ! hat gezeigt, dafs die Genauigkeit der Ver- 
gleichung von Strecken bei bewegtem Blick grölser ist als bei 
fixierttem. v. Krıes? hat mit Recht hervorgehoben, dafs aus 
‚dieser Tatsache auf eine dominierende Bedeutung der Augen- 
bewegungen für die Gröfsenschätzung nicht geschlossen werden 
darf. Dieser Forscher hat nun seinerseits Untersuchungen an- 


! Beitr. zur experiment. Psychol. Heft 2. 1889. 
® Beitr. zur Lehre vom Augenmafs. In: Beitr. zur Psychol. u. Physiol. 
d. Sinnesorgane (Festschr. f. HeLmnorzz) 1891. S. 173. 
Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IV. 24 


370 IV. Abschnitt, Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 


gestellt, welche, wie er hervorhebt, mehr in eine Frage als in 
eine Antwort auslaufen. Einerseits stellte er fest, dafs wir eim 
höchst unvollkommenes Vergleichungsvermögen für Sehwinkel 
besitzen. Andererseits glaubte er aus gewissen Versuchen folgern 
zu müssen, dafs wir Strecken auch dann mit relativ grofser Ge- 
nauigkeit zu vergleichen vermögen, wenn wir kein anderes 
Kriterium besitzen als den Exkursionswinkel der Augenbe- 
wegungen. 

Die letzteren Versuche bestanden darin, dals eine auf weilsem 
Hintergrund verschiebbare Spitze aus dem Gedächtnis um eine 
Strecke von 50 mm bewegt wurde. Die subjektive Unsicherheit 
war grols; auch bestand eine Neigung, den Blick nicht folgen zu 
lassen. Die Genauigkeit war, obwohl in Anbetracht der Versuche 
über die Vergleichung von Sehwinkeln verwunderlich grofs, doch 
erheblich geringer als in dem Falle, in welchem noch eine 
zweite ruhende Spitze vorhanden ist, so dafs beide Endpunkte 
der Strecke markiert sind und aufser den Augenbewegungen 
auch das Netzhautbild als Kriterium dienen kann. 

Die Annahme nun, dafs bei diesen Versuchen ausschliefslich 
die Augenbewegungen als Kriterium gedient hätten, erscheint 
mir, wie ich mir zu bemerken erlauben möchte, nicht völlig 
zwingend. 

An mir selbst konnte ich mittels sehr zahlreicher Selbstbeob- 
achtungsversuche bei derartigen Einstellungen folgende Ver- 
haltungsweisen feststellen. 

Erstens kommt der Fall vor, dafs ich während der Be- 
wegung die zurückgelegte Strecke simultan mit der vom Blick 
fixierten Spitze überschaue. Es scheint, dafs ich mir den Aus- 
gangspunkt der Bewegung auch auf völlig gleichmälsigem Grunde 
mit einer gewissen, wenn auch geringen Sicherheit zu merken 
imstande bin. Die Bewegung wird beendet, wenn der zurück- 
gelegte und simultan mit der Spitze überschaute Weg die ge- 
forderte Länge zu haben scheint. Dieser erste Fall ist der 
seltenere, er kommt eigentlich nur bei sehr kurzen Strecken vor. 

Den zweiten, viel häufigeren Fall glaubte ich bei meinen 
ersten Beobachtungen als einen Spezialfall des ersten ansehen zu 
müssen. Freilich bemerkte ich sofort, dafs diese Auffassung 
namentlich bei mittleren und längeren Strecken in der Mehrzahl 
der Fälle unzutreffend ist, ohne dafs ich jedoch anzugeben ver- 
mochte, worin der wesentliche Unterschied besteht. Ich bemerkte: 


IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 371 


also zunächst nur, dafs sich bei Strecken aller möglichen Längen, 
auch schon bei ganz kurzen (1 cm), während des Überschauens 
noch ein besonderer Eindruck aufdrängt. Ich glaubte nämlich 
beim Überschauen längs des zurückgelegten Weges eine „sub- 
jektive Linie“ zu sehen; die bewegte Spitze scheint eine Art von 
Spur zu hinterlassen. 


Auf Nachbilder kann dieser Eindruck nicht zurückgeführt werden; 
denn obwohl seine Deutlichkeit mit der Schnelligkeit der Bewegung, und 
damit der Kürze ihrer Dauer, im allgemeinen zu wachsen schien, so konnte 
er doch auch in solchen Fällen konstatiert werden, in denen die Spitze 
hinreichend langsam bewegt wurde, um vom Blicke bequem verfolgt werden 
zu können. 


Gegen eine wesentliche Bedeutung von Nachbildern spricht auch die 
Beschaffenheit des Eindruckes. Denn wenn ich z. B. einen mit einer Feder 
versehenen, auf einem Papier flach aufliegenden Federhalter über dasselbe 
hinwegführe, so mülste im Falle einer wesentlichen Bedeutung der Nach- 
bilder nicht eine Linie, sondern vielmehr eine einem Rechteck ähnliche, 
jedenfalls eine flächenhafte Figur auftreten. Obwohl ein solcher flächen- 
hafter Eindruck in seltenen Fällen tatsächlich eintrat, namentlich wenn 
ich nicht nur auf die Spitze der Feder, sondern auch auf die angrenzenden 
Teile dieser und des Halters achtete, so besafs doch die Spur im all- 
gemeinen die Gestalt einer, wenn auch etwas breiten und seitlich nicht 
scharf abgegrenzten Linie. 


Als ich nun aber den weilsen Grund durch farbige Gründe 
ersetzte, da bemerkte ich, dafs das überschaute Feld samt 
der in ihm gezogenen Spur, namentlich bei längeren Strecken, 
keineswegs immer in seiner ganzen Ausdehnung die Färbung des 
Grundes besals, sondern dafs ich über die Färbung des Grundes, 
auf dem die Spur gezogen ist, schwer Rechenschaft zu geben 
vermochte, und dafs ich sie, wenn eine Angabe durchaus ver- 
langt würde, am ehesten noch, wenn auch mit geringer Sicher- 
heit, als grau zu bezeichnen hätte. In vielen Fällen, namentlich 
bei längeren Strecken, besals nur der Anfang diese unbestimmte, 
bzw. graue Färbung. Die Spur war immer dunkler als der 
Grund. Zuweilen erstreckte sich der graue Grund bis zum direkt 
gesehenen Endpunkte. Freilich geschah dies immer nur für 
Momente, namentlich wenn ich den geforderten Punkt eben 
erreicht zu haben glaubte und vor endgültiger Sistierung der 
Bewegung den zurückgelegten Weg nochmals mit erhöhter Auf- 
merksamkeit überschaute. Diese Tatsache beweist, dafs die 


neutrale Beschaffenheit des Grundes, auf dem die Spur verläuft, 
24* 


372 IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 


nicht durch die Eigentümlichkeit des peripheren Sehens bedingt 
sein kann. 

Dieser Charakter der Erscheinung liefs mich bald nicht mehr 
daran zweifeln, dafs es sich um die äufsere Lokalisation eines 
Vorstellungsbildes oder eines Erinnerungsnachbildes in die Ebene 
des Hintergrundes handelt. Auch wird die Spur selbst bei Ex- 
kursionen bemerkt, bei welchen wegen ihrer Gröfse von einer 
wesentlichen Bedeutung des indirekten Sehens nicht die Rede 
sein kann, weil bei Fixation des erreichten Punktes der Aus- 
gangspunkt nicht sichtbar ist. 

Höchst überraschend war es nachträglich für mich, dafs ich 
den ersten und den zweiten Fall anfangs nicht auseinander zu 
halten vermochte, und dafs selbst jetzt bei kurzen Strecken immer 
noch Fälle vorkommen, in denen ich nicht mit Sicherheit sagen 
kann, welche der beiden Verhaltungsweisen eingeschlagen wird. 
Ob diese Tatsache nur in der eindringlichen Lebhaftigkeit der 
subjektiven Erscheinung und in dem Umstande der äulseren 
Lokalisation begründet ist, oder ob vielleicht die Unsicherheit 
auch daher rührt, dafs je nach der Richtung der Aufmerk- 
samkeit abwechselnd bald die subjektive Erscheinung, bald die 
wirklich wahrgenommene Fläche stärker in den Vordergrund des 
Bewulstseins tritt, darüber vermag mir die Selbstbeobachtung 
keinen Aufschlufs zu geben. Sicher aber ist, dafs der erste Fall 
neben dem zweiten vorkommt, und dafs ich im ersten Fall ge- 
legentlich — keineswegs immer — auf dem tatsächlich wahrge- 
nommenen Hintergrunde, nicht in einem äufserlich lokalisierten 
Vorstellungsbilde eines solchen, die Spur in Gestalt einer sub- 
jektiven Linie wahrzunehmen glaube, allerdings dann immer nur 
für einen kurzen Moment. 

Mit Bestimmtheit kann ich behaupten, dafs mir das während 
der Bewegung und am Schluls derselben simultan mit der Spitze 
überschaute Bild des zurückgelegten Weges als Kriterium dient, 
mag nun eine Spur vorhanden sein oder fehlen, und mag (wie 
im zweiten Falle) das wirklich Wahrgenommene durch ein äufser- 
lich lokalisiertes subjektives Bild fortgesetzt werden oder nicht. 
Da nun das simultan überschaute Bild sowohl bei der ersten als 
auch bei der zweiten Verhaltungsweise seine Entstehung nicht 
ausschliefslich Augenbewegungen verdankt, da vielmehr an seinem 
Aufbau auch Netzhaut- und Vorstellungsbilder, bzw. Erinnerungs- 
nachbilder beteiligt sind, so läfst sich das Ergebnis der Ein- 


IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 373 


stellungen nicht als eine ausschliefslich den Augenbewegungen 
zuztschreibende Leistung betrachten. 

Man ist demnach, wie ich glaube, nicht genötigt, einen 
Widerspruch zwischen diesen Versuchen und den Beobachtungen 
beim Vergleichen von Sehwinkeln anzunehmen. Dafs wir mittels 
der Augenbewegungen allein Strecken auf ihre Gröfse mit 
einiger Genauigkeit zu vergleichen vermögen, ist bis jetzt nicht 
erwiesen. 

Wir werden aber die Annahme, dafs bei unseren Beobach- 
tungen an der Punktdistanz die Augenbewegungen als Kriterium 
gedient hätten, sogar für sehr unwahrscheinlich erklären müssen. 
Wäre jene Annahme richtig, so verbrächten nämlich die Augen- 
bewegungen hier eine noch gröfsere und verwunderlichere Leistung, 
als wenn sie die genaue Vergleichung von Sehwinkeln ermög- 
lichten. Derjenige Teil der Fläche, welcher sich in einem be- 
stimmten Augenblicke auf der Netzhaut abbildet, erscheint ja 
unter den Bedingungen des Mikropsieversuches kleiner als bei 
gewöhnlicher Betrachtung. Nun fällt den durch die Netzhaut 
vermittelten Wahrnehmungen, wie wir anzunehmen genötigt 
waren, selbst dann eine wesentliche Bedeutung für das Gröfsen- 
urteil zu, wenn man sie, wie v. KrıEs verfuhr, nach Möglichkeit 
zu eliminieren trachte. Wenn nun trotzdem der Fall vorkam, 
dafs die Punktdistanz bei bewegtem Blick im Gegensatze zum 
Falle der Fixation die gleiche Länge zu haben schien, wie bei 
gewöhnlicher Betrachtung, so mülste das Kriterium der Augen- 
bewegungen ein so bestimmendes Moment darstellen, dafs es 
das andere, im allgemeinen so wesentliche Kriterium, welches ja 
hier im entgegengesetzten Sinne spricht, dennoch zu überstimmen 
vermag. 

Noch ein anderer Umstand spricht gegen diese Deutung. 
Wenn die Augenbewegungen überhaupt als Kriterium bei der 
Vergleichung von Strecken dienen, so ist es sehr unwahrschein- 
lich, dafs die gleiche Exkursion bei verschiedenen Konver- 
genzzuständen immer als ein Hinweis auf die gleiche Strecken- 
länge gelten wird. Wir nehmen ja beim gewöhnlichen Sehen 
keineswegs alle diejenigen Dinge in gleicher Gröfse wahr, bei 
deren Betrachtung derselbe Exkursionswinkel beschrieben wird. 
Nun sind verschiedenen Akkommodationszuständen verschiedene 
Konvergenzgrade assoziiert. Die Behauptung, bei Linsenmikropsie 
und bewegtem Blick mülste die scheinbare Grölse gegenüber 


374 IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 


dem Falle gewöhnlicher Betrachtung unverändert bleiben, schwebt 
also auch von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet in der Luft. 

Allerdings kann die Lehre von den Augenbewegungen noch 
keineswegs als abgeschlossen gelten. Auf diesem Umstande be- 
ruht die z. Zt., wie es scheint, unabstellbare Unsicherheit der 
von uns gezogenen Schlüsse. 

Obwohl wir demnach zwischen den beiden Erklärungsmög- 
lichkeiten, welche sich darzubieten scheinen, nicht mit Strenge 
entscheiden können, so halten wir doch die oben gegebene Deu- 
tung für die wahrscheinlich richtige. 


Wir bemerken noch, dafs eine physikalische Erklärung der Beobach- 
tungen an der Punktdistanz natürlich ausgeschlossen ist. Das Moment, 
durch welches sich die Beobachtung bei bewegtem Blick von der bei 
Fixation allein unterscheiden könnte, das etwaige Auftreten der prismatischen 
Wirkung der Brille, könnte nämlich, wie eine einfache geometrische Über- 
legung lehrt, nur einen Unterschied von entgegengesetzter Richtung her- 
beiführen, falls es überhaupt so ausgesprochen wäre, um eine merkliche 
Wirkung hervorzubringen, 

Man kann sich eine Konkavlinse durch eine Anzahl von Prismen er- 
setzt denken, deren brechender Winkel vom Zentrum der Linse aus nach 
ihrem Rande hin zunimmt. Die brechende Kante der oberhalb bzw. unter- 
halb des Zentrums liegenden Prismen ist nach unten bzw. oben gewendet. 
Die Strahlen, welche durch die oberen und die unteren „Prismen“ einfallen, 
und die eine wesentliche Bedeutung für das Zustandekommen des Netz- 
hautbildes erst dann erlangen, wenn die Sehachse nach dem betreffenden 
Prisma hin gewendet wird?, werden nämlich so abgelenkt, dafs die beiden 
Begrenzungspunkte der betrachteten Distanz, von denen ja der obere durch 
ein oberes, der untere durch ein unteres „Prisma“ betrachtet wird, ein- 
ander genähert erscheinen müssen.? Bei bewegtem Blick mülste demnach 
die Punktdistanz kleiner erscheinen als bei Fixation. 

Eine gewisse Schwierigkeit bereitet höchstens der Umstand, dafs man bei 
pathologischer Beeinträchtigung der Fähigkeit des Überschauens nun im all- 
gemeinen das Auftreten von Gröfsentäuschungen für wahrscheinlich halten 
würde. Bei Erkrankungen, die sich langsam entwickeln, braucht man jedoch 
derartige Erscheinungen schon darum nicht zu erwarten, weil im Laufe eines 
langgezogenen Leidens vermutlich eine Anpassung an die veränderten Be- 
dingungen des Wahrnehmens, eine andere wechselseitige Zuordnung der 
Gröfsenurteile und Nebeneindrücke erfolgen wird. Bei den plötzlich ein- 
setzenden organischen Hirnkrankheiten gehören Gröfsentäuschungen tat- 


! Vgl. hierzu auch 8. 35. 

® Diese Wirkung mufs um so stärker sein, je weiter die Exkursionen 
des Auges sind. Denn je stärker das Auge abgelenkt wird, um so gröfser 
ist der brechende Winkel des „Prismas“, durch das die Hauptmenge der 
vom Auge aufgenommenen Strahlen in dasselbe einfällt. 


IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 375 


sächlich zu den alltäglichen Erscheinungen. Aber einerseits ist die Zahl 
‚der genauer untersuchten Fälle zu beschränkt, und andererseits sind die 
Veränderungen, welche hier vorliegen, in ihrer Gesamtheit zu kompliziert 
und unerforscht, als dafs es schon an der Zeit wäre, die pathologischen 
Erscheinungen in die Psychologie des Gröfsenvergleichs hineinzuziehen. 


§ 5. 


Die in diesem Abschnitt mitgeteilten Beobachtungen scheinen 
nun aber gleichzeitig eine neue Bestätigung für die oben ver- 
suchte Theorie des A. F. G. zu enthalten, vorausgesetzt, dals die 
‘Schlufsfolgerungen dieses letzten Abschnitts richtig sind (denn 
dieser Teil unserer Untersuchung liefs sich nicht mit strikter 
Evidenz durchführen). 

Wenn Strecken miteinander verglichen werden sollen, die 
vom Auge gleich weit entfernt sind, so besitzen wir, wie wir 
sahen, ein Kriterium in der Individualität der gereizten Netzhaut- 
‚stellen, bzw. in der der Leitungsbahnen und Grofshirnregionen. 
Wenn die scheinbare Gröfse von Gegenständen verglichen wird, 
welche in verschiedener Entfernung aufgestellt sind, aber unter 
-gleichem Gesichtswinkel erscheinen, fällt dieses Kriterium hinweg. 
Was war nach den theoretischen Anschauungen allen Fällen 
gemeinsam, in denen wir von der Betrachtung eines scheinbar 
kleinen zu der eines scheinbar grolsen Gegenstandes übergehen ? 

Die Gemeinsamkeit besteht, die Richtigkeit jener Theorie 
vorausgesetzt, darin, dafs sich die Gröfse des erregten Bezirkes 
der Sehsphäre ändert. Eine andere Gemeinsamkeit konnten wir 
nicht nachweisen. Insbesondere erwies sich die Annahme als 
unstatthaft, dafs etwa beim Übergang zu der Betrachtung des 
scheinbar grolsen Gegenstandes Hirnregionen in Aktion träten, 
die im Falle eines scheinbar kleinen Gesichtsfeldes periphereren 
-Netzhautteilen zugeordnet sind. 

Dieser Umstand nun, welcher allen denjenigen Fällen ge- 
meinsam ist, in denen wir von der Betrachtung eines scheinbar 
kleinen zu der eines scheinbar grofsen Objektes übergehen, tritt 
auf psychischem Gebiete dadurch in Erscheinung, dafs im zweiten 
-Falle die Grölfse des simultan überschaubaren Feldes, durch den 
‚Gesichtswinkel gemessen, abnimmt. Die „Überschaubarkeit“ — so 
'können wir uns kurz ausdrücken — ändert sich. Da sich nun 
eine weitere Gemeinsamkeit in allen diesen Fällen nicht auf- 
finden liefs, so liegt vom Standpunkte der Theorie die Vermutung 


376 IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröjsenurteils. 


nahe, dafs wir auf diesen Umstand auch unser Urteil gründen 
werden. Wir sahen in der Tat, dafs dies wahrscheinlich der Fall ist; 
doch konnten wir eine andersgeartete Erklärung der Beobachtungen 
dieses letzten Abschnittes nicht mit völlig zwingenden Gründen 
widerlegen. 


8 6. 


Vielleicht ist jemand der Ansicht, dafs unsere Betrachtungen 
über die Psychophysik des A. F.G. durch die Ergebnisse dieses 
Abschnitts überflüssig geworden seien. Nach diesem hat es 
ja den Anschein — zu völliger Gewilsheit konnten wir in der 
Deutung der in diesem letzten Teil behandelten Tatsachen noch 
nicht gelangen —, dafs die grölsere psychophysische Ausbreitung 
direkt selbst nicht für die Wahrnehmung der scheinbaren Gröfse 
malsgebend sei, dals sich vielmehr Nebeneindrücke einschieben, 
welche aus dem Zusammenwirken der Einstellungsweise der Auf- 
merksamkeit und dem durch die Netzhaut gelieferten Empfindungs- 
material ihren Ursprung nehmen. 

Man könnte von hier aus versuchen, indem man sich ledig- 
lich an das Tatsächliche hielte, unter Umgehung aller psycho- 
physischen Betrachtungen eine rein psychologische Ansicht von 
der Bedingtheit der scheinbaren Gröfse und den letzten Gründen 
des A. F. G. aufzubauen. Denn vielleicht, so könnte man meinen, 
ist das überschaubare Feld einfach eine Funktion des Konvergenz- 
oder des Akkommodationsgrades bzw. der mit diesen Bewegungs- 
vorgängen immer oder fast immer verbundenen Empfindungen 
oder derjenigen Prozesse, welche man für das eigentlich ver- 
ursachende Moment, die conditio sine qua non für das Auftreten 
des bei den Mikropsieversuchen und anderen Versuchen mit 
Mafsstabänderung eintretenden Effektes hält — mögen jene 
Empfindungen oder Prozesse nun in Muskel- oder Innervations- 
empfindungen bestehen, vielleicht auch in Innervationen oder in 
noch etwas anderem. 

Die weitere Theorie des A. F. G. hätte dann — wenn es 
gestattet ist, einen Augenblick bei diesen mehr als hypothetischen 
Gedankengängen zu verweilen — darzulegen, wie es zu ver- 
schiedenen Einstellungsweisen der Aufmerksamkeit kommen kann, 
wenn der Akkommodations- und Konvergenzgrad geändert, oder 
ein anderer mit jenen Bewegungsvorgängen verbundener und 
einer Reihe von Abstufungsgraden fähiger Prozels hinsichtlich 


IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 377 


dieser Abstufungsgrade variiert wird. Man könnte, an einen Ge- 
danken anknüpfend, welchen wir S. 111f. berührten, darauf 
hinweisen, dafs bei gleichem Gesichtswinkel ein nahes Feld nicht 
so viele verschiedene Objekte darbietet wie ein fernes, und dals 
somit ein grölserer Umfang des überschaubaren Feldes im Falle 
der Betrachtung naher Objekte zweckmälsig erscheine. Infolge- 
dessen, so würde man vielleicht weiter mutmafsen, könnten mit 
den verschiedenen Akkommodations- und Konvergenzgraden oder 
mit den Abstufungsgraden eines anderen, beim gewöhnlichen 
Sehen nach Malsgabe der Entfernung der gesehenen Objekte 
abgestuften Prozesses verschiedene Einstellungsweisen der Auf- 
merksamkeit verknüpft sein. 

Ebenso wie zum Verständnis des A. F. G. könnte man die 
Annahme der verschieden grofsen psychophysischen Ausbreitung 
als entbehrlich für das Verständnis der Vorgänge halten, welche 
sich bei der Vergleichung von Objekten von verschiedener 
scheinbarer Gröfse abspielen. Jene Nebeneindrücke, denen 
wir beim Zustandekommen des Vergleichs scheinbarer Gröfsen 
‚eine Rolle glaubten zuschreiben zu müssen, brauchten ja 
nicht letztlich der plötzlichen Änderung in der Ausbreitung 
der psychophysischen Erregung ihren Ursprung zu verdanken. 
Sie könnten vielmehr — wir betonen nochmals die gänzlich 
hypothetische Natur dieser Gedankengänge — auch dadurch 
zustandekommen oder vielmehr darin bestehen, dafs uns der 
Wechsel in den Einstellungsweisen unserer Aufmerksamkeit zu 
Bewulstsein kommt. Man würde weiter darauf hinzuweisen haben, 
dafs auch bei den Versuchen von ScHUmAnNn, bei denen der 
Gröfsenverschiedenheit eine wirkliche Verschiedenheit der Netz- 
hautbilder zugrunde lag, der Vorgang des Grölsenvergleichs von 
beobachtbaren Einstellungserscheinungen der Aufmerksamkeit 
begleitet ist, während sich über die etwaige Rolle der psycho- 
physischen Ausbreitung wenigstens auf Grund der Beobachtung 
nichts aussagen läfst. Einstellungserscheinungen der Aufmerk- 
samkeit würden somit unserem Urteil über wirkliche und über 
scheinbare Grölsenverschiedenheit zugrunde liegen, und es be- 
stände somit kein Grund, zwischen beiden Klassen von Vergleichs- 
vorgängen eine prinzipielle Schranke aufzurichten. 

Die Möglichkeit dieser rein psychologischen Deutung durfte 
nicht ganz mit Stillschweigen übergangen werden. Da man m. 
E. gerade in der Lehre von der Aufmerksamkeit vor Über- 


378 IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 


raschungen nicht sicher ist, so mu[s man sich in den mit dieser 
Funktion zusammenhängenden Gebieten die Bewegungsireiheit in 
theoretischen Fragen nach allen Richtungen und gegenüber allen 
Eventualitäten, welche der Fortschritt der Forschung mit sich 
bringen kann, besonders sorgfältig wahren. 

Einstweilen jedoch kann ich mich nicht dazu entschliefsen, 
die früher der Psychophysik des A. F. G. gewidmeten Betrach- 
tungen wesentlich zu modifizieren oder gar für überflüssig zu 
halten. Insbesondere möchte ich vorläufig im Gegensatz zu der 
skizzierten rein psychologischen Ansicht an der Annahme fest- 
halten, dafs zwischen der Grölse der psychophysischen Ausbreitung 
und dem AußERT-Forrsterschen Phänomen, genauer dem mate- 
riellen Korrelat desselben, ein echtes Kausalverhältnis besteht, 
dafs die Gröfse der psychophysischen Ausbreitung nicht nur 
einen belanglosen Begleitumstand darstellt. — Hierzu bestimmt 
mich vor allem die folgende Erwägung. 

Für das AUBERT-Forrstersche Phänomen läfst sich eine psycho- 
physische und aulserdem eine auch nicht unplausible rein psycho- 
logische Deutung angeben. Nun besteht, wie wir sahen (S. 3271.), 
eine unverkennbare Analogie zwischen der durch die Änderung 
der scheinbaren Grölse hervorgebrachten charakteristischen Modi- 
fikation der Empfindungen des Lichtsinns und den charakte- 
ristischen Modifikationen, welche Empfindungen und Vorstellungen 
ganz allgemein erfahren, wenn zu ausgedehnte Bezirke des Zentral- 
organs gleichzeitig in Tätigkeit versetzt werden. In Beziehung 
auf den letzteren allgemeinen Fall dürfte es aber zurzeit wohl 
als ein aussichtsloses Unternehmen erscheinen, für die charakte- 
ristische Modifikation der Empfindungen und Vorstellungen, die 
bei Zu- und Abnahme der gleichzeitig tätigen Partien des Zentral- 
organs eintritt, eine rein psychologische Deutung zu versuchen, 
jene Grölsenänderungen der in Erregung versetzten Partien des 
Zentralorgans dagegen nur als einen für die Modifikation der 
Empfindungen und Vorstellungen nicht wesentlichen Begleit- 
umstand zu erklären. In jenem allgemeinen Falle wird man 
wohl genötigt sein, mit EsBıngHAaus die Art der Ausbreitung der 
psychophysischen Erregung für den Klarheitsgrad der Empfin- 
dungen und Vorstellungen verantwortlich zu machen. Der Nach- 
weis einer rein psychologischen Bedingtheit der charakteristischen 
Modifikation der Empfindungen und Vorstellungen — ein Nach- 
weis, welcher für den Fall des AUBERT-FoERSTERschen Phänomens 


IV. Abschnitt. Über die psychologische Fundierung des Gröfsenurteils. 379 


allein nicht auf unüberwindliche Schwierigkeiten stofsen würde — 
dürfte in jenem allgemeinen Falle wohl schwerlich zu erbringen 
sein. Hierzu kommt noch, dals jene charakteristische Modifikation 
der Empfindungen und Vorstellungen nicht nur dann auftritt, 
wenn aufser den jene Empfindungen und Vorstellungen ver- 
mittelnden Hirnteilen noch zahlreiche andere sensorische Partien 
des Zentralorgans in Aktion treten, sondern auch dann, wenn die 
zu ausgedehnte Inanspruchnahme des Zentralorgans durch die 
Konkurrenz motorischer Funktionen, also wesentlich durch die 
Erteilung von Innervationen hervorgerufen wird. An den Nach- 
weis eines psychologischen Kausalzusammenhangs zwischen 
der relativ zu starken motorischen Inanspruchnahme und der 
charakteristischen Modifikation, die die gleichzeitigen Empfin- 
dungen und Vorstellungen dadurch erfahren, dürfte schwerlich 
zu denken sein. — In Anbetracht der auffälligen Analogie der 
Modifikation der Empfindungen, von welcher das A. F. G. und 
das K. G. Rechenschaft gibt, mit jener charakteristischen Modi- 
fikation der Empfindungen und Vorstellungen, welche im ge- 
nannten allgemeinen Falle auftritt, wäre es unangebracht, zur 
Deutung der erstgenannten Modifikation diejenige Erklärung 
heranzuziehen, welche nur auf sie, nicht aber auf den allgemeinen 
Fall passen würde, während sich doch auch der speziellere Fall, 
die AUBERT- FoErSTERsche bzw. Kosrtersche Modifikation der 
Empfindungen, der für den allgemeinen Fall anscheinend un- 
vermeidlichen Erklärung ganz gut fügt. 


380 


V. Abschnitt. 


Über die psychischen Elemente der Gesichtswahr- 
nehmungen. 


Die Ergebnisse unserer Untersuchung enthalten eine Nötigung, 
die herkömmliche Klassifikation der beim Zustandekommen der 
Gesichtswahrnehmungen beteiligten seelischen Elemente auf ihre 
Haltbarkeit zu prüfen. Die Projektionstheorie unterschied an dem 
Gesamterlebnis einer Gesichtswahrnehmung scharf zweierlei: 1. die 
Phänomene des Licht- und Farbensinns, also die Helligkeit, Farbe 
und Sättigung, in der wir die Dinge sehen; diese Teilinhalte des 
Gesamterlebnisses sind dem Bereich der Empfindungen zu- 
zurechnen; 2. ist am Sehakt ein Vorgang beteiligt, welcher mit 
der sinnlichen Sphäre angeblich nichts zu tun hat: die Licht- 
empfindung wird in den Raum hinausprojiziert, hinausgeworfen ; 
je weiter sie hinausprojizierzt wird, um so grölser erscheint das 
Objekt. Die „reine Empfindung“, deren Wesen sich in den Teil- 
inhalten der Helligkeit, Qualität und Sättigung erschöpft, bleibt 
dabei unverändert. Orro Lıesmann, der in einer Jugendarbeit! 
den prinzipiellen und philosophischen Gehalt der Projektions- 
theorie herausstellte, unterschied scharf zwischen dem „sensualen“ 
und dem „intellektuellen Faktor“ des Anblicks. 

Aber auch bei Herme finden sich Stellen, welche darzutun 
scheinen, dafs der siegreiche Gegner der Projektionstheorie die 
scheinbare Gröfse gleichfalls als etwas Vorstellungsmälsiges 
ansieht und sie den Empfindungen nicht zurechnen zu dürfen 
glaubt, während er denjenigen Gröfsenänderungen, die infolge 
einer Änderung des Netzhautbildes eintreten, unbedenklich Em- 


! Über den objektiven Anblick. Stuttgart 1869. — Die an dieser Stelle 
und in den entsprechenden Kapiteln des Hauptwerkes „Zur Analysis der 
Wirklichkeit“ gegebenen prinzipiellen Erörterungen haben die Gültigkeit 
der Projektionstheorie nicht notwendig zur Voraussetzung und sind darum 
keineswegs mit dem Schicksal jener Theorie verknüpft. 


V. Abschnitt. Über d. psychischen Elemente d. Gesichtswahrnehmungen. 381 


pfindungscharakter zuschreibt. „Dies Gröfsersehen des „doch 
„im Grunde gleichgrols Empfundenen ist also im Vergleich 
„zum ganz primitiven Raumsehen ein sekundärer Prozels. Der 
„Malsstab, mit dem das Gesehene gleichsam abgeschätzt wird, ist 
„nun ein veränderlicher, obgleich die primitive Empfindung eigent- 
„lich dieselbe bleibt.“ + 

Allgemein scheint also die Ansicht vorzuherrschen, dafs die 
scheinbare Grölse nicht als ein empfindungsmälsiger, sondern 
als ein urteilsmälsiger Vorgang, als ein Prozels des „Abschätzens“ 
aufzufassen sei. Die Teilinhalte Helligkeit, Qualität und Sättigung 
sind bei der Klassifikation der psychischen Elemente einem ganz 
anderen Bereich zuzurechnen als die scheinbare Grölse. Es be- 
steht darum auch zwischen den ersten drei der genannten Teil- 
inhalte einerseits und dem letzten andererseits kein Verhältnis 
funktionaler Abhängigkeit, wie z. B. zwischen der Klangfarbe 
und den Einzeltönen oder zwischen der Qualität und der Hellig- 
keit. Die scheinbare Gröfse, in der wir eine Farbfläche sehen, 
ist für die Teilinhalte der Helligkeit, Qualität und Sättigung ganz 
gleichgültig; diese Teilinhalte bleiben bei Änderung der schein- 
baren Grölse ganz ebenso unverändert, wie die von einem Stabe 
herrührenden Lichtempfindungen dieselben sind, wenn ich ihn 
in zwei verschiedenen Zeitmomenten infolge einer ungleichen 
Konstellation meines höheren Seelenlebens verschieden grols 
schätze, während die der Lichtempfindung zugrunde liegenden 
physikalischen und physiologischen Vorgänge — die Helligkeit 
der Beleuchtung, der Adaptationszustand usw. — unverändert 
bleiben; das Sehen der scheinbaren Grölse ist ja nach der ver- 
breitetsten Ansicht nichts anderes als ein Vorgang der Ab- 
schätzung. 

Die Einsicht in die wahre Natur des AUBERT-FOERSTERSchen 
und des Kosterschen Phänomens, welche sich im Laufe dieser 
Untersuchung ergab, nötigt zu einer Modifikation der soeben an- 
gedeuteten herrschenden Ansicht. Ebensowenig wie die Teil- 
inhalte Helligkeit, Qualität und Sättigung unabhängig voneinander 
variiert werden können, ebensowenig läfst eine Änderung der 
scheinbaren Ausdehnung die drei erstgenannten Teilinhalte un- 
berührt. 

Freilich zeigen die Tatsachen der Gedächtnisfarbe, dafs auch 


1 Beiträge z. Physiologie S. 328. 


382 V. Abschnitt. Über d. psychischen Elemente d. Gesichtswahrnehmungen. 


unter dem Einflufs von Vorstellungen eine Änderung der Elemente 
des Lichtsinns auftreten kann, und somit scheint durch unsere 
Untersuchung die Ansicht noch nicht erschüttert zu sein, dafs 
das Sehen der scheinbaren Gröfse lediglich in einem Vor- 
stellungs- oder Urteilsprozels bestehe. Allein wir mulsten die- 
jenige Interpretation des Kosterschen Phänomens, welche die 
Tatsache der Gedächtnisfarbe heranzieht, ablehnen (vgl. S. 146ff.). 

Vorstehender Darlegung kann jedoch der Einwand nicht er- 
spart bleiben, dafs sie das Experiment übersehe, durch welches 
Herıss „den Widerstreit der reinen Empfindung gegen das 
„Gröfsersehen des Ferneren“ und somit die Verschiedenheit beider 
Klassen von Gröfsenerlebnissen durch ein Experiment zu erweisen 
sucht.“ Bringt man eine an jedem Ende mit einem Kügelchen 
versehene Stricknadel nahezu horizontal in die Medianebene und 
sucht man mit dem Auge den Punkt der Nadel, bei dessen 
Fixation das Doppelbild des ferneren Kügelchens gerade dicht 
über dem das näheren erscheint, so ist man sich sehr wohl be- 
wulst, dafs der Empfindung zwei gleich grolse Differenzen ge- 
geben sind; trotzdem glaubt man die Distanz der ferneren Trug- 
bilder sehr viel gröfser zu sehen als die der näheren, auch durch- 
schneiden sich hierbei die Trugbilder der Nadel anscheinend 
durchaus nicht in ihrer Mitte, sondern die beiden jenseits des 
Kernpunktes liegenden Schenkel scheinen länger zu sein als die 
diesseits gelegenen. 

Mir will nun scheinen, dafs der Erfolg der Beobachtung in 
hohem Malse von der Aufmerksamkeitsrichtung abhängt. Um- 
spannt man die beiden Strecken gleichzeitig mit der Aufmerk- 
samkeit, achtet man darauf, dals ihre Endpunkte unmittelbar 
übereinanderfallen, so drängt sich einem das Gleichheitsurteil 
auf. Lälst man dagegen die Aufmerksamkeit zwischen den 
beiden Strecken hin- und herschweifen, so ist der Unterschied 
in der scheinbaren Gröfse nicht zu verkennen. Ein eigentlicher 
Widerstreit, in dem Sinne, dafs gleichzeitig der Eindruck 
der Gleichheit und der Verschiedenheit gegeben ist, scheint mir 
nicht vorzuliegen. Der Verschiedenheit des Eindrucks liegt eine 
Verschiedenheit der inneren Verhaltungsweisen zugrunde. Diese 
Verschiedenheit der Verhaltungsweisen könnte nun aber die Emp- 
findungen möglicherweise sehr wohl modifizieren und damit be- 
werkstelligen, dafs in beiden Zeitmomenten tatsächlich ver- 
schiedene Empfindungen auftreten. 


V. Abschnitt. Über d. psychischen Elemente d. Gesichtswahrnehmungen. 383 


Auf dem Boden der Lehre, nach der sich beim Sehen der schein- 
baren Gröfse der primitiven Empfindung ein ganz andersartiges 
seelisches Element, eine Vorstellung oder ein Urteil, unterschiebt, 
hätte man auch zu erwarten, dals die Gröfse, in der das Fernere 
erscheint, ausschlie[slich durch die Vorstellung, welche man 
von dem betreffenden Gegenstand hat, bestimmt sein werde. 
Nun hat aber schon die Arbeit von Marrıus und insbesondere 
HiLLEBRANDS Untersuchung dargetan, dafs die tatsächlich gesehene 
scheinbare Gröfse immer die Mitte hält zwischen dem, was 
man erwarten würde, wenn die scheinbare Gröfse ausschliefslich 
durch das geometrische Verhältnis der Dimensionen im Netz- 
hautbild bestimmt wäre, und andererseits zwischen dem, was ein- 
träte, wenn ausschliefslich die Vorstellungen die Malsstäbe be- 
stimmten; die Sehgröfse gibt also sicher nicht einfach die vor- 
gestellte Grölse wieder, sondern sie stellt höchstens einen 
Kompromifls zwischen Vorstellung und Empfindung dar. 

Es liegt somit nahe, die Sehgrölse als ein Produkt derjenigen 
Art von Verbindung seelischer Elemente aufzufassen, welche man 
als „Verschmelzung“ bezeichnet. Eine Verschmelzung tritt dann 
ein, wenn zwei Inhalte bei ihrer Vereinigung einen neuen, von 
beiden Einzelinhalten verschiedenen Gesamteindruck bilden, hinter 
welchem sie selbst mehr oder weniger zurücktreten. Mit mehr 
oder weniger grolser Mühe gelingt es der Analyse, die Einzel- 
inhalte im Gesamterlebnis wiederzuerkennen. Hierbei ist das 
Haupthilfsmittel der Analyse die Erzeugung einer bestimmten 
Richtung der Aufmerksamkeit; so tritt bei der Klanganalyse ein 
bestimmter Ton um so leichter heraus, mit um so grölserer Deut- 
lichkeit er zuvor vorgestellt wurde. Mache ich nun im Gebiete 
der Sehgröfse das analoge Experiment, suche ich mir also während 
der Betrachtung eines fernen Objektes die Gröfse vorzustellen, 
welche dieses Objekt bei der Betrachtung aus der Nähe besitzt,! 
so verhilft mir diese Verhaltungsweise keineswegs dazu, in der 
Wahrnehmung der scheinbaren Gröfse jenes Objektes ein in 
diesem Erlebnis angeblich enthaltenes psychisches Element deut- 
licher hervortreten zu lassen; jene Verhaltungsweise bewirkt viel- 
mehr, dals sich die Aufmerksamkeit von dem zu betrachtenden 
Objekt überhaupt abwendet, und dafs das zu analysierende Ge- 


! Diese Gröfse pflegt man ja zu meinen, wenn man von vorgestellter 
Gröfse redet. 


384 V. Abschnitt. Über d. psychischen Elemente d. Gesichtswahrnehmungen. 


samterlebnis unserem Bewulstsein mehr oder weniger vollkommen 
entschwindet. Nach allem, was wir von dem die Inhalte unseres 
Bewulstseins fördernden Einflufs der Aufmerksamkeit wissen, 
könnte das Gesamterlebnis bei Einstellung der Aufmerksamkeit 
auf die vorgestellte Grölse unserem Bewulstsein unmöglich ent- 
schwinden, wenn jene Einstellung einem in dem Gesamterlebnis 
enthaltenen Teilelement gälte, d. h. wenn die betreffende Vor- 
stellung als Teilelement in dem Gesamterlebnis der Sehgrölse 
enthalten wäre. 

Das Gesamtresultat vorstehender Erwägungen besteht in der 
Einsicht, dafs die Lehre, wonach zu unterscheiden ist zwischen 
einer Grölsenwahrnehmung, die Empfindungscharakter besitzt, 
und einer davon wesentlich verschiedenen Grölsenwahrnehmung, 
die entweder zur Klasse der Vorstellungen gehört oder ein Ver- 
schmelzungsprodukt einer Empfindung mit einer Vorstellung 
darstellt, nicht aufrecht erhalten werden kann. Über diese nega- 
tiven Bestimmungen hinaus können wir auf Grund unserer 
eigenen Untersuchungen zu der weiteren Behauptung fortschreiten, 
dals die Schranke, welche man zwischen retinalbemessener und 
scheinbarer Gröfse gewöhnlich aufrichtet, indem man diese Er- 
lebnisse zwei wesentlich verschiedenen Gattungen seelischer Ele- 
mente zurechnet, fallen mufs. Dies ergibt sich aus der folgenden 
Überlegung. 

Die Frage nach den letzten Ursachen des AUBERT-FOERSTER- 
schen und des Kosterschen Phänomens können wir nicht in 
eindeutiger Form, sondern nur durch Angabe einer Alternative 
beantworten, welche gleich derjenigen, in die die Analyse der 
klinischen Erscheinungen ausmündete, drei Glieder besitzt. 

Gibt es keine besondere Aufmerksamkeitsfunktion, so kann das 
AUBERT-ForrsTErsche und das Kostzxsche Phänomen nur daraufbe- 
ruhen, da/s die Elemente der Lichtempfindung in den verglichenen 
Konstellationen ungleich ausfallen, und diese Ungleichheit kann 
nach unseren früheren Ausführungen nur mit der verschieden 
weiten Ausbreitung der Erregung zusammenhängen (vgl. S. 321 ff.). 
Gibt es aber eine besondere Aufmerksamkeitsfunktion, so kann 
die trotz der Gleichheit der Netzhautbilder in den verglichenen 
Konstellationen hervortretende Verschiedenheit wiederum in zwei- 
facher Weise erklärt werden. Wenn die Aufmerksamkeit das 
Empfindungsmaterial bei der einen Konstellation besser ver- 
arbeiten kann als bei der anderen, so kann das einmal an einer 


V. Abschnitt. Über d. psychischen Elemente d. Gesichtswahrnehmungen. 385 


Verschiedenheit des Empfindungsmaterials in den beiden Kon- 
stellationen liegen, und diese Verschiedenheit kann wohl nur 
mit einer verschieden weiten Ausbreitung der Erregungen zu- 
sammenhängen (vgl. S. 321ff.). Entspricht nun aber im Sinne der 
eben genannten beiden Erklärungen der gesehenen Gröfse, gleich- 
gültig, ob die Variierung durch Änderung der wirklichen (Netz- 
hautbild-)Gröfse oder durch Änderung der scheinbaren Gröfse 
erfolgt, die Ausbreitung der psychophysischen Prozesse, so 
sehen wir uns genötigt, der von Srtumpr vertretenen Lehre zu- 
zustimmen, dals die Grölse ein Teilinhalt der Lichtempfindung 
ist, und wir haben ferner diesen Satz auch auf das Erlebnis 
der scheinbaren — nach der traditionellen Ansicht nur 
vorgestellten — Grölse zu übertragen. So wahr eine materielle 
Erregung nicht ohne eine gewisse Ausbreitung bestehen kann, 
so wahr ist die Gröfse, die retinalbemessene wie die scheinbare, 
ein mit der Lichtempfindung gegebener und von ihr unabtrenn- 
barer Teilinhalt. Die Schranke, welche man zwischen emp- 
fundener und vorgestellter Gröfse aufzurichten pflegt, würde dann 
natürlich wegfallen; stets ist das Gröfsenerlebnis ein Teilinhalt 
der Lichtempfindung und mit dieser unabtrennbar verbunden. — 
Soviel über die zweite Erklärungsmöglichkeit des Phänomens, 
welche annimmt, dals es zwar eine besondere Aufmerksamkeits- 
funktion gibt, dafs aber die Verschiedenheit der Phänomene in 
den Konstellationen auf einer Verschiedenheit des Empfindungs- 
materials beruht. 

Drittens könnte nun aber die Verschiedenheit daher rühren, 
dafs zwar das Empfindungsmaterial gleich ist, dafs aber die Auf- 
merksamkeit in beiden Konstellationen eine verschiedene Ein- 
stellung besitzt (S. 376 ff.). Bei der Durchführung dieses Gedankens 
knüpften wir an die bei der Änderung der scheinbaren Grölse zu 
beobachtenden Eindrücke an. Da aber diese Eindrücke eine enge 
Verwandtschaft mit den von Schumann beschriebenen Eindrücken 
aufweisen, die bei der Änderung der wirklichen, d. h. der Netz- 
hautbildgröfse auftreten, so erscheint auch vom Standpunkte 
dieser dritten Erklärung des AUBERT-FOERSTERschen Gesetzes 
aus die Unterscheidung zwischen zwei prinzipiell verschiedenen 
Gröfsenerlebnissen — einer empfundenen und einer nur vor- 
gestellten Grölse — ungerechtfertigt. 

Am Abschluls der vorliegenden Untersuchung drängt sich 
uns eine Ansicht vom Wesen der scheinbaren Gröfse mit über- 


386°. V.'Abschnitt.‘ Über d. psychischen Elemente d. Gesichtswahrnehmungen. ' 


zeugender Wahrscheinlichkeit auf, welche von der herkömmlichen 
Lehre erheblich ‘abweicht. Allerdings ist das Tatsachenmaterial, 
welches zur. Frage nach dem Wesen der Sehgröfse Beziehung 
besitzt, noch keineswegs vollständig gesammelt, und jene Ansicht 
wird daher noch oftmals von neuem’ zu kontrollieren sein. 

Soviel glaubten wir mit einiger Bestimmtheit sagen zu dürfen, 
dafs die scheinbare Gröfse empfunden wird, und dafs es nicht 
berechtigt ist, im Gebiete der Gesichtswahrnehmungen 
zwischen empfundener und vorgestellter Gröfse zu unter- 
scheiden. Es gibt hier nicht zwei prinzipiell verschiedene Klassen 
von -Gröfsenerlebnissen, sondern es gibt deren nur eine Klasse. 
Halten wir dieses Ergebnis zum Schlufs einmal mit den Befunden 
von URBANTSCHITSCH !'zusammen. Nach den Untersuchungen dieses 
Forschers besitzen gewisse Personen die Fähigkeit, Bilder, welche 
sie eine Zeitlang betrachtet haben, nach Augenschlufs mit hallu- 
zinatorischer Deutlichkeit vor sich zu sehen. Aus einer Reihe 
von Tatsachen geht nun hervor, :dafs diese subjektiven optischen 
Anschauungsbilder von den Erinnerungsbildern, d.h. von 'den 
Vorstellüngen, scharf zu scheiden sind. Um das subjektive An- 
schauungsbild dettlich zu sehen, mufs der Beobachter die Auf- ' 
merksamkeit 'von 'der Sphäre: der Vorstellungen hinweg und ge- 
wissermalsen nach aufsen richten. Ferner ereignet sich nach U. 
nicht selten folgender Fall. Der Beobachter vermag auf Grund der 
Erinnerung; über gewisse Einzelheiten der betrachteten Vorlage 
keine Auskunft mehr zu geben; er konzentriert nun die Auf-' 
merksamkeit auf: 'die betreffende Stelle des subjektiven An- | 
schauungsbildes, sieht die dort befindlichen Einzelheiten und 
gibt sie richtig und ohne Zögern an. Wird als Vorlage zur Er-- 
zeugung des Anschauungsbildes eine einfache Frage benutzt, so’ 
erscheint bei einzelnen‘ Personen im Anschauungsbild neben der 
Frage nach einiger Zeit die Antwort. Wenn auch der Versiche- 
rung der Vp., dafs sie ihre Aufmerksamkeit hierbei ununter- 
brochen nur dem Bilde zugewandt und sich mit der Beantwor- 
tung der Frage bewulsterweise gar nicht beschäftigt habe, keine 
allzugrofse Beweiskraft beigemessen werden darf, weil ein Wechsel 
in» der Aufmerksamkeitsrichtung leicht unbemerkt bleibt, so 
scheint doch die Art, in der ‘die Antworten auftauchen, dafür 
zu sprechen, dafs die Antworten nicht Vorstellungen, son- 


! Über subjektive optische Anschauungsbikder. Leipzig u. Wien 1907. 


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V. Abschnitt. ' Über d. psychischen: Elemente d. Gesichlswahrnehmungen. 387 : 


dern Empfindungen sind.: Von dem Worte, mit dem''das 
Ansehauungsbild :antwortet, tauchen zunächst nur vereinzelte, oft 
weit voneinander getrennte Buchstaben auf. Die Vp. ist in ' 
diesem: Stadium zuweilen ‚neugierig, welehe Antwort kommen 
wird. Hat sich die Vp. auch im bewulsten Denken mit der Be- 
antwortung der Frage beschäftigt, so ist die bewulsterweise, d. h. 
die von. den Vorstellungen gegebene Antwort, zuweilen verschieden ' 
von.derjenigen, welche das Anschauungsbild liefert. Eine falsche 
Antwort des Ansehauungsbildes läfst sich häufig durch -die be- 
wulste richtige Vorstellung nicht unterdrücken. Alle diese Tat- 
sachen weisen darauf hin, dafs die Anschauungsbilder nicht 
Vorstellungen, sondern Empfindungen sind, und dafs 
somit bereits die der Empfindung dienenden Korrelate eine Art 
von Gedächtnis besitzen. Dafs auch Assoziationen wirksam 
werden können, welche nicht unmittelbar zuvor, sondern vor 
längerer Zeit gestiftet wurden, ergibt sich daraus, dals einem 
Mittelschüler durch Erzeugung des subjektiven Anschauungs- 
bildes der betreffenden Fragen Geschichtskenntnisse entlockt 
werden konnten, welche derselbe mit Hilfe des gewöhnlichen 
(Vorstellungs-)Gedächtnisses nicht mehr zu reproduzieren ver- 
mochte. 

Sicherlich sind die subjektiven Anschauungsbilder nicht bei 
allen Individuen in deutlicher Form zu erzeugen. Den übrigen 
aber wird jene Fähigkeit wahrscheinlich nicht im absoluten 
Sinne fehlen; vermutlich ‘handelt es sich nur um sehr weit- 
gehende graduelle Abstufungen. Ich selbst z. B. vermag nach 
Vorlage ein deutliches Anschauungsbild nicht hervorzubringen ; \ 
wohl aber hat mich seit früher Knabenzeit die Tatsache in Er- | 
staunen versetzt, dafs ich an Wintertagen oftmals auf der Seite 
eines Buches, in dem ich lese, eine unausgesetzte Bewegung zu 
bemerken glaube, ganz ähnlich der der draufsen niedergehenden 
Flocken; nach einem Gang im Freien kann mich die Erschei- 
nung eine halbe Stunde und länger belästigen, ohne dafs ich 
in der Zwischenzeit nach dem Fenster geblickt hätte Vermut- ` 
lich beruht auch die scheinbare Grölse auf dem Ge- 
dächtnis der Korrelate der Empfindung. Es wäre dann 
verständlich, dals die Sehgrölse gleich den subjektiven optischen 
Anschauungsbildern Empfindungscharakter besitzt. Wir brauchen 
nicht daran Ansto[s zu nehmen, dals die subjektiven Anschauungs- 
bilder nur bei wenigen Individuen in deutlicher Form zu er- 


388 V. Abschnitt. Über d. psychischen Elemente d. Gesichtswahrnehmungen. 


zeugen sind. Die Wahrnehmung der scheinbaren Gröfse wird bei 
weitem kein so leistungsfähiges Sinnengedächtnis erfordern, wie die 
Erzeugung der subjektiven Anschauungsbilder. Bei den letzteren 
tritt an das Sinnengedächtnis die Forderung heran, eine einmal, 
wenn auch während längerer Zeit dargebotene Vorlage zu repro- 
duzieren. Tausendfältig dagegen wiederholen sich die Er- 
fahrungen, welche den subjektiven Mafsstab des Sehraums be- 
stimmen. Das genauere Eingehen auf den Mechanismus dieses 
Vorgangs möchten wir späteren Untersuchungen vorbehalten. 


Druck von Lippert & Co. (G. Pätz’sche Buchdr.), Naumburg a. S. 


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zeugen sind. Die Wahrnehmung der scheinbaren Gröfse wird bei 
weitem kein so leistungsfähiges Sinnengedächtnis erfordern, wie die 
Erzeugung der subjektiven Anschauungsbilder. Bei den letzteren 
tritt an das Sinnengedächtnis die Forderung heran, eine einmal, 
wenn auch während längerer Zeit dargebotene Vorlage zu repro- 
duzieren. Tausendfältig dagegen wiederholen sich die Er- 
fahrungen, welche den subjektiven Mafsstab des Sehraums be- 
stimmen. Das genauere Eingehen auf den Mechanismus dieses 
Vorgangs möchten wir späteren Untersuchungen vorbehalten. 


Druck von Lippert & Co. (G. Pätz’sche Buchdr.), Naumburg a. S.